Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Ich möchte Sie zu Beginn unserer Plenarsitzung darauf aufmerksam machen, dass unser Kollege HansUlrich Klose heute seinen 75. Geburtstag feiert.
({0})
Lieber Kollege Klose, mit diesem Beifall des ganzen
Hauses kommen nicht nur die guten Wünsche für die
nächsten Jahre zum Ausdruck, sondern zweifellos auch
die große Sympathie und die große Wertschätzung, derer
Sie sich im ganzen Hause erfreuen. Ich weiß, dass heute
Abend auch aus diesem Anlass die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft zu einer besonderen Veranstaltung
zusammentritt, die sicherlich Gelegenheit bieten wird,
dieses besondere Ereignis auch in einer besonderen
Weise zu würdigen. Noch einmal alle guten Wünsche!
({1})
Am 22. Mai hat der Kollege Bernhard Brinkmann,
den wir heute nach längerer Krankheit wieder unter uns
begrüßen können, seinen 60. Geburtstag gefeiert. Auch
ihm möchte ich auf diesem Wege herzlich gratulieren.
({2})
Wir freuen uns, dass Sie wieder dabei sind, und wünschen Ihnen für das neue Lebensjahr alles Gute und eine
stabile Gesundheit.
Wir haben in den zurückliegenden Tagen immer mal
wieder weitere Geburtstage von Kollegen gefeiert. Ich
darf nur die etwas auffälligeren erwähnen: Der Kollege
Hans-Christian Ströbele hat seinen 73., die Kollegin
Helga Daub ihren 70. und der Kollege Wolfgang
Bosbach seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ihnen allen gelten unsere guten Wünsche.
({3})
Bedauerlicherweise hat die Kollegin Nicolette Kressl
mit Wirkung vom 1. Juni 2012 auf die Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag verzichtet. Für sie ist die Kollegin
Annette Sawade nachgerückt. Im Namen des Hauses
darf ich sie herzlich begrüßen.
({4})
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit.
Schließlich müssen wir vor Eintritt in die Tagesordnung noch eine Schriftführerwahl durchführen. Die
SPD-Fraktion schlägt vor, für die Kollegin Aydan
Özoğuz die gerade begrüßte Kollegin Annette Sawade
als Schriftführerin zu wählen. Das ist eine der schnellsten parlamentarischen Karrieren, an die ich mich erinnern kann. Wir wollen einmal sehen, ob das auch die
notwendige Mehrheit findet. Ist jemand gegen diesen
Vorschlag? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? Dann sind Sie gleich am ersten Tag Ihrer Mitgliedschaft
in diesem Hause in dieses wichtige Amt gewählt. Ich
darf die allgemeine Freude auf die Zusammenarbeit um
die besondere Freude auf die Zusammenarbeit hier oben
ergänzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Umstrittene Nutzung des Auslandsnachrichtendienstes für den Transport eines von BM
Niebel privat gekauften Teppichs
({5})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 52
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lieferung von U-Booten an Israel stoppen
- Drucksache 17/9738 21860
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 53
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
- Drucksache 17/9939 ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der
Energiewende
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Tobias Lindner, Nicole Maisch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im
Wettbewerbsrecht verankern
- Drucksache 17/9956 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia
Schmidt ({8}), Anette Kramme, Josip
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit
Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen
- Drucksache 17/9931 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 29 und
53 e abgesetzt. Darüber hinaus kommt es in der Zusatzpunktliste zu Änderungen im Ablauf, die dargestellt
sind.
Darf ich von Ihrem Einvernehmen ausgehen? - Das
ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum G-20-Gipfel am 18./19. Juni 2012 in Los
Cabos ({10})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({11})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Nächste Woche wird in Los
Cabos in Mexiko der diesjährige G-20-Gipfel stattfinden. Seit Beginn der Finanzkrise 2008/2009 hat sich die
G 20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs als
zentrales Forum für die internationale wirtschaftliche
Zusammenarbeit etabliert. Geboren ist dieses Forum aus
der Erfahrung der wechselseitigen Abhängigkeit, in der
wir auf der Welt zusammenleben, insbesondere nach
dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Seither ist
die Agenda der G 20 von der allein akuten Krisenbewältigung hin zu einer wirklich breiten globalen Zusammenarbeit erweitert worden. Internationale wirtschaftliche
Zusammenarbeit ist deshalb heute umfassend zu verstehen. Alle Themen, die auf der Tagesordnung stehen, ordnen sich dieser gemeinsamen internationalen Zusammenarbeit unter.
Erstens wird es um das sogenannte Green Growth gehen. Es steht auf der G-20-Agenda der diesjährigen mexikanischen Präsidentschaft ganz oben. Ich begrüße,
dass Mexiko hier einen Schwerpunkt setzt, auch mit
Blick auf den danach stattfindenden Gipfel Rio+20 in
Brasilien. Grünes Wachstum ist ein Thema für alle G-20Staaten, egal ob sie Schwellen- oder Industrieländer
sind; denn nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit gilt
das Prinzip der gemeinsamen, wenn auch im Einzelfall
unterschiedlichen Verantwortung. Es müssen Wege gefunden werden, mit denen Wirtschaftswachstum, Klimaund Umweltschutz weltweit in Einklang gebracht werden können. Das kann nur geschehen, wenn wir die
Wachstumsdynamik so gestalten, dass sie von Innovationen und grünen Technologien, Verfahren und Produkten
getragen wird. Es geht also darum, ökonomische, ökologische und soziale Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen. Das Ganze wird dann Inclusive Green Growth
genannt. Das Ergebnis, wenn dieser Grundsatz beherzigt
wird, ist das, was unter dem Stichwort Nachhaltigkeit
diskutiert wird.
Es geht hier allerdings um sehr konkrete Dinge. Wir
dürfen nicht vergessen, dass von den 7 Milliarden Menschen, die auf der Welt leben, 1 Milliarde akut von Hunger bedroht ist. Das heißt, es geht darum, Hunger zu
bekämpfen, die Biodiversität zu erhalten, dem Klimawandel zu begegnen. Wir wissen, dass Fortschritte,
wenn es um verbindliche internationale Abkommen
geht, in diesem Bereich eher im Schneckentempo erzielt
werden. Es ist ein gutes Signal, dass es in Durban gelungen ist, wenigstens die Absicht zu verfestigen, dass wir
ein weltweit bindendes Klimaabkommen brauchen.
Aber der Weg ist mühsam. Doch genau das liegt im Interesse des gesamten Deutschen Bundestages bzw. der
Bundesrepublik Deutschland. Deshalb wird sich die
deutsche Delegation, geführt von Umweltministerium
und Entwicklungsministerium, bei Rio+20 genau dafür
einsetzen.
In Los Cabos werden wir darüber beraten, welchen
Beitrag die grüne Ökonomie für eine nachhaltige Entwicklung leisten kann, auch und gerade im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung und der Sicherung der
Ernährung. Es geht um nachhaltige Produktion und Produktivität im Agrarsektor. Es geht darum, die Situation
der Kleinbauern zu verbessern. Wir werden insbesondere über spezielle Finanzierungsmechanismen für
Kleinbauern beraten. Es ist deshalb sehr wichtig, dass es
vor kurzem gelungen ist, eine Einigung über die freiwilligen Leitlinien zu den Landnutzungsrechten zu erzielen.
Das mag uns aus unserer Perspektive hier heute Morgen
sehr fern vorkommen. Für Millionen von Menschen
kann es aber eine Zukunft bedeuten. Wir haben über die
entsprechende Agenda schon beim G-8-Gipfel in Camp
David diskutiert und dort eine neue Allianz zur Ernährungssicherung geschaffen. Dies soll im Rahmen der
G 20 fortgesetzt werden. Ziel ist es, in den nächsten zehn
Jahren 50 Millionen Afrikanern aus der Armut zu helfen ich glaube, ein zutiefst menschliches Anliegen.
({0})
Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit leistet
die G 20 auch bei einem zweiten Thema, nämlich der
Beschäftigung. Gerade dieses Ziel wird im Rahmen der
G 20 von der Gruppe der Gewerkschaftsvertreter und
der Internationalen Arbeitsorganisation sehr intensiv
verfolgt. Es geht hier vor allen Dingen um den Kampf
gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Das ist nicht nur ein
Problem in Europa, sondern ein weltweites Problem. Es
wird deshalb auch in Los Cabos diskutiert. Es gibt eine
Vielzahl von Vorschlägen zur Förderung der Jugendbeschäftigung. Da geht es um den reibungslosen Übergang
von der Schule in den Beruf, praxisorientierte Ausbildung, die Förderung von beruflicher Ausbildung. Ich
glaube, Deutschland kann und wird hier seinen Erfahrungsschatz aus dem dualen Berufsausbildungssystem
sehr gut einbringen.
({1})
Die Erfahrung zeigt, dass, wenn wir das schaffen wollen,
wir es nur gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften schaffen werden. Wir in Deutschland haben gerade in der Krise 2008/2009 gute Erfahrungen mit der
sozialen Marktwirtschaft gemacht. Dieses Beispiel kann,
glaube ich, weltweit Schule machen.
Drittens gehört zu dem Thema der internationalen
wirtschaftlichen Zusammenarbeit der freie Handel. Hier
ist ein deutliches Wort notwendig, und ich werde dort
auch entsprechend auftreten. Das Bekenntnis zum freien
Handel ist zu oft nur ein Lippenbekenntnis. Die Monitoringberichte der internationalen Organisationen zeigen,
dass die G 20 ihre Selbstverpflichtung in Sachen Protektionismus bislang nicht immer ernst genug genommen
hat. WTO, OECD und UNCTAD haben zuletzt Ende
Mai mit Sorge darauf hingewiesen, dass mittlerweile fast
4 Prozent des Handels der G-20-Staaten von solchen
handelsbeschränkenden Maßnahmen betroffen sind. Es
führt deshalb kein Weg daran vorbei, wirksame Instrumente zu schaffen, um dieser Entwicklung entschieden
zu begegnen. Protektionismus verhindert Wachstum.
Wir brauchen nicht tagelang über Wachstum zu sprechen, wenn wir anschließend nicht bereit sind, im Sinne
von freiem Handel alles zu tun, um Wachstum zu fördern.
({2})
Das Thema wird in Los Cabos sehr konkret werden;
denn wir haben bei der G 20 ein sogenanntes Stillhalteabkommen zur Begrenzung des Protektionismus, das
Ende 2013 ausläuft. Wir müssen es in Los Cabos verlängern, und zwar möglichst weit in die Zukunft hinein,
weil internationaler Handel Impulse für Innovation,
Wachstum und Beschäftigung schafft. Wir wissen, dass
die Doha-Runde stockt. Deshalb müssen wir vor allen
Dingen regionale und bilaterale Ansätze voranbringen.
Die Europäische Union führt hierzu strategische Gespräche mit wichtigen Partnern in Asien und Lateinamerika.
Deutschland ist bei diesen Verhandlungen immer ein
konstruktiver Partner.
Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit verlangt viertens und nicht zuletzt die Stärkung der Institutionen. Wir haben seit 2009 eine erstaunliche, auch sehr
schnelle Entwicklung gehabt, bei der internationale Organisationen gestärkt wurden. Das gilt insbesondere für
den Internationalen Währungsfonds. Der Internationale
Währungsfonds muss zu jedem Zeitpunkt in der Lage
sein, seine überaus wichtige Aufgabe zugunsten aller
Mitgliedsländer wahrzunehmen. Deshalb war es wichtig,
dass es auf der Frühjahrstagung des IWF gelungen ist,
die Ressourcen aufzustocken. Wir erinnern uns: Zusätzliche finanzielle Mittel in Höhe von 430 Milliarden USDollar, davon allein rund 150 Milliarden Dollar aus der
Euro-Zone, sprechen hier eine eigene Sprache.
Jetzt geht es aber auch um die Umsetzung der 2010
beschlossenen IWF-Quotenreform. Hier geht es um die
neue Machtbalance, die letztlich widerspiegelt, wie sich
die ökonomischen Verhältnisse weltweit verändert haben. Das heißt, die Schwellenländer werden einen größeren Einfluss im IWF bekommen. Deutschland hat diese
Quotenreform national fristgerecht umgesetzt, aber das
haben noch nicht alle gemacht. Ich meine, es ist eine
Frage der Glaubwürdigkeit auch für die internationale
Zusammenarbeit, dass alle Mitgliedstaaten dieser Quotenreform gerecht werden, damit der IWF auch arbeiten
kann.
({3})
Der IWF hat nicht nur die Rolle, finanzielle Mittel in
Notfällen bereitzustellen, sondern er entwickelt sich
auch immer mehr zu einem Überwachungs- und Beratungsgremium. Er hat ja bei der Bekämpfung der europäischen Schuldenkrise eine ganz wichtige Aufgabe im
Rahmen der Troika. Ich will an dieser Stelle noch einmal
daran erinnern, meine Damen und Herren, dass es die
Troika war - der IWF an vorderster Stelle mit dabei -,
die die Programme für Griechenland, für Portugal und
für Irland ebenso wie Programme für andere europäische
Länder, die wie zum Beispiel Lettland nicht im EuroRaum sind, entwickelt hat, und dass deshalb diese Programme auf internationalem Fundament ruhen und aus
diesem Grunde auch umgesetzt werden müssen.
Die Themen grünes Wachstum, Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, freier Handel, Stärkung der Institutionen sind von größter Bedeutung. Aber machen wir
uns nichts vor: So wichtig all diese Themen sind, so sehr
werden sie in Los Cabos alle im Schatten eines Themas
stehen, das seit gut zwei Jahren auch uns, Deutschland,
Europa und die Welt nahezu unablässig beschäftigt,
nämlich die Staatsschuldenkrise in Europa. Sie wird zentrales Thema in Los Cabos sein. Sie wird die Beratungen
- so sehe ich voraus - auch dominieren.
({4})
Damit - daran gibt es nicht den geringsten Zweifel wird gerade auch unser Land, wird Deutschland einmal
mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.
({5})
Es ist so: Alle Augen richten sich auf Deutschland, weil
wir die größte Volkswirtschaft im europäischen Raum
und weil wir eine große Exportnation sind. Deshalb
möchte ich noch einmal daran erinnern: Es ist zwar viel
passiert seit dem letzten Gipfel in Cannes - Aufstockung
des Rettungsschirms, strukturelle Reformen in vielen
Ländern, Verhandlungen um den Fiskalvertrag; wir sind
auf dem Weg, uns in Europa intensiver als jemals zuvor
abzustimmen und die Union weiter zu vertiefen -, aber
das wird nichts daran ändern, dass die aktuelle Situation
dort auf der Tagesordnung steht.
Wir beachten immer, dass die Stärkung des Wachstums und die Haushaltskonsolidierung Hand in Hand gehen müssen. Im Übrigen sind alle Programme, die von
der Troika verabschiedet wurden, genau diesem Ziel geschuldet. Diese beiden Säulen gehören in der Krise in
Europa zusammen. Beide Säulen sind unverzichtbar.
Beiden Säulen liegt die Überzeugung zugrunde, dass wir
die Krise nur nachhaltig überwinden können, wenn wir
an ihren Wurzeln ansetzen: an der massiven Verschuldung und vor allem an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten wie auch an der mangelnden Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit Europas,
die entsteht, wenn es seine eigenen Regeln nicht einhält.
({6})
Ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur eine schonungslose Analyse unserer eigenen Erfahrungen in Europa
weist uns den Weg aus der Krise.
({7})
Immer wieder haben wir in Europa unsere Ziele nicht
eingehalten. Im Jahre 2000 wurde von den Staats- und
Regierungschefs beschlossen, dass man 2010 der dynamischste Kontinent der Welt sein wolle. Wir haben dies
erkennbar nicht erreicht.
Ich sage auch: Angefangen hat diese Entwicklung bei
der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion vor
20 Jahren. Eigentlich sollte sie auf dem Fundament einer
politischen Union aufgebaut werden.
({8})
Es gab damals zwei große Konvente bzw. Gruppen, die
zwei Aufgaben hatten: Die eine hatte die Aufgabe, die
Währungsunion zu schaffen, die andere die Aufgabe, die
politische Union zu schaffen. Anschließend hat man die
Währungsunion beschlossen, die politische Union aber
nie realisiert.
Deshalb ist es unsere Aufgabe, heute das nachzuholen, was damals versäumt wurde, und den Teufelskreis
von immer neuen Schulden, von nicht eingehaltenen Regeln zu durchbrechen. Ich weiß, dass das mühsam ist,
dass das schmerzhaft ist, dass das langwierig ist. Es ist
eine Herkulesaufgabe, aber sie ist unvermeidlich. Alles
andere wäre Augenwischerei und würde uns in noch
schwierigere Probleme führen - vielleicht nicht morgen,
aber mit aller Sicherheit in ziemlich kurzer Zeit, meine
Damen und Herren.
({9})
Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal die
Frage stellen, die uns beschäftigen muss, mit der man
sich ja auch weltweit beschäftigt: Wie konnte eigentlich
die internationale Finanzkrise 2008/2009 entstehen?
({10})
Sie konnte entstehen und fatale Wirkungen entfachen,
weil immer wieder Fakten ignoriert wurden, Wechsel auf
die Zukunft gezogen wurden, Kräfte überschätzt wurden
und riskante Instrumente finanzieller Art angewandt
wurden. So ist die Immobilienkrise entstanden, so wurde
zu viel Liquidität bereitgestellt, so konnten neue Finanzprodukte entwickelt werden - ein Teufelskreis, den wir
für die Zukunft durchbrechen müssen.
Wir müssen verstehen: Erfolgreich werden wir nur
sein, wenn alle - ich betone: wirklich alle -, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die europäischen
und internationalen Institutionen genauso wie die Gesellschaften unserer Länder, bereit und in der Lage sind,
die Fakten anzuerkennen und die Kräfte jeweils realistisch einzuschätzen und sie zum Wohle des Ganzen auch
wirklich einzusetzen. All denen, die in diesen Tagen in
Los Cabos wieder auf Deutschland schauen, die von
Deutschland den Paukenschlag und die Lösung erwarten, die Deutschland von Euro-Bonds, Stabilitätsfonds,
europäischen Einlagensicherungsfonds, noch mehr Milliarden und vielem mehr überzeugen wollen, sage ich
deshalb: Ja, Deutschland ist stark, Deutschland ist Wirtschaftsmotor, und Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa. Und ich sage: Deutschland setzt diese Stärke und
diese Kraft auch ein, und zwar zum Wohle der Menschen nicht nur in Deutschland, sondern auch im Dienste der
europäischen Einigung und auch im Dienste der Weltwirtschaft.
({11})
Warum tun wir das? Weil wir überzeugt sind: Europa
ist unser Schicksal und unsere Zukunft. Und weil wir
überzeugt sind: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Aber wir wissen ebenfalls: Auch Deutschlands
Stärke ist nicht unendlich; auch Deutschlands Kräfte
sind nicht unbegrenzt. Deshalb besteht unsere besondere
Verantwortung als größte Volkswirtschaft in Europa darin, unsere Kräfte glaubwürdig einzuschätzen, damit wir
sie für Deutschland und Europa mit voller Wirkung einsetzen können. Das gelingt nur, wenn wir unsere Kräfte
nicht überschätzen, sondern wenn wir glaubwürdig
Schritt für Schritt unseren Weg zu einer politischen
Union gehen.
Alle Mittel, alle Maßnahmen, alle Pakete wären am
Ende Schall und Rauch, wenn sich herausstellen sollte,
dass sie über Deutschlands Kräfte gehen, dass sie
Deutschland überfordern. In dem Moment würden alle
Maßnahmen, die jetzt gefordert werden, ihre Wirkung
sofort verlieren, und wir würden von den Märkten wieder abgestraft. Deshalb sage ich: Wir sind verpflichtet,
zum Wohle unseres Landes, aber auch zum Wohle Europas zu arbeiten. Das heißt, wir dürfen uns nicht nach
dem Mittelmaß richten, nach der schnellen Lösung suchen, sondern wir müssen das Beste für unser Handeln
versuchen.
({12})
Diese scheinbar einfachen Vergemeinschaftungsüberlegungen, ganz abgesehen davon, dass sie verfassungsrechtlich gar nicht machbar sind, sind somit völlig kontraproduktiv. Sie würden das Mittelmaß für Europa zum
Maßstab erklären. Wir würden damit unseren Anspruch
aufgeben, unseren Wohlstand im weltweiten Wettbewerb
zu halten. Wir würden die Fehler der Anfangszeit des
Euro, als die Märkte uns mit fast einheitlichem Zins beurteilt haben, jetzt politisch wiederholen. Damit würden
wir eben nicht an der Wurzel unseres Problems ansetzen,
sondern die Probleme allenfalls kurzfristig verschleiern.
({13})
Manchen Marktteilnehmern mag das recht sein - das
kann ich verstehen -; aber wir machen Politik doch nicht
im Auftrag der Märkte, sondern wir machen sie für die
Zukunft der Menschen in unserem Lande.
({14})
Wir haben unverändert das Ziel, dass Europa stärker
aus dieser Krise hervorgeht, als es in sie hineingegangen
ist. Deshalb müssen wir umfassend unsere Strukturen reformieren. Es gibt ganz einfache Ausarbeitungen, zum
Beispiel der Weltbank, wo beschrieben steht, wie Europa
seinen Glanz wiederherstellen kann: „Restoring the
lustre of the European economic model“. Allein schon in
diesem Titel drückt sich aus, dass bei uns etwas nicht
richtig gelaufen ist.
Wir müssen mehr Innovationen haben. Wir brauchen
mehr neue Technologien. Wir müssen den Binnenmarkt
vervollständigen. Wir müssen einen Arbeitsmarkt in Europa schaffen, auf dem mehr Mobilität herrscht. Wir
müssen unsere Mittel, die Strukturfondsmittel, die Kohäsionsfondsmittel, besser einsetzen. Wir müssen Bürokratie abbauen. Über alles das sprechen wir jetzt auch im
Zusammenhang der Vorbereitung des Rates mit den Vertretern der Oppositionsfraktionen. Ich glaube, das sind
gute Gespräche. Dass wir all das nicht ausreichend getan
haben, dass wir die Regeln immer wieder nicht eingehalten haben, hat Europa Vertrauen gekostet - Vertrauen auf
den Märkten und bei den Investoren. Dieses Vertrauen
muss schnellstmöglich wiederhergestellt werden.
Meine Damen und Herren, nehmen wir Spanien. Spanien macht - nach langer Zeit - die richtigen Reformen.
Der spanische Ministerpräsident tut dies mit großem
Mut und großem Engagement.
({15})
Aber Spanien sitzt auf den Folgen einer Immobilienblase, die durch unverantwortliches Handeln in den letzten zehn Jahren entstanden ist. Deshalb war es auch richtig, dass Spanien sich anschickt, einen Antrag zu stellen,
um die Solidarität Europas in Anspruch zu nehmen, damit die Folgen dieser Vergangenheit bewältigt werden
können. Denn wir wissen: Banken müssen vernünftig
kapitalisiert sein, um den Wirtschaftskreislauf am Laufen zu halten. Das ist die Lehre von 2008/2009.
Natürlich wird dies auch eine Konditionalität für die
Zukunft des spanischen Bankensektors beinhalten. In
diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass wir in
Deutschland ebenfalls relativ leidvolle Erfahrungen mit
der Umstrukturierung einiger Banken sammeln mussten.
Je schneller der Antrag von Spanien gestellt werden
kann, umso besser ist es.
Am Fall Spanien können wir aber auch noch ein Weiteres sehen. Vor einem halben Jahr hat die neu geschaffene europäische Bankenaufsicht einen Stresstest für alle
Banken in Europa durchgeführt. Bei diesem Stresstest
damals haben die nationalen Bankenaufseher sehr viel
mitgesprochen. Meine Damen und Herren, das Ergebnis
können wir heute besichtigen: Die spanischen Banken
befinden sich in einer anderen Lage, als es der Stresstest
erscheinen ließ.
({16})
Deshalb geht es - das kann man an diesem Beispiel exemplarisch sehen - in Europa um unabhängige Aufsicht,
zum Beispiel im Bankensektor. Ich hätte nichts dagegen,
wenn die Europäische Zentralbank hier künftig eine stärkere Rolle einnimmt, damit sie auch Aufsichtsbefugnisse bekommt, die uns davor schützen, dass nationale
Einflüsse uns Probleme verschleppen lassen.
({17})
Wir brauchen eine glaubwürdige Bankenaufsicht. Wir
brauchen auf der Ebene der EU eine klarere Beurteilung,
wie wir Strukturfondsmittel besser in Maßnahmen und
Investitionen lenken, um Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu stärken. Die Tatsache - das ist
bereits ein Schritt dessen, was wir im sogenannten SixPack miteinander beschlossen haben -, dass die Europäische Kommission heute Länderberichte für jedes Land
vorlegt
({18})
und darin die Wettbewerbsschwächen schonungslos analysiert, ermöglicht es uns natürlich auch, die Strukturfondsmittel in Zukunft sehr viel zielgerichteter einzusetzen.
Es ist vollkommen richtig: Auch Deutschland werden
Hausaufgaben aufgegeben. Herr Trittin, wenn wir dann
über die bessere Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie
sprechen, werden wir sicher ganz schnell zusammenkommen; denn gerade im Dienstleistungsbereich wird
Deutschland immer mangelnde Wettbewerbsfähigkeit
vorgeworfen.
({19})
Ich weiß, dass das uns allen schwerfällt. Ich sage aber
auch: Wenn wir ein glaubwürdiger Partner in Europa
sein wollen, müssen auch wir unsere Hausaufgaben machen und können nicht immer sagen, dass uns das gerade
nicht passt.
({20})
Meine Damen und Herren, der Fiskalpakt ist auch
deshalb von so großer Bedeutung, weil er ein erster
Schritt ist, mehr Gemeinsamkeit mit mehr Kontrolle auf
europäischer Ebene zu verbinden. Es wird ganz wichtig
sein, zu berücksichtigen, dass nationale Kompetenzen
nur dann abgegeben werden können, wenn klar ist, dass
Vergemeinschaftung auch immer mit unabhängiger Kontrolle der europäischen Institutionen verbunden ist. Haftungen und Kontrollen gehören zusammen. Alle anderen
Diskussionen führen nur zu einer Scheinlösung unserer
Probleme.
({21})
Europa hat sich aufgemacht, die Wirtschafts- und
Währungsunion zu vollenden. Wir sind hier mit Sicherheit in einem Wettlauf mit den Märkten. Das spüren wir
jeden Tag. Ich kann uns aber nur dringend raten - und
ich werde in Los Cabos dafür eintreten -, dass wir diesen
Weg Schritt für Schritt weitergehen, damit das Fundament, auf dem wir unsere Zukunft aufbauen, ein ehrliches und ein vernünftiges Fundament ist. Es ist unsere
gemeinsame politische Verantwortung vor den Bürgerinnen und Bürgern Europas und vor der Geschichte unseres Kontinents, diesen Weg erfolgreich zu gehen. Das
Ergebnis wird darüber befinden, wie die zukünftigen
Generationen leben können, ob weiter in Wohlstand oder
ob Europa als Ganzes zurückfällt. Deshalb ist dies eine
wahrhaft historische Aufgabe, meine Damen und Herren.
({22})
Diese Aufgabe können wir nicht mit weniger Europa
lösen - darum geht es in diesem Parlament bei den allermeisten glücklicherweise auch nicht -, sondern nur mit
mehr Europa, aber mit Europa auf einem guten Fundament.
Wenn die G 20 als G 20 überzeugend agieren wollen,
dann muss in Los Cabos auch klar werden, dass nicht die
Euro-Zone allein die Voraussetzung für ein starkes und
nachhaltiges Wachstum weltweit schaffen kann. Die
G 20 insgesamt haben eine Verantwortung. Dann muss
klar werden, dass alle Partner in der G 20 alle Anstrengungen unternehmen müssen, um zu einem stabileren,
stärkeren und nachhaltigeren Wachstum zu kommen.
Alle müssen wir der Versuchung widerstehen, Wachstum erneut mit mehr Schulden zu finanzieren. Wenn wir
in Los Cabos einen Aktionsplan verabschieden, der aufbauend auf den Ergebnissen der G-20-Gipfel in Seoul
und Cannes kurz- und mittelfristige Maßnahmen einzelner Länder zur Stärkung und Stabilisierung auflisten
wird, muss genau das unser Credo sein. Es ist unverzichtbar, dass die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wesentliches Element dieses Los-Cabos-ActionPlans sein wird. Ich werde das sehr deutlich machen.
Deutschland hat sich eindeutig zum Schuldenabbau und
zu einer nachhaltigen Wirtschaft bekannt. Deutschland
geht mit Blick auf die Einhaltung der sogenannten
Toronto-Ziele - auch ein G-20-Beschluss, nämlich die
Halbierung des Defizits bis 2013 zu erreichen - mit
gutem Beispiel voran.
Wenn der Los-Cabos-Aktionsplan dazu beitragen
soll, dass wir als G 20 das Vertrauen in eine stabile weltwirtschaftliche Entwicklung tatsächlich stärken, dann
müssen alle Staaten daran mitwirken. Alle müssen bereit
sein, ihre spezifischen Schwachpunkte zu überwinden:
die Europäische Union - ich habe darüber gesprochen durch die Überwindung der Konstruktionsmängel der
Wirtschafts- und Währungsunion; die USA, indem sie
ihr Haushaltsdefizit reduzieren; China und die anderen
Schwellenländer müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, indem sie eine höhere Wechselkursflexibilität zulassen.
Die Ursachen der schwächelnden Weltwirtschaft liegen wahrlich nicht nur in der Euro-Zone. Ausgangspunkt der Krise waren die weltweiten Turbulenzen an
den Finanzmärkten vor gut vier Jahren, die deutliche
Regulierungslücken offenbarten. Das Vertrauen der
Menschen in das weltweite Finanzsystem ist dadurch
erheblich erschüttert worden.
Seitdem haben wir in der G 20 eine Reihe von wichtigen Maßnahmen beschlossen und auch umgesetzt: stärkere
Kapitalausstattung für Banken, Regulierung der Derivatemärkte, Regeln für Ratingagenturen, eine Beaufsichtigung
aller Fondsmanager und die Neuordnung und Stärkung
der Finanzmarktaufsicht. Dass es nicht gelungen ist, global den Schwung zu nutzen und zu sagen: „Wir müssen
auch die Akteure der Finanzmärkte einheitlich und global besteuern“ als Lehre aus der Finanzmarktkrise,
gehört zu dem, was ich als negativ sehe.
({23})
Deshalb werde ich auch weiter darauf drängen, dass
die Agenda zur Regulierung der Finanzmärkte nicht aus
den Augen verloren wird. Wir haben noch wichtige Aufgaben, zum Beispiel bei der Beaufsichtigung und Regulierung der Schattenbanken, zu erledigen. Wir müssen
sicherstellen, dass überall auch die Hedgefonds erfasst
werden. In Europa haben wir sie einer Aufsicht unterworfen, aber nicht weltweit. Auch die konsequente Umsetzung der Konkretisierung der G-20-Beschlüsse zur
Regulierung der systemisch wichtigen Finanzinstitute,
der sogenannten SIFIs, ist unerlässlich.
Meine Damen und Herren, es ist gut und es ist wichtig, dass wir uns in der G 20 zu allen Fragen austauschen, die unsere Welt bewegen. Wir haben in diesem
Gremium entschieden, gemeinsam Verantwortung zu
übernehmen. Nur mit einem solchen kooperativen Ansatz wird es gelingen, Lösungen für die vielen Herausforderungen unserer Zeit zu finden: von der Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit und dem Schuldenabbau über die
Strategien zum Schutz der Umwelt und des Klimas bis
hin zur Bekämpfung des Hungers und der Armut.
Wir sind eine Welt. Los Cabos wird das in diesen
Tagen einmal mehr unter Beweis stellen. Ich füge hinzu:
Los Cabos wird es unter Beweis stellen müssen, wenn
wir den Menschen weltweit dienen wollen. Deutschland
nimmt seinen Teil dieser gemeinsamen Verantwortung
wahr.
Herzlichen Dank.
({24})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
zwei Sitzungswochen haben wir eine Regierungserklärung zum G-8-Gipfel gehört. Heute gibt es eine zum
G-20-Gipfel. Beide Regierungserklärungen wurden mitten in der tiefsten europäischen Krise gehalten: Rezession in weiten Teilen Europas, Einbrüche im globalen
Wachstum. Vielleicht hat vor zwei Wochen der eine oder
andere im Hause gedacht: Das alles hat mit uns nichts zu
tun. - Das war ein großer Irrtum. Wenn ich das sage, ist
es kein Schlechtreden der gegenwärtigen Lage, aber wir
müssen auf die eigenen Wachstumszahlen dieses Jahres
und insbesondere des vierten Quartals im letzten Jahr
schauen.
Meine Damen und Herren, die Krise kommt bei uns
an. Sie bedroht uns. Die Menschen haben Angst, sogar
Wut, weil zum x-ten Mal Milliarden in die Hand genommen werden, um Banken zu retten. Sie haben Zweifel,
ob die höchsten Erwartungen, die sie an die Politik
haben, erfüllt werden. Ich frage Sie, Frau Merkel: Welche Bedrohungen und welche Ängste der Menschen
spiegeln sich in Ihrer Regierungserklärung wider? Ich
werfe Ihnen nicht vor, dass Sie nicht von vornherein mit
allen G-20-Partnern einer Meinung sind. Aber wo sind
die deutschen Vorschläge, wo sind die deutschen Initiativen, wo ist die deutsche Vorreiterrolle bei der Regulierung von Finanzmärkten?
({0})
Ich sage Ihnen: Wer soll die Verantwortung für mutige
Wege nach vorn übernehmen, wenn nicht ein Land mit
über 80 Millionen Einwohnern und der stärksten Volkswirtschaft in Europa? Sie legen sich in die Furche und
warten ab. Das ist nicht genug. Genau das werfen wir
Ihnen vor, Frau Merkel.
({1})
Ginge es allein um Wachstumsraten und Arbeitsplätze, wäre das in der Tat dramatisch genug. Aber die
Menschen - das sage ich Ihnen - verzweifeln an der
schieren Ungerechtigkeit. Machtlos haben sie mit ansehen müssen, wie Verantwortungslosigkeit und grenzenlose Bereicherung eine Finanzwelt zum Einsturz gebracht haben. Millionen von Träumen, zum Beispiel
vom eigenen Haus und von der Altersversorgung, sind
dabei untergegangen. Die Menschen haben mit Empörung gesehen, dass für die Milliardenkatastrophen, die
angerichtet worden sind, nicht die dafür Verantwortlichen, sondern die Steuerzahler in Anspruch genommen
worden sind. Ein Jahr nachdem Staaten mit Milliardenhilfen die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahrt
haben, gibt es plötzlich keinen Schuldigen mehr. Jetzt
sollen wir alle über unsere Verhältnisse gelebt haben.
Die Krise ist plötzlich eine Staatsschuldenkrise, obwohl
alle wissen könnten, dass gerade die Staatsschulden
unmittelbar vor der Pleite von Lehman Brothers in fast
allen europäischen Staaten historisch niedrig waren. Wer
heute unterschiedslos von Staatsschuldenkrise redet, der
verhilft den Akteuren auf den Finanzenmärkten zur
Flucht aus der Verantwortung.
({2})
Noch schlimmer für unser Land und die Situation in
Europa ist: Wer angesichts einer so unzureichenden und
deshalb notwendigerweise falschen Diagnose handelt,
kann nur zu einer falschen Therapie kommen. Deshalb,
Frau Merkel, greifen Ihre Erklärungen hier im Deutschen Bundestag zu kurz.
({3})
Was die Menschen jenseits von Empörung schlicht und
einfach zur Verzweiflung treibt, ist, dass das Desaster in
der Finanzwelt alles verändert hat: zum Beispiel die
Hoffnung, dass die Reformrendite bei uns ankommt und
sie endlich dazu führt, dass nach Jahren des Verzichts
wieder etwas zu verteilen ist, und anderswo - vielleicht
nicht in Deutschland - die Hoffnung auf Arbeit und Ausbildung.
Für alle in Europa steht in dieser Krise wieder fast
alles auf dem Spiel, nur auf den Finanzmärkten geht es
weiter wie gehabt. Da wird nicht nur wieder kräftig verdient, sondern so, als sei nichts geschehen, spielen diejenigen, die über Jahre hinweg Geldschöpfung mit immer
windigeren Produkten und völlig verantwortungslosen
Bewertungen betrieben haben, jetzt Schicksal für die
Volkswirtschaften, und zwar ausgerechnet mit denen, die
das Schlimmste zu verhindern versuchen.
Wenn wir das alles so weiterlaufen lassen, dann reden
wir sehr bald nicht mehr über verloren gegangenes Vertrauen der Märkte, sondern dann werden wir über das
verloren gegangene Vertrauen der Menschen in die
Demokratie reden müssen. Die Zweifel sind doch schon
jetzt übergroß, ob die Politik gegen die globalen Finanzmärkte etwas ausrichten kann. Wie soll das erst werden,
wenn wir den Menschen vermitteln, dass wir nicht einmal mehr den Ehrgeiz, den Anspruch dazu haben?
Frau Merkel, ich unterstelle nichts. Ich zitiere nur
einen Satz aus dem aktuellen Pressebriefing der Bundesregierung zum G-20-Gipfel. Dort heißt es ganz lapidar:
Bei der Finanzmarktregulierung sind keine neuen Initiativen zu erwarten. - Frau Bundeskanzlerin, vor knapp
drei Jahren beim Gipfel in Pittsburgh, als alle noch unter
dem Schock der Lehman-Brothers-Pleite standen, haben
sich die G-20-Staaten ein sehr ambitioniertes Versprechen gegeben. Das haben Sie alle hier in guter Erinnerung: kein Markt, kein Akteur, kein Produkt auf den
internationalen Finanzmärkten ohne Regulierung und
ohne Aufsicht. Verkehrsregeln sollten dort geschaffen
werden, wo sie nicht bestehen oder wo sie in der Vergangenheit beiseitegeräumt worden sind. Das war damals in
Pittsburgh nicht nur ein hoher Anspruch, sondern das
war das, was die Menschen von der Politik erwartet hatten und was Sie den Menschen in Deutschland - als
Lehre aus der Krise - versprochen haben.
Und jetzt, meine Damen und Herren, heißt es: Es sind
keine neuen Initiativen zu erwarten. - Ich hoffe inständig, dass das nicht wahr ist. Deutschland war einmal
Taktgeber auf der Ebene der G 20. Wir können und wir
dürfen diesen Teil der Krisenaufarbeitung nicht einfach
links liegen lassen. Es gibt dort noch riesige Baustellen.
Wir brauchen mehr Transparenz und Stabilität auf den
Finanzmärkten. Wir haben noch weitgehend unregulierte
Bereiche wie den Schattenbankensektor. Wir haben die
Gefahr nicht gebannt, dass die Pleite einzelner Institute
zur Krise der gesamten Weltwirtschaft führt. Noch
immer gibt es jede Menge hochspekulativer Finanzinstrumente, die keinen vernünftigen Zweck erfüllen und
allenfalls als Brandbeschleuniger in der jetzigen Krise
wirken.
Frau Merkel, es mag sein, dass in Ihrem Pressebriefing durchaus zu Recht formuliert ist, dass Initiativen
von anderen nicht zu erwarten sind. Aber genau das
muss doch hier im Deutschen Bundestag unser Thema
sein. Weil solche Initiativen von anderen nicht zu erwarten sind, müssen wir da ran. Nicht andere, sondern wir in
Deutschland sind in der Verantwortung. Genau das
erwarten wir von Ihnen.
({4})
Nicht nur wir haben etwas anderes erwartet, zum Beispiel von dieser Regierungserklärung, sondern auch diejenigen, die uns beim Kampf gegen die Zügellosigkeit
auf den Märkten unterstützen und die wir an unserer
Seite wissen, haben etwas anderes erwartet von einer
Kanzlerin, die noch vor zwei Jahren nichts dagegen
hatte, sich überall in der Welt als Klimakanzlerin zu präsentieren. Aber die medialen Meriten in diesem Bereich
sind zurzeit - das wissen wir alle - eher rückläufig. Wir
haben verstanden: Nach Rio fahren Sie nicht.
Aber das ist nicht das Einzige, was auffällt: Das Klima
spielt auch beim G-20-Gipfel eine Rolle; Green Growth
ist das Stichwort dort, Sie haben es eben selbst erwähnt.
Wir waren auch deshalb auf diese Regierungserklärung
gespannt, weil wir wissen wollten, wie die deutschen
Vorschläge zu diesem Thema aussehen. Wir haben
gehört: Sie „begrüßen“ die Überlegungen der G-20-Partner. Aber was heißt das? Auch hier: Passivität statt Ehrgeiz. Wir Deutsche hätten zu diesem Thema doch wirklich etwas zu sagen gehabt. Wo können Investitionen zu
mehr Energieeffizienz führen, wenn Energie in den kommenden Jahren stetig teurer und knapper wird? Von wem
erwarten wir denn solche Vorschläge dazu? Etwa von
den Amerikanern, die sich gerade mit billigem Shell-Gas
von dieser Debatte abkoppeln? Oder von Brasilien,
Russland oder Mexiko - den Förderländern, die ein Interesse an der Knappheit und an den hohen Preisen haben?
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundeskanzler, hier sind wir gefragt und niemand anders; hier
müssen unsere Vorschläge kommen.
({5})
Ich vermute, am Ende mangelt es gar nicht an Vorschlägen aus Ihren Fachministerien. Ich glaube, Sie
selbst hadern mit solchen Überlegungen zur Wachstumspolitik. Sie haben sich in einer Vorstellung von der Gesundschrumpfung der Wirtschaft so eingegraben, dass
Ihnen die Umkehr im Augenblick besonders schwer
fällt. Ich weiß, Sie bestreiten das, und Sie sagen, dass
wir seit zwei Jahren in Europa, auch auf den europäischen Räten, über Wachstum reden. Es wundert mich
nicht, dass dort darüber geredet wird. Aber genau in diesen zwei Jahren sind wir hier im Deutschen Bundestag
nicht vorangekommen. Ich darf doch daran erinnern,
dass die Versuche von Opposition und Regierung, gemeinsame Entschließungsanträge zu formulieren, genau
an diesen Unterschieden gescheitert sind.
({6})
In der Vergangenheit habe ich versucht, das zu verstehen: Es hat Ihnen sogar in den Kram gepasst, die Opposition als diejenigen darzustellen, die als Verletze eines
rigorosen Sparkurses in der Öffentlichkeit zu brandmarken sind. Aber das, Frau Merkel, ist Ihnen weder gelungen, noch hatten Sie recht. Dass die Merkel-SarkozyArznei nicht wirkt, sagen Ihnen inzwischen auch die
Experten, die Sie lange auf Ihrer Seite hatten.
Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn eine
Lehre aus der Krise ist, dass wir uns langfristig unabhängiger von den Finanzmärkten machen müssen, dass wir
die Neuverschuldung zurückfahren müssen, dann ist
Konsolidierung in der Tat Pflicht. Ich habe es hier beim
letzten Mal gesagt: Wir streiten nicht über die Notwendigkeit von Konsolidierung; aber wir streiten sehr wohl
und sehr grundsätzlich darüber, wie Konsolidierung zu
erreichen ist. Da bleibt mein Credo, was ich seit zwei
Jahren von dieser Stelle aus vertrete: Haushaltsdisziplin
und Ausgabenkontrolle sind unverzichtbar. Aber genauso wahr ist: Wenn das die ganze Antwort auf die
europäische Krise ist, wenn 27 europäische Staaten
gleichzeitig nichts anderes tun, als ihre Haushalte zusammenzustreichen, dann ist das eben kein Weg aus der
Krise, sondern der direkte Weg in die Rezession; das ist
der falsche Weg.
({7})
Sparen, Haushaltsdisziplin: Das ist eine ganz wichtige
Säule eines richtigen Ansatzes, um aus der Krise zu
kommen; aber es ist eben nur eine Säule. Strukturreformen gehören dazu, aber eben auch Maßnahmen und
Instrumente zum Erhalt von Wachstum. Das ist kein
Teufelswerk. Vielmehr können wir - das empfehle ich Anleihe bei unseren eigenen Erfahrungen nehmen:
Zweimal im vergangenen Jahrzehnt haben wir eine tiefe
Krise durchschreiten müssen; wir haben das erfolgreich
getan, weil wir einen klugen Mix aus Einsparen, Strukturreformen, aber auch Maßnahmen zum Erhalt des
Wachstums gefunden haben. Das haben wir nicht zufällig getan, sondern deshalb, weil wir die Erfahrung
hatten, dass das, was in der Krise an Arbeitsplätzen und
industriellen Kapazitäten wegbricht, nach der Krise eben
nicht automatisch wiederkommt. Die zweite Erfahrung
ist: Wir haben über Jahre versucht, erfolglos gegen eine
Krise anzusparen. Ohne Wachstum steigen die Schulden,
und ohne Wachstum gelingt der Weg aus der Krise nicht.
({8})
Ich unterschreibe alle Alltagssätze, die in solchen Fällen gesagt werden. Dass jeder Staat innerhalb des gemeinsamen Währungsraums seine Aufgaben zu erfüllen
hat: ja, natürlich. Ich unterschreibe den Satz, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist; auch das stimmt. Aber
zur ganzen Erfahrung gehört doch, meine Damen und
Herren: Immer neue Rettungsschirme helfen nicht, wenn
wir das Wachstum in Europa komplett abwürgen. Diese
Politik ist jedenfalls gescheitert; wir stehen gerade vor
deren Ruinen.
({9})
Nun sind wir vielleicht auf dem Weg, in den Verhandlungen, die wir gerade führen, zu Annäherungen zu
kommen. Wir haben uns gestern auf die Besteuerung der
Finanzmärkte geeinigt. Damit nehmen wir eine Hürde
- ich betone: eine wichtige Hürde -, die einer Ratifizierungsentscheidung jedenfalls für uns im Wege stand.
Wir wissen auch - Frau Merkel, Sie haben das angedeutet -: Noch nicht alle Hürden sind überwunden. Lassen
Sie uns deshalb mit einigem Ehrgeiz und auch mit einigem Anspruch in den nächsten Tagen an dem Thema
Wachstumsinstrumente arbeiten.
Das sage ich deshalb, weil wir wissen und ahnen können, dass unsere Gespräche in den nächsten Tagen wieder unmittelbar überlagert werden durch Nachrichten
aus Griechenland und vielleicht aus Spanien, die sich auf
die Titelseiten drängen. Gerade dann, wenn andere
Themen unsere Verhandlungen überlagern, könnte ein
kluges Signal aus Deutschland zeigen, dass Konsolidierung und Wachstum nicht getrennt zu sehen sind, dass
wir sie nicht als Gegensatz behandeln dürfen, sondern
dass sie zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.
Das könnte ein gelungener Beitrag zur europäischen
Krisenstrategie sein. Wir sind jedenfalls bereit, daran
mitzuwirken.
({10})
Ein Letztes. Wenn die Krise so dramatisch ist, wie wir
sie in unseren öffentlichen Reden, auch hier im Deutschen Bundestag, beschreiben, dann ist meine Bitte:
Hören Sie auf mit der Strategie der roten Linien! Diese
Strategie hat uns nach meiner Überzeugung in den letzten zwei Jahren viel Glaubwürdigkeit geraubt. Es gibt
keine rote Linie, die Sie - das zeigen die Geschehnisse
der zurückliegenden zwei Jahre - nicht innerhalb von
sechs Monaten überschritten und scheinbar eherne
Grundsätze dabei über Bord geworfen hätten.
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig.
Wir müssen uns nicht heute über das weitere Vorgehen einigen, aber klar ist: Die europäische Krisenstrategie wird auf zwei Säulen ruhen müssen, nämlich
kurzfristige Krisenintervention und langfristiger Wiederaufbau des Vertrauens. Dazu wird ein Vorschlag gehören, mit dem wir zeigen, wie wir mit den Altschulden
umgehen müssen. Deshalb ist der europäische Schuldentilgungsfonds ein Thema, das wir auf der Tagesordnung
halten müssen,
({0})
auch wenn wir kurzfristig nicht zu gemeinsamen Vereinbarungen kommen wollen. Wir werden darüber sprechen
müssen, in Europa, im Europäischen Parlament, auch
hier im Deutschen Bundestag. Auch ich habe vor zwei
Jahren nicht geahnt, über was wir alles in diesem Parlament mit Blick auf die europäische Krise nachdenken
und entscheiden müssen. Ich weiß nur: Wir sind noch
lange nicht am Ende, und Sie werden dieses Parlament
in seiner Gesamtheit noch mehr brauchen, als Sie heute
ahnen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der G-20Gipfel wird viele Themen auf der Tagesordnung haben.
Die wichtigsten werden die Währungsfragen sein. Währungsfragen sind immer auch Machtfragen. China
schließt fast im Monatsrhythmus neue Währungsabkommen ab, vor allem mit den anderen BRICS-Staaten und
mit Japan, dem Konkurrenten in Asien. Das Ziel ist klar:
mehr Unabhängigkeit vom Dollar. China stellt den Leitwährungsstatus der Amerikaner schon seit langem infrage. Russland favorisiert eine Kunstwährung über den
IWF.
Europa ist einen anderen Weg gegangen. Wir haben
den Dollarstatus mit unserer Gemeinschaftswährung
infrage gestellt. Europa spürt jetzt den rauen Wind der
internationalen Finanzmärkte.
({0})
- Ach, Herr Trittin. - Wir müssen nun unsere hausgemachten Probleme lösen; denn sie waren Ursache der
Schwierigkeiten, in denen wir uns befinden: hohe Staatsverschuldung und fehlende Strukturreformen in einer
Reihe von Mitgliedstaaten.
Aber es gibt auch interessierte Kräfte von außerhalb,
etwa Ratingagenturen, die manchmal einen sehr patriotischen Knick in ihrer Optik haben. Die Angelsachsen
diesseits und jenseits des Atlantiks raten uns: Macht mehr
Schulden und lockert die Geldpolitik, das rettet eure
Währung! Die angelsächsische Finanzlobby und ihre
Verbündeten bei den Linken in Europa und in Deutschland - das ist eine unheilige Allianz der Inflation.
({1})
Banklizenz für Rettungsschirme und Euro-Bonds sind
die Vermögensvernichtungswaffen dieser Inflationsallianz aus Wall Street und europäischen Sozialisten.
({2})
Wir machen das anders. Die christlich-liberale Koalition mit Bundeskanzlerin Frau Merkel an der Spitze
steht für Stabilität.
({3})
Die christlich-liberale Koalition steht für gutes Geld. Sie
steht für Wachstum und Beschäftigung. Deutschland ist
so gut wie kein anderes Land der westlichen Welt durch
die Krise gekommen. Das hat Gründe.
({4})
Wir sind den Stabilitätsweg gegangen. Wären wir den
Ratschlägen der weniger Erfolgreichen gefolgt, würde
die Inflation schon galoppieren.
Seit Samstag ist klar: Spanien wird wegen seiner Bankenkrise unter den Rettungsschirm gehen. Anders als
Griechenland hat Spanien seine sonstigen Strukturprobleme ernsthaft angepackt. Deshalb ist es derzeit sinnvoll, von einer umfassenden Troika-Mission abzusehen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich unserem
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble danken. Er
hat durchgesetzt, dass die spanischen Banken keine
Direktzahlung erhalten, sondern das Land unter den
Schirm muss. Das hat er mit viel Geschick gemacht.
({5})
Europa wird harte Auflagen machen, was die Restrukturierung der Institute angeht.
Die Euro-Zone ist noch nicht über den Berg. Vom
kleinen Zypern und vom großen Italien kommen in dieser Woche sehr gemischte Signale. Deshalb ist es so
wichtig, dass wir zügig den ESM und den Fiskalpakt auf
den Weg bringen. Die Welt wartet auf ein starkes Signal
von Europa. Wir wollen nicht, dass es mit der Unsicherheit so weitergeht. Deutschland muss eine Führungsrolle
übernehmen. Die Zeiten des Kalten Krieges und des
Sonderstatus von Deutschland sind vorbei.
({6})
Russland übernimmt nächstes Jahr die G-20-Präsidentschaft. Es will besonders eng mit Deutschland zusammenarbeiten und eine Strukturreform auf den Weg
bringen. Uns wird die Führungsrolle in Europa zugetraut. Wir müssen sie annehmen.
Wir stehen als christlich-liberale Koalition für eine
Politik von Maß und Mitte. Maß und Mitte haben andere
verloren. Ich fand das, was der frühere Außenminister
von den Grünen letzte Woche zur Schuldenkrise erklärt
hat, wirklich unsäglich. Er ruft: Es brennt! Es brennt! Das ist an Schäbigkeit und Selbstgefälligkeit nicht zu
überbieten.
({7})
Joschka Fischer hat die währungspolitischen Brandsätze
selbst gelegt. Der 5-Millionen-Arbeitslose-JoschkaFischer,
({8}): Oh!)
der Nullwachstum-Joschka-Fischer, der Stabilitätsvertragsbrecher Joschka Fischer erzählt uns großzügig, wie
die Welt funktioniert. Er hat die damalige Aufnahme von
Griechenland in die Euro-Zone zu verantworten, obwohl
Griechenland die Voraussetzungen nicht erfüllt hatte.
Wir löschen jetzt das Feuer, das die Wachstumsfeinde
von den Grünen gelegt haben.
({9})
Das Schlimme ist: Die Kassandra aus dem Grunewald
gibt bei den Grünen immer noch die Richtlinien vor.
({10})
Er fordert schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme.
Herr Trittin widerspricht nicht. Herr Trittin kuscht.
Dafür war Herr Kollege Trittin kürzlich auf einer Konferenz der Hochfinanz. Ihren Parteifreunden haben Sie das
verschwiegen. Sie haben offenbar Angst vor der Kritik
aus dem eigenen Verein. Links unten anfangen und
rechts oben ankommen - das ist das Motto von Herrn
Trittin.
({11})
Es ist offenbar ein langer Weg vom Kommunistischen
Bund Westdeutschland zur Bilderberg-Konferenz der
Hochfinanz.
({12})
Ihre neuen Freunde von der Hochfinanz haben mir etwas ins Ohr geflüstert: Herr Trittin fordert jetzt die Bankenunion für Europa. Die Einlagensicherung soll nach
seinem Willen europäisiert werden. Herr Trittin will,
dass die deutsche Oma mit ihrem Sparbuch für ausländische Investmentbanker haftet. Das ist Ihre Politik.
({13})
Das ist grüne Politik der sozialen Kälte, nicht mehr,
aber auch nicht weniger. Das steht in einer Linie mit
Ihrer armutsfördernden Energiepolitik. 5 Mark für einen
Liter Benzin, Dauersubventionen in Milliardenhöhe für
Solardächer, die in China produziert werden, Dosenpfand, Handypfand, Plastiktütenverbot - Sie sind die
Partei der Bioschickeria in Deutschland.
({14})
Bisher zeigen Sie auch einen wenig verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema Fiskalpakt. Herr Trittin
will vielleicht noch mitmachen, aber Ihre linksgrüne
Basis sieht das wohl anders. Für die Grünen kommt der
Strom aus der Steckdose und das Geld aus dem Automaten.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lassen
Sie sich von dieser grünlackierten Schickimicki-Partei
nicht in Geiselhaft nehmen.
({16})
Wir haben Verantwortung für Deutschland und für
Europa. Ich bin dem Kollegen Müntefering sehr dankbar; denn er hat zur rechten Zeit die Augenbrauen mahnend hochgezogen. Herr Gabriel hatte etwa ein Jahr lang
für die Euro-Bonds die Trommel gerührt. Ich habe eine
Liste mit vielen Zitaten von Herrn Gabriel dabei, in denen er sich mit Vehemenz für die Einführung von EuroBonds ausspricht. Seit neuestem findet er die Idee skurril, weil es dabei um eine Vergemeinschaftung der
Schulden geht. Herzlichen Glückwunsch zu dieser
Erkenntnis!
({17})
„Erst grübeln, dann dübeln“, hätte ich früher gesagt.
Jetzt sage ich im Gabriel-Format: Erst Münte fragen,
dann twittern.
({18})
Der Weg in den Zinssozialismus ist nun also zu. Wir
sollten jetzt auch nicht den Weg in den Schuldensozialismus gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD
den Facharbeitern bei Volkswagen und bei Daimler
erklären will, dass sie mit ihren Steuern die Altschulden
von Italien, Spanien und Griechenland tilgen sollen. Das
wäre nämlich der Weg in den Schuldensozialismus.
({19})
Aber ich habe wahrgenommen, dass die Leidenschaft für
diese Schuldenvergemeinschaftungsstrategie bei den
Sozialdemokraten nicht sehr ausgeprägt ist. Ihnen geht
es jetzt um die Beteiligung der Hochfinanz an den Krisenkosten. Das wollen auch wir.
({20})
Wir sind uns einig: Die Riester-Vorsorge, die Kleinanleger und die Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand dürfen nicht negativ betroffen sein. Verlagerungswirkungen wollen wir ausschließen.
({21})
Sie als Opposition wollen das Wünschbare, wir als
Regierungskoalition bieten Ihnen das Machbare. Machen
Sie mit, und verknoten Sie sich nicht in kleinlicher Parteipolitik. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung
für Deutschland und für Europa. Es ist wahr, was Herr
Steinmeier sagt: Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, leidet auch die Demokratie. - Deshalb: Schluss mit
den Illusionen, wir könnten durch Zinssozialismus und
Schuldensozialismus die Probleme Europas lösen! Hier
ist jetzt die Stunde der Wahrheit. Zwei plus zwei bleibt
vier, auch für Sozialisten.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss
Ihnen sagen, Herr Brüderle: Ihr Internationalismus ist
wirklich unter Stammtischniveau. Das, was Sie hier
geboten haben, geht einfach nicht.
({0})
Ich sage Ihnen auch: Ich verstehe Ihren Versuch, die
FDP zu retten, aber Sie retten die FDP nicht mit Pöbeleien gegen die Grünen. Das ist so nicht zu erreichen.
Machen Sie eine eigenständige Politik!
({1})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Anfang Ihrer
Rede über Armut und über Hunger auf der Erde gesprochen. Sie haben auch wichtige ökologische Projekte
genannt, über die auf dem G-20-Gipfel gesprochen werden soll. Das alles sind wichtige Themen. Ich würde
gerne zu all diesen Themen etwas sagen. Aber ich habe
nur elf Minuten Redezeit. Deshalb konzentriere ich mich
auf das, was Sie zur Krise, zur Finanzkrise, zur EuroKrise und zum diesbezüglichen Verhalten der Bundesregierung gesagt haben.
Sie haben den schönen Satz gesagt - er ist wirklich
einmalig -, Sie machen keine Politik für die Märkte. Ich
bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin: Die Finanzmärkte ziehen Sie und Ihre gesamte Regierung am Nasenring durch
Europa. Das ist die Wahrheit. Sie machen exakt das, was
die wollen.
({2})
Aus Italien hören wir Horrormeldungen. Es gibt die
Bankenkrise in Spanien. Sie fürchten die Wahlen in
Griechenland. Was kommt denn dabei heraus? Wie auch
immer die Wahlen in Griechenland ausgehen: Die Linken werden dort gestärkt. Was haben wir in Frankreich
erlebt? Dass Präsident Sarkozy, der Ihre Politik betrieb,
abgewählt und Präsident Hollande gewählt wurde. Merken Sie denn nicht, was passiert, Frau Bundeskanzlerin?
Ihre Europapolitik wird in Europa abgewählt. Sie nehmen das aber nicht zur Kenntnis.
({3})
Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerungen, und Sie
korrigieren sich auch nicht, obwohl es dafür höchste Zeit
wäre. Ich sage Ihnen: Diese Art der Ignoranz halte ich
für nicht hinnehmbar.
Kommen wir zur Bankenkrise in Spanien. Der Ministerpräsident von Spanien hat zunächst gesagt, er wolle
auf gar keinen Fall Geld vom Rettungsschirm. Warum
hat er das gesagt? Weil er die Troika fürchtet und weiß:
In dem Moment, in dem der Internationale Währungsfonds, die Europäische Zentralbank und die EU-Kommission bei ihm das Sagen bekommen, schränkt dies die
Souveränität Spaniens unheimlich ein. Aber er hat dies
nicht durchgehalten und musste sich dann doch an den
Rettungsschirm wenden. Gerade erst hörten wir, dass
auch Herr Monti, der Ministerpräsident von Italien,
sagte, er werde sich nicht an den Rettungsschirm wenden. Ich sage Ihnen: Auch er wird umfallen, und wir
werden dasselbe erleben.
Immerhin macht die Bankenkrise in Spanien eines
deutlich: dass der von Ihnen verwendete Begriff „Schuldenkrise“ falsch ist. „Schuldenkrise“ heißt nämlich, dass
die Staaten zu viel Geld ausgeben. Durch die Verwendung dieses Begriffs wollen Sie erreichen, dass die
Leute in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und
auch in Deutschland sagen: Ja, wahrscheinlich haben wir
zu hohe Löhne. Wahrscheinlich haben wir zu hohe Renten. Wahrscheinlich haben wir in den verschiedenen
Bereichen zu hohe Ausgaben.
({4})
- Sie sagen ja sogar, dass es so ist. - Genau das ist aber
falsch. Denn was zeigt die Bankenkrise in Spanien? Die
Banken und Hedgefonds sorgen dafür, dass die Staatsschulden der Länder immer weiter steigen.
({5})
Deshalb muss man diese Krise „Finanzkrise“ nennen
und darf nicht von einer „Schuldenkrise“ sprechen. Alles
andere ist eine Vernebelung.
Diese Krise beweist noch etwas. Sie beweist ganz
klar: Nicht zu hohe Renten, zu hohe Löhne, zu hohe
Sozialleistungen oder zu hohe Investitionen in anderen
Ländern sind die Ursachen der hohen Schulden, sondern
das vollständige Versagen der Banken und Hedgefonds.
({6})
Jetzt passiert Folgendes: Spanien werden aus dem
Rettungsschirm etwa 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Spanien gibt dieses Geld dann den Banken, damit sie wieder liquide sind und wirtschaften können.
An dieser Stelle möchte ich jedoch auf zwei Aspekte
hinweisen:
Erstens. Wenn diese 100 Milliarden Euro nicht zurückgezahlt werden, dann haften - Herr Schäuble, da
müssen Sie mir zustimmen - auch die deutschen SteuerDr. Gregor Gysi
zahlerinnen und Steuerzahler, und zwar für 27 Prozent
dieses Geldes.
({7})
Sie nehmen die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler also in Haftung. - Das ist das eine.
Zweitens. Die spanischen Banken bekommen diese
100 Milliarden Euro, weil sie nicht mehr liquide sind.
Erklären Sie doch einmal dem Inhaber einer kleinen
GmbH in Deutschland, an wen er sich wenden soll,
wenn er nicht mehr liquide ist. Er hat keine Chance. Die
Banken und Hedgefonds hingegen bekommen so viel
Geld, wie sie brauchen. Die Großaktionäre haben es
besonders bequem; denn für Schulden haften sie nicht.
Das übernehmen ja immer die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler. Wenn die Unternehmen aber Gewinn
machen, dann verteilen die Großaktionäre diesen unter
sich. Deshalb sage ich: Wenn 100 Milliarden Euro an die
privaten Banken fließen, dann müssen sie vergesellschaftet werden, damit die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht nur haften, sondern endlich auch am
Gewinn beteiligt werden.
({8})
Im Übrigen: Die Linken in Griechenland haben doch
recht. Sie wollen das Spardiktat beenden. Es wird dafür
auch höchste Zeit. Schauen Sie sich doch einmal an, wie
die Situation der Rentnerinnen und Rentner und der
Facharbeiterinnen und Facharbeiter in Griechenland ist.
Das geht so nicht! Ich frage Sie: Was wollen Sie dagegen
unternehmen?
Die Aussage, die Sie in diesem Zusammenhang
immer wieder verbreitet haben, stimmt nicht. Sie sagen,
Tsipras wolle die Schulden nicht zurückzahlen. Das ist
völlig falsch. Er will nur einen anderen Weg gehen. Er
will Steuergerechtigkeit herstellen. Er will die Steuerhinterziehung bekämpfen. Dafür ist es wirklich höchste
Zeit, übrigens nicht nur in Griechenland - dort allerdings
in besonderem Maße -, sondern auch in Deutschland.
({9})
Er will investieren. Wenn er investiert, dann hat er
höhere Steuereinnahmen, und wenn er höhere Steuereinnahmen hat, dann kann er auch die Schulden zurückzahlen. So wie Sie es den Griechen vorgeben, indem Sie sagen: „Löhne runter, Renten runter, Sozialleistungen
runter, immer weniger investieren“, geht es nicht. Wo
sollen denn dann die Steuern herkommen? Sie ruinieren
das Land. Das ist der völlig falsche Weg, wenn wir den
Euro retten wollen.
({10})
Interessant ist auch, dass Sie sagen, mit den Linken
dort wollen Sie gar nicht verhandeln. Zum Glück hat die
EU-Kommission gesagt, sie wolle doch mit denen verhandeln. Sie ist einen Schritt weiter als unsere Bundeskanzlerin.
({11})
- Na ja, mit mir schon.
({12})
Das liegt aber nur daran, dass Sie dazu gezwungen sind.
Sonst würden Sie das ja nicht machen, Herr Kauder. Den
anderen, Herrn Tsipras, wollten Sie ja nicht empfangen.
Abgesehen davon könnten wir Griechenland doch
folgenden Vorschlag machen: Die Rüstungsausgaben,
die bei den Griechen über 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung und bei uns nur über 1 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen, in einem ersten Schritt halbieren!
Dann müssten allerdings auch die Kieler Werke auf ihre
Einnahmen aus dem Verkauf von U-Booten, die sie nach
Griechenland liefern wollen, verzichten. Das ist auch
vertretbar, meine ich.
({13})
Es gibt noch etwas, was mich in ganz Europa - in
Griechenland genauso wie in Deutschland - ärgert. Deshalb schlage ich Ihnen hier einmal US-Recht vor. Das ist
doch auch selten! Dieses US-Recht galt sogar unter
Bush, der wirklich vieles, aber kein Linker war.
Welche Situation haben wir? Die Reichen in Europa
entziehen sich all ihrer Steuerpflichten. In Griechenland
gibt es zum Beispiel 2 000 reiche Familien, denen
80 Prozent des Vermögens gehören. Aber sie bezahlen
natürlich keine Steuern, weil sie das Vermögen nach
außen verlagert, ihren Wohnsitz woanders haben usw.
Wir kennen das aus Deutschland. Die reichen Deutschen
haben ihren Wohnsitz in Österreich, in der Schweiz, in
Liechtenstein, in Monaco oder auf den Seychellen etc.,
nur um hier keine Steuern zu bezahlen.
({14})
Ich sage Ihnen: Hier müssen wir US-Recht einführen.
Wir müssen die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft
binden. Das brauchen wir in ganz Europa.
({15})
Das heißt Folgendes: Sie können hinziehen, wohin sie
wollen. Aber sie müssen ihren Einkommensteuerbescheid und, wenn es die Vermögensteuer endlich wieder
gibt, ihren Vermögensteuerbescheid an ein einziges in
Deutschland zuständiges Finanzamt schicken. Die griechischen Familien müssen dies an ein einziges in Griechenland zuständiges Finanzamt schicken. Dort rechnet
man aus, ob sie in dem jeweiligen Land mehr bezahlen
müssten. Hinsichtlich der Differenz erhalten sie dann
einen Steuerbescheid. So machen das die USA. Dadurch
haben sie beachtliche Einnahmen. Wer diese Bescheide
nicht einreicht, der begeht eine Straftat. Das müssen wir
endlich in ganz Europa und auch hier in Deutschland
durchsetzen.
({16})
Vor kurzem hat Joschka Fischer - das ist von Herrn
Brüderle ja aufgegriffen worden - die gesamte Politik
kritisiert. Er hat zu Recht gesagt: Mit der drastischen
Sparpolitik wird die Euro-Zone gegen die Wand gefah21872
ren. Die Brände werden nicht mit Wasser, sondern mit
Kerosin gelöscht. - Er kritisiert damit die Bundesregierung, aber nicht nur die Bundesregierung, sondern auch
SPD und Grüne. Sie haben bisher jedem Schritt der Bundesregierung zugestimmt. Sie halten hier immer kritische Reden und machen dann bei allem mit. Das ist doch
das Problem, das auch von Joschka Fischer kritisiert
wird.
({17})
Ich sage Ihnen noch etwas: Der Fiskalpakt ist nicht
nur - ich habe das hier schon einmal begründet - grundgesetzwidrig, sondern er zementiert auch Sozialkürzungen, einen Wettbewerb nach unten und Hartz IV für
Europa und zerstört den europäischen Sozialstaat.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie fahren
heute ja zu Hollande.
({18})
- Sie sind schon wieder zurück. Umso besser! - Ich sage
Ihnen nur Folgendes: Die französische Sozialdemokratie
will nachverhandeln. Wenn Sie der Ratifizierung des
Vertrages zustimmen, dann zerstören Sie den Plan des
französischen Präsidenten, nachzuverhandeln.
({19})
Sie haben anfangs von einem Wachstumspakt geredet. Dann ging es nur noch um ein Wachstumspaket,
jetzt geht es nur noch um Wachstumsimpulse. Mein
Gott, lassen Sie sich doch nicht so durch Europa ziehen,
sondern machen Sie diesbezüglich endlich einmal eine
eigenständige Politik!
({20})
Ich komme jetzt noch einmal zu Hollande, weil Sie
mir nicht glauben. Er hat gesagt: Die französischen
Truppen müssen bis Ende 2012 aus Afghanistan abgezogen werden. - So einen Satz habe ich von der deutschen
Sozialdemokratie noch nie gehört.
({21})
Er hat gesagt, er nehme den späteren Renteneintritt zurück, man solle in Frankreich wieder Rente ab 60 Jahre
beziehen.
({22})
Ich darf Ihnen dazu sagen: Die Durchschnittsrente bei
voller Erwerbstätigkeit beträgt in Deutschland 1 100
Euro und in Frankreich 1 700 Euro. Sie haben dafür
gesorgt, dass wir eine so niedrige Rente haben und dass
wir die Rente erst ab 67 beziehen können. Mein Gott, wären Sie doch wenigstens so wie die französische Sozialdemokratie! Dann hätten wir in Deutschland endlich wieder eine Sozialdemokratie.
({23})
Was müssen wir in Europa wirklich machen?
Erstens. Wir brauchen ein Ende der Spardiktate. Die
Spardiktate sind falsch, ungerecht und gescheitert.
Zweitens. Wir brauchen stattdessen ein Programm für
Investitionen und Wachstum; denn nur mit Wachstum
lassen sich die Haushaltsdefizite abbauen. Wir sorgen
auf diese Art und Weise auch für mehr Beschäftigung.
Dadurch haben wir dann mehr Steuereinnahmen. Dadurch können auch die Schulden getilgt werden. Das gilt
für alle Länder, auch für Deutschland.
Der Teufelskreis aus Banken- und Staatsschuldenkrise muss beendet werden. Warum kann denn nicht eine
staatliche europäische Bank bei der EZB Geld aufnehmen und zum gleichen niedrigen Zinssatz direkt an Spanien oder andere Länder weitergeben? Dann hätten wir
endlich ein Ende der Spekulation um den Euro. Warum
müssen wir zwischendurch immer wieder private Banken reichmachen, wie Sie das ständig betreiben?
Ich sage ganz klar: 1 Billion Euro hat die Europäische
Zentralbank den großen privaten Banken in Europa zur
Verfügung gestellt: 1 Billion Euro für drei Jahre für
1 Prozent Zinsen! Was machen die Banken mit dem
Geld? Sie geben es Italien, Spanien und anderen Ländern für 5 Prozent Zinsen. Zwischendurch machen sie
die Großaktionäre reich. Erklären Sie doch einmal dem
Facharbeiter oder dem Bäckermeister in Deutschland,
wieso er letztlich für dieses Geld haftet.
({24})
Ich sage Ihnen: Wir brauchen außerdem Steuergerechtigkeit; das wird höchste Zeit. Wir brauchen eine
Millionärssteuer. Die Zahl der Millionäre nimmt zu.
Diese könnten sich eine solche Steuer leisten. Mit welcher Begründung bleiben die eigentlich verschont? Was
haben denn die Hartz-IV-Empfängerin, der Facharbeiter
oder der Bäckermeister falsch gemacht, sodass es zu dieser Krise gekommen ist? Nichts!
Herr Kollege.
Die Großaktionäre haben etwas falsch gemacht. Sie
haben die falschen Geschäfte gemacht und verdienen
daran. Sie werden nicht zur Kasse gebeten. Das müssen
Sie endlich beenden.
({0})
Ich weiß, Herr Präsident. Ich komme zum letzten
Satz.
Sie wissen, dass ich Ihnen fast immer länger zuhören
könnte, als Ihre Fraktion überhaupt Redezeit hat. Aber in
einem gewissen Umfang bin ich an die Einhaltung unserer Geschäftsordnung gebunden.
({0})
Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Das zeigt,
dass die Linke schon deswegen ein besseres Wahlergebnis braucht, damit wir hier längere Redezeiten bekommen.
({0})
Aber abgesehen davon, sage ich Ihnen noch eines,
Frau Bundeskanzlerin: Sie wollen jetzt eine politische
Union in Europa. Das kommt sehr spät. Das war schon
bei der Einführung des Euro dringend erforderlich. Aber
was für eine politische Union wollen Sie? Eine der
Spaltung! Wir kämpfen weiter gegen ein Europa der
Knebelung, der zerstörerischen Sparpolitik,
({1})
gegen ein Europa der Banken und für ein friedliches, demokratisches und soziales Europa. Anders wird es nicht
gehen.
({2})
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Gysi, nur eine Anmerkung zu Ihnen: Ich glaube, Sie brauchen nicht mehr Redezeit hier
im Deutschen Bundestag, sondern Sie bräuchten mehr
Redezeit auf den Parteitagen der Linken, um noch einmal deutlich zu machen, worum es bei Ihnen wirklich
geht. Sich hier hinzustellen und zu behaupten, man sei
handlungsfähig, in der eigenen Truppe aber Hass festzustellen, das passt einfach nicht zusammen.
({0})
Aber jetzt zur Sache. Dieses G-20-Treffen findet in
einer außergewöhnlich schwierigen Zeit statt, in der
viele Menschen aufgewühlt sind und sich die Frage stellen: Wie soll es weitergehen, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt? Sie hören dann zwei Strategien,
die grundsätzlich richtig sind und die auch von der SPD
und von Frank Steinmeier als richtig dargestellt worden
sind: auf der einen Seite Konsolidierung, weniger Schulden, also Solidität, und auf der anderen Seite Wachstum,
Solidarität mit denen, die in Schwierigkeiten sind. Dies
ist zunächst unbestritten. Darum wird es jetzt in Mexiko
gehen.
Aber da die Volkswirtschaft keine mathematische
Formel ist, bei der eins plus eins gleich zwei ist, sondern
zu der auch Einschätzungen gehören, zu der es gehört,
Menschen davon zu überzeugen, dass man einen bestimmten Weg gehen muss, versucht eine ganze Reihe
von Politikern wieder einmal, den schweren Teil des Weges, nämlich die Solidität, nicht so ernst zu nehmen und
stattdessen etwas Leichteres vorzuschlagen, nämlich
Wachstumsperspektiven zu formulieren.
Wir haben aber in den Krisensituationen 2008 und
2009 gesehen, wie schwer es ist, eine Krise zu bewältigen, Solidität herzustellen und Wachstumsimpulse zu
geben. Natürlich haben wir in der Krise 2008, 2009 und
2010 auch Wachstumsimpulse gegeben. Aber wir haben
dafür auch einen Preis bezahlen müssen.
Der letzte Haushalt in dieser Krisensituation wies bei
der Neuverschuldung einen Ansatz von über 80 Milliarden Euro aus. Danach war eine wirklich sparende Politik notwendig. Wenn wir auf dem Weg weitergemacht
hätten, von dem Sie, Herr Steinmeier, jetzt sprechen
- immer weiter neue Schulden, um das Wachstum zu
fördern -,
({1})
dann müssten Sie mehr Zinsen zahlen, als Sie Einnahmen an Steuern haben. Das kann nicht funktionieren.
({2})
Das ist an Ihrem Weg grottenfalsch.
Deswegen müssen wir sagen: Ja, zwei Dinge gehören
zusammen. Erstens geht es um die Perspektive: Es muss
konsolidiert werden.
Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, wie die
Weltwirtschaftskrise 2008 entstanden ist. Aus dieser
Weltwirtschaftskrise ist all das gekommen, womit auch
wir uns jetzt auseinanderzusetzen haben. Es war damals
die Entscheidung der amerikanischen Politik, dass jeder,
unabhängig davon, ob er es sich leisten kann oder nicht,
eine Immobilie haben soll. Dafür wurde Geld in den
Markt gegeben. Wachstum - auf Pump - wurde vorgetäuscht. Das geht eine Zeit lang gut, aber dann kommt
der Tag, an dem zurückgezahlt werden muss. Wenn das
dann nicht geht, dann bricht das Ganze so zusammen,
wie es in Amerika und Spanien der Fall war.
Deswegen kann ich nur vor dem warnen, was jetzt andiskutiert wird. Wachstum auf Pump löst kein einziges
Problem und ist ungerecht gegenüber den nachwachsenden Generationen. Deswegen kann das so nicht sein.
({3})
Die Botschaft daraus heißt also zweitens: Wir dürfen
bei der Lösung der Probleme kein einziges Signal geben,
das in Richtung Wachstum auf Pump weist. Das Signal,
das Sie immer wieder geben wollen, heißt: Schwamm
drüber, was in der Vergangenheit war, Vergemeinschaftung der Schulden! - Diejenigen, die etwas besser gewirtschaftet haben, zahlen dann die ganze Veranstaltung.
Diese Botschaft ist falsch, weil daraus die Konsequenz gezogen wird: Wir brauchen gar nicht wirklich zu
konsolidieren; am Schluss wird immer eine Lösung gefunden, bei der diejenigen zahlen, die sich angestrengt
haben, und die anderen, die sich nicht angestrengt haben,
davonkommen. Das ist keine Lösung. Deswegen war der
Weg immer richtig, zu sagen: Wir wollen Konsolidierungsmaßnahmen, und wir unterstützen durch Rettungsschirme, aber das alles muss auch Konsequenzen haben.
Jetzt erwarte ich natürlich, dass diese Konsequenzen
dann auch eingehalten werden. Es gibt den einen oder
anderen Hinweis aus Europa, noch einmal mit Griechenland zu reden. Ja, von mir aus können wir mit Griechenland reden. Aber was einmal als Bedingung dafür, dass
geholfen wird, vereinbart worden ist, muss eingehalten
werden; sonst hält sich niemand mehr daran.
({4})
Das erwarte ich auch. Deshalb dürfen keine anderen Signale gegeben werden.
Auf dem Gipfel in Mexiko werden große Themen angesprochen, beispielsweise die Nachhaltigkeit in der
Umweltpolitik. Wir in Deutschland und in Europa haben
gravierende Entscheidungen in der Energiepolitik und
darüber hinaus getroffen, damit der Klimawandel bekämpft wird und der CO2-Ausstoß reduziert wird. Aber
einige derjenigen, die uns tagtäglich große Ratschläge
erteilen, was gemacht werden muss, weigern sich, sich
auch an diese Verpflichtungen zu halten. Das geht nicht.
Es kann unmöglich sein, dass große Wachstumszentren
in der Welt den Umweltschutz nicht so ernst nehmen wie
diejenigen, die nicht so groß sind. Dabei hilft es nichts,
zu sagen: Wir haben über viele Jahre hinweg gar nicht so
hohe CO2-Ausstöße gehabt.
Es geht doch um die Beurteilung der jetzigen Situation. Deswegen kann ich die Vereinigten Staaten von
Amerika nur auffordern, für Nachhaltigkeit nicht nur in
der Finanzpolitik, sondern auch im Umweltschutz zu
sorgen. Da haben die Amerikaner noch einiges zu leisten. Ich bitte die Bundeskanzlerin daher, dies ernsthaft
einzufordern.
({5})
Ein Thema, das sich gerade auf dem bevorstehenden
Gipfel in Mexiko anbieten würde, steht nicht auf der
Tagesordnung. Wenn es um Wachstum und Armutsbekämpfung geht, dürfen wir nicht vergessen, dass ein
Grund, warum Armut nicht in ausreichendem Maße bekämpft werden kann, das internationale Verbrechen ist.
Gerade mit Blick auf Mexiko müssen wir überlegen, wie
wir international agierende Drogen- und Verbrecherbanden bekämpfen können. Vieles in Afrika ist nicht möglich, weil Bürgerkrieg herrscht. Vieles in Südamerika ist
nicht möglich, weil Banden Kriege führen. Daher bitte
ich herzlich, dass wir uns beim nächsten internationalen
Gipfel damit befassen. Ein Teil der Armutsproblematik
sind Bürgerkriege und Kriege, die von Banden angezettelt werden, um sich persönlich zu bereichern. Auch das
gehört auf die Agenda.
({6})
Ich glaube, dass wir in Europa auf dem richtigen Weg
sind. Aus Europa muss nun ein starkes Signal kommen.
Herr Steinmeier und Herr Trittin, wir können in Gesprächen durchaus eine gute Lösung finden. Wir sollten Ihre
Vorstellungen und das, was wir verantworten können,
zusammenbringen, um ein gemeinsames Ergebnis im
Zusammenhang mit dem ESM und dem Fiskalpakt hinzubekommen.
Ich bitte allerdings darum, sich auf das zu konzentrieren, was jetzt machbar ist. In Europa haben wir nämlich
das Problem: Kaum ist ein Problem richtig gelöst,
kommt schon wieder ein ganzer Wust an neuen Vorschlägen. Ich sage Ihnen daher: Ein Altschuldenfonds ist
zurzeit überhaupt kein Thema. Wenn Sie ständig über
neue Themen diskutieren und dann sagen: „Das machen
wir aber nicht“, dann tragen Sie nicht zur Beruhigung
der Märkte bei, sondern sorgen für Irritationen. Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns das, was jetzt auf der
Tagesordnung steht, verabschieden und so den Märkten
ein gutes Signal geben. Erst dann sollten wir darüber reden, wie wir Europa weiterentwickeln können. Aber den
Märkten ständig etwas hinzuhalten und dann zu sagen:
„Das machen wir aber nicht“, macht den Appetit der
Märkte immer größer und die Handlungsfähigkeit immer
kleiner. Deswegen: Beschränken wir uns jetzt auf die
Entscheidungen zu ESM und Fiskalpakt; denn diese sind
notwendig, um voranzukommen.
({7})
Ich habe die Bitte, die entsprechenden Entscheidungen rasch zu treffen. Ich weiß, Herr Kollege Trittin, dass
es auch Überlegungen gibt, die Vorlagen zu ESM und
Fiskalpakt erst zu verabschieden, nachdem der europäische Gipfel zu Ende gegangen ist, also nicht Ende Juni,
sondern erst, wenn die Bundeskanzlerin vom Gipfel zurückgekommen ist.
Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt und sage es
hier noch einmal: Eine solche Position stellt einen
schlimmen Rückfall in die Zeit vor den Regelungen dar,
die wir für die Parlamentsbeteiligung beschlossen haben.
Herr Trittin, Sie fordern doch vor jedem großen Gipfel
eine Regierungserklärung, damit wir hier im Deutschen
Bundestag unsere Wünsche und Vorstellungen formulieren können, die die Bundesregierung bei solchen Gipfeln
vertreten soll. Dazu kann ich nur sagen: Ja, genau richtig. Deswegen wollen wir, bevor die Bundeskanzlerin zu
dem entscheidenden Gipfel nach Brüssel fährt, hier im
Deutschen Bundestag unsere Bedingungen für ESM,
Fiskalpakt und ein Wachstumsprogramm formulieren
und nicht erst, wenn in Europa bereits einstimmig beschlossen worden ist. Parlamentsbeteiligung kann nicht
nur bedeuten, dem, was auf europäischer Ebene beschlossen wurde, einfach zuzustimmen. Deswegen sage
ich: Wer sich den anstehenden Entscheidungen im Juni
verweigert, nimmt die Parlamentsbeteiligung in diesem
Hohen Haus nicht ernst.
Ich bitte Sie daher, dies zu berücksichtigen und gemeinsam mit uns ein starkes Signal zu geben.
({8})
Der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung wünschen wir viel Erfolg und eine glückliche Hand bei dem,
was in Mexiko zur Entscheidung ansteht.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, jetzt ist doch wohl die Stunde der Wahrheit
und der Verantwortung, auch für diesen Deutschen Bundestag, was die weiteren Entscheidungen in Europa betrifft. Jetzt ist der Sommer gekommen, in dem es auch
darum geht, Europa und den Euro zu verteidigen. Es ist
die Stunde der Wahrheit. Ich muss an dieser Stelle einmal auf die Karnevalsrede von Herrn Brüderle eingehen.
Sie halten hier eine Veräppelungsrede, während woanders in Europa, in Griechenland zum Beispiel, sich die
Leute fragen, was mit ihrem eigenen Geld geschieht.
Dass Sie diese Stunde für eine Karnevalsrede nutzen,
finde ich ehrlich gesagt nicht angemessen.
({0})
Sie haben uns zugerufen, die Stunde der Wahrheit sei
jetzt gekommen. Dazu sage ich: Für die FDP ist die
Stunde der Wahrheit schon 2008 gekommen. Wir haben
angesichts der Bankenkrise eine Finanztransaktionsteuer
gefordert, damit auf dem Finanzmarkt das passiert, was
auch in der realen Wirtschaft üblich ist, nämlich dass bei
Transaktionen Steuern anfallen. Seit dieser Zeit wehren
Sie sich wie die Zicke am Strick. Das ist die Wahrheit.
Wir hätten schon vor vier Jahren weiter sein können.
({1})
Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit und der Verantwortung für diesen Deutschen Bundestag. Ich sage Ihnen
und auch der Bundeskanzlerin: Das heißt aber nicht,
dass wir einfach irgendeiner Vorlage der schwarz-gelben
Bundesregierung zustimmen; denn zur Wahrheit gehört
die Verantwortung. Dieser Bundestag hat die Verantwortung, mit der Austeritätspolitik, mit dem Kaputtsparen
endlich Schluss zu machen; er muss sich für Investitionen einsetzen und Solidarität in Europa organisieren.
Darin liegt unsere Verantwortung.
({2})
Es geht nicht darum, über irgendetwas abzustimmen,
sondern in dem Paket, das unter der Überschrift „Solidarität“ verabschiedet werden soll und bei dem es darum
geht, Europa und den Euro zu retten, muss auch tatsächlich Solidarität und Zukunft drin sein.
Ihre Rede, Frau Merkel, bestand aus vielen warmen
Worten. Sie reden über die neue Agenda der G 20. Man
müsse Wege finden, das Soziale, das Ökologische und
das Ökonomische miteinander zu verbinden. Tun Sie es
doch einfach! Entscheiden Sie doch endlich über Programme, die dies inhaltlich umsetzen! Wir wollen mehr
als Worte wie die, dass das Wachstum von Innovation
und grüner Ökonomie getragen werden müsse. Ich bin
davon überzeugt, dass von Innovationen und grünen
Technologien die größten Wachstumsimpulse ausgehen.
Effizienz, Einsparung, neue Energien sind die Stichworte, und zwar nicht nur für Europa, sondern auch zum
Beispiel für Afrika.
Frau Merkel hat darüber geredet, dass im Rahmen der
G-20-Programme zur Förderung der Kleinbauern beschlossen werden sollen. Es gehe darum, 50 Millionen
Afrikaner aus der Armut zu befreien. Das ist eine große
Zahl. Jeder Einzelne dieser 50 Millionen Afrikaner wird
sagen, dass ihm dies wichtig ist. Ich muss Ihnen aber
ehrlich sagen: Es reicht nicht, nur Investitionen von außen für 50 Millionen Afrikaner zu tätigen. Das Problem
des Hungers auf der Welt hat sich doch verschärft. Vor
zehn Jahren wollten wir die Zahl von 500 Millionen
hungernden Menschen halbieren. Was ist geschehen?
Nach zehn Jahren hat sich die Zahl verdoppelt. Wir
haben heute 1 Milliarde hungernde Menschen. Jetzt
kommen Sie mit einem Programm zur Förderung von
Kleinbauern.
({3})
Ich sage Ihnen: Wer wirklich nicht auf Kosten anderer
leben will, wer wirklich Green Growth will und im
Rahmen der G 20 und auf europäischer Ebene Verantwortung trägt, der muss auch einmal an das Eingemachte
gehen. Das haben Sie an keiner Stelle getan, selbst an
dieser nicht. Sie müssten sich in diesem Zusammenhang
einmal zur europäischen Agrarreform und zu den
Exportsubventionen äußern.
({4})
Sie können in die G 20 einbringen, dass der Norden
nicht mehr auf Kosten des Südens leben sollte, auch was
die Ernährung und die Landwirtschaft betrifft. Sie haben
keine konkreten Maßnahmen an dieser Stelle genannt.
Sie reden über Protektionismus; ja, den gibt es. Aber
dann reden Sie doch mal über den Protektionismus, den
Europa selbst und Deutschland an der Stelle auf Kosten
anderer auslösen.
({5})
Sie haben gesagt - Frank-Walter Steinmeier hat das
schon angesprochen -, wir bräuchten Initiativen zur
Regulierung der Finanzmärkte, auch für Los Cabos.
Aber da ist nichts gekommen. Wo ist denn eigentlich
Ihre Initiative zur Regulierung der Finanzmärkte?
Sie haben mal gesagt, es sollten kein Markt und kein
Instrument unreguliert bleiben. Aber dann muss man das
Thema doch sowohl in der EU als auch international jedes Mal wieder auf die politische Agenda bzw. auf die
Tagesordnung setzen. Dazu habe ich von Ihnen an dieser
Stelle kein Wort gehört.
Als Sie davon redeten, wir bräuchten jetzt eine schonungslose Analyse, bin ich zunächst zusammengezuckt,
jedoch bezog sich Ihre „schonungslose Analyse“ fast nur
auf die Staatsschuldenkrise. Aber ich sage Ihnen: Es
geht auch um eine Bankenkrise; es geht um das Verhalten der Finanzmärkte. An der Stelle müssen Sie auch
Angebote machen, und zwar auf europäischer und auch
auf internationaler Ebene. Das hat gefehlt.
({6})
Meine Frage bzw. unsere Frage an Sie ist: Wann wollen Sie eigentlich angesichts der Situation in Spanien, in
Italien und in Griechenland, die man kaum zu beschreiben braucht, sowie angesichts der Jugendarbeitslosigkeit
dort endlich aktiv werden? In bestimmten Jugendaltersgruppen sind 50 Prozent arbeitslos. Die jungen Leute
kommen gut ausgebildet von den Unis und gehen quasi
über lange Zeit ins Nichts. Diese Jugendlichen sind Europas Zukunft. Was bieten wir diesen Jugendlichen an?
Ich meine, dass jetzt die Verantwortung des Bundestages und der Bundesregierung darin liegt, Europa in
dieser Stunde der Wahrheit und Verantwortung zu sagen:
Ja, jetzt strengen wir uns an. Jetzt hören wir endlich auf,
immer nur auf Sicht zu fahren. Jetzt hört Deutschland
endlich auf, die Handtasche und das Portemonnaie darin
geschlossen zu halten sowie hier nur eine Rede über die
begrenzten deutschen Fähigkeiten zu halten.
Für meine Begriffe ist hier eines entscheidend, nämlich die Sorge. Ich finde, dass wir und auch Sie, Frau
Merkel, die Aufgabe haben, angesichts der Sorge der
Menschen, wie viel sie noch zahlen können - diese
Sorge verstehen wir -, nicht nur das Portemonnaie zuzuhalten, sondern in diesem Land wirklich offen zu erklären: Wir dürfen Europa nicht kaputtsparen. Deutschland
hat ein Interesse an einem prosperierenden Europa und
an der Hilfe für die Krisenländer jetzt, weil es auch um
unsere eigene Zukunft geht, die in Europa liegt. So
müssen wir handeln! - Diese Sätze habe ich von Ihnen
vermisst.
({7})
Treten wir doch einmal für eine Europäische Union
ein! Frau Merkel, es reicht nicht, nur hin und wieder mal
davon zu sprechen, wenn die Kritik an Ihnen zu scharf
wird. Ich meine, dass man jetzt klar sagen muss: Schluss
mit der einseitigen Fokussierung lediglich auf Konsolidierung! - Das ist nicht die einzige Antwort. Wir wollen
die Konsolidierung nicht aufgeben, aber wir müssen ein
zweites Standbein haben, wenn wir nicht im Laufe dieses Sommers den Euro endgültig gefährden wollen.
Ich will zu meinem Kollegen, Herrn Kauder, sagen:
Sie führen an der Stelle aus, es ginge uns nur um Wachstum auf Pump. Das ist - ehrlich gesagt - Quatsch.
({8})
Es geht uns nicht darum, die Konsolidierungsbemühungen aufzugeben. Es geht uns auch nicht darum, dass
Haushalte nicht konsolidiert werden, sondern dass wir
wirklich am Kern der Probleme anfangen und dass wir
zum Beispiel die Themen der europäischen Bankenaufsicht und der Kontrolle der Eigenkapitalsicherung anpacken.
Es geht uns darum, zu sehen - das weiß auch jeder
Privathaushalt -: Du kannst nicht nur sparen, sondern du
musst dich auch um die Einnahmeseite der Zukunft
kümmern.
({9})
Man muss ermöglichen, dass etwas wächst. Hier nenne
ich nur etwa grüne Technologien, moderne Automobile
sowie die chemische Industrie. Man muss ermöglichen,
dass der Anlagenbau modern wird, meine Damen und
Herren.
({10})
Dann dürfen wir uns nicht getrennt betrachten, sondern wir sind Deutschland in Europa. Wenn es Europa
schlechtgeht, geht es Deutschland nicht sofort schlecht,
aber der Tag kommt, an dem es sich tatsächlich auch in
den Auftragsbüchern Deutschlands zeigt. Deshalb haben
wir das Interesse, gemeinsam vorzugehen. Und deshalb
haben wir das Interesse, nicht nur Sparpakete aufzulegen, sondern - das sage ich ganz klar - Spanien, Italien
und anderen Ländern den enormen Zinsdruck zu nehmen. Wir brauchen einen Schuldentilgungsfonds, wie
Ihr Sachverständigenrat ihn vorgeschlagen hat.
({11})
Das hat im Übrigen auch das Europäische Parlament
mit den Stimmen Ihrer Kolleginnen und Kollegen von
der FDP gestern beschlossen. Denn nur bei reduziertem
Zinsdruck gibt es auch in diesen Staaten einige Möglichkeiten mehr, nach vorne zu gehen, zu investieren und
etwas Neues zu entwickeln.
Wir brauchen als zweites Standbein einen Investitionspakt für Europa. Die Eigenkapitalmittel der EIB
müssen erhöht werden, und darüber hinaus müssen immer mehr Mittel gebunden werden für die Modernisierung der Wirtschaft, für ökologisch sinnvolle Investitionen - in Schiene, Stromnetz, Breitbandausbau -, weil
dort die Jobs der Zukunft - auch für andere Wirtschaftszweige - geschaffen werden. Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer. Wir müssen weitere Schritte hin zu einer Bankenunion vollziehen. Das alles gehört dazu, dass
wir tatsächlich zu einer politischen Union kommen und
die Defizite aufarbeiten.
Lassen Sie mich einen letzten Satz zu Rio sagen. Ich
finde es schon bedauerlich, Frau Bundeskanzlerin, dass
Sie nicht zur Rio-Folgekonferenz fahren. Wer über
Nachhaltigkeit redet, darf nämlich nicht nur grüne Luftblasen produzieren, sondern sollte in Rio zeigen, dass es
mit einer anderen Wirtschaft wirklich ernst gemeint ist.
Herr Kauder redete so schön über Fortschritt und Nachhaltigkeit.
({12})
Wissen Sie: Dann muss man auch Taten folgen lassen.
Hollande fährt nach Rio. Auch wenn Sie dahin nur kurz
fahren würden, wäre es ein politisches Zeichen, dass
man auf dieser Ebene ernsthaft weitermachen will.
({13})
Es wäre im Übrigen längst richtig, wenn auch Ihre
Koalition die Blockaden aufgäbe. Fangen Sie nicht bei
Rio an, sondern fangen Sie damit an, einzusehen, dass es
ein Elend war und die deutsche Wirtschaft zurückwirft
Frau Kollegin Künast.
- mein letzter Satz -, dass Sie zum Beispiel bei der
EU-Effizienzrichtlinie so lange blockieren, wie Sie es
getan haben. Da hätte man für Privathaushalte jede
Menge Energie einsparen können.
({0})
Lassen Sie uns endlich die Bremsen lösen und losgehen.
Was wir brauchen, sind ein Deutschland in Europa
und ein Europa, das wirklich an sich selber glaubt, das
eine Vision hat, dass wir in Europa zusammenleben wollen, das solidarisch Schulden miteinander trägt
Frau Kollegin!
- und das dafür sorgt, dass es wirklich eine wirtschaftliche Entwicklung gibt, aus der Jobs entstehen und
in der nicht nur die alten Industrien gepampert werden.
Sie haben eine lange Rede gehalten, Frau Bundeskanzlerin. Aber Sie haben nicht die Zeichen für den Weg
nach vorne gesetzt.
({0})
Frau Künast, Sie haben bereits vor längerer Zeit Ihren
letzten Satz angekündigt.
({0})
- Na ja, es kann sich bislang keine Fraktion über mangelnde Großzügigkeit in der Bewirtschaftung der Redezeit beklagen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Wissing für
die FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Künast, was Sie uns mit dem Bild der
„Zicke am Strick“ sagen wollten, weiß ich nicht.
({0})
Was ich aber weiß, ist, welchen Titel eine Ausgabe des
Spiegels im Frühjahr 2010 hatte: „Grüne kämpfen gegen
die Wunderwaffe Wachstum“. Dabei hat er sich auf ein
Papier von Ihnen, Frau Künast, und von Herrn Trittin bezogen. Darin haben Sie Folgendes gesagt: „Wir halten
den Abbau des Wachstumszwangs … für erforderlich“.
Das war Ihre Politik. Damit lagen Sie zu 100 Prozent
falsch.
({1})
Das haben Sie damals gesagt, und Sie haben damit den
Eindruck geschaffen, eine schicke Truppe zu sein. Sie
haben der Welt eingeredet, mit Wachstum müsse Schluss
sein und es gebe mittlerweile einen ganz anderen Weg,
wie man den Wohlstand in Europa in Zukunft sichern
könne.
Als der Bundeswirtschaftsminister im Frühjahr dieses
Jahres an alle Vernünftigen in Europa appelliert hat:
„Wir brauchen wieder Wachstum, um aus dieser Krise
herauswachsen und gleichzeitig unseren Sozialstaat
stabilisieren zu können“, da hat Herr Trittin in der ihm
eigenen Art bescheiden gelächelt. Inzwischen haben Sie
erkannt, dass in ganz Europa das Thema Wachstum als
zentraler Bestandteil der Hoffnung erkannt worden ist.
({2})
Sie fahren durch Europa - auch die Sozialdemokraten und reden plötzlich von Wachstum, nachdem wir dieses
Thema vorgegeben haben.
({3})
Nur: Weil Sie von grüner Seite sich jahrelang den Kopf
darüber zerbrochen haben, wie man Wachstum am besten abbauen sollte, und nicht darüber, wie man Wachstum schaffen kann,
({4})
fällt Ihnen heute nichts dazu ein, wie man ein Wachstumskonzept für Europa entwickeln kann.
Als Herr Trittin letzte Woche gefragt worden ist, ob
denn ein neues Wachstumskonzept mit neuen Schulden
einhergehen solle, hat er geantwortet, das sei für ihn
keine dogmatische Frage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns ist das eine
Frage der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes. Selbstverständlich können Wachstumsprogramme
nicht durch neue Schulden in Europa finanziert werden.
({5})
Dass ein solcher Unsinn von den Grünen immer noch
in der Öffentlichkeit vertreten wird, zeigt doch, dass sie
sich in Wahrheit nicht dem Kern des Problems in Europa
zugewandt haben.
({6})
Auch die Sozialdemokraten müssen in dieser Frage
Ehrlichkeit an den Tag legen. Sich hinzustellen und zu
fordern, Europa dürfe nicht so viel sparen, aber gleichzeitig zu sagen, Deutschland spare nicht genug, passt
irgendwie nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Deswegen laden wir Sie ein, unseren Kurs des Fiskalpakts und der Stabilisierungspolitik in Europa zu unterstützen. Diese Politik hat aber immer zur Voraussetzung,
dass Schuldenbremsen so, wie wir sie in der deutschen
Verfassung implementiert haben, für ganz Europa gelten
müssen. Der Ausstieg aus dem Schuldenstaat muss für
ganz Europa eine Selbstverständlichkeit werden
({8})
und darf nicht von Ihnen durch Hintertüren immer wieder infrage gestellt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Zur Wachstumsfrage: Wir können mit einer Besteuerung der Realwirtschaft, sei es durch eine Finanzmarktbesteuerung oder durch höhere Ertragsteuern, keinen
Beitrag für Wachstum in Europa leisten.
({10})
Deswegen haben wir gemeinsam gesagt - ich bin auch
sehr froh, dass die Sozialdemokraten sich auf diesen
Kompromiss der Vernunft verständigen konnten -:
({11})
Wer Wachstum schaffen will, darf nicht die Realwirtschaft zusätzlich belasten. Bleikugeln am Bein der Wirtschaft und des Mittelstandes in Europa schwächen Europa und stärken Europa nicht.
({12})
Deswegen sagen wir gemeinsam: Wir wollen einen Weg
zu einer solchen Steuer gehen. Wir wollen diesen Weg
aber nicht zulasten von Wachstumschancen in Europa
gehen, weil wir wissen, dass das uns alle schwächen
würde.
Deswegen stehen wir zu diesem Kompromiss.
Herr Kollege.
Ich glaube, es ist ein Kompromiss der Vernunft. Er
wird gemeinsam auszufüllen sein. Wir werden darüber
auch noch im Konkreten zu diskutieren haben. Wir sollten uns aber nicht auseinanderdividieren lassen. Wachstum schafft man nicht durch Belastung der Wirtschaft,
sondern Wachstum schafft man, indem man neue Kräfte
der Freiheit in Europa mobilisiert.
({0})
Dazu laden wir Sie ein; dafür stehen wir zur Verfügung und nichts anderes.
Wir sollten dankbar sein, dass die Bundeskanzlerin
mit Härte einen Konsolidierungskurs in Europa einfordert. Das muss der erste Schritt sein. Deswegen appelliere ich an Sie: Sagen Sie Ja zum Fiskalpakt. Sagen Sie
Ja zum Europäischen Stabilitätsmechanismus. Wir haben es in der Hand, die gemeinsame Währung schon im
nächsten Monat mit einem klaren Signal zu stabilisieren.
Herr Kollege, jetzt müssen Sie wirklich zum Abschluss kommen.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Wir sollten
uns nicht auf die Ebene von politischem Klein-Klein begeben und damit die Märkte zusätzlich verunsichern.
Die Lösung liegt auf dem Tisch. Greifen wir zu. Gemeinsam schaffen wir das.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist unbestritten, dass die weltwirtschaftliche Entwicklung die Dynamik der vergangenen Jahre noch nicht erGerda Hasselfeldt
reicht hat. Genauso unbestritten ist, dass die Konsequenzen der internationalen Finanzkrise immer noch in der
Konjunktur-, in der Wachstumsentwicklung spürbar
sind. Darum ist es auch richtig, dies alles jetzt beim
G-20-Gipfel gemeinsam zu diskutieren. Schließlich erleben wir als Folge dieser Finanzkrise, dass nicht nur in
den europäischen, sondern auch in vielen anderen Industriestaaten die Staatsverschuldung zu hoch ist. In manchen europäischen Ländern haben wir zusätzlich mit den
Gefahren der Rezession zu kämpfen.
Meine Damen und Herren, das alles macht deutlich:
In dieser Zeit ist es nicht angebracht, irgendwelche
Schuldzuweisungen von einem Staat zum anderen Staat
vorzunehmen. Was wir jetzt brauchen, ist vielmehr, dass
jeder Staat seine Hausaufgaben auch selber macht und
sich der Probleme bewusst ist, die im eigenen Land bestehen, diese auch angeht und gemeinsam mit anderen
verantwortungsvoll diskutiert.
({0})
In Deutschland stehen wir noch vergleichsweise gut
da. Deutlich wird das an den Arbeitslosenzahlen, an der
Erwerbstätigenentwicklung insgesamt. Wir sind wieder
Konjunkturlokomotive in Europa.
Meine Damen und Herren, das kommt nicht von allein. Das ist immer noch zurückzuführen auf die Politik
der letzten Jahre, auf die Politik, die schon in der letzten
Legislaturperiode Markenzeichen unter Bundeskanzlerin
Angela Merkel war, nämlich den Dreiklang „Konsolidieren, Reformieren und Investieren“. Alles drei war gleichermaßen wichtig. Keines der drei Ziele darf allein stehen.
({1})
Daran ist auch deutlich geworden, dass Haushaltskonsolidierung, solides Wirtschaften, sparsames Wirtschaften kein Gegensatz zu Wachstumsimpulsen ist. Das haben wir in Deutschland bewiesen, und das ist auch der
Kurs in Europa. Dieser Kurs muss uns in Europa und darüber hinaus weiter tragen. Deshalb ist auch der Fiskalvertrag so bedeutend und wichtig für uns. Damit wird
der Grundstock für eine Stabilitätsunion in Europa gelegt mit einer rechtlichen Fixierung, die wesentlich weiter geht als das, was bisher auf europäischer Ebene vereinbart wurde. Mit dieser rechtlichen Fixierung eines
soliden Haushaltens in den einzelnen europäischen Staaten kann auch wieder Vertrauen geweckt werden, was
notwendig ist: Vertrauen der Finanzmärkte in die Politik
der einzelnen europäischen Staaten. Deshalb ist es ein
Akt der staatspolitischen Vernunft und nichts anderes,
diesem Fiskalvertrag nicht nur zuzustimmen, sondern
ihn auch schnell zu verabschieden.
({2})
Natürlich ist es dabei nicht nur legitim, sondern auch
geboten, über notwendige Wachstumsimpulse zu reden.
Das tun wir übrigens nicht erst seit wenigen Tagen und
Wochen, sondern schon seit langem. In dem ganzen Prozess der Entscheidungen über die Stabilisierung der europäischen Währung, bei jedem Gipfel war das ein
Thema. Nun sind wir in einer Phase, in der wir diese Gespräche konkretisieren, in einer Phase, in der konkret
nachgedacht wird beispielsweise über höheres Kapital
bei der Europäischen Investitionsbank, über Projektanleihen, über Änderungen und Verschiebungen beim EUHaushalt, bei den Kohäsionsfonds und bei vielem anderen mehr. Das alles ist nicht nur legitim, sondern auch
notwendig.
Das, was bei der Wachstumsdiskussion aber auf keinen Fall zielführend ist, ist die Diskussion über Programme - Wachstumsprogramme oder wie auch immer
sie genannt werden -, die durch zusätzliche Schulden finanziert werden. Es muss uns immer klar sein: Konsolidierung und Wachstum gehören zusammen. Zu Wachstum kommt es nicht, wenn nicht die erste Stufe, nämlich
die Haushaltskonsolidierung, stattfindet.
({3})
Zu Wachstum kommt es auch nicht, wenn nicht die notwendigen Strukturreformen im Arbeitsmarktbereich und
im sozialpolitischen Bereich getätigt werden.
Wenn jetzt in einigen europäischen Ländern die Diskussion darüber aufkommt, schon vorgenommene Strukturreformen im Arbeitsmarktbereich und im sozialpolitischen Bereich wieder zurückzunehmen
({4})
oder auch notwendige Reformen gar nicht anzugehen,
dann, meine Damen und Herren, versündigt man sich an
dem Ziel der Wachstumsimpulse, an dem Ziel, die Staaten voranzubringen und für eine solide wirtschaftliche
Entwicklung zu sorgen.
({5})
Wenn es so kommt, dann wird man auch die Zeche
dafür bezahlen müssen, nämlich in Form fehlender oder
schlechterer Bonität, höherer Zinsen für die Staaten und
nicht zuletzt sinkenden Vertrauens in die Finanzpolitik
und in die Politik dieser Staaten. Das, meine Damen und
Herren, ist das Allerschlimmste;
({6})
denn Vertrauen in die Politik, Vertrauen in ein solides
Wirtschaften, das ist die Grundlage dafür, dass sich die
Wirtschaft gesund entwickeln kann.
Zur Finanztransaktionsteuer ist schon vieles gesagt
worden; ich brauche das nicht zu vertiefen. Ich darf für
die CSU nur sagen: Bei uns rennen all diejenigen, die
eine Besteuerung der Finanzmärkte auf europäischer
Ebene wollen, offene Türen ein. Wir werden den Bundesfinanzminister bei seinen Bemühungen, hier europaweit voranzukommen, mit aller Tatkraft unterstützen.
({7})
Nun hat sich in den Oppositionsparteien mittlerweile
erfreulicherweise eine doch etwas skeptische Haltung
gegenüber Euro-Bonds, die früher immer gleich als Erstes thematisiert wurden, eingestellt. Ich begrüße das
sehr. Es zeigt, dass durchaus Lernbereitschaft vorhanden
ist. Der Vorschlag eines Schuldentilgungsfonds ist letztlich jedoch nichts anderes als die Einführung von EuroBonds durch die Hintertür.
({8})
Wenn man meint, damit die Probleme zu lösen, dann ist
man auf einem völlig falschen Weg. Mit einer Vergemeinschaftung der Schulden nehmen wir den einzelnen
Ländern jeden Druck, selbst etwas dagegen zu tun. Es ist
volkswirtschaftlich sinnlos. Es ist rechtlich nicht möglich. Es ist ein Verrat an den deutschen Interessen. Deshalb werden wir dieses nicht zulassen.
({9})
Wir brauchen ein hohes Maß an Verantwortung in unserem politischen Handeln: Verantwortung bei den Krisenländern, Verantwortung bei allen Industrieländern,
nicht nur bei den europäischen, Verantwortung in besonderer Weise auch von Deutschland. Die Erwartungen
Europas in unser Land sind groß. Diese Erwartungen
sind nicht nur von der Regierung und den Koalitionsfraktionen zufriedenzustellen, sondern sie gehen das
ganze Haus an. Ich stelle mit Zufriedenheit fest - das
möchte ich ausdrücklich anerkennen -, dass wir bei der
Vorbereitung der Entscheidung über ESM und Fiskalvertrag in guten Gesprächen sind.
Bei dieser Gelegenheit betone ich vor allem: Das, was
die Bundeskanzlerin in den vergangenen Monaten und
Jahren an Verantwortung unter Beweis gestellt hat, war
und ist eine großartige Leistung.
({10})
Sie hat mit Durchsetzungskraft und Hartnäckigkeit nicht
nur deutsche Interessen immer vertreten, sondern sie hat
auch dazu beigetragen, dass wir auf einem guten Weg zu
einer nachhaltigen und dauerhaften Stabilitätsunion in
Europa sind. Deshalb werden wir sie auf diesem Weg
weiterhin unterstützen.
({11})
Der Kollege Poß erhält nun das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Hasselfeldt, ich gebe gerne zu, dass die Frau
Bundeskanzlerin in einem Fach eine Meisterin ist: Sie ist
eine Meisterin in der Feindbildpflege. Das hat sie heute
Morgen wieder bewiesen, indem Sie einen Popanz über
die schuldenhungrigen Sozis und Grünen an die Wand
gemalt und nichts Sachliches zu dem Thema berichtet
hat.
({0})
Damit wird ein Thema tabuisiert, das uns alle - auch
Sie - einholen wird. Im Bericht der sogenannten Viererbande zum Europäischen Rat Ende des Monats wird dieses Thema auftauchen.
Und Sie sollten sich ganz grundsätzlich wegen der
Schulden hier nicht so aufblasen, egal ob Herr Kauder
oder Herr Brüderle - Sie und alle anderen Fraktionsvorsitzenden treffen sich jetzt mit der Kanzlerin; das ist in
Ordnung -; denn dazu haben Sie doch keinen Anlass.
Schließlich beschließen Sie heute Nachmittag eine Neuverschuldung, die fast doppelt so hoch ist wie in diesem
Jahr.
({1})
Was reden Sie da von Verschuldung? Reden und Handeln fallen auch hier wieder total auseinander. Das ist sozusagen Ihr Markenzeichen. Daran ändert sich nichts.
({2})
Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung, und wir setzen sie auch durch. Offenkundig hat sich die Bundeskanzlerin dazu entschlossen, den gelben Koalitionspartner - Herr Wissing, ein besonders berüchtigter
Protagonist, will die Steuer verhindern - zu domestizieren, um das Vernünftige durchzusetzen.
({3})
Frau Merkel hat zweieinhalb Jahre gebraucht, um ein
Stück Vernunft in der Koalition durchzusetzen. Es ist
doch kein Grund, auf diese überfällige Leistung stolz zu
sein.
({4})
Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung durchsetzen,
alleine schon deshalb, um nicht mehr Schulden machen
zu müssen. Wir brauchen sie für die Konsolidierung wie
auch für Wachstumsinitiativen; auch das ist der Sinn dieser Finanzmarktbesteuerung.
Also: Sie haben keinen Anlass zu irgendeinem Stolz.
Das, was Frank-Walter Steinmeier hier festgestellt hat,
nämlich dass von Ihnen null Initiative im Hinblick auf
den nächsten G-20-Gipfel kommt - es wären viele Initiativen zu ergreifen; diese wurden thematisiert -, ist vollkommen richtig.
Ihnen ist die Initiative abhandengekommen. Und warum? Weil Sie in Ihrer eigenen Koalition in wichtigen
zentralen Fragen wie der Finanzmarktbesteuerung eben
nicht einer Meinung waren. Welche Position sollte die
Bundeskanzlerin denn dann auf internationalen Gipfeln
nachhaltig vertreten? Ein nachhaltiges Auftreten war ja
gar nicht möglich.
Es ist schon beschämend, dass in diesem Parlament
von der Koalition bei der Frage der Finanzmarktbesteuerung bis in den heutigen Morgen hinein taktiert, verweiJoachim Poß
gert und blockiert worden ist. Es ist beschämend, dass es
Frau Merkel zweieinhalb Jahre lang nicht gelungen ist,
in dieser Frage eine klare Linie in ihrer Koalition durchzusetzen, und dass sie sich vom kleinen Koalitionspartner FDP hat auf der Nase herumtanzen lassen. Damit ist
jetzt Schluss!
({5})
Auf unseren Druck und weil es anders einfach nicht
geht,
({6})
musste die FDP jetzt klein beigeben. Das ist Fakt. Die
FDP musste klein beigeben und nichts anderes. Das
hätte man viel eher haben können.
({7})
Deswegen ist die aktuelle Entwicklung gut. Sie ist
auch noch aus einem anderen Grunde gut: Für die Menschen in unserem Lande ist mit den krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre einiges gehörig in Schieflage geraten. Die Menschen empfinden es als zutiefst
ungerecht, wie die Lasten der Krise verteilt worden sind
und dass die Krisenverursacher in der Finanzbranche
viel zu gut davongekommen sind. Das muss korrigiert
werden.
({8})
Das meinen im Übrigen nicht nur die Anhänger der Oppositionsparteien, das meinen auch Ihre eigenen Anhänger. Das erfährt man, wenn man einmal mit ihnen
spricht. Diejenigen, die normalerweise FDP oder CDU
bzw. CSU wählen, sagen: So kann das nicht weitergehen.
In diesen Tagen erleben wir, dass die Lobbyisten wieder mobil machen, auch in den Medien. Davon darf man
sich nicht beeindrucken lassen. Die Finanztransaktionsteuer kann so konstruiert werden, dass schlimme Effekte auf Altersversorgung usw. eingedämmt und in
Grenzen gehalten werden können. Es ist das alte Spiel:
Die vermeintlichen Interessen der Kleinen werden vorgeschoben, damit diejenigen, die bisher kassiert haben,
auch weiterhin gehörig kassieren können. Dieses Spiel
läuft hier ab, meine Damen und Herren!
({9})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Wir machen dieses Spiel nicht mit. Wir hoffen, dass
wir gemeinsam - auch wenn Sie dabei Bauch- oder
andere Schmerzen haben - zu einer vernünftigen Lösung
in der Bundesrepublik Deutschland,
({0})
in Europa, möglichst in der Euro-Zone kommen werden
und zusammen mit anderen Partnern zu einer verstärkten
Zusammenarbeit finden werden.
({1})
Mal sehen, wie Sie sich weiter verhalten werden.
({2})
Das Wort hat nun Frank Steffel für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe, wie
auch Sie, zwei Stunden lang dieser abwechslungsreichen
Debatte gelauscht. Am Ende einer Debatte frage ich
mich immer: Was sind denn die Erkenntnisse für die hoffentlich zahlreichen Zuschauer an den Fernsehgeräten
und für die Damen und Herren, die unsere Debatte hier
mit hoffentlich großem Interesse unmittelbar verfolgen?
Nach meiner Einschätzung gibt es drei wesentliche
Erkenntnisse.
Erstens spüren die Menschen, dass auch wir Politiker
nicht auf alle Fragen, nicht auf alle Herausforderungen
der weltweiten Zukunft perfekte, allumfassende Antworten haben. Sie merken, dass auch die Politik um den
richtigen Weg ringt. Ich hoffe aber, die Menschen spüren
auch, dass es einen wesentlichen Fortschritt in unserer
politischen Generation gibt.
Ich will einmal 25 Jahre zurückblicken: Vor 25 Jahren
herrschten der Kalte Krieg, Sprachlosigkeit und Feindschaft. Auf dieser Welt standen sich Blöcke gegenüber.
Heute sprechen wir über den G-20-Gipfel, auf dem die
führenden 20 Nationen dieser Erde vertreten sind - sie
generieren 90 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts -: Australien, natürlich die Vereinigten Staaten
von Amerika, Russland, China, Indien, Brasilien, Argentinien, die Türkei, Saudi-Arabien, Südafrika. Ich will das
bewusst auch einmal den jungen Zuhörern sagen. Man
könnte sagen, dass die ganze Welt miteinander spricht.
Die Nationen sprechen miteinander über drei Ziele
- ich habe das einmal herausgesucht; auch das sollten
wir deutlich machen -: Sie sprechen über das Ziel, ökonomische Stabilität und nachhaltiges Wachstum für unseren Planeten zu organisieren. Sie sprechen gemeinsam
über das Ziel, Risiken zu reduzieren und zukünftige
finanzielle Krisen zu vermeiden. Sie sprechen gemeinsam über das Ziel, eine neue internationale Finanzarchitektur zu errichten. Meine Damen und Herren, da hat
sich auf diesem Planeten doch Gott sei Dank etwas geändert.
John F. Kennedy hat gesagt:
Unsere Probleme sind von Menschen gemacht.
Deshalb können sie von Menschen gelöst werden.
Wenn er mit diesen Sätzen recht hatte, dann sollte eine
wesentliche Erkenntnis des heutigen Tages sein: Es wäre
doch gelacht, wenn die 20 bedeutendsten Staats- und
Regierungschefs, die 20 unterschiedlichen, aber größten
Nationen dieser Erde es nicht gemeinsam schaffen, die
Probleme dieses Planeten auch in der Zukunft für kommende Generationen gemeinsam zu lösen.
({0})
Ich glaube, die Menschen spüren ein Zweites: Ja,
Sparen und Konsolidieren sind unpopulär und schwierig.
Es fordert Opfer, und wir reden über Verteilung: Wen
belastet das mehr? Wen belastet das weniger? Was ist
gerecht? - Aber, meine Damen und Herren, die Menschen spüren auch, dass Wachstum nur wenige Voraussetzungen haben kann:
Eine Voraussetzung ist relativ einfach - einige Länder
dieser Erde verzeichnen es -: Bevölkerungszuwachs.
Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen: In Europa, insbesondere in Deutschland, ist das nicht der Fall.
Eine zweite Möglichkeit, für nationales Wachstum zu
sorgen, ist Verschuldung, also Wachstum auf Pump. Wir
stellen wahrscheinlich gemeinsam fest: Das ist ein Teil
- wahrscheinlich die wesentliche Ursache - der Probleme, über die wir heute reden.
Dann bleibt nur ein dritter Weg für Wachstum übrig.
Ich will ihn in dieser Debatte deutlich herausarbeiten,
weil er eine Stärke der Bundesrepublik Deutschland ist:
Es bleibt der Weg übrig, Wachstum durch Innovation,
Ideen, Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu
erreichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns da einmal
zufrieden und stolz sein: Was der deutsche Mittelstand
und deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
den letzten Jahren bewiesen haben, sind Innovationsfähigkeit, Ideenreichtum, Wettbewerbsfähigkeit und
Leistungsbereitschaft. Das ist weltweit ein Statussymbol
dieser Bundesrepublik Deutschland. Also lassen Sie uns
bei anderen stolz und zufrieden für unseren Weg werben.
Im Übrigen will ich an dieser Stelle eines ausdrücklich sagen: Auch die Qualifikation und die Einsatzbereitschaft unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sind Standortvorteil dieser Bundesrepublik Deutschland,
auf den wir stolz sein sollten. Denn das ist die Grundlage
unseres Wachstums; momentan sind wir Stabilitätsanker
in Europa.
Wer glaubt, fehlende Wettbewerbsfähigkeit mit der
Reduzierung des Renteneintrittsalters bekämpfen zu
können, der ist noch nicht wirklich in diesem Jahrhundert mit seinen demokratischen, medizinischen und anderen Entwicklungen angekommen. Wer glaubt, durch
die Vergemeinschaftung von Schulden die richtigen Anreize für einen verantwortungsvollen Umgang mit Geld
zu setzen, der schätzt die Motive der Menschen wieder
einmal falsch ein. Darüber ist übrigens Ihr Sozialismus,
lieber Herr Gysi, schon einmal gestolpert: Er hat schlicht
und ergreifend die Motive von Menschen falsch eingeschätzt. Wenn wir ehrlich über die Motive von Menschen reden, dann müssen wir feststellen, dass es natürlich Anreize zum Sparen, zum verantwortungsvollen
Umgang mit Ressourcen geben muss. Insofern ist die
Vergemeinschaftung von Schulden genau der falsche
Weg.
({1})
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass gestern die Troika der SPD im Élysée-Palast Vorwahlkampf
veranstaltet hat.
({2})
- Ja, das habt ihr gut organisiert. - Ich hätte mir nur
eines gewünscht: Zur Ehrlichkeit hätte es auch gehört,
dem neuen französischen Präsidenten zu sagen, dass
seine Rücknahme der Anhebung des Renteneintrittsalters genau das falsche Signal der zweitwichtigsten
Volkswirtschaft der Euro-Zone an die Märkte ist. Auch
hier müsste die SPD sich ehrlich machen und nicht parteitaktisch argumentieren.
({3})
Die dritte Erkenntnis ist, dass gerade in krisenhaften
Zeiten die Menschen ihrer politischen Führung vertrauen
möchten - auch wenn sie wissen, dass es nicht auf alles
eine perfekte Antwort gibt - und dass sie Ehrlichkeit und
Verlässlichkeit erwarten. Es wundert mich deshalb nicht,
dass alle Umfragen unter der Bevölkerung ergeben, dass
die Bundeskanzlerin gerade in Bezug auf diese Werte
hohes Ansehen genießt. Man spürt, dass Angela Merkel
mit Sachkunde, Ehrlichkeit und Berechenbarkeit auf internationaler Ebene versucht, für Deutschland und für
Europa den richtigen Weg auch in das kommende Jahrzehnt zu organisieren.
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass auch die Opposition bereit ist, den Fiskalpakt und die notwendigen
Schritte in Europa zu unterstützen; denn wenn es um historische Fragen geht, dann sollte es in Deutschland keinen Unterschied zwischen Opposition und Regierung
geben. Ich wünsche mir nicht nur, dass die Bundesregierung uns auf dem G-20-Gipfel gut vertritt, sondern ich
wünsche mir auch, dass insbesondere die Sozialdemokraten der europäischen Rettung, dem Fiskalpakt zustimmen und von Deutschland das klare Signal an die internationale Staatengemeinschaft ausgeht: Wir stehen zu
unserer Verantwortung, wir wollen konsolidieren und
trotzdem wachsen, und wir denken dabei insbesondere
an die Menschen, die jeden Tag fleißig für unseren gemeinsamen Wohlstand arbeiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland ist solidarisch. Deutschland ist solidarisch,
wenn es darum geht, den freien Handel weltweit zu fördern, weil er allen hilft. Deutschland ist solidarisch bei
der wirtschaftlichen und technologischen ZusammenarDr. Joachim Pfeiffer
beit. Deutschland ist auch beim Klimaschutz solidarisch;
denn hier gehen wir voran.
Deutschland ist auch in Europa solidarisch. Deutschland kann aber nur so lange solidarisch sein, solange es
selbst stark ist, und wir sind stark, weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben.
({0})
- Wir in Deutschland. Auch die rot-grüne Bundesregierung hat mit der Agenda 2010 unsere Bemühungen auf
dem Arbeitsmarkt unterstützt, indem sie Rahmenbedingungen geschaffen hat, die dazu beigetragen haben, dass
unser Arbeitsmarkt so stark ist wie nie zuvor. Während
andere Staaten in Europa mit der höchsten Arbeitslosigkeit aller Zeiten zu kämpfen haben, verzeichnet
Deutschland die höchste Beschäftigungsquote der Nachkriegszeit. Das ist das Ergebnis einer Politik, die auf
Konsolidierung und Wachstum setzt. Wir haben uns
nicht nur auf einen der beiden Aspekte konzentriert, sondern wir haben sie in Übereinstimmung gebracht,
({1})
und zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch
auf den Gütermärkten.
Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen,
deutscher Produkte und deutscher Dienstleistungen ist so
gut wie nie. Wir sind gut aufgestellt. Wir haben auch in
den Bereichen Finanzmarkt und Haushaltskonsolidierung gehandelt. Wir haben sowohl für die Häuslebauer
als auch für die deutsche Wirtschaft, vor allem für den
Mittelstand, Kredite bereitgestellt, damit er seine Investitionen weiter vorantreiben kann.
In Europa sieht es anders aus. In Europa brennt es
zum Teil offen, zumindest schwelt es. Deutschland ist
bereit zur Solidarität. Deutschland ist bereit, sich an dem
Feuerwehreinsatz zu beteiligen und zu löschen. Aber
auch beim Löschen gilt es, den alten Feuerwehrgrundsatz des Selbstschutzes zu beachten. Wachstum darf
nicht auf Pump finanziert werden. Um für Wachstum zu
sorgen, braucht man die richtigen Instrumente. Ich gebe
Herrn Steinmeier zwar recht, wenn er sagt, dass
Deutschland mutig vorangehen soll. Aber wir dürfen
nicht kopflos handeln; denn das wäre der direkte Weg in
den Abgrund. In diesem Zusammenhang möchte ich auf
die Euro-Bonds verweisen. Sie sind - wie es der Kollege
Brüderle sehr treffend ausdrückt - Zinssozialismus, sie
sind süßes Gift. Durch sie wird kein einziges Problem
gelöst; vielmehr werden notwendige Maßnahmen zur
Restrukturierung verzögert. Sie verhindern, dass notwendige Strukturreformen auf den Weg gebracht werden. Das haben mittlerweile offensichtlich selbst die Sozialdemokraten erfreulicherweise eingesehen.
Euro-Bonds sind nicht das, wofür sie manche halten.
Der EU-Kommissionspräsident sagt immer, dass wir
Euro-Bonds brauchen, weil die Anleger sich dann am
Stärksten orientieren würden. Genau das ist aber nicht
der Fall. Das wissen wir spätestens, seitdem der Chef des
chinesischen Investitionsfonds CIC in der letzten Woche
gesagt hat, dass China nicht in Euro-Bonds investieren
würde, weil man sich dann nicht am stärksten, sondern
am schwächsten Glied der Kette orientieren würde.
({2})
Das sollten wir uns einmal vergegenwärtigen: EuroBonds hätten nicht nur zur Folge, dass Strukturreformen
nicht durchgeführt würden, sie würden uns auch nicht
hinsichtlich der Finanzierung während der Krise helfen.
({3})
Ernst Hinsken und ich waren in der letzten Woche mit
dem Wirtschaftsminister in Saudi-Arabien. Auch der
saudi-arabische Finanzminister hat uns in aller Deutlichkeit gesagt, dass man in deutsche Anleihen investiert,
weil man Vertrauen in Deutschland hat. Man würde
nicht in Euro-Bonds investieren, weil man im Moment
nicht sehe, dass die Probleme in Europa in der Form gelöst werden, wie das notwendig ist. Das sollte ein Alarmsignal für uns sein. Wir sollten das Thema Euro-Bonds
nicht weiterverfolgen, weil Euro-Bonds das Problem
nicht lösen. Sie sind das Gegenteil: Sie sind Brandbeschleuniger und nicht zum Löschen der Krise in Europa
geeignet.
({4})
Das Gleiche gilt für den Altschuldentilgungsfonds. Die
Kollegin Hasselfeldt hat das Thema vorhin angesprochen. Das wäre die Einführung von Euro-Bonds durch
die Hintertür.
Ich glaube, jeder sollte seine Hausaufgaben machen.
Auch wir haben noch genug Hausaufgaben zu machen.
Wir haben 2 Billionen Euro Schulden, 2 000 Milliarden Euro Schulden, die wir selber abzutragen haben.
Das entspricht nach wie vor 80 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Wir sind auf dem richtigen Weg, weil
die Wirtschaft bei uns schneller wächst, als die Verschuldung ansteigt. Deshalb konnten wir die Verschuldungsquote im letzten Jahr um 1 bis 2 Prozentpunkte nach unten fahren. Das wird erfreulicherweise auch in diesem
Jahr der Fall sein. Insofern stimmt die Richtung.
Wir können und wollen auch keine Bankenunion einführen, die im Augenblick von manchen vorgeschlagen
wird. Wir wollen eine europäische Bankenaufsicht. Insofern wollen wir eine Bankenunion, und diesbezüglich
gibt es in der Tat noch einiges zu tun. Es kann nicht sein,
dass die nationale Bankenaufsicht nur für national tätige
Banken zuständig ist und die europäische Bankenaufsicht nur für grenzüberschreitende Tätigkeiten. Hinsichtlich der Finanzmarktregulierung gibt es da noch das eine
oder andere zu verbessern.
Genauso wenig sinnvoll wie die Vergemeinschaftung
von Schulden ist es, durch eine europäische Einlagensicherung das europäische Vermögen zu vergemeinschaften. Weder eine Vergemeinschaftung von Schulden
noch eine Vergemeinschaftung von Vermögen ist die Lösung. Im Moment versucht man an allen Ecken und Kanten in Europa, uns in die Transferunion zu locken oder
zu zwingen. Dass dieser nicht erfolgversprechende Weg
nicht eingeschlagen wird, das garantieren die CDU/
CSU- und die FDP-Fraktion in diesem Haus sowie die
Bundesregierung, die die notwendigen Schritte bisher
immer durchgesetzt hat.
({5})
Wir freuen uns über jede Unterstützung. Die Grünen
fordern aber leider zum Großteil das Gegenteil und sagen, dass sie Euro-Bonds wollen. Ich bin mir noch nicht
so richtig sicher, was die SPD will. Ich weiß nicht, was
am Ende herauskommt, wenn das Trio Infernale öfter
nach Paris fährt. Ich bin mir nicht sicher, ob man dann
am Ende nicht doch wieder umfällt und Euro-Bonds fordert, in welcher Form auch immer.
Für meine Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit
auch: Wir wollen, dass der ESM und der Fiskalpakt
zusammen verabschiedet werden, weil sie zusammengehören.
({6})
Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf der einen
Seite steht ein dauerhaftes Rettungsinstrumentarium für
schwierige Situationen, und auf der anderen Seite stehen
klare Regeln, was Haushalt, Wachstum und Konsolidierung in Europa anbelangt. Beides gehört untrennbar zusammen. Wir werden nie und nimmer das eine ohne das
andere verabschieden. Beide Dinge gehören untrennbar
zusammen.
({7})
Bei aller Freude über die deutsche Situation: Wer
nicht immer besser wird, hört auf, gut zu sein. Wir sollten aufhören,
({8})
die Agenda 2010 schlechtzureden. Die SPD und andere
ihrer Kameradinnen distanzieren sich davon oder wollen
sie rückgängig machen. Die Agenda 2010 war notwendig. Wir brauchen jetzt aber keine Agenda 2010, sondern
eine Agenda 2020 oder eine Agenda 2030, die Wachstumsfesseln löst, die Technologieoffenheit, Technologiebegeisterung schafft, die den Arbeitsmarktmotor in Fahrt
hält,
({9})
die die Rahmenbedingungen für Gründungen verbessert,
die bei Innovationstätigkeit, bei steuerlicher Förderung
von Forschungsfinanzierung und anderem entsprechend
positiv wirkt. Nur dann haben wir die Chance, dass
Deutschland weiterhin so stark bleibt, wie es ist, und
seine Solidarität in Europa und weltweit leisten kann.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Josip Juratovic,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebotes für
Frauen und Männer ({0})
- Drucksache 17/9781 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Andrea Nahles
für die SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte mit einem Blick in die Zukunft beginnen. Anlässlich des Equal Pay Day am 10. März 2015
gibt das Statistische Bundesamt eine Pressemitteilung
heraus. Die Überschrift lautet: Verdienstunterschiede
von Frauen und Männern gehen erstmals zurück. Weiter
heißt es in der Pressemitteilung: Wiesbaden - Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen war in
Deutschland im Jahr 2014 um 15 Prozent niedriger als
der von Männern. Damit hat sich der unbereinigte Gender Pay Gap erstmals seit Jahren verringert. Dies ist das
messbare Ergebnis des Entgeltgleichheitsgesetzes, das
am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist. - Das ist doch
einmal eine schöne Nachricht.
({0})
Sie haben es hier heute in der Hand. Sie können dafür
sorgen, dass diese schöne Nachricht tatsächlich den Weg
in die deutschen Zeitungen findet, indem Sie heute dem
Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zustimmen.
Wir müssen in Deutschland endlich mit dem Skandal
aufräumen, dass es einen Lohnunterschied zwischen
Männern und Frauen gibt. Diesen Lohnunterschied gibt
es aus einem einzigen Grund: weil die Frauen Frauen
sind. Das ist Entgeltdiskriminierung. Das muss man so
benennen, und das muss man beseitigen.
({1})
Wir erleben in dieser Frage vonseiten der Bundesregierung vor allem Appelle. Im Hintergrund wird dieses
Thema auch noch wie eine heiße Kartoffel von einem
Ministerium zum anderen geschoben.
({2})
Es im Grunde genommen egal, ob sich Frau von der
Leyen der Sache mal wieder wildernd im Ressort ihrer
Kollegin annimmt oder ob Frau Schröder es selbst
macht, unter dem Strich bleibt leider folgende Botschaft
für die Frauen in Deutschland: Eine schlechtere Interessenvertretung für Frauen in dieser Frage hat es in
Deutschland noch nicht gegeben. Das ist das Ergebnis
Ihrer Politik.
({3})
Ich sage Ihnen: Frau von der Leyen ist wirklich sehr
gut darin - ich muss das loben -, alle zentralen Probleme
des Arbeitsmarktes anzusprechen. Konkrete Lösungen
werden aber nicht angeboten, geschweige denn umgesetzt.
({4})
Einer der zentralen Gründe für schlechte Löhne von
Frauen in Deutschland ist schlicht und ergreifend - das
ist ganz simpel -, dass es zu viele Frauen gibt, die in prekären Teilzeitbeschäftigungen festhängen und keinen
Weg finden, dort herauszukommen. Das ist eines der
Probleme.
Das zweite Problem ist, dass einige Tätigkeiten
- meist sind es Dienstleistungen - insgesamt schlechter
bewertet bzw. entlohnt werden. Dies geschieht nicht zufällig; denn zu 70 oder 80 Prozent werden diese Tätigkeiten von Frauen ausgeführt. Viele Tätigkeiten von
Frauen werden also schlichtweg weniger hoch bewertet.
Das sind zentrale Gründe für die Entgeltungleichheit.
Wir legen hier und heute einen Gesetzentwurf vor, der
einen gesetzlichen Rahmen schafft. Dieser gesetzliche
Rahmen verpflichtet die Tarifpartner und die Verantwortlichen in den Betrieben, sich um dieses Problem zu
kümmern. Wir, die Politik, können dieses Problem in
den Betrieben vor Ort nicht selbst lösen. Aber wir können wenigstens einen gesetzlichen Rahmen schaffen, der
sie dazu verpflichtet, dieses Thema regelmäßig auf die
Tagesordnung zu setzen, damit die vorhandenen Probleme gelöst werden können. Das ist mehr als die warmen Worte und die Appelle seitens dieser Bundesregierung. Das ist der große Vorteil unseres Gesetzentwurfs.
({5})
Frau Schröder hat Lohnmessmethoden ausprobieren
lassen. Ich sage Ihnen klipp und klar: Darüber freuen wir
uns. Es handelt sich dabei allerdings um Lohnmessmethoden, die immer wieder zu einer „überraschenden“
Erkenntnis führen. Viele Firmen, die diese Lohnmessmethoden anwenden, stellen doch tatsächlich fest: Ups,
bei uns gibt es eine Lohndiskriminierung.
({6})
Jetzt kommt der spannende Punkt: Danach passiert
nichts mehr. Genau das ist das Problem, das wir mit unserem Gesetzentwurf anpacken. Dass nichts getan wird,
haben wir nämlich lange genug erlebt.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, an dem diese Regierung etwas tun will; das ist wirklich wunderbar und
großartig. Einer der Hauptgründe für die schlechtere
Entlohnung von Frauen sind bekanntlich familienbedingte Erwerbsunterbrechungen. Was macht diese Bundesregierung?
({7})
Sie legt ein Programm zur Förderung familienbedingter
Erwerbsunterbrechungen vor.
({8})
Es nennt sich Betreuungsgeld.
({9})
Da, wo diese Bundesregierung endlich einmal konkret
wird und etwas tut, geht es voll in die Hose.
({10})
Das Betreuungsgeld wird nämlich weitere Lohndiskriminierung und -ungleichheit in Deutschland zur Folge
haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Es gab seit Jahrzehnten
keine Regierung in Deutschland, die die Interessen der
Frauen schlechter vertreten hat als die jetzige. Auch dass
diese Regierung von einer Frau angeführt wird, bringt
den Frauen in Deutschland unter dem Strich nichts.
({11})
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie unserem
Gesetzentwurf zu! Die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein
echtes Problem. Sie ist nicht nur ein Problem der Gleichstellung, sondern betrifft auch die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, die dadurch empfindlich gestört wird.
({12})
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie, liebe Bundesregierung, herzlich darum bitten, endlich Butter bei die
Fische zu tun.
({13})
Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich geht:
Wenn ich von einer Lohndifferenz zwischen Frauen und
Männern in Deutschland in Höhe von 23 Prozent spreche und zu diesem Thema Pressemitteilungen verfasse,
dann stoße ich bei vielen Menschen auf Unverständnis.
Viele sagen: 23 Prozent? Das kann doch gar nicht sein.
Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Mann 23 Prozent mehr verdient als die Frau, die zum Beispiel neben
Nadine Schön ({0})
ihm am Fließband steht. - Tatsächlich: Diesen Fall wird
man selten antreffen.
({1})
Denn bei der Lohnlücke von 23 Prozent handelt es sich
nicht um einen individuellen Lohnunterschied, sondern
um den Unterschied zwischen dem durchschnittlichen
Bruttostundenverdienst aller Männer und dem durchschnittlichen Bruttostundenverdienst aller Frauen.
({2})
Der Unterschied ist deshalb so groß, weil Männer viel
öfter als Frauen Vollzeit arbeiten und weniger oft familienbedingt auf Berufstätigkeit verzichten, weil also mehr
Männer als Frauen erwerbstätig sind.
({3})
Man kann sich fragen: Ist die Lohndifferenz die Konsequenz individueller Entscheidungen? Ist sie also unproblematisch? Müssen wir uns mit diesem Thema also
nicht beschäftigen? Nein, wer so argumentiert, der
macht es sich zu einfach.
({4})
Es gibt tatsächlich bestimmte Diskriminierungstatbestände. Ein Beispiel ist der Fall einer Berufseinsteigerin,
die trotz des gleichen Studienabschlusses schlechter bezahlt wird als ihr männlicher Kollege. Man kann vermuten, dass eine mögliche Schwangerschaft und eine
potenzielle Familienzeit schon eingepreist werden. Hier
hat die junge Frau ganz individuell ein Problem.
Besonders problematisch wird diese Lohnlücke von
23 Prozent im Alter. Dann nämlich entwickelt sich die
Lohndifferenz zu einer Rentendifferenz von über 59 Prozent. Das ist logisch, weil Frauen, die weniger verdient
haben, später geringere Rentenansprüche haben. Genau
das, die fehlenden eigenen Rentenansprüche, sind der
Grund für die drohende Altersarmut von Frauen. Vor
diesem Hintergrund sind das Fehlen von Entgeltgleichheit und vor allem die Ungleichheit der Renten große
Probleme, sowohl auf individueller Ebene als auch deshalb, weil wir alle davon betroffen sind.
({5})
Über die Ursachen haben wir in diesem Haus oft diskutiert.
({6})
Für den größten Teil der Lohnlücke gibt es objektive
Gründe, nämlich die horizontale und die vertikale Segregation des Arbeitsmarktes. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie müssen nicht so überrascht tun.
Ich denke, diese Fakten sind Ihnen bekannt: Frauen sind
in den besser bezahlten Berufen und auf den höheren
Stufen der Karriereleiter schlechter vertreten.
({7})
Das führt zu schlechterer Bezahlung. Hinzu kommt, dass
Frauen mehr und längere Erwerbsunterbrechungen haben. Sie arbeiten meist Teilzeit mit wenigen Stunden. Das
erklärt 15 Prozent der Entgeltlücke. Die anderen 8 Prozent ergeben sich tatsächlich durch Diskriminierung und
eine ungerechte Bewertung von Frauenarbeit.
Ansatzpunkte dafür, wie man diese Lohnlücke schließen kann, gibt es zahlreiche.
({8})
Bei vielen ist auch die Politik gefragt,
({9})
und vieles wird auch bereits getan. Das fängt bei dem
Bemühen an, Mädchen und Frauen auch für die besser
bezahlten technischen Berufe zu gewinnen, und geht bis
zu den Initiativen gegen die langen Erwerbsunterbrechungen und die hohe Teilzeitquote,
({10})
etwa durch den Ausbau der Krippenplätze, durch den
Ausbau von Ganztagsschulen und durch den Ausbau der
nachschulischen Betreuung. Das ermöglicht nämlich
eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und
führt dazu, dass es weniger Erwerbsunterbrechungen
und weniger Teilzeitarbeit, also auch bessere Einkommen gibt.
Hier ist jetzt das Stichwort Betreuungsgeld gefallen.
({11})
Liebe Kollegin Frau Nahles, Sie haben das gesagt. Ich
bin, wie Sie wissen, nicht der größte Verfechter des
Betreuungsgeldes,
({12})
aber wie Sie sich in den letzten Wochen über junge
Familien geäußert haben,
({13})
die im ersten und zweiten Lebensjahr ihres Kindes gerne
mehr Zeit mit ihm verbringen und nicht nach wenigen
Wochen wieder Vollzeit ins Berufsleben einsteigen wollen,
({14})
Nadine Schön ({15})
ist wirklich empörend und schlimm. Das kritisiere ich
hier wirklich deutlich.
({16})
Es muss doch, wenn man ein einjähriges Kind hat,
möglich sein, die Arbeitszeit etwas zu reduzieren, um
mehr Zeit mit dem Kind verbringen zu können. Für Sie
ist jede Person, die nicht gleich wieder Vollzeit einsteigt,
eine schlechte Mutter bzw. ein schlechter Vater.
({17})
Ich bin die Letzte, die sagt, dass Kitabetreuung schlecht
für ein Kind ist, aber das, was Sie fordern, nämlich
Frauen und Männer direkt wieder in den Arbeitsmarkt,
ist nicht das, was sich die meisten jungen Familien wünschen.
({18})
Es muss doch möglich sein, auch einmal stundenweise auf die Berufstätigkeit zu verzichten, und zwar für
Männer und für Frauen. Wenn wir das den Männern und
Frauen ermöglichen,
({19})
dann haben wir an diesem Punkt auch kein Problem
mehr mit Entgeltungleichheit. Das wünschen sich junge
Familien. Hier tun wir wirklich aktiv etwas gegen Entgeltungleichheit.
({20})
Das beste Erfolgsmodell ist das Elterngeld. Mit dem
Elterngeld und den Partnermonaten ermöglichen wir
jungen Familien nämlich genau das.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kollegin,
würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass es sachlich falsch
ist, wenn Sie - wie wiederholt getan - der SPD-Fraktion
unterstellen, dass sie Familien unterschiedlich behandeln
will und dass sie vorschreibt, wo ein Kind besser betreut
wird, und dass dies eine bösartige Unterstellung in Bezug auf unsere Position ist?
Ich stelle fest, dass es eine bösartige Unterstellung in
Bezug auf unsere Position ist, zu behaupten, die CDU/
CSU-Fraktion wolle junge Familien vom Arbeitsmarkt
fernhalten.
({0})
Diese bösartige Unterstellung wiederholen Sie regelmäßig. Sie vermitteln den Eindruck, dass nur die Person
eine gute Mutter oder ein guter Vater ist, die Betreuungseinrichtungen in Anspruch nimmt.
({1})
Wer das nicht tut, ist ein Heimchen am Herd und nimmt
die „Fernhalteprämie“ in Anspruch. Das ist nicht das,
was junge Familien heute wollen.
({2})
Gestatten Sie noch eine weitere Nachfrage, liebe Kollegin?
Ich würde gerne zum Thema Entgeltgleichheit zurückkommen, weil ich glaube, dass wir über das andere
Thema in den nächsten Wochen noch ausgiebig diskutieren werden. Wir reden heute über Entgeltgleichheit, und
ich glaube, auch an diesem Punkt gibt es vieles zu tun.
Ein maßgeblicher Punkt ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, über die wir gerade diskutieren.
({0})
Auch hier gibt es viele Initiativen der Bundesregierung,
etwa die Initiative familienbewusste Arbeitszeiten, das
„audit berufundfamilie“, die Familienpflegezeit.
({1})
All das führt dazu, dass die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie möglich ist.
Jetzt sind aber die Politiker nicht die Einzigen, die
Verantwortung tragen.
({2})
Wie es in Ihrem Gesetzentwurf richtig anklingt, haben
auch die Tarifparteien und die Unternehmen eine Verantwortung; denn die Lohnlücke von 23 Prozent setzt sich
eben aus vielen kleinen Lohnlücken zusammen, aus ein
bisschen Entgeltungleichheit in vielen Betrieben. Deshalb gilt es, Unternehmen für das Thema Entgeltungleichheit zu sensibilisieren. Das Bundesfamilienministerium hat das aus der Schweiz kommende Tool Logib-D
weiterentwickelt und bietet es den Unternehmen an.
Hiermit kann man erkennen, wo im Betrieb Entgelt21888
Nadine Schön ({3})
unterschiede bestehen, und diese Probleme gemeinsam
angehen.
Die SPD greift dieses Thema in ihrem Gesetzentwurf
auf - was ich grundsätzlich begrüße -, dass sich viele
Unternehmen mit diesem Thema beschäftigen. Was Sie
aber vorschreiben wollen, ist, dass jedes einzelne Unternehmen mit mehr als 15 Mitarbeitern ein Lohnfeststellungsverfahren durchführt.
({4})
Das sind über 300 000 Unternehmen in Deutschland. All
diese 300 000 Unternehmen sollen ein Lohnfeststellungsverfahren durchführen und dann das Ergebnis der
Antidiskriminierungsstelle melden. 300 000 Berichte an
die Antidiskriminierungsstelle - ich frage mich, ehrlich
gesagt, was das bringen soll.
({5})
Mit 300 000 Datensätzen wird die Antidiskriminierungsstelle schlecht arbeiten können. Deshalb bin ich sehr
skeptisch, ob dies der geeignete Weg ist.
Ich erkenne an, dass Sie von dem Willen getragen
sind, dafür zu sorgen, dass sich mehr Unternehmen mit
diesem Thema beschäftigen. Ich erkenne auch an, dass
Sie die Tarifpartner in die Pflicht nehmen wollen.
({6})
Ich finde allerdings, man muss früher ansetzen. Die
Tarifpartner haben nämlich schon bei den Verhandlungen über Gehälter bzw. über Tarifverträge die Verantwortung, sich zu fragen: Was ist eine angemessene
Bezahlung für eine gewisse Qualifikation? Wie bewerten wir frauenspezifische Tätigkeiten? Legen wir hier
überhaupt gute und vergleichbare Kriterien an? Diese
Verantwortung haben die Tarifparteien schon bei den
Verhandlungen über Tarifverträge und Löhne.
({7})
An diesem Punkt haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer
wirklich eine Verantwortung, der sie gerecht werden
müssen.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss;
denn ich finde, das Thema Entgeltgleichheit in Deutschland ist für unser Land ein wirklich wichtiges Thema.
({8})
Ich erkenne in diesem Gesetzentwurf Ihren guten Willen
an. Aber zustimmungsfähig ist er aus den genannten
Gründen nicht. Sie sind etwas über das Ziel hinausgeschossen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam zu konstruktiven, besseren Lösungen kommen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun Cornelia Möhring für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch aus Sicht der Linken ist es natürlich unbedingt erforderlich, dass wir endlich gesetzliche Regelungen treffen, um die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern zu beseitigen. Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD, mit Ihrem Gesetzentwurf machen Sie
zwar durchaus einen Schritt in die richtige Richtung,
aber er ist, wie ich finde, nicht ausreichend.
({0})
Sie können mit Ihrem Vorschlag zwar Ungleichheiten in
den Betrieben aufzeigen, aber konsequent beseitigen
können Sie damit die Ungleichheit nicht.
Problematisch finde ich, dass Sie damit die Forderung
nach einem Verbandsklagerecht, zum Beispiel für die
Antidiskriminierungsstelle, faktisch aufgeben. Betroffene müssen auch nach Ihrem Vorschlag weiterhin in
mühseligen Einzelklagen gegen Diskriminierungen dieser Art vorgehen. Das dauert viele Jahre, verschlingt viel
Geld der Betroffenen und ist kein wirksamer Ersatz für
die Möglichkeit, als Verband im Rahmen eines Bußgeldverfahrens - was Sie vorhaben - zu klagen. Es wäre aber
bitter nötig, hier wirkliche Schritte konsequent zu gehen.
Wir haben hier schon gehört: Frauen erhalten auch im
Jahre 2012 durchschnittlich immer noch ein Viertel
weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen, obwohl sie
exakt das Gleiche tun, die gleiche Ausbildung und den
gleichen Verantwortungsbereich haben. Das ist ungeheuerlich und gehört genau wie die ungleiche Bezahlung
gleichwertiger Tätigkeiten endlich auf den Müllhaufen
der Geschichte.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen
an dieser Stelle Lilly Ledbetter vorstellen bzw. diejenigen, die sie kennen, an sie erinnern. Auf ihre Geschichte
geht der Equal Pay Day zurück, mit dem seit 2008 auf
die ungleiche Bezahlung aufmerksam gemacht wird. Wir
wissen, dass auch in diesem Jahr Frauen 84 Tage länger
arbeiten müssen, bis sie auf den gleichen Lohn wie die
Männer kommen.
Lilly Ledbetter war Angestellte einer Reifenfirma in
den USA und stellte kurz vor ihrer Pensionierung fest,
dass sie während der 19 Arbeitsjahre für dieselbe Arbeit
rund 200 000 Dollar weniger Gehalt bekommen hat. Sie
zog mit ihrer Klage bis zum obersten Gericht. Präsident
Obama unterzeichnete wenige Tage nach seinem Amtsantritt ein Gesetz, den Lilly Ledbetter Fair Pay Act, mit
dem Entgeltdiskriminierung aufgrund von Geschlecht,
Herkunft und Hautfarbe unterbunden werden soll. Das
brauchen wir auch,
({2})
und zwar ohne Schlupflöcher und zusätzlich mit dem
Recht auf einen Diskriminierungsausgleich versehen.
Denn auf ähnliche Differenzen kommen wir auch hierzulande.
Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen, wie viel
weniger eine Frau über 35 bis 40 Berufsjahre mit gleicher Ausbildung und bei gleicher Arbeit bekommt als
ein Mann. Eine Großhandelskauffrau erhält circa
564 Euro weniger Monatsgehalt. In 40 Jahren kommen
wir auf eine Summe von knapp 271 000 Euro. Bei einer
Köchin beträgt die monatliche Differenz 210 Euro. Das
sind nach 40 Jahren immerhin stattliche 100 000 Euro.
Einer Ärztin entgehen in 35 Jahren 441 000 Euro, nur
weil sie eine Frau ist. Wenn wir gleichwertige Arbeiten
vergleichen, nämlich die einer Erzieherin und die eines
Maschinenschlossers, muss die Kollegin, die sich um
unser aller Nachwuchs kümmert, für 231 000 Euro weniger Gehalt arbeiten als der Mann.
100 000, 231 000, 270 000, 440 000 Euro: Ich meine,
das sind schon stattliche Summen. Dabei sind die entgangene Altersvorsorge und die geringere Lebensqualität noch nicht einmal mit eingerechnet.
Das ist schlicht Lohnraub.
({3})
Liebe Frauen im ganzen Land, wenn wir überlegen, was
uns durch diesen Lohnraub entgangen ist und noch entgeht, muss ich sagen: Es ist viel zu viel, um nett „Bitte,
bitte macht das nicht wieder!“ zu sagen.
({4})
Für Raub müssen Räuber eigentlich lange in den
Knast, für Diebstahl und Betrug übrigens auch. Wir
könnten doch in diesem Falle von so einer schweren
Strafe absehen und den vorenthaltenen Lohn in ein zinsloses Darlehen verwandeln. Wenn Frauen in Rente
gehen, gibt es die Rückzahlung cash oder auf die schwäbische Art: als Häuschen.
Bis wir das erkämpft haben, streiten wir auch weiterhin für ein Gesetz, das Entgeltungleichheit gar nicht erst
entstehen lässt. Damit es eine echte Durchsetzungschance gibt und nicht die Einzelnen den mühseligen Klageweg beschreiten müssen, brauchen wir zusätzlich das
Recht der Verbände, zu klagen. Dem Antrag der Linken
dazu dürfen Sie dann im Oktober gerne zustimmen,
wenn Sie es ernst meinen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Grundgesetz bestimmt in Art. 3 Abs. 2 und 3, dass niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden
darf. Trotzdem wissen Sie und ich, dass Frauen in
Deutschland außerhalb des öffentlichen Dienstes im
Durchschnitt 23 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen. Das wollen wir nicht nur ändern; das müssen wir
ändern.
({0})
- Wartet mal ab!
Dass die SPD-Fraktion zu ihrer Allzweckwaffe greift
und sagt: „Ein Gesetz muss her“, ist nichts Neues.
({1})
Zudem ist der Gesetzentwurf widersprüchlich. In der
Begründung heißt es, der Staat als Handelnder solle sich
so weit wie möglich zurückhalten. So weit, so gut: Diesen Satz können wir Liberalen mittragen. Dagegen heißt
es aber schon im nächsten Absatz der Begründung wörtlich:
Die Verpflichtung zur Untersuchung betrieblicher
Entgeltsysteme kann allerdings nicht ohne staatliche Einwirkung durchgesetzt werden.
Denn die SPD-Fraktion glaubt, ohne Gesetz funktioniert
in unserem Lande nichts. Das ist der elementare Unterschied zwischen uns und Ihnen.
({2})
Gerade die Tarifautonomie ist ein wichtiger Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft und ein Grund, warum
unser Land wirtschaftlich erfolgreich ist. Ein Gesetz, das
die Tarifhoheit der Tarifpartner untergräbt, kommt für
die FDP-Fraktion nicht infrage.
({3})
Außerdem käme auf die Unternehmen ein neues
Bürokratiemonster zu. Das steht im krassen Gegensatz
zu den Bemühungen der christlich-liberalen Koalition
um den Bürokratieabbau. Anstatt die Tarifautonomie
auszuhebeln, sollte die SPD-Fraktion mit den Gewerkschaften reden.
({4})
Typische Frauenberufe werden trotz individueller Lohnverhandlungen ja bekanntlich häufig schlechter bewertet
und vergütet als klassische Männerberufe. Hier können
die Gewerkschaften gegensteuern.
Wir haben schon in den vorausgegangenen Debatten
festgestellt: Um Entgeltgleichheit herzustellen, müssen
wir die Ursachen für die Unterschiede aufdecken und
entsprechend handeln. Wir sind dabei, dies zu ändern;
das wissen Sie. Stichwort Logib-D: Hinter diesem sperrigen Begriff steckt ein sehr wichtiges Instrument. Es
geht um Transparenz. Offenlegung der Gehälter ist der
beste Weg zu fairen Gehaltsstrukturen.
({5})
Ich bin sicher: Wenn klar ist, in welchen Bereichen und
auf welcher Ebene Differenzen bei den Gehältern bestehen, schafft dies nicht nur für das Unternehmen Klarheit.
({6})
Unter Bewerbern wird sich schnell herumsprechen, welches Unternehmen Männer besser bezahlt als Frauen.
Um die Lohnlücke zu schließen, müssen wir drei
Ursachen im Blick behalten. Erstens. Frauen sind in
Berufszweigen, in denen es nur wenige Aufstiegsmöglichkeiten gibt, überrepräsentiert.
Zweitens. Frauen entscheiden sich häufig für Berufe
im unteren Einkommensniveau. Eine Diplompädagogin
verdient heute durchschnittlich 2 500 Euro, während ein
Absolvent eines Studiengangs für Umwelttechnik schon
beim Einstiegsgehalt mit 1 000 Euro darüber liegt. Die
Berufswahl ist noch immer eines der entscheidenden
Kriterien für die Gehaltsentwicklung.
Die dritte Ursache ist hinlänglich bekannt. Je länger
die Familienphase, in der die Frau aus dem Beruf aussteigt, desto schwieriger wird auch der Wiedereinstieg.
Junge Frauen müssen sich die Konsequenzen klarmachen; darauf müssen wir hinwirken. Die Lohnlücke, die
während der Familienphase entsteht, wird häufig nicht
mehr geschlossen; darauf wurde schon mehrmals hingewiesen. Abgesehen davon bedeutet weniger Gehalt automatisch weniger Rente. Nach Berechnungen des DIW
klafft die Einkommensschere in höheren Positionen am
meisten auseinander. Das ist ein Skandal. Hier sind die
Unternehmen und auch die Frauen in der Pflicht.
Am Dienstag veröffentlichte das Forsa-Institut das
Ergebnis einer Umfrage, das die Situation widerspiegelt.
„Der Frauenanteil bei Weiterbildungen ist hoch“, ist das
Ergebnis. Schön! Aber die Männer ziehen aus ihrem
Weiterbildungsengagement einen größeren Nutzen.
Während über die Hälfte von ihnen aufgrund ihrer Fortbildung mehr Verantwortung oder eine Beförderung erhalten hat, sind es bei den Frauen deutlich weniger. Der
Auftraggeber der Studie, die Fernschule ILS, kommt zu
dem Schluss - ich zitiere -:
Daher sollten insbesondere Frauen Initiative zeigen
und ihr persönliches Engagement stärker in den
Vordergrund stellen …
Dass Frauen selbstbewusster ihre Rechte einfordern
und ihre Karriere verfolgen, ist nicht das einzige Ziel,
das wir gemeinsam verfolgen müssen, wohl aber ein
wichtiges. Die Politik der Liberalen folgt dem Grundsatz: Frauen und Männer arbeiten auf Augenhöhe.
Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit muss deshalb selbstverständlich sein. Politik, Unternehmen und Frauen
müssen gemeinsam an einem Strang ziehen.
({7})
Ein weiteres Gesetz ist aus Sicht der FDP-Fraktion nicht
der richtige Weg; da sind wir wieder einmal anderer
Meinung als Sie. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf der SPD nicht zustimmen.
Danke schön.
({8})
Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen
hat nun das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen und Fakten sind bekannt.
Wir müssen nicht mehr beweisen, dass Frauen weniger
verdienen als Männer. Auch die Ursachenforschung liegt
bereits hinter uns. Wir wissen: Es geht hier um Entgeltdiskriminierung. Das ist auch kein neues Phänomen. Seit
Jahren diskutieren wir über die Ungerechtigkeit der mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierung von Frauen
auf dem Arbeitsmarkt. Wir Grüne haben Lösungen und
Konzepte entwickelt sowie einen entsprechenden Antrag
eingebracht. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf der SPD vor,
den wir sehr begrüßen. Trotzdem müssen wir in den
Debatten hier im Bundestag immer und immer wieder
bei Adam und Eva beginnen. Die Beharrlichkeit, das
Thema auszusitzen, nervt einfach und wird diesem
Thema wahrlich nicht gerecht.
({0})
An die Regierungsfraktionen gerichtet kann ich nur
sagen: Wenn Sie weiterhin meinen, dass der Verweis auf
mehr Kinderbetreuung und auf die Tarifautonomie ausreicht, Frau Schön, oder wenn Ministerin Schröder vorschlägt, Frauen sollten einfach mehr technische Berufe
erlernen, damit sie mehr verdienen, haben Sie das Problem in seiner Reichweite einfach nicht verstanden.
({1})
Es geht nicht allein darum, dass Arbeit gleich bezahlt
wird, sondern auch darum, gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit durchzusetzen. Es geht darum, die Kriterien,
nach denen Arbeit bewertet wird, geschlechtsneutral
auszugestalten. Anders ausgedrückt: Es geht um den gesellschaftlichen Wert von Arbeit von Frauen, also auch
um Wertschätzung.
Realität in Deutschland ist aber: Die schlecht bezahlten Berufe sind noch immer Frauensache. So werden
beispielsweise in den typischen Frauenberufen im sozialen Bereich die dort unentbehrlichen Fähigkeiten wie
soziale Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Teamgeist ganz selbstverständlich
erwartet. Die Anforderungen sind hoch, und die Frauen
tragen viel Verantwortung für Menschen. Dennoch wird
ihre Arbeit nicht ausreichend wertgeschätzt. Das ist
nicht fair und schon gar nicht gerecht.
({2})
Aber die Entgeltdiskriminierung ist nicht allein ein
Nischenproblem der klassischen Frauenberufe; sie zieht
sich vielmehr quer durch alle Beschäftigungsfelder. Wieder an die Adresse der Ministerin Schröder: Natürlich
verdient eine studierte Bauingenieurin mehr als eine
Altenpflegerin, aber - und hier liegt das Problem - sie
verdient dennoch weniger als ihr männlicher Kollege.
Das soll die Ministerin erst einmal den vielen gut ausgebildeten und motivierten jungen Frauen erklären. „Augen zu und durch“ ist einfach zu wenig.
({3})
Um den Dornröschenschlaf, in dem Sie sich offenbar
befinden, noch ein wenig mehr zu stören, hier ein paar
Zahlen: In Baukonstruktionsberufen verdienen Frauen
rund 30 Prozent weniger als Männer, Physikerinnen
erhalten 24 Prozent weniger und Grafikerinnen in der
Regel 33 Prozent. Die Lohnlücke in der Gebäudereinigung liegt bei 26 Prozent und selbst für Callcenter ist
eine weibliche Beratung 22 Prozent günstiger. Zudem
bekommen Frauen weniger Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und Gewinnbeteiligung, und sie werden seltener befördert als Männer. Diese traurige Realität gilt es endlich
zu ändern.
({4})
Wem diese Aufzählung immer noch nicht reicht, für
den habe ich noch folgende Zahlen: Frauen mit Hochschuldiplom verdienen durchschnittlich 3 534 Euro,
Männer hingegen 4 590 Euro. Das ist eine unvorstellbare Differenz von satten 1 056 Euro. Je älter die Akademikerin ist, desto größer ist der Gehaltsunterschied. Sollten diese Zahlen den Regierungsfraktionen bislang nicht
geläufig sein, so kann ich diese zur Horizonterweiterung
gerne zur Verfügung stellen.
({5})
Mittlerweile müsste also klar sein, dass freiwillige
Regelungen zu nichts geführt haben. Die Strategie ist gescheitert;
({6})
denn die alten Strukturen sind beharrlich. Notwendig ist
eine faire Bewertung von Arbeitsanforderungen und Tätigkeiten, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei
um typische Frauen- oder Männerberufe handelt. Wir
brauchen endlich gesetzliche Regelungen.
({7})
Ein Gesetzentwurf und ein Antrag liegen jetzt vor. Ich
freue mich auf die weiteren Beratungen in den Ausschüssen und auf die Anhörung. Natürlich werde ich
auch einige Fragen an die SPD haben: Wie soll beispielsweise die kursorische Prüfung aussehen? Können
damit wirklich ausreichend Verdachtsmomente aufgedeckt werden? Warum sollen die Prüfungen der Tarifverträge nicht mehr im Mittelpunkt stehen? Sind die sogenannten sachverständigen Personen wirklich überall
notwendig? Kurzum: Wir werden eine interessante
Diskussion haben. Ganz wichtig: Wir werden endlich inhaltlich über Konzepte diskutieren können.
({8})
Mit Blick auf die Regierungsfraktionen möchte ich
diese Diskussion heute mit einem Satz Goethes beschließen. Ich zitiere:
Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss
auch tun.
Liefern Sie also nicht nur Lippenbekenntnisse! Beschäftigen Sie sich endlich ernsthaft mit der Entgeltdiskriminierung und vor allem mit Lösungen! Vorschläge,
wie das gehen kann, liegen ja auf dem Tisch. Damit die
Arbeit von Frauen nicht länger zum Schnäppchenpreis
zu haben ist. Es muss Schluss sein mit dem Dauerrabatt
von 23 Prozent.
Vielen Dank.
({9})
Nun ist Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion
an der Reihe.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Müller-Gemmeke hat Goethe zitiert. Dem will ich
nicht nachstehen.
({0})
Es gibt ein sehr schönes Zitat von Goethe, das für Ihre
Rede genauso zutrifft wie vermutlich für den Gesetzentwurf. Es lautet:
Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.
({1})
Meine Damen und Herren, ich bin kein Jurist.
({2})
Aber wenn ich so einen Gesetzentwurf zu beurteilen
habe, schaue ich mir zunächst das Recht, die Gesetze,
an, um eine gewisse Grundorientierung zu bekommen.
Dann stößt man natürlich - die Kollegin Bracht-Bendt
hat das schon erwähnt - auf Art. 3 des Grundgesetzes.
({3})
Weiterhin stößt man auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, in dem es ganz deutlich heißt: Benachteiligungen sind unzulässig, auch mit Bezug auf das Arbeitsentgelt.
({4})
Hinzu kommen eine Reihe von europäischen Regelungen, die deutlich sagen: Bei gleicher Arbeit ist gleiches
Entgelt für Männer und Frauen eine Selbstverständlichkeit.
({5})
Die Rechtslage ist zunächst einmal eindeutig. Verehrte Frau Ferner, das hat die rot-grüne Bundesregierung
im Jahre 2002 offensichtlich auch so gesehen. Sie zitieren den Bericht zur Berufs- und Einkommenssituation
aus dem Jahr 2002. Sie malen die tarifliche Entgeltdiskriminierung dort in relativ drastischen Farben.
Ich habe mir diesen Bericht angeschaut und mich
gefragt: Was hat denn die rot-grüne Bundesregierung damals gemacht?
({6})
Hat sie mutig Initiativen ergriffen? Hat sie Gesetzgebungsverfahren eingeleitet? Nein, das hat sie nicht gemacht.
({7})
Die rot-grüne Bundesregierung hat gesagt: Wir machen
mal eine Konferenz darüber und schauen dann weiter.
({8})
Dann habe ich mich gefragt: Woher kommt denn das?
Das kommt nicht zuletzt daher, Frau Ferner, dass im Bericht steht - ich zitiere jetzt -:
Nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen Rechtslage
sind unmittelbare Lohndiskriminierungen heute so
gut wie nicht mehr festzustellen.
({9})
Meine Damen und Herren, natürlich gibt es ein geschlechtsspezifisches Lohngefälle; das ist doch ganz
klar. Frauen sind in besser bezahlten Positionen unterrepräsentiert und überrepräsentiert in Berufen, in denen
weniger bezahlt wird. Sie unterbrechen aufgrund familiärer Verpflichtungen ihre Berufstätigkeit häufiger und
arbeiten öfters in geringfügiger Teilzeit mit langfristig
negativen Folgen für die Einkommensentwicklung.
({10})
Rund zwei Drittel der geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede, also der Großteil, gehen auf diese strukturell
unterschiedlichen arbeitsplatzrelevanten Merkmale von
Männern und Frauen zurück.
({11})
Ein Drittel der Lohnlücke lässt sich nicht auf diese
sozialstrukturellen Ursachen zurückführen. Hier ist von
geschlechtsspezifischer Entgeltdiskriminierung auszugehen. Auf dieses Drittel fokussiert im Grunde genommen
der Gesetzentwurf der SPD.
Was wollen Sie? Vereinfacht: mehr Staat.
({12})
Da ist die Rede von Antidiskriminierungsverbänden und
von der Antidiskriminierungsstelle, die sowohl Antidiskriminierungsverfahren als auch sachverständige Personen nach etwas unklaren und wenig eindeutigen Kategorien zertifizieren soll. An dieser Stelle fühle ich förmlich
schon bei den Arbeitgebern eine gewisse Unruhe, was
die Folgekosten und bürokratischen Auflagen angeht.
({13})
Aber auch die Gewerkschaften bekommen etwas ab:
Tarifverträge sollen einer Überprüfung unterzogen werden können - beinahe mit einem Generalverdacht gegen
die Sozialpartner.
({14})
Dabei sind die Tarifvertragsparteien zu diskriminierungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohnfindungsverfahren verpflichtet. - Glauben Sie ernsthaft, dass es in
Deutschland eine einzige Gewerkschaft gibt, die eine
Diskriminierung beim Entgelt in ihren Tarifverträgen zulässt? Ich glaube das nicht. Als überzeugter Gewerkschafter kann ich nur sagen: Wir brauchen keinen Staatskommissar für Tarifverträge.
({15})
Das alles soll dann auch kaum Folgekosten verursachen. Für die Betriebe ab 15 Personen könnten - das
schreiben Sie verschämt in Ihrem Gesetzentwurf - Kosten nicht beziffert werden. Die Bürokratiekosten setzen
Sie mit 2 Millionen Euro an, was grotesk niedrig ist. Die
Kosten für die Sachverständigen werden komplett unterschlagen.
Dann wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die betrieblichen Interessenvertretungen gesetzlich verpflichten, sich um die Herstellung von Entgeltgleichheit zu
kümmern. Ein Blick ins Gesetz hilft ja bisweilen bei der
Klärung der Rechtslage; denn genau diese Verpflichtung
ist bereits im Betriebsverfassungsgesetz festgeschrieben:
Der Betriebsrat hat die Einhaltung des Diskriminierungsverbotes zu überwachen und sich aktiv für eine
tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern
einzusetzen.
An dieser Stelle bringt es also nichts, wenn Sie mit Ihrem Gesetzentwurf alten Wein in neue Schläuche fließen
lassen. Es wird vielmehr ein ganz anderes Problem deutlich: Immer weniger Beschäftigte in unserem Land werden von einem Betriebsrat vertreten. In der Privatwirtschaft waren dies im Jahr 2009 nur noch 44 Prozent der
Beschäftigten. Dabei wurde in mehreren Studien nachgewiesen, dass in Betrieben mit Betriebsrat die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern über
das gesamte Einkommensspektrum hinweg geringer sind
als in Betrieben ohne Betriebsrat. Daher mein Petitum:
Lassen Sie uns die betriebliche Mitbestimmung weiter
befördern!
({16})
Lassen Sie uns vor allem dort aufklären, wo Belegschaften aus Angst vor Repressalien keinen Betriebsrat gründen!
Ihr Gesetzentwurf dagegen führt für die Betriebe und
für die öffentliche Hand zu mehr Verwaltung und Kosten
und gefährdet Arbeitsplätze. Das ist angesichts der Bedeutung des Themas bedauerlich. Der Gesetzentwurf
enthält auch eine Überlegung, die ich sinnvoll finde,
nämlich die Stärkung der Individualrechte.
({17})
Wichtig ist gerade ein Recht auf Auskunft darüber, welche Kriterien für die Bemessung des Entgelts bzw. die
Entgeltfindung herangezogen worden sind. Eine solche
Transparenz erhöht den Druck zur Schaffung von mehr
Gerechtigkeit beim Arbeitsentgelt für Männer und
Frauen beinahe natürlich. Ich denke aber auch, dass dies
in Betriebsvereinbarungen durchaus festgeschrieben
werden kann. Dazu bedarf es keiner gesetzlichen Regelung.
Meine Damen und Herren, die gesetzlichen Regelungen sind weitgehend vorhanden. In der Bildung dient die
Wiederholung der Stofffestigung, in der Gesetzgebung
nicht. Wir brauchen kein neues Gesetz, das mehr Bürokratie hervorbringt. Wir müssen die bestehenden Regelungen besser umsetzen.
({18})
Deswegen brauchen wir auch diesen Gesetzentwurf der
SPD nicht, der zwar die Denkungsart der SPD trefflich
illustriert, zur Problemlösung aber kein wirklich konstruktiver Beitrag ist.
({19})
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon seltsam: Immer wenn es darum geht, die grundgesetzlich verankerten Rechte von Frauen Realität werden zu lassen, ist das Geschrei auf der rechten Seite des
Hauses wirklich groß. Eingriff in die unternehmerische
Freiheit, zu viel Bürokratie - das hören wir immer an
dieser Stelle. Aber was ist das denn für ein Freiheitsverständnis, insbesondere liebe Kollegen von der FDP? Unternehmerische Freiheit bedeutet doch nicht, dass es dem
Unternehmer überlassen ist, Frauen schlechter zu bezahlen als Männer, wenn sie dieselbe oder eine gleichwertige Arbeit machen.
({0})
Wir leben hier in einem Rechtsstaat und nicht in einer
Bananenrepublik. Weil wir in einem Rechtsstaat leben,
haben wir als Gesetzgeber die Pflicht, das Gleichheitsgebot und das Diskriminierungsverbot, beide verankert in
Art. 3 Grundgesetz, durchzusetzen. Es reicht eben nicht
aus, liebe Frau Schön, am Equal Pay Day zu beklagen,
dass der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen
bei uns 23 Prozent beträgt. Wir müssen am Tag danach
auch etwas dagegen tun, zuallererst Frau Schröder und
Frau von der Leyen. Aber auch da kommt leider im Moment überhaupt nichts.
Frau Schröder macht das Angebot, das völlig untaugliche Logib-D-Verfahren gerade einmal 200 Unternehmen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Das reicht bei
weitem nicht aus. Wie ich höre, rennen die Unternehmen
Frau Schröder auch nicht gerade die Tür ein, um in den
Genuss dieses Verfahrens zu kommen. Es lohnt sich
nämlich für die Unternehmen, Frauen schlechter zu bezahlen als Männer. Solange Unternehmen mit Lohndiskriminierung Geld verdienen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, werden sie auch nicht von selber damit aufhören.
({1})
Eine der ersten Forderungen der Frauenbewegung
Ende des vorletzten Jahrhunderts war „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“.
({2})
Es ist ein Armutszeugnis, dass wir weit über 100 Jahre
später immer noch so gewaltige Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern haben. Nach Estland und der
Slowakei liegen wir in der EU an drittletzter Stelle.
({3})
Ich finde, dass man die Frauen in unserem Land mit
dieser Ungerechtigkeit nicht alleinlassen darf. Wir wollen ihnen helfen, zu ihrem Recht zu kommen. Wer eine
gesetzliche Regelung wie die, die wir hier vorschlagen,
ablehnt, muss auch sagen, wie er oder sie die Entgeltgleichheit auf anderem Weg durchsetzen will.
({4})
Das habe ich von Ihnen bisher aber nicht gehört - weder
von einem Mitglied der Regierungsfraktionen noch von
der Arbeitsministerin noch von der sogenannten Frauenministerin. Frau Merkel empfiehlt den Frauen schon einmal, einfach besser zu verhandeln, wenn es um ihr Geld
geht. Ich kann dazu nur sagen: Was für ein Zynismus!
Solange Frauen ihr gutes Recht vor Gericht gegenüber ihrem Arbeitgeber einklagen müssen, wird sich
nichts ändern. Eine Frau, die ihren Job behalten will,
wird auch wohl kaum gegen ihren Arbeitgeber vor Gericht ziehen. Deshalb ist das Erste, was geleistet werden
muss, Transparenz in die Lohn- und Gehaltsstrukturen in
den Betrieben zu bringen. In Österreich gibt es dazu bereits ein Gesetz. Das EU-Parlament hat am 24. Mai in einer Entgeltinitiative mehr Transparenz und vor allen
Dingen auch die Möglichkeit von Sammelklagen gefordert. Nur die Bundesregierung und CDU/CSU und FDP
weigern sich bisher, die Lohndiskriminierung von
Frauen zu beseitigen. Sie werden nächstes Jahr mit Sicherheit bitter zu spüren bekommen, dass das so nicht
geht.
({5})
Die Lohndiskriminierung - das haben wir eben gehört steigt mit dem Lebensalter. Trotz des Diskriminierungsverbots werden viele Teilzeitbeschäftigte und insbesondere Minijobberinnen schlechter bezahlt als Vollzeitkräfte. Die Lohndiskriminierung findet auch bei
akademischen Berufen statt, genauso wie bei Fachkräften oder bei ungelernten Kräften. Manchmal ist sie auch
in Tarifverträgen angelegt, wie man aus dem Tarifvertragsregister ersehen kann.
Eines ist klar: Das regelt sich nicht von alleine. Wir
legen diesen Gesetzentwurf heute vor, damit wir mehr
Transparenz bekommen. Vor allen Dingen legen wir diesen Gesetzentwurf vor, damit sich etwas ändert.
({6})
Wir sagen ganz klar: Es muss geprüft werden. Wie soll
man Entgeltdiskriminierung denn anders feststellen, als
dass man einmal schaut, wie die Gehaltsstrukturen sind?
Wir geben Regelungen vor, die zunächst einmal auf innerbetriebliche Maßnahmen setzen. Wir vertrauen da
auch sehr auf die Betriebsräte und die Gewerkschaften.
Natürlich bleibt dabei am Ende auch das Individualrecht
erhalten, Frau Kollegin.
Frauen können es sich nicht mehr leisten, während ihres Erwerbslebens mehrere Hunderttausend Euro - das
wurde angesprochen - liegen zu lassen. Wir können es
uns nicht mehr leisten, so viel Geld liegen zu lassen und
im Alter eine schlechtere Rente zu haben, im Fall der
Arbeitslosigkeit weniger Lohnersatzleistungen zu bekommen oder eine Grundsicherung beziehen zu müssen,
obwohl wir unser Leben lang genauso hart gearbeitet haben wie die männlichen Kollegen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, nehmen Sie sich dieses Themas endlich an. Hören Sie endlich auf, auf Analysen zu verweisen, die wir alle kennen,
und nichts zu tun. Wir müssen das Problem angehen.
Weit über 100 Jahre nach der erstmaligen Erhebung dieser Forderung ist jetzt die Zeit gekommen, etwas zu verändern, damit Frauen endlich denselben Lohn für dieselbe Arbeit bekommen wie Männer.
({8})
Das Wort hat nun Jörg von Polheim für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, wie so oft bei Ihnen gilt auch hier: Gut gemeint ist
das Gegenteil von gut gemacht.
({0})
Sie wollen - das ist bekanntlich eine Ihrer besten
Übungen - mit Ihrem sogenannten Entgeltgleichheitsgesetz wieder eine neue Bürokratieebene einziehen. Damit,
glauben Sie, ist das Problem gelöst.
({1})
Als Familienunternehmer kann ich Ihnen aus der Praxis
berichten, dass der Mittelstand als Rückgrat unserer Gesellschaft in seiner Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden muss.
({2})
Ihre komplizierten und überflüssigen Regeln erreichen
das Gegenteil. Die unternehmerische Handlungsfreiheit
muss erhalten bleiben.
({3})
Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD zur Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebots widerspricht dem
Gedanken der unternehmerischen Freiheit grundlegend
und ist auch ordnungspolitisch völlig verfehlt.
({4})
Vertragsfreiheit und Tarifautonomie sind unabdingbare
Grundlagen einer funktionierenden Marktwirtschaft.
({5})
Typisch für Sie ist der Reflex, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in die Pflicht zu nehmen. Sie sprechen
von sogenannten sachverständigen Personen, denen eine
wesentliche Rolle bei der Behebung von Informationsdefiziten zukäme. Aber Sachverständige sollten in erster
Linie von den Tarifparteien kommen, auch von den Unternehmen. Damit sind wir wieder beim alten Hut der
SPD: Sie fordern eine staatliche Bevormundung der Tarifparteien.
({6})
Hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen auf die
Haushalte machen Sie sich einen schlanken Fuß. Außerdem bemühen Sie sich noch nicht einmal, eine seriöse
Gegenfinanzierung vorzulegen. Der Etat der Antidiskriminierungsstelle soll einfach belastet werden.
({7})
- Wenn Ihnen sonst nichts mehr einfällt, dann fällt Ihnen
noch Mövenpick ein. Das ist typisch.
({8})
An dieser Stelle will ich noch einmal bekräftigen,
dass wir Liberale die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie als absolut schützenswert erachten. Wir sind bewusst gegen einen gesetzlichen Eingriff. Wir treten für
Chancengleichheit und transparente Gehaltsstrukturen
von Männern und Frauen ein,
({9})
für welche vor allem die Qualifikation entscheidend ist.
({10})
Es mangelt auch nicht an einer Rechtsgrundlage zur
Entgeltgleichheit.
({11})
- Wer brüllt, hat nicht unbedingt recht; das wissen Sie. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz legt bereits
umfassend und eindeutig fest, dass für gleiche Arbeit
gleicher Lohn zu zahlen ist. Woran es mangelt, ist die
Umsetzung dieser gesetzlichen Regelung. Die wollen
wir allerdings ohne staatlichen Zwang erreichen.
Recht gibt uns auch die gestern in den Medien veröffentlichte Erhebung der Wirtschaftsberatungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers. Darin wird festgestellt,
dass der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der Dax-30Unternehmen seit Anfang 2011 um mehr als ein Drittel
gestiegen ist ({12})
und das alles ohne staatlich verordnete Frauenquote, nur
durch freiwillige Vereinbarung. Sie sehen, meine Damen
und Herren: Nicht alles muss Vater Staat regeln.
({13})
Der erste Gleichstellungsbericht hat das auch gezeigt.
Darin wird insbesondere auf die strukturellen Unterschiede im Lebensverlauf von Frauen und Männern hingewiesen. Zentraler Punkt, der Frauen im Wettbewerb
mit Männern in der Karriereplanung noch immer benachteiligt, ist die nicht ausreichende Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Frauen nehmen noch immer den
weitaus größeren Teil der Elternzeit.
({14})
Wer über Jahre nicht im Betrieb ist, verpasst Karrierechancen, die später im Lebensverlauf nicht wiederkommen und schließlich zu Entgeltungleichheit führen.
Unsere Antwort darauf ist nicht die Zwangsquote,
sondern der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten
({15})
und die Einrichtung familienfreundlicher Unternehmen.
({16})
So hat die Bundesregierung unter anderem dafür gesorgt, dass 4 Milliarden Euro in die U-3-Betreuung fließen. Modellprojekte wie die „Kommunale Familienzeitpolitik“ führen zu einer besseren Verzahnung der
regionalen Kinderbetreuungsangebote und damit letztlich zu einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung.
({17})
Ich wiederhole: Entgeltgleichheit ist kein rechtliches
Problem, sondern eines der Umsetzung der vorhandenen
Möglichkeiten. Der Staat kann nicht die Aufgaben der
Wirtschaft und der Gesellschaft übernehmen. Sie sorgen
mit Ihrer Vorlage nur dafür, dass der deutsche Amtsschimmel immer besser im Futter steht und immer lauter
wiehert. Wir Liberalen jedenfalls werden dazu nicht die
Hand reichen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat nun Yvonne Ploetz für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum verdient eigentlich eine Grafikdesignerin rund
ein Drittel weniger als ein Grafikdesigner? Warum verdient eigentlich eine Buchhalterin rund ein Viertel weniger als ein Buchhalter? Das sind nicht die Ausnahmen;
das ist die Regel. Arbeitnehmerinnen wird in Deutschland rund ein Viertel ihres Lohns vorenthalten, und das
ist einfach völlig inakzeptabel. Jeder und jede hat das
Recht auf eine faire Bezahlung.
({0})
Nirgendwo in Europa geht die Lohnschere derart weit
auseinander wie in Deutschland: nicht in Frankreich,
nicht in Griechenland, nicht in Bulgarien. Sie wird sich
auch nicht schließen lassen, wenn wir nicht endlich Unternehmen gesetzlich dazu verpflichten, gleiche Löhne
für gleiche Arbeit zu zahlen.
({1})
Das kann mit einem Entgeltgleichheitsgesetz passieren,
wie es von der SPD im Entwurf vorgelegt wurde. Unsere
Diskussionspunkte hat meine Kollegin schon genannt.
Ich möchte etwas weiter gehen, weil die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau nur die Spitze des
Eisbergs ist. Im Laufe eines Arbeitslebens kommen bei
Frauen sehr viele Diskriminierungen am Arbeitsmarkt
zusammen. Bekäme man nach dem gesamten Erwerbsleben, also für die Zeit vom Schulabschluss bis zur Rente,
einen Lohnzettel, dann stünde bei den Frauen unter dem
Strich im Vergleich zu den Männern nicht ein Minus von
23 Prozent, sondern ein Minus von 50 Prozent. Das liegt
an der unfairen Bezahlung. Das liegt daran, dass meist
immer noch Frauen die Erziehung von Kindern und die
Pflege der Eltern übernehmen. Das liegt daran, dass
Frauen viel zu oft in Minijobs ohne soziale Absicherung
arbeiten. Das liegt daran, dass Frauen mit Dumpinglöhnen abgespeist werden.
Vor zwei Tagen wurde bekannt, dass in Kitas immer
mehr Erzieherinnen als Leiharbeitnehmerinnen zu
1 000 Euro brutto beschäftigt werden.
({2})
Diese Frauen bringen eine unglaublich hohe Qualifikation mit. Sie tragen eine große Verantwortung bei der
Erziehung unserer Kinder. Sie müssen Vertrauen aufbauen. Diese Frauen kann man nicht beliebig ausleihen
und mit Hungerlöhnen unterhalb des Existenzminimums
abspeisen.
({3})
Das Mindeste, was ich von Ihnen als Regierende erwarte, ist ein Verbot der Leiharbeit in diesem sensiblen
Bereich.
Für die Frauen steigt übrigens auch das Risiko, im
Alter arm zu werden. Arbeitet eine Frau ein Leben lang
in einem 400-Euro-Job - das sind in Deutschland derzeit
5 Millionen Frauen -, dann hat sie einen Rentenanspruch
von 139,95 Euro monatlich. Es kann nicht Ihr Ernst sein,
dass Sie die 5 Millionen Frauen, die heute nicht wissen,
wie sie über die Runden kommen sollen, morgen sehenden Auges in die Altersarmut schicken wollen.
({4})
Mit welchem politischen Konzept wollen Sie diese
Frauen auffangen? Ich kann keines erkennen. Wir haben
eines: Wir wollen eine Mindestrente von 1 050 Euro und
gute Arbeit für jeden und jede.
({5})
Streiten Sie doch endlich mit uns gegen Hungerlöhne!
Jede Frau und jeder Mann muss für eine Stunde Erwerbstätigkeit mindestens 10 Euro erhalten. Diese Verrohung und diese Entsicherung am Arbeitsmarkt müssen
endlich ein Ende haben.
({6})
Nun kommt die Sommerzeit. Dies ist eigentlich die
Urlaubszeit. Haben Sie sich einmal auf der Straße umgehört, wie viele Menschen sich noch einen Urlaub leisten
können? Welche Familie mit Kindern, welche Frau, die
weniger Urlaubsgeld erhält als ein Mann, oder welche
Alleinerziehende mit zwei Kindern kann sich einen
Urlaub leisten? Es ist doch so: Die, die einen Urlaub am
dringendsten nötig haben, um endlich eine Woche der
Existenznot und der Armut zu entfliehen, können von
einem Urlaub nur träumen. Das ist wirklich eine
Schande.
({7})
Stellen Sie sich endlich auf die Seite von Alleinerziehenden! In Deutschland gibt es eine unglaubliche Armut
bei Kindern und Jugendlichen. Das hängt in vielen Fällen mit der Existenznot der Mütter zusammen. Um Kindern und Jugendlichen eine Perspektive für ihr Leben zu
bieten, müssen Sie die finanzielle Existenz ihrer Mütter
sichern. Sie müssen dafür sorgen, dass aus Überlebensstrategien, die wir häufig beobachten, endlich wieder
Strategien des Lebens werden.
({8})
Dabei ist das Thema „Vereinbarkeit von Familie und
Beruf“ immer aktuell. Nur wenn die Kinderbetreuung
wirklich stimmt, müssen die Frauen keine prekäre
Beschäftigung annehmen, um Familie und Beruf unter
einen Hut zu bekommen. In Deutschland werden aber
nur 20 Prozent der Kinder unter drei Jahren ganztags
betreut. In Dänemark sind es 64 Prozent. Dort geht die
Gleichung „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ auf.
Trotz dieser ernüchternden Zahlen veranstalten Sie ein
selbstherrliches Theater um das Betreuungsgeld. Ich
sage Ihnen: Unser Widerstand ist Ihnen sicher, wenn Sie
Milliarden verschwenden, statt Kitaplätze auszubauen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen Sie, was ich
denke? Wenn wir die Diätenerhöhung aller Abgeordneten im Bundestag einmal an die Erhöhung der Löhne von
Frauen in der Gesellschaft koppeln würden, dann hätten
wir bald die Entgeltgleichheit. Darauf wette ich.
({10})
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir uns Deutschland im europäischen Vergleich
anschauen, werden wir feststellen, dass wir in bestimmten Punkten weit zurückliegen: Wir liegen zurück bei der
Kinderbetreuung. Wir liegen zurück bei der Vollerwerbstätigkeit von Frauen. Wir liegen zurück bei
Frauen in Führungspositionen. - Nur in einem Punkt
sind wir Europameister: bei der Entgeltungleichheit von
Frauen und Männern.
({0})
Dass eine Frau im Schnitt ein Vierteljahr länger arbeiten
muss, um dasselbe Jahresgehalt wie ein Mann zu erhalten, ist ein politischer Skandal in diesem Land.
({1})
Die Zahlen sind genannt worden. Ich will sie nicht wiederholen.
Die Position der Familienministerin ist ein weiterer
Skandal.
({2})
Sie sagt: Die Frauen sind selber schuld. Entweder verhandeln sie nicht richtig oder arbeiten Teilzeit. Demzufolge sind sie die Urheber der Lohnungleichheit. - Das
ist die Antwort der Familienministerin. Sie kämpft jetzt
dafür, dass sie die Federführung bei diesem Thema bekommt; aber sie hält es ja noch nicht einmal für notwendig, an der Debatte teilzunehmen. Das ist die Wertschätzung, die sie diesem Thema zukommen lässt: Sie bezieht
noch nicht einmal Position dazu.
({3})
Schlimmer noch: Sie macht die Lohnungleichheit zu
einem Privatproblem der Frauen; demnach sind die
Frauen anscheinend selber schuld daran. Sie privatisiert
ein gesellschaftliches, ein politisches Problem. Deswegen wollen wir nicht, dass sie hier die Federführung
erhält; dann wäre wirklich Hopfen und Malz verloren.
({4})
Herr Kollege, ja, wir wollen die Aufwertung der typischen Frauenberufe. Wir wollen nicht, dass Frauen massenweise Männerberufe ergreifen, um auf ein gleiches
Entgelt zu kommen, sondern wir wollen die Aufwertung
der Frauenberufe, weil unsere Gesellschaft diese Berufe
braucht. Wir brauchen auch mehr Männer in diesen
Berufen.
({5})
Ich nenne Ihnen ein aktuelles Beispiel: den Erzieherinnenmangel. In Deutschland fehlt es uns nicht nur an
Betreuungsplätzen, sondern auch an Personal, auch an
männlichem Personal. Wenn wir es nicht schaffen, den
Beruf der Erzieherin qualitativ aufzuwerten und besser
zu entlohnen, dann werden Sie keinen einzigen Mann für
diesen Beruf gewinnen, und schon jetzt ist die Suche
nach qualifizierten Frauen extrem schwierig. Vermutlich
wird in Zukunft überhaupt keine Frau mehr diese Ausbildung machen. Wozu drei und mehr Jahre lernen, wenn
man dafür den schlechtesten Lohn erhält? Das ist der
Grund, warum wir Entgeltgleichheit in diesem Land
wollen. Wir benötigen diese Berufe, und dort wird überaus anspruchsvolle Arbeit geleistet. Darum müssen wir
sie aufwerten und besser anerkennen.
({6})
Es geht - das hat meine Kollegin Beate MüllerGemmeke bereits gesagt - um die Wertschätzung der
Arbeit, die die Frauen gerade in diesen Dienstleistungsberufen erbringen.
Wenn wir über Lohnungleichheit reden, dann beschränkt sich das nicht auf das aktuell bezogene Gehalt,
sondern es geht auch um die Konsequenzen. So führt die
Lohnlücke zu einer durchschnittlichen Rentenlücke von
59 Prozent. Das können Sie doch nicht ignorieren! Sie
ignorieren den Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Sie wollen noch nicht einmal darüber reden.
({7})
Warum? Weil Ihnen die Ergebnisse nicht passen. Heutige Lohnungleichheit führt zu späterer Altersarmut.
Auch diesem Problem müssen wir uns stellen, und zwar
heute und nicht erst in der Zukunft.
({8})
Was wollen wir Grüne? Wir wollen gleichen Lohn für
gleiche und gleichwertige Arbeit. Wir wollen die Quote
und ein Gleichstellungsgesetz; denn flexibel waren wir
in diesem Land schon lange genug. Jetzt wollen wir kon21898
krete Taten und verbindliche Regelungen sehen. Dafür
stehen die Grünen ein.
({9})
Ich will noch ein letztes Argument bringen. Wir reden
über Wertschätzung, über Anerkennung der Arbeit, über
die Anerkennung der Erziehungsleistungen von Eltern,
die ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte bringen.
Wer in diesem Land redet aber über die Anerkennung
und Wertschätzung der Arbeit von Müttern, die arbeiten,
um ihre Existenz zu sichern, und gleichzeitig Kinder
erziehen?
({10})
Wer redet über die Anerkennung der Arbeitnehmerinnen, die das Ganze deshalb auf sich nehmen, weil sie
nicht von Hartz IV leben wollen? Wer redet über diese
Doppelbelastung von Frauen? Sie definitiv nicht. Diese
Belastung ist jedoch ein Problem in unserer Gesellschaft. Darum müssen wir uns kümmern.
({11})
Das Wort hat nun Katharina Landgraf für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frauen werden in Deutschland durchschnittlich
schlechter bezahlt und seltener befördert als Männer. Das
ist eine Tatsache, die leider nicht zu leugnen ist. Frauen
erhalten auch seltener Sonderzahlungen wie Urlaubsund Weihnachtsgeld oder Gewinnbeteiligungen. Das
zeigt die neueste Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung.
Bei den Frauen spielt auch der Freizeitausgleich für
Überstunden eine deutlich größere Rolle, sicher familienbedingt; denn eine Barauszahlung erhalten eher die Männer. Die Summe der Ergebnisse dieser Umfrage lässt
vermuten, dass weibliche Beschäftigte auch in naher Zukunft den Lohnabstand kaum aufholen werden. 31 Prozent der Männer, aber nur 21 Prozent der Frauen gaben
an, dass sie in ihrem gegenwärtigen Betrieb schon einmal
befördert worden sind.
Lassen Sie mich kurz die Gründe für dieses Dilemma
erläutern. Meiner Ansicht nach gibt es drei wesentliche
Ursachen für die Entgeltungleichheit zwischen Frauen
und Männern: Erstens. Frauen fehlen in bestimmten
Berufen, Branchen und auf den höheren Stufen der Karriereleiter. Zweitens. Frauen haben häufigere und längere
familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und -reduzierungen als Männer. Drittens. Typische Frauentätigkeiten
werden trotz individueller und kollektiver Lohnverhandlungen immer noch schlechter bewertet und bezahlt.
In einigen Fällen werden Frauen aber auch schlechter
bezahlt, weil sie einfach Frauen sind. Ein Teil des Lohnunterschieds lässt sich nicht mit den eben genannten Ursachen erklären; das ist eben einfach Diskriminierung.
({0})
Beispielsweise werden Frauen im Hinblick auf eine
potenzielle Schwangerschaft oft schon zu geringeren
Einstiegsgehältern angestellt. Das ist ein unhaltbarer Zustand, nicht nur, weil es ungerecht ist, sondern auch aus
wirtschaftspolitischer Sicht.
({1})
- Beschweren Sie sich doch nicht, wenn Sie mit mir
einig sind.
({2})
Wir versuchen zusammen mit Akteuren aus der Wirtschaft, die Ursachen der Entgeltungleichheit mit konkreten Maßnahmen zu bekämpfen. Durch bessere Rahmenbedingungen wollen wir die Karrierechancen von Frauen
und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern.
({3})
Hier einige Beispiele: die Initiative „Familienbewusste
Arbeitszeiten“, das Programm „Perspektive Wiedereinstieg“,
({4})
der Girls’ Day, die MINT-Initiativen, der stetige Ausbau
der Kinderbetreuung und die Partnermonate beim
Elterngeld. Wir müssen über die Konsequenzen des
Berufswahlverhaltens der Mädchen informieren und helfen, Erwerbsunterbrechungen zu vermindern.
Weil Frauen besonders häufig für Dumpinglöhne
arbeiten müssen, ist die Forderung nach einem Mindestlohn als Lohnuntergrenze in diesem Zusammenhang ein
wichtiges Thema.
({5})
Da sind wir seit unserer letzten Debatte im März zum
Equal Pay Day ein gutes Stück vorangekommen: Ende
April hat die Unionsfraktion ein Konzept für die Einführung einer Lohnuntergrenze vorgestellt. Das Eckpunktepapier sieht vor, eine tarifoffene, allgemeine Lohnuntergrenze einzuführen. Über deren Höhe entscheidet nicht
der Staat, sondern entscheiden die Tarifpartner. Somit
bleibt die Tarifautonomie gewahrt.
({6})
Die Kanzlerin wird das Thema in den Koalitionsausschuss einbringen, und ich bin zuversichtlich, dass wir
uns noch in dieser Legislaturperiode einigen werden.
({7})
Das wird ein guter Schritt auf dem Weg zu einer gerechteren Entlohnung für Frauen sein.
Ein weiteres Problem ist der schon erwähnte geringe
Anteil von Frauen auf höheren Leitungsebenen. Frauen
liegen derzeit bei der Besetzung von gut dotierten Führungspositionen in der Wirtschaft weit zurück; das ist
schon gesagt worden. Es ist zwar zu begrüßen, dass die
30 Dax-Unternehmen den Frauenanteil in Spitzenpositionen erhöhen wollen; doch die Wirklichkeit sieht anders aus.
({8})
Um tatsächliche Erfolge verzeichnen zu können, ist ein
Gesetz
({9})
- dieses Mal wirklich ein Gesetz - mit verbindlichen und
messbaren Vorgaben nötig.
({10})
Die entsprechenden Diskussionen und Beratungen laufen derzeit. - Die Diskussionen laufen doch!
({11})
Beim Abbau der Lohnunterschiede sind alle gefordert, nicht nur wir in der Politik. Vor allem Arbeitgeber
müssen dazu beitragen, und zwar rasch, damit nicht wieder etliche Jahre ins Land ziehen, in denen nichts passiert. Ein wichtiger Helfer für die Unternehmen ist dabei
das Analyseprogramm Logib-D. Damit kann die Höhe
des durchschnittlichen Unterschieds der Monatsgehälter
von Frauen und Männern in Unternehmen ermittelt werden,
({12})
außerdem auch die Ursache des Unterschiedes. Die Teilnahme ist freiwillig und kostenlos.
({13})
Deshalb appelliere ich heute an dieser Stelle wieder an
die Unternehmen, sich möglichst alle an der Selbstkontrolle zu beteiligen.
({14})
Im Rahmen der Gesamtstrategie müssen wir die
Frauen stark und selbstbewusst machen, damit sie die
Lohnverhandlungen für sich nutzen können. Es wird
zwar von Ihnen immer wieder abgestritten, aber das ist
ein ganz persönlicher Fakt. Starke und selbstbewusste
Frauen werden angesichts des Fachkräftemangels gerade
jetzt ihre Qualifikationen nutzen.
({15})
- Von Schuld rede ich hier gar nicht, Frau Ferner. Die
Frauen sollen ihre Qualifikationen nutzen. - Dazu gibt
es Hilfestellungen und Programme aus dem Familienministerium. Denn Männer haben weniger Probleme damit,
sich gut zu präsentieren und für eine angemessene Vergütung zu streiten.
({16})
Besonders vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels und, wie erwähnt, des Fachkräftemangels können und dürfen wir auf qualifizierte und hochmotivierte
Frauen nicht verzichten.
({17})
Weil diese entsprechend entlohnt werden müssen, brauchen wir gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit.
({18})
Das ist nicht nur im Sinne der Gleichberechtigung, sondern auch im Interesse der Wirtschaft.
({19})
Ich teile also das Anliegen der SPD, aber nicht den
Lösungsansatz. Der Einsatz von sachverständigen Personen, die aufklären und das bestehende Entgeltsysteme
in den Betrieben prüfen sollen, führt zu einem bürokratischen Monster. Im Streitfall müssen dann trotzdem
wieder die Gerichte entscheiden. Damit haben wir nichts
gewonnen und nur eine weitere Instanz dazwischengeschaltet.
Der bessere Weg ist die kreative Einsicht, prinzipiell
alle leistungsbezogen zu bezahlen. Das ist der beste Weg
für die gewünschte Entgeltgleichheit.
({20})
Daher rate ich von einem solchen Gesetz, wie es die
SPD-Fraktion hier vorgelegt hat, ab.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Willy
Brandt hat einmal sehr gut auf den Punkt gebracht, wie
es um Gleichberechtigung in unserem Land steht: Emanzipation komme voran wie eine Schnecke auf Glatteis.
Recht hat er, vor allem, wenn ich mir diese schlappe Regierung und die Regierungsfraktionen anschaue.
({0})
Wir werden dieser Schnecke mit unserem Gesetzentwurf
Flügel verleihen, damit sich endlich was bewegt. Wir haben es nämlich satt, weitere Jahrzehnte auf die Durchsetzung von gleichen Löhnen für gleiche und gleichwertige
Arbeit zu warten.
({1})
Meine Damen und Herren, schauen Sie mich an!
Frauen meiner Generation erhalten fast 60 Prozent weniger Lebenserwerbseinkommen als Männer. Sie verdienen weniger, sie haben im Alter deshalb nur halb so viel
Rente.
({2})
Lohndiskriminierung zieht sich durch das ganze Leben.
Diese Ungerechtigkeit dürfen wir nicht länger zulassen.
({3})
Mit unserem Gesetzentwurf können wir Entgeltdiskriminierung aufdecken und diesen Rechtsbruch wirksam bekämpfen. Worauf warten wir also noch? Wir wollen Taten sehen!
({4})
Frauen haben in Bezug auf ihre Bildungsabschlüsse
die jungen Männer längst überholt. Beruflicher Erfolg ist
ihnen wichtig. Trotzdem werden sie auch heute noch auf
alte Rollenbilder zurückgeworfen. Sie, meine Damen
und Herren von CDU/CSU und FDP, machen genau das:
mit Ihrem Betreuungsgeld,
({5})
mit der Flexiquote und mit den unwirksamen Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Sie bekämpfen die Lohnlücke nicht und nageln Frauen so in überholten Mustern
fest.
({6})
- Natürlich stimmt das! - Frauen sind aber schon lange
keine Zuverdienerinnen mehr. Sie sind auf eigene existenzsichernde Löhne angewiesen, und sie haben ein
Recht darauf.
({7})
Traurige Tatsache ist: Frauen haben in Deutschland nach
wie vor ein Viertel weniger Lohn als Männer, und sie haben auch immer noch deutlich schlechtere Karrierechancen. In Führungspositionen muss man Frauen mit der
Lupe suchen.
Klar ist doch: Die Freiwilligkeitsvereinbarungen mit
der Wirtschaft sind gescheitert. Wir haben daraus gelernt. Schon in der Großen Koalition haben wir Ihnen
gemeinsam mit unserem damaligen SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz ein Entgeltgleichheitsgesetz vorgelegt.
Sie haben das blockiert und bis heute keinen wirksamen
Weg zur Lösung des Problems aufgezeigt.
({8})
Wir machen jetzt wieder Nägel mit Köpfen. Erstens.
Wir schaffen mit unserem Gesetz Transparenz. Solange
Frauen nicht wissen, was ihre Kollegen verdienen, wie
sollen sie da erkennen, dass sie benachteiligt werden?
Das ändern wir.
Zweitens. Wir lassen Frauen nicht länger im Regen
stehen. Natürlich können Frauen schon heute gegen
Lohndiskriminierung klagen. Aber wer macht denn das,
immer mit dem Risiko im Nacken, zu verlieren und
möglicherweise nie wieder einen guten Arbeitsplatz zu
finden? Wir lösen dieses Problem.
({9})
Drittens. Wir stärken Unternehmensverantwortung.
Wir schaffen den gesetzlichen Rahmen und überlassen
es den Unternehmen und Tarifparteien, Entgeltdiskriminierung aufzudecken und zu beheben. Besser geht es
doch nicht.
Viertens. Wir legen das Bürokratiemonster an die
Kette. Wir brauchen keine neuen staatlichen Stellen, um
Lohngerechtigkeit durchzusetzen. Unser Gesetzentwurf
sieht ein Minimum an Bürokratie vor. Unternehmen, die
gerechte Löhne zahlen, müssen dies nur offenlegen, und
fertig sind sie.
({10})
Verstoßen Unternehmen allerdings gegen das Lohngleichheitsgebot, hat das Konsequenzen. Wir haben in
unserem Gesetzentwurf Bußgelder bis zu 500 000 Euro
festgeschrieben. Das ist richtig so; denn ansonsten wäre
das Gesetz ein zahnloser Tiger.
({11})
Und wie sieht es mit der finanziellen Belastung der
Unternehmen aus?
({12})
Keine Frage, durch unser Gesetz werden Kosten anfallen
für die Berichte und möglicherweise für Sachverständige
und natürlich auch durch die Zahlung gerechter Löhne,
wenn vorher diskriminiert wurde. Das Tolle an unserem
Vorschlag ist aber, dass nur die tief in die Tasche greifen
müssen, denen unsere Grundrechte egal sind, und das ist
auch richtig so.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, mit unserem Gesetzentwurf ist uns ein guter Wurf gelungen. Wir
schaffen Gerechtigkeit, und wir machen Schluss mit der
beschämenden 23-Prozent-Lücke zwischen Männer- und
Frauenlöhnen. Unterstützen Sie deshalb unseren Gesetzentwurf!
({14})
Das Wort hat Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin
Hiller-Ohm, Sie werden nicht überrascht sein: Wir tun
uns schwer, Ihren Gesetzentwurf zu unterstützen.
({0})
Ich will Ihnen auch sagen, warum: Es ist Tatsache, dass
Frauen in ganz Europa weniger verdienen als Männer
- da brauchen wir gar nicht um den heißen Brei herumzureden -,
({1})
und in Deutschland ist die Quote höher als im europäischen Durchschnitt. Dass Frauen im Schnitt 23 Prozent
weniger verdienen als Männer - bereinigt sind es 8 Prozent -, wurde von den Kollegen bereits angesprochen.
({2})
Aber Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität.
({3})
Wir haben gemeinsam das Ziel, die Entgeltungleichheit
abzuschaffen.
({4})
- Doch, Frau Kollegin. - Aber der Weg dahin unterscheidet uns ganz gewaltig. Statt ein bürokratisches
Monster zu schaffen, das allenfalls geeignet ist, dem von
den Grünen vorgelegten Entwurf eines WhistleblowerSchutzgesetzes, über den wir heute Nachmittag diskutieren werden, eine Grundlage zu geben, halten wir es für
sinnvoller, uns erst einmal die Ursachen anzuschauen:
Woran liegt die Entgeltungleichheit,
({5})
und wie schaffen wir es, diese abzubauen?
Die Ursachen sind vielfältig. Es ist nicht damit getan,
festzustellen, dass der böse Arbeitgeber sagt: Das ist
eine Frau; die bekommt deshalb weniger Geld. - Ursache ist, dass die Qualifikation und das Berufsverhalten
bei vielen jungen Frauen anders ausgeprägt sind.
({6})
In diesen Tagen fand die 50-Jahr-Feier der Bundes der
technischen Beamten statt. Dort wurde ausgeführt: Wir
tun uns schwer, Frauen für sogenannte MINT-Berufe Mathematik, IT, Naturwissenschaften, Technik - zu begeistern. Wenn sie ein entsprechendes Studium oder eine
entsprechende Lehre absolviert haben, sind die weiblichen Bewerber aber vielfach besser, wenn sie sich um einen Arbeitsplatz bewerben. Das heißt, die Frauen können das.
({7})
Warum stellen Arbeitgeber sie trotzdem nicht ein
bzw. zahlen ihnen etwas weniger?
({8})
Das liegt schlichtweg daran - die Kollegin hat das bereits ausgeführt -, dass die Möglichkeit der Familienplanung eingepreist wird. Da wird gesagt: Ja, es kann sein,
dass sie ausfällt.
({9})
- Frau Kollegin Ferner, Sie brauchen sich gar nicht so
aufzublasen.
({10})
Wir haben vor vier Jahren in der Großen Koalition mit
dem Ausbau der Kinderkrippenangebote und mit dem
Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der im nächsten
Jahr in Kraft tritt, Möglichkeiten zur Verbesserung der
Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf den Weg gebracht. All das ist Ihnen doch bekannt.
Die Qualität bzw. der Wert der weiblichen Arbeit
- die mangelnde Wertschätzung haben Sie, Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zu Recht moniert - wird dadurch
gewaltig erhöht werden, dass die Frauen sagen können:
Wenn ich schwanger werde, muss ich nicht drei Jahre zu
Hause bleiben, sondern ich kann, wenn ich will, bereits
nach einem Jahr wieder meinem Beruf nachgehen. - All
dies haben wir gemeinsam mit Ihnen von der SPD auf
den Weg gebracht.
({11})
Das sollten Sie doch noch wissen.
Um den Unterschieden wirksam begegnen zu können,
({12})
müssen wir uns die Ursachen genau anschauen. Wir haben derzeit - auch das wird zur Herstellung von Entgeltgleichheit beitragen - etwa 1 Million Arbeitsplätze in
Deutschland, die nicht besetzt werden können. Das hat
Kollege Brauksiepe erst gestern im Ausschuss ausgeführt. Das heißt, wir werden die qualitativ hochwertige
Arbeit der Frauen in Zukunft noch viel stärker brauchen
als vor fünf oder zehn Jahren.
({13})
Auf dem Markt hat sich einiges getan, Frau Ferner; da
sind wir ganz gut dabei. Wir müssen auch in Deutschland aufpassen, dass wir die Frauenerwerbsquote erhöhen, dass wir die Möglichkeiten für Frauen, berufstätig
zu sein, verbessern. Das werden wir tun.
({14})
Die Arbeitgeber werden merken, dass wir hier qualifizierte, gut ausgebildete Frauen haben, und sie werden
sich bemühen, diese verstärkt einzustellen. Darum sollten wir uns kümmern, bevor wir über Zuwanderung und
andere Maßnahmen nachdenken.
({15})
Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursachenorientierter Lösungsansätze. Es gilt - ich habe bereits
darauf hingewiesen -, das Berufswahlverhalten zu beeinflussen, aber natürlich auch die Erwerbsunterbrechungen zu vermindern.
({16})
- Nein, das Betreuungsgeld ist - das wissen Sie so gut
wie ich, Frau Kollegin - keine Fernhalteprämie, wie Sie
es stigmatisieren.
({17})
Natürlich kann das Betreuungsgeld auch dann gezahlt
werden, wenn eine junge Frau berufstätig ist. Sie sollten
der Bevölkerung keine Unwahrheiten erzählen; denn so
kommen wir nicht weiter.
({18})
Individuelle und kollektive Lohnverhandlungen haben die traditionell schlechtere Bewertung der typischen
Frauenberufe bislang noch nicht nachhaltig überwinden
können. Schließlich unterbrechen und reduzieren Frauen
ihre Erwerbstätigkeit familienbedingt häufiger und länger als Männer. Nach längeren familienbedingten Erwerbsunterbrechungen und damit verbundenen Einbußen
beim Gehalt können Frauen den Einkommensvorsprung
ihrer männlichen Kollegen oft nicht mehr aufholen; darauf wurde bereits hingewiesen.
({19})
Ob die Garantie auf ein Familienhäuschen am Ende des
Berufslebens der richtige Weg ist, Frau Kollegin Ploetz,
wage ich zu bezweifeln. Das wird die Einstellungsquote
von Frauen wohl nicht merklich erhöhen. Ich halte das
eher für problematisch. Lange Familienphasen und eine
hohe Teilzeitquote sind daher typisch für Frauenerwerbsverläufe.
({20})
Die Entgeltungleichheit ist ein Kernindikator der
Gleichstellung. Ihre Überwindung ist unser zentrales
gleichstellungspolitisches Anliegen. Wie bereits dargelegt, sind die Ursachen komplex und vielfältig und eng
miteinander verbunden.
({21})
- Wir haben schon etwas gemacht. - Daher liegen die
Möglichkeiten der Überwindung der verschiedenen Ursachen bei unterschiedlichen Akteuren. Um hier etwas
zu erreichen, reicht es nicht aus, diesem Problem mit der
gesetzgeberischen Keule, noch dazu - dies hat Frau Kollegin Landgraf völlig zu Recht ausgeführt - mit einem
bürokratischen Monster in Form von Überwachung und
Entgeltberichten zu begegnen. Wichtiger ist vielmehr,
die Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen, angefangen bei der Ausbildung bis hin zur Vermittlung, entsprechend zu verbessern. Das ist das geeignetere Mittel.
Ich habe mir Ihren Antrag angeschaut, liebe Frau Kollegin Nahles.
({22})
- Gesetzentwurf, Entschuldigung. - Dort steht unter
„B. Lösung“:
Der Staat als Handelnder soll sich hier hingegen so
weit als möglich zurückhalten. Das Handeln derjenigen, die für die Entgeltsysteme zuständig sind,
soll durch behördliches Eingreifen nicht ersetzt
werden.
Das klingt gut. Wenige Seiten weiter, in § 12 Ihres Gesetzentwurfes, lese ich:
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unterzieht auf Veranlassung Tarifverträge, die Entgelte
betreffen, einer kursorischen Prüfung …
({23})
- Ja, dazu komme ich gerade. -
Veranlassung besteht insbesondere
a) bei Abschluss eines neuen Tarifvertrages, der
Entgelte betrifft. …
Die meisten Tarifverträge betreffen Entgelte.
({24})
b) auf Verlangen von Beschäftigten aus einem Betrieb ohne Betriebs- oder Personalrat, deren Entgelt
durch die Anwendung dieses Tarifvertrages bestimmt wird;
({25})
Die meisten Entgelte werden durch die Anwendung ei-
nes Tarifvertrages bestimmt.
c) auf Verlangen einer zuständigen Tarifvertragspartei oder eines Antidiskriminierungsverbandes.
({26})
Ich kann Sie nur bitten, sich einmal das Grundgesetz
aus der Schublade vor Ihnen zu holen. In Art. 9 Abs. 3
Satz 2 steht zur Koalitionsfreiheit:
Abreden, die dieses Recht einschränken …, sind
nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.
({27})
Ich glaube, es ist allemal richtiger und wichtiger, dass
sich die Tarifvertragsparteien tatsächlich um die Aushandlung von gleichen Lohnbedingungen kümmern.
Dies sollte nicht durch ein Gesetz geschehen, das durch
die Überprüfung ein bürokratisches und sicher nicht mit
2 Millionen Euro bezahlbares Monster aufbauen würde.
Im Übrigen - auch dazu bedarf es eines ausdrücklichen Hinweises - sind die Tarifvertragsparteien bereits
heute
({28})
- Frau Ferner, hören Sie zu, dann können Sie noch etwas lernen ({29})
zu diskriminierungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohnfindungsverfahren verpflichtet. Die Bundesregierung,
das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bietet umfangreiche Arbeitshilfen für Tarif- und
Betriebspartner zur Überprüfung bestehender Regelungen an. Soweit Betriebsräte und Tarifvertragsparteien in
den Gesetzentwurf einbezogen werden, werden nach
meiner Auffassung die verfassungsrechtlichen Grenzen
der kollektiv- und individualvertraglichen Regelungsebenen nicht beachtet. Insofern halte ich verfassungsrechtliche Bedenken an Ihrem Gesetzentwurf durchaus
für gegeben.
({30})
Lassen Sie einmal Ihre Juristinnen - Kollegen Kramme
ist leider nicht mehr anwesend - einen Blick darauf werfen; diese können Ihnen sagen, ob der Gesetzentwurf
verfassungsrechtlich korrekt ist.
Meine Damen und Herren, Ihr Lösungsansatz ist
falsch. Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursachenorientierter Lösungsansätze. Es gilt, wie ich bereits
ausgeführt habe, das Berufswahlverfahren zu beeinflussen und die Attraktivität der MINT-Berufe mit entsprechender Bezahlung zu steigern. Dass wir in der christlich-liberalen Koalition erst vor eineinhalb Jahren im
Bereich der Pflege einen Mindestlohn eingeführt haben
- in der Pflege arbeiten ja sehr viele Frauen -, gehört im
Übrigen auch zur politischen Korrektheit und zur Ehrlichkeit.
({31})
Die Vorschläge Ihres Gesetzentwurfs - die Verpflichtung zur Prüfung der Entgeltsysteme, die Erstellung von
Entgeltberichten, der massive Stellenausbau bei der Antidiskriminierungsstelle und die Einführung und Qualifizierung sogenannter sachverständiger Personen - tragen
nach meiner Auffassung dazu bei, eine überbordende
Bürokratie aufzubauen. Außerdem weisen Sie der Antidiskriminierungsstelle mit Ihren Vorschlägen zu weitreichende Befugnisse zu.
Darüber hinaus - das hatte ich bereits ausgeführt halte ich einen Verstoß gegen die Tarifvertragsfreiheit
für gegeben. Ich glaube, Sie geben den Frauen in puncto
Entgeltgleichheit mit diesem Gesetzentwurf Steine statt
Brot. Wir sollten daran arbeiten, die Qualifizierung, die
Vermittlung und natürlich auch den Wert der Arbeit der
Frauen für die Arbeitgeber - da bin ich bei Ihnen, Frau
Müller-Gemmeke - gerade angesichts des in Zukunft
drohenden Fachkräftemangels stärker herauszustellen.
Dadurch werden wir mehr erreichen, als wenn wir mit
einem bürokratischen Monster versuchen, die unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen gesetzlich zu unterbinden.
Herzlichen Dank.
({32})
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Wer diese Debatte bis jetzt verfolgt hat, stellt eines fest:
Wir sind uns im Parlament alle einig, dass bei der Entlohnung von Männern und Frauen schreiende Ungerechtigkeit herrscht. Aber es gibt hier eine Fraktion und eine
Regierung, die kein Konzept haben, daran etwas zu ändern.
({0})
Insofern bin ich sehr stolz, Ihnen mit unserem heute vorliegenden Gesetzentwurf eine Lösung anbieten zu dürfen. Ich glaube, wir können die bestehende Ungerechtigkeit nur durch gesetzliche Regelungen beseitigen.
({1})
Die Vertreter der Regierungsfraktionen sagen: Die
unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen
hat viele Ursachen. Zum Beispiel fehlen Frauen in technischen Berufen. - Ich sage Ihnen: Auch die Frauen, die
so mutig sind, Maschinenbauingenieurinnen zu werden,
verdienen im Monat 750 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen. Das ist eine Ungerechtigkeit. Wenn Sie
sagen: „Je älter die Frauen sind, desto größer ist ihr
Karriereknick“ - ich glaube, Herr Lehrieder hat das gesagt -, dann muss ich Ihnen entgegnen: Das ist falsch.
Sehen wir uns doch einmal die Zahlen zu den Berufsanfängern und Berufsanfängerinnen an: Der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen, die drei Jahre Berufserfahrung haben, beträgt 19 Prozent. Das heißt, in
Deutschland besteht für Frauen immer noch das Risiko,
schlechter bezahlt zu werden als Männer.
({2})
Das ist die traurige Realität, die wir zur Kenntnis nehmen müssen.
Herr Zimmer - Sie dürfen mir ruhig zuhören -, Sie
haben gesagt, es gebe genug Gesetze. Ja, ich gebe Ihnen
recht. Das Grundgesetz gibt es seit über 60 Jahren. Seit
1994 ist der Staat verpflichtet, die Gleichstellung durchzusetzen und für gleiche Entlohnung zu sorgen. Trotzdem tut sich nichts. Die Entgeltgleichheit ist bei uns in
Deutschland ein Prinzip ohne Praxis.
({3})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich habe mich gefreut, als das Europäische Parlament vor drei Wochen,
am 24. Mai dieses Jahres, beschlossen hat, dass Unternehmen mit mehr als 30 Mitarbeitern in Zukunft ihre
Gehaltsstrukturen offenlegen sollen. Wir sind gespannt,
was daraus wird. In unserem Gesetzentwurf haben auch
wir den Ansatz gewählt, zuerst einmal Transparenz herzustellen.
Wie sieht die Arbeitswirklichkeit denn aus? Frauen
können nicht für bessere Löhne streiten, weil sie nicht
wissen, wie viel ihre männlichen Kollegen verdienen.
Viele Männer nennen die Höhe ihres Gehaltes nicht. Sie
verstecken sich hinter der Aussage: Das darf ich nicht. Wir brauchen, wie in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, Transparenz. Darum verpflichten wir private und öffentliche Unternehmen, Entgeltberichte zu erstellen und
ihre Entgeltstrukturen offenzulegen.
Mir haben viele Frauen, die einem Betriebsrat angehören, beispielsweise bei Thyssen, aber auch in anderen
Unternehmen, gesagt: Bitte macht ein Gesetz, das Transparenz herstellt. Wenn Transparenz herrscht, sind wir
nämlich in der Lage, vieles im Interesse der Frauen
schon früher zu verbessern. - Unser Gesetzentwurf sieht
nicht nur vor, Transparenz herzustellen. Vielmehr wollen
wir auch für den Fall, dass es zu Ungerechtigkeiten
kommt, ein Verfahren vorsehen, mit dem eine Lösung
gefunden werden kann.
Die Ministerin Schröder sagt: Ich stelle die LogibD-Software im Internet zur Verfügung. Die Unternehmen können sie freiwillig herunterladen. 200 Unternehmen erhalten eine kostenlose Beratung.
({4})
Glauben Sie denn wirklich, dass das zu einer Veränderung führen wird? Ich glaube das nicht. Darum ist es
richtig, die Unternehmen mit unserem Gesetzentwurf zu
verpflichten, ein Lohnmessverfahren anzuwenden, damit
sich gleicher Lohn einstellt.
({5})
Last, not least müssen wir natürlich für die Durchsetzung sorgen. Hier gibt es die Möglichkeit eines Bußgelds.
Wir brauchen durch diesen Gesetzentwurf einen kleinen,
sanften Druck; das ist ganz wichtig. Wir haben aber gesagt - das ist vollkommen richtig, Herr Lehrieder -: Der
Staat soll sich so weit wie möglich heraushalten. So wenig Staat wie möglich, aber so viel Staat wie unvermeidlich! Darum sehen wir auch ein Bußgeld vor.
Herr Lehrieder, Sie sagen, das sei zu bürokratisch. Ich
sage Ihnen: Das Tabu, über Löhne zu sprechen, nützt in
erster Linie dem Arbeitgeber. Er kann, wenn es keine
Transparenz gibt, mit einzelnen Personen Löhne aushandeln, die unter dem durchschnittlichen Lohnniveau liegen. Ich frage mich: Warum nennen Sie es Bürokratie,
wenn wir die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die selbstverständlichen Grundrechte stärken wollen? Ich sehe das nicht als Bürokratie, sondern
als Selbstverständlichkeit an.
({6})
Genauso ist es keine Bürokratie, wenn wir Unternehmen
auffordern, endlich das zu tun, was schon in den Gesetzen steht. Im Gegenteil: Die Unternehmen müssten eigentlich schon heute Entgeltberichte erstellen, damit sie
keine Ungerechtigkeit bei der Entlohnung zulassen können. Dies müsste selbstverständlich sein. Sie tun es aber
nicht. Darum, glaube ich, müssen wir sie per Gesetz
dazu verpflichten.
Frau Schön, Sie haben natürlich recht: Dieses Gesetz
alleine wird die Welt nicht verändern. Weil es bei uns in
Deutschland so viele strukturelle Diskriminierungen
gibt, brauchen wir zusätzliche, flankierende Maßnahmen. Dazu gehören natürlich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die partnerschaftliche Aufteilung von
Elternzeit, der Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit und
der gesetzliche Mindestlohn. Ich sage Ihnen aber: Auf
keinen Fall gehört das Betreuungsgeld dazu.
Schönen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9781 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe-
derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/
CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Fraktion
der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Ar-
beit und Soziales.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD abstimmen, also Federführung beim
Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für die-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
sen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
derführung beim Familienausschuss. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom-
men.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte nun um ein
wenig Geduld und Aufmerksamkeit.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 52 a bis g sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
52 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 8. April 1959
zur Errichtung der Interamerikanischen Entwicklungsbank
- Drucksache 17/9697 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 18. Oktober
1969 zur Errichtung der Karibischen Entwicklungsbank
- Drucksache 17/9698 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 19. November
1984 zur Errichtung der Interamerikanischen
Investitionsgesellschaft
- Drucksache 17/9699 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungsund -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/2013
({3})
- Drucksache 17/9875 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten
- Drucksache 17/9932 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck ({6}), Memet Kilic, Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Visapolitik liberalisieren
- Drucksache 17/9951 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Ulrich Schneider, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zweckgebundene und steuerfreie Übungsleiterpauschalen und Aufwandsentschädigungen
für bürgerschaftliches Engagement nicht auf
Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch anrechnen
- Drucksache 17/9950 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lieferung von U-Booten an Israel stoppen
- Drucksache 17/9738 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 53 a bis d und 53 f
bis m sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 53 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Oktober 2010 zur Änderung des Übereinkommens
vom 9. Februar 1994 über die Erhebung von
Gebühren für die Benutzung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen
- Drucksache 17/9343 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({10})
- Drucksache 17/9843 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9843, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9343 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Markenrechtsvertrag von Singapur
vom 27. März 2006
- Drucksache 17/9691 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({11})
- Drucksache 17/9991 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Stephan Thomae
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9991, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9691 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 c:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 17/9692 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({12})
- Drucksache 17/9953 Berichterstattung:
Abg. Martin Burkert
- Bericht des Haushaltsausschusses ({13})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/9995 Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Johannes Kahrs
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt auf Drucksache 17/9953, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9692 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP
und Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 4. Oktober 2003
zur Gründung des Globalen Treuhandfonds
für Nutzpflanzenvielfalt
- Drucksache 17/9696 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({14})
- Drucksache 17/9955 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Harald Ebner
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt auf Drucksache 17/9955,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/9696 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 f bis m: Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 53 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 437 zu Petitionen
- Drucksache 17/9760 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 437 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 438 zu Petitionen
- Drucksache 17/9761 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 438 ist bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 439 zu Petitionen
- Drucksache 17/9762 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 439 ist bei Enthaltung der
Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 440 zu Petitionen
- Drucksache 17/9763 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 440 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 441 zu Petitionen
- Drucksache 17/9764 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 441 ist bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 442 zu Petitionen
- Drucksache 17/9765 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 442 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 443 zu Petitionen
- Drucksache 17/9766 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 443 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 444 zu Petitionen
- Drucksache 17/9767 -
Dazu liegt eine Erklärung zur Abstimmung gemäß
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor.1)
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Sammelübersicht 444 ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kom-
mission „Internet und digitale Gesellschaft“
- Drucksache 17/9939 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des
Grundgesetzes
- Drucksache 17/9918 -
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Bei dieser Gelegenheit können wir hier vorne wechseln. Viel Glück bei der Abstimmung, liebe Kolleginnen
und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tagesordnungspunkt 6 ist eben gerade vom Präsidentenkollegen
Thierse aufgerufen worden.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksache 17/9918 den Kollegen Michael Grosse-Brömer
vor.
({0})
- So viel Zeit muss sein, die Ovation zu geben.
Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren:
Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische
Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist gewählt,
wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint.
Die Wahl erfolgt mit rosa Stimmkarte und rosa Wahlausweis. Den Wahlausweis können Sie, soweit noch
nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby
entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der
Wahlausweis auch wirklich Ihren eigenen Namen trägt.
Die Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sie noch
keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten zu erhalten. Gültig
sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei „ja“, „nein“
oder „enthalte mich“. Ungültig sind demzufolge Stimmkarten, die kein Kreuz oder mehr als ein Kreuz, andere
Namen oder Zusätze enthalten.
Diese Wahl findet offen statt. Sie können Ihre Stimmkarte also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die
Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben
Sie bitte den Schriftführern an den Wahlurnen Ihren rosa
Wahlausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl
kann nur durch Abgabe des Wahlausweises erbracht
werden.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze
an den Urnen besetzt?
({1})
- Nein, noch nicht. Ein Schriftführer der Koalition fehlt
hier vorne, oben rechts fehlt ein Schriftführer der Oppo-
sition. Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer
bitten, ihr Ehrenamt einzunehmen.
Ich weise noch einmal darauf hin, dass das Amt des
Schriftführers ein Ehrenamt ist, das alle immer sehr
gerne wahrnehmen. Insofern bitte ich nun, die Pflicht zu
erfüllen.
Sind jetzt alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das
scheint der Fall zu sein. Ich eröffne somit die Wahl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein
Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht
abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe so-
mit die Wahl.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem Eintritt in
den nächsten Tagesordnungspunkt müssen wir die
Sitzung kurz unterbrechen, bis die Vorbereitungen zu der
gleich stattfindenden Wahl abgeschlossen sind. Die
Sitzung ist unterbrochen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Ihrer Planung
darf ich Ihnen mitteilen, dass die Sitzungsunterbrechung
noch etwas länger dauern wird. Ich bitte um Ihr Verständnis. Die Sitzung wird noch für etwa 15 weitere
Minuten unterbrochen. Dann geht es mit der Wahl der
Mitglieder des Sondergremiums weiter.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen die
unterbrochene Sitzung wieder auf.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 7 auf:
Wahl der Mitglieder des Sondergremiums ge-
mäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanis-
musgesetzes
- Drucksache 17/9919 -
Hierzu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf
Drucksache 17/9919 vor.
Dieses Gremium ersetzt das am 26. Oktober 2011
nach früherem Recht gewählte Gremium gleichen
Namens, das sich jedoch nie konstituiert hatte.
Ich darf Sie erneut um Ihre Aufmerksamkeit für ei-
nige erforderliche Hinweise zum Wahlverfahren bitten,
das von dem der soeben durchgeführten Wahl abweicht.
Wir wählen jetzt gleich neun ordentliche Mitglieder
sowie neun Stellvertreter. Gewählt ist, wer die Stimmen
der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält.
Für diese Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlaus-
weis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, den Stimm-
kartenfächern in der Lobby entnehmen können. Weiterhin
benötigen Sie zwei Stimmkarten sowie einen Wahlum-
schlag. Diese Unterlagen erhalten Sie von den Schrift-
führerinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen
vor den Wahlkabinen. Zeigen Sie dort bitte Ihren Wahl-
ausweis vor.
Die blaue Stimmkarte ist für die Wahl der neun or-
dentlichen Mitglieder; die gelbe Stimmkarte ist für die
Wahl der neun stellvertretenden Mitglieder. Auf jeder
der beiden Stimmkarten können Sie jeweils neun Kreuze
machen. Für jeden Kandidaten, also in jeder Zeile, dür-
1) Ergebnis Seite 21936 D
Vizepräsident Eduard Oswald
fen Sie nur ein Kreuz bei „ja“, „nein“ oder „Enthaltung“
anbringen. Eine Stimmabgabe ist ungültig, wenn neben
dem Kandidatennamen mehr als ein Kreuz oder kein
Kreuz markiert wurde oder der Name durchgestrichen
wurde. Ungültig sind Stimmkarten, die Zusätze enthalten.
Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihre beiden Stimmkarten nur in der Wahlkabine ankreuzen und
müssen beide Stimmkarten ebenfalls noch in der Wahlkabine in den Umschlag legen. Anderenfalls wäre die
Stimmabgabe ungültig. Die Wahl kann in diesem Fall
vorschriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführerinnen und Schriftführer werden darauf achten.
Bevor Sie den Wahlumschlag in die Wahlurne werfen,
müssen Sie dem Schriftführer an der Wahlurne Ihren
Wahlausweis übergeben. Die Abgabe des Wahlausweises dient als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl.
Kontrollieren Sie daher bitte, ob der Wahlausweis Ihren
Namen trägt.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ist das geschehen? - Nein, das ist noch nicht geschehen. Es fehlen
noch Schriftführerinnen und Schriftführer. Ich darf noch
einmal darum bitten, dass alle Schriftführerinnen und
Schriftführer ihr Amt wahrnehmen.
({0})
- Am Ausgabetisch fehlt noch ein Schriftführer aus der
Koalition. Ich darf die Parlamentarischen Geschäftsfüh-
rer um Hilfestellung bitten. - Kollege Paul Lehrieder
übernimmt das. Ich bedanke mich sehr herzlich.
Jetzt sind alle Plätze besetzt. Ich eröffne nun die
Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses - jetzt frage ich
vorsichtshalber auch die von mir heute schon humorvoll
erwähnten Schriftführerinnen und Schriftführer - ihre
Stimmkarten abgegeben? - Das ist der Fall.
Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die
Ergebnisse der Wahlen werden Ihnen später bekannt ge-
geben1).
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Beratungen fort.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der
Energiewende
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Joachim Pfeiffer. Bitte schön, Kollege Dr. Joachim Pfeiffer.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Umbau der
Energieversorgung, den wir uns vorgenommen und
wozu wir im letzten Jahr große politische Pakete beschlossen haben, ist bekanntlich kein Sprint, sondern ein
Marathonlauf.
({0})
Mancher hat vielleicht gedacht, mit dem Verabschieden
der Gesetze sei schon alles getan. Das Gegenteil ist aber
der Fall. Es geht jetzt erst richtig los, und die Mühen der
Ebene kommen jetzt auf uns zu.
Aus meiner Sicht gibt es bei diesem Thema drei große
Herausforderungen:
Die erste ist, die notwendigen Erzeugungskapazitäten
zur Verfügung zu stellen, und zwar sowohl Kapazitäten
aus erneuerbaren Energieträgern als auch Back-up-Ka-
pazitäten aus klassischen, konventionellen Kraftwerken.
Das soll heute nicht unser Thema sein.
Die zweite Herausforderung ist die Speicherung, da
die erneuerbaren Energien ja bekanntlich fluktuierend
sind, weil die Sonne auch bei fortschreitendem Klima-
wandel nachts nicht scheinen wird und der Wind auch
nicht immer bläst.
Die dritte ganz zentrale Herausforderung sind die
Netze. Die Netze bilden das Nervensystem des Umbaus
der Energieversorgung. Diese Netze sind intelligent zu
gestalten, das heißt, die Fluktuation muss zukünftig im
Rahmen der Netze berücksichtigt werden können. Vor
allem müssen wir die Netze nachfrageorientiert steuern
können, damit die Energieverbraucher intelligent mit
dem erzeugten Strom beliefert werden können. Das klas-
sische Thema ist selbstverständlich der Transport, der
dort ansteht. Last, but not least leisten die Netze auch ei-
nen entscheidenden Beitrag zur Vollendung des Binnen-
marktes im Energiebereich; denn solange wir, ökono-
misch ausgedrückt, die Elastizität der Nachfragekurve
nicht erhöhen, wir die Nachfrage also nicht flexibler ma-
chen und Wettbewerb nur auf der Angebotsseite besteht,
wird der Wettbewerb nicht so funktionieren, wie wir alle
uns das gemeinsam wünschen.
Der Netzentwicklungsplan, der jetzt vorgestellt wird,
ist quasi die Generalanleitung für den Umbau der Netze,
so wie wir ihn uns vorstellen.
Es ist nicht so, dass bisher nichts passiert ist. Mit
Stand von heute wurden immerhin 214 Kilometer der
wichtigsten Vorhaben umgesetzt. Das bedeutet erfreuli-
cherweise eine gewisse Beschleunigung gegenüber dem,
was wir noch im letzten Jahr zum Teil befürchtet haben.
Die Lage ist aber komplex. Es gibt nämlich verschiedene
Planungsebenen.
Die klassische Planung obliegt den Ländern. Wir ha-
ben schon vor Jahren die Herausforderungen gesehen. In 1) Ergebnis Seite 21936 D
der letzten Legislaturperiode haben wir mit dem Energieleitungsausbaugesetz festgelegt, dass die Verfahren
im Hinblick auf 24 prioritäre Maßnahmen beschleunigt
werden. Im letzten Jahr haben wir mit dem NABEG die
Möglichkeit zu einer weiteren Beschleunigung der jetzt
neuen Projekte geschaffen.
Der Netzentwicklungsplan ist also nicht nur die Anleitung, sondern er soll vor allem auch Transparenz bei
dem schaffen, was dort vorgesehen ist, sodass die Bürger
das auch nachvollziehen können. Es soll Transparenz geschaffen werden, um dann hoffentlich auch bezüglich
der Planungen Akzeptanz zu erreichen, die zwingend
notwendig ist, weil wir bekanntlich Schwierigkeiten haben, diese Planungen so schnell umzusetzen, wie es nötig ist.
Wir brauchen Transparenz aber auch bezüglich der
Kosten, weil das, was wir dort unternehmen, keine billige Veranstaltung werden wird. Ich möchte die Herausforderungen nur einmal von der Größenordnung her
skizzieren, um zu verdeutlichen, worüber wir reden und
was wir vor uns haben:
Nach dem Netzentwicklungsplan brauchen wir allein
für das Übertragungsnetz einen Neubau in einer Größenordnung von rund 3 800 Kilometern. 4 000 Kilometer
müssen modernisiert werden. Das verursacht Kosten von
20 Milliarden Euro.
Das Verteilnetz, das den Strom in der Fläche verteilen
soll, muss um 195 000 Kilometer erweitert werden. Das
verursacht Kosten in einer Größenordnung von 27 Milliarden Euro.
Die Einführung sogenannter Smart Meterings, womit
die Netze intelligent gemacht werden sollen, verursacht
5 Milliarden Euro.
Ein anderes Projekt ist die bis 2020 geplante Offshoreanbindung. Wenn wir hier eine Leistung von 13 Gigawatt realisieren wollen, brauchen wir dafür mindestens noch einmal 13 Milliarden Euro. Zur Erzeugung
einer Leistung von 1 Gigawatt benötigen wir etwa 1 Milliarde Euro.
Zum Bau der Interkonnektoren nach Norwegen fällt
demnächst die Entscheidung. Wir hoffen, dass wir den
Zuschlag für den Bau des ersten Interkonnektors bekommen, also nicht die Briten, sondern wir Deutsche.
Insgesamt reden wir also über eine Größenordnung
von mindestens 70 Milliarden Euro, die bis 2020 allein
in den Netzausbau zu investieren sind. Das ist eine gigantische Herausforderung. Dafür brauchen wir alle.
Dafür brauchen wir auch die Länder, die sich zwar bisher verbal vor Begeisterung überschlagen haben. Aber
sie müssen parteiübergreifend auch in dem Sinne Gas
geben, dass sie bei der Planung vor Ort Ressourcen, und
zwar Personal und Geld, zur Verfügung stellen. Sie müssen vor allem auch mithelfen, dass das NABEG so ausgefüllt wird, dass es tatsächlich zu einer Planungsbeschleunigung kommt, sodass die Projekte, die ich gerade
genannt habe, auch umgesetzt werden können.
({1})
Kollege Pfeiffer, Sie wissen, was das rote Licht vor
Ihnen bedeutet?
Diese Aufgabe ist noch ambitionierter als all die Aufgaben, die ich versucht habe in fünf Minuten darzustellen.
Es waren fast sechs Minuten.
Das war fast nicht möglich. Aber es wird morgen bei
einer ähnlichen Debatte die Gelegenheit zur Fortsetzung
bestehen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Pfeiffer. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt Duin. Bitte
schön, Herr Kollege Garrelt Duin.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Als wir von dem Titel dieser Aktuellen
Stunde erfahren haben,
({0})
waren wir schon ein bisschen erstaunt - das ist wohl
wahr -,
({1})
besonders aber nach der ersten Rede in dieser Aktuellen
Stunde, die von Ihnen beantragt worden ist.
Den ersten Schritt zur Netzentwicklung haben wir gemeinsam getan. Die hier anwesenden Minister werden
gleich an der Ministerpräsidentenkonferenz teilnehmen,
die zwar ein ganz wichtiger Termin - heute ist diesbezüglich ein ganz wichtiger Tag - für unser Vorhaben ist.
Aber das Wort „Meilenstein der Energiewende“
({2})
ist einfach eine Nummer zu groß für das, was Sie in den
letzten 13 Monaten für Deutschland getan haben. Das
passt überhaupt nicht zusammen.
({3})
Lieber Herr Minister Rösler, ich habe heute Ihr Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen.
Ich zitiere daraus drei kurze Sätze: Erster Satz: Wir brauchen „Markt, Wettbewerb und Transparenz“. Zweiter
Satz:
Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbedingungen … festzulegen …
Dritter Satz:
Das ist ein Ausgangspunkt mehrerer Optionen. Wir
stehen erst am Anfang unserer Überlegungen.
Das ist vollkommen nichtssagend. Wir befinden uns
seit einem Jahr in diesen Diskussionen. Wir könnten
schon viel weiter sein, wenn Sie nicht diese doppelte
Ausstiegsnummer hingelegt hätten. Das, was Sie heute,
im Juni 2012, zu diesem Thema zu sagen haben, ist verdammt dünn und zu wenig, um der Herausforderung in
diesem Bereich gerecht zu werden.
({4})
Ich möchte ganz kurz ein paar Punkte nennen, von denen ich überzeugt bin, dass wir sie gemeinsam mit den
Ländern über eine möglichst breite Mehrheit hier im
Hause hinbekommen müssen.
Das Erste ist in der Tat die Verabschiedung eines
Bundesbedarfsplangesetzes im Jahre 2012 auf der
Grundlage der vorliegenden Szenarien.
Das Zweite, das wir miteinander klären müssen, ist,
dass wir ein ganz intensives Monitoring des Netzausbaus
brauchen, aber nicht nur bezogen auf die Übertragungsnetze, sondern auch unter Einbeziehung der Verteilnetze.
Hierüber wird oft sehr einfach diskutiert. Wir müssen
eine Anpassung der Anreizregulierungsverordnung vornehmen, um gerade auch im Bereich der Verteilnetze
- Stichwort „Smart Grids“ - voranzukommen.
({5})
Wenn das in Ihren Überlegungen nicht enthalten ist,
springen Sie zu kurz.
Das Dritte ist die Deckung des Kapitalbedarfs zur
Finanzierung des Netzausbaus. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. In einer Fragestunde habe ich den
Parlamentarischen Staatssekretär Otto gefragt, wie er
denn zum Thema „deutsche Netz AG“ stehe. Darauf hat
er, wie ich finde, sehr vernünftig geantwortet, auch das
könne man nicht ausschließen.
Es geht in dieser Zeit aber nicht mehr darum, was
man nicht ausschließen kann, sondern es geht darum,
dass man klare Bekenntnisse abgibt. Die aktuellen Probleme sind doch offensichtlich. Deswegen brauchen wir
parteiübergreifend das klare Bekenntnis und auch das Signal an die Marktteilnehmer: Wir wollen eine deutsche
Netz AG. Wir beteiligen uns daran. Wir gehen mit in
diese Verantwortung. Aber wir wollen nicht nur Geld geben, sondern wir wollen auch etwas zu sagen haben. Das ist der entscheidende Punkt, über den wir uns noch
verständigen müssen.
({6})
Ein reiner Renditewettlauf nach dem Motto „Wer
kann das meiste Geld mit welchem Netz verdienen?“
wird nicht zum Ziel führen. Der Markt allein, wie Sie es
heute noch einmal zum Ausdruck gebracht haben, wird
es nicht bringen.
({7})
Im Übrigen brauchen wir zwingend eine Intensivierung der Aktivitäten zur Erforschung und Entwicklung
innovativer Netztechnologien. Denn es geht auch im
Sinne der Akzeptanz, um die wir gemeinsam in ganz
Deutschland an den verschiedenen Orten ringen, darum,
nicht einfach nur zu übernehmen, was dort an Vorschlägen vorliegt, sondern durch kluge Politik dafür zu sorgen, eine Überdimensionierung des Ausbaus zu vermeiden. Es muss nicht jeder Kilometer, der bisher zur
Diskussion steht, am Ende gebaut werden, wenn man bei
der Speichertechnologie und bei intelligenten Netzstrukturen vorankommt und sehr viel stärker auf Dezentralität
setzt, als es in vielen Überlegungen zurzeit der Fall ist.
({8})
Lassen Sie mich - weil Sie gleich zur Ministerpräsidentenkonferenz fahren - abschließend sagen: Wir alle
im Bundestag sind mit unseren Parteien mehr oder weniger stark in den Landesregierungen vertreten. Wir haben
dort alle miteinander Verantwortung. Aber aus diesem
Hause muss als Rückendeckung an Sie das Signal ausgehen, dass wir uns auch in dem Sinne dessen, was unser
Kommissar in Brüssel, Herr Oettinger, sagt, nicht
16 völlig verschiedene Pläne für den Ausbau der Netze
leisten können. Das muss gebündelt werden.
Die Skepsis in den Ländern ist dadurch verursacht,
dass die beiden Häuser, deren Vertreter hier sitzen
- Herrn Altmaier will ich dafür noch nicht in Verantwortung nehmen -, diese Bündelungsfunktion und das stringente Vorgehen bisher nicht dargestellt haben. Es ist viel
Zeit ins Land gegangen, ohne die notwendigen Erfolge
zu erzielen.
Nehmen Sie deswegen auch aus dieser Aktuellen
Stunde die Botschaft mit: Wir brauchen ein einheitliches
Vorgehen über die Grenzen hinweg, vor allen Dingen
über die 16 Ländergrenzen hinweg. Sonst werden wir
uns hier wiedertreffen, ohne die Ziele beim Netzausbau
erreicht zu haben, die für den Industriestandort, aber
auch für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
dringend notwendig sind.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege Garrelt Duin. - Nächster Redner ist für die Bundesregierung Herr Bundesminister
Philipp Rösler. Bitte schön, Herr Bundesminister Rösler.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Vor einem Jahr haben
wir hier gemeinsam die Gesetze zur Umsetzung der
Energiewende in Deutschland verabschiedet. Wir wollen
den Ausstieg aus der Kernenergie. Wir wollen als Ersatz
einen starken Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber
wir unterscheiden uns,
({0})
die Opposition auf der einen Seite und die Regierungskoalition auf der anderen Seite.
Sie wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien,
koste es, was es wolle. Ihnen ist es vollkommen egal,
wer am Ende die Zeche zu zahlen hat.
({1})
Sie denken nicht eine Sekunde an die 80 Millionen Menschen, die 40 Millionen Haushalte und die 4 Millionen
kleine und mittelständische Unternehmen, die all das bezahlen müssen. Wir denken auch an die Bezahlbarkeit
von Energie in Deutschland.
({2})
Es geht nicht nur um die umweltfreundliche Produktion durch erneuerbare Energien, sondern auch um Versorgungssicherheit. Es geht um das Thema Netzstabilität. Deswegen brauchen wir große, neue Netzstrukturen
in unserem Land.
Wir haben das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das
Energiewirtschaftsgesetz und auch die Anreizregulierungsverordnung auf den Weg gebracht. Wir haben für
Investitionssicherheit gesorgt, die wirtschaftliche Effizienz auch beim Ausbau der Netze weiter gesteigert und
Planungen beschleunigt.
Entgegen Ihrer Unterstellung ist der Bund in Bezug
auf den Netzausbau in Deutschland absolut im Zeitplan.
Ende Mai haben wir den Netzentwicklungsplan vorgelegt bekommen.
({3})
Alle beteiligten Akteure - der Bund, die Übertragungsnetzbetreiber, die zivilgesellschaftlichen Gruppen und
die Bundesländer - haben innerhalb von zwölf Monaten
aus dem Nichts heraus einen völlig neuen Plan auf den
Weg gebracht: 3 700 Kilometer Fernübertragungstrassen
in Deutschland.
({4})
Jetzt kennen wir den Bedarf, um den Strom aus dem
Norden in den Süden zu transportieren. Jetzt haben die
Menschen einen sichtbaren und greifbaren Erfolg in den
Händen, der beweist: Wir sind beim Umsetzen der Energiewende in Deutschland absolut im Zeitplan.
({5})
- Die Menschen brauchen auch Ehrlichkeit, Frau Höhn.
({6})
Denn angesichts einer Gesamtstrecke von 3 700 Kilometern müssen wir mit den Menschen vor Ort intensiv sprechen, wenn es darum geht, die Trassen durch die Regionen zu führen.
({7})
Wir brauchen daher Ehrlichkeit. Die legen Sie schon
längst nicht mehr an den Tag. Sie verleugnen die Notwendigkeit neuer Netze. Überall da, wo es konkret wird,
stellen Sie sich auf die Seite der Demonstranten, die gegen neue Netze protestieren. Das ist doch die Wahrheit.
Das ist unehrlich und unseriös.
({8})
Wir brauchen nicht nur Ehrlichkeit, sondern auch die
Zwillingsschwester der Ehrlichkeit, die Transparenz, gerade wenn es um die Beteiligung der Bürgerinnen und
Bürger geht. Schon sehr frühzeitig, im ersten Entwicklungsstadium, sind die Menschen eingeladen, wenn es
darum geht, gemeinsam über die konkreten Trassenführungen zu diskutieren. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn
die Trassen feststehen, wenn die Entscheidungen gefallen sind, dann müssen wir auch alles dafür tun, dass die
Entscheidungen umgesetzt werden können. Wir können
uns nicht mehr leisten, dass Klagewelle auf Klagewelle
gegen Netzentscheidungen läuft.
({9})
Deswegen fordere ich hier genauso wie bei anderen
Infrastrukturgroßprojekten: Es reicht eine gerichtliche
Instanz aus, um neue Netze in Deutschland auf den Weg
zu bringen. Deswegen habe ich vorgeschlagen, beim
Netzausbau künftig nur noch das Bundesverwaltungsgericht als Entscheidungsinstanz gelten zu lassen.
({10})
Dass das funktionieren kann, haben die Großprojekte
im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung gezeigt.
Das zeigt auch das Energieleitungsausbaugesetz; Sie
haben es eben selber angesprochen.
({11})
- Es stimmt, es geht nicht voran. 1 800 Kilometer neue
Leitungen sind geplant gewesen. Nur 200 Kilometer
Leitungen sind bislang gebaut worden. Aber vergessen
wir einmal nicht die Verantwortlichkeit!
({12})
- Fachlich liegen Sie total daneben, Herr Kollege. - Die
Zuständigkeit für das EnLAG liegt ausschließlich und
alleine bei den Bundesländern.
({13})
Überall da, wo Trassen über Ländergrenzen hinweg geführt werden sollen, geraten diese Projekte ins Stocken.
Ich sage Ihnen: Wir müssen mit der Kleinstaaterei
Schluss machen. Keine 16 eigenständigen Energiekonzepte!
({14})
Wir können es nur gemeinsam schaffen - Bund, Länder
und Kommunen -, und zwar nur unter Einbeziehung der
europäischen Ebene. Wir brauchen Grenzkuppelstellen
an der Grenze zu Frankreich genauso wie an der Grenze
zu Polen. Deswegen muss man die Energiewende auch
europäisch denken, übrigens nicht nur, wenn es um den
konkreten Netzausbau, sondern auch, wenn es um die
Regulierung geht.
({15})
- Herr Duin, ich verstehe Ihren Einwurf so, dass Sie fest
an unserer Seite stehen, wenn es darum geht, erneut über
Umweltschutzvorgaben nachzudenken.
({16})
Wir müssen darüber reden, wie wir Planung und Bau
beschleunigen können, genauso wie damals bei der Realisierung von Autobahnen im Zuge der deutschen Einheit. Viele Maßnahmen konnten wir damals umsetzen,
weil Regeln zeitweilig außer Kraft gesetzt wurden. Dies
brauchen wir heute wieder. Die Zuständigkeit liegt nicht
mehr alleine auf Bundesebene, sondern auch auf europäischer Ebene. Deswegen ist es richtig, dass wir mit der
Europäischen Kommission darüber reden, wie es ermöglicht werden kann, Umweltstandards für einen bestimmten Zeitraum außer Kraft zu setzen, damit Netzplanung
und Netzausbau schneller vorangetrieben werden können. Wir brauchen nämlich beides: Naturschutz und
neue Netze, sowohl in Deutschland als auch in Europa.
({17})
- Ganz konkret können Sie sich künftig den Netzentwicklungsplan ansehen, Herr Kollege.
Entsprechend den Vorgaben des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes, das wir gemeinsam verabschiedet haben, werden wir weiter vorangehen. Jetzt liegt der Plan
vor. Wir werden gemeinsam auf seiner Grundlage ein
Bundesbedarfsplangesetz und eine Verordnung entwickeln, um künftig erstmalig bundesweit Netze planen
und bauen lassen zu können. Wir werden mit den Menschen vor Ort sprechen. Wir werden auch mit unseren
europäischen Partnern reden, um Planungserleichterungen auf europäischer Ebene um- und durchzusetzen. Anders wird die Energiewende nicht zu machen sein.
Aber der Netzentwicklungsplan, den Sie jetzt in
Händen halten, ist in der Tat - ob es Ihnen nun gefällt
oder nicht - ein Meilenstein, wenn es darum geht, die
Energiewende gleichermaßen für die Menschen und die
Unternehmen in Deutschland umzusetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die
Linke unsere Kollegin Johanna Voß. Bitte schön, Frau
Kollegin Johanna Voß.
({0})
Danke schön. - Sehr geehrte Damen und Herren!
Nach dieser Rede fange ich erst einmal damit an, zu sagen, was diesem Netzentwicklungsplan ganz entscheidend fehlt: Er steht unter ganz falschen Vorgaben. Das,
sehr geehrter Herr Rösler, ist sehr transparent.
Bei der zugrunde liegenden Marktsimulation gab es
ein Ziel, nämlich die Minimierung der Erzeugungskosten. Der Fokus dieses Plans liegt also auf dem rein betriebswirtschaftlichen Aspekt. Man will folglich nicht
das bestmögliche Netz bauen, sondern das kostengünstigste. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Selbst die Netzbetreiber sagen: Dieser Plan bildet nicht das einzig mögliche Netz ab; er bildet vielmehr das Netz ab, das unter
diesen gesetzten Prämissen nötig ist. - Natürlich müssen
die Kosten betrachtet werden; sie dürfen jedoch nicht
das einzige Kriterium für alle Planungen sein.
({0})
Außerdem steht nirgends im Netzentwicklungsplan, was
denn nun „kostengünstig“ ist. Das Wirtschaftlichkeitskriterium wird im ganzen Netzentwicklungsplan nirgends
definiert, obwohl es Grundlage aller Berechnungen ist.
Damit sind die Berechnungen nicht nachvollziehbar. Wir
stellen fest: Unter dieser Prämisse bleibt die Sinnhaftigkeit auf der Strecke.
({1})
Reden wir über ein weiteres Problem: Es fehlt eine
Koordination von Stromerzeugung und Stromverbrauch.
Die Strombörse versagt hier. Die Koordination ist aber
ein zentraler Faktor für den Stromnetzausbau. Dieses
Problem kann der Netzentwicklungsplan allein auch
nicht lösen. So treibt dann die Planlosigkeit den Stromnetzausbaubedarf in schwindelerregende Höhen. Weiterer
Treiber des Ausbaubedarfs im Plan ist, dass das Anfahren und Abregeln von Kraftwerken durch die Netzbetreiber, der sogenannte Redispatch, und das Einspeise- und
Lastmanagement nicht einbezogen werden. Diese Maßnahmen können aber einen ganz entscheidenden Einfluss
auf das Einsparen von Stromtrassen haben. Dieses Einsparpotenzial gilt es zu nutzen.
({2})
Kommen wir damit zum Kernpunkt. Der Netzausbaubedarf hängt davon ab, wo welche erneuerbaren Energien geplant werden und welche Strategie der Erzeugung
und des Verbrauchs von Energie überhaupt gefördert
werden soll. Ein sinnvoller Bundesfachplan „Stromnetze“ muss daher konsequent vom Endpunkt her, von
100 Prozent Versorgung mit erneuerbaren Energien, gedacht und geplant werden. Der Auf- und Ausbau zukünftiger Stromspeicher muss berücksichtigt und einbezogen
werden. Das alles leistet dieser Netzentwicklungsplan
nicht.
Ein weiterer Punkt: Die Großverbraucher - Alu-,
Stahl-, Auto- und Chemieindustrie - müssen ihren Beitrag zur Netzstabilität leisten. Dazu braucht es gezielt
Anreize für mehr Energieeffizienz.
({3})
Die wichtigste Forderung bleibt aber: Stromnetze zurück in die öffentliche Hand. Nur so überlässt man den
Bau der großen Stromautobahnen und der kommunalen
Verteilnetze nicht der Willkür und den alleinigen Interessen privater Unternehmen. Das hätte schon längst erkannt werden müssen. Eine öffentliche Netzgesellschaft,
wie auch Garrelt Duin sie gefordert hat, kann leisten,
was die vier Netzbetreiber auch bei noch höheren Renditen nicht leisten können. Strom gehört zu unserer Grundversorgung, und der Zugang dazu muss demokratisch organisiert sein.
({4})
Eine öffentliche Netzgesellschaft mit Vertreterinnen
und Vertretern von Umweltverbänden, Gewerkschaften
und weiteren relevanten Gruppen kann das leisten. Nur
wenn die Netze wirklich wieder in öffentlicher Hand und
demokratisch organisiert sind, muss nicht mehr lange
über die Offenlegung von Daten gestritten werden. Dann
werden die Netze wirklich nur dort gebaut, wo sie volkswirtschaftlich und ökologisch nötig sind. Dann wird eine
sinnvolle Gesamtplanung zur Integration der erneuerbaren Energien möglich. Die fehlende Koordination des
Ausbaus erneuerbarer Energien führt sonst unwiderruflich zu unwirtschaftlichen Netzstrukturen. Selbst die
Netzbetreiber bemängeln immer wieder, dass ein Masterplan für den Ausbau der erneuerbaren Energien fehlt.
Das sind also noch nicht einmal linke Spinnereien.
Es geht hier also um eine wichtige politische Weichenstellung. Die Frage ist: Für welche Art der Stromerzeugung sollen die Netze geplant werden? Der Aufschwung
dezentraler, erneuerbarer Stromerzeugung muss fortgesetzt werden. Orientiert sich die Politik aber weiter an den
alten, ineffizienten und gesellschaftlich teuren Interessen
privater Konzerne, fördert sie vor allem zentrale Offshoreparks und andere fossile Großprojekte, so wird die
Energiewende verhindert. Eine Versorgung mit Strom aus
zu 100 Prozent erneuerbaren Energien rückt dann in
weite Ferne. Genau diese Entscheidungen stehen an.
Der Netzentwicklungsplan krankt an falschen und
fehlenden Voraussetzungen. Solange kein Masterplan
vorliegt, solange Wirtschaftlichkeit oberstes, vages
Kriterium bleibt, solange Redispatch, Last- und Einspeisemanagement nicht berücksichtigt werden, so lange
werden wir Netze bekommen und bezahlen, die wir eigentlich nicht brauchen. Umweltverbände und Bürgerinitiativen haben allen Grund, weiter zu kämpfen. Die
Linke wird dabei an ihrer Seite stehen.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Voß. - Nächster Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Oliver Krischer. Bitte
schön, Kollege Oliver Krischer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Wirtschaftsminister Rösler, ich habe von Ihnen jetzt
neun Minuten lang Phrasen und Plattitüden zum Thema
Energiepolitik gehört. Sie sind sich nicht zu billig, hier
noch die Plattitüde zu verbreiten, die Opposition würde
im Land herumlaufen und den Netzausbau verhindern.
({0})
Wenn ich vor Ort in Sachen Konfliktfälle unterwegs
bin, stoße ich auf schwarze Bürgermeister und Ihre gelben Parteikollegen, die sich in Populismus ergehen und
Netzausbau verhindern.
({1})
Das ist die Realität.
({2})
Ich will hier mit einem Gerücht aufräumen. Es entsteht immer der Eindruck, als ob Bürgerinitiativen und
Bürgerengagement den Netzausbau in Deutschland verhindern würden. - Ja, es gibt Diskussionen, es gibt Kritik, es gibt auch Auseinandersetzungen. Doch die wahren Probleme beim Netzausbau liegen darin, dass es
Intransparenz und fehlende Steuerung gibt. Weiterhin ist
das alles bisher als „Geheime Kommandosache“ der
Übertragungsnetzbetreiber gelaufen. Dagegen hätten Sie
schon lange etwas tun können. Da waren Sie in der Verantwortung. Beim EnLAG hätten Sie etwas tun können.
Da ist von Ihnen nichts gekommen.
Sie haben es eben selbst gesagt: Sie haben diesen
Netzentwicklungsplan aus dem Nichts gemacht. Das
zeigt doch, dass Sie drei Jahre lang hier überhaupt nichts
zustande gebracht haben.
({3})
Dann sage ich Ihnen: Sie verbreiten Horrorzahlen im
Zusammenhang mit dem Netzausbau und argumentieren
dann, deshalb sei die Energiewende nicht finanzierbar.
Das ist Ihre Botschaft, die Sie als Minister streuen.
({4})
Dazu sage ich Ihnen: Netzausbau müsste in Deutschland auch ohne Energiewende stattfinden. Bis in die
70er-Jahre hinein sind große Investitionen getätigt worden. Aber danach ist in Übertragungsnetze im Wesentlichen nicht mehr investiert worden. In Deutschland stehen Masten, die noch aus Kaisers Zeiten stammen und
die irgendwann einmal erneuert werden müssen, Energiewende hin oder her. Ich glaube, so manche Horrorzahl, die verbreitet worden ist, würde sich relativieren,
wenn man betrachten würde, was auch ohne Energiewende investiert werden müsste.
({5})
Aber es ist völlig richtig: Wir brauchen den Ausbau
und die Optimierung der Netze im Rahmen der Energiewende. Denn wir müssen natürlich von der zentralen zur
dezentralen Erzeugung kommen. Dabei ist das Verteilnetz ein ganz entscheidender Punkt. Herr Rösler, auch
dazu habe ich von Ihnen keine einzige Silbe gehört. Das
einzige, was Sie im Kopf haben, sind große Übertragungsnetze, die zwar ein wichtiger Teil, aber eben nur
ein Teil sind. Die Verteilnetze haben Sie überhaupt nicht
auf dem Schirm.
({6})
Dann haben Sie uns jetzt einen Plan vorgelegt, den
Sie „Meilenstein“ nennen. Das ist aber bestenfalls ein
erster Schritt, den Sie ein Jahr, nachdem Sie das Gesetz
verabschiedet haben, gehen. Ich finde: schnell ist anders.
Auch finde ich es hochinteressant, welche verschiedenen
Szenarien mit den entsprechenden Berechnungen und
welchen Erzeugungsmix Sie beim Ausbau der erneuerbaren Energien zugrunde gelegt haben. Aber interessanterweise berücksichtigen Sie zum Beispiel Ihre eigenen
Effizienzziele und Einsparungen nicht. Das kommt in
Ihrem Plan nicht vor.
({7})
Auch der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung fehlt,
den Sie immer propagieren und über den Sie in der letzten Sitzungswoche erzählt haben, dass Sie dazu jetzt ein
ganz tolles Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz gemacht
haben.
({8})
Es fehlen die Aspekte Speichertechnologie und Lastmanagement. All das taucht in diesem Netzentwicklungsplan überhaupt nicht auf. Das kann in der Konsequenz doch nur bedeuten: Entweder glaubt Ihre eigene
Bundesnetzagentur nicht daran, dass Sie die Ziele umsetzen, oder Sie verfolgen sie überhaupt nicht. Das ist
doch eine Bankrotterklärung sondergleichen.
({9})
Dann zum Thema Öffentlichkeitsbeteiligung: Wir alle
wissen und es ist völlig klar, dass man den Netzausbau in
Deutschland auf allen Verteilungsebenen nur mit den
Menschen machen kann, indem man mit ihnen redet. Sie
haben nun den Plan vorgelegt. Danach sagen Sie per Pressekonferenz aus Bonn: Liebe Bürgerinnen und Bürger, ihr
habt jetzt sechs Wochen Zeit, eine Stellungnahme zu einem Konvolut von 300 Seiten abzugeben. - Das ist keine
Bürgerbeteiligung, das ist ein Witz. Das sage ich Ihnen
ganz klar.
({10})
- An dieser Stelle, Herr Kollege, wäre es richtig, vor
Ort, also dezentral, Veranstaltungen durchzuführen und
zu kommunizieren, was Sie zu tun gedenken, und nicht
von oben herab zu verkünden, was jetzt stattfinden soll.
Aber das finde ich in Ihren Planungen nicht.
Es wird am Ende so sein, dass Sie das Ganze hier
schnell durchpeitschen. Aber dann haben Sie tatsächlich
an vielen Stellen Menschen gegen sich, dann wird es
schwierig mit der Umsetzung, und dann jammern Sie
wieder über die Bürgerinitiativen und wahrscheinlich
über die Opposition, die das Ganze angeblich weltverschwörungsmäßig zu verhindern versucht. Das ist Ihre
Politik, und die wird am Ende, glaube ich, scheitern.
({11})
Zum Schluss will ich nur eines sagen: Dieser Netzentwicklungsplan beinhaltet etwas Positives, etwas, was vor
zwei Jahren noch unvorstellbar war. Da haben wir HGÜTrassen durch Deutschland gefordert, um den Strom
schnell transportieren zu können. Damals haben uns die
Netzbetreiber und die Regierung gesagt: Das geht gar
nicht. Jetzt auf einmal ist das machbar. Das ist ein Erfolg, und das ist vor allen Dingen ein Tiefschlag für die
Verantwortlichen der dena-Netzstudie II, mit der Sie uns
hier im Zusammenhang mit dem Netzausbau immer wieder traktiert haben. Dies zeigt, dass das, worauf Sie sich
bisher berufen haben, nicht das Papier wert ist, auf dem
es steht. Wenn wir den Netzausbau voranbringen wollen,
dann werden wir hier klare Prioritäten setzen und uns
vor allen Dingen für HGÜ-Trassen entscheiden müssen.
Sie haben diese Trassen bisher immer bekämpft, während wir sie mit vorangebracht haben. Mit der Politik,
die Sie hier begonnen haben, wird es, fürchte ich, im
Endeffekt nichts werden.
Danke schön.
({12})
Vielen Dank, Kollege Krischer. - Nächster Redner in
unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege Dr. Georg Nüßlein.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Man
muss sich schon einmal die Frage stellen, wem es hier
eigentlich um die Sache und wem es um die Frage der
parteipolitischen Profilierung geht.
({0})
Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, ein so wichtiges
Thema wie dieses, bei dem es wirklich um den Flaschenhals unserer Energiewende geht - bisher habe ich gemeint, wir alle miteinander wollen sie -, einen derart
scheinheiligen Parteienstreit vom Zaun zu brechen und
so zu tun, als ob man dem politischen Gegner Zeitverzug
und Ähnliches vorhalten könnte, und das auch noch,
Kollege Krischer, in einer so offenkundig platten Art.
Ich kann doch nicht auf der einen Seite sagen: „Sie
sind zu spät; das geht zu langsam“, und mich auf der anderen Seite hinstellen und sagen: „Ja, wir wissen schon;
Sie wollen es am Ende durchpeitschen.“ - Was wollen
wir denn jetzt? Es wäre schön, wenn Sie einmal sagen
würden, was Sie sich an dieser Stelle vorstellen. Ich
glaube, wir sind an dieser Stelle auf einem sehr guten,
sehr soliden Weg. Wir haben einen Netzentwicklungsplan. Dem ging keine staatliche Planwirtschaft voraus,
kein Oktroi von oben; vielmehr wurde miteinander etwas entwickelt. Es wurden drei Szenarien aufgezeigt;
man hat verschiedene Ausbaualternativen skizziert. Auf
dieser Basis ist man im Rahmen einer Konsultation mit
der Bundesnetzagentur zu dem Punkt gekommen, dass
man gesagt hat: So wollen wir das Ganze ausbauen.
({1})
Ich habe nicht vernommen, dass uns das im Raum stehende Maximum an Investitionskosten, 27 Milliarden
Euro, irgendwie verleiten könnte, zu sagen „Das wird zu
teuer“ oder: „Das geht nicht.“ Es handelt sich um eine
Planung; da sind Schlussfolgerungen unangemessen.
Das, was der Kollege Krischer vorhin abgeleitet hat, ist
ganz seltsam. Er sagte, der Bundeswirtschaftsminister
sei aufgrund der Kosten dagegen, die Energiewende fortzuführen. Das ist eine unglaubliche Unterstellung, und er
wird der Sache so nicht gerecht.
Man wird in diesem Rahmen deutlich die Notwendigkeiten ausloten und feststellen müssen, wie viel Geld
man braucht. Ja, in der Tat gibt es Maßnahmen, um die
Strecken, die jetzt in Planung sind, zu reduzieren, um dafür Sorge zu tragen, dass das Ganze kostengünstiger
wird. Warum denn auch nicht? Herr Kollege Duin, wir
werden die Frage klären: Wer wird das am Schluss machen? Ich als Ökonom sage Ihnen ganz offen: Ich halte
sehr viel davon, die deutschen Übertragungsnetze in einer unabhängigen Netzgesellschaft zusammenzuführen.
So steht es übrigens auch in unserem Koalitionsvertrag.
({2})
Ich halte sehr viel davon, zumindest die neuen Netze,
mit denen wir in der Tat Probleme bekommen könnten,
im Rahmen einer solchen Gesellschaft aufzubauen. Es
spricht gar nichts dagegen, in diesem Rahmen beispielsweise die HGÜ auszubauen und die Frage zu klären, wer
was macht.
Nun sind da aber mehr Akteure als nur die Netzbetreiber betroffen. Ich habe die Bundesnetzagentur schon angesprochen und möchte betonen, dass wir auch da, Herr
Wirtschaftsminister, noch einmal über die Frage der investitionsorientierten Regulierung diskutieren müssen.
Die Bundesnetzagentur braucht natürlich noch eine klarere Definition von unserer Seite, was wir damit meinen.
Das heißt, dass wir andere Voraussetzungen insbesondere für den Ausbau der Verteilnetze schaffen müssen,
sodass dieser letztendlich auch geschieht.
Ich möchte abschließend noch einmal ganz klar an die
Politik appellieren. Der Appell an die Bundesländer, den
ich hier gehört habe, war richtig. Man kann hier aber
nicht einseitig nach Farben aufteilen, sondern
({3})
- da gebe ich Ihnen recht - da sitzen alle in einem Boot.
({4})
Alle müssen sich überlegen, wie sie mit dieser Frage
umgehen und wie sie die Energiewende beschleunigen
können.
({5})
Da gehören natürlich die rot-grün regierten Länder genauso dazu.
Ich bitte Sie noch einmal ganz deutlich: Hören Sie
auf, Zeithorizonte auszumalen, von denen Sie genau
wissen, dass sie nicht realistisch sind. Man kann hier
doch nicht auf der einen Seite sagen, alles müsse noch
schneller gehen, es gehe nicht schnell genug, und auf der
anderen Seite noch mehr Bürgerbeteiligung und weiß
Gott noch was fordern.
({6})
Sie müssten vielmehr über Ihren Schatten springen
und sagen, was Sie tun wollen, um die Verfahren zu beschleunigen. Ich glaube nicht, dass das mit mehr Instanzen und noch mehr Bürgerbeteiligung, als in Deutschland ohnehin schon institutionalisiert ist, geht, sondern
ich bin der Überzeugung, dass dieselben Maßstäbe gelten müssen, die damals bei dem Infrastrukturausbau im
Zusammenhang mit der deutschen Einheit zu Recht galten.
({7})
Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum diese nicht
auch die Maßstäbe bei diesem für diese Republik wirtschaftspolitisch so wichtigen Projekt sein sollten. Ich
bitte da um ein bisschen Unterstützung und Großmut
vonseiten der Opposition.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. - Nächster Redner
ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Rolf Hempelmann. Bitte schön, Kollege Rolf Hempelmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! „Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der Energiewende“ - das klingt so, als müsste jemand sich selbst loben, weil er von niemand anderem
mehr gelobt wird. Dafür, muss ich ganz ehrlich sagen,
habe ich eine Menge Verständnis.
Wir hatten in dieser Woche den EU-Kommissar
Oettinger - übrigens immer noch eingeschriebenes Mitglied der CDU - im Wirtschaftsausschuss zu Gast. Sein
Zeugnis über das, was Sie Energiewende nennen, klang
doch ein bisschen anders als das, was aus dem Titel dieser heutigen Veranstaltung herausklingt.
({0})
Er sprach sehr deutlich von einer komplett fehlenden
Koordination der Energiepolitik sowohl innerhalb der
Bundesregierung als auch zwischen Bund und Ländern.
Er beklagte ganz ausdrücklich das energiepolitische
Chaos von 16 Bundesländern, das eben nicht bundespolitisch koordiniert wird. Er beklagte den deutschen Alleingang in Europa und die Verstimmung, die Sie bei den
europäischen Nachbarn ausgelöst haben. Er beklagte das
ambitionslose Vorgehen der Koalition und dieser Bundesregierung beim Thema Energieeffizienz und Energieeinsparung; das sind mit Sicherheit gerade im Rahmen
einer Energiewende zentrale Herausforderungen. Außerdem beklagte er die fehlende Abstimmung Ihrer Einzelmaßnahmen, das fehlende Gesamtkonzept.
Wenn Sie heute einen Netzentwicklungsplan vorstellen, dann ist das im Grundsatz ein richtiger Schritt. Aber
wir - und nicht nur wir, sondern offenbar auch der Energiekommissar in Brüssel - erkennen nicht, dass dieser
Netzentwicklungsplan in ein Gesamtkonzept eingebettet
ist. Sie haben ja auch keines. Wie sollte er dann darin
eingebettet sein?
In einem Gesamtkonzept würde sehr deutlich werden,
wie viel Netzausbau wir brauchen, wie viel wir auf der
Verteilnetzebene und auf der Übertragungsnetzebene
machen können, was wir mit dem intelligenten Ausbau
der Netze erreichen können und was wir erreichen können, indem wir bei dem Speicherausbau oder auch bei
dem Lastmanagement vorankommen, also bei dem Abrufen von Flexibilitäten auf der Nachfrageseite, sowohl
privat als auch in der Industrie.
In einem solchen abgestimmten Gesamtkonzept hat
dann ein Netzentwicklungsplan einen Platz. Sie liefern
einen isolierten, von diesen Fragen völlig losgelösten
Plan, der wahrscheinlich schon deswegen zukünftig immer wieder einer Überarbeitung bedarf.
({1})
Die beiden Herren haben offenbar privaten Diskursbedarf.
({2})
Das muss ja nicht schlecht sein; das kann uns vielleicht
auch weiterhelfen.
Sie haben gesagt, dass Sie das alles so wunderbar mit
den Ländern abgestimmt haben. Dazu muss man heute
nur einmal in die Zeitungen schauen. Da stellt man fest,
dass Herr Rösler beispielsweise Vorgaben für den Naturund Vogelschutz außer Kraft setzen will, an die FloraFauna-Habitat-Richtlinie heranwill. Gleichzeitig äußert
sich der energiepolitische Sprecher der CDU im Landtag
Thüringen wie folgt:
Schutzgüter wie Fauna und Flora und das Landschaftsbild dürfen bei der Abwägung nicht permanent ins Hintertreffen geraten.
So viel zu Ihrer Abstimmung zwischen Bund und Ländern, so viel auch zur Einigkeit in der Koalition.
Sie werfen anderen vor, Projekte zu behindern. In
Wirklichkeit ist es so, wie Kollege Krischer gerade
schon gesagt hat, dass Sie nicht in der Lage sind, bei Ihrem Projekt Ihre eigenen Leute mitzunehmen.
({3})
Das, was wir vor uns haben, meine Damen und Herren, ist hochkomplex. Wir haben zehn Jahre verloren,
({4})
weil Sie der Fantasie einer Laufzeitverlängerung nachgehangen haben. Wir müssen jetzt alles gleichzeitig und
in sehr viel kürzerer Zeit schaffen. Denken Sie daran:
Der NEP, der Netzentwicklungsplan, ist ein Plan. Denken Sie daran: Es gibt im Energieleitungsausbaugesetz
Trassen, die einer Vollendung bedürfen. Wenn wir uns
die Realität und nicht nur Ihren Plan anschauen, dann
stellen wir fest: Von den 900 Kilometern sind 200 Kilometer realisiert. Wir brauchen aber die Pilotprojekte,
weil wir von denen lernen wollen, weil wir für die weiteren Trassen die Erfahrungen brauchen, zum Beispiel
dazu, wie es sich mit den unterirdischen Kabellösungen
auf längeren Strecken verhält und welche technologischen Vorkehrungen wir dort zu treffen haben.
Es ist einiges zu den Herausforderungen im Bereich
der Regulierung und der Finanzierung der Netze gesagt
worden; ich will das nicht wiederholen, sondern nur
deutlich machen: Viele Fragen haben Sie heute unbeantwortet gelassen, so wie wir das von Ihnen gewöhnt sind.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Rolf Hempelmann. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der FDP unser Kollege Klaus Breil. Bitte schön, Kollege
Klaus Breil.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Ende Mai ist der Netzentwicklungsplan unter
www.netzentwicklungsplan.de veröffentlicht.
({0})
Dieser Netzentwicklungsplan ist ein bedeutender Schritt
für die Energiewende.
({1})
Herr Kollege Hempelmann, ich weiß nicht, ob Sie auch
mit der Industrie reden; ich jedenfalls tue das sehr intensiv
({2})
und erfahre da sehr viel Zustimmung.
({3})
Ich möchte Sie alle noch einmal daran erinnern, dass
es sich hier um eine gigantische Aufgabe handelt. Bis
2022 werden wir alle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet haben.
({4})
Bis dahin werden wir 35 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien produzieren. 2050 soll dieser Anteil bei 80 Prozent sein.
Alle diese neuen Anlagen entstehen keineswegs nur
an ehemaligen Kraftwerksstandorten. Viele neue Einspeisepunkte verändern die Anforderungen an unsere
Energieinfrastruktur. Das Stromnetz war ursprünglich
für wenige große Stromerzeugungsanlagen konzipiert.
Jetzt muss ein flexibles und leistungsfähigeres Stromnetz her, und zwar mit Hochdruck. Ich glaube und hoffe,
dass Sie erkennen, dass es sich hier um eine gigantische
Aufgabe handelt.
Im letzten Jahr haben wir den Übertragungsnetzbetreibern deshalb mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes einen Auftrag erteilt. Bereits jetzt haben
die Übertragungsnetzbetreiber geliefert. Das Ergebnis
kann sich sehen lassen. Mit dem Entwurf des Netzentwicklungsplans legen sie den für die nächsten zehn Jahre
benötigten Netzausbaubedarf dar.
Vier Szenarien geben uns einen Überblick über das,
was auf uns zukommt, wohin wir wollen, und wofür wir
uns einsetzen. Ein funktionierendes Stromnetz ist Garant
für Versorgungssicherheit und Netzstabilität sowie für
das Funktionieren des Industriestandorts Deutschland.
Wie beim Kraftwerksbau oder den Kosten für Energie
ist auch beim Netzausbau eines besonders wichtig: Wir
dürfen die Akzeptanz nicht aus den Augen verlieren. Daher gilt bei der Arbeit am Netzentwicklungsplan: Optimierung und Verstärkung des Netzes geht vor Neubau
von Leitungen. Das spart Geld und verringert die Reibungsverluste vor Ort durch Widerstände von Bürgerinnen und Bürgern. Auch damit müssen wir bei dieser
Mammutaufgabe rechnen. Deshalb müssen wir die Bürger mitnehmen und sie einladen, mitzumachen.
Auf der genannten Internetseite können sich Bürgerinnen und Bürger, Kommunen und Verbände unter dem
Titel „Neue Netze für neue Energien“ bis zum 10. Juli zu
den veröffentlichten Eckpunkten der Stromnetzausbauplanung äußern. Bis gestern sind 120 Stellungnahmen
eingegangen. Das ist für den Anfang ein respektabler
Zwischenstand.
({5})
- Kollege Krischer, welchen Vorschlag hätten Sie zu machen? Sie bemängeln Dinge, aber Sie machen keinen
Vorschlag. Sie nennen keine Zahlen. Wir haben Sie
mehrfach gefragt. Sie kritisieren nur, machen aber keine
konkreten Vorschläge.
({6})
Wir ermuntern die Bürgerinnen und Bürger, diese
Chance noch mehr zu nutzen. Auch an dieser Stelle
möchte ich das betonen.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, diese
Idee der christlich-liberalen Regierung ist bisher einmalig in der Energiepolitik. Der Netzentwicklungsplan ist
ein Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen und
nachhaltigen Energieinfrastruktur.
({7})
In ähnlicher Form kennen wir das aus der Verkehrspolitik: Der erste Bundesverkehrswegeplan stammt bereits
aus dem Jahr 1973.
({8})
In der Energiewirtschaft hat sich bisher noch niemand
da herangetraut. Doch jetzt endlich, im Jahr 2012, zieht
Schwarz-Gelb beim Stromnetzausbau nach.
({9})
Ende Oktober erhalten wir nach Überprüfung durch
Wissenschaft und Bundesnetzagentur eine Empfehlung
für einen Bundesbedarfsplan. Das heißt: Noch in diesem
Jahr werden wir uns in diesem Haus sehr konkret mit
dem Verlauf der Stromtrassen beschäftigen. Im Winter
werden wir den notwendigen Netzausbau in einem Gesetz festlegen. Damit werden konkrete Trassen justiziabel, also auch gerichtlich durchsetzbar. Umso wichtiger
ist es daher, sich jetzt einzubringen, Herr Krischer. Die
Übertragungsnetzbetreiber laden jetzt dazu ein; die Bundesnetzagentur in ein paar Wochen. Dafür werden wir
dann beschlossene Leitungsneubauprojekte besser und
schneller umsetzen. Das ist vorbildliche Bürgerbeteiligung.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Klaus Breil. - Nächster Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Thomas Bareiß. Bitte schön,
Kollege Thomas Bareiß.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Lieber Kollege Duin, Sie haben Ihre Rede mit
der Verwunderung über die jetzige Debatte, unsere Aktuelle Stunde, eingeleitet. Mich erstaunt es nicht, dass
Sie verwundert sind. Sie haben in den letzten Monaten
eine Debatte über das Ausstiegsszenario geführt.
({0})
Wir aber sprechen nicht über den Ausstieg, sondern über
den Einstieg.
({1})
Wir müssen über den Einstieg sprechen, damit wir eine
Energiewende vollziehen können. Deshalb ist diese Debatte auch so wichtig.
({2})
Ich bin dankbar dafür, dass wir diese Debatte führen und
zeigen können, welche Konzepte Schwarz-Gelb hat.
({3})
Wir haben in den letzten Monaten die Energiewende
Schritt für Schritt vorangetrieben. Wir haben die Projekte, die notwendig sind, vorangebracht. Wir haben
schon vor drei Jahren mit dem EnLAG gezeigt, dass wir
das Thema Leitungsausbau für wichtig erachten.
({4})
Wir haben 24 konkrete Projekte genannt und gehen mit
diesen Projekten Schritt für Schritt voran. Wir haben vor
einem Jahr das Energiewirtschaftsgesetz mit einer großen Novelle vorangebracht. Wir haben dafür gesorgt,
dass wir trotz schnellen Zubaus von erneuerbaren Energien eine gewisse Netzstabilität erhalten und garantieren
können. Wir haben vor einem Jahr das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das NABEG, auf den Weg
gebracht; der Minister hat es vorhin ausgeführt. Jetzt wiederum bringen wir auf seiner Basis den Netzentwicklungsplan voran und setzen damit einen weiteren Meilenstein im Rahmen unserer Energiewende. Wir schaffen
es damit auch, einen Fehler von Rot-Grün beim damaligen Kernenergieausstieg auszubügeln.
Mit dem jetzigen Gesetz versuchen wir, ein Stück
weit den Zubau von erneuerbaren Energien mit der Infrastruktur und mit dem Netzausbau zu synchronisieren.
Das gilt in einem nächsten Schritt auch für den Speicherausbau, der ebenfalls dazugehört. Das ist nur eine von
zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen beides im Auge
behalten, und mit dem jetzigen Netzentwicklungsplan
wird uns das gelingen.
({5})
Damit können wir in den nächsten Jahren verhindern,
dass wir Windstrom, den wir teilweise schon jetzt abregeln müssen, nicht nutzen können, weil es nicht genügend Infrastruktur gibt und weil die Netze nicht vorhanden sind. Wir benötigen Stromautobahnen, um den
Strom abfließen zu lassen; nur so schaffen wir es, die
Windströme aufzufangen und im Netz zu integrieren.
Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass der Strom in
Deutschland nach wie vor bezahlbar bleibt. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt. Die Energiewende wird nur dann
gelingen, wenn wir den Menschen zeigen, dass wir das
Ganze richtig angehen und dass Strom bezahlbar bleibt.
Auch deshalb ist der Ansatz, den wir heute diskutieren,
so wichtig. Daran müssen wir weiter festhalten.
Wir müssen es schaffen, dort in erneuerbare Energien
zu investieren, wo sie am sinnvollsten und am wirtschaftlichsten sind. Herr Krischer, Sie sagen, die Energieversorgung der Zukunft werde komplett dezentral
sein. Sie irren sich. Die Energieversorgung wird teilweise dezentral sein, aber in vielen Bereichen wird sie
auch sehr zentral sein. Denn in der Zukunft müssen wir
die Windräder dort aufbauen, wo am meisten Wind vorhanden ist und wo der Windstrom am kostengünstigsten
produziert werden kann.
({6})
Deshalb wird die Gewinnung des Windstroms in den
nächsten Jahren im Norden unseres Landes dramatisch
aufgebaut werden, und deshalb brauchen wir die Stromautobahnen vom Norden in den Süden. Sie irren in Ihrer
Annahme; denn wir brauchen diese Leitungen dringend.
In den nächsten Jahren werden wir erleben, dass der Abstand zwischen Produzent und Verbraucher im Bereich
der Infrastruktur in vielen Bereichen nicht abnehmen,
sondern eher zunehmen wird.
Daher ist es dringend notwendig, diese Stromautobahnen zu bauen. In den nächsten zehn Jahren benötigen
wir 3 800 Kilometer Leitungen. Darüber hinaus haben
wir noch EnLAG-Projekte fertigzustellen; das betrifft
900 Kilometer Leitungen. Das heißt: In den nächsten
zehn Jahren benötigen wir 4 700 Kilometer Stromautobahn; wir müssten also jeden Werktag 2 Kilometer Leitungen bauen. Wenn man sich die bisherige Geschwindigkeit - inklusive der Altlasten von Rot-Grün - von bis
zu 14 Tagen Bauzeit für 2 Kilometer Leitungen vergegenwärtigt, dann erkennt man: Wir haben noch ein ordentliches Stück Wegstrecke vor uns, um unser Ziel tatsächlich zu erreichen.
Mein letzter Punkt. Wir können viel über Rahmenbedingungen oder technische Stellschrauben diskutieren.
Ob die Leitungen dann tatsächlich gebaut werden können, hängt damit zusammen, ob wir vor Ort die notwendige Akzeptanz erhalten. Für unsere politische Führung
bedeutet es eine Mammutaufgabe, vor Ort dafür zu sorgen, dass die Kommunen in dieser Frage mitziehen. Die
zu bauenden 4 700 Kilometer Leitungen müssen vor Ort
entsprechende Akzeptanz finden. In dem Zusammenhang habe ich, wie meine Vorredner, oft die Erfahrung
gemacht, dass diejenigen, die hier die großen Sprüche
bezüglich des Ausbaus der Erneuerbaren klopfen, vor
Ort wiederum die Durchsetzung der Projekte verhindern.
({7})
Deshalb kann ich Sie nur immer wieder auffordern:
Machen Sie von Rot-Grün mit bei unserer Energiewende. Sorgen Sie mit dafür, dass in Deutschland die
entsprechende Infrastruktur gebaut und so in unsere Zukunft investiert wird.
Herzlichen Dank.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Ulrich
Kelber für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Praktisch alle Vorrednerinnen und Vorredner haben
zu Recht auf den hohen Zeitdruck bei der Netzmodernisierung hingewiesen. In diesem Zusammenhang ist es
interessant, zu überlegen, wodurch der Zeitdruck entstanden ist.
Es ist ziemlich genau sechs Jahre her, da haben in einem Raum gut 50 Meter von hier, auf der gleichen
Ebene des Reichstagsgebäudes, die Koalitionäre von
CDU/CSU und SPD zusammengesessen. Herr Pfeiffer,
ich weiß nicht, ob Sie damals ebenfalls in diesem Raum
waren. Bundesumweltminister Gabriel schlug vor, dass
wir in Deutschland Leitungen zur HochspannungsGleichstrom-Übertragung, gerade von den meisten mit
HGÜ abgekürzt, also Stromautobahnen bauen sollten.
Daraufhin lachte der Koalitionspartner der CDU/CSU:
Ihm sei von den Energiekonzernen gesagt worden, so etwas bräuchte man in Deutschland nicht;
({0})
man wolle das nicht in die Arbeit der Koalition aufnehmen. Was, glauben Sie, habe ich gedacht, als ich den
neuen Netzentwicklungsplan bekommen habe, dessen
Kern der Bau von vier Stromautobahnen ist?
({1})
Man sollte auch darüber sprechen, was da passiert ist.
Ich habe zu diesem Netzentwicklungsplan auch Fragen. Erstens: Wir brauchen Kostentransparenz. Wir haben jetzt gelesen, dass über einen Zeitraum von zehn
Jahren Kosten in Höhe von 20 Milliarden Euro anfallen.
Ich frage auch die Übertragungsnetzbetreiber: Wie viele
dieser Investitionen sind denn ohnehin notwendige Ersatzinvestitionen bei einem 35 Jahre alten Netz? Ich bin
nicht bereit, zu akzeptieren, dass man jede Ersatzinvestition, die man in den 90er-Jahren und den frühen Jahren
des vergangenen Jahrzehnts unterlassen hat, jetzt den erneuerbaren Energien zuschiebt, nachdem man damals
die großen Gewinne gemacht hat.
({2})
Auch dazu gehört Ehrlichkeit. Wer gestern beim Frühstück der Übertragungsnetzbetreiber dabei war, hat mitbekommen, dass auf meine Nachfrage hin zugestanden
wurde, dass man nicht zwischen solchen notwendigen
Ersatzinvestitionen und dem Zubau, den die Erneuerbaren notwendig machen, differenziert hat. Es bleibt dabei:
Nach 1999, nach der Liberalisierung, sind die Netzinvestitionen halbiert worden. Was wir jetzt benötigen, ist in
etwa die Investition, wie sie die Volkswirtschaft der
Bundesrepublik Deutschland in den 70er-Jahren bereits
einmal gestemmt hat, für eine sichere Energieversorgung.
Nehmen wir die Ersatzinvestitionen heraus und verwenden wir die Zahlen, die laut Netzentwicklungsplan
ohne das sogenannte Startnetz entstehen, unterhalten wir
uns in Deutschland über eine jährliche Abschreibungsrate - es sind ja immerhin Investitionen, die für 40 Jahre
getätigt werden - von 250 bis 375 Millionen Euro.
50 Hertz, einer der vier Übertragungsnetzbetreiber, hat
gesagt: Durch diese Investition werden allein in Thüringen Kosten für den Netzbetrieb in Höhe von 130 Millionen Euro im Jahr eingespart. Es gibt weitere Regionen in
Deutschland, in denen damit Kosten eingespart werden.
Auch diese Nettorechnung sollten wir aufmachen.
Ich erwarte eine differenzierte Betrachtung auch der
Bundesnetzagentur dazu, ob wir mit einem dezentraleren
Ausbau an bestimmten Stellen auch noch Kosten einsparen
können. Es geht am Ende darum, die Systemkosten zu
optimieren, und es wäre Aufgabe der Ministerien, nicht
immer nur Einzelbetrachtungen vorzunehmen, nicht nur
zu sagen: Jetzt versuchen wir, bei den Netzkosten herunterzukommen; jetzt versuchen wir es mit dieser Fördergeschichte; jetzt geben wir hier einen Zuschuss. - Am
Ende müssen die Systemkosten auf dem Weg zu
100 Prozent erneuerbaren Energien optimal sein.
({3})
Ich habe in den letzten Wochen die geschätzten Kollegen von der FDP- und der CDU/CSU-Fraktion - Breil,
Pfeiffer, Bareiß - genauso wie den Minister Rösler gehört, die gesagt haben: Man muss den Ausbau der Erneuerbaren an die Netzentwicklung anpassen. Was ich
vermisst habe, ist die Frage: Muss man nicht die gesamte
Energieversorgung und die Netzentwicklung einander
anpassen? Da hat keiner davon gesprochen, dass man
den Neubau von fossilen Kraftwerken an der Küste, der
dort stattfindet, weil die Gasanlandung und die Kohleanlandung etwas preisgünstiger als im Südwesten der Republik sind, verbieten sollte. Die Kraftwerke nutzen aber
die gleichen Netze, Herr Kollege Breil. Sie wollen also
die Netze mit fossiler Energie verstopfen und dann sagen: Für die Erneuerbaren brauchen wir jetzt noch mehr,
und das ist viel zu teuer.
({4})
Das sind die Fragen zum Netzentwicklungsplan, die
man auch stellen kann. Aber wer die Äußerungen der
Übertragungsnetzbetreiber verfolgt hat, wer weiß, dass
es um 250 bis 375 Millionen Euro pro Jahr geht, der
weiß eines: Dieser Netzentwicklungsplan liefert kein Argument gegen 100 Prozent erneuerbare Energien. Wir
wissen, dass es auch mit fossilen Energien immer teurer
würde: Ersatzinvestitionen in Kraftwerke, Ersatzinvestitionen in Netze müssten auch dann stattfinden, weil alles
veraltet ist. Dieser Netzentwicklungsplan zeigt: 100 Prozent Erneuerbare dezentral sind machbar, bezahlbar und
ökonomisch sinnvoll.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Ulrich Kelber [SPD], an den Abg. Dr. Joachim
Pfeiffer [CDU/CSU] gewandt: Kollege Pfeiffer,
Sie erinnern sich noch genau an die Besprechung mit der HGÜ! - Gegenruf des Abg.
Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ach,
schwätzt doch keinen Scheiß aus! Wirklich! Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber ({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kelber, wenn Sie sich einmal kurz zu mir richten
könnten: Das Problem ist doch vielmehr, dass wir insgesamt ein Problem mit den verschiedenen Ländern haben.
Das ist das Entscheidende. Das sage ich auch Herrn
Krischer und all den anderen, die jetzt erklären: Ihr habt
doch mit eurer schwarz-gelben Bundesregierung - - Das
spielt keine Rolle. Die verschiedenen Landesregierungen haben immer etwas andere Interessen, als wir sie auf
Bundesebene haben. Deswegen sollten wir doch gemeinsam so ehrlich sein, festzustellen, dass eine gemeinsame Entwicklung der Netze und eine gemeinsame
Energiepolitik unser gemeinsames Ziel sein sollten und
wir deswegen in der Opposition genauso wie in der Koalition dafür sorgen müssen, dass wir unsere Länder
dazu bewegen, es gemeinsam hinzubekommen. Da hilft
es nicht, zu erklären: Ihr habt die gleichen Probleme. Ich
würde gerne darauf verzichten, dass wir uns in Bezug
auf die Vergangenheit gegenseitig den Schwarzen Peter
zuschieben. Vielmehr sollten wir uns endlich um die Zukunft kümmern und darum, dass es vorangeht.
({0})
- Herr Kelber, schauen wir uns doch einmal an, was Sie
gemacht haben. Solange Sie an der Regierung waren, ist
doch gar nichts passiert.
({1})
Sich zu beschweren, dass es so langsam geht, und herumzumeckern, ist wirklich lächerlich. Bleiben wir doch
bei den Fakten, das gilt auch für Sie. Sie haben kein
Netzausbaubeschleunigungsgesetz vorgelegt. Auch in anderen Bereichen waren Sie untätig.
({2})
Ich bin der Meinung, dass es jetzt vorwärtsgehen muss.
Wir müssen das gemeinsam schaffen. Ich glaube auch,
dass es gelingen kann.
Die Hochspannungsleitungen, also die 380-kV-Leitungen, werden wir auf jeden Fall brauchen. Es nützt
nichts, darüber nachzudenken, ob wir dezentral produzieren sollten, weil klar ist, dass gerade der Offshoreund der Onshorewindbereich im Nordosten in den
nächsten Jahren zunehmen wird. Das ist doch unser gemeinsames politisches Ziel. Gleichzeitig wissen wir,
dass wir im Süden und im Südwesten an der Rheinschiene den meisten Strom brauchen. Darum müssen wir
uns kümmern.
Die Maßnahmen hätten von Anbeginn parallel laufen
müssen. Es ging von vornherein nicht um die Frage, ob
man erneuerbare Energie fördern soll, sondern darum, zu
klären, ob man die gesamte Stromversorgung statt auf
zentralen auf dezentralen Kraftwerken aufbauen will;
denn wenn ich eine dezentrale Versorgung will, dann
muss ich dafür sorgen, dass die Infrastruktur rechtzeitig
zur Verfügung steht. In der Vergangenheit wurde für
manche Netze bis zu 20 Jahre gebraucht. Eine Photovoltaikanlage kann innerhalb weniger Stunden auf dem
Dach installiert werden, falls die nächste Kürzung ins
Haus stehen sollte. All das zeigt, dass man frühzeitig mit
dem Ausbau der Netze beginnen muss;
({3})
hier hinken wir hinterher. Leider wurde das von allen
Vorgängerregierungen versäumt. Inzwischen sind wir
uns alle einig, dass es jetzt schneller gehen muss.
Wir müssen den Netzausbau beschleunigen. Natürlich
wissen wir, dass die Menschen vor Ort Probleme haben,
wenn hinter ihrem Grundstück eine Großleitung verlegt
werden soll, die den Wert des Grundstücks reduzieren
wird. Ihnen ist dann auch egal, wer welches Parteibuch
hat. Die Probleme sind grundsätzlicher Art. Deswegen
wird es wichtig sein, dass wir die Menschen frühzeitig
einbeziehen. Stuttgart 21 beispielsweise hat bewiesen,
dass es nicht unbedingt ein Vorteil ist, wenn man lange
über ein Thema debattiert, sondern dass es sogar kontraproduktiv sein kann. Wenn ich 10 oder 15 Jahre über die
gleiche Infrastrukturmaßnahme debattiere, dann hat das
zur Folge, dass irgendwann einmal die Akzeptanz in der
Bevölkerung sinkt. Darum bin ich der Meinung, dass wir
die Menschen sehr viel früher als in der Vergangenheit
einbeziehen müssen, wir müssen allerdings auch schneller Entscheidungen treffen. Das wird dazu führen, dass
wir schneller handeln können als in der Vergangenheit.
Das bedeutet natürlich auch, dass man den Instanzenweg
nicht ausweitet, sondern verkürzt. Das ist die andere
Seite der Medaille. Wenn man das will, dann muss man
offen damit umgehen und die Probleme benennen. Will
man das nicht, dann muss man eine Alternative aufzeigen, wie man den Netzausbau sonst noch beschleunigen
kann. Dazu habe ich von Ihnen leider noch keine Antwort gehört. Ich würde mich freuen, etwas darüber zu
hören.
Wir müssen uns nicht nur über die Hochspannungsnetze Gedanken machen, sondern auch über Niederspannungs- und Verteilnetze vor Ort. In diesem Zusammenhang gehört es zur Wahrheit dazu, zuzugeben, dass wir
grundsätzlich die Debatte über die Einspeisung von erneuerbaren, volatilen Energien anders führen müssen.
Das heißt für mich nicht, dass wir das EEG abschaffen
müssen, sondern das heißt, dass wir das EEG schneller
beenden als in der Vergangenheit vorgesehen, und zwar
ohne dass wir das System durch ein anderes ersetzen,
sondern indem man sagt: Die Menschen müssen weniger
einspeisen - übrigens nicht weniger produzieren - und
gleichzeitig mehr selber verbrauchen. Wenn uns das gelingt, dann sparen wir zumindest im Verteilungsbereich
an den Netzausbaukosten, und zwar riesige Summen.
Wenn man bedenkt, was wir in den letzten Jahren für
die erneuerbaren Energien ausgegeben haben, dann sieht
man, dass wir so nicht weitermachen können. Hier im
Bundestag sollte es Common Sense sein, dass wir die
Summe von 150 Milliarden Euro - wir haben uns 2011
verpflichtet, im Bereich erneuerbare Energien so viel zu
investieren - nicht einfach so fortlaufend erhöhen können.
({4})
- Oder sogar bis 185 Milliarden Euro, Hans-Josef Fell.
Das hängt davon ab, wie es weitergeht. Mittlerweile sind
wir vielleicht auch schon bei 200 Milliarden Euro. Es
spielt keine Rolle.
({5})
Wir müssen dafür sorgen, dass diese Summe in Zukunft
deutlich weniger wird. Das wird uns gelingen, wenn die
Menschen weniger Einspeisevergütung erhalten, als sie
selber für Strom bezahlen; denn dann lohnt es sich natürlich, den Strom selbst zu verbrauchen. Da müssen wir
hinkommen. Hier brauchen wir Unterstützung.
Für die Menschen soll der Anreiz geschaffen werden,
den Anteil am Eigenverbrauch zu erhöhen, nicht 0 bis
20 Prozent, sondern vielleicht auf bis zu 50 Prozent.
Wenn sie einen höheren Eigenverbrauch haben, erhalten
sie einen höheren Einspeisesatz. Wenn sie mehr als
50 Prozent einspeisen wollen, könnten wir die Vergütung senken. All das schafft Anreize, das Netz zu entlasten und den Strom dezentral zu verbrauchen. Es müssen
Anreize dafür geschaffen werden, dass die Leute, die
Strom produzieren, ihn endlich auch verbrauchen und
ihn nicht nur zur Verfügung stellen.
({6})
- Hören Sie doch einmal zu. Dann kommen wir vielleicht endlich mal vorwärts. Dieser ständige Protest
- nein, nein, nein! - und die Forderung, die Förderung
nicht so stark zu kürzen, wird uns keinen Zentimeter
weiterbringen.
({7})
Deswegen sinkt doch die Akzeptanz in der Bevölkerung.
Der Grund, warum wir Geld zum Fenster hinausschmeißen, ist doch, dass keiner von Ihnen bereit ist, nach links
und rechts zu schauen, solange die Lobbyisten aus der
Photovoltaikindustrie Nein sagen.
({8})
Das ist genau das Problem. Ihr müsst innovativer werden. Ihr müsst euch zum Beispiel überlegen, wie man es
schafft, dass diejenigen, die volatilen Strom produzieren,
sich jemanden für das Back-up suchen, zum Beispiel
einen Biogaskraftwerks-, einen Wasserkraftwerks- oder
einen Gaskraftwerksbetreiber. Nichts dergleichen kommt
von Ihrer Seite. Wenn es die richtigen Innovationen gibt,
dann geht es, glaube ich, voran.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Herr Präsident, liebe Kollegen, herzlichen Dank für
die Aufmerksamkeit. Ich merke, es gibt auch hier noch
Investitionsbedarf. Sie sollten ein bisschen Herzblut und
Hirnschmalz investieren.
({0})
Wenn wir das gemeinsam aufbringen, dann können wir,
glaube ich, das Problem lösen.
Vielen Dank.
({1})
Letzter Redner in der Debatte ist Jens Koeppen für
die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist heutzutage kein Problem mehr,
Strom aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Die
Herausforderung besteht darin, ihn an die richtige Stelle
zu bekommen bzw. ihn dort zu produzieren, wo man ihn
braucht. Deswegen ist eine gute Netzinfrastruktur selbstverständlich notwendig.
Ich erinnere an die Ethik-Kommission, die wir vor
rund einem Jahr gemeinsam gelobt haben. In dem
Schlussbericht heißt es, dass die Stromnetze und ihr
Ausbau der wichtigste Prüfstein für das Gemeinschaftswerk sind. Dort steht auch, dass entscheidend ist, dass
der erzielte Konsens auf Dauer angelegt ist. Das will ich
unterstreichen. Ich muss sagen, dass Ihre heutigen Attacken gegen den Netzausbau nicht zu dem Lob von
damals passen. Diese Debatte erinnert mich eher an das
Verhalten der brandenburgischen Landesregierung, die
den Konsens hinsichtlich des Atomausstiegs bereits wenig später infrage gestellt hat, weil einige brandenburgische Kommunen aufgrund des Atomausstiegs geringere
Steuereinnahmen von Vattenfall bekommen. Kann man
mit einem solchen Politikverständnis in der Energiepolitik vorankommen? Ich bin da skeptisch.
({0})
- Herr Kelber, Fakt ist doch, dass wir mehr Netze brauchen. Wir müssen erkennen, dass die Netze Lebensadern
der Energiewende sind. Für den Netzausbau ist nicht die
Anzahl der Kilometer entscheidend. Herr Krischer, diesbezüglich können wir einen Konsens herstellen. Wir
brauchen uns gar nicht darüber zu streiten, ob das 4 600,
3 800 oder 2 500 Kilometer sind. Das ist aus meiner
Sicht nicht relevant. Relevant ist die Qualität des Ausbaus: Wie schaffen wir es, technologieoffen und innovationsfreudig Kapazitätserweiterungen zu organisieren,
die sich zum Beispiel aus der Verwendung von Hochtemperaturseilen, einer dezentralen Stromeinspeisung
oder Speichermöglichkeiten für die fluktuierenden Energien ergeben?
({1})
Erkenntnisse hinsichtlich der Machbarkeit laufen komplett unter dem Radar. Wir müssen feststellen, dass einige, statt Netze zu errichten, Energiekapazitäten nur am
Ort erzeugen wollen. Das wird nicht funktionieren. Das
ist eine Vision, die wir haben sollten und haben; für die
zügige Umsetzung der Energiewende brauchen wir aber
gute Netze.
Stellen Sie sich einmal vor, Berlin wäre gekrönt mit
Windrädern. Ich denke, das ist eine städtebaulich relativ
abscheuliche Vorstellung. Solche Experimente können
wir uns wahrlich nicht leisten. Die Idee, sich autark zu
versorgen, ist schön. Kollege Meierhofer hat das bereits
gesagt. Ich selbst habe eine Photovoltaikanlage auf
meinem Dach. Laut installierter Leistung könnte ich
mich selbst versorgen. Das ist gar keine Frage. Wenn es
aber um Leistung mal Zeit geht, also um die elektrische
Arbeit, dann sieht das schon anders aus.
({2})
Selbst wenn ich mich zu 80 oder sogar 90 Prozent selbst
versorgen könnte, brauchte ich für die restlichen 20 oder
10 Prozent ein Netz, das sicherstellt, dass die Energie zu
jeder Zeit zu mir kommt. Das gilt nicht nur für mich,
sondern für die ganze Wirtschaft. Wir brauchen eine gute
Netzinfrastruktur, und zwar auch dann, wenn man sich
vor Ort bzw. in einem Bundesland durch die installierte
Leistung selbst versorgen könnte.
Der Netzausbau ist nicht zum Nulltarif zu haben. Deswegen müssen wir den Leuten sagen, dass Eingriffe in
die Natur und das Landschaftsbild stattfinden werden.
Aber im Gegenzug werden wir auch etwas bekommen:
Wir bekommen den von einem Großteil der Bevölkerung geforderten Umbau der Energieversorgung, also
den Atomausstieg. Wir bekommen dafür, dass ein Großteil der Energie aus regenerativen Energiequellen stammt.
Wir bekommen dafür, dass wir die gefährliche Energieabhängigkeit von unsicheren Drittstaaten reduzieren
können. Wir bekommen dafür auch, dass unsere Energieversorgung wesentlich klimafreundlicher und umweltverträglicher wird. Das sollte uns die Investitionen
in die Netzinfrastruktur wert sein.
({3})
Deshalb ist für mich der Netzentwicklungsplan ein
Meilenstein. Ich unterstütze die Aussage von Umweltminister Altmaier, der gesagt hat: Nicht der einzelne
Kilometer ist für den Erfolg der Energiewende relevant,
sondern dass das System funktioniert. In diesem Sinne
müssen die am Erfolg interessierten Bundesländer mit
uns gemeinsam an einem Strang ziehen, und zwar in die
richtige Richtung. Das pure Festhalten an und das Pflegen von Landesegoismen wie zum Beispiel bei CCS, bei
der PV-Vergütung und der Gebäudesanierung helfen uns
nicht weiter.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir
aufgrund der Detailprobleme beim Netzausbau, die es
natürlich gibt, nicht den gesamten Netzausbau infrage
stellen sollten. Von Deutschland geht eine Signalwirkung aus. Ein solches Megaprojekt gab es noch nicht in
einem Industrieland mit solch einem hohen Energiebedarf. Wir können die Energiewende in Deutschland nur
mit der notwendigen Infrastruktur meistern. Wir sehen
den Netzentwicklungsplan daher wirklich als Meilenstein der Energiewende an. Viele in Europa und in der
Welt warten ab und schauen auf uns. Ich bin ganz sicher:
Deutschland wird es packen. Wenn es einer packen
kann, dann Deutschland. Wenn wir es dann geschafft haben, werden viele unserem Beispiel folgen.
Herzlichen Dank.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 9 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes
im Recht der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 17/9874 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten
- Drucksache 17/9389 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 17/9990 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Stephan Thomae
Jens Petermann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Max Stadler.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es war eine der bleibenden Leistungen des großen
Liberalen Thomas Dehler in seiner Amtszeit als erster
Bundesminister der Justiz, dass er 1953 das Jugendgerichtsgesetz in der Tradition des großen Gustav
Radbruch gestaltet hat. Der damals formulierte Vorrang
des Erziehungsgedankens hat das deutsche Jugendstrafrecht zu einem der modernsten der Welt gemacht. Dieses
Jugendstrafrecht hat sich über die Jahrzehnte hinweg
sehr gut bewährt. Bei der Grundkonzeption bleibt es
selbstverständlich, auch wenn wir heute die jugendrichterlichen Handlungsmöglichkeiten punktuell erweitern.
Seit langem wird darüber diskutiert, ob das Höchstmaß der Jugendstrafe von zehn Jahren bei Mord ausreichend definiert ist. Ich bin überzeugt: Es gibt Einzelfälle,
bei denen dieses Höchstmaß nicht angemessen ist. Ich
nenne ein Beispiel: Zwei Täter im Alter von 20 und
22 Jahren begehen gemeinschaftlich einen Mord. Wenn
nun der 20-jährige Haupttäter, auf den noch Jugendstrafrecht anwendbar ist, zu einer Jugendstrafe von maximal
zehn Jahren verurteilt werden kann, für den 22-jährigen
Mittäter hingegen zwingend lebenslange Freiheitsstrafe
vorgeschrieben ist, dann besteht offenkundig eine
Diskrepanz.
({0})
Deshalb ist die Anhebung des Höchstmaßes der Jugendstrafe für Heranwachsende bei Mord auf 15 Jahre richtig, wobei wir als einschränkende Voraussetzung vorsehen, dass dies nur bei besonderer Schwere der Schuld
gilt. Diese Änderung betrifft nicht die jugendlichen Täter, also die Altersgruppe der 14- bis 17-jährigen Täter,
sondern ausdrücklich nur die Heranwachsenden, also die
Gruppe der 18- bis 20-jährigen Täter, falls auf diese
noch Jugendstrafrecht angewendet wird.
Strittiger war in den Ausschussberatungen ein weiteres Dauerthema aus der jugendrechtlichen Diskussion
der letzten 20 Jahre: die Ermöglichung des Jugendarrestes neben einer auf Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe. Entgegen bekannten Bedenken im Schrifttum
halten viele Praktiker diese zusätzliche Reaktionsmöglichkeit für erforderlich, um zu vermeiden, dass ein zu
einer Bewährungsstrafe verurteilter Täter den falschen
Eindruck aus der Gerichtsverhandlung mitnimmt, seine
Straftat sei quasi sanktionslos geblieben. Ich sage noch
einmal, Herr Kollege Montag: Das ist ein falscher Eindruck. Aber viele Praktiker meinen aufgrund ihrer Erfahrung, dass das bei den Verurteilten manchmal so ankommt. Wir entsprechen heute diesem Wunsch aus der
Praxis, in der Erwartung, dass von der neuen Sanktionsmöglichkeit zielgenau, in den richtigen Fällen und damit
wirksam Gebrauch gemacht wird.
({1})
Meine eigene persönliche Erfahrung als Jugendrichter
hat mich gelehrt, dass der erstrebte pädagogische Erfolg
eines kurzzeitigen Freiheitsentzugs sehr stark von der
praktischen Durchführung abhängt. Insbesondere muss
der Jugendliche die Verbindung zwischen der Ahndung
und seiner Tat erkennen können. Dies setzt einen raschen Vollzug des Arrestes und dessen sinnvolle Ausgestaltung voraus. Davon wird der Erfolg dieses neuen
Instruments abhängen. Hierfür tragen die Länder die
Verantwortung.
Auch unser zweites heutiges Thema berührt sehr stark
die Bundesländer, die für den Vollzug der Sicherungsverwahrung zuständig sind. Bei der grundlegenden Reform dieses schwierigen Bereichs zum 1. Januar 2011
haben wir diese Kompetenzzuweisung beachtet. Wir
haben damals als Bundesgesetzgeber bewusst keine Vorgaben gemacht, wie sich der Vollzug der Sicherungsverwahrung von der Strafhaft unterscheiden muss.
In seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch gerade die Verletzung des
sogenannten Abstandsgebotes zwischen dem Vollzug
von Sicherungsverwahrung und Strafhaft gerügt. Vor allem aus diesem Grund beschäftigt uns diese Thematik
heute erneut, während die Grundgedanken der von diesem Hohen Hause im Dezember 2010 mit breiter Mehrheit gebilligten Reform in Karlsruhe unangetastet geblieben sind. Vor allem das Ultima-Ratio-Prinzip, dem wir
mit der damaligen Reform zu einer stärkeren Geltung
verholfen haben, wurde von den Karlsruher Richtern
ausdrücklich hervorgehoben.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Bund in dieser
Entscheidung beauftragt, bundesrechtlich die wesentlichen Leitlinien zum Abstandsgebot zu formulieren, die
dann konkret in Vollzugsgesetzen der Länder münden
und durch die Vollzugspraxis ausgefüllt werden müssen.
Die Bundesregierung hat nach intensiven Beratungen
mit den Ländern einen Gesetzentwurf hierzu vorgelegt,
der vom Bundesrat schon im ersten Durchgang behandelt worden ist. Die Länderkammer ist offenbar der Auffassung, dass der Regierungsentwurf seine Aufgabe sehr
gut erfüllt. Nennenswerte Änderungswünsche im Hinblick auf die Regelungen zum Abstandsgebot gibt es
vom Bundesrat nämlich praktisch nicht.
Allerdings möchte der Bundesrat die Neubezeichnung „Sicherungsunterbringung“ einführen.
({2})
Das ist meiner Meinung nach nicht notwendig. Entscheidend ist nicht ein neues Etikett, sondern entscheidend ist,
dass der Vollzug der Sicherungsverwahrung verfassungs- und menschenrechtskonform ausgestaltet wird.
Genau dies leistet unser Gesetzentwurf.
({3})
Meine Damen und Herren, bedeutsamer ist ein inhaltlicher Änderungswunsch des Bundesrates. Wir haben
- mit den Stimmen der SPD und mit Unterstützung der
Grünen - zum 1. Januar 2011 ein neues Konzept der
Sicherungsverwahrung beschlossen. Es sah vor, die im
Urteil vorbehaltene Sicherungsverwahrung auszubauen,
und zwar zulasten der aus verschiedenen Gründen nicht
die Anforderungen erfüllenden sogenannten nachträglichen Sicherungsverwahrung. In Abweichung von diesem unserem Konzept hat der Bundesrat nun erneut eine
nachträgliche Unterbringungsmöglichkeit vorgeschlagen, die sogenannte nachträgliche Therapieunterbringung. Ich sage ganz deutlich: Im Regierungsentwurf
bleiben wir bei der Konzeption von 2011, die die Koalition von CDU/CSU und FDP mit den Stimmen der SPD
und mit Unterstützung der Grünen beschlossen hat,
({4})
und zwar aus wohlerwogenen fachlichen Gründen.
Unser Konzept - ich betone das noch einmal - ist
vom Bundesverfassungsgericht in seiner wirklich wegweisenden Entscheidung vom 4. Mai 2011 gerade nicht
beanstandet worden. Gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung bestehen dagegen offenkundig sowohl beim Bundesverfassungsgericht als auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhebliche
Bedenken.
({5})
Der Regierungsentwurf sieht daher pro futuro keine
nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nachträgliche Unterbringung vor.
In der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates hat die Bundesregierung lediglich ausgeführt,
diesen Vorschlag des Bundesrates im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen. Man braucht kein Prophet zu
sein, um zu vermuten, dass dieser Komplex in den Ausschussberatungen ein Schwerpunkt der Diskussionen
sein wird.
Für heute möchte ich mit der Feststellung schließen:
Bei einem so komplexen und derart grundrechtssensiblen
Thema wie dem weiteren Freiheitsentzug, obwohl die
verhängte Freiheitsstrafe schon vollstreckt ist, führt der
Entwurf der Bundesregierung das Sicherheitsbedürfnis
der Allgemeinheit auf der einen Seite und die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Anordnung von Sicherungsverwahrung und zu einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung in überzeugender Weise zusammen. Daher bitte
ich Sie um breite Unterstützung für unseren Entwurf, wie
Sie sie auch im Dezember 2010 gezeigt haben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Endlich liegt zu diesem rechtspolitisch wichtigen Thema
ein Entwurf der Bundesregierung vor. Wir mussten lange
darauf warten und freuen uns darauf, jetzt endlich darüber diskutieren zu können. Das müssen wir zügig, aber
auch mit der gebotenen Intensität tun; denn die Sicherungsverwahrung - Sie haben es gerade am Ende noch
einmal beschrieben, Herr Stadler - muss wegen des tiefen Eingriffs in das Leben eines Verurteilten, der seine
Strafe ja bereits verbüßt hat, streng rechtsstaatlich ausgestaltet sein und das letzte Mittel der Kriminalpolitik, also
die Ultima Ratio, bleiben. Auch das nehmen wir sehr
ernst.
Aber das berechtigte Anliegen der Bevölkerung, vor
höchstgefährlichen Straftätern geschützt zu werden, nehmen wir genauso ernst. In diesem Zusammenhang gilt
es, streng rechtsstaatliche Regelungen zu treffen.
Sie haben es angesprochen: Die SPD hat in diesem
Zusammenhang immer eine konstruktive Zusammenarbeit angeboten. Das galt beim Therapieunterbringungsgesetz, und das gilt auch beim vorliegenden Entwurf.
Aber zu einer konstruktiven Zusammenarbeit gehört
eben auch, dass wir den einen oder anderen Punkt benennen, den wir in dem vorliegenden Entwurf für kritisch halten.
Dazu gehört zum Beispiel der Katalog der Anlasstaten; denn wir waren uns einig, dass wir die Verhängung
einer Sicherungsverwahrung aufgrund der Tiefe des Eingriffs auf Taten gegen Leib und Leben, gegen körperliche Unversehrtheit und gegen die sexuelle Selbstbestimmung beschränken wollen. Es geht also wirklich um
schwerste Straftaten, vor denen die Bevölkerung zu
Recht geschützt werden muss, Straftaten, die begangen
werden könnten, wenn solche Täter rückfällig würden.
Deswegen kann ich es nicht nachvollziehen, dass in Ihrem vorliegenden Entwurf, der § 66 Abs. 1 StGB noch
immer unangetastet lässt, darauf nicht Rücksicht genommen wurde.
Wenn man das jetzt einmal zu Ende spinnt, dann sieht
man: Die Sicherungsverwahrung ist weiterhin bei einem
schweren Fall von Landfriedensbruch, unter bestimmten
Umständen beim gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr und bei Vollrausch möglich. Das kann doch
nicht Ihr Ernst sein, und Sie können doch auch nicht
glauben, dass das einer Überprüfung beim Bundesverfassungsgericht standhalten würde.
({0})
Deswegen haben wir schon vor einigen Monaten einen entsprechenden Antrag eingebracht, der fordert, dass
der Anlasskatalog für die Sicherungsverwahrung tatsächlich auf die von mir genannten schwersten Delikte
beschränkt wird. Der Antrag liegt vor, und ich gehe davon aus, dass wir in den anstehenden Beratungen darüber auch noch zu sprechen haben.
In diesem Antrag haben wir auch gefordert, eine Lücke zu schließen, die, wie wir finden, ein großes Gefahrenpotenzial in sich birgt, in dem Entwurf aber - Sie haben es ausgeführt - keine Rolle spielt: Es geht um die
nachträgliche Therapieunterbringung.
Der Herr Kollege Heveling - er ist ja anwesend - hat
hierzu in der Debatte zu unserem Antrag im März ehrlich bejaht, dass es in diesem Bereich eine Schutzlücke
gibt. Da frage ich mich, warum Sie diese Lücke mit Ihrem Entwurf nicht schließen.
({1})
- Aber Sie sind doch in den Beratungen dabei. Ich habe
Herrn Stadler so verstanden, dass es hier wenig Änderungsmöglichkeiten gibt. Wir sind gespannt, ob Sie bereit sind, etwas gegen diese Schutzlücke, deren Vorhandensein Sie bejaht haben, zu tun.
({2})
Sie können doch nicht sehenden Auges das Risiko
eingehen wollen, dass dann, wenn sich die psychische
Störung eines Gewalttäters erst im Strafvollzug ergibt,
dieser trotzdem nach Ablauf der Strafhaft entlassen werden muss, obwohl von ihm die Gefahr ausgeht, dass er
erneut schwerste Straftaten begehen wird. Dieses Risiko
akzeptieren Sie sehenden Auges, wir als SPD-Fraktion
nicht.
({3})
Deswegen fordern wir mit unserem Antrag die nachträgliche Therapieunterbringung.
({4})
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zum zweiten
Thema sagen, das heute ja auch in dieser Debatte behandelt wird, nämlich der Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten, hier insbesondere zum
sogenannten Warnschussarrest für jugendliche Straftäter.
Diese Erweiterungen werden immer damit begründet,
dass Jugendkriminalität angeblich immer brutaler wird
und zunimmt. Das mag vom Bauchgefühl her so sein,
aber die Zahlen der Kriminalitätsstatistik sprechen eine
völlig andere Sprache. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 2011 ist bei Jugendlichen ein Rückgang der
Gewaltdelikte um 10,7 Prozent, bei gefährlicher und
schwerer Körperverletzung sogar ein Rückgang um
11,4 Prozent zu verzeichnen. Lassen Sie sich also bei
solchen rechtspolitischen Vorhaben besser von Zahlen
und Fakten, aber nicht von Gefühlen leiten.
Dass ein solcher Warnschussarrest sogar schädlich ist,
schreiben Ihnen wirklich fast alle Fachleute ins Stammbuch. Sie haben zwar gesagt, dass die meisten Fachleute
dieses Instrument begrüßen. Wenn ich die Ergebnisse
aus der Anhörung zusammentrage, habe ich aber einen
anderen Eindruck.
({5})
Es mag ein paar wenige Befürworter geben, die Sie hervorgeholt haben, aber ich hatte von den meisten Stellungnahmen her einen anderen Eindruck. Gerade Jugendliche, die eigentlich für eine Bewährung geeignet
wären - das ist ja das Kriterium -, lernen durch die Verhängung eines Warnschussarrests im Gefängnis erst das,
was man alles für eine kriminelle Karriere braucht. Herr
Professor Dr. Pfeiffer hat Ihnen das noch einmal mehr
als deutlich bestätigt, als er von einer „Fortbildung in der
Anwendung krimineller Methoden“ sprach.
Es verwundert schon sehr, dass ausgerechnet aus dem
Hause der Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger
ein solcher Entwurf vorgelegt wird.
({6})
Diese Ideen sind ja nicht neu, sondern werden ständig
wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt, das letzte Mal
2008 vom damaligen Ministerpräsidenten Koch, der
meinte, im Wahlkampf ganz schnell etwas auf den Tisch
legen zu müssen. Damals hat Frau LeutheusserSchnarrenberger, allerdings noch in der Opposition, die
Vorschläge, über die wir heute abstimmen, wie folgt bewertet: Der „erzieherische Nutzen“ des Warnschussarrests sei zu bezweifeln. Ich zitiere:
Sie hält auch eine angestrebte Verlängerung der maximalen Haftdauer von 10 auf 15 Jahre für überflüssig, weil schon heute der Strafrahmen so gut wie nie
voll ausgeschöpft werde. 2006 wurden gerade einmal 17 Jugendliche und Heranwachsende zu 10 Jahren Jugendstrafe verurteilt. Das entspricht einem
Anteil von 0,1 Prozent der Verurteilten. LeutheusserSchnarrenberger: „Es besteht kein Bedarf, das Jugendstrafrecht zu ändern.“
({7})
Ich weiß nicht, in welch wesentlicher Weise sich die
Situation von damals zu heute geändert hat. Aber vielleicht bestimmt einfach das Sein das Bewusstsein; das
kann in diesem Fall sein. Es wird einem aber angesichts
der Pirouetten, die die Ministerin in dieser Frage gedreht
hat, schwindlig. Wir werden sie nicht drehen. Wir bleiben bei unserer ursprünglichen Position und werden diesen Möglichkeiten nicht zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Andrea Voßhoff für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Lambrecht, das, was Sie gesagt haben
- ich glaube, in einer Debatte hat Ihr Kollege Lischka
die Ministerin in dieser Frage zitiert -, macht doch keinen Sinn.
({0})
Auch Sie sind doch koalitionserfahren und wissen, dass
Koalitionspartner durchaus unterschiedliche Positionen
haben dürfen, sich aber im Ergebnis zu einem Beschluss
durchringen können.
({1})
Das ist so. Daran wird sich auch nichts ändern.
Es ist schon von den Vorrednern gesagt worden, dass
wir heute nicht nur den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung in erster Lesung debattieren, sondern auch
abschließend den Gesetzentwurf zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. Das sind
zwei sicherlich sehr unterschiedlich zu gewichtende und
auch in Teilen kontroverse kriminalpolitische Vorhaben.
Beide haben eine lange Vorgeschichte.
Ich will zur Sicherungsverwahrung nur einige Anmerkungen machen. Sie hat uns - viele, die schon länger
im Bundestag sind, wissen das - in diesem Hohen Hause
schon in nahezu konstanter Regelmäßigkeit beschäftigt.
Immer wieder sahen wir uns gezwungen, mit der Sicherungsverwahrung den Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern, die ihre schuldangemessene Strafe
bereits verbüßt hatten, gegen das Freiheitsrecht der Betroffenen auszutarieren. Der Staatssekretär hat es erwähnt: Zuletzt im Dezember 2011 haben wir mit einer
durchaus überzeugenden Mehrheit in diesem Hause die
Sicherungsverwahrung neu ausgerichtet und, wie ich
finde, im Grundsatz eine gute Reform der Sicherungsverwahrung auf den Weg gebracht.
Warum steht das Thema heute auf der Tagesordnung?
Wir reagieren mit dem Gesetzentwurf, wie Sie wissen,
auf das bekannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts,
in dem sämtliche Vorschriften der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt wurden, aber nicht in
ihrem materiellen Inhalt, sondern weil das Abstandsgebot, das heißt der Abstand zwischen dem Vollzug der
Strafe und der anschließenden Sicherungsverwahrung,
nach Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht eingehalten worden ist. Es war also allein die Verletzung des
sogenannten Abstandsgebots, weshalb die Normen für
verfassungswidrig erklärt wurden.
Um diesem Anspruch des Bundesverfassungsgerichts und der Pflicht zur Umsetzung gerecht zu werden,
hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur ersten
Beratung vorgelegt. Wir werden ihn intensivst beraten.
Es ist sowohl vom Staatssekretär als auch von der
Kollegin Lambrecht angesprochen worden: Im Rahmen
der anstehenden Beratungen müssen wir tatsächlich über
die Frage der Notwendigkeit einer nachträglichen Therapieunterbringung reden und sie intensivst prüfen.
Ich begrüße es, dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme einen entsprechenden Formulierungsvorschlag
dazu vorgelegt hat. Der Bundesrat initiiert damit, dass
psychisch gestörte Täter, deren hochgradige Gefährlichkeit erst nach dem Strafurteil erkennbar wird, zum Schutz
der Allgemeinheit unterzubringen sind. Ich weiß, das ist
eine sehr kritische Frage. Aber ich finde sie notwendig
und geboten, auch im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das nach unserer Auffassung für eine
solche Regelung eine Tür offengelassen hat, und dies sicherlich aus guten Gründen. Wir wissen alle: Es wird
ganz, ganz wenige Fälle geben. Aber die Anzahl der Fälle
spricht nicht dafür, zu sagen: Das ist nicht notwendig. Vielmehr ist jeder Einzelfall umso gravierender. Wir wissen von einigen Beispielen aus Bayern, um welche Fälle
es sich handelt.
({2})
Es ist umstritten und fraglich, in welcher Weise wir
das umsetzen können und wollen. Die Bundesregierung
hat Prüfungen vor dem Hintergrund des Entwurfs des
Bundesrates zugesagt. Diese Prüfungen werden wir in
den anschließenden Beratungen auch vornehmen, Frau
Kollegin Lambrecht. Es wird auch eine kritische und
kontroverse Prüfung geben, völlig klar. Dieser Entwurf
ist aber ein Entwurf der Bundesregierung. Das Parlament hat jetzt das Wort und wird dazu beraten, und natürlich - das haben Sie gemerkt - gibt es auch in der Koalition unterschiedliche Positionen dazu. Wir werden
sehen, welches Ergebnis die Beratungen ergeben werden.
Lassen Sie mich noch auf den zweiten Punkt eingehen, den wir heute beschließen wollen und der bereits
diskutiert worden ist, nämlich den Warnschussarrest. Ja,
es ist richtig - das hat auch die Anhörung gezeigt -, dass
vonseiten der Wissenschaft und von Verbänden der
Warnschussarrest abgelehnt wird. Die Anhörung hat
aber auch gezeigt, dass viele Praktiker
({3})
- nein, es waren vier - diese Regelung begrüßen.
({4})
- Vier von acht. - Dann müssen Sie das auch zur Kenntnis nehmen. Ich respektiere das und weiß auch um die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Analysen.
Das ist völlig unstreitig. Ich habe aber ebenso auch großes Vertrauen in die Auffassung der Praktiker und Jugendrichter. Ich kann nicht einsehen, warum deren Haltung nicht auch gefolgt werden sollte, und wir tun dies ja
auch.
Mit dem Gesetzentwurf zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten wollen wir die
Möglichkeit eröffnen, neben der Jugendstrafe, die zur
Bewährung ausgesetzt ist, einen Warnschussarrest von
maximal vier Wochen Dauer verhängen zu können. Wir
meinen, das Jugendkriminalrecht wird damit flexibler.
Der Kollege van Essen - er ist heute leider nicht anwesend - hat das, finde ich, sehr prägnant beschrieben: Mit
dem Instrument des Warnschussarrests fügen wir sozusagen der Klaviatur des Jugendrichters eine weitere
Taste hinzu.
({5})
Das halten wir auch vom Ergebnis der Anhörung her für
durchaus vertretbar. Die Praktiker haben uns Fälle geschildert, in denen es durchaus sinnvoll und geboten ist,
den Warnschussarrest einzusetzen. Der Staatssekretär
hat es bereits gesagt: Wichtig ist, dass der Warnschussarrest zeitnah erfolgt. - Wir hoffen und wünschen, dass die
Länder dazu den notwendigen Beitrag leisten.
Da hier immer die Statistiken bemüht werden: Ja, es
ist richtig, dass die Jugendkriminalität zurückgeht. Aber
ausweislich der bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik 2010 bewegt sich die Jugendkriminalität nach wie
vor auf hohem Niveau. Über alle kurz- und langfristigen
Veränderungen hinweg bleiben zwei Faktoren konstant
mit erhöhter Kriminalitätsbelastung verbunden: das Geschlecht und das jugendliche Alter. Das heißt, der Anteil
junger männlicher Straftäter ist im Verhältnis zu ihrem
Anteil an der Bevölkerung dauerhaft überproportional
hoch.
({6})
Das Jugendstrafrecht weiterzuentwickeln und den aktuellen Lebenswirklichkeiten anzupassen, bleibt daher
eine Daueraufgabe. Der Erziehungsgedanke und Prävention müssen dabei natürlich an erster Stelle stehen. Der
Ausbau von Erziehungsangeboten kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die Erfolge, die damit erzielt werden, sprechen natürlich für
sich. Das stellt hier keiner in Abrede.
Wir können aber die Augen nicht davor verschließen,
dass es junge Straftäter gibt, die mit ambulanten Maßnahmen nicht oder jedenfalls nicht mehr zu erreichen
sind, und dass es Taten gibt, die nun einmal einer nachdrücklichen und repressiven Reaktion bedürfen.
({7})
Hier wollen wir den Warnschussarrest als zusätzliches
Instrument unterhalb einer zu vollstreckenden Jugendstrafe in das Jugendgerichtsgesetz einbauen, dem Jugendrichter ein weiteres Instrument an die Hand geben.
Nach den Gesprächen, die ich dazu geführt habe, kann
ich nur sagen: Die Jugendrichter werden damit sehr verantwortungsvoll umgehen. Es bleibt zu hoffen und zu
wünschen, dass die Länder weiterhin dem Anspruch an
den Jugendarrest gerecht werden. Der Jugendarrest als
soziales Training muss - ich glaube, Herr Professor
Kreuzer hat das in der Anhörung erwähnt - weiter ausgebaut werden, um mit dem Warnschussarrest den gewünschten Effekt zu erzielen.
Über die Vorbewährung will ich nicht reden; das werden sicherlich meine Kollegen noch tun. Mich erfreut es
auf jeden Fall, dass Sie mitmachen. Ich stimme dem
Staatssekretär zu, der die Anhebung des Höchstmaßes
der Jugendstrafe auf 15 Jahre bei Heranwachsenden als
ein gutes Beispiel genannt hat. Es ist vertretbar, die
Höchststrafe in diesem Bereich anzuheben.
Ich würde mich freuen, wenn Sie unserem Gesetzentwurf zum Warnschussarrest zustimmen könnten. Ansonsten gehe ich davon aus, dass wir im Rechtsausschuss intensive Debatten im Zusammenhang mit der
Sicherungsverwahrung führen und über die Problemfelder gemeinsam diskutieren werden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Halina Wawzyniak für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren in der Debatte über diesen Tagesordnungspunkt über die Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung auf der einen
Seite und abschließend über die Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten auf der anderen
Seite. Da fragt man sich: Was hat das eine mit dem anderen zu tun, dass beides im Rahmen eines Tagesordnungspunkts behandelt werden muss?
({0})
Das ist ganz einfach: Beide Gesetze sind ein Beleg für
eine repressive, populistische und an den Stammtischen
orientierte Rechtspolitik. Das kann man dann auch im
Rahmen eines Tagesordnungspunkts behandeln.
Ich will mit der Erweiterung jugendgerichtlicher
Handlungsmöglichkeiten mit dem Schwerpunkt Warnschussarrest beginnen. Mein Kollege Wunderlich hat
dazu bereits alles Richtige gesagt. Natürlich muss man
dem Kollegen Wunderlich nicht folgen. Aber was man
machen könnte, ist, Schlussfolgerungen aus der Anhörung zu ziehen. In der Anhörung gab es - darauf wurde
schon hingewiesen - nicht ein einziges wissenschaftlich
fundiertes Argument für die Einführung eines Warnschussarrests. Es gab lediglich Praktiker, die gesagt haben: Aus unserer Praxis heraus wünschen wir uns, dass
es einmal einen Warnschussarrest gibt, Punkt. Den hätten wir jetzt gerne mal.
({1})
Das war es schon. Aber es gab kein wissenschaftliches
Argument. In der Anhörung haben sich alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegen eine Anhebung der Höchststrafe und gegen die Einführung eines
Warnschussarrests ausgesprochen.
({2})
Das Gesetz zeigt: Sie ignorieren die Ergebnisse der
Anhörung und die Aussagen von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern. Wenn Ihnen das nicht genügt, verweise ich an diese Stelle auf Christian Pfeiffer - eine
Koryphäe in diesem Bereich -, der von einer Rückfallwahrscheinlichkeit von bis zu 70 Prozent beim Warnschussarrest spricht. 70 Prozent derjenigen, die Sie in
den Warnschussarrest stecken wollen, werden also wieder zu Straftätern. Das heißt, Sie produzieren weiter
Straftäterinnen und Straftäter, anstatt etwas gegen Straftaten zu tun.
Kommen wir zum Gesetz zur Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung. Vielleicht muss man noch einmal sagen, worum es bei der
Sicherungsverwahrung eigentlich geht. Bei der Sicherungsverwahrung geht es darum, dass Straftäterinnen
und Straftäter, die für ihre Tat bereits eine Freiheitsstrafe
verbüßt und damit auch für die Tat gebüßt haben, aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose präventiv weiter im
Knast einsitzen.
({3})
- Ich sage bewusst „im Knast“, weil Sicherungsverwahrung letztendlich Freiheitsentzug ist. Demjenigen, der
einsitzt, ist es egal, ob das eine Therapieunterbringungsanstalt oder ein Knast ist.
({4})
Deswegen wiederhole ich: Die Linke lehnt das Institut
der Sicherungsverwahrung ab.
({5})
Deswegen haben wir die Einsetzung einer Expertenkommission aus Praktikerinnen und Praktikern, aus
Gesellschaftswissenschaftlern, aus Straf-, Polizei- und
Verfassungsrechtlern, aus Kriminologen, Psychiatern,
Psychologen und natürlich auch Vertretern von Opferverbänden vorgeschlagen, die sachlich und im Rahmen
dieses Expertenstatus darüber diskutieren sollen, ob wir
das Institut der Sicherungsverwahrung überhaupt brauchen. Dass eine Versachlichung der Debatte zum Thema
Sicherungsverwahrung notwendig ist, zeigen doch aktuelle Vorgänge. Ich möchte Sie daran erinnern, dass der
gesamte Landtag von Sachsen-Anhalt - das ist sehr zu
begrüßen - letztes Wochenende nach Insel gefahren ist.
Insel ist ein Ort in Sachsen-Anhalt, wo entlassene Sicherungsverwahrte versuchen, ein neues Leben anzufangen.
Es gibt massive Ängste in der Bevölkerung und Versuche, die Entlassenen wieder zu vertreiben. Man muss die
Ängste der Bevölkerung ernst nehmen, man darf sie aber
nicht übernehmen. Man muss sich vielmehr mit ihnen
auseinandersetzen.
({6})
Ich will im Rahmen der Debatte über die Sicherungsverwahrung auf zwei Dinge sehr deutlich hinweisen.
Erstens. Sie alle wissen - Herr Heveling hat es in der
letzten Debatte gesagt -, dass es in einer offenen Gesellschaft keine absolute Sicherheit gibt. Wir wissen: Jede
Straftat ist eine zu viel, und jedes Opfer ist eines zu viel.
Aber wir dürfen nicht suggerieren, es gäbe ein Mittel,
das verhindert, dass Straftaten überhaupt begangen werden. Das ist eine Grundtatsache, und das müssen wir immer wieder betonen. Zweitens. Die Ursachen für die
Entstehung von Kriminalität sind so vielfältig und umfassend, dass eine sichere Prognose - auf das Wort „sicher“ kommt es in diesem Zusammenhang an - darüber,
ob weitere Straftaten begangen werden, einfach nicht
möglich ist. Deswegen bleibt es dabei, dass die Sicherungsverwahrung eine präventive Sicherungshaft ist, die
nichts mehr mit der Schuld des Täters zu tun hat.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird - das will
ich zugestehen - ein Spagat zwischen der Versachlichung der Debatte und der Beibehaltung des Populismus
versucht. Es ist richtig und zu begrüßen, dass der Anspruch besteht, dass die Unterbringung einer individuellen und intensiven Betreuung bedarf. Es ist richtig und
unterstützenswert, dass ein Rechtsanspruch auf Therapie
zumindest angedeutet wird. Und es ist richtig, dass eine
Entlassung durch die Gerichte dann ansteht, wenn keine
angemessene Betreuung stattfindet. Das ist zu begrüßen.
Aus unserer Sicht aber völlig absurd ist, dass die Sicherungsverwahrung auf das Jugendstrafrecht ausgedehnt wird. Man muss sich einmal fragen, ob es überhaupt
noch ein Verständnis dafür gibt, was der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht bedeutet und dass dem Entwicklungsstand entsprechende Reaktionen erfolgen sollen. Zudem ist es völlig absurd, den ganzen Katalog der
Anlassstraftaten beizubehalten. Die Kollegin Lambrecht
hat darauf hingewiesen, was in diesem Zusammenhang
alles möglich ist. Es ist ausdrücklich zu unterstützen, was
sie gesagt hat. Ich will aber eine kleine Fußnote nicht unerwähnt lassen: dass nämlich auch die SPD dem Gesetzentwurf mit dem riesigen Katalog von Anlassstraftaten
damals zugestimmt hat.
({7})
Kurz und gut: Das Gesetz bleibt trotz weniger guter
Ansätze schlecht. Es kann auch nur schlecht sein, weil es
sich um die Umsetzung eines noch schlechteren Gesetzes kümmert. Was wir statt solcher Gesetze brauchen, ist
eine Offensive für eine rationale Kriminalpolitik, die
sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht an
Stammtischparolen orientiert. Dazu leistet der Gesetzentwurf alles in allem keinen Beitrag.
({8})
Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Stadler, Ihren Ausführungen zu den Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes
habe ich bei jedem Wort Ihr Unbehagen entnommen, das
Sie bei der Formulierung dieses Teils Ihrer Rede hatten.
Ich kann das ehrlich gesagt auch nachvollziehen.
Einige Zahlen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
wir in der Sachverständigenanhörung erfahren haben:
Wir haben in Deutschland seit 1995 den niedrigsten
Stand der Jugendkriminalität - und zwar nicht deswegen, weil die Anzahl der Jugendlichen abnimmt, sondern
gemessen pro 100 000 Jugendliche. Dieser Rückgang
beträgt 20 Prozent. Auf dem besonderen Feld der Jugendgewalt beträgt der Rückgang zwischen 2007 und
2011 sogar 22 Prozent. Bei von Jugendlichen begangenen Tötungsdelikten haben wir von 1993 bis 2011 einen
Rückgang von 31 Prozent.
Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen, die besonders
valide ist, weil sie praktisch kein Dunkelfeld hat, weil
fast alle Fälle von der Versicherung erfasst werden: Bei
Körperverletzungen unter Jugendlichen auf dem Schulhof haben wir zwischen 1997 und 2012 einen Rückgang
der Kriminalität um über 50 Prozent.
Was ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich
der Grund für diesen, über einen langen Zeitraum nicht
nur marginalen, sondern ganz erheblichen Rückgang der
Jugendkriminalität? Man könnte denken, ein scharfes
und hartes Jugendstrafrecht hätte dazu beigetragen. Das
Gegenteil ist aber richtig. Wir haben in den letzten zehn
Jahren, zwischen 2000 und 2010, 25 Prozent weniger
verhängte Jugendhaftstrafen pro 100 000 Jugendliche.
Wir haben zwischen 2003 und 2010 bei Freiheitsstrafen
gegen Jugendliche von über fünf Jahren, also bei höchster Jugendkriminalität, einen Rückgang von rund 50 Prozent von 102 auf 53 Fälle. Der Einsatz des Jugendarrestes ist signifikant rückläufig. Das alles sind Erfahrungen
aus unserem Fachgespräch; ich fand das phänomenal
gut, was wir da gemacht haben.
Aus einem europäischen Forschungsprojekt über die
Entstehung von Jugendgewalt, das im Übrigen vom damaligen Bundesinnenminister Schäuble bezahlt wurde,
wissen wir, dass ein Jugendlicher mit fünf und mehr kriminellen Kontakten ein 20- bis 30-faches Risiko hat,
selbst Gewalttäter zu werden.
Es gibt also bei Jugendlichen eine kriminologische
„Ansteckungsgefahr“ in Cliquen, in Gangs, aber eben
auch im Straf- und im Arrestvollzug - trotz bester Sozialprogramme. Die Rückfallquoten sind umso höher, je
intensiver die Inhaftierung ist. Schon beim Arrest ist
diese Quote hoch; beim Jugendstrafvollzug ist sie noch
höher. Deshalb, meine Damen und Herren: Präventionspolitik, Jugendhilfe und ein mildes Jugendstrafrecht senken die Kriminalität. Diese wissenschaftliche Erfahrung
konnten wir aus der Anhörung gewinnen.
({0})
Wie sollen wir vor diesem Hintergrund den Gesetzentwurf einschätzen, der uns jetzt vorliegt? Was sagen
eigentlich die in Ihren Reihen noch vorhandenen vernünftigen Jugend- und Rechtspolitiker dazu, dass Sie
völlig populistisch gegen wissenschaftliche Vernunft das
Gegenteil dessen vorschlagen, was richtig wäre?
({1})
Der Vorsitzende des Rechtsausschuss, Siegfried
Kauder, CDU, hat uns während der Sachverständigenanhörung Folgendes gesagt - im Protokoll nachlesbar -:
Seien Sie froh über dieses Gesetz. Es hätte noch
viel schlimmer kommen können mit einer Heraufsetzung der Mindeststrafen und mit Erwachsenenstrafrecht für alle 18-Jährigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir lassen uns aber
nicht erschrecken. Wir bleiben bei unserem Nein zu Ihrem Gesetzentwurf zur Verschärfung des Jugendstrafrechts.
({2})
Nun noch einige Worte zu dem Gesetzentwurf zur Sicherungsverwahrung. Der heute vorliegende Entwurf
wahrt den Dreiklang der Reform - mit der Kritik, die Sie
völlig zu Recht angebracht haben und die wir auch teilen -: Beschränkung auf schwerste Kriminalität im Gewalt- und Sexualbereich, Ausbau des Vorbehalts und
Wegfall der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Wir
haben im Grundsatz der Reform von 2010 zugestimmt.
Wir sagen auch heute Ja zu diesem Reformansatz. Sie,
Kollegen von der SPD, haben der damaligen Reform
ebenfalls zugestimmt und somit auch der ersatzlosen
Streichung der nachträglichen Sicherungsverwahrung,
({3})
ohne den Bedarf nach alternativen Formen nachträglichen Wegsperrens angemeldet zu haben.
({4})
Zu Ihren heutigen Ausführungen sage ich Ihnen: Sie
haben von Schutzlücken gesprochen, Frau Kollegin
Lambrecht. Das ist in hohem Maße gefährlich, und Sie
wissen das auch.
({5})
Wer von Schutzlücken spricht, der insinuiert, dass man
alle Lücken schließen könnte.
({6})
In Wirklichkeit behaupten Sie damit, Sie wollten absolute Sicherheit.
({7})
Wenn Sie unsere Auffassung teilen - das haben Sie jahrelang gemacht -, dass es eine absolute Sicherheit nicht
gibt, dann müssen Sie Schutzlücken in Kauf nehmen.
({8})
Die Fragestellung ist nicht, ob man Schutzlücken zulässt
oder nicht, sondern ob es mit rechtsstaatlichen Mitteln
möglich ist, Schutzlücken zu schließen.
({9})
Frau Lambrecht, Sie haben beim Thema Arrest die
Fachwelt bemüht. Sie haben gesagt: Alle Fachleute sind
dagegen. - Auch das ist ein gefährliches Argument. Die
Fachwelt, die Psychiatrieverbände, alle erfahrenen Psychologen und Psychiater warnen uns eindringlich vor der
Einführung des Begriffs der psychischen Störung ins
Strafrecht.
({10})
Das wissen Sie ganz genau.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ja. - Wir werden über diese Frage sehr kontrovers
und sehr ernsthaft in der Anhörung und auch weiterhin
zu diskutieren haben. Auch wir sichern Ihnen von der
Koalition eine konstruktive Debatte über den Gesetzentwurf zu, weil wir die Reform des Vollzugs begrüßen.
Wir werden uns mit diesem ganz schwierigen Punkt, der
durch den Bundesrat nachträglich in den Gesetzentwurf
eingebracht werden soll, kritisch auseinandersetzen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion. - Entschuldigung, wir sollten die Reihenfolge
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
einhalten. Zunächst spricht Ansgar Heveling für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, Herr Kollege Lischka, in einem Punkt werden
wir durchaus etwas Ähnliches zu sagen haben, und zwar
im Kontext der Sicherungsverwahrung.
Die heutige Debatte ist zugleich Auftakt und Schlusspunkt zweier kriminalpolitischer Gesetzgebungsvorhaben. Der Gesetzentwurf zum sogenannten Warnschussarrest wird heute in zweiter und dritter Lesung beraten
und beschlossen. Für die Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung nehmen wir heute die parlamentarischen Beratungen auf.
Ohne Frage ist die Regelung des Rechts der Sicherungsverwahrung das rechtspolitisch bedeutsamere Vorhaben, weshalb ich mir erlaube, darauf zuerst einzugehen.
Mit seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 und dem
damit verbundenen Verdikt, alle Bestimmungen zur Sicherungsverwahrung seien verfassungswidrig, hat das
Bundesverfassungsgericht seinerzeit zunächst einmal für
einen Paukenschlag gesorgt. Mit der Verpflichtung, bis
Mai 2013 für eine Neuregelung zu sorgen, hat es den
Gesetzgeber unter möglicherweise heilsamen Zugzwang
gesetzt. Gleichzeitig hat Karlsruhe durch die weitreichende Entscheidung aber auch die Möglichkeit eröffnet, die Materie tatsächlich grundlegend neu zu regeln.
Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich das
Recht der Sicherungsverwahrung durch die zahlreichen
Änderungen in den Jahren 1998, 2002, 2003, 2004, 2007
und 2008 zu einem nur noch schwer zu durchschauenden
Konglomerat von Regelungen entwickelt hatte.
Ich will nicht verhehlen, dass es eine Reihe von Aspekten gibt, die man sowohl in den Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch
in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kritisch betrachten kann. So findet die verfassungsrechtlich
gebotene Verpflichtung des Staates zum Schutz seiner
Bürgerinnen und Bürger in der Karlsruher Entscheidung
mit keinem Wort Erwähnung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte führt demgegenüber diesen auch
im Regime der Menschenrechtscharta zu berücksichtigenden Aspekt zwar an, wägt ihn aber nicht erkennbar
ab.
Gleichzeitig aber muss man anerkennen, dass es dem
Bundesverfassungsgericht gelungen ist, einerseits eine
dogmatisch stimmige Integration der Vorgaben des
EGMR in das deutsche Rechtssystem vorzunehmen,
ohne andererseits grundlegende Prinzipien der deutschen
Strafrechtssystematik im Hinblick auf die Sicherungsverwahrung gänzlich aufzugeben. Das beginnt damit,
dass das Bundesverfassungsgericht - wie im Übrigen der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch - das
Instrument der Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich infrage stellt. Des Weiteren - und hier hat sich
Karlsruhe eindeutig anders positioniert als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - sieht das Bundesverfassungsgericht die Sicherungsverwahrung nach
wie vor nicht als Strafe an. Es hält damit an der Zweispurigkeit unseres deutschen Strafrechtssystems fest.
Summa summarum haben EGMR und Bundesverfassungsgericht aber die Spielräume des Gesetzgebers sehr
eingegrenzt. Zu Beginn der Beratung des Gesetzentwurfs
der Bundesregierung lässt sich allerdings bereits festhalten, dass im vorliegenden Entwurf viele dieser Spielräume tatsächlich genutzt und alle wesentlichen durch
das Bundesverfassungsgericht aufgegebenen Handlungsaufträge abgedeckt werden.
({0})
Da ist vonseiten der Bundesregierung, vonseiten des
Bundesjustizministeriums zunächst einmal in einem
politisch wie justiziell nicht einfach zu beackernden Feld
gute, strukturierte und stimmige Arbeit geleistet worden.
Auch wenn der Zeitplan im Hinblick auf die Regelungsfrist bis Mai 2013 straff ist, lässt die jetzige Beratung auch den Ländern noch ausreichend Zeit, ihren Teil
der Umsetzung eines freiheitsorientierten und therapiegerechten Gesamtkonzepts zu regeln.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bund und den
Ländern die Regelung gemeinschaftlich aufgegeben.
Das mag verfassungsrechtliche Bedenken herausfordern;
diese sind aber praktisch zunächst einmal unbeachtlich.
Damit ist zwingend ein kooperatives Vorgehen von
Bund und Ländern erforderlich.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in den
nächsten Wochen erwartet uns sicher viel Arbeit mit und
an dem Gesetzentwurf. Die Sachverständigenanhörung
ist schon für die nächste Woche terminiert. Trotz des ambitionierten Zeitplans möchte auch ich bereits an dieser
Stelle ausdrücklich anbieten: Wir sind zur Diskussion
und zum Austausch über die Fraktionsgrenzen hinaus
bereit,
({1})
und wir sollten das, was beispielgebend bereits beim
Therapie- und Unterbringungsgesetz praktiziert wurde,
auch hier fortführen. Wir haben seinerzeit ja auch schon
sehr intensiv über die Frage der Anlasstaten beraten.
Frau Kollegin Lambrecht, Sie haben das eben angesprochen. Ihre Sorge im Hinblick auf das Bundesverfassungsgericht teilen wir an dieser Stelle allerdings nicht,
weil es sich in seinen bisherigen Entscheidungen nicht
weiter zu den Anlasstaten geäußert hat.
({2})
Dass wir über die Fraktionsgrenzen hinweg zu Gesprächen bereit sind, hat sicherlich auch damit zu tun,
dass die Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung für die gesamte Gesellschaft so wichtig und bedeutsam ist. Auch wenn der Gesetzentwurf bereits viele Aspekte abdeckt, gibt es noch einige Punkte, über die wir
uns sehr ernsthaft und intensiv austauschen, die wir beraten und klären müssen.
Oberstes Ziel muss es natürlich sein, eine verfassungsfeste Neuregelung zu beschließen; denn - ohne
Frage - auch das zu beschließende Gesetz wird sicherlich den Weg zum Bundesverfassungsgericht nach
Karlsruhe finden. Unser Ziel ist daher, ein sauberes und
ordentliches Fundament für die Sicherungsverwahrung
zu finden. Dies ist aufgrund des gebotenen Abstands
zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung nicht einfach. Die Kriterien der europäischen Menschenrechtscharta sind dabei der taugliche Anknüpfungspunkt. Die
Berührung juristischer und medizinischer Begrifflichkeiten, wie es bei der „psychischen Störung“ zum Ausdruck
kommt, ist dabei ganz besonders in den Blick zu nehmen.
Schließlich gibt es aber auch noch einen aus unserer
Sicht gänzlich offenen Punkt: die nachträgliche Sicherungsanordnung. Hierzu werden in dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf überhaupt keine
Aussagen getroffen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die nachträgliche
Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich infrage gestellt, skizziert aber, dass es hierfür strengerer Anforderungen als bisher bedarf. Das macht eine gesetzliche Regelung zwar nicht einfacher, schließt sie aber eben auch
nicht aus. Die Bundesregierung hat zugesagt, die Regelung der nachträglichen Sicherungsanordnung im weiteren Verfahren zu prüfen.
Zahlreiche Bundesländer sprechen sich ebenfalls dafür aus,
({3})
auch in Zukunft die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung vorzusehen. Dementsprechend hat
sich der Bundesrat bereits für eine nachträgliche Therapieunterbringung ausgesprochen. Auch wir als CDU/
CSU sind nach wie vor der Auffassung - das wiederhole
ich gern, Frau Kollegin Lambrecht -, dass wir auf dieses
Instrument nicht verzichten sollten. Wir müssen uns daher mit dieser Frage in der weiteren Beratung sehr ernsthaft und intensiv auseinandersetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung von Mai 2011
ganz besonders die Rechte der in der Sicherungsverwahrung befindlichen Personen in den Blick genommen und
vor diesem Hintergrund ein freiheitsorientiertes und
therapiegerechtes Gesamtkonzept eingefordert. Dieser
Therapieoptimismus wird zwar auch in der Fachwelt
durchaus kritisch gesehen, aber er wird aufgrund der
Verfassungsgerichtsentscheidung ohne Frage die Neuregelung prägen.
Aber bei alledem dürfen wir als Gesetzgeber einen
zweiten Auftrag nicht vernachlässigen: Wir stehen in der
Pflicht, für Regelungen zu sorgen, die helfen, die Menschen, die Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern zu
schützen. Diesen Schutzanspruch haben wir im Blick,
und wir werden ihn mit in die weiteren Beratungen tragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für das zweite Vorhaben, den sogenannten Warnschussarrest, bleibt mir
nun nicht mehr viel Zeit, eigentlich überhaupt keine. Wir
haben darüber aber auch schon sehr ausführlich und kontrovers debattiert. Gerade aus den Reihen der Praktiker
wurde die Einführung des Warnschussarrests durchaus
positiv bewertet; das hat aus unserer Sicht die Sachverständigenanhörung ergeben. Ohne Frage: Das Instrument ist weder Allheilmittel noch für alle jugendlichen
Straftäter geeignet. Das hat aber auch von unserer Seite
niemand behauptet. Wir sehen den Warnschussarrest als
Ergänzung zu den bereits bestehenden vielfältigen und
differenzierten Sanktionsmöglichkeiten des Jugendstrafrechts, mit denen verantwortungsvolle Jugendrichter
schon jetzt im Einzelfall die individuell richtigen Maßnahmen anordnen können.
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.
Bislang war es den Jugendgerichten dabei versperrt,
neben der Bewährungsstrafe weitere Weisungen zu erteilen. Das wird in Zukunft möglich sein. Dafür öffnen wir,
wenn wir das Gesetz gleich beschließen, die Tür.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, zunächst
einmal das Positive vorweg: Sie von Schwarz-Gelb haben zur Abwechslung zwei Gesetzentwürfe zur Rechtspolitik auf einmal auf den Weg gebracht. Das ist nicht
ganz selbstverständlich. Ansonsten herrscht ja gerade in
der Rechts- und Innenpolitik zwischen Ihnen viel Streit.
({0})
Sie glänzen durch Nichtstun, siehe Vorratsdatenspeicherung. Den Hinweis will ich mir jetzt doch nicht verkneifen: Das kostet den deutschen Steuerzahler demnächst
eine Menge Geld,
({1})
voraussichtlich 315 000 Euro pro Tag, 120 Millionen
Euro im Jahr.
({2})
Sie verpulvern durch Nichtstun und Streit das Geld der
Steuerzahler. Das hat in der Größenordnung noch keine
Bundesregierung hinbekommen; das will ich Ihnen einmal deutlich sagen.
({3})
In der Politik - den Vorteil haben Sie - gibt es für ein
solches Versagen keinen Warnschuss; aber auf die richtige Bahn müssen Sie eigentlich auch einmal gebracht
werden.
({4})
Das gilt übrigens auch für die beiden Gesetzentwürfe,
die wir heute hier debattieren. Die sind auch noch nicht
auf der richtigen Bahn. Frau Voßhoff hat das angedeutet;
Herr Heveling hat das im Bereich der Sicherungsverwahrung angedeutet.
({5})
Herr Krings von der Unionsfraktion hat vor ein paar Wochen sehr deutliche Worte gefunden. Er hat am 7. März
2012 eine Presseerklärung herausgegeben, aus der ich
zitieren darf:
Das Bundesjustizministerium hat es leider versäumt, den geringen Spielraum
- des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
und des Bundesverfassungsgerichtes komplett auszuschöpfen. Daher bleibt eine Schutzlücke bestehen. Derjenige, dessen besondere Gefährlichkeit sich erst während der Haft zeigt, kann
nach dem Entwurf nicht untergebracht werden.
Jetzt kommt es:
Die Union wird die Länder bei der Durchsetzung
einer nachträglichen Unterbringungsmöglichkeit
für hochgradig gefährliche und psychisch gestörte
Straftäter unterstützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
kann nur sagen: Nur zu, machen Sie das! In diesem Gesetzentwurf befindet sich bisher überhaupt nichts, was
eine nachträgliche Therapieunterbringung ermöglichen
würde. Im Klartext bedeutet das: Wird dieser Gesetzentwurf so verabschiedet, müssten in Zukunft höchstgefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter mit extremem Rückfallrisiko in die Freiheit entlassen werden, wenn sich die
Gefährlichkeit erst nach der Verurteilung zeigt. Das ist
unverantwortlich und inakzeptabel. Das werden wir als
SPD auch nicht mitmachen; denn für uns hat der Schutz
unserer Bevölkerung oberste Priorität.
({6})
Deswegen sage ich an die Adresse der Union: Wenn Sie
es wirklich ernst damit meinen, diese eklatante Schutzlücke schließen zu wollen, dann lassen Sie uns den Gesetzentwurf der Länder verabschieden. Der liegt doch
vor. An den Stimmen der SPD wird es jedenfalls nicht
scheitern; denn die Sicherheit unserer Bürgerinnen und
Bürger, so finden wir, eignet sich nicht für parteitaktische Spielchen. Lassen Sie Ihren Worten endlich auch
einmal Taten folgen!
Die Vorschläge, die Sie uns mit dem zweiten Gesetzentwurf präsentieren - Warnschussarrest und Heraufsetzung der Höchststrafe für Heranwachsende -, sind
Vorschläge aus der strafrechtlichen Mottenkiste. Richterbund, Strafrichter, Strafverteidiger, Jugendrichter, Jugendanstaltsleiter, Bewährungshelfer, Polizeigewerkschaft sie alle schütteln bei diesen Vorschlägen nur noch mit
dem Kopf. Es hört sich ganz toll an, einen Jugendlichen
mit einem Warnschuss auf die richtige Bahn bringen zu
wollen. Aber ein Jugendlicher, der zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden ist - und um die
geht es doch hier -, hat Kriminalitätserfahrung. Er hatte
auch schon mehrere Warnschüsse; er hat sie nur überhört. Es ist geradezu naiv, zu glauben: Dem gebe ich ein
paar Tage oder zwei, drei Wochen Stubenarrest, und alles wird gut. Den stecke ich mit einem Haufen anderer
krimineller Jugendlicher zusammen, und sie denken
dann gemeinsam darüber nach, was in ihrem Leben
schiefgelaufen ist, und kommen als geläuterte Menschen
aus dem Knast und begehen fortan keine Straftaten
mehr. - Das ist doch die reinste Voodookriminalpolitik,
die Sie hier betreiben.
({7})
Wir alle wissen, dass bei diesen Jugendlichen meistens nur eines hilft: eine schnelle Verfolgung und eine
schnelle Verurteilung. Zudem brauchen sie häufig eine
Schadenswiedergutmachung - gemeinnützige Arbeit, Interventionsmaßnahmen -, zur Not auch einen Bewährungshelfer, der ihnen auf die Füße tritt. Das senkt die
Rückfallquote. Das zeigen alle Erfahrungen und Statistiken.
Jugendliche in einen Arrest zu stecken, der eine Kontaktbörse für Kriminelle ist, von denen fast 70 Prozent
wieder rückfällig werden, das hat mit einer erfolgreichen
Bekämpfung der Jugendkriminalität überhaupt nichts zu
tun
Genauso unsinnig ist die von Ihnen geplante Heraufsetzung der Höchststrafe für Heranwachsende von 10 auf
15 Jahre. Wäre die Bundesjustizministerin hier, würde
sie sich schütteln, dass sie diesen Unsinn mitmachen
muss. Ganze sechs bis sieben Jugendliche und Heranwachsende erhalten in Deutschland jedes Jahr die
Höchststrafe von 10 Jahren. Für diese Handvoll Straftäter machen Sie ein Gesetz, und das verkaufen Sie als erfolgreiche Rechtspolitik; das ist doch lächerlich. Wen
Sie nach 10 Jahren im Knast nicht zur Besinnung gebracht haben, den werden Sie auch nach 15 Jahren nicht
auf die vernünftige Bahn bekommen.
({8})
Sie werden diesen Gesetzentwurf gleich verabschieden, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und
FDP. Aber auch die FDP weiß: Mit einer vernünftigen
und guten Rechtspolitik hat das überhaupt nichts zu tun.
({9})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute zwei Gesetzentwürfe, die eines gemeinsam haben: In beiden Fällen geht es um die Frage der Angemessenheit und der
Ausgestaltung von staatlichen Sanktionen für strafbares
Verhalten.
Zur Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes. Gerade
in diesem Bereich ist es aus meiner Sicht ganz wichtig,
dass der Staat deutlich und bestimmt reagiert, wenn
junge Leute gegen die Rechtsordnung und gegen die
Wertegemeinschaft verstoßen. Mit der Implementierung
des Warnschussarrests in das Jugendgerichtsgesetz wird
eine langjährige Forderung, insbesondere der CSU, umgesetzt.
({0})
Ich kann nicht verstehen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie das als
„Instrumente aus der strafrechtlichen Mottenkiste“ titulieren.
Worum geht es denn ganz konkret? Es geht darum,
dass jugendliche Straftäter, die eine Freiheitsstrafe erhalten haben, welche zur Bewährung ausgesetzt wird, das in
der Praxis leider Gottes häufig als „Freispruch zweiter
Klasse“ empfinden und vielleicht sogar sich dessen rühmend den Gerichtssaal verlassen. Ich nehme es sehr
wohl ernst, wenn uns Praktiker sagen, sie sähen das konkrete Bedürfnis, derartigen Straftätern neben der zur Bewährung ausgesetzten Strafe einen temporären Warnschussarrest aufzubrummen, damit verhindert wird, dass
sie rückfällig werden.
({1})
Ich bin der festen Überzeugung, dass das Instrument des
Warnschussarrests in bestimmten Fällen geeignet ist, den
Beginn einer strafrechtlichen Karriere von vornherein zu
verhindern.
({2})
Deswegen halte ich es für richtig, dass dieser Warnschussarrest eingeführt und das bisher geltende Koppelungsverbot, normiert in § 8 Abs. 2 Satz 1 JGG, aufgehoben wird.
Mit der Implementierung des Warnschussarrests in das
Jugendgerichtsgesetz verknüpfe ich auch die Hoffnung,
dass die Länder dafür sorgen, dass die Verfahren gegen
jugendliche und heranwachsende Straftäter schneller
durchgeführt werden als bisher. Auch hier gilt der
Grundsatz: Schnelles Recht ist gutes Recht. Gerade für
junge Menschen, die in manchen Bereichen vielleicht
noch nicht über die notwendige geistige Reife verfügen,
ist es wichtig, ihnen sehr schnell und unmittelbar vor
Augen zu führen, welche Folgen es hat, wenn sie sich
strafrechtlich signifikant verhalten und gegen unser
Strafrecht verstoßen. Des Weiteren habe ich die Hoffnung, dass die Jugendrichter sehr maßvoll, in Einzelfällen aber durchaus dezidiert von der Möglichkeit des
Warnschussarrests Gebrauch machen. Dieser Arrest ist
eine flexible und zeitgemäße Ausweitung des Instrumentenkastens im Jugendgerichtsgesetz.
Gleiches gilt für die Erhöhung des Strafrahmens von
10 auf 15 Jahre, zumindest in einigen Ausnahmefällen.
Solche Fälle gibt es leider auch bei jugendlichen oder
heranwachsenden Straftätern. Manche von ihnen lassen
sich derart gravierende, hochkriminelle Straftaten zuschulden kommen, dass die Möglichkeit der Verhängung
einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren erforderlich wird, um
ein gerechtes Unwerturteil bezüglich dieser Strafe zu fällen.
Ich möchte auch einige durchaus positive Beispiele
aus der Praxis erwähnen, zum Beispiel das Neuköllner
Modell hier in Berlin oder das Bamberger Modell in
Bayern. Bei diesen Modellen werden den jugendlichen
Straftätern die Folgen ihres strafbaren Verhaltens sehr
schnell und konsequent vor Augen geführt.
({3})
Ich komme zum zweiten Gesetzentwurf, der heute in
erster Lesung beraten wird, nämlich zur Umsetzung des
Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung.
Wir setzen konsequent und meines Erachtens sehr
schnell, Frau Kollegin Lambrecht - wir hätten sogar
noch ein Jahr mehr vom Bundesverfassungsgericht eingeräumt bekommen -, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai letzten Jahres um.
Ich persönlich bin der Meinung, dass die Forderung
und der Wunsch des Bundesrates, das Instrument der
nachträglichen Therapieunterbringung noch in das Gesetz aufzunehmen, ernsthaft und ausführlich geprüft
werden sollte. Mit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wird man sicherlich nicht allen Fällen gerecht. Es
gibt durchaus Fälle, in denen es erforderlich ist, daneben
auch die nachträgliche Therapieunterbringung verhängen zu können. Im Freistaat Bayern ist die nachträgliche
Sicherungsverwahrung in den Jahren 2005 bis 2010 in
genau vier Fällen verhängt worden. Man sieht: Von dieser Möglichkeit wird sehr maßvoll und sehr dezidiert
Gebrauch gemacht. Wenn man sich das Ganze an einem
konkreten Fall verdeutlicht, wird jeder sehr schnell Verständnis dafür haben, dass es dieses zusätzlichen Instruments im Strafgesetzbuch auch weiterhin bedarf.
Ich möchte Ihnen einen Fall nennen: Ein männlicher
Straftäter hat verschiedene weibliche Familienangehörige in vielen Fällen - insgesamt über 1 000; das ist
wirklich unvorstellbar - sexuell belangt; er hat sich des
sexuellen Übergriffs strafbar gemacht, teilweise auch der
Vergewaltigung. Er ist zu Recht zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im Laufe des Strafvollzugs und
Stephan Mayer ({4})
der dabei unternommenen Therapieversuche ist dann erkannt worden, dass er eine Schizophrenie aufweist, dass
also durchaus die Gefahr besteht, dass er nach Beendigung seines Strafvollzugs neben Familienangehörigen
auch Dritte belangen wird. In dem Fall ist - meines Erachtens richtigerweise - die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet worden.
Es gibt immer wieder einmal Fälle, in denen im Rahmen des Strafvollzugs und entsprechender Therapieunterbringungen Fälle von Schizophrenie, aber auch multipler sexueller Übergriffe auftreten, weshalb aus meiner
Sicht die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunterbringung aufrechterhalten werden muss und ins Gesetz
aufgenommen werden sollte. Wir haben am 27. Juni eine
Sachverständigenanhörung. Ich hoffe, dass dieser Punkt
im Rahmen der Sachverständigenanhörung vonseiten
der Experten intensiv beleuchtet wird.
Ich möchte einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen, den der Bundesrat ebenfalls in seine Stellungnahme aufgenommen hat. Hier geht es um die Neufassung des § 67 a Abs. 2 Satz 2 StGB. Wenn der Satz so
bliebe, wie er jetzt im Entwurf steht, bestünde die konkrete Gefahr, dass es zu einer Erhöhung der nicht unerheblichen Zahl an Überweisungen von höchstgefährlichen,
nicht therapiefähigen und teilweise nicht therapiewilligen Straftätern in den psychiatrischen Maßregelvollzug
kommt. Das bedeutet ganz konkret, dass zum Beispiel in
Bezirkskrankenhäusern einerseits Menschen, die nicht
oder nur teilweise schuldfähig sind, therapiert werden,
andererseits ein paar Türen weiter voll schuldfähige
Straftäter, die überhaupt nicht therapiewillig und auch
gar nicht therapiefähig sind. Dies ist aus meiner Sicht
schon aus Sicherheitserwägungen nicht hinnehmbar. Ich
sage aber ganz offen: Ich glaube, dass mit dieser Regelung der Intention des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht entsprochen wird. Es kann nicht sein, dass
Personen, die gar keine psychische Erkrankung aufweisen, in psychiatrisch-forensischen Kliniken untergebracht werden. Ich glaube, dass dringender Änderungsbedarf gegeben ist, was § 67 a Abs. 2 Satz 2 im Entwurf
anbelangt.
Insoweit steht uns insbesondere im Rahmen der jetzt
anstehenden Sachverständigenanhörung durchaus noch
einiges an Arbeit bevor. Zum einen hoffe ich, dass unser
Gesetzentwurf zur Aufnahme des Warnschussarrests und
zur Erhöhung der Höchststrafe für Jugendliche von
10 auf 15 Jahre in diesem Haus eine möglichst große
Mehrheit findet. Zum anderen freue ich mich auf intensive und konstruktive Verhandlungen und Gespräche zu
unserem zweiten Gesetzentwurf, was die Novellierung
der Sicherungsverwahrung anbelangt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9874 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9990, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9389 in der
Ausschussfassung anzunehmen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt,
über Art. 1 Nr. 9 einerseits und über den Gesetzentwurf
im Übrigen andererseits getrennt abzustimmen.
Ich rufe also zunächst Art. 1 Nr. 9 in der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Art. 1 Nr. 9 ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in
der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Alle Teile des Gesetzentwurfs
sind damit in zweiter Beratung mit der Mehrheit der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei
Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, möchte ich Ihnen die von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen,
die wir vorhin vorgenommen haben, übermitteln. Zunächst zur Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Art. 45 d des Grundgesetzes:
abgegebene Stimmen 576, ungültige Stimmen 3, gültige
Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 516, mit Nein haben gestimmt 19, Enthaltungen 38. Der Abgeordnete
Michael Grosse-Brömer hat 516 Stimmen erhalten. Die
erforderliche Mehrheit wurde erreicht. Er ist damit gewählt.
Wir kommen zum Ergebnis der Wahl der ordentlichen
Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des
Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmkarten 580, davon gültig 579, ungültige Stimmen 1. Nun
kommen wir zu den einzelnen Personen. Von den gültigen Stimmen entfielen wie folgt auf die Abgeordneten
Norbert Barthle: Ja 492, Nein 38, Enthaltungen 33,
Bartholomäus Kalb: Ja 500, Nein 33, Enthaltungen 36,
Eckhardt Rehberg: Ja 489, Nein 42, Enthaltungen 36,
Michael Stübgen: Ja 479, Nein 45, Enthaltungen 43,
Lothar Binding: Ja 514, Nein 27, Enthaltungen 23, Petra
Merkel: Ja 510, Nein 33, Enthaltungen 19, Florian
Toncar: Ja 483, Nein 49, Enthaltungen 30, Dietmar
Bartsch: Ja 434, Nein 70, Enthaltungen 35, Priska Hinz:
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ja 488, Nein 35, Enthaltungen 30. Diese neun Abgeordneten haben also die erforderliche Mehrheit erreicht. Sie
sind damit als ordentliche Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes gewählt.
Wir kommen zum Ergebnis der Wahl der stellvertretenden Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3
des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene
Stimmen 580, davon gültig 579, ungültige Stimmen 1.
Die gültigen Stimmen entfielen wie folgt auf die Abgeordneten Norbert Brackmann: Ja 506, Nein 25, Enthaltungen 36, Klaus-Peter Flosbach: Ja 498, Nein 30, Enthaltungen 39, Alois Karl: Ja 493, Nein 30, Enthaltungen
43, Bernhard Schulte-Drüggelte: Ja 496, Nein 27, Enthaltungen 42, Michael Roth: Ja 496, Nein 35, Enthaltungen 25, Rolf Schwanitz: Ja 478, Nein 49, Enthaltungen
24, Joachim Spatz: Ja 486, Nein 43, Enthaltungen 37,
Roland Claus: Ja 403, Nein 86, Enthaltungen 39, Manuel
Sarrazin: Ja 471, Nein 42, Enthaltungen 40. Diese neun
Abgeordnete haben also auch die erforderliche Mehrheit
erreicht, und sie sind damit als stellvertretende Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes gewählt.
Das war noch nachzutragen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Risiken der Riester-Rente offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln
- Drucksache 17/9194 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Matthias W.
Birkwald für die Fraktion Die Linke das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Vor mehr als elf Jahren haben SPD
und Grüne eine einschneidende Rentenreform auf den
Weg gebracht. Am 16. November 2000 sagte der damalige Bundessozialminister Walter Riester hier im Plenum
- ich zitiere -:
Wir haben das Ziel, das Versorgungsniveau im Alter insgesamt zu erhöhen.
Und er behauptete - Zitat -:
Wir ergänzen die gesetzliche Rente mit einer zusätzlichen kapitalgedeckten Rente und werden damit das Rentenniveau insgesamt dauerhaft anheben.
Heute ist klar: Dieses Versprechen war heiße Luft. Es hat
nichts mit der Wirklichkeit zu tun, heute nicht, morgen
nicht und übermorgen auch nicht. Das ist die traurige
Wahrheit.
({0})
Um die Beiträge im Interesse der Arbeitgeber niedrig
und stabil zu halten, wurden das Rentenniveau gesenkt
und die Riester-Rente eingeführt. Das bedeutet eine dramatische Kürzung der gesetzlichen Renten. Wer im Jahr
2001 eine Rente von 1 000 Euro hatte, wird sich im Jahr
2030 mit 765 Euro bescheiden müssen. Um den einmal
erreichten Lebensstandard auch im Alter halten zu können, sollten die Menschen fortan privat vorsorgen, beschloss Rot-Grün. Heute wissen wir, wer die Gewinnerin
ist. Es ist die Versicherungswirtschaft. Sie kann sich über
Mehreinnahmen in Milliardenhöhe freuen. Ebenfalls
freuen können sich die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen. Sie müssen nämlich weniger in die Rentenkasse
zahlen, weil sie sich nicht an der privaten Riester-Vorsorge beteiligen müssen. Wir wissen aber auch, wer die
Verliererinnen und Verlierer sind. Es sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie sollen einen Teil der
Altersvorsorge ganz allein tragen. Das ist sozial höchst
ungerecht und durch nichts zu rechtfertigen.
({1})
Aber es kommt noch schlimmer. Derzeit spricht nämlich alles dagegen, dass mit der privaten Vorsorge die
politisch willkürlich gerissene Altersvorsorgelücke tatsächlich geschlossen werden könnte. Das heißt, die Versiche-rungswirtschaft und die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber profitieren garantiert, Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer werden bestenfalls mit ungedeckten Versprechen entlassen. Hier liegt der sozialpolitische Skandal. Da müssen wir heran. Da will die Linke heran, als
einzige bisher.
({2})
Die Riester-Rente steht seit langem völlig zu Recht in
der Kritik. Sie ist intransparent; denn die hohen Kosten
und die schmalen Renditen sind durch die Sparerinnen
und Sparer kaum zu erkennen. Sie ist unwirtschaftlich;
denn die Verwaltungskosten sind viel zu hoch. Das ist
ein Grund dafür, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung klar und deutlich sagt - ich zitiere -:
Riestern ist oft nicht besser, als das Geld in den
Sparstrumpf zu stecken.
Nicht zuletzt versagt die Riester-Rente in sozialpolitischer Hinsicht auf ganzer Linie; denn die Riester-Reformen sorgen weder für eine Lebensstandardsicherung und
schon gar nicht für ein Leben im Alter frei von Armut.
Das heißt: Die Riester-Rente löst die Probleme nicht. Sie
ist ein Irrweg.
({3})
Die staatlichen Subventionen in Milliardenhöhe fließen ganz zuverlässig in die Taschen der Versicherungsunternehmen. Aber was kommt davon bei den Sparerinnen und Sparern an? Was trägt die Riester-Rente dazu
bei, den Lebensstandard zu sichern? Was trägt die
Riester-Rente dazu bei, im Alter ein Leben frei von Armut führen zu können? Auf diese wichtigen Fragen gibt
es von der Bundesregierung bisher kaum brauchbare
Antworten. Das muss sich ändern. Darum fordern wir
Linken die Bundesregierung auf, einmal im Jahr einen
umfangreichen Riester-Bericht vorzulegen.
({4})
Nach Auskunft der Bundesregierung sind seit 2001
15,5 Millionen Riester-Verträge abgeschlossen worden.
Doch das ist keine Erfolgsstory. Diese absolute Zahl hat
nur dann Aussagekraft, wenn die Gesamtzahl der potenziellen Riester-Sparerinnen und -Sparer bekannt ist.
Aber diese Zahl kann die Bundesregierung nicht nennen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt
die Zahl der Riester-Berechtigten auf ungefähr 37,5 bis
42 Millionen. Das heißt, dass nur etwa 37 bis 41 Prozent
von denen, die eigentlich riestern dürften, dies überhaupt
tun. Aber Vorsicht! Die Anzahl der Verträge sagt nichts
aus über die tatsächliche Zahl der Menschen, die riestern, da einzelne Personen mehrere Verträge haben, und
es ist zu bedenken, dass nur diejenigen eine theoretische
Chance haben, ihre Versorgungslücke zu schließen, die
eine volle Zulagenförderung erhalten. Die bekamen
2010 aber gerade einmal 5,4 Millionen oder 13 bis
14 Prozent der möglichen Riester-Sparerinnen und -Sparer. Noch nicht einmal diese kleine Gruppe hat von den
staatlichen Zulagen etwas; denn laut Zeitschrift Öko-Test
fressen die Vertragskosten fast die gesamten Zulagen
auf. So sieht es aus! Hinschauen statt Schönreden ist hier
gefragt. Deshalb müssen solche Daten regelmäßig auf
den Tisch gelegt werden.
({5})
Das, was wir aus dem Rentenversicherungsbericht
2011 über die Riester-Rente erfahren können, reicht für
eine Bewertung nicht aus. Nicht von ungefähr kritisiert
das DIW, dass die ganze Riesterei eine „Politik ohne
Marktbeobachtung“ sei, dass es sich bei den Jubelmeldungen der Bundesregierung um „Erfolgsmeldungen
ohne Fundament“ handele. Nur aus der unabhängigen
Forschung gibt es immer wieder Studien, die nachweisen: „Die Riester-Reform ist ein Flop“, und das gilt insbesondere für Menschen mit wenig Geld.
Das Mindeste, das alle Bürgerinnen und Bürger von
der Regierung erwarten können, ist, dass sie regelmäßig
die Folgen ihrer Rentenpolitik überprüft und transparent
macht. In Sachen Riester gehört aus unserer Sicht zum
Beispiel Folgendes dazu: Wie wirken sich die Rentenkürzungen und die Riesterei auf Menschen mit geringem
Einkommen aus? Warum glaubt die Versicherungswirtschaft, dass die Menschen so viel länger leben, als es das
Statistische Bundesamt annimmt? Wie entwickelt sich
das Rentenniveau nach Steuern und Abgaben aus der gesetzlichen Rente und aus der Riester-Rente? Die Linke
will, dass in Sachen Riester endlich Klarheit und Wahrheit herrschen.
({6})
Das, was bisher bekannt ist, kann nur zu einer Forderung führen: Die Riester-Subventionen für die Versicherungswirtschaft müssen endlich in die Kassen der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden. Dorthin
gehören sie. Dort helfen sie, den Lebensstandard zu sichern. Dort tragen sie dazu bei, im Alter frei von Armut
leben zu können.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Mathias Middelberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Birkwald, das Bild, das Sie hier
eben gezeichnet haben, war aus unserer Sicht - ich
glaube, da spreche ich für einen Großteil dieses Hauses ein Zerrbild. Wir haben Defizite bei Riester; darüber darf
man nicht hinwegreden. Diese Defizite betreffen die Effizienz, die Rendite dieser Verträge. Auch wir sehen,
dass der Verwaltungskostenanteil, die Vermittlergebühren und andere Posten zu hoch sind. Wir sehen auch,
dass wir da zu deutlich mehr Transparenz kommen müssen. Wir brauchen auch mehr Transparenz für die Verbraucher, um Verträge vergleichbarer zu machen, um
mehr Wettbewerb in diesem Markt zu erzeugen und um
es für die Verbraucher einfacher zu machen.
Aber wir ziehen daraus eine andere Schlussfolgerung
als Sie. Wir sagen deshalb nicht, die private Zusatzvorsorge, Riester oder Rürup, ist Mist und muss weg,
({0})
sondern wir sagen: Das ist ein wichtiges zusätzliches
Standbein der Altersvorsorge. Uns kommt es darauf an,
diesen grundlegenden Schritt weiterzugehen, nämlich
das Bewusstsein dafür zu wecken, für die eigene Altersversorgung zusätzlich privat vorzusorgen und auch zusätzlich private Mittel zu mobilisieren. Es wäre nicht damit getan, wenn wir die Zulagen, wie Sie es fordern,
einfach in die normale Rentenkasse geben würden. Wir
hätten dann eine noch wesentlich größere Rentenlücke;
denn all die zusätzliche private Sparleistung, all das, was
wir zusätzlich mobilisiert haben, würde dann von heute
auf morgen wegfallen. Das würde die Probleme mitnichten lösen.
({1})
Es kommt also darauf an, das System effizienter zu
gestalten. Ich will alle drei Säulen ansprechen; denn man
muss die Altersvorsorge insgesamt betrachten. Zum System insgesamt hat ein bekannter und erfahrener Politiker
in diesem Haus gesagt: „Wenn man sich die Rentenversicherungssystematik insgesamt anschaut, weiß man:
Das Wichtigste, das man tun kann, ist, für Bildung, Qualifizierung und Arbeit zu sorgen.“ Die spätere Entwicklung hänge davon ab, wie sich Arbeitslosigkeit in diesem
Lande entwickele. Das sagte Franz Müntefering 2006.
Ich finde, er hatte recht.
Damals, im März 2006, als Franz Müntefering das
sagte, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose. Heute haben
wir - das ist Ergebnis der Politik dieser Bundesregierung, aber durchaus auch Ergebnis der Politik der Großen Koalition - nur noch 2,7 Millionen Arbeitslose. Wir
haben die gesetzliche Rentenversicherung deutlich stabilisiert, weil wir deutlich mehr Beitragszahler und wesentlich weniger Arbeitslose haben.
Auch die Lohnsumme insgesamt und die durch Beiträge zur Verfügung stehende Summe sind erheblich gestiegen. 2006 hatten wir 26 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Im März 2012 hatten wir
29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
und damit mehr Einzahler in das gesetzliche System.
Damit haben wir einen entscheidenden Beitrag für eine
stabilere Altersvorsorge geleistet.
({2})
Es ist mir wichtig, dieses Grundlegende vorweg festzustellen.
Ich möchte die zweite Säule, die betriebliche Altersvorsorge, ansprechen. Auch da, glaube ich, haben wir das sage ich für die Große Koalition - einen Schritt zur
Stabilisierung getan; denn wir haben die steuerliche Begünstigung, die wir dort ursprünglich befristet eingerichtet hatten, 2008 entfristet und verlängert, sodass die betriebliche Altersvorsorge jetzt auf wesentlich stabileren
und verlässlicheren Füßen steht als vorher.
Die dritte Säule ist die private Zusatzvorsorge, also
Riester und Rürup. Insofern begrüße ich den Antrag, den
Sie gestellt haben, weil er uns die Gelegenheit gibt, über
das System der privaten Zusatzversicherungen zu sprechen. Man sollte allerdings sachlich und vernünftig darüber diskutieren, was man an diesen Systemen optimieren kann.
({3})
Aus unserer Sicht sollten die Fördergrenzen angepasst
werden, und man sollte sie mit der wirtschaftlichen Entwicklung mitlaufen lassen. Außerdem sollte man ein
einheitliches Produktinformationsblatt zur Verfügung
stellen, um endlich - davon haben auch Sie gesprochen Transparenz und Klarheit herzustellen; in diesem Punkt
sind wir uns sehr einig. Wir brauchen Vergleichbarkeit;
die jeweiligen Produkte müssen für den Normalverbraucher also leicht vergleichbar sein. Forderungen wie
„Weg mit Riester!“ oder „Weg mit Rürup!“ helfen uns
nicht. Was wir brauchen, sind Klarheit und Transparenz
beim Vergleich der jeweiligen Produkte.
({4})
Erforderlich ist außerdem eine Deckelung der Wechselkosten, also der Kosten, die bei einem Anbieterwechsel anfallen. Ich halte es für sinnvoll, dass wir darüber
hinaus eine Produktkontrolle durch die BaFin einrichten.
Notwendig sind ferner Verbesserungen beim Erwerbsminderungsschutz; diesen Aspekt haben Sie gerade zwar
nicht angesprochen, aber in Ihrem Antrag ist er erwähnt.
Auch dieses Thema muss bei Rürup und Riester eine
größere Rolle spielen.
Uns, den Koalitionsfraktionen, schwebt außerdem
vor, den altersgerechten Umbau in die Riester-Förderung
einzubeziehen und damit den Wohn-Riester zu ertüchtigen. Ich glaube, wenn wir bei diesem Thema konstruktiv
zusammenarbeiten - das sollten wir -, dann können wir
Riester deutlich effizienter gestalten. Zugegeben - um
das klar festzustellen -: Die Renditen bei Riester sind
aus unserer Sicht nicht zufriedenstellend. Hier muss es
zu Verbesserungen kommen. Das heißt aber nicht, dass
man, wie es das DIW andeutet, das ganze System zurückschrauben und umbauen sollte.
({5})
Vielmehr geht es darum, Riester und Rürup effizienter
zu gestalten.
Ich glaube auch nicht, dass wir einen gesonderten Bericht über die private Altersvorsorge brauchen. Ich
meine, dass wir dieses Thema in den Altersvorsorgebericht, den die Bundesregierung ohnehin abgibt, integrieren können. Auch über die zusätzlichen Daten, die
im Bereich der privaten Altersvorsorge von Bedeutung
sind, kann dort berichtet werden. Das erspart uns, denke
ich, zusätzliche Bürokratie.
Ich komme zum Schluss und weise auf das hin, was
die OECD in der letzten Woche festgestellt hat. Sie hat
die Rentenpolitik dieser Regierung und die Festlegungen, die die Große Koalition getroffen hat, durchaus gelobt. Die OECD hat zwei zentrale Feststellungen getroffen. Erstens hat sie festgestellt, die Anhebung des
Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sei ein sinnvoller
Schritt gewesen, um das Rentensystem tragfähiger zu
machen. Die OECD geht sogar noch einen Schritt weiter
und fordert die Schaffung eines Automatismus - in
Dänemark beispielsweise gibt es einen solchen Automatismus schon -, und zwar dahin gehend, dass das
Renteneintrittsalter im Zuge der steigenden Lebenserwartung automatisch steigt. Hier gab es für unsere politische Richtung also durchaus Lob. Zweitens macht die
OECD deutlich, dass man die private Altersvorsorge
nicht verdammen soll. Vielmehr sollte die private Altersvorsorge noch stärker und zielgerichteter gefördert
werden.
Ich stelle an dieser Stelle fest: Es gibt Verbesserungsbedarf. Aber der Kurs ist richtig.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Über den vorliegenden Antrag freue ich mich
sehr. Im Rahmen meiner Vorbereitungen auf die heutige
Debatte bin ich das gesamte Gesetz zur Einführung der
Riester-Rente aus dem Jahre 2002 durchgegangen. Ich
habe jeden Antrag - auch jeden Antrag der Linken - und
jede Kleine Anfrage zu diesem Thema gelesen. Außerdem habe ich mir Gutachten und zusätzliche Informationen beschafft, zum Beispiel von Finanztest, von Ökotest
und vielen anderen, die sich mit diesem Thema befassen.
Insbesondere Finanztest hat im Jahr 2005, im Jahr 2008
und im Jahr 2012 bescheinigt, dass sich das Riestern und
eine entsprechende Zusatzversicherung lohnen; im letzten Heft vom Mai 2012 kam dies erneut sehr deutlich
zum Ausdruck.
Ich muss dazusagen - das ist dann die andere Seite
der Medaille -, dass es, wie die Kollegen hier gerade
auch beschrieben haben, einen Nachbesserungsbedarf
gibt. Das Gesetz wurde vor über zehn Jahren verabschiedet. Es wurde immer wieder nachgefragt, und es wurden
Erfahrungswerte festgestellt. Ich möchte den hier im
Plenum erleben, der nicht sagt, dass es noch einen Nachbesserungsbedarf gibt. Das stelle ich hier und heute anhand des Antrages auch fest. Insofern freue ich mich
sehr, dass sich die Finanzer nach der Überweisung an
den Finanzausschuss mit diesem Thema beschäftigen
sollen. Überall da, wo Probleme auftauchen oder wo es
einen Verbesserungsbedarf gibt, müssen wir entsprechend vorgehen.
Ich gehe einmal gedanklich in die Zeit um das Jahr
2000 zurück. Damals haben wir zum ersten Mal erlebt,
dass 15 Millionen Menschen darüber geredet und sich
Gedanken darüber gemacht haben, wie ihr Leben nach
dem Erwerbsleben aussehen wird. Wer hätte damit gerechnet, dass sich junge Erwachsene, die sich gerade in
einer Ausbildung befinden oder nach dem Studium ihren
ersten Job erhalten haben, damit beschäftigen, wie es
nach dem Erwerbsleben sein wird, wo sie dann stehen
werden und wie sie ihren Standard halten können? Dazu
kam es damals zum ersten Mal, und zwar auch durch die
Diskussion über Riester und Rürup, und diese Diskussion ist auch richtig.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Vielleicht hinkt das
Beispiel, wie das mit Beispielen nun einmal so ist, aber
vielleicht trifft es doch zu: Jede Patentante und jeder
Patenonkel schließt zur Taufe des Patenkindes einen
Bausparvertrag ab oder eröffnet ein klassisches Sparbuch. Das ist selbstverständlich und normal. Niemand
redet darüber und stellt das infrage. Warum wird es demgegenüber als fraglich angesehen, wenn wir darüber
nachdenken, wie wir das Zeitfenster nach unserem
Erwerbsleben gestalten? Warum ist das ein Problem?
Warum stellen Sie die drei Säulen infrage? Warum sagen
Sie, dass die drei Säulen nicht richtig sind?
Der Antrag Ihrer Fraktion wird heute überwiesen. Ich
sage es vorweg: Würde heute darüber abgestimmt, dann
würden wir uns sehr gerne enthalten, weil zwar einige
kritische Elemente darin richtig sind, wir den Grundtenor, die drei Säulen abzulehnen, allerdings nicht teilen.
Diesen Grundtenor Ihres Antrags bedauere ich. Wir
möchten gerne mit Ihnen gemeinsam konstruktiv und
nach vorne gerichtet für die Menschen an Verbesserungsvorschlägen arbeiten. Insofern wäre der Diskussionsprozess in den Fachausschüssen sehr wichtig. Ich
würde mich sehr freuen, wenn Sie es tatsächlich ernst
meinen würden, wenn Sie vom Zuhören, Mitgestalten
und Gestalten sprechen, und wenn Sie dies auch tatsächlich tun würden.
Wenn wir von Standards reden, dann müssen wir
natürlich sagen, dass gerade die staatlich geförderte
Altersvorsorge höheren Standards und strengeren Kriterien entsprechen muss. Deswegen müssen gerade diese
Anlagen konservativ sein und stärker kontrolliert werden. Ich möchte nicht, dass sie spekulativ sind, was
möglicherweise zu einer höheren Ausschüttung führen
kann, sondern sie sollen lieber konservativ gehalten werden; denn es ist ja gerade der Sinn und der Reiz von
Riester, dass man zumindest das herausbekommt, was
man tatsächlich einbezahlt hat.
({0})
Dies ist auch eine ganz eindeutige Feststellung von
Finanztest. Die gesetzliche Garantie sorgt dafür, dass am
Ende zumindest das Eingezahlte gesichert ist.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt
nicht die weiteren Vorzüge ansprechen. Ich glaube, wer
sich intensiv damit beschäftigt, der weiß, wie notwendig
es war, dass wir 2002 in dieser Form vorangegangen
sind.
Ich möchte jetzt gerne auch über die Nachbarländer
sprechen, die ebenfalls Erfahrungen damit haben, und
darüber, wie sie damit umgehen. Schauen Sie sich die
Niederlande, Schweden oder die anderen Nachbarländer
an, die sich intensiv damit beschäftigt haben. Diese Länder haben genau das getan, was Sie vorhin angesprochen
haben: Sie haben die Höhe der Gebühren gedeckelt und
für ein konservatives Portfolio gesorgt. Durch die Aufsichtsgremien wird immer wieder kontrolliert, sodass
dort keine Spekulation stattfinden kann. Es gibt dort eine
große Transparenz, und sie haben ein einfaches Informationsblatt erstellt, das für jeden nachvollziehbar und
transparent sein muss. Eine Altersvorsorge bedeutet
nämlich nicht, dass man das Geld, das man nicht konsumieren, sondern anlegen möchte, spekulativ anlegt; denn
diese Anlage dient der Altersvorsorge.
({2})
Das, was unsere Nachbarländer gemacht haben, sollten
wir im Rahmen der weiteren Beratungen auf jeden Fall
aufgreifen.
Ich begrüße die Überweisung an den zuständigen
Ausschuss. Ich hoffe, der Antrag wird an den Finanzausschuss überwiesen, weil die Überschrift „Risiken der
Riester-Rente offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln“ eindeutig für eine Überweisung an
den Finanzausschuss spricht. Wir müssen stärker dafür
werben, dass nicht nur junge Menschen, sondern alle
Petra Hinz ({3})
Menschen für ihr Leben im Alter entsprechend Vorsorge
treffen.
Zum Schluss: Ja, es ist nicht alles richtig, aber es ist
auch nicht alles verkehrt. Wir sollten zukünftig im Rahmen der Beratungen über mehr Transparenz und über
niedrigere und gedeckelte Gebühren sprechen; denn es
kann in der Tat nicht sein, dass beim Abschluss einer
Riester-Rente zum Teil über 16 Prozent Gebühren
({4})
- ich beziehe mich auf Finanztest - anfallen. Es ist egal,
ob es nun 16 oder 20 Prozent sind: Diese Gebühren sind
auf jeden Fall zu hoch und dürfen nicht sein. Es sollte
beim Abschluss einer Versicherung generell nicht der
Fall sein, dass man erst eine gewisse Zeitspanne einzahlt, bevor man eigentlich anspart. Darüber können wir
uns gern unterhalten.
Regelungen zu niedrigeren Gebühren und besseren,
einfacheren und einheitlichen Informationen sollten sich
in jedem Fall in diesem Gesetz wiederfinden und es weiterentwickeln. Wenn wir gemeinsam an diesen Zielen arbeiten, dann kommen wir zusammen. Ich wünsche mir
das. Meine Fraktion hat in diesem Fall schon eine Enthaltung in der Abstimmung signalisiert. In diesem Sinne
wünsche ich uns eine gute Beratung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und, wie wir
im Ruhrgebiet sagen, ein herzliches Glückauf!
({5})
Das Wort hat nun Frank Schäffler für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Hier geht es eigentlich nicht so sehr um diesen
Antrag, sondern hier geht es um eine grundsätzlich unterschiedliche Auffassung zur Rolle des Staates und zur
Rolle von privaten Sparern. Sie sind der Auffassung,
dass die Altersvorsorge über eine gesetzliche Umlageversicherung unter Berücksichtigung des demografischen Wandels geregelt und weiter vorangebracht werden muss, die aber am Ende vor die Wand fährt. Das ist
nicht unsere Auffassung. Wir wollen die Sparkultur in
Deutschland fördern.
Ich will den rot-grünen Entwurf der Riester-Rente
durchaus loben. Das war ein großer Schritt zur Steigerung der Sparkultur in diesem Land. Am Ende hat die
Riester-Rente dazu geführt, dass es beim Sparen nicht
nur gerecht zugeht, sondern auch sozial gerecht. Sie ist
deshalb gerecht, weil derjenige, der spart, zumindest
wenn er in Riester-Verträge spart, steuerlich genauso behandelt wird wie jemand, der heute konsumiert. Letztendlich ist der Riester-Vertrag nur eine Verlagerung der
Steuerlast in die Rentenphase, zumindest für diejenigen,
die normal Einkommensteuer zahlen. Gleichzeitig ist sie
sozial gerecht, weil man ebenfalls diejenigen fördert, die
keine Steuern zahlen. Das geschieht über die Zulagen.
Das heißt, es handelt sich um ein sozial gerechtes Vorsorgesparen.
Deshalb ist es schlecht, wenn man das jetzt schlechtredet. Das machen Sie.
({0})
Sie schüren Unsicherheit beim Sparer. Das sorgt am
Ende dafür, dass weniger Menschen vorsorgen.
({1})
Aber die Vorsorge ist genau das, was wir wollen. Wir
wollen, dass die Menschen im Alter unabhängig vom
Staat sind. Wir wollen, dass sie selbst vorsorgen und ihr
Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das ermöglicht
eben ein Riester-Vertrag.
Angesichts der aktuellen Finanzkrise ist das Positive
in Deutschland, dass wir eine hohe Sparquote haben,
dass die Menschen vorsorgen. Die Sparquote im ersten
Quartal beträgt 14,4 Prozent. Das ist im internationalen
Vergleich eine sehr hohe Sparquote. Die Voraussetzung
dafür, dass es wirtschaftliches Wachstum gibt, ist, dass
gespart wird. Das ist die Voraussetzung dafür, dass investiert wird. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür,
dass Wachstum entstehen kann. Das ist die Voraussetzung, dass Arbeitsplätze in diesem Land entstehen. Das
ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass der Staat
Einnahmen über Steuern und über Sozialversicherungsbeiträge generieren kann. Diesen Zusammenhang setzen
Sie außer Kraft, indem Sie quasi diese Produkte und diesen Weg diskreditieren und schlechtreden.
({2})
Sie wollen am Ende - da müssen Sie ganz ehrlich
sein - das alte sozialistische Motto durchsetzen: Allen
soll es gleich schlechtgehen. Das ist nicht unsere Vorstellung von Politik.
({3})
Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde den Antrag der Linken auch nicht wahnsinnig toll,
aber ich glaube, die Kritik von Herrn Schäffler geht ein
bisschen an der Sache vorbei.
({0})
Mit Argumenten aus der Mottenkiste braucht man,
glaube ich, nicht zu kommen.
Ich fand den Antrag der Linken in seiner Gesamtheit
eher lustig. Am Anfang wird auf die Riester-Rente
draufgehauen, teilweise mit richtigen Argumenten, teilweise überzogen und teilweise mit aus unserer Sicht falschen Argumenten. Dann folgt die Schlussfolgerung; ich
dachte, jetzt kommt: Weg mit Riester! Hau weg den
Mist! - Was aber kam? Sie fordern einen Bericht. Das ist
großartig. Wenn das so weitergeht, kann ich nur sagen:
Die Linken sind mittlerweile ziemlich harmlos.
({1})
Zum Inhaltlichen: Es ist völlig richtig, dass man die
Alterssicherung im Ganzen sehen muss. Ich habe dabei
ein etwas anderes Bild vor Augen. Ich finde, die Alterssicherung ähnelt der Akropolis. Sie ist inzwischen alt,
war aber einst ein schönes Modell. Es wäre falsch, sie
abzureißen; man muss sie vielmehr stabilisieren bzw.
neu aufbauen. Sie ist durch die Umweltbedingungen ein
bisschen angegriffen und muss entsprechend angepasst
werden.
Wichtig ist bei der Akropolis wie bei der Alterssicherung, dass es ein stabiles Fundament gibt. Als Fundament ist die Riester-Rente nicht geeignet, weil sie zu unsicher ist. Das Fundament muss stabil sein und aus der
umlagefinanzierten Rente finanziert werden; gegebenenfalls muss steuerfinanziert etwas zur Absicherung vor
Armut getan werden. Wir sagen: Die umlagefinanzierte
Rente muss der Kern unseres Rentensystems bleiben,
und das Fundament muss solidarisch finanziert werden.
Nur dann wirken nämlich die Säulen, die darauf aufgebaut werden und den Lebensstandard sichern: die gesetzliche Säule, die private Säule und die betriebliche
Säule.
Die private Säule ist - das ist eben schon richtig gesagt worden - noch nicht so stabil und stark, wie wir uns
das eigentlich damals erhofft haben. Es gibt offensichtliche Mängel, die wir angehen müssen.
Einer dieser Mängel ist, dass wir nicht genau wissen,
was es alles an Mängeln gibt. Einer der Fehler, den wir
damals gemacht haben, ist, dass wir nicht wie bei den
Hartz-Gesetzen gleich eine Evaluation mitbeschlossen
haben. Wir wissen relativ wenig über die Wirkung der
Riester-Rente. Ich glaube, dass an dieser Stelle unbedingt nachgebessert werden muss. Vor diesem Hintergrund, finde ich, ist die Forderung nach einem Bericht
durchaus berechtigt. Darüber kann man diskutieren. Insofern korrigiere ich das „harmlos“ bezogen auf die Linken zu „überwiegend harmlos“.
({2})
Folgende Baustellen gibt es aus unserer Sicht:
Erstens. Die Riester-Rente sollte die durch das abgesenkte Rentenniveau entstandene Lücke schließen, und
zwar bei allen Einkommensgruppen. Das ist leider bisher nicht erreicht. Die entsprechende Zahl ist schon genannt worden: Nach aktuellem Stand gibt es insgesamt
15,5 Millionen Verträge. Da eine kleine Anzahl von Personen mehrere Verträge haben, haben wahrscheinlich
13 Millionen bis 15 Millionen Menschen einen RiesterVertrag. Die genaue Zahl kennen wir in der Tat nicht.
Aber es ist weniger als die Hälfte der Berechtigten. Da
muss also nachgebessert werden. Hinzu kommt: Insbesondere im unteren Einkommensbereich gibt es noch
sehr viel weniger Menschen, die einen Riester-Vertrag
haben. Wir wollen aber, dass auch in diesem Bereich die
Menschen durch die gesetzliche Rente plus RiesterRente ihren Lebensstandard sichern können. Auch da
müssen wir definitiv nachbessern.
Die zweite Baustelle ist ein verbesserter Verbraucherinnen- und Verbraucherschutz. Wer hat wirklich einen
Überblick über die mittlerweile 5 000 Produkte? Ich jedenfalls nicht. Auch für einen funktionierenden Wettbewerb ist es wichtig, eine übersichtliche Zahl von Produkten zu haben. 5 000 sind eigentlich zu viel.
Dann ist es so, dass die Produkte nicht wirklich vergleichbar sind. So etwas wie ein Produktinformationsblatt ist sicherlich wichtig, wobei zu fragen ist, was genau darin enthalten sein soll. Es muss klar sein, wann
sich eine Riester-Rente tatsächlich lohnt. Da gehen die
Meinungen ja sehr auseinander. Die Berechnungen des
DIW bzw. des Bundes der Versicherten zeigen, dass
nicht eindeutig klar ist, dass sie sich für alle lohnt. Wir
haben den Anspruch, dass sich die Riester-Rente auch
ohne Zuschüsse und Zulagen lohnt. Auch das muss aus
einem Produktinformationsblatt hervorgehen.
Darüber hinaus brauchen wir eine Gesamtübersicht
über die gesetzliche, private und betriebliche Alterssicherung. Auch hier herrscht nicht genügend Transparenz. Wir brauchen eine verbesserte und unabhängige
Beratung des Einzelnen. Es gibt gute Projekte wie das
PROSA-Projekt der Rentenversicherung in Baden-Württemberg, bei dem die Betreffenden in einem 90-Minuten-Gespräch über Sicherungslücken und Nachbesserungsbedarf aufgeklärt werden. Auch das wäre für uns
ein wichtiger Punkt.
({3})
Dritte Baustelle ist, zu klären, was denn mit dem Geld
eigentlich gemacht wird. Durch die Finanzmarktkrise ist
uns ja bewusst geworden, dass es im Hinblick auf alle
Finanzmarktprodukte eine wichtige Frage ist, in welcher
Form die Gelder auf den Finanzmärkten angelegt werden. Fragen Sie einmal bei Ihrer Bank nach, was mit Ihrem Geld gemacht wird. Bei meiner Bank würde ich eine
Antwort bekommen. Manche Banken werden darauf
eine Antwort geben, die meisten aber nicht. Aber auch
im Rahmen der Riester-Rente wäre es wichtig, Transparenz darüber zu schaffen, was mit dem Geld tatsächlich
passiert: Ist es sicher angelegt? Ist es nach ethischen, sozialen und ökologischen Kriterien angelegt? - Wir sind
der Meinung: Wenn der Staat viel Geld für die Förderung ausgibt, sollte er auch steuernd tätig werden. Das
heißt, ethische, ökologische und soziale Kriterien sollten
eine größere Rolle spielen, als es bisher der Fall ist. Aber
auch das Kriterium Sicherheit muss berücksichtigt werden. Zudem sollte die BaFin das Ganze kontrollieren.
Darin bin ich mir mit Herrn Middelberg einig.
Zusammenfassend kann ich drei zentrale Baustellen
feststellen: Wir brauchen eine stärkere und gezieltere
Regulierung, um zu wissen, was mit dem Geld gemacht
wird. Wir brauchen einen besseren Verbraucherschutz.
Die Menschen dürfen nicht abgezockt werden und müssen gut informiert werden. Wir müssen die Riester-Rente
so weiterentwickeln, dass sie auch Menschen mit geringem Einkommen den Lebensstandard sichert. Das sind
die Baustellen, die wir anpacken müssen.
({4})
Einen Bericht vorzulegen, reicht nicht aus. Wir müssen
wirklich etwas verändern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Bettina Kudla hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Als ich den Antrag der Linken gelesen habe
({0})
- ich zitiere einmal den Anfang: „Die Altersvorsorge
muss von den Finanzrisiken an den Geld- und Kapitalmärkten entkoppelt werden“ - dachte ich: Schön, jetzt
erfahre ich endlich, wie die Altersvorsorge sicherer gestaltet werden kann.
({1})
Aber weit gefehlt! Gar nichts war dazu in dem Antrag zu
lesen. Erkennbar war nur: Sie verkennen die Finanzierungsfunktion des Geld- und Kapitalmarkts. Und an der
Finanzmarktregulierung haben Sie offensichtlich nichts
auszusetzen. Das zeigt: Die Bundesregierung ist bei diesen Themen auf dem richtigen Weg.
({2})
Eines zeigt der Antrag aber ganz deutlich: Sie wollen
das bewährte Dreisäulenmodell der Rentenversicherung
infrage stellen. Warum ist das Dreisäulenmodell so
wichtig? Wir brauchen das Dreisäulenmodell, um die
Zukunft zu sichern. Ein Haus mit drei tragenden Säulen
ist einfach sicherer, als wenn man nur auf eine tragende
Säule baut. Die drei Säulen sind die gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge
({3})
und die private Altersvorsorge.
Ein paar Worte zur gesetzlichen Rentenversicherung.
Entscheidend ist, dass die Rente - das gilt im Grunde für
jedwede Rentenversicherung - erwirtschaftet wird. Das
hängt von der Zahl der Arbeitnehmer ab. Das macht
deutlich, wie wichtig die Rente mit 67 ist. Das Demografieproblem muss angepackt werden. Das Dreisäulenmodell ist notwendig. Es muss Ausgewogenheit zwischen Beitragssatzstabilität, angemessener Rentenhöhe
und Eigenverantwortung vorhanden sein.
Zur betrieblichen Altersvorsorge: Warum ist diese so
wichtig, und warum stellt diese eine Chance für Unternehmen dar? In Zeiten des Fachkräftemangels ist die Altersvorsorge ein gutes Instrument, Fachkräfte langfristig
an das Unternehmen zu binden. Im Hinblick auf die
Finanzmarktregulierung ist wichtig, dass keine kontraproduktiven Regelungen wie zum Beispiel Solvency II
eingeführt werden, die eventuell die betriebliche Altersvorsorge einschränken könnten.
Die dritte Säule ist die private Altersvorsorge. Diese
muss wirksam sein, und die Menschen müssen sie sich
leisten können.
({4})
Es kann unter Umständen gerade für Menschen mit einem mittleren oder niedrigen Einkommen ein Problem
sein, privat vorzusorgen.
({5})
Das war doch der Grund, warum der Staat 2002 die
Riester-Rente eingeführt hat. Der Staat gibt einen Anreiz, damit die Bürger privat für die Rente vorsorgen.
({6})
Die Vermögensbildung in der Bevölkerung ist gewollt.
Übrigens: Der Schutz des Eigentums und die Möglichkeit der Vermögensbildung sind Eckpfeiler der sozialen
Marktwirtschaft.
({7})
Der im Antrag der Linken erhobene Vorwurf, man
könne sich die Riester-Rente nicht leisten, ist einfach
nicht zutreffend. Die Riester-Rente ist gerade für mittlere und kleinere Einkommen da.
({8})
Sicherlich, Geld ist für den Bürger immer knapp. Aber
der Staat lässt sich die Riester-Rente auch einiges kosten. Rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr gibt der Staat den
Bürgern für den Aufbau der Riester-Rente hinzu. Für einen Haushalt mit zwei Kindern und mittlerem Einkom21944
men können dies bei einem Eigenanteil von 50 Euro immerhin 800 Euro im Jahr sein. Das ist eine ganze Menge.
({9})
Die Riester-Rente steht jedem offen, der förderberechtigt ist. Über 70 Prozent der Zulagenempfänger verfügen über ein beitragspflichtiges Einkommen von weniger als 30 000 Euro. Die Riester-Rente ist für Menschen
mit niedrigem Einkommen lohnend, da hier das Verhältnis zwischen staatlicher Zulage und Eigenleistung besonders günstig ist. Und: Die Anlageformen der RiesterRente - die Vorredner haben es zum Teil erwähnt - unterliegen besonderen Bestimmungen, damit das Geld
auch sicher ist.
Die Stärken des Dreisäulenmodells sind also: Beteiligung der Solidargemeinschaft, Beteiligung der Unternehmen, Selbstverantwortung für eigene Vorsorge und
Risikostreuung wegen mehrerer Säulen. Die Bundesregierung sorgt übrigens auch für Menschen vor, die gar
kein Einkommen haben und im Alter ein Problem mit
der Rente hätten. Der Bund hat dieses Jahr die Grundsicherung übernommen. Das bedeutet, dass ab dem
Jahr 2014 allein der Bund die deutschen Kommunen um
mehr als 10 Milliarden Euro entlastet.
({10})
Bei der rot-grünen Bundesregierung waren es gerade
einmal 409 Millionen Euro.
({11})
Noch ein paar Worte zu einigen Punkten in dem Antrag der Linken:
Sie haben das EuGH-Urteil zu den sogenannten Unisextarifen angesprochen, das heißt, dass keine Unterscheidung zwischen Mann und Frau gemacht werden
darf und man auch nicht mehr auf die unterschiedlichen
Verhaltensweisen, beispielsweise das Fahrverhalten der
Männer, eingehen darf. Ich erwarte von der Versicherungswirtschaft, dass man einigermaßen ausgewogene
neue Verträge anbietet, die, wenn notwendig, Erhöhungen, aber natürlich auch Beitragssenkungen vorsehen.
Die Linke schlägt vor, die Beitragshöhe zur Rentenversicherung zu steigern. Was ist denn das für eine Sozialpolitik? Das trifft doch gerade die Menschen mit geringem Einkommen besonders stark.
({12})
Eine Verschiebung innerhalb der drei Säulen in Richtung
der betrieblichen Altersvorsorge oder der gesetzlichen
Rentenversicherung bedeutet Belastungen für die Wirtschaft und für die öffentlichen Haushalte.
({13})
Nicht vergessen werden darf, dass der Bundeszuschuss
an die Rentenversicherung in Höhe von 80 Milliarden
Euro der größte Posten im Bundeshaushalt ist.
({14})
Daher ist die private Altersvorsorge - sprich: RiesterRente - eine wichtige Säule.
Der Antrag der Linken
({15})
dient nicht den Menschen. Er ist wirtschaftlich nicht
zielführend
Frau Kollegin.
- und daher abzulehnen.
Danke schön.
({0})
Die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren Zuhörer! Wir haben gehört: Es gab eine Vorgeschichte der
Riester-Rente, die man immer vor Augen haben muss.
Man kann die Riester-Rente nicht nur danach beurteilen,
wie sie heute ist, sondern man muss auch überlegen, warum sie überhaupt eingeführt wurde.
Wir haben in den Jahren 2001/2002 nicht nur eine
zweite, sondern auch eine dritte Säule für notwendig gehalten. Neben der gesetzlichen Rentenversicherung und
der betrieblichen Altersvorsorge - für viele, aber längst
nicht für alle - wollten wir eine dritte Säule aufbauen.
Man muss das im zeitlichen Zusammenhang sehen. Die
meisten von uns haben damals auch daran geglaubt, dass
es sinnvoll ist, eine kapitalgedeckte dritte Säule aufzubauen, weil die Anlagevoraussetzungen eigentlich positiv erschienen.
({0})
Wir haben die Situation, dass wir die Riester-Rente
leider - ich bedaure das - nicht verpflichtend für alle gemacht haben, die sie gebraucht hätten oder noch brauchen werden. Wir alle hatten ein bisschen Angst vor
Zwangs-Riester oder Riester-Pflicht und haben gedacht:
Diejenigen, die sie brauchen, werden sie schon annehmen, weil sie attraktiv ist. - Das ist, wie wir gehört
haben, leider noch nicht einmal bei der Hälfte der Berechtigten passiert. Das ist bedauerlich. Man sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob man hier etwas ändert.
({1})
In den letzten Jahren wurde die Riester-Rente schon
ein wenig attraktiver gestaltet. Die Kinderzulage wurde
angehoben. Es gab einen Berufseinsteigerbonus. Der
förderfähige Personenkreis wurde auf Erwerbsgeminderte und Geringverdiener erweitert. Trotzdem ist das
alles nicht ausreichend. Das will ich gern zugeben.
({2})
Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man die RiesterRente ad hoc verbessern könnte. Ich komme gleich noch
auf zusätzliche Dinge zu sprechen.
Erstens. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die
Zulagen dynamisieren. Das heißt, der Inflationsausgleich sollte bei der Zulagenhöhe berücksichtigt werden.
Wir brauchen zweitens natürlich eine Regelung für
Menschen, die am Ende ihres Lebens in der Grundsicherung sind. Ich denke, wir alle finden es nicht gerecht,
dass Menschen, die privat Geld zurückgelegt und eine
Riester-Rente angespart haben, dann, wenn sie keine
auskömmliche Rente haben und in der Grundsicherung
sind, überhaupt nichts von diesen zusätzlich angesparten
Mitteln bekommen.
Es gibt natürlich einen Bruch mit einigen systemischen Voraussetzungen, die wir als Grundlage unserer
Ordnungspolitik heranziehen, aber wir haben diese Brüche auch in anderen Bereichen akzeptiert. Ich erinnere
daran, dass wir auch Hartz-IV-Empfängern eine Kindergelderhöhung haben zukommen lassen. Da haben wir
gesagt, Kindergeld ist nicht nur ein Ausgleich für irgendwelche sachlichen Dinge, sondern es beinhaltet auch
Betreuungsleistungen, die Hartz-IV-Empfänger auch erbringen. Hier müsste es genauso sein: Meiner Meinung
nach müssten Personen, die privat vorgesorgt haben,
mehr als die Grundsicherung erhalten.
({3})
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn
Strengmann-Kuhn zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, ich finde es richtig, zu sagen: Wer geriestert hat, der soll vom Ersparten auch etwas behalten
können und nicht unbedingt gleich in die Grundsicherung fallen. Aber müsste das nicht gleichzeitig auch für
die gesetzliche Rentenversicherung gelten? Auch hierbei
handelt es sich ja um eine Eigenvorsorge: Man zahlt selber Beiträge ein. Müsste es nicht eine Gleichbehandlung
von Riester-Rente und gesetzlicher Rente geben? Ich
denke an den von der Bundesministerin vorgelegten Entwurf einer Zuschussrente. Danach wird die gesetzliche
Rente voll angerechnet, und die Riester-Rente soll hinzukommen. Ist das nicht eine ungerechtfertigte Behandlung der eigentlich notwendigen Umlageversicherung?
Wir haben das Problem, dass wir bei der Rentenversicherung mit zunehmenden Kosten rechnen müssen. Die
demografische Entwicklung geht nämlich dahin, dass
wir immer weniger Beitragszahler und immer mehr
Rentenbezieher haben werden. Wir müssen natürlich
schauen, dass das Gesamtsystem finanzierbar bleibt. Das
heißt, dass wir die aktuellen Steuerzahler nicht über das
Maß belasten. Wir haben nämlich zu wenig Beitragszahler, die uns solche Zugaben zur Grundsicherung finanzieren können. Wir müssen also genau abwägen, was wir
machen und was wir nicht machen.
Der Punkt hier ist: Es gibt Menschen, die zusätzlich
zu ihren Rentenbeiträgen - sie werden von den Arbeitnehmern ja nicht infrage gestellt - Geld ansparen und
davon im Alter überhaupt nichts haben. Inzwischen
empfehlen Verbände: Wer Teilzeit arbeitet, sollte nicht
riestern. Auch das ist aber eine falsche Empfehlung, weil
man nicht weiß, ob man sein Leben lang Teilzeit arbeitet. Man weiß nicht, in welche Lebenssituationen man
kommt. Man fällt aber die Entscheidung, für eine Zusatzrente zu sparen, relativ früh; jedenfalls wäre das
wünschenswert. Man sollte eigentlich schon als Auszubildender anfangen, zu riestern. Man hat also keine
Ahnung, in welche Lebenssituation man kommt. Das
heißt, wenn man in die Situation kommt, dass man vermindert arbeitet, weswegen man später Rente in einer
Höhe bekommt, die unter der Grundsicherung liegt,
dann sollte einem das, was zusätzlich angelegt worden
ist, in irgendeiner Form als Bonus zugutekommen. Das
hat nichts damit zu tun, dass ein Arbeitnehmer vorher
seine normalen Rentenzahlungen geleistet hat.
({0})
Jetzt möchte ich zum Antrag der Linken kommen.
Dieser Antrag hat den Titel „Risiken der Riester-Rente
offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln“. Durch diesen Antrag sind wir Finanzer darauf gekommen, dass wir hier reden sollten. Wenn Sie sagen,
Sie hätten das Ganze lieber bei Arbeit und Soziales angesiedelt, dann hätten Sie, denke ich, einen anderen Titel
für Ihren Antrag wählen müssen. Aber dieser Titel hat
mich schon angesprochen. Ich glaube, es ist richtig, dass
hier Finanzer reden.
Zum Antrag selber: Ich will mit dem Positiven beginnen. Positiv an diesem Antrag ist, dass Sie mehr Berichte wollen. Das möchten wir, glaube ich, alle. Es gibt
Berichte; aber die meisten von uns halten sie für unzureichend. Ob man in den bestehenden Berichten auch die
gewünschte zusätzliche Information unterbringen kann,
weiß ich nicht; das müsste man sich genauer anschauen.
Ich denke, ein Zusatzbericht ist nicht falsch, um das
Ganze plakativer zu machen und so noch mehr zu verdeutlichen.
Ihr Antrag benennt einige Probleme, die wir haben:
Die Grundsicherung - ich habe schon darauf hingewiesen - ist eines dieser Probleme. Ein weiteres Problem
sind Mitnahmeeffekte. Mitnahmeeffekte haben wir bei
vielen Gesetzen. Sie auszuschließen, halte ich für
schwierig. Ich hätte gerne von Ihnen konkretere Auskünfte darüber, wie man solche Effekte verhindern kann.
Hohe Verwaltungskosten sind ein Ärgernis; das ist absolut richtig. Ich glaube nicht, dass das so bleiben muss.
Man kann das Ziel sicher auch anders erreichen. Dass
die Sparer ein hohes Alter erreichen müssen, um in den
Genuss zu kommen, all das zurückzubekommen, was sie
eingezahlt haben, ist ein Problem, das sich, wie ich
glaube, von selbst erledigt, denn der gesundheitliche
Fortschritt wird uns helfen; es gibt ja immer mehr
Ältere.
Negativ an Ihrem Antrag sind ein paar grundsätzliche
Aussagen. Sie sagen: Die Finanzkrise hat dazu geführt,
dass diese Anlageform nicht mehr richtig trägt. - Das ist
richtig. Aber die Riester-Anlagen - 750 Milliarden Euro haben sicher nicht die Finanzkrise ausgelöst. Ich glaube,
dass diese Anlageform nicht dazu beigetragen hat, dass
irgendwelche Banken in Schwierigkeiten geraten sind.
Ansonsten ist es ja so, dass vor allem meine Partei im
Moment versucht, durch Finanzmarktregulierungsvorschläge in das System etwas mehr Verlässlichkeit hineinzubekommen. Aber ich denke, dass das kein grundsätzliches Problem der Riester-Rente ist.
Die Rückkehr zum alten Rentenversicherungssystem
halte ich für problematisch; denn wir haben - ich habe es
schon gesagt - insbesondere ein demografisches Problem. Es gibt zu wenige Nachkommen, um die vielen
Rentner zu finanzieren. Das heißt, wir brauchen weitere
Finanzierungsformen; ansonsten hätten wir eine hohe
Belastung entweder der Beitragszahler oder der Arbeitgeber, oder, wenn wir keine höheren Beiträge wollten,
müssten wir die Renten kürzen. Wenn wir mehr Steuerfinanzierung wollen, müssen wir das auch in irgendeiner
Form auf die Menschen umlegen. Ich denke, wir sind im
Moment aber schon an der Grenze der Belastbarkeit der
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in diesem Bereich
angekommen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Birkwald
zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben gerade gesagt, die RiesterRente sei aus demografischen Gründen notwendig. Sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es Modellrechnungen der Deutschen Rentenversicherung gibt, wonach
wir beispielsweise auf die Rente erst mit 67 komplett
verzichten könnten, wenn der Beitragssatz um einen halben Prozentpunkt angehoben wird? Das würde bedeuten,
dass Beschäftigte in heutigen Werten durchschnittlich
6,76 Euro im Monat mehr zahlen müssten.
({0})
Sind Sie außerdem bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass mit Riester die Belastungen für die Altersvorsorge
ausschließlich bei den Beschäftigten abgeladen werden?
Denn die Beschäftigten sollen ja die Hälfte der gedeckelten Beiträge von 20 Prozent, später von 22 Prozent zahlen, sollen dann 4 Prozent ihres Einkommens für eine
Riester-Vorsorge und dann im Idealfall auch noch 3 Prozent für eine betriebliche Altersvorsorge ausgeben, die
im Osten bisher übrigens nur in 35 Prozent der Betriebe
existiert. Es wird also davon ausgegangen, dass die Beschäftigen bis zu 17 Prozent an Beiträgen zahlen.
Das entspräche im Umlageverfahren einem Beitragssatz von 34 Prozent, aber es wird gesagt: Die Arbeitgeber dürfen nicht mehr bezahlen. Das ist also der eigentliche Grund, warum Riester eingeführt wurde. Es geht
darum, den hälftigen Anteil der Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber an jedem Beitragssatzpunkt - das sind jeweils 11 Milliarden Euro - zu sparen. Was sagen Sie
denn dazu?
Grundsätzlich ist es so, dass die kompletten Beiträge
von den Arbeitnehmern erwirtschaftet werden. Es wird
immer so getan, als erwirtschafte der Arbeitnehmer den
Arbeitnehmerbeitrag und der Arbeitgeber den Arbeitgeberbeitrag. Das ist aber Quatsch. Der Arbeitnehmer erbringt eine Arbeitsleistung und erwirtschaftet im Prinzip
beide Anteile.
({0})
Eigentlich wäre es gerecht, wenn man dem Arbeitnehmer alles, was er erwirtschaftet, einfach auf dem Lohnzettel ausweisen würde. Dann bräuchten wir auch nicht
diese Teilung.
Sie sagen nun, der Arbeitgeberbeitrag solle erhöht
werden. Der fällt aber nicht vom Himmel, sondern muss
erwirtschaftet werden.
({1})
Da können Sie natürlich sagen - vielleicht passt das in
Ihre Ideologie -: Der Arbeitgeberbeitrag schmälert den
Gewinn des Arbeitgebers.
({2})
Vielleicht ist das so. Aber vielleicht - das kann ich entgegnen - bringt das dann die Wettbewerbsfähigkeit zum
Erliegen. Das wäre auch ein Argument. Wir können jedoch nicht ausprobieren, welches Argument stimmt. Wir
können nicht einfach ausprobieren, wie die Betriebe,
wenn wir den Arbeitgeberbeitrag erhöhen, im Wettbewerb dastehen.
Wir hatten den Eindruck, dass die Arbeitgeber ausreichend belastet sind. Die Arbeitnehmer auch. Aber diejenigen, die noch etwas erübrigen können und sollten,
werden mit großzügiger Förderung, vor allen Dingen
wenn sie einen niedrigen Lohn beziehen und Familie
haben, steuerlich gefördert.
({3})
Das war der Ansatz von Riester.
Und zu der anderen Rechnung: Es hört sich immer
ganz toll an, wenn man sagt, wir müssten den Beitragssatz nur um 0,5 Prozentpunkte erhöhen und bräuchten
dann die Rente mit 67 nicht.
({4})
Aber das Problem verschärft sich doch. Das Problem,
dass wir weniger Beitragszahler haben, verschärft sich
mit jedem weiteren Jahr. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge, zu denen ich gehöre, ins Rentenalter kommen,
dann ist oben im Rentenbezieherbereich eine große
Blase entstanden, während unten so gut wie nichts mehr
nachkommt. Wenn wir dieses Problem langfristig lösen
wollen, kommen wir nicht umhin, das Renteneintrittsalter zu erhöhen und auf 67 Jahre zu gehen.
({5})
Die Riester-Rente ist - ich habe es eben schon gesagt verteilungspolitisch korrekt, weil gerade die niedrigen
Einkommen maximal gefördert werden. Außerdem gibt
es eine hohe Förderung pro Kind. Man muss den Leuten
immer wieder sagen, dass es sinnvoll ist, mit einer
Riester-Rente vorzusorgen. Die Auszahlungen aus
Riester-Verträgen sind sozialabgabenfrei - es fallen
keine Krankenversicherungs- und keine Pflegeversicherungsbeiträge an - und bei Hartz IV anrechnungsfrei.
Auch das, finde ich, ist sehr wichtig.
Wir haben eine zusätzliche Sicherheit durch die
Riester-Säule. Wir alle wissen nicht, ob wir uns die
Grundsicherung in 20 Jahren noch leisten können. Wir
gehen immer davon aus: Alle Rentner sind in Zukunft
erst einmal grundsicherungsmäßig versorgt. - Aber wer
weiß, wie in 20 Jahren die Finanzkraft des Staates aussieht? Keiner weiß das!
({6})
Die kapitalgedeckte Anlageform gibt uns eine zusätzliche Sicherheit, wenn vernünftig angelegt wird.
Noch ein Wort zur Rendite. Natürlich ist die RiesterRente nicht renditestark oder renditemächtig. Aber keiner von uns will doch, dass man in irgendwelchen kritischen Anlageprodukten riestert. Deswegen, denke ich,
ist das so sinnvoll.
Frau Kollegin.
Ein Satz noch. - Ich finde es auch sinnvoll, wenn wir
das im Finanzausschuss weiter debattieren. Ich bin sicher: Wir haben eine gute Basis. Wir könnten zu einer
Einigung kommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Bei Ihrem Antrag versuchen Sie sich in
Schwarz-Weiß-Malerei.
({0})
Sie haben sich ein Gut-Böse-Schema zurechtgelegt, in
das Sie dann verfallen sind.
Gut sind laut Antrag ein staatliches Rentensystem,
eine staatliche Fürsorge und eine Umlagefinanzierung;
schlecht ist alles, was irgendwie mit dem Kapitalmarkt
zu tun haben könnte.
({1})
Aber - ich denke, das hat die Debatte jetzt ergeben - das
Leben ist eben nicht ganz so einfach.
({2})
Es ist grau; es ist nicht digital und lässt sich nicht in entsprechende Schemata pressen. Wer, sehr geehrter Antragsteller, soll denn beispielsweise die Staaten und
Kommunen finanzieren? Sie sägen im Prinzip den Ast
ab, auf dem Sie mit Ihrer Politik sitzen, wenn Sie das,
was im Antrag steht, konsequent zu Ende denken. Wenn
man sich das genau überlegt, ist das möglicherweise gar
keine schlechte Alternative. Aber, ich glaube, es wäre
insgesamt nicht gut für unser Land.
Wer, meine sehr geehrten Damen und Herren, soll
denn in Unternehmen investieren und am Ende Arbeitsplätze schaffen und sichern? Da ist es doch gut, dass wir
die Kapitalsammelstellen auch und gerade der privaten
Altersvorsorge haben.
Man muss sich natürlich auch die Frage stellen: Wie
legt denn die gesetzliche Rentenversicherung ihre Mittel
an? Die hat keinen Geldspeicher irgendwo in Entenhausen, sondern die geht logischerweise auch an den Kapitalmarkt. Die Mittel sind demzufolge ebenfalls gewissen
Risiken ausgesetzt, wenngleich dort natürlich besonders
sicher angelegt wird.
Am Ende des Tages hat natürlich jedes umlagefinanzierte System - auch das klang schon an - das Risiko der
Demografie und natürlich auch das Risiko der konjunkturellen Entwicklung.
Man muss das Risiko für einen Anlagezeitraum von
30 Jahren betrachten. Schauen Sie sich einmal an, wie
sich die Finanzmärkte da entwickelt haben! Denken Sie
einmal 30 Jahre weiter! Dann werden Sie bei einer
Rückschau - ich bin bereit, heute darauf zu wetten - die
Finanzkrise der Jahre 2008 ff. in einer insgesamt nach
oben weisenden Kurve als kleine Delle sehen.
Sie sagen: Die Riester-Rente lohnt sich nicht. - Das
kann sein, kann aber auch nicht sein. Das kommt eben
darauf an, und zwar auf die individuelle Situation desjenigen, der sich mit dem Gedanken trägt, eine RiesterVersicherung abzuschließen. Menschen sind eben unterschiedlich. Die Bedürfnisse der Menschen sind unterschiedlich. Allglückseligmachende Lösungen gibt es nur
für den sozialistischen Einheitsmenschen, und auch der,
meine sehr geehrten Damen und Herren, hat sich gegen
Sie aufgelehnt.
Die Sparbeiträge und Zulagen sind garantiert. Garantien kosten immer, und demzufolge ist die Rendite bei
einem Riester-Vertrag nicht ganz so hoch. Aber am Ende
der Laufzeit bleibt auf jeden Fall nominell mehr übrig,
als eingezahlt worden ist; denn mindestens die Beiträge
und die Zulagen müssen ausgezahlt werden. Wenn wir
uns darüber unterhalten, wie unter dem Aspekt der Demografie möglicherweise eine Rendite in einem umlagefinanzierten System aussieht, dann müssen wir uns fragen, ob sie am Ende so gut ist.
Klar ist: Wir müssen uns über die Probleme der
Riester-Versicherung unterhalten. Kollege Middelberg
hat das angesprochen. Die Koalition wird das tun. Wir
brauchen keine Berichte, die in der Vergangenheit
schwelgen. Sie hingegen wollen Zahlen von heute vergleichen mit einem Rentenversicherungssystem aus der
Zeit vor dem Jahr 2000. Eines sage ich Ihnen: Die Welt
der Jahre vor 2000 werden Sie nicht zurückbekommen,
genauso wenig wie Sie die Welt vor dem Jahr 1989 zurückbekommen werden, auch wenn Sie sich das möglicherweise erhoffen.
({3})
Demzufolge ist dieser Antrag nichts anderes als Klamauk.
Herzlichen Dank.
({4})
Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Auf den ersten Blick geht es bei diesem Antrag
um Riester. Wenn man den Duktus des Antrags zugrunde
legt, Herr Birkwald, dann geht es nicht um Riester, sondern gegen die private Altersvorsorge, und zwar deswegen, weil die private Altersvorsorge nicht in Ihr Weltbild
passt.
({0})
Aus gutem Grund haben wir die Altersvorsorge für
Arbeitnehmer auf drei Säulen aufgebaut. Die erste Säule
ist das umlagefinanzierte gesetzliche Rentensystem. Die
zweite Säule ist die betriebliche Altersvorsorge, und die
dritte Säule ist die private Altersvorsorge.
Sie machen mit Ihrem Antrag Folgendes: Erstens. Sie
jubeln die gesetzliche Rentenversicherung in Höhen, die
sie nicht verdient hat, und ignorieren sämtliche Risiken.
Zweitens. Sie ignorieren die betriebliche Altersvorsorge.
Drittens. Sie versuchen, die private Vorsorge systematisch zu diskreditieren.
({1})
Lassen wir einmal die Fakten zur umlagefinanzierten
gesetzlichen Rentenversicherung sprechen. Wie sieht die
Situation heute aus? Die gesetzliche Rentenversicherung
ist gar nicht umlagefinanziert. Jedes Jahr geben wir dem
Rentenversicherungssystem 80 Milliarden Euro Zuschuss aus unserem Bundeshaushalt. Das sind mehr als
25 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes. Sie reden
aber davon, dass die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung funktioniert. Das ist reiner Blödsinn,
Herr Birkwald.
({2})
Heute ist die gesetzliche Rentenversicherung in einem Stadium, dass sie nur noch durch Steuerzuschüsse
funktioniert. Sehen Sie sich die heutige demografische
Situation an. Wir haben heute 20 Millionen Rentner und
30 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.
Alle, die in diesem Hause sitzen, wissen, wie die Situation in 20 oder 30 Jahren aussehen wird. Dann wird das
System erst recht nicht mehr funktionieren. Dann werden aus den 80 Milliarden Euro Zuschuss - das ist ein
Dreisatz, den jeder durchführen kann - noch wesentlich
höhere Summen werden. Das haben wir hier und heute
zu verantworten.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Die gesetzliche
Rentenversicherung ist - finanziert aus Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerbeiträgen und aus Steuereinnahmen höchst konjunkturanfällig.
({3})
Haben wir mehr Arbeitslose, so haben wir weniger Einnahmen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Haben
wir eine konjunkturelle Delle, so sind wir in der Situation, dass wir Schwierigkeiten haben, den steuerlichen
Zuschuss aufzubringen. Auch das ist eine Schwäche der
gesetzlichen Rentenversicherung, die im Übrigen in dem
Mix aus den drei von mir genannten Säulen durchaus gut
ist.
Kommen wir zur zweiten Säule, zur betrieblichen Altersvorsorge. Sie unterschlagen sie in Ihrem Antrag.
({4})
Wir hingegen setzen uns auf Brüsseler Ebene massiv dafür ein, dass genau diese Säule gestärkt wird. Wir würden uns über Ihre Unterstützung freuen.
Kommen wir zur dritten Säule, zur privaten Vorsorge.
Als Erstes kritisieren Sie, dass diese Art der Vorsorge
von Versicherungen, also von gewerblichen Unternehmen, abgewickelt wird, die damit Geld verdienen wollen. Es ist natürlich ganz schrecklich, Herr Birkwald,
wenn man mit irgendetwas Geld verdienen will. Ich
frage mich nur: Warum essen Sie eigentlich Brötchen
von jemandem, der damit Geld verdienen will? Warum
lassen Sie Ihr Auto von jemandem reparieren, der damit
Geld verdienen will? Warum steigen Sie in Flugzeuge
von Fluggesellschaften, die damit Geld verdienen wollen? Das, was Sie hier vortragen, ist in höchstem Maße
inkonsequent und verbohrt.
({5})
Ein weiterer Punkt. Sie weisen zu Recht darauf hin,
dass eine kapitalgedeckte Vorsorge mit Risiken des Kapitalmarktes verbunden ist. Ich ergänze dies noch: mit
Risiken des Anbieters. Sie können nämlich an einen
schlechten Anbieter geraten. Falsch ist, dass Sie sagen:
Dieses System ist risikobehaftet, und die gesetzliche umlagefinanzierte Rentenversicherung ist total sicher.
({6})
Das ist zu kurz gegriffen. Richtig wäre es, die Menschen
über die Risiken der kapitalgedeckten Altersvorsorge,
aber auch über die Risiken der gesetzlichen Rentenversicherung zu informieren. Das machen Sie in Ihrem Antrag nicht.
Im Übrigen weisen Sie in Ihrem Antrag auch nicht
darauf hin, was diese Koalition und diese Bundesregierung in den letzten Monaten und Jahren dafür getan hat,
um die private kapitalgedeckte Altersvorsorge sicherer
und besser zu machen. Ich nenne hier nur das Anlegerschutzgesetz aus dem Bereich des Verbraucherschutzes.
All die Maßnahmen, die die Solvenz und die Eigenkapitalquote von Finanzinstitutionen, die genau diese Vorsorge anbieten, erhöhen, unterschlagen Sie in Ihrem Antrag.
({7})
Zusammenfassend kritisiere ich an Ihrem Antrag
nicht das Kommunistengeschwätz, dass es schlecht ist,
Gewinne zu machen. Das sind Sie Ihren Wählern schuldig,
({8})
und das sind Sie vielleicht auch Ihrem Selbstverständnis
schuldig. Ich kritisiere an Ihrem Antrag auch nicht, dass
Sie auf die Risiken einer kapitalgedeckten Altersvorsorge hinweisen. Das ist in Ordnung. Ebenso wenig kritisiere ich - das ist auch von meinen Vorrednern schon
gesagt worden -, dass Sie auf die Risiken von Riester
hinweisen. Ich kritisiere jedoch, dass Sie die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung gegenüber der
privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge als das allein
selig machende Instrument hinstellen.
({9})
Ich habe mir lange überlegt, was denn dahintersteckt.
Ist es Dummheit? Nein, das wird es nicht sein.
({10})
Ist es blanker Populismus, um auf Wählerstimmenfang
zu gehen? Nein, das wird es wahrscheinlich auch nicht
sein. Vielmehr ist es Ihre Ideologie. Die Ideologie der
Linken besagt, dass alles Private schlecht ist und dass
nur der Staat in der Lage ist, zu entscheiden, wie man
Altersvorsorge betreibt und was gut und schlecht für den
Bürger ist. Das ist Ihr Menschenbild. Das unterscheidet
uns von Ihnen. Sie müssen sich entscheiden, auf welcher
Seite Sie stehen möchten.
({11})
Mein allerletzter Punkt in dieser Rede: Für Ihren Antrag bin ich Ihnen eigentlich sogar dankbar. Ich bin Ihnen deswegen dankbar, weil ich glaube, dass wir nicht
nur über die kapitalgedeckte Altersvorsorge reden sollten, sondern ganz dringend auch über unsere gesetzlichen Sozialversicherungssysteme, und zwar sowohl über
die Rentenversicherung als auch über die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung. Wenn man seriösen
Berechnungen trauen kann, dann ist die Deckungslücke
in diesen Systemen mindestens ebenso hoch wie unsere
explizite Staatsverschuldung. Das heißt, wir schieben
Billionenbeträge vor uns her, über die kein Mensch redet. Das sollte für uns Anlass genug sein, die Reform in
diesem System weiter voranzutreiben.
Diese Bundesregierung und die Vorgängerregierung
haben eine Menge getan, aber leider noch nicht genug,
um die Rentenversicherung zu reformieren. Bei der
Krankenversicherung fahren wir momentan mit Anlauf
gegen die Wand. Die Pflegeversicherung ist wahrscheinlich schon an die Wand gefahren. Deswegen kann ich Sie
alle nur bitten und auffordern, sich dieses Themas ernsthaft anzunehmen. Insofern war Ihr heutiger Antrag vielleicht gar nicht so sinnlos.
Danke schön.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9194 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Die Feder-
führung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU
und FDP möchten Federführung beim Finanzausschuss.
Die Fraktion Die Linke wiederum wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer ist dafür? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Überweisungsvorschlag mit dieser Federführung abge-
lehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion
und Bündnis 90/Die Grünen. Die anderen Fraktionen ha-
ben dagegen gestimmt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Feder-
führung beim Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Federfüh-
rung beim Finanzausschuss ist angenommen bei Zustim-
mung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Bündnis 90/Die
Grünen und Linke waren dagegen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung eines Nachtrags zum
Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr
2012 ({0})
- Drucksachen 17/9040, 17/9649 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
- Drucksachen 17/9650, 17/9651 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({2})
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sven-Christian
Kindler, Priska Hinz ({5}), Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energiewende und Klimaschutz solide finanzieren - Nachtragshaushalt nutzen
- Drucksachen 17/8919, 17/9911 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({6})
Dr. Gesine Lötzsch
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, über
den wir später namentlich abstimmen werden, liegen ein
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie je ein
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, eine
Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion.
({7})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Heute haben wir wieder einmal einen Tag, an dem die europäische Staatsschuldenkrise absolut im Mittelpunkt unserer Debatte
und unserer politischen Arbeit steht.
Heute Morgen haben wir uns in der Debatte zur Regierungserklärung unserer Bundeskanzlerin zur Vorbereitung des G-20-Gipfels mit den Diskussionspunkten
auseinandergesetzt, die sie am Montag und Dienstag in
Mexiko erwarten werden. Da geht es um Jugendarbeitslosigkeit, um die Liberalisierung des Handels. Im Mittelpunkt werden auch dort wieder die Staatsschuldenkrise
in Europa und das Vertrauen stehen, das die G 20 und
die ganze Welt in die Bundesrepublik Deutschland als
Anker für Stabilität und als Wachstumsmotor in der Europäischen Union mit ganz starker weltweiter Bedeutung
setzen.
Wir haben uns heute Morgen intensiv mit den unterschiedlichen Positionierungen auseinandergesetzt. Wir
haben Herrn Steinmeier gehört, der immer wieder davon
gesprochen hat, dass die Bundesregierung an diesem
oder jenem Rand rote Linien überschreite. Ich kann bezogen auf die zwei Jahre, in denen wir hier über die europäische Staatsschuldenkrise reden, nur feststellen, dass
die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ganz klar
einen roten Faden haben, den sie vom Anfang bis zum
Ende, Schritt für Schritt, Stück für Stück verfolgen.
({0})
In ihrer Regierungserklärung Anfang des Jahres 2010,
als wir uns das erste Mal intensiv mit den Herausforderungen aufgrund der griechischen Krise und der Staatsschuldenkrise in Europa beschäftigt haben, hat unsere
Bundeskanzlerin deutlich gemacht, dass wir vorübergehende Rettungsmechanismen brauchen - vorübergehende Schritte, um schnell handeln zu können -, dass wir
aber auch einen auf Dauer angelegten Rettungsmechanismus oder Schutzmechanismus zum Eingreifen innerhalb
der Europäischen Union brauchen. An diesem dauerhaften Rettungsmechanismus ist jetzt zwei Jahre lange gearbeitet worden. Am 2. Februar dieses Jahres haben die
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die
Errichtung des Rettungsschirms beschlossen. Anfang
März haben sie dann deutlich gemacht, dass sie diesen
Rettungsschirm sogar ein Jahr eher dauerhaft in Kraft treten lassen wollen.
Heute haben wir den Nachtragshaushalt auf der Tagesordnung. Dieser Nachtragshaushalt dient einzig und
allein dem Ziel, die haushaltsmäßigen Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass Deutschland auch in der Frage
der Finanzierung des Europäischen Stabilitätsmechanismus das Vertrauen, das unserem Land entgegengebracht
wird, rechtfertigen kann. Damit zeigen wir ganz klar:
Das, was wir zusagen, halten wir ein; das, was wir zusagen, machen wir auch.
({1})
Wir haben die haushaltsmäßigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir den Europäischen Stabilitätsmechanismus, den wir in Europa brauchen, in fünf jährlichen Tranchen mit liquiden Mitteln bedienen können;
von den 80 Milliarden Euro an liquiden Mitteln entfallen
21,7 Milliarden Euro auf die Bundesrepublik Deutschland. Dafür stellen wir jetzt im Nachtragshaushalt
8,7 Milliarden Euro bereit, damit wir die Bedienung des
ESM sofort über unseren Haushalt leisten können, wenn
die Regelungen zum ESM und zum Fiskalpakt in der
nächsten Plenarwoche, so hoffe ich, von uns hier im Parlament ratifiziert worden sind. Ich finde, mit diesem
Nachtragshaushalt im Rücken hat die Bundeskanzlerin
am Montag und Dienstag in Mexiko eine noch stärkere,
eine noch bessere Position, und das ist gut so.
({2})
Meine Damen und Herren, gegenüber dem Regierungsentwurf, den wir im Haushaltsausschuss in Ihrer aller Namen intensiv beraten haben, haben wir die Nettoneuverschuldung, die wegen der Zurverfügungstellung
dieser Mittel notwendig wird, noch einmal gesenkt. Wir
haben aktuelle Steuermehreinnahmen und Steuermindereinnahmen sowie Mehrausgaben und Minderausgaben
miteinander verrechnet. Das führt zu einer Reduzierung
der Nettokreditaufnahme, wie sie im Regierungsentwurf
vorgesehen ist. Damit hat der Haushaltsausschuss einen
positiven Beitrag dazu geleistet, dass wir die Schuldensituation unseres Landes verbessern.
({3})
Wir haben die Ausgaben im Bundeshaushalt erhöht
und liegen jetzt bei Ausgaben in Höhe von 312 Milliarden Euro. Das ist ein riesiger Batzen. Aber wir werden
aller Voraussicht nach nicht erst 2016, sondern schon im
Jahre 2014 die zwingenden Bedingungen der Schuldenregel, die wir in die Verfassung geschrieben haben, einhalten können. Wir setzen mit dem Nachtragshaushalt
das richtige Signal in Richtung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Das ist ein gewisses
Maß an Stärke, die die Bundesregierung zum G-20-Treffen nach Mexiko mitnehmen kann.
Im Zuge der Verhandlungen zum Nachtragshaushalt
haben wir uns mit den Argumenten der Opposition auseinandersetzen müssen. Vom Anfang bis zum Ende hieß
es, wir hätten nicht genug gespart, die Sparanstrengungen seien nicht rigide genug, wir müssten mehr Kürzungen vornehmen, in diesem oder jenem Bereich müssten
wir Ausgaben reduzieren. Nun haben wir heute Morgen
hier sozusagen auf offener Bühne von Herrn Steinmeier
gehört, dass wir uns nicht nur mit Sparen, sondern auch
mit Wachstumsdynamiken beschäftigen müssen.
Hier komme ich wieder auf die rote Linie unserer
Bundeskanzlerin zurück. Schon bei der ersten Regierungserklärung zur Griechenlandproblematik im Jahr
2010 ist deutlich geworden, dass wir alle Anstrengungen
unternehmen müssen, um in den strukturschwachen
Ländern der Europäischen Union alle potenziellen
Wachstumskräfte freizusetzen, damit Wohlstand für alle
Menschen in Europa Wirklichkeit werden kann. Zum damaligen Zeitpunkt kam von der Seite der Opposition der
Vorwurf: Ihr könnt euch doch nicht immer nur mit dem
Bruttoinlandsprodukt und mit Wachstum beschäftigen.
Glücklich sein, das ist doch mehr als nur Wachstum. Wir
brauchen eine moderne Politik, in der wir viele andere
zusätzliche Aspekte berücksichtigen müssen. - Später
rückte der Begriff Wachstumserfordernis in den Hintergrund, und wir wurden geradezu verdeibelt, das Bruttoinlandsprodukt, das ein wesentlicher Indikator für die
soziale Sicherung in unserem Lande ist, hintanzustellen.
({4})
Heute hingegen wird von der SPD - von Herrn
Steinmeier und allen, die heute Morgen geredet haben deutlich anerkannt:
({5})
Um soziale Sicherung und gesundheitliche Versorgung
garantieren zu können - wir haben gestern über das marode griechische Gesundheitssystem debattiert -, brauchen wir ein hohes Bruttoinlandsprodukt in den Ländern
der Europäischen Union, und dafür brauchen wir Wachstum.
Sowohl der heute zu verabschiedende Nachtragshaushalt als auch der Haushaltsentwurf, den wir ursprünglich
aufgestellt hatten, sind ein klares Zeichen dafür, dass wir
verstanden haben, dass wir in der Bundesrepublik
Deutschland beide Seiten der Medaille im Blick behalten
müssen: Wir müssen auf der einen Seite Wachstumsimpulse an unterschiedlichsten Stellen setzen und auf der
anderen Seite die Haushaltskonsolidierung - also nicht
länger Wirtschaften auf Pump - mit Blick auf die Kosten, die die künftigen Generationen zu tragen haben, im
Blick behalten.
Wir haben kleine Sondermaßnahmen vorgesehen. Wir
haben es anders gemacht als die SPD, die früher von Anfang an geschönte Zahlen vorgelegt hat und dann billigend in Kauf genommen hat, dass man durch einen
Nachtragshaushalt nachjustieren muss. Wir haben konservativ ermittelte Zahlen zugrunde gelegt, wodurch
man die eine oder andere Schwerpunktsetzung noch
vollziehen kann.
Frau Kollegin.
Ich möchte noch einen kleinen Gedanken formulieren, der mir sehr wichtig ist. Im Haushalt des Staatsministers für Kultur haben wir 25 Millionen Euro Mehrausgaben angesetzt.
({0})
Wir haben 10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, damit in unserer schönen Hauptstadt ein Museum für klassische Moderne entstehen kann.
Frau Kollegin.
Ein Sammlerpaar hat der Stadt Berlin und der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz eine ganz tolle Ausstellung, ein
wahres Juwel, geschenkt. Wir als Bund leisten unseren
Beitrag und werden unserer Verantwortung für die
Hauptstadt gerecht, indem wir diesen kulturpolitischen
Schwerpunkt setzen. Das ist etwas, was mich neben der
Staatsschuldenkrise stark bewegt hat und worüber ich
mich sehr gefreut habe.
Vielen Dank.
({0})
Carsten Schneider hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Kollegin Vogelsang, Ihrer letzten Äußerung zum kulturellen Erbe Berlins schließe ich mich
an. Diesbezüglich haben wir auch zugestimmt. Abgesehen davon ist aber vieles von dem, was Sie gesagt haben,
nicht durch das gedeckt, was Sie hier beschließen werden.
({0})
Ihre Aussagen zu einer angeblichen Neujustierung
der Finanzpolitik bzw. zu einem Schuldenabbau - dieses
Wort haben Sie hier tatsächlich benutzt; man kann das
im Protokoll noch einmal nachlesen - sind durch die
Realität überhaupt nicht gedeckt; denn mit dem Nachtragshaushalt, den Sie hier zur Abstimmung vorlegen,
wird die Neuverschuldung gegenüber dem Jahr 2011
verdoppelt.
({1})
Die Neuverschuldung steigt von 17 Milliarden Euro im
Jahr 2011 auf 32 Milliarden Euro.
({2})
Das ist Fakt.
Ich gestehe gerne zu: 8 Milliarden Euro davon sind
Mehrausgaben aufgrund des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Trotzdem - das wird auch Ihnen auffalle sind das immer noch 6 Milliarden Euro mehr, und das,
obwohl Sie für 2012 ein stärkeres Wirtschaftswachstum
als 2011 prognostizieren.
Sie haben mehr Steuereinnahmen. Wir hatten wieder
Rekordsteuereinnahmen. Die FDP hat in solchen Fällen
früher immer gefordert, dass die Steuern gesenkt werden; das sagt sie jetzt nicht mehr so laut.
({3})
Außerdem sind die Kosten für die sozialen Sicherungssysteme gesunken, weil sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbessert hat. Das sind die zwei Hauptblöcke.
Dann kommt noch ein dritter Block hinzu: Auch die
Zinsausgaben sind gesunken. Deutschland ist der Profiteur der Euro-Krise.
({4})
So billig, wie wir uns derzeit verschulden können, kann
sich kein anderes Land verschulden. Dadurch sparen Sie
noch einmal 2 Milliarden Euro. Trotzdem steigt die Neuverschuldung gegenüber dem letzten Jahr um 6 Milliarden Euro. Das ist ein Offenbarungseid.
({5})
In der Finanzpolitik sind Sie kläglich gescheitert.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Barthle zulassen?
Ja, natürlich. Ich glaube, er möchte meinem letzten
Satz zustimmen.
Bitte schön.
Herr Kollege Schneider, wenn Sie von einem „Offenbarungseid“ sprechen und sagen, dass die Neuverschuldung steige, dann vergleichen Sie die Sollzahlen des
Jahres 2012 mit den Istzahlen des Jahres 2011. Da Sie
diesen Vergleich anstellen, möchte ich Sie fragen, ob Sie
auch behaupten würden, dass die Verschuldung im Jahr
2011 im Vergleich zur Verschuldung im Jahr 2010 ebenfalls gestiegen ist. Denn wenn man Soll und Ist verNorbert Barthle
gleicht, kann man zu dem Schluss kommen, dass das so
ist.
Tatsächlich ist es aber so, dass wir für das Jahr 2010
eine Neuverschuldung von 80 Milliarden Euro als Soll
geplant hatten. Im Ist lagen wir dann bei 44 Milliarden Euro. Im Jahr 2011 sind wir mit einem Soll von
48 Milliarden Euro gestartet. Gelandet sind wir bei einem Ist von 17 Milliarden Euro. Dieses Jahr starten wir
mit einem Soll von 32 Milliarden Euro. Wo wir am Jahresende landen werden, wissen weder Sie noch ich. Deshalb halte ich diesen Vergleich für nicht redlich.
({0})
Herr Kollege Barthle, eines ist klar: Sie machen jetzt
einen Haushaltsvoranschlag, eine Ermächtigung für die
Regierung.
({0})
Sie wissen aber, dass die Bundeshaushaltsordnung Ihnen
vorschreibt - daran sollten Sie sich halten; ich glaube,
das tun Sie auch -, dass Sie exakt die Mittel einstellen,
die nach Ihrer Ansicht gebraucht werden.
({1})
Dabei geht es um Haushaltswahrheit und -klarheit. Der
entscheidende Punkt ist, dass wir uns schon in der Mitte
des Jahres befinden. Das heißt, wir wissen schon sehr
exakt, wo der Hase langläuft und wo wir in etwa landen
werden.
Die entscheidenden großen Posten habe ich Ihnen genannt: Steuereinnahmen und Sozialausgaben sind die
beiden größten Posten. Die entsprechenden Zahlen stehen fest. In beiden Bereichen gibt es eine Entlastung. Sie
haben nämlich mehr Steuereinnahmen und geringere Sozialausgaben.
({2})
Trotzdem steigt die Neuverschuldung um 6 Milliarden Euro. Das geht einfach nicht. Das zeigt, dass Sie das
Geld verschludern und sich nicht wirklich darum bemühen, sauber und solide zu arbeiten.
({3})
Wenn Sie es nicht einmal in einer Hochphase der
Konjunktur schaffen, den Haushalt auszugleichen, was
soll denn dann passieren, wenn wir wieder einen Einbruch erleben?
({4})
Niemand weiß, wie dieses Jahr laufen wird. Wir haben
hohe Unsicherheiten bezüglich der ökonomischen Lage
in der Euro-Zone, in den USA, in China etc. Keiner
weiß, wie es sich entwickeln wird. Umso wichtiger wäre
es, heute damit zu beginnen, die Schulden des letzten
Konjunkturprogramms zu tilgen, um, wenn es wieder
schlechter läuft, Luft zum Investieren zu haben. Diese
Luft nehmen Sie uns, weil Sie ein Geschäftsmodell fahren, wie es die Hypo Real Estate in ihren schlechtesten
Zeiten getan hat.
({5})
- Woran ist die Hypo Real Estate gescheitert? Sie hat
sich kurzfristig refinanziert und hatte langfristig hohe
Lasten. Was tun Sie? Anstatt die langfristige günstige
Refinanzierung zu nutzen, sich zum Beispiel für
30 Jahre zu verschulden und dafür 3 Prozent zu zahlen,
({6})
nutzen Sie jede Möglichkeit, sich kurzfristig, für nur ein
oder zwei Jahre, bei ganz niedrigen Zinsen - diese liegen
fast bei null - zu verschulden, um mithilfe dieser Zinsersparnis Ihre Klientel zu beglücken.
({7})
Das führt aber dazu, dass die Abhängigkeit des Bundeshaushalts und die Volatilität noch viel größer werden.
Bei einem Wirtschaftseinbruch wären wir auch noch mit
verschlechterten Zinsniveaus konfrontiert.
Daran sehen Sie, dass Sie vollkommen unsolide und
unverantwortlich haushalten und dass Sie der nächsten
Bundesregierung, dem nächsten Bundestag kein gemachtes Nest hinterlassen. Vielmehr türmen sich schon
heute die Probleme vor den Türen.
Deswegen sage ich: Dieser Haushalt ist eine Bankrotterklärung des Bundesfinanzministers. In der Haushaltspolitik hat er seine Ziele bei weitem nicht erreicht.
In der Anhörung, die wir dazu durchgeführt haben, haben Ihre Sachverständigen klar gesagt, dass Sie das
Sparpaket, das Sie vorgelegt haben, gerade einmal zur
Hälfte umgesetzt haben. Der Rest der Konsolidierung,
der Rückgang der geplanten Neuverschuldung, geht einzig und allein auf konjunkturelle Sondereffekte zurück.
Die Konjunktur ist mal gut und mal schlecht.
({8})
Zurzeit ist die Konjunktur gut, aber sie kann auch wieder
schlecht werden. Dann steigt das strukturelle Defizit.
Dann stehen wir vor der Situation, dass die Schulden, die
Sie heute machen, zu Steuererhöhungen oder Minderausgaben bzw. Kürzungen führen werden. Das ist unsolide.
({9})
Das ist überhaupt kein Vorbild für die anderen Länder in
Europa, denen Sie gerne vorhalten, sie würden nicht
richtig sparen. Im Gegenteil: Das tun sie zum großen
Teil. Deutschland hingegen ist das Land, das am meisten
Carsten Schneider ({10})
prasst. Deswegen taugen Sie und die Finanzpolitik
Deutschlands hier nicht als Vorbild.
({11})
- Ich kann Ihnen das klar sagen, Herr Kollege Fricke:
Sie prassen. Sie machen miese Geschäfte.
({12})
Nehmen Sie den letzten Koalitionsgipfel im Kanzleramt als Beispiel. Was ist da vereinbart worden?
({13})
Da ist - entgegen dem geballten Sachverstand und dem
gesunden Menschenverstand - vereinbart worden, dass
in Deutschland ein Betreuungsgeld eingeführt werden
soll. Dies bedeutet 1,2 Milliarden Euro Mehrausgaben.
({14})
Gegenfinanzierung? Null. Was hat die FDP als Gegenleistung dafür bekommen? Dass eine private Pflegeversicherung über Steuervergünstigungen bezuschusst wird.
({15})
Sie können sich ja nur noch einigen, wenn es darum
geht, das Geld fremder Leute auszugeben oder Kredite
aufzunehmen.
({16})
Dazu sind Sie noch in der Lage. Dies ist aber keine angemessene Antwort auf die Situation, in der wir uns befinden. Es ist mehr oder weniger ein Dahinsiechen. Sie
können quasi nur noch existieren, weil die Konjunktur in
Deutschland brummt. Müssten Sie wirklich harte Entscheidungen treffen, wären Sie bereits am Ende. Sie
können nur noch über das Verteilen reden.
({17})
Wir haben dem ein klares und ehrliches Programm
entgegengesetzt. Wir wollen die Risiken, die sich aus
den Krediten, die wir Griechenland aufgrund Ihrer Beschlusslage gegeben haben - diese betragen insgesamt
15 Milliarden Euro -, absichern. In unserem Programm
sehen wir die Tilgung des Konjunkturfonds vor. Dabei
geht es um mehr als 2,3 Milliarden Euro. In guten Zeiten
muss man die Schulden der Vergangenheit zurückzahlen.
Bei Ihnen findet sich dazu gar nichts. Das haben Sie einfach so hingenommen. Darauf zahlen wir Zinsen, und
nichts wird getilgt.
Wir wollen all dies auf zwei Wegen finanzieren, und
zwar über einen konsequenten Subventionsabbau und
eine Verbreiterung der Steuereinnahmebasis. Wir wollen
zum einen ökologisch bedenkliche Subventionen abbauen und zum anderen das von Ihnen, und zwar von der
FDP, eingeführte Hotelsteuerprivileg im Mehrwertsteuerbereich abschaffen.
({18})
Sie haben sich zwar davon distanziert, aber immer noch
gilt der verminderte Mehrwertsteuersatz für das Übernachtungsgewerbe.
Meine Damen und Herren, in der Finanzpolitik haben
Sie nichts wirklich Substanzielles geleistet. Die Steuerpolitik des Bundesfinanzministers beschränkt sich auf
Nichtstun. Die Hände werden in den Schoß gelegt. Wenn
ich mir vor Augen führe, wie Sie früher getönt haben
- ich erinnere nur an Ihr Sparbuch -,
({19})
muss ich feststellen: Nichts davon haben Sie tatsächlich
umgesetzt. Von daher ist dies ein verlorenes Jahr für
Deutschland, ein Jahr, das uns später noch teuer zu stehen kommen wird.
({20})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nichts von dem, was Carsten Schneider eben vorgetragen hat, entspricht der Realität.
({0})
Ich will das an einem Punkt deutlich machen. Es ist
schon starker Tobak, zu behaupten, dieser Nachtragshaushalt sei die Bankrotterklärung des Bundesfinanzministers. Ich halte Ihnen Folgendes vor: Vor einem Monat wurde Wolfgang Schäuble der Karlspreis der Stadt
Aachen verliehen. Das ist eine sehr große Auszeichnung,
zu der wir als FDP-Fraktion dem Bundesfinanzminister
recht herzlich gratulieren.
({1})
Er ist damit für sein Engagement zur Stabilisierung der
Währungsunion ausgezeichnet worden. Der Vorsitzende
der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, bezeichnete
Schäuble in seiner Laudatio
({2})
- das werden Sie sich ja wohl anhören können - als
deutschen und europäischen Patrioten. Er sagte: „Er
schindet sich, er bemüht sich, er kämpft.“ Das ist eine
große Anerkennung, und das gilt für die gesamte Regierung.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Aussage belegt noch etwas anderes - hier sind Sie nämlich auf dem
falschen Dampfer -: Man muss nicht deutsche Interessen
aufgeben, um ein leidenschaftlicher Europäer zu sein.
Heute steht der Nachtragshaushalt 2012 zur Abstimmung. Erneut sieht man den Unterschied zwischen dieser Koalition und Rot-Grün. Wie war die Situation denn
unter Rot-Grün? Sie haben mehrfach Nachtragshaushalte vorgelegt. Sie haben sich jedes Mal bis zum Jahresende durchgewurstelt, um Ihren Nachtragshaushalt dann
irgendwann im November oder Dezember, wenn es nicht
mehr anders ging, vorzulegen. Das war Ihre Politik. Wir
hingegen beachten die Prinzipien der Haushaltswahrheit
und der Haushaltsklarheit. Die Zahlen in den von Ihnen
zu verantwortenden Bundeshaushalten waren immer geschönt. Deswegen mussten Sie immer wieder Nachtragshaushalte vorlegen. Bei uns wird nichts geschönt.
({4})
Jeder Bürger kann erkennen, dass die Grundsätze der
Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit eingehalten werden. Selbstverständlich hat auch unser Nachtragshaushalt unangenehme Inhalte. Die Begeisterung ist
natürlich nicht allzu groß. In diesem Nachtragshaushalt
sind zum Beispiel 8,7 Milliarden Euro für die Ausstattung des ESM enthalten. Das ist notwendig, und das machen wir.
Außerdem - auch das hat mit der Krise in einigen europäischen Staaten zu tun - fällt der Bundesbankgewinn
leider nicht so hoch aus wie erwartet. Auch dies ist im
Nachtragshaushalt berücksichtigt worden. Positiv ist,
dass die Zinslast im Hinblick auf die Bundesanleihen um
über 1 Milliarde Euro reduziert werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass wir von der Euro-Krise profitieren.
({5})
Das, was der Kollege Schneider hier erzählt hat, ist wirklich dummes Zeug. Das kann er doch selbst nicht glauben.
Ich frage die Opposition: Warum können Sie diesem
Nachtragshaushalt nicht zustimmen? Warum wollen Sie
ihn ablehnen? Ich sage Ihnen, warum: weil Sie einen
ganz anderen Kurs einschlagen wollen. Sie wollen, dass
sich der Bund wieder stärker verschuldet, wie es Ihr Parteivorsitzender angedeutet hat.
({6})
- Ihr Parteivorsitzender hat doch von uns gefordert, über
12 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen, um die
Kommunen zu entlasten. Wo würden Sie diesen Betrag
im Bundeshaushalt unterbringen? Oder wollen Sie etwa
Steuererhöhungen?
({7})
Sie wollen, dass sich Europa weiter verschulden darf
und Deutschland dafür zahlt.
({8})
Das ist Ihre Politik. Dabei machen wir aber nicht mit.
({9})
Sie wollen Steuermehreinnahmen durch Steuererhöhungen generieren. Auch wir wollen Steuermehreinnahmen erzielen; das ist klar. Wer will das nicht? Aber wir
wollen das durch gute Wirtschaftspolitik
({10})
und durch gute Rahmenbedingungen vor allem für den
Mittelstand erreichen. Das bringt Geld in die Kasse, aber
nicht Steuererhöhungen, wie Sie sie teilweise fordern.
({11})
Die SPD hat einen recht witzigen Entschließungsantrag eingebracht. Darin fordern Sie uns auf, die Schuldenbremse auch im Geiste und Sinn des Gesetzes einzuhalten.
({12})
Wissen Sie was? Diesen Antrag sollten Sie mal nach
Nordrhein-Westfalen und nach Schleswig-Holstein schicken.
({13})
Nordrhein-Westfalen muss für die WestLB in diesen Tagen zusätzlich 1 Milliarde Euro in die Hand nehmen.
Woher nehmen sie dieses Geld? Sie werden den Steuerzahler damit belasten, niemand anderen. In der Kasse
des Landes ist dieses Geld jedenfalls nicht vorhanden.
Ein anderes Beispiel: Schleswig-Holstein. Sie beklagen, dass die Situation der Kommunen teilweise schlecht
ist. Kollegin Hagedorn - in Schleswig-Holstein gibt es ja
jetzt eine Dänen-Ampel -, ich habe Ihnen ein Zitat mitgebracht. In der Zeitung war zu lesen: „Entsetzen in Lübeck: Albig streicht … 250 Millionen Euro.“ Da geht es
um kommunale Finanzen.
Hier machen Sie den Biedermann, und draußen machen Sie den Brandstifter und rufen nach der Feuerwehr.
Das ist Ihre Politik. Das machen wir nicht mit.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr angetan
von diesem Nachtragshaushalt, weil er eines dokumentiert
({15})
- das sollten Sie nicht vergessen; kein positives Wort haben Sie darüber verloren -: Die Konjunktur in Deutschland läuft gut.
({16})
Wir haben weniger Arbeitslose, und die Jugendarbeitslosigkeit ist auf einem niedrigen Niveau. Darüber sollten
wir uns alle einmal freuen, statt nur zu mäkeln, wie Sie
es tun. Diesem Nachtragshaushalt können Sie gerne zustimmen.
({17})
Die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit diesem Nachtragshaushalt soll
der deutsche Beitrag für den Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, bereitgestellt werden. So wurde es ja
schon vorgetragen. Es geht aber um viel mehr. Es geht
um die Frage, ob der Euro dieses Jahr überleben wird.
Die Bundesregierung wird von Regierungen und
Währungsexperten aus der ganzen Welt aufgefordert,
endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden, mutig
zu handeln und den Euro zu retten. Doch alle Hilferufe
und Ermahnungen prallen an dieser Regierung ab. Sie
handelt engstirnig und verantwortungslos. Das muss
endlich ein Ende haben.
({0})
Nicht nur wir als Linke halten den ESM und den Fiskalpakt für völlig ungeeignet, die Euro-Krise zu lösen;
Fiskalpakt und ESM sind nun einmal zwei Seiten einer
Medaille. Nein, ganz im Gegenteil: Der Fiskalpakt führt
Europa noch tiefer in die Krise. Wir sehen doch in Griechenland, welche verheerenden Auswirkungen die Kürzungspolitik hat, wie die Menschen dort unter ihr leiden
müssen.
Das Kürzungsdiktat führt in Griechenland gerade
dazu, dass die medizinische Versorgung zusammenbricht. Trotzdem - so wollen Sie es - sollen die Griechen
in diesem Jahr noch 1,1 Milliarden Euro bei den Ausgaben für Medikamente kürzen. Diese unglaubliche Brutalität gegen Griechenland hat doch nur eine Funktion: Sie
soll nicht den Griechen aus der Krise helfen, sondern es
soll eine Drohkulisse für alle anderen Krisenländer aufgebaut werden, und das ist verantwortungslos.
({1})
Durch die Bankenkrise in Spanien wird doch nur zu
deutlich, dass der ESM nicht funktionieren wird. Marode
spanische Banken wollen nun 100 Milliarden Euro haben. Hat uns die Bundesregierung nicht immer erklärt,
dass wir keine Bankenkrise, sondern eine Staatsschuldenkrise haben?
({2})
Mit dieser Begründung wurden drastische Kürzungsmaßnahmen in Spanien beschlossen. Seit 2011 wurden
die Renten eingefroren, Löhne und Investitionen gekürzt.
Ich frage Sie: Haben der Sozialabbau in Spanien und
die Kürzung der öffentlichen Investitionen irgendetwas
zur Gesundung der Banken dort beigetragen? Nein, natürlich nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wirtschaftskrise in Spanien verschärft sich täglich. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Die Menschen haben
dort keine Zukunft. Hier können wir doch nicht länger
zusehen.
({3})
In diesen Tagen verhandeln die Bundesregierung und
die Opposition über den Fiskalpakt. SPD und Grüne wollen dem Fiskalpakt - so haben wir es gelesen - zustimmen, wenn die Bundesregierung einen Beschluss über die
Einführung einer Finanztransaktionsteuer fasst. Wir glauben den vagen Absichtserklärungen der Bundesregierung
nicht. Wir wollen Klarheit und Verbindlichkeit. Darum
hat unsere Fraktion den Antrag eingebracht, die Finanztransaktionsteuer im Nachtragshaushalt aufzunehmen.
Wenn Sie es mit der Umsatzsteuer auf Finanzprodukte
also ernst meinen, meine Damen und Herren von Union
und FDP, dann dürfte die Zustimmung zu unserem Antrag
doch kein Problem sein.
({4})
SPD und Grüne haben unseren Antrag im Haushaltsausschuss unterstützt. Die Regierungskoalition hat ihn
abgelehnt. Was soll man davon halten? Ist es Ihnen ernst
mit der Finanztransaktionsteuer oder nicht?
Meine Damen und Herren, wir als Linke fordern diese
Steuer schon sehr lange. Wir wissen aber auch, dass der
Fiskalpakt dadurch kein bisschen besser wird. Wir sagen
Ja zur Finanztransaktionsteuer, wir sagen Ja zur Regulierung der Finanzmärkte, aber wir sagen ganz deutlich
Nein zum Fiskalpakt.
({5})
Und Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, kann ich vor windigen Geschäften mit der
Bundesregierung nur warnen. Lassen Sie sich nicht auf
krumme Geschäfte mit dieser Teppichhändlerkoalition
ein. Lehnen Sie nicht nur den Nachtragshaushalt, sondern auch den Fiskalpakt ab.
({6})
Nach Auskunft der EU-Kommission von Dienstag
kann übrigens die Finanztransaktionsteuer noch im Jahr
2012 eingeführt werden, wenn im Juli mindestens neun
Länder einen entsprechenden Antrag einbringen. Da sowohl die Bundeskanzlerin als auch Herr Schäuble so oft
davon gesprochen haben, dass sie persönlich doch für
diese Steuer seien, fordere ich Sie auf: Bringen Sie noch
heute den Antrag zur Einführung der Finanztransaktionsteuer bei der EU ein. Dann wissen wir, dass Sie es ernst
meinen.
({7})
8,7 Milliarden Euro, die heute für den Rettungsschirm
beschlossen werden sollen, sind nicht nur viel Geld für
ein falsches Projekt, sondern sie bedeuten auch ein Weniger an Demokratie. Glaubt hier wirklich jemand im
Ernst, dass der Bundestag oder irgendein anderes ParlaDr. Gesine Lötzsch
ment in der Lage sein wird, den ESM so zu überwachen,
wie es nötig wäre? Ich glaube es nicht. Wenn Sie diesen
Beschluss fassen, werden wir alle am Ende eines Besseren belehrt werden.
In Anbetracht der dramatischen Situation, in der sich
die Europäische Union befindet, brauchen wir sehr mutige
Entscheidungen des Deutschen Bundestages. Wir müssen endlich damit aufhören, marode Banken zu retten.
Wir müssen gesunde Unternehmen und damit Millionen
von Arbeitsplätzen retten. Dafür brauchen wir ein starkes europäisches Investitionsprogramm. Das wäre der
richtige Weg.
({8})
Erinnern wir uns gemeinsam an das Jahr 2008. Damals wurde, übrigens auch auf Drängen der Fraktion Die
Linke, ein Konjunkturprogramm, ein Investitionsprogramm, aufgelegt. Die Banken hatten damals total versagt. Eine Kreditklemme drohte gesunde Unternehmen
zu zerstören. Direkte staatliche Hilfe hat damals unzählige Unternehmen und Arbeitsplätze in Deutschland gerettet. Ein solches Programm brauchen wir für ganz Europa und keine Kürzungspolitik!
({9})
Deutschland kann einen Beitrag zu einem solchen Programm leisten.
Wir haben es schon gehört - diese Aussage ist völlig
richtig -: Deutschland profitiert im Augenblick von der
Euro-Krise. Die Financial Times Deutschland schätzt,
dass wir in den nächsten fünf Jahren wegen der günstigen Zinssituation für Deutschland 100 Milliarden Euro
weniger ausgeben müssen.
({10})
Damit zieht die Bundesrepublik Deutschland, gewollt
oder ungewollt, aus der Notlage der anderen Länder einen Gewinn.
Aber ich sage Ihnen: Es ist nicht nur die moralische
Pflicht der Bundesrepublik Deutschland, dieses Geld zu
nutzen, um den Krisenländern zu helfen, sondern es
wäre auch eine Tat zu eigenem Nutzen; denn wenn wir
den Krisenländern jetzt nicht helfen, dann werden wir eines Tages selbst ein Krisenland sein. Das will die Linke
verhindern. Wir lehnen den Nachtragshaushalt ab.
Vielen Dank.
({11})
Sven-Christian Kindler hat das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Vogelsang von der Union hat vorhin davon gesprochen, Angela Merkel verfolge in der Europapolitik eine rote Linie. Ich kann mich erinnern, wie es
die letzten drei Jahre hier im Bundestag war: Das, was
diese Koalition gemacht hat, war immer zu spät und immer zu wenig. Das war ein Zickzackkurs. Dies und die
Austeritätspolitik haben die Krise in Europa verschärft.
Das war keine rote Linie, das war ein schwarz-gelber Irrweg in der Europapolitik.
({0})
Das zeigt auch dieser Nachtragshaushalt. Bestehende
Chancen wurden mit diesem Nachtragshaushalt nicht genutzt.
Ich stelle für die Grünen fest: Wir sind dafür, dass das
Inkrafttreten des ESM vorgezogen wird. Das haben wir
auch beantragt. Denn wir halten einen dauerhaften Rettungsmechanismus für sinnvoll; dies kann ein erster
Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Währungsfonds sein. Deswegen unterstützen wir, dass die Gelder
eingezahlt werden.
Das Problem ist jetzt aber, dass die Bereitstellung dieser Mittel vollständig über eine Neuverschuldung finanziert wird, obwohl die Konjunkturlage extrem gut ist und
die Zinsen historisch niedrig sind. Dieser Nachtragshaushalt zeigt eben auch: Es gibt keine Verbesserung bei
den Ausgaben. Es gibt keine strukturellen Einsparungen.
Es gibt keine Konsolidierung. Es gibt keine Mehreinnahmen. Auch dieser Nachtragshaushalt ist ein Irrweg.
({1})
- Ich komme gleich zu den Sparvorschlägen, Schorsch.
Die Konsequenz muss sein: Wir müssen jetzt die
Schulden begrenzen und sie abbauen. Die fiskalische
Verschuldung müssen wir angehen. Wir müssen zum
Beispiel Subventionen abbauen. Es gibt eine Reihe von
klimaschädlichen Subventionen, die wir abbauen können.
({2})
Wir müssen strukturelle Einsparungen im Haushalt
vornehmen und zum Beispiel die konjunkturellen Effekte nutzen. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass
die durch diese Krise verursachten Schulden gerecht abgebaut werden. Wir haben als Grüne dafür ein Konzept
vorgelegt. Wir wollen eine Vermögensabgabe. Für die
nächsten zehn Jahre wollen wir von den Millionären in
diesem Land 100 Milliarden Euro einnehmen, um die
durch die Bankenkrise verursachten Schulden finanzieren zu können. Wir wollen, dass es in diesem Land gerecht zugeht. Deswegen müssen die Millionäre ihren
Beitrag leisten.
({3})
Wir haben gemeinsam mit der SPD eine Anhörung
zum Nachtragshaushalt beantragt. Kollege Schneider hat
es schon gesagt: Die Bundesbank und der Bundesrechnungshof haben Vorschläge gemacht. In den Stellungnahmen gab es vernichtende Kritik an der Koalition.
({4})
- Gucken wir uns das Sparpaket doch einmal an, Kollege Koppelin. Was ist aus dem Sparpaket geworden? Es
gab die unsozialen Einschnitte beim Elterngeld für
ALG-II-Empfängerinnen. Die Eingliederungshilfe für
arbeitslose Menschen wurde rasiert. Was gab es noch?
Es wurde fast nichts umgesetzt.
({5})
Was war denn? Einnahmen aus der Finanztransaktionsteuer sind bisher nicht geflossen. Dazu mussten wir Sie
im Bundestag immer treiben. Einnahmen aus der Brennelementesteuer sind nicht so geflossen wie geplant.
Was ist denn mit den Einsparungen im Rahmen der
Bundeswehrreform? Da haben Sie nichts gemacht und
haushaltspolitisch versagt.
({6})
Beim Nachtragshaushalt kann man auch noch einmal
feststellen, wie Sie Haushaltspolitik machen. Es gab im
Berichterstattergespräch eine Einigung, für das Arbeitslosengeld II 200 Millionen Euro weniger anzusetzen,
weil man davon ausgeht, dass sich der Arbeitsmarkt besser entwickeln wird. Dann haben Sie sich in der Koalition noch einmal beraten. Sie haben dann im Haushaltsausschuss einen Antrag eingebracht, in dem Sie von
230 Millionen Euro ausgehen. Es ging also noch einmal
um 30 Millionen Euro. Das ist aber nicht seriös. Die Arbeitsmarktdaten geben das nicht her. Sie wissen gar
nicht, ob sich der Arbeitsmarkt tatsächlich besser entwickelt. Auch das zeigt, wie unseriös Ihre Finanzpolitik ist.
({7})
Des Weiteren haben wir den Energie- und Klimafonds
im Verfahren zum Nachtragshaushalt beraten. Wir haben
Ihnen schon damals vorgerechnet, was sich ergeben
wird. Der Bundesrechnungshof hat es bestätigt. Sie haben beim Klimafonds einen Schattenhaushalt eingerichtet. Sie haben bei der Finanzierung der Energiewende
den Grundsatz der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit nicht beachtet. Sie haben damals den Preis für
die CO2-Zertifikate mit 17 Euro kalkuliert. Der Fonds ist
von den Einnahmen abhängig. Jetzt sind es noch
7,50 Euro. Das heißt, hier musste im Bereich der Energiewende massiv gekürzt werden. Wichtige Programme
der Energiepolitik und für den Klimaschutz fallen weg.
Sie haben den Nachtragshaushalt nicht genutzt, um das
zu korrigieren.
Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, wo wir bei
klimaschädlichen Subventionen, zum Beispiel bei
schweren Dienstwagen, im Flugverkehr und bei Ausnahmen im Zusammenhang mit der Ökosteuer, Geld einsparen und damit die Energiewende, den Klimaschutz, zum
Beispiel durch Gebäudesanierung, oder auch die Forschung zu erneuerbaren Energien finanzieren können.
Das haben Sie nicht umgesetzt. Auch hier zeigt sich das
klimapolitische, aber auch das haushaltspolitische Versagen dieser Koalition.
({8})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Vogelsang?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Erinnern Sie sich eigentlich daran, dass Sie in Ihrer Rede zum Haushalt
2011 die gleichen Behauptungen aufgestellt haben wie
jetzt und dass rein gar nichts von dem, was Sie gesagt
haben, eingetroffen ist?
({0})
Ich verstehe die Frage nicht ganz,
({0})
weil kein konkreter Inhalt darin enthalten war. Aber ich
will gerne darauf eingehen. Ich habe schon in der Haushaltsrede 2011 klar gesagt: Der Energie- und Klimafonds
ist schlecht konstruiert;
({1})
es wird nicht zu dem Preis von 17 Euro kommen. Es ist
nicht dazu gekommen; es waren 7,50 Euro. Jetzt mussten Sie die Mittel für den Energie- und Klimafonds fast
um die Hälfte kürzen. Das ist schlecht für die Energiewende und für den Haushalt, und es zeigt, wie unseriös
Ihre Politik ist. Das ist alles eingetreten.
({2})
Auch bei der Frage, wie es mit Europa weitergeht, ist
diese Koalition auf dem Holzweg. Wir haben klargemacht: Man hätte schon mit dem Nachtragshaushalt Vorbereitungen treffen können. Wir brauchen für Europa ein
Investitionsprogramm. Wir brauchen soziale und ökologische Investitionen, damit auch die Krisenländer eine
Chance haben. Auch eine Kapitalerhöhung bei der Europäischen Investitionsbank hätte man in den Nachtragshaushalt aufnehmen können. Wir brauchen an dieser
Stelle mehr Investitionen, damit Europa aus der Krise
herauskommt. Die verheerende Austeritätspolitik muss
beendet werden, damit es auch für die Krisenländer eine
Chance gibt. Eine gerechte und ökologische Krisenpolitik wäre für Europa angebracht.
({3})
Natürlich wollen wir das auch finanzieren. Hierbei
geht es um die Gerechtigkeitsfrage. Das heißt, die Finanztransaktionsteuer muss kommen, weil sie die Finanzmärkte reguliert und dafür sorgt, dass wir mehr Einnahmen haben. Wir brauchen auch höhere Steuern, zum
Beispiel bei der Einkommensteuer und für Vermögende,
weil es gerecht ist, dass sie ihren Anteil an der Krise tragen. So können wir auch in Deutschland und in Europa
gerecht investieren.
({4})
Das haben Sie alles abgelehnt. Sie bleiben auf Ihrem
Holzweg. Das ist ein schwarz-gelber Schuldennachtragshaushalt. Sie haben hier nicht konsolidiert und nicht
strukturell eingespart. Sie haben diesen Haushalt im
Sinne der Gerechtigkeit nicht verbessert. Deswegen lehnen
wir ihn ab und werden weiter dafür streiten, dass es eine
gerechte und solidarische Krisenlösung für Deutschland
und Europa gibt.
Danke.
({5})
Der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter
hat jetzt das Wort für die Bundesregierung.
({0})
Danke schön, Frau Präsidentin. - Eine der Grundregeln der Opposition lautet, wie diese Debatte zeigt:
Wenn du keine guten Argumente hast, dann musst du
sprachlich aufrüsten.
({0})
Die sprachliche Maßlosigkeit, mit der die Redner der
Opposition heute hier vorgetragen haben, steht in einem
scharfen Kontrast zu dem sachlichen Gehalt und der
Qualität ihrer Aussagen.
({1})
Da wird in allen Superlativen Kritik geäußert. Ich will
mir hier einmal den Kollegen Schneider als den Sprecher
der größten Oppositionsfraktion vornehmen, dessen
Kernaussage lautet, wir machen zu viele Schulden. Herr
Kollege Schneider, Sie als Sprecher der SPD stehen damit vor der Gefahr eines Ausschlussverfahrens aus der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, glaube ich;
denn wenn ich die Medien richtig verfolge,
({2})
sind diejenigen, die wir als Troikaner kennen, gestern in
Paris gewesen, um gemeinsam mit den französischen
Sozialdemokraten für Frankreich, aber wohl auch für die
deutsche Sozialdemokratie die Botschaft nach Europa zu
senden, Deutschland solle mehr Schulden machen.
({3})
Ich bekomme nicht zusammen, wo denn da die Richtlinienkompetenz in der SPD in Deutschland liegt: Bei
den Troikanern, die gemeinsam mit Frankreich nach
mehr Schulden rufen, oder beim haushaltspolitischen
Sprecher, der uns unter Verwendung schärfster sprachlicher Formulierungen hier geißeln will, weil wir angeblich zu viele Schulden machen? Das geht nicht. SPD in
Paris und SPD in Deutschland müssen schon das Gleiche
sagen. Sonst sind Sie unglaubwürdig, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({4})
Herr Kollege Schneider, ich will Sie außerdem darauf
hinweisen, dass wir auch noch sozialdemokratische Ministerpräsidenten haben,
({5})
die im Zusammenhang mit der Frage des Fiskalpakts
Briefe schreiben. - Zu diesem Thema komme ich noch.
({6})
- Es gibt auch CDU-Ministerpräsidenten, die Briefe
schreiben. Sie sind sich da ähnlich.
({7})
Jetzt sind wir aber bei Ihrem Vorwurf, wir machten zu
viele Schulden. Diese Ministerpräsidenten fordern, der
Bund solle Lasten in zweistelliger Milliardenhöhe von
den Ländern übernehmen. Jetzt frage ich Sie, Herr
Schneider: Sollen wir, um noch weniger Schulden zu
machen, Ausgaben kürzen? Wenn ja, wo soll das nach
Vorstellung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bitte geschehen? Und welche Steuern sollen in einer Größenordnung von 10, 20 oder 30 Milliarden Euro
erhoben werden? Das müssen Sie dann aber bitte hier
auch konkret sagen. Oder Sie lassen Ihre Klage fallen,
bei dieser Haushaltspolitik würden zu viele Schulden gemacht.
Das Gegenteil ist nämlich richtig. Das ist eine Haushaltspolitik von Maß und Mitte. Sie ist nicht nur national
klug, sondern auch international gut aufgestellt. Wir machen keine Vollbremsung, sondern stehen zu unserer
Verantwortung und machen das, was national wie europäisch notwendig ist.
({8})
Das ist eine wachstumsfreundliche Konsolidierung. Ich
kenne kein Land in Europa, das nicht unsere Probleme
und unsere Haushaltssituation gerne übernehmen würde.
Wir werden mit diesem Nachtragshaushalt einen
wichtigen Beitrag zur Stabilität Europas leisten, indem
wir gleichzeitig deutlich machen, dass wir das Kapital
für den Europäischen Stabilitätsmechanismus einzahlen.
Das steht in überhaupt keinem Widerspruch zu unserer
generellen Linie, im Jahre 2016 einen fast ausgeglichenen Haushalt auch für den Bund vorzulegen. Ich fordere
nicht nur die SPD-Bundestagsfraktion auf, uns bei dem
Anliegen, den Bundeshaushalt zu konsolidieren, zu unterstützen, sondern ich appelliere auch an alle Länderparlamente und Länderfinanzminister, nicht Ausflüchte
zu suchen, sondern bei der Konsolidierungsaufgabe mitzumachen, weil ein ausgeglichener Haushalt für die
nachfolgenden Generationen der beste Beitrag für Zukunftsinvestitionen und Wachstumssicherung ist. Das
gilt nicht nur für Berlin, sondern auch für alle 16 Länderhaushalte.
({9})
Obwohl wir Mehrausgaben haben und obwohl wir einen niedrigen Bundesbankgewinn verkraften müssen,
senken wir die Nettokreditaufnahme; denn die wirtschaftliche Situation ist in Deutschland so, dass erfreulicherweise mehr Steuern fließen, als wir gemeinsam noch
vor wenigen Wochen hier in diesem Hohen Hause angenommen haben. Deutschland kann sich diese Anstrengung nur leisten, weil wir in den vergangenen Jahren
- das waren im Übrigen nicht nur unionsgeführte Bundesregierungen - ein umfassendes Reformprogramm für
mehr Wachstum und Beschäftigung durchgeführt haben.
Es würde mich freuen, wenn die deutsche Sozialdemokratie, anstatt die Austeritätspolitik zu kritisieren, dazu
stehen würde, dass Regierung und Opposition gemeinsam in diesem Hohen Hause in den letzten 10 bis 15 Jahren viel dazu beigetragen haben, dass die wirtschaftliche
Entwicklung so positiv in Deutschland ist. Die Jugendarbeitslosigkeit ist die niedrigste in Europa, wir verzeichnen Nachkriegsrekorde bei der Beschäftigung, und wir
sind ein Stabilitätsanker für ganz Europa. Darauf sollten
wir gemeinsam, Regierung und Opposition, stolz sein.
({10})
Aber ich will auch warnen: nicht vor dem Kollegen
Schneider - der war heute auf der Seite der Konsolidierer -, sondern vor anderen Teilen der politischen Linken
in diesem Land, die fordern, dass Deutschland mehr machen soll. Die Erwartung geht dahin, dass Deutschland
alles machen soll. Die Politik von Maß und Mitte weiß,
dass wir in Deutschland nicht überfordert werden dürfen. Wir können nicht jedes Problem Europas mit deutscher Initiative lösen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Deswegen ist es auch wichtig, deutlich zu machen,
dass nationale Verantwortung die Grundlage für europäische Solidarität ist. Die Vergemeinschaftung von Schulden, die manche in diesem Haus als Ausweg aus der
Krise empfehlen, ist kein Ausweg, sondern ein Irrweg.
({11})
Dieser Haushalt zeigt: Löse deine nationalen Aufgaben in der Budgetpolitik! Er ist eine Aufforderung zu
Reformen auch da, wo eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik notwendig ist. Er zeigt, dass Fiskalpolitik,
also Haushaltsausgleich, kein Widerspruch zu Wirtschaftswachstum ist. Er macht aber ebenso deutlich, dass
im Europa der 27 auch die übrigen 26 Länder sowohl in
der Fiskalpolitik als auch in der Reformpolitik ihre Aufgaben lösen müssen. Nur so wird Europa stark. Wir müssen gemeinsam unsere jeweilige nationale Verantwortung wahrnehmen und so einen Beitrag zu einem starken
Europa leisten.
({12})
Ich will zum Abschluss eines feststellen: Dieser
Haushalt wird ein weiterer Schritt sein
({13})
im Hinblick auf ausgeglichene und stabile Bund-LänderFinanzbeziehungen.
({14})
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten überall den Markstein sehen: Sind wir bereit, auch unseren
Bürgerinnen und Bürgern zu erzählen, was politisch
nicht mehr geht oder welche politischen Schwerpunkte
wir setzen wollen, damit wir mit dem Geld, das wir haben, auch tatsächlich auskommen?
({15})
Deutschland kann von anderen nur Opfer einfordern,
wenn es selbst in der Fiskalpolitik, in der Reformpolitik
und in der Solidarität vorbildlich ist. Dieser Haushalt
zeigt, dass Deutschland seiner Verantwortung vorbildlich gerecht werden wird. Wir werden weiter daran arbeiten, noch besser zu werden. Ich lade uns alle, die Regierung und die Opposition, dazu ein, daran mitzuwirken.
({16})
Der Kollege Lothar Binding hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige Worte zum
Kollegen Kampeter, der gesagt hat, die Troika in Paris
habe vorgeschlagen, mehr Schulden zu machen. Diese
hatte richtig gute Ideen, was man tun muss, um Europa
zu helfen: Sie hat etwas von Wachstum gesagt und Vorschläge zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gemacht. Sie hat von Strukturhilfen und Investitionsmaßnahmen gesprochen. Sie hat aber auch gesagt: Wir
brauchen eine Finanztransaktionsteuer.
({0})
Wir müssen in Deutschland die Steuersparmodelle, die
Sie erneut aktiviert haben, abschaffen.
({1})
Wir brauchen natürlich die EIB, die Europäische Investitionsbank, die wir mit etwas Eigenkapital motivieren können, enorme Investitionsleistungen zu tätigen.
Wir haben Strukturfonds mit unverbrauchten Mitteln.
Uns stehen also viele Möglichkeiten zur Verfügung,
diese guten Ideen zu finanzieren; man müsste nur die
Ideen aufgreifen und umsetzen.
({2})
Die Zeit hat heute den Redebeitrag von Carsten
Schneider sehr schön zusammengefasst: „Deutschland
fordert Haushaltsdisziplin in Europa, verletzt sie aber
selbst.“ Ich will dazu ein Gleichnis nennen.
({3})
- Ja, das stimmt. Es war ein guter Mann, der die Überschrift formuliert hat. Schönen Dank für den Zwischenruf.
({4})
- Sie hat das aber zitiert. Das war ein kluges Zitat dort.
({5})
- Man merkt aber schon, dass es eine gewisse Aufregung bei der FDP gibt. Denn das wäre ungefähr so, als
würde Herr Niebel in der Welt Good Governance verlangen, um dann jenen die Mittel zu streichen, bei denen es
Korruption und Günstlingswirtschaft gibt.
({6})
- Ich weiß das schon. - Aber das ist nun mal so, als
wenn Herr Niebel in der Welt etwas verlangt, was er zu
Hause nicht zu leisten bereit ist. Mit dieser Logik lässt
sich keine gute Politik machen.
({7})
Stefanie Vogelsang - das wollte ich ursprünglich als
Erstes sagen, denn sie war die erste Rednerin - hat ganz
nett etwa formuliert: Als wir uns vor zwei Jahren erstmals mit der Notlage in Griechenland befasst haben,
dachten wir an einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus. - Ich will erinnern: kein Cent für die Griechen das war Ihr Reflex auf die Notlage in Griechenland.
({8})
Viele haben dazu beigetragen, dass dieser Stabilitätsmechanismus entwickelt werden konnte. Anders wären
wir noch längst nicht da angekommen, wo wir heute
sind. Aber wir sind mit den Ideen noch nicht am Ende.
Jürgen Koppelin hat etwas ganz Interessantes gemacht. Er hat etwa in 90 Prozent seiner Redezeit von der
SPD, von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein
gesprochen. Ich vermute als Laienpsychologe: Dahinter
steckt die heimliche Sehnsucht nach Opposition. Dass
man sich damit so intensiv auseinandersetzt, kann nur
damit zusammenhängen, dass er über den Nachtragshaushalt nicht reden wollte, sondern über etwas ganz anderes.
({9})
Wenn man sich im Zahlenraum von 1 bis 50 relativ
frei bewegen kann, kann man doch sagen: Das ist ein guter Haushalt und auch ein guter Nachtragshaushalt.
Wenn man sich aber klarmacht, dass zum Beispiel 32
eine größere Zahl als 17 ist, kann man diesen Schluss
nicht ziehen. Dann ist es nämlich ein schlechter Nachtragshaushalt.
({10})
Warum ist das so? Das hat Carsten Schneider sehr gut
erklärt: Wenn man Wachstum hat, kommt man nicht auf
die Idee, die Schulden zu erhöhen.
({11})
Wenn man bei der sozialen Sicherung - gegen unseren
Willen - streicht, kommt man doch nicht auf die Idee,
die Kreditaufnahme zu vergrößern.
({12})
Wenn man das aber tut, muss man sich überlegen, wohin
das Geld eigentlich geflossen ist.
Es gibt zwei Antworten. Norbert Barthle hat eben in
einem Zwischenruf gesagt, finanzielle Transaktionen
seien die Antwort. Er müsste das ein bisschen erklären;
denn die Bürger können nicht verstehen, was die finanzielle Transaktion im Hintergrund bedeutet, wenn das
Wachstum steigt, die soziale Sicherung sinkt und die
Schulden steigen.
({13})
Du hast aber noch etwas Schönes erklärt: Bei euch
existiert eine gewisse Systematik in der Haushaltsaufstellung.
Lothar Binding ({14})
({15})
Danach gab es 2010 im Soll 80 - man hat 80 veranschlagt -, es waren tatsächlich aber nur 40. 2011 waren
es im Soll, also veranschlagt, 48, aber es waren tatsächlich nur 17.
({16})
Aber mit dieser Erfahrung könnte man im Jahre 2012
einen vernünftigen Haushalt aufstellen, nachdem man
weiß, wie das funktioniert.
({17})
Wer in der Kommunalpolitik war, kennt die Tricks
der Kämmerer. Diese stellen einen Haushalt auf, ein dickes Werk. Darin sucht der kluge Kommunalpolitiker
die Luftbuchungen, mit denen sich die Verwaltung überall gewisse Mittel verschafft, die sie im Bedarfsfall benutzt. Die Entscheidungskompetenz dafür nimmt sie
dem Parlament weg und holt sie in die Exekutive. Man
könnte sagen: Das systematische Verfahren, immer mehr
Schulden zu veranschlagen, als man tatsächlich machen
will, ist sozusagen der Freibrief für die Exekutive, am
Parlament vorbei zu handeln. Wenn das ein transparenter
und demokratischer Haushalt ist, dann sind wir im
Grunde wieder bei Niebel.
({18})
Der Haushalt ist immer ein Gradmesser für das, was
man in der Vergangenheit gemacht hat. Daran kann man
erkennen, ob die Politik gut oder schlecht war. Man
muss immer ein bisschen schauen, wie die Entwicklung
war. Gehen wir einmal auf den Koalitionsvertrag zurück.
Erinnern wir uns daran, was Sie mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht haben: Zumindest aus diesem Gesetz ist kein Wachstum generiert worden, sondern es ist nur Klientelpolitik betrieben worden.
Schauen wir uns einmal die Ergebnisse Ihrer Kommission zur Reform der Gewerbesteuer an. Kann uns da
jemand ein Ergebnis nennen? Die Antwort ist schnell gegeben: leere Menge; Fehlanzeige. Es gibt eine Kommission zur Reform der Mehrwertsteuer. Wir haben über
200 Ausnahmen vom Regeltarif. Da anzusetzen, das
wäre eine Aufgabe, Herr Kampeter, um Steuermittel zu
generieren. Aber Sie haben keine der 200 Ausnahmen
abgeschafft, sondern Sie haben sogar noch eine zusätzliche geschaffen.
Verlustverrechnung, Gruppenbesteuerung, die EAVFallbeilprobleme bei der Organschaft - Fehlanzeige! Sie
merken, die Vorbereitung dieses Nachtragshaushalts und
auch des nächsten ist - das kann ich Ihnen jetzt schon
versprechen - so miserabel, dass sich genau daraus die
deutliche Zunahme der Neuverschuldung, der exorbitanten Kreditaufnahme, die die Rahmendaten überhaupt
nicht rechtfertigen, erklärt. Darum sagen wir: Dies ist
weder ein sozialer noch ein ökologischer noch ein vernünftiger Nachtragshaushalt. Deshalb werden wir ihm
natürlich nicht zustimmen, sondern wir werden ihn ablehnen.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Wir behandeln mit der heutigen Debatte etwas, bei dem ganz Europa auf uns schaut. Ich glaube,
ganz Europa wird in dieser Woche, in der nächsten Woche - auch wenn wir da nicht im Plenum tagen - und in
der übernächsten Woche auf dieses Parlament schauen.
Wenn ich die Reden der Opposition höre, habe ich das
Gefühl, dass sie sich gar nicht bewusst darüber ist,
({0})
was für eine Verantwortung dieses Parlament für Europa
in den nächsten Wochen hat und welche Verantwortung
es bereits heute mit diesem Nachtragshaushalt wahrnimmt.
({1})
Da liegt Ihre Verantwortung, und da sollten Sie genau
aufpassen.
Meine Damen und Herren, kein Redner der Opposition hat in seiner Rede gesagt, warum wir diesen Nachtragshaushalt verabschieden. Wir verabschieden diesen
Nachtragshaushalt, weil wir Europa gesagt haben: Wir
sind bereit, Europa zu stabilisieren und aus unserem
Haushalt Gelder zu geben, wenn Europa auf der anderen
Seite bereit ist, ebenfalls etwas zu tun. Deswegen verabschieden wir den Nachtragshaushalt, und deswegen wäre
es Ihre Verpflichtung, sich diesen Punkt viel genauer anzuschauen.
Herr Binding, Sie haben einen Artikel aus der Zeit zitiert - das empfand ich wirklich als einen ganz billigen
Taschenspielertrick -, der die SPD beschreibt. Dieser
Artikel ist von Peer Steinbrück und hat die Überschrift
„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Dann sagten Sie, Herr
Schneider sei zitiert worden. Billig, wirklich billig! Das
war, Herr Binding, ganz schlecht.
({2})
Ich will Ihnen einmal sagen, was die eigentliche Täuschung ist.
({3})
Es ist heute wieder so gewesen: Die Opposition hat kritisiert, die Grünen, die SPD und die Linken; sie tun das
sowieso immer. Hat der Zuhörer, hat der Zuschauer
heute von Ihnen einen einzigen Ausgabenkürzungsvorschlag gehört?
({4})
Hat er ein einziges Mal gehört, dass Sie bereit sind, den
Bürgern zu sagen, wo wir sparen müssen?
({5})
Nein! Das können Sie nämlich nicht. Das ist weiterhin
kennzeichnend für den Unterschied zwischen der Opposition und der Koalition:
({6})
Wir machen beides. Wir sanieren die Haushalte; aber wir
sind auch bereit, dem Bürger zu sagen: Ja, es gibt Einschnitte. - Das ist der Unterschied zu Ihnen, die Sie hier
eben nicht der Dr. Jekyll sind, sondern Sie sind Mr.
Hyde.
({7})
Was haben wir auch heute wieder erlebt? Schauen Sie
sich doch einmal die Tagesordnung an: Es gab heute keinen einzigen Tagesordnungspunkt in diesem Plenum, wo
seitens der Opposition nicht kam: Hier müssen wir mehr
ausgeben; da müssen wir dem Bürger mehr Geld aus der
Tasche nehmen; dort ist zu wenig Geld vorhanden. Dann
diese Aussage von der SPD: Die Koalition spart nicht
genug.
({8})
Gleichzeitig rennen Sie aber herum und sagen: Die Koalition spart zu viel. Jetzt können wir darüber streiten.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich will Ihnen einmal eines sagen: Ich kenne kein
Land in Europa, außer vielleicht Liechtenstein,
Luxemburg und die Schweiz, das nicht gern unsere
Haushaltszahlen hätte. Ich kenne die Bestätigung durch
die OECD, dass wir die richtigen Sparmaßnahmen
durchführen. Dann hier zu sagen, wir machten es nicht
richtig, ist lächerlich, wenn man auf der anderen Seite
Ihre weiteren Ausgabenwünsche sieht.
({9})
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Schauen Sie sich das
schöne rot-grüne Papier „Europa stärken - Weichen für
nachhaltiges Wachstum stellen“ noch einmal an. Steht
darin etwas von „Ausgaben kürzen“? Nein! Da steht:
Ausgaben erhöhen. Da ist von der Einrichtung eines Altschuldentilgungsfonds die Rede, also von etwas, was zu
nichts anderem als zu einer Zinserhöhung führen würde.
({10})
Sie, ganz besonders die Grünen, sagen immer, man
müsste den schwachen Ländern Europas doch einmal ein
bisschen helfen und ihre Zinsen senken.
({11})
- Ja. Gut. Das hat aber zur Folge, liebe Grüne - weil ihr
das immer noch nicht ganz kapiert -, dass woanders die
Zinsen steigen.
({12})
Sagen wir einmal, die Zinsen sinken in den schwachen
Ländern um 2 Prozent und steigen bei uns um 2 Prozent.
Habt ihr, liebe Grüne, eigentlich einmal ausgerechnet,
was ein Anstieg der Zinsen um 2 Prozentpunkte für den
Bundeshaushalt bedeuten würde? - 25 Milliarden Euro
Mehrausgaben. Das ist der Wunsch von Grünen und
SPD, wenn sie einen Altschuldentilgungsfonds fordern,
der hier die Zinsen und damit die Steuerlast erhöhen
würde.
({13})
Es geht bei diesem Nachtragshaushalt um eine Sache:
Es geht darum, die haushalterischen Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass wir in den nächsten Tagen, in den
nächsten zwei Wochen Europa stabilisieren können. Es
geht nicht darum, unterschiedliche Meinungen zu
Europa zu haben. Es geht darum, das zu haben, was wir
von Ihnen noch erwarten, was wir aber haben: eine Haltung zu Europa.
Herzlichen Dank.
({14})
Bartholomäus Kalb spricht jetzt für die CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich darf gleich da anknüpfen, wo Kollege
Otto Fricke aufgehört hat. Ich hatte manchmal den Eindruck, von der Opposition redet hier niemand über den
Nachtragshaushalt und schon gar nicht über den Anlass
des Nachtragshaushaltes.
({0})
Otto Fricke hat gerade deutlich gemacht, dass der
eigentliche Anlass ist, dass wir als Bundesrepublik
Deutschland unserer Verantwortung in und für Europa
nachkommen wollen, und zwar in einem parlamentarisch sauberen Verfahren. Der ESM, der dauerhafte
Europäische Stabilitätsmechanismus, soll nach den Vertragsentwürfen mit einem Grundkapital von 80 Milliarden Euro ausgestattet werden. Davon haben wir rund
22 Milliarden Euro zu erbringen. Weil wir wollen, dass
der ESM möglichst schnell aktiv werden kann - und
niemand kann bezweifeln, dass dies dringend notwendig ist -, sind wir bereit, bereits jetzt zwei Tranchen von
insgesamt fünf Tranchen einzuzahlen.
Deswegen haben wir diesen Nachtragshaushalt vorgelegt, haben ihn parlamentarisch beraten und wollen ihn
heute beschließen - nicht mehr und nicht weniger.
({1})
Wenn wir entgegen den ursprünglichen Planungen
bereits jetzt 8,7 Milliarden Euro einzahlen, dann ist die
logische Konsequenz, dass dies in einem Nachtragshaushalt nachvollzogen werden muss. Dass die Neuverschuldung trotzdem nicht um jene 8,7 Milliarden Euro steigt,
ist der guten Entwicklung und der wirtschaftlichen und
sparsamen Haushaltsführung des Bundesfinanzministers zuzuschreiben.
Herr Kollege Carsten Schneider, es ist unredlich,
wenn Sie sagen, es würde hier wie seinerzeit bei der Refinanzierung der HRE vorgegangen werden. Sie als Vorsitzender des Finanzierungsgremiums kennen die Struktur der Bundesverschuldung und der Strategie der
verschiedenen Laufzeiten sehr genau.
({2})
Das brauche ich Ihnen hier nicht zu erläutern.
Wir sollten vermeiden, das Vertrauen zu beschädigen,
das die Finanzanleger in die Bundesrepublik Deutschland haben.
({3})
Wir profitieren davon in hervorragender Weise. Das ist
gut für uns, das muss aber - das sage ich auch ganz offen - keineswegs so bleiben. Wir haben allen Grund, darauf zu achten, dass das Vertrauen in Deutschland weiterhin aufrechterhalten bleibt. Das ist zu unserem
Vorteil, das ist aber auch zum Vorteil ganz Europas, der
gesamten Euro-Zone.
({4})
Ich habe schon gesagt, dass die Neuverschuldung
nicht in dem Maße, in dem wir jetzt in den ESM einzahlen, erhöht werden musste, weil wir eine günstige Situation haben. Wir konnten deswegen im Rahmen des
Nachtragshaushaltsverfahrens die Neuverschuldung
weiter reduzieren. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass
wir sparsam und wirtschaftlich mit den Steuergeldern
des Bürgers umgehen.
In Europa wird es darauf ankommen, dass wir anderen Solidarität zuteil werden lassen. Die Bundesrepublik
Deutschland braucht ihr Licht diesbezüglich nicht unter
den Scheffel zu stellen. Aber auch andere müssen ihre
Aufgaben und Verpflichtungen erfüllen.
Deswegen gehören für uns der Europäische Stabilitätsmechanismus einerseits und der Fiskalpakt andererseits eng zusammen.
({5})
Die Stabilisierung Europas kann nur gelingen, wenn beides gemeinsam gemacht wird, wenn auch andere ihre
Aufgaben erfüllen, wenn nicht Wohltaten verteilt werden, wenn nicht mehr konsumtive Ausgaben getätigt
werden, sondern wenn strukturelle Reformen durchgeführt und Zukunftsinvestitionen vorgenommen werden.
({6})
Wir sind diese Politik auch unserer nachkommenden
Generation schuldig. In allen westlichen Industrieländern haben wir ein riesiges demografisches Problem, das
wir nicht aus den Augen verlieren dürfen.
Dann will ich noch ein Wort zu dem Katastrophenszenario sagen, das Kollege Schneider mit dem Begriff
„Bankrotterklärung“ beschrieben hat.
Herr Kollege, Sie denken aber an die Redezeit?
Ich bin sofort am Ende. - Viele Staaten in Europa
wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten, wenn sie
unsere Haushaltszahlen hätten, wenn sie unsere Wirtschaftsdaten hätten, wenn sie unsere Arbeitslosenquote
hätten, wenn sie unsere Beschäftigungsquote hätten,
wenn sie unsere Einnahmesituation hätten und wenn sie
auch die Stabilität unserer Sozialsysteme hätten. Deswegen kann ich es nicht mehr ertragen, wenn man sich
nicht einmal mehr über gute Entwicklungen in Deutschland freuen darf. Es gilt, dies gemeinsam für die Zukunft
zu sichern.
Herr Kollege.
Auch wir sind nicht davor gefeit, dass sich durch konjunkturelle Entwicklungen Situationen ergeben, die uns
noch mehr Kopfzerbrechen machen. Schauen wir, dass
wir die Dinge zusammenhalten - im Interesse unserer
Währung, im Interesse unserer Stabilität.
Herzlichen Dank.
({0})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaus-
halt für das Jahr 2012. Dazu liegen uns persönliche Er-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
klärungen nach § 31 der Geschäftsordnung der Kollegen
Schäffler, Willsch und Manfred Kolbe vor1).
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 17/9650 und
17/9651, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
den Drucksachen 17/9040 und 17/9649 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
über den Änderungsantrag auf Drucksache 17/9960
positiv ab? - Wer stimmt dagegen?
({0})
- Anscheinend ist es hier ein bisschen laut. Ich weiß
auch nicht, wie das kommt.
({1})
Wir machen das noch einmal. Auf Drucksache 17/9960
finden wir einen Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die
Enthaltungen! - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Die
Oppositionsfraktionen haben zugestimmt, die Koali-
tionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Jetzt bitte ich diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! -
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU und FDP angenommen;
SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen
gestimmt.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Über den Gesetzentwurf stim-
men wir in dritter Beratung jetzt namentlich ab. Die
Schriftführerinnen und Schriftführer haben schon begon-
nen, ihre Plätze einzunehmen. Sind denn alle Urnen
besetzt? - Das ist noch nicht der Fall. - Sind jetzt alle
Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Dann
eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch jemand anwesend, der, aus welchen Gründen
auch immer, seine Stimmkarte nicht losgeworden ist? -
Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt
gegeben2).
Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zu
den Entschließungsanträgen. - Bitte nehmen Sie Ihre
Plätze ein. Wir beginnen mit dem Entschließungsantrag
der SPD auf Drucksache 17/9961. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Die
Enthaltungen! - Was macht die Linke? Hat die Linke
den Saal verlassen? - Dieser Antrag ist insgesamt abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion.
Abgelehnt haben den Antrag die Koalitionsfraktionen
und die Linke. Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Jetzt kommen wir zum Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9962. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! Der Antrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion. Alle anderen Fraktionen waren dagegen.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9963. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Damit ist
dieser Entschließungsantrag ebenfalls abgelehnt bei
Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Dagegen
haben die Koalitionsfraktionen und die Linke gestimmt.
Die SPD hat sich enthalten.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Energiewende und
Klimaschutz solide finanzieren - Nachtragshaushalt nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9911, den Antrag auf Drucksache 17/8919 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen.
Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. SPD
und Linke haben sich enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Hans-Christian Ströbele, Dr. Konstantin
von Notz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von
Transparenz und zum Diskriminierungsschutz
von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern
({2})
- Drucksache 17/9782 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig
Vorgesehen ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ingrid Hönlinger hat jetzt
das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
1) Anlagen 5 und 6
2) Ergebnis Seite 21967 C
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Moment findet in Polen und in der Ukraine die Fußball-EM statt. Bei jedem Spiel steht ein Mann mit einer
Pfeife auf dem Platz. Wenn ein Spieler die Regeln verletzt, also ein Foul begeht, dann hat dieser Mann die
Aufgabe, zu pfeifen, das Spiel zu unterbrechen und auf
die Regelverletzung hinzuweisen.
Von dieser Aufgabenstellung, Regelverletzungen hörbar zu machen, leitet sich der Begriff Whistleblowing
ab. Regelverletzungen gibt es nicht nur auf dem Fußballfeld; Regelverletzungen und Missstände gibt es in vielen
gesellschaftlichen Bereichen. Die Öffentlichkeit hat von
Missständen in Pflegeheimen, vom Verkauf von Gammelfleisch oder von Sicherheitsproblemen in Atomkraftwerken oft erst erfahren, nachdem mutige Menschen
- teilweise anonym - darauf hingewiesen haben.
Eines muss klargestellt sein: Diese Menschen sind
keine Verräter - im Gegenteil; diese Menschen zeigen
Mut und Zivilcourage. Sie übernehmen Verantwortung
für das Gemeinwohl und damit für unsere Demokratie.
({0})
Diese Menschen müssen wir vor innerbetrieblichen Repressionen schützen.
Wenn Sie Verantwortliche in Betrieben oder Einrichtungen fragen, ob es dort interne Möglichkeiten für kritische Äußerungen von Mitarbeitern gibt - ComplianceAbteilungen -, so sagen die meisten selbstverständlich
Ja. Bei genauerer Nachfrage wird jedoch klar, dass es
diese Möglichkeit oft nur auf dem Papier gibt. Häufig
werden diese kritischen Menschen drangsaliert oder sogar entlassen. Dem müssen wir vorbeugen.
Wir Grünen legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf
vor, der die Anliegen aller Beteiligten optimal miteinander verbindet und der sich gut in die bestehende Gesetzeslage im Arbeits- und Beamtenrecht einpasst. Kernstück unseres Gesetzentwurfs ist ein Anzeigerecht.
Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber können sich zuerst an den Arbeitgeber bzw. an den Dienstherrn oder an
eine vertrauliche interne Stelle wenden - das kann der
Betriebsrat oder der Personalrat sein -, wenn diese Arbeitnehmer oder Beamte konkrete Anhaltspunkte für die
Verletzung von rechtlichen Pflichten haben.
Ausnahmsweise können Hinweisgeber sich auch an
eine externe Stelle wenden, zum Beispiel an eine Strafverfolgungs- oder Ordnungsbehörde, wenn keine Abhilfe erfolgt. Das Gleiche gilt, wenn ein internes Abhilfeverlangen unzumutbar ist, weil Straftaten begangen
werden oder weil ein wichtiges Rechtsgut gefährdet ist;
also beispielsweise Leben, Körper, Gesundheit, Persönlichkeitsrecht, Freiheit der Person, Stabilität des Finanzsystems oder Umwelt.
In ganz besonders extremen Fällen sollen Whistleblower auch direkt an die Öffentlichkeit gehen können.
Hier muss jedoch das öffentliche Interesse am Bekanntwerden der Information das betriebliche Interesse an der
Geheimhaltung erheblich überwiegen. Um es zu verdeutlichen: Wenn Menschen durch Gammelfleisch oder
verdorbene Babynahrung gefährdet werden, so ist es eigentlich nicht nur ein Recht, sondern nachgerade eine
Pflicht, darauf hinzuweisen.
({1})
Der Schutz von Menschen hat Vorrang.
Mit diesem fein abgestuften Verfahren können wir einerseits Missstände zum Schutz der Beschäftigten und
der Öffentlichkeit aufdecken, andererseits aber auch die
Interessen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite angemessen berücksichtigen. Nun werden Sie auf der Regierungsseite vielleicht sagen: Das brauchen wir nicht;
das ist unnötig. - Wenn Sie aber genau hinschauen, dann
werden Sie feststellen, dass es Regelungen nur vereinzelt im Beamtenrecht gibt; der Rest sind Gerichtsurteile.
Das bietet keine ausreichende Rechtssicherheit. Dies
zeigt der Fall der Berliner Altenpflegerin Brigitte
Heinisch ganz plastisch: Ihr wurde gekündigt, weil sie
Missstände in einem Pflegeheim veröffentlicht hatte. Sie
musste bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen, bis festgestellt wurde, dass die Kündigung unrechtmäßig war.
({2})
Das war eine juristische Ohrfeige für die deutsche Justiz.
({3})
Wir Grünen wollen, dass sich die rechtliche Situation
bessert, und zwar schnell.
Jetzt wird es pikant. Diese Bundesregierung hat sich
international mit dem Antikorruptionsaktionsplan der
G-20-Staaten vom November 2010 zum Schutz von
Hinweisgebern bekannt und angekündigt, sie werde bis
Ende 2012 Regeln zum Whistleblowerschutz erlassen
und umsetzen.
({4})
Meine Damen und Herren von der Regierungsbank, es
passt einfach nicht zusammen, international den verbalen Vorreiter zu geben und national zu mauern.
({5})
Da müssen Sie sich schon entscheiden, entweder für eine
nationale Regelung zum Schutz von Hinweisgebern oder
für eine Erklärung auf internationaler Ebene, dass Sie
das in Wirklichkeit gar nicht wollen. Wir Grünen machen dieses doppelte Spiel nicht mit. Wir wollen Taten
sehen.
({6})
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch zu unserer eigenen Sicherheit Menschen mit Zivilcourage und
Verantwortungsgefühl, mit dem Mut, Konflikte anzusprechen und auszuhalten. Diesen Menschen müssen wir
staatlichen Schutz und Rückendeckung geben. Zivilcourage ist ein Qualitätsmerkmal einer lebendigen und gelebten Demokratie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Nachtragshaushaltsgesetz 2012 bekannt: abgegebene Stimmen 555. Mit Ja haben gestimmt 300, mit
Nein haben gestimmt 254, Enthaltungen 1. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 555;
davon
ja: 300
nein: 254
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Norbert Barthle
Günter Baumann
({0})
Manfred Behrens ({1})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({7})
Dr. Norbert Lammert
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({10})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({15})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({18})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({22})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({23})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({24})
Michael Link ({25})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({26})
Dr. Martin Neumann
({27})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
({28})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({29})
Nein
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
Manfred Kolbe
Klaus-Peter Willsch
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Lothar Binding ({30})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({31})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({32})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({33})
Hubertus Heil ({34})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({35})
Frank Hofmann ({36})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({37})
Fritz Rudolf Körper
Christine Lambrecht
Christian Lange ({38})
Dr. Karl Lauterbach
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({39})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Michael Roth ({40})
({41})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({42})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({43})
Werner Schieder ({44})
Ulla Schmidt ({45})
Carsten Schneider ({46})
Swen Schulz ({47})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({48})
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Diana Golze
Heike Hänsel
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({49})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({50})
Volker Beck ({51})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Undine Kurth ({52})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({53})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({54})
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Enthalten
CDU/CSU
Wolfgang Bosbach
Als nächster Redner hat nun der Kollege Ulrich
Lange von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({55})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Obergerichtliche Entscheidungen sowohl des Bundesverfassungsgerichts als auch europäischer Gerichte, die
besonders im Fokus der Öffentlichkeit stehen, führen bei
uns hier in diesem Hause nahezu immer zu reflexartigen
gesetzgeberischen Initiativen. Genau so kann man auch
diesen Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eines Whistleblower-Schutzgesetzes werten.
Vor knapp einem Jahr sorgte eine Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für mediale Aufmerksamkeit, unter dem Motto: Kündigung
nach Whistleblowing verstößt gegen Grundrecht auf
Meinungsfreiheit. Sofort folgte die übliche politische
Reflexhandlung auf eine Einzelfallentscheidung: Sie
wird quasi zu einer Gesetzeslücke hochstilisiert und
politisch instrumentalisiert.
Worum ging es in diesem Fall konkret? Die Kollegin
hat es schon kurz zusammengefasst: Die Klägerin, in einem Altenheim beschäftigt, hat vermeintliche Missstände festgestellt
({0})
und anwaltlich in einem internen Beschwerdeschreiben
darauf hingewiesen. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung wurde eingeschaltet. Der Arbeitgeber
hat diese Beschwerden zurückgewiesen. Es kam dann
erst - ich sage jetzt einmal: warum auch immer - zu einer krankheitsbedingten Kündigung und später wegen
eines Flugblatts zu einer fristlosen Kündigung. So stellt
sich der Sachverhalt differenziert und im Detail dar.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
stellte in seiner Entscheidung fest, dass er keine Zweifel
an den guten Absichten der Klägerin habe, weshalb ihre
Strafanzeige in den Geltungsbereich des Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention falle, also von
der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Die Vorinstanzen, insbesondere das LAG Berlin, subsummierten - ich betone:
subsummierten - diesen Sachverhalt anders. Betrachtet
man die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
differenzierter, so zeigt sich nämlich eines: Die rechtlichen Kontrollmaßstäbe, die sowohl das LAG als auch
das Bundesverfassungsgericht in dem Fall unter die
Lupe nahmen, waren die gleichen. Die Kontrollmaßstäbe hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte also bestätigt. Er hat damit zum einen festgestellt,
dass kein absoluter Schutz von Whistleblowing jeder Art
besteht.
({1})
Zum anderen hat er festgestellt, dass in seiner Abwägung das öffentliche Interesse und die gute Absicht der
Arbeitnehmerin und der nicht vorhandene Vorsatz einer
falschen Tatsachenbehauptung höher oder anders zu
werten sind, als dies das LAG Berlin gemacht hat.
Wir sprechen lediglich über eine Subsumtion, nicht
über eine Gesetzeslücke.
({2})
Wir sprechen darüber, wie sich die verfassungsrechtlichen Vorschriften, die wir haben - Art. 12 GG, Gewerbebetrieb und Unternehmerfreiheit, Art. 5 GG, Meinungsfreiheit -, gegenüberstehen. Allen beteiligten
Gerichten war in ihrer Abwägung oder Subsumtion immer klar, dass es ein Zusammenspiel zwischen Anzeigerecht auf der einen Seite und Rücksichtnahmepflicht auf
der anderen Seite gibt. Wir bewegen uns also, wie ich
eben aufgezeigt habe, im Rahmen einer Grundrechtskonkordanz. Es stellt sich die Frage: Rechtfertigt dieser
Einzelfall tatsächlich gesetzgeberisches Vorgehen? Wir
sagen deutlich: Nein, das glauben wir nicht,
({3})
weil wir ausreichende Normen in unserem Arbeitsrecht
haben. Ich verweise zum einen auf § 612 a BGB - Sie
wollen einen § 612 b anfügen, in dem Sie die Kontrollmaßstäbe, die die Gerichte bei uns angewendet haben, in
einen normativen Text fassen, zumindest zum Teil -,
({4})
und wir haben zum anderen § 17 Abs. 2 Arbeitsschutzgesetz. Auch hier sehen wir, dass es bereits die Möglichkeit der außerbetrieblichen Anzeige und Beschwerde
gibt. Nichtsdestotrotz haben wir zunächst den Vorrang
des innerbetrieblichen Abhilfeversuchs.
Es bedarf auch keiner gesetzlichen Neuregelung, weil
nur entscheidend ist, dass die Arbeitnehmerin, der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Anzeige von der Richtigkeit der eigenen Tatsachenbehauptung ausgehen durfte.
Ähnliche Regeln müssen - Sie sprechen die Fälle an,
über die verstärkt in den Medien berichtet wurde - auch
für die Fälle gelten, die in den Medien besonders groß
aufgezogen werden. Hier gilt ein strengerer Maßstab;
denn ein mediales, öffentliches Interesse des Arbeitnehmers wird wohl schwer anzunehmen sein.
Anstatt neue gesetzliche Regelungen zu suchen, halten wir interne Hinweisgebersysteme, die in den Betrieben selber geschaffen werden sollen, für sinnvoller;
denn eines hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte klar festgestellt: Die interne Klärung hat
grundsätzlich Vorrang vor der externen. Dies dient nicht
nur der zeitnahen Aufdeckung,
({5})
sondern es dient auch dazu, Rufschädigungen und Strafanzeigen vorzubeugen.
Ein positives Beispiel hatten wir in der Anhörung.
Die Firma Siemens hat ein eigenes, sehr ausgefeiltes
Regelwerk geschaffen. Frau Kollegin, Sie haben das
Thema Korruption angesprochen. In diesem Zusammenhang wird die internationale Komplexität der Angelegenheit besonders deutlich. Der Fall der Altenpflegerin
im Seniorenheim hat nichts mit dem Thema Korruption
zu tun. Wir müssen also genau differenzieren. Korruptionsstraftaten, gerade in internationalen Konzernen, lassen sich mit nationaler Gesetzgebung - ich glaube, darüber sollten wir uns in diesem Hause einig sein sicherlich nicht lösen.
({6})
Meine Fraktion - das gilt auch für mich persönlich hat weiterhin großes Vertrauen in unsere Arbeitsgerichte
und in die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung. Fehlerhafte oder unterschiedliche Abwägungsprozesse oder
Entscheidungen auf der Subsumtionsebene allein rechtfertigen ein neues Gesetz sicherlich nicht. Sie rechtfertigen auch nicht den Reflex, in diesem Hause etwas Neues
zu fordern.
({7})
Es geht um eine Einzelfallentscheidung.
({8})
Die Stärke unseres Rechtssystems besteht aber darin,
Lebenssachverhalte, von denen wir wirklich ausreichend
haben, unter bestehende Normen zu subsumieren, und
zwar mit einer gefestigten Rechtsprechung. Dies kann
man im Rahmen des deutschen Arbeitsrechts bieten.
Deswegen sind wir sicher, dass wir Hinweisgebern den
Schutz bieten können, den sie dringend benötigen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, man muss
sehr weit von der Realität entfernt sein, wenn man meint,
wir würden hier über Einzelfälle reden wollen. Es ist
doch ganz klar - das hat die Anhörung sehr deutlich bewiesen -: Wir reden hier über ein Phänomen. Es gibt
viele Entlassungen bzw. Jobverluste, weil dieser Regelungsbedarf von der Bundesregierung konsequent ignoriert wird.
Nicht ohne Grund hat sich die Bundesregierung im
Rahmen des G-20-Treffens in Seoul vor zwei Jahren verpflichtet - darauf hat meine Kollegin schon hingewiesen -, bis zum Ende dieses Jahres eine Regelung vorzulegen. Ich weiß gar nicht, warum Sie meinen, wir hätten
hier überhaupt keinen Regelungsbedarf. Schließlich hat
die Bundeskanzlerin entsprechende Zusagen formuliert.
({0})
Darüber müssen Sie in Ihren Reihen vielleicht noch einmal diskutieren und erläutern, wie man damit umgehen
möchte, dass man international eine Verpflichtung eingegangen ist, die man auf nationaler Ebene aber nicht sehen will.
Es ist gut, dass wir heute erneut über dieses Thema reden; denn viele Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben warten darauf, dass es Rechtssicherheit gibt und die
Unsicherheit, die im Moment diesbezüglich auf dem Arbeitsmarkt herrscht, beseitigt wird. Wir müssen schnellstmöglich dafür sorgen, dass man, wenn man Missstände
im eigenen Betrieb offenlegt, nicht den eigenen Arbeitsplatz gefährdet.
({1})
In der Anhörung, die wir dazu im März dieses Jahres
durchgeführt haben, hat kein Sachverständiger das ernsthaft bestritten, ganz im Gegenteil. Als wir im September
des letzten Jahres über den Gesetzentwurf der SPD zu
diesem Thema gesprochen haben, haben wir uns alle natürlich auch auf den Fall der Altenpflegerin bezogen.
Aber es gibt auch andere bedeutende Fälle.
Ich will dazu einmal Folgendes sagen: Herr Seehofer
hat im Jahr 2007 den Fahrer des Lkw, der den größten
Gammelfleischskandal in der Geschichte Deutschlands
aufgedeckt hat, mit einer Medaille des Landwirtschaftsministeriums geehrt und als Konsequenz einen Gesetzentwurf zur Regelung des Informantenschutzes initiiert.
Diese Initiative kam bei den eigenen Leuten aber nicht
durch. Im Gegenteil, es wurde sogar gesagt, dass dadurch dem Denunziantentum Vorschub geleistet würde.
Angesichts dessen muss ich sagen: Das ist beschämend.
({2})
- Das ist nicht heute von Ihnen gesagt worden, aber damals ist das gesagt worden. Sie haben das nicht gesagt.
Das ist sogar im September noch gesagt worden. Ich
finde das wirklich skandalös.
({3})
Ihr Innenminister Friedrich hat im Oktober des letzten
Jahres den XY-Preis des ZDF an genau diesen Lkw-Fahrer verliehen, der nach Ihrem Verständnis ein Denunziant ist. Der Innenminister hat ihn als Mensch, der ganz
besonders couragiert handelt, ausgezeichnet. Er sagt:
Genau solche Leute braucht die Zivilbevölkerung.
({4})
Aber dieser Fahrer hat seinen Job verloren. Das zeigt
doch ganz deutlich, dass hier Regelungsbedarf besteht
und dass es eben nicht darum geht, Betriebsgeheimnisse
nach außen zu posaunen, sondern darum, vor Gesundheitsschäden, vor Gefahren für Leib und Leben und auch
vor Gefahren für die Umwelt zu schützen. Wir brauchen
diese Hinweisgeber. Wir sind doch froh um jeden, der
mit offenen Augen durch den Betrieb geht und bemerkt,
dass es eine Situation gibt, die man nach innen gar nicht
kommunizieren kann, weil das viel zu gefährlich ist.
Deshalb brauchen wir Stellen, an die man sich wenden
kann und bei denen man Gehör findet. Dies dient dem
Schutz der Allgemeinheit, aber auch dem Schutz des eigenen Arbeitsplatzes.
({5})
Da sind wir bisher nicht richtig aufgestellt.
Unser Vorschlag unterscheidet sich von dem Vorschlag der Grünen in einigen Punkten ganz erheblich.
Wir halten es nicht für ausreichend, ausschließlich im
BGB Regelungen vorzunehmen, die erst einmal darauf
fußen, dass man nach innen in den Betrieb kommunizieren muss, bevor man sich an externe Stellen, an Aufsichtsbehörden, an die Polizei, die Staatsanwaltschaft
oder wen auch immer wenden darf. Ich glaube, dass
nicht jeder zum Zeitpunkt des Erkennens eines Missstandes schon abschätzen kann, wie groß dessen Tragweite
ist. Deswegen muss es möglich sein - in diesem Punkt
unterscheiden wir uns sehr -, sich auch bei einem Verdacht an externe Stellen zu wenden, ohne eine betriebliche Erstuntersuchung vorzuschalten.
Wir unterscheiden uns auch sehr deutlich in der Beurteilung der Frage, ob es nicht nur Kündigungsschutz,
sondern auch Leistungsverweigerungsrechte und Schadensersatzansprüche geben sollte. All diese Fragen müssen geregelt werden, gerade weil wir nicht in jedem Fall
sicherstellen können, dass Beschäftigte nicht aufgrund
anderer Umstände später im Betrieb Schwierigkeiten bekommen. Deshalb muss der Schutz sehr weitreichend
sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich das noch
sagen darf: Es ist ein bisschen zynisch, dass vonseiten
der Regierungskoalition gesagt wird, dass hier überhaupt
kein Handlungsbedarf besteht, dass wir in Deutschland
in dieser Hinsicht eigentlich ganz prima aufgestellt sind
und dass es bestimmt gute Gründe gibt, wenn Hinweisgeber später ihren Job verlieren. Denn das Bundeskartellamt - immerhin eine Bundesbehörde; das kann man
nicht ganz ignorieren - hat zum 1. Juni dieses Jahres
eine Internetseite für anonyme Hinweisgeber freigeschaltet. Ich finde das interessant. Sie sehen ja keinen
Handlungsbedarf, wieso hat das Bundeskartellamt dann
vor zwei Wochen diese Seite freigeschaltet? Weil man
der Meinung war, dass es hilfreich sein kann, dass das
Bundeskartellamt anonyme Hinweise bekommt.
Vielleicht ist das für Sie als Regierungskoalition eine
Gelegenheit, noch einmal miteinander ins Gericht zu gehen und zu überlegen, ob es nicht doch sinnvoll wäre,
entsprechende Regelungen vorzunehmen. Verdammt
viele Leute in den Betrieben warten darauf. Es ist unsere
Aufgabe, sie vernünftig zu schützen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Golombeck von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Damen und Herren! Anlass unserer heutigen
Diskussion ist ein Gesetzentwurf der Grünen zum
Schutz von Whistleblowern. Dieser Gesetzentwurf soll
Transparenz fördern und Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber vor Diskriminierung schützen. Es ist nicht das
erste Mal, dass wir zu diesem Thema debattieren. Nachdem bereits im September letzten Jahres ein Antrag der
Fraktion Die Linke zum Thema Whistleblowing auf der
Tagesordnung stand, wagte auch die SPD mit einem Gesetzentwurf zum Schutz von Hinweisgebern einen neuen
Vorstoß. Schon damals wurden die gesellschaftliche Anerkennung des Whistleblowings und damit verbunden
ein Schutz von Whistleblowern, also Hinweisgeberinnen
und Hinweisgebern, gefordert. Es ist auch ein großes
Anliegen dieser Regierungskoalition, den sogenannten
Whistleblowern ausreichenden Schutz und eine besondere Wertschätzung einzuräumen.
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass es in Deutschland zunehmend gelungen ist, die große Bedeutung von
Whistleblowern in der Öffentlichkeit und in Unternehmen zu verankern - ein Thema, über das in regelmäßigen Abständen neu diskutiert wird.
({0})
Dabei geht es keineswegs um Lappalien. Das unterstreicht auch das große mediale Echo, wenn Korruptions- oder Gammelfleischskandale aufgedeckt werden.
Positiv gesehen steht der Begriff Whistleblowing für
Verantwortungsbewusstsein und Zivilcourage. Genau
hier möchte ich ansetzen: Das Ziel verantwortungsvoller
Whistleblower besteht darin, Transparenz und Publizität
herzustellen, um bestehende Risiken oder Missstände zu
problematisieren und sie damit letztlich zu beheben. Die
Zivilcourage dieser Menschen steht im Vordergrund; sie
muss ganz klar gewürdigt werden. Als Gegenzug zu ihrem Streben nach Recht und Gerechtigkeit müssen
Whistleblower teilweise soziale Isolation, Anfeindungen
und arbeitsrechtliche Maßnahmen bis hin zur fristlosen
Kündigung hinnehmen. Dies kann zu einer erheblichen
Verunsicherung potenzieller Hinweisgeber führen. Dagegen muss natürlich etwas getan werden.
Wegweisend für eine positive Entwicklung des
Whistleblowings ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Juli 2011, das
wir sehr begrüßen. Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat hier eine Abwägung zwischen den
Interessen des Arbeitgebers und der Notwendigkeit, den
Ruf des Arbeitgebers zu schützen, dem Recht des Arbeitnehmers auf Freiheit der Meinungsäußerung und
dem öffentlichen Interesse an der Information vorgenommen. Ebendieser Fall brachte in Deutschland eine
gewisse Wende. Die Kritik an einer fehlenden gesetzlichen Regelung zum Whistleblowing setzt genau hier an
und verdeutlicht, dass unsere Gesetzeslage zum Schutz
von Whistleblowern ausreichend ist.
({1})
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
in seiner Entscheidung die bisherige Rechtsprechung
und die geltende Rechtslage in Deutschland grundsätzlich gebilligt. Er hat ebenso den Grundsatz des Vorrangs
eines innerbetrieblichen Klärungsversuchs bekräftigt.
({2})
Gerade aus Respekt vor den Mitarbeitern und aus Gründen der Achtung der Mitarbeiter untereinander sollte
grundsätzlich eine innerbetriebliche Klärung gesucht
werden. Nur bei Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne oder die Allgemeinheit kann auf eine innerbetriebliche Klärung verzichtet werden. So soll es auch bleiben.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen will diesen Grundsatz ausweiten. So sollen zum Beispiel Strafanzeigen auch ohne vorherige interne Meldung möglich
sein, wenn der Arbeitnehmer aufgrund konkreter Anhaltspunkte gutgläubig vom Vorliegen einer Straftat ausgeht, wobei er seine Gutgläubigkeit insoweit nicht mehr
selbst beweisen muss. Eine Beweislastverteilung zugunsten des Arbeitnehmers zielt hier zwar auf einen
möglichen Whistleblower-Schutz ab.
({3})
Fraglich ist jedoch, ob damit auch die gegenseitigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber geschützt
bleiben. In ihrem Gesetzentwurf sprechen die Grünen
außerdem von dringendem Handlungsbedarf nach dem
Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom letzten Sommer. Diesen Handlungsbedarf sehen wir gerade nicht.
Es gibt bereits eine Vielzahl von Vorschriften, die den
Arbeitnehmer zur Anzeige der Verletzung gesetzlicher
Pflichten durch den Arbeitgeber ermächtigen. Neben bereits existierenden Anzeigerechten und verfassungsrechtlichen Vorschriften - sie wurden schon erwähnt - gilt
§ 612 a des Bürgerlichen Gesetzbuchs als allgemeiner
Schutz für Hinweisgeber. Von der Rechtsprechung werden die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
dabei gleichermaßen berücksichtigt. Sie schützt einerseits die Persönlichkeitsrechte und sichert andererseits
die innerbetriebliche vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch und in anderen
Gesetzen, wie hier gefordert, halten wir daher nicht für erforderlich.
({4})
Wir begrüßen die zunehmend offene Diskussionskultur im Hinblick auf Missstände in Betrieben, die dem
Schutz von Whistleblowern dient. Mittlerweile können
viele Unternehmen Möglichkeiten zur Meldung innerbetrieblicher Missstände vorweisen. Ebenso hat sich eine
Vielzahl von Unternehmen für eine betriebliche Regelung zum Whistleblowing entschieden. Man mag diese
Entwicklung begrüßen, immer wieder Lücken finden
oder die Gesetzeslage kritisieren: Entscheidend ist, das
Whistleblowing in Öffentlichkeit und Unternehmen weiter zu thematisieren und es nicht ins Abseits geraten zu
lassen.
Wichtiger als eine gesetzliche Regelung dürfte es
letztlich sein, dafür zu sorgen, dass Whistleblowing als
Teil einer konstruktiven Unternehmenskultur gelebt
wird. Das können Gesetze ohnehin nur bedingt leisten.
Vielen Dank.
({5})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Karin Binder das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! 2004 deckte eine mutige
Frau unwürdige Zustände in einem Pflegeheim auf.
Hilfsbedürftige Menschen wurden wochenlang nicht
geduscht, waren mangelernährt und ohne Aufsicht. Daraufhin wurde der Altenpflegerin gekündigt - fristlos.
Ende Mai 2012, also acht Jahre später, erstritt sich
diese mutige Frau eine Abfindung - nach einem jahrelangen, kräftezehrenden Prozess und letztendlich nach
dem Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie erstritt sich eine Entschädigung für den
Verlust des Arbeitsplatzes, aber ganz bestimmt keine
Wiedergutmachung für die Anfeindungen und dafür, was
diese Frau noch alles durchmachen musste. Aber sie
erreichte doch noch einiges mehr, nämlich die Feststellung, dass Whistleblowing, das Aufdecken von Missständen in Unternehmen und Behörden, nach Auffassung der EU-Richter ein Grundrecht ist.
Ob die Aufdeckung eines Gammelfleischskandals,
die Veröffentlichung der ersten BSE-Fälle oder die
Bekanntmachung des Versorgungsnotstandes in Krankenhäusern: Trotz der unbestrittenen Verdienste für die
Gesellschaft verloren viele der Hinweisgeberinnen und
Hinweisgeber ihren Arbeitsplatz. Für die Linke ist das
Eintreten dieser mutigen Menschen für die Gesellschaft
Zivilcourage. Die Christliche Union bezeichnet diese
couragierten Leute dagegen als Denunzianten. Da kann
ich nur sagen: Schämt euch!
Wir sagen ausdrücklich: Whistleblowerinnen und
Whistleblower müssen durch das Gesetz geschützt werden. Mit unserem Antrag „Die Bedeutung von Whistleblowing in der Gesellschaft anerkennen - Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützen“ haben wir das schon
im vergangenen Jahr angestoßen. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Grünen unsere Initiative nun aufgegriffen haben.
Die deutsche Bundesregierung isoliert sich in dieser
Frage allerdings, und zwar europaweit. International besteht längst Einigkeit: Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber brauchen Schutz. Die G-20-Staaten beschlossen
Ende 2011 auf ihrem Gipfel in Cannes, dass alle Mitglieder bis Ende 2012 gesetzliche Vorschriften zum Schutz
von Whistleblowern einzuführen haben. Die Linke fragt:
Wo bleibt der Gesetzentwurf der schwarz-gelben Bundesregierung?
Bei dem Gesetzentwurf muss es aber um einiges mehr
als um den Schutz vor Herabsetzung, willkürlicher Verfolgung und Diffamierung gehen. Unser Ziel muss es
sein, Anerkennung und eine positive Einstellung unserer
Gesellschaft gegenüber Whistleblowerinnen und Whistleblowern aktiv zu befördern. Wir brauchen eine neue Kultur: nicht weggucken und wegducken, sondern hinsehen
und sich einmischen in unserer Gesellschaft, in der Arbeitswelt, in Unternehmen und in Behörden.
Leider machen die Grünen und auch die SPD hier nur
einen halben Schritt. Statt einen eigenständigen Gesetzentwurf vorzulegen, sollen im Wesentlichen das Bürgerliche Gesetzbuch und die Beamtengesetze angepasst
werden.
({0})
Damit bleibt aber die große und stetig wachsende
Gruppe der untypisch Beschäftigten außen vor: alle sogenannten Selbstständigen - die Scheinselbstständigen
und Zwangsselbstständigen, die zum Beispiel als Niedriglöhner mit Werkverträgen bei Paketdienstleistern beschäftigt werden -, Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
und Praktikantinnen und Praktikanten. All diese werden
von den Regelungen, die jetzt vorgeschlagen sind, nicht
erfasst. Aber diese Gruppe wächst.
Wir brauchen darüber hinaus für Whistleblowerinnen
und Whistleblower eine unabhängige und vertrauenswürdige Beratungsstelle. Das ist ein wesentliches Element, mit dem wir die Haltung unserer Gesellschaft verändern und Zivilcourage fördern können. Mit den
Regelungen im Gesetzentwurf der Grünen wird es Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern jedoch schwergemacht, Zivilcourage zu entwickeln, wenn nämlich einfache Beschäftigte erst einmal die Pflicht haben, einen
umfassenden Nachweis zu erbringen und den internen
Beschwerdeweg zu gehen, bevor sie Missstände öffentlich machen dürfen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Fall des Gammelfleischskandals hätte ein betriebsinterner Beschwerdeweg nur sichergestellt, dass die Ekelware, pikant gewürzt, dann doch verzehrt worden wäre. Eine solche
Pflicht widerspricht auch dem Gedanken des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Urteil zum
eingangs erwähnten Fall der Altenpflegerin. Meinungsfreiheit bedeutet auch Wahlfreiheit. Als Linke wollen
wir, dass Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber Mittel
und Wege der Offenlegung von Missständen frei wählen
können. Sie müssen das Recht haben, sich auch an die
Ombudsstelle oder an die Medien wenden zu können,
wenn Eile geboten ist.
Die zehnjährige Erfahrung Großbritanniens mit einem
Whistleblower-Schutzgesetz hat gezeigt: Die große
Mehrheit der Menschen, die auf Missstände hinweisen,
zeigen diese zuallererst intern an, und das, obwohl es in
Großbritannien sehr einfach wäre, öffentliche Stellen
oder die Presse einzubeziehen. Die allermeisten Whistleblower handeln im Interesse ihres Unternehmens, der
Behörden und der Gesellschaft.
Das tat auch die Altenpflegerin Brigitte Heinisch. Ihr
möchte ich für ihren Mut und ihren ganz persönlichen
wichtigen Beitrag für die Allgemeinheit am Schluss meiner Rede ausdrücklich danken.
Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort die
Kollegin Gitta Connemann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Brigitte
Heinisch, dieser Name ist heute schon häufiger gefallen,
und zwar zu Recht; denn es war ihre Beschwerde, die zu
der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte geführt hat. Seit dieser Entscheidung ist
das Thema Hinweisgeber - oder neudeutsch Whistleblower - auch in Deutschland in der Diskussion.
Die Opposition, heute übrigens Bündnis 90/Die Grünen, fordert ein Schutzgesetz für Hinweisgeber. Weil wir
uns sehr ernsthaft mit den Anträgen der Opposition auseinandersetzen, gerade bei einem so virulenten Thema,
fragen wir uns: Brauchen wir ein solches Schutzgesetz?
Wir sind der Auffassung: Nein, wir brauchen es nicht.
({0})
Ohne Frage: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die durch ihre Hinweise zur Aufklärung von Straftaten
beitragen, verdienen nicht nur unseren Respekt, sondern
auch unseren Schutz; denn was wären wir ohne ihre
Zivilcourage!
({1})
Gerade die Lebensmittelskandale und die Datenschutzaffäre der jüngsten Zeit haben gezeigt: Ohne die
Hinweise von mutigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hätten die Rechtsverstöße in den Unternehmen nicht
so oder nicht so schnell aufgeklärt werden können. Deshalb auch ohne Frage: Wer sich für andere einsetzt, muss
vor Nachteilen geschützt werden.
({2})
Aber jetzt die Frage: Gibt es diesen Schutz in diesem
Land nicht? Da kommen wir zu einer anderen Bewertung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Wir glauben, es gibt genau diesen Schutz in unserem Land. Eine Vielzahl von Gesetzen enthalten
Sonderregelungen. Da sind das Arbeitsschutzgesetz, das
Betriebsverfassungsgesetz, das Bundes-Immissionsschutzgesetz und, und, und zu nennen.
Ich weiß, was Sie jetzt sagen werden: Wer soll bzw.
kann diese ganzen Gesetze kennen? Diesen Einwand
lasse ich durchaus gelten; denn auch ich sehe, dass nicht
jeder Arbeitnehmer Jurist ist, der mit einem Gesetzbuch
unter jedem Arm zur Arbeit geht. Das ist übrigens auch
gut so; das sage selbst ich als Juristin.
Das spricht für eine knappe gesetzliche Regelung an
zentraler Stelle. Ja, absolut richtig. Aber, meine Damen
und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, auch diese gibt
es schon, nämlich dort, wo sich die grundsätzlichen
Regelungen für das Arbeitsverhältnis finden, im Bürgerlichen Gesetzbuch, genauer gesagt: in § 612 a BGB. Der
Kollege Lange hat bereits dargestellt, was diese Vorschrift mit sich bringt. Das hat er umfassend und juristisch perfekt getan.
({3})
Die Vorschrift besagt, noch einmal gesagt: Kein Arbeitnehmer darf benachteiligt werden, wenn er seine
Rechte ausübt. Dazu gehört auch das Recht auf freie
Meinungsäußerung.
Schon heute ist ein sich daraus ergebendes Anzeigerecht von der Rechtsprechung anerkannt worden. Die
Arbeitsgerichte haben wiederholt über viele Jahre hinweg entschieden: Arbeitnehmer in Deutschland dürfen
einen Arbeitgeber anzeigen, der das Recht bricht. Ihnen
darf nicht gekündigt werden. Allerdings sind vor einer
solchen Anzeige Spielregeln zu beachten. Denn nur so
kann ein Unterschied zwischen tapferem Hinweisgeben
auf der einen Seite, aber auch der Gefahr des Denunziantentums auf der anderen Seite gemacht werden.
Dafür hat die Rechtsprechung in vielen Jahren folgende Kriterien entwickelt: Erstens. Der Hinweisgeber
muss sich vor einer Anzeige ernsthaft um eine innerbetriebliche Klärung bemüht haben. Er darf sich eben nicht
sofort an die Presse oder an eine öffentliche Stelle wenden. Denn auch eine falsche Anzeige kann einen großen
Schaden nicht nur für einen Betrieb, sondern auch für
einen Menschen hervorrufen. Es gibt Fälle von gescheiterten Existenzen, die durch falsche Anzeigen in Probleme gekommen sind.
Zweitens. Die Anzeige darf nicht leichtsinnig erfolgen.
Drittens. Die Anzeige darf auch nicht mit dem Ziel
erstattet werden, einem Kollegen oder einer Kollegin zu
schaden. Denn ehrlich gesagt - das müssen wir auch
erkennen - handelt nicht jeder immer aus altruistischen
Motiven. Eine Anzeige betrifft häufig auch Kollegen,
die aus Sicht des Arbeitgebers zunächst einmal genauso
schutzwürdig sind wie der Hinweisgeber. Das ist übrigens ein Aspekt, der mir nicht nur in der heutigen DeGitta Connemann
batte, sondern auch in Ihrem Gesetzentwurf zu kurz
kommt. Sie haben eine völlig einseitige Sicht: immer nur
auf den Arbeitnehmer, der den Hinweis gibt, aber niemals auf die Arbeitnehmer, die von diesem Hinweis betroffen sind. Das ist eine absolut verkürzte Sichtweise.
({4})
Ich weiß, welches Gegenargument jetzt kommen
wird. Sie werden sagen: Diese Rechtsprechung führt zu
Unsicherheiten. - Ja, auch das stimmt. Aber auch ein
Gesetz, also auch Ihr Gesetzentwurf, würde nichts daran
ändern. Denn alle Entwürfe, auch Ihrer, arbeiten mit
offenen Rechtsbegriffen, zum Beispiel mit dem Rechtsbegriff „unzumutbar“.
Ich frage Sie: Was ist unzumutbar? Was für mich
nicht unzumutbar ist, ist es vielleicht für Sie, liebe Frau
Kollegin Hönlinger, oder umgekehrt. Wer muss das im
Streitfall entscheiden? Das sind doch wieder die Gerichte. Damit wären wir dann wieder bei der Rechtsprechung. Vor diesem Hintergrund sagen wir: Dann braucht
es auch nicht ein solches Gesetz.
({5})
Im Übrigen hat sich das geschriebene Recht in
Deutschland bewährt. Denn es ermöglicht eine unterscheidende Betrachtung sich unterscheidender Sachverhalte. So kann man Interessen des Betriebes, des Hinweisgebers und der anderen Arbeitnehmer abwägen.
Zu diesem Ergebnis ist übrigens auch der Europäische
Gerichtshof gekommen. Aber auch das hat der Kollege
Lange so brillant ausgeführt, dass ich das in keiner
Weise übertreffen könnte.
({6})
Aber gerade diese Entscheidung, die Sie zitieren, um
ein Schutzgesetz zu fordern, kümmert Sie dann in der
Begründung überhaupt nicht. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat gesagt: Dass die Beweislast
in Deutschland bei dem Hinweisgeber liegt, ist nicht zu
beanstanden. Genau das wollen Sie ändern. Zukünftig
soll nach Ihrem Entwurf derjenige, der beschuldigt wird,
den Gegenbeweis antreten. Das heißt, der alte Grundsatz
der Unschuldsvermutung, in dubio pro reo, wird mit
einem Federstrich getilgt.
Damit stellen Sie nicht nur Unternehmen unter einen
Generalverdacht,
({7})
sondern Sie schaden damit in besonderer Weise dem
Arbeitnehmer, der gegebenenfalls Gegenstand des Hinweises ist. Das hat aus meiner Sicht auch nichts mit
betrieblicher Wirklichkeit zu tun. Inzwischen sind in vielen Betrieben innerbetriebliche Regelungen getroffen
worden.
Auch das hat die Anhörung sehr eindrucksvoll gezeigt. Auf diese Anhörung sind Sie ja eingegangen, Frau
Kollegin Tack. Dort haben auch Unternehmen die Regelungen dargestellt, die sie getroffen haben - übrigens in
Form von Betriebsvereinbarungen.
Solche Betriebsvereinbarungen soll es nach Ihrem
Willen aber gar nicht mehr geben. Das ist etwas, was
mich vollkommen empört.
({8})
- Doch. Dann sehen Sie sich den Gesetzentwurf an, liebe
Frau Kollegin Tack. Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen, dass dort der Satz steht, dass keine Betriebsvereinbarungen mit Betriebsräten zulasten der Hinweisgeber getroffen werden können.
Das ist für mich wirklich ein Armutszeugnis für Betriebsratsmitglieder.
({9})
Offensichtlich halten Sie die Mitglieder von Betriebsräten nicht für geeignet, passende betriebliche Regelungen
zu finden.
Da sage ich Ihnen ganz deutlich: Das ist mit uns nicht
zu machen, meine Damen und Herren von den Grünen.
Wenn ich wählen sollte, wo der gesunde Menschenverstand beheimatet ist, auf den grünen Fraktionsfluren
oder im Betriebsratsbüro, würde ich mich immer für die
Betriebsratsbüros in Deutschland entscheiden.
({10})
Ich persönlich glaube, dass der gesunde Menschenverstand dort beheimatet ist und dass unsere Betriebsräte
sehr viel besser wissen, was für die Kolleginnen und
Kollegen notwendig und angemessen ist.
Sie wissen zu unterscheiden. Das ist auch erforderlich; denn es geht - ich wiederhole das - nicht nur um
den Hinweisgeber selbst, sondern auch um die anderen
Arbeitnehmer. Sie verdienen ebenfalls Schutz.
Deshalb kommen wir zu dem Ergebnis, dass unser
Rechtssystem in ausgewogener Art und Weise genau
diesen Schutz für alle Beteiligten bietet.
({11})
Wir brauchen also keine neuen Regelungen. Schon
Montesquieu hat gesagt: „Wenn es nicht notwendig ist,
ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ So ist es. Deshalb werden wir Ihren
Gesetzentwurf ablehnen.
({12})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun das Wort die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Connemann, wissen Sie, was mich stutzig
macht? Dass Sie den gesunden Menschenverstand auf
den Fluren Ihrer Fraktion erst gar nicht gesucht haben.
({0})
Meine Damen und Herren, wir reden heute über Menschen, die gravierende Missstände entdecken und sich
nicht davor scheuen, sie aufzudecken und öffentlich zu
machen. „Wer auspackt, kann einpacken“, titelte eine
Zeitung.
Ja, das ist unsere Sorge; denn das geltende Recht
reicht nicht aus. Deshalb haben alle drei Oppositionsfraktionen Anträge oder Gesetzentwürfe vorgelegt. Im
Grunde ist es beschämend, dass weder die Bundesregierung noch die sie tragenden Fraktionen in dieser Richtung etwas getan haben.
({1})
Herr Lange, der ob seiner rechtlichen Exkurse so gelobt wurde, macht aus dem Einzelfall die Argumentation, deshalb müsse der Gesetzgeber nicht tätig werden.
Ja, so kann ich vorgehen. Ich kann jedes Problem zu einem Einzelfall erklären und sagen: Prima, wir müssen
als Gesetzgeber gar nicht handeln; hilfsweise haben wir
ja unsere Rechtsprechung.
Ich sehe das anders - und mit mir meine Fraktion.
Deshalb freuen wir uns über den Gesetzentwurf der Grünen. Meine Kollegin Tack hat schon erklärt, dass wir mit
ihnen nicht ganz einer Meinung sind. Aber wir stimmen
deutlich darin überein, dass Handlungsbedarf besteht;
denn wir möchten, dass wir in Deutschland zu einer Kultur kommen, in der jemand, der einen Missstand in seinem Betrieb erkennt, nicht erst überlegen muss: Würde
es mir schaden, wenn ich ihn öffentlich mache? - Darum
geht es. Wir wollen, dass diese Personen, die auch im Interesse der Allgemeinheit handeln, sicher sein können,
dass sie persönlich keinen Schaden davontragen. Dafür
müssen wir unsere Gesetzeslage ändern.
({2})
Ich bin mir sicher, dass das notwendig ist - nicht nur
wegen des Falls in der Altenpflege und auch nicht nur
wegen des Gammelfleischskandals, sondern in vielen
Fällen. Wir dürfen die Zivilcourage von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht nur sonntags beschwören
und nicht nur Orden verleihen, sondern müssen eine
feste Grundlage dafür schaffen, dass jemand, der einen
Missstand entdeckt, auch den Mut haben darf, diesen anzuzeigen.
({3})
Auch wir als SPD haben dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir werden ihn diskutieren und sehen, ob es
möglich sein wird, entsprechende rechtliche Regelungen
zu schaffen.
Worum geht es uns dabei insbesondere? Auch wir,
Frau Connemann, erwarten nicht, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer einen 20 Kilogramm
schweren Rucksack bei sich haben, in dem sie nicht nur
unsere Gesetze, sondern möglicherweise auch noch Gerichtsurteile mit sich herumtragen, um im entscheidenden Moment in eine Lesephase einzutreten und festzustellen:
({4})
Nein, ich kann mir nicht sicher sein, dass mir kein Nachteil erwächst. Ich lasse es lieber. - Genau das wollen wir
nicht. Statt der Rucksäcke und Beschwernisse wollen
wir ein ordentliches Gesetz. Und das muss dieses Haus
vorlegen.
({5})
Ich bin im Übrigen enttäuscht, weil bei dem Antikorruptionsgipfel die Bundeskanzlerin offenbar Handlungsbedarf gesehen hat. Wollen wir hoffen, dass das, was unsere Kanzlerin auf den Gipfeln sagt, von der Regierung
bzw. der rechten Seite des Hauses in Taten umgesetzt
wird.
({6})
Ich wünsche das in diesem Fall, und wir haben Anlass,
uns das auch in anderen Fällen zu wünschen.
({7})
Ich breche eine Lanze für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; denn bei Ihnen klingt es so an, als könnten
wir nicht sicher sein, dass die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer das aus ehrenwerten Motiven tun. Bei Ihnen klingt an: Na ja, da könnten auch Denunzianten unterwegs sein. - Schauen Sie sich den Gesetzentwurf der
Grünen und unseren Gesetzentwurf an! Wir differenzieren fein säuberlich. Wir wollen keine Kultur des Anschwärzens aus niederen Motiven - das wird schnell
unterstellt -; wir wollen vielmehr, dass jemand, der Verantwortung übernimmt, indem er einen Missstand, den
er entdeckt, offenkundig macht, Schutz genießt. Wir
wollen die notwendigen Antworten liefern, die wir aufgrund der geltenden Gesetzeslage nicht haben.
Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland schon Sorge haben müssen, dass sie wegen
eines Brötchens, das sie mal zu sich genommen haben,
oder wegen eines Pfandbons, der nicht ordentlich abgerechnet wurde, entlassen werden, dann verstehe ich jeden und jede, der bzw. die sagt: Es ist ganz bitter, was
ich hier erlebe, aber ich halte meinen Mund, weil ich im
Augenblick nicht weiß, ob ich persönlich Schaden davontrage.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9782 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe-
derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP wünschen Federführung beim Aus-
schuss für Arbeit und Soziales, die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Rechtsaus-
schuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim
Rechtsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen aller anderen Fraktionen bei Zustimmung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales - abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungs-
vorschlag ist mit den Stimmen aller anderen Fraktionen
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Begleitung der Reform der
Bundeswehr ({0})
- Drucksache 17/9340 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({1})
- Drucksache 17/9954 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({2})
Fritz Rudolf Körper
Harald Koch
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/9994 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Johannes Kahrs
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Tobias Lindner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Keul, Agnes Malczak, Monika Lazar, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10 Jahre Frauen in der Bundeswehr
- Drucksachen 17/7351, 17/8496 Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({5})
Burkhardt Müller-Sönksen
Katja Keul
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Ernst-Reinhard Beck von
der CDU/CSU-Fraktion.
({6})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Bundeswehrreform-Begleitgesetz, das wir heute verabschieden,
ist ein wichtiger und notwendiger Mosaikstein für die
Entwicklung der Bundeswehr zur Einsatzarmee. Zusammen mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz,
das wir im letzten Jahr verabschiedet haben, bildet es einen tragenden Pfeiler für die neue Bundeswehr.
Diese Bundeswehr im Umfang von 170 000 Berufsund Zeitsoldaten, 15 000 freiwillig länger Dienenden sowie 55 000 zivilen Mitarbeitern ist politisch gewollt und
sicherheitspolitisch vertretbar. Wir werden jetzt mit diesem Gesetzentwurf die notwendigen personellen Rahmenbedingungen schaffen.
Ich möchte an dieser Stelle dem Bundesminister der
Verteidigung ein herzliches Dankeschön aussprechen;
denn das war ja nun kein einfacher Weg. Eine Reihe von
nicht ganz populären Entscheidungen sind auf diesem
schwierigen Weg der Neuausrichtung der Bundeswehr
gefällt worden. Sie wurden sorgfältig abgewogen und
sind in einem beeindruckenden Tempo erfolgt - ein
herzliches Dankeschön an Sie, Herr Minister!
({0})
Ich darf kurz die einzelnen Stationen aufzeigen. Mit
den Verteidigungspolitischen Richtlinien verfügen wir
über einen klaren sicherheitspolitischen Rahmen. Über
das Standortkonzept wurde im Oktober 2011 entschieden. Wir haben jetzt die entsprechende Realisierungsplanung. Mit der Feinausplanung haben die Kommunen die
Planungssicherheit, aber auch die Soldatinnen und Soldaten die für ihre Lebensplanung wichtige Orientierung
erhalten.
Ernst-Reinhard Beck ({1})
Die derzeitige Reform, die im Gegensatz zu den Reformen und Strukturreformen der Vergangenheit von
oben nach unten erfolgt und im Ministerium ihren Anfang genommen hat, geht nunmehr in die Fläche. Damit
sind nach notwendigen politischen Grundentscheidungen die Mühen der Ebene bzw. die Mühen der Umsetzung erreicht. Sie werden von allen Führungsebenen
noch erhebliche Anstrengungen erfordern. Komplexe
Prozesse des Abbaus, des Umbaus und des Aufbaus am
Personalkörper der Bundeswehr sind die Aufgaben der
nächsten Jahre.
Der vorliegende Gesetzentwurf wendet sich vornehmlich an die Angehörigen der Bundeswehr, die sich
nach Abwägung in anderen Arbeits- und Tätigkeitsbereichen außerhalb der Bundeswehr bessere Chancen ausrechnen. Für diesen Personenkreis muss der Wechsel in
andere Bereiche unserer Arbeitswelt attraktiv gestaltet
werden.
Wir können nicht erwarten, dass Soldaten und Beamte mit Lebenszeitverträgen die Bundeswehr freiwillig
verlassen und auf viel Geld verzichten. Wie wir mit
Menschen umgehen, die ihre Arbeitskraft viele Jahre der
Bundeswehr gewidmet haben, wirkt auch als Zeichen in
die Streitkräfte hinein. Wir sollten dies bei unseren Diskussionen nicht vergessen.
Die Reform darf nicht dazu führen, dass die Bundeswehr demotiviertes und desillusioniertes Personal ohne
Perspektive zurücklässt. Daher muss jedem Soldaten
und jedem Beamten ein individuelles Angebot zum Verbleib oder zum Verlassen der Armee unterbreitet werden.
Ich glaube, dass unsere Soldatinnen und Soldaten, die
sich dafür entscheiden, aus der Bundeswehr auszuscheiden, gute Chancen in der Wirtschaft haben. Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit hat
kürzlich darauf hingewiesen, dass der Fachkräftemangel
für die deutsche Wirtschaft bedrohlicher als die Finanzkrise ist. Ich finde, das ist ein starkes Wort, das wir
durchaus bei unseren Überlegungen berücksichtigen
sollten. Mit dem Reform-Begleitgesetz werden künftig
gut ausgebildete Fachkräfte für den ersten Arbeitsmarkt
zur Verfügung stehen.
Wir hatten eine sehr instruktive Anhörung. Uns
wurde klar, dass wir, um die Attraktivität dieses Angebots noch zu steigern, den ohnehin schon weitreichenden
Gesetzentwurf der Bundesregierung in einigen Punkten
verbessern müssten.
({2})
Wir haben den Kreis derjenigen Personen, die dieses
Gesetz in Anspruch nehmen können, ausgeweitet. Wir
können jetzt 3 100 Soldatinnen und Soldaten und bis zu
1 500 Beamtinnen und Beamte freisetzen. Des Weiteren
ist die Erhöhung der Einmalprämie für Soldatinnen und
Soldaten, die vor dem 50. Lebensjahr die Bundeswehr
verlassen, auf 10 000 Euro pro Dienstjahr des vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand aufgestockt. Obwohl dieser Betrag steuerlich geltend gemacht werden muss,
kann nun ein hinreichender Anreiz zum Verlassen der
Bundeswehr gesetzt werden.
Kernstück ist die Verbesserung der Hinzuverdienstgrenze. Wir haben mit gemeinsamen Anstrengungen erreicht, dass diese Grenze sowohl für Soldatinnen und
Soldaten wie für Beamtinnen und Beamte aufgehoben
wird. Diese Aufhebung gilt nur für diese fünf Jahre, nur
für diesen besonderen Personenkreis. Ich bin sehr froh,
dass es uns gemeinsam gelungen ist, Soldatinnen und
Soldaten mit NVA-Vordienstzeiten einzubeziehen.
({3})
Hier zeigt sich wieder einmal die Vorreiterrolle der Bundeswehr beim Zusammenwachsen von Ost und West. Ich
darf ein herzliches Dankeschön an alle richten, die dies
möglich gemacht haben.
Die Opposition hat hier von Gesetzgebungschaos gesprochen. Ich weise diesen Vorwurf zurück. Schließlich
geht kein Gesetzentwurf aus dem Gesetzgebungsverfahren so heraus, wie er hineingegangen ist.
({4})
Manchmal ist es auch segensreich, dass wir in gemeinsamer Anstrengung die Dinge verbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir doch ehrlich: Keiner von
uns hätte am Anfang des Beratungsprozesses gedacht,
dass es uns gelingen würde, die Hinzuverdienstgrenze
abzuschaffen.
({5})
Ich glaube, dass das ein ganz wichtiges Signal ist. Seien
wir doch gemeinsam stolz auf das, was wir geleistet
haben.
Zu Recht wurde die Frage der Gerechtigkeit im Sinne
von Ost und West gestellt. Es ist uns auch hier gelungen
- man kann in Verhandlungen rechtzeitig klüger werden -, juristische Bedenken, die hochmögend begründet
gewesen sein mögen, entsprechend zu entkräften. Wir
können froh sein, dass wir diese Reform jetzt auf den
Weg gebracht haben. Das spricht für die Qualität der Arbeit und auch der Zusammenarbeit im Verteidigungsausschuss.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können
mit dem, was wir jetzt als Ausgangsposition erreicht haben, zufrieden sein. Wir dürfen uns aber nicht erschöpft
zurücklehnen und sagen: Die Dinge werden automatisch
laufen. Das Bundeswehrreform-Begleitgesetz ist eine
Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille muss
ein Attraktivitätsprogramm für diejenigen sein, die in
der Bundeswehr bleiben und die die anspruchsvollen
Aufgaben der Einsatzarmee erfüllen müssen. Da sind die
Stichworte: Attraktivität des Dienstes, Vereinbarkeit von
Dienst und Beruf, Wandel des Berufsbilds. Das ist im
Grunde für die nächste Zeit entscheidend.
Noch eines: Ich glaube, man kann uns nicht vorwerfen, dass wir uns nur auf Strukturen und auf abstrakte
Zahlen konzentriert haben. Wir werden unser Augenmerk auch weiter auf das innere Gefüge der Bundeswehr, auf ihre Führungskultur richten. Dazu sind im
Ernst-Reinhard Beck ({6})
Dresdner Erlass klare Feststellungen getroffen worden.
Auch der Generalinspekteur hat in seiner Broschüre
„Soldat heute“ sehr nachdenkenswerte und bedenkenswerte Dinge dazu geäußert.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. Einen Gedanken
noch.
Es geht nicht ohne Veränderungsbereitschaft und aktive Mithilfe der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der
Bundeswehr. Ich schließe daher mit dem Dank meiner
Fraktion an die Betroffenen, die es möglich machen,
dass die Bundeswehrreform nicht nur auf den Weg, sondern auch zum Erfolg gebracht werden konnte.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Lars
Klingbeil das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir entscheiden heute über das Herzstück der
Bundeswehrreform. Mit dem BundeswehrreformBegleitgesetz soll der erforderliche Umbau des Personals gelingen. Es geht aber auch darum, Sicherheit in
Zeiten des Umbruchs zu schaffen. Jenseits aller wichtigen Fragen über Standorte, die wir diskutieren, jenseits
aller wichtigen Fragen über die Struktur der Bundeswehr, die wir diskutieren, und jenseits aller Fragen über
die Fähigkeiten der Truppe, die wir diskutieren, geht es
heute um diejenigen, die der Bundeswehr in unserer Gesellschaft ein Gesicht geben: Es geht um die Soldatinnen
und Soldaten; es geht um ziviles Personal. Es geht um
diejenigen, die sich bewusst entschieden haben, ihren
Dienst bei der Truppe zu leisten, und es geht um diejenigen, für die wir als Parlamentarier, als Politik eine Verantwortung tragen.
Herr Minister, das Reform-Begleitgesetz ist vielleicht
der wichtigste Baustein, wenn es um den Umbau der
Bundeswehr geht. Aber leider müssen wir feststellen,
dass das, was Sie heute vorgelegt haben, eine verpasste
Chance ist.
({0})
Es ist eine verpasste Chance, den Angehörigen der Bundeswehr Gewissheit über ihre Zukunft zu geben. Es ist
eine verpasste Chance, die Strukturentscheidungen in
Einklang mit den Personalplanungen zu bringen, und es
ist eine verpasste Chance, die Attraktivität der Bundeswehr endlich in den Mittelpunkt zu stellen.
Vor mehr als zwei Jahren hat diese Bundeswehrreform begonnen. Damals neu im Parlament, hätte ich mir
vorgestellt, dass eine Strukturreform so abläuft, dass
man erst einmal über die sicherheitspolitischen Herausforderungen diskutiert, die die Bundeswehr zu bewältigen hat,
({1})
dass man daraus die Fähigkeiten ableitet und aus den Fähigkeiten dann Aufgaben, Struktur, Umfang und Finanzierung der Bundeswehr entwickelt. Damals war es aber
so, dass Motor dieser Reform der strategische Parameter
der Haushaltskonsolidierung - Zitat zu Guttenberg - und
die Abschaffung der Wehrpflicht waren. Herr Minister,
vor Ihnen ist viel schiefgelaufen. Aber auf Ihnen ruhten
Hoffnungen, dass endlich Ordnung in die Ideen, die Versprechen und die Ankündigungen Ihres Vorgängers
kommt.
Niemand hier im Parlament stellt die Notwendigkeit
einer weiteren Veränderung der Bundeswehr infrage.
Auch in der Truppe spüre ich eine hohe Bereitschaft,
sich diesen Herausforderungen zu stellen und sie zu gestalten. Auch im politischen Raum gibt es einen breiten
Konsens und den Versuch, das Ganze überparteilich zu
gestalten. Aber wenn wir heute ein Reform-Begleitgesetz auf den Weg bringen, von dem wir jetzt schon wissen, dass der Personalüberhang nicht so reduziert werden kann, wie er reduziert werden müsste, und wenn wir
wissen, dass mit diesem Gesetz neue Beförderungsstaus,
neue Verwendungsstaus geschaffen werden, dann, Herr
Minister, können wir als Sozialdemokraten diesem Gesetz nicht zustimmen und diesen Weg nicht mitgehen.
({2})
Das, was vom Kabinett vorgelegt wurde, hat großen
Unmut in der Truppe hervorgerufen. Es war wieder einmal das Parlament, das für Korrekturen gesorgt hat. Mit
dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz haben wir
damals ebenfalls wichtige Korrekturen vorgenommen.
Wir haben einen Antrag zur Betreuungskommunikation
eingebracht. Jetzt ist es wieder einmal das Parlament,
das ein deutliches Signal in Richtung Truppe setzt.
({3})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Ihre Änderungen bei dem Reform-Begleitgesetz gehen
uns nicht weit genug. Deswegen können wir ihnen heute
hier nicht zustimmen.
Es muss im Kern darum gehen, die Strukturentscheidungen mit dem Personalkörper in Einklang zu bringen.
Wenn selbst das Verteidigungsministerium sagt, dass
6 200 Dienstposten bei den Soldatinnen und Soldaten
und 3 000 bei den Beamten abgebaut werden müssten,
wir heute aber einen Gesetzentwurf vorliegen haben, mit
dem nur die Hälfte finanziert wird, dann wissen wir, dass
es zu Beförderungsstaus kommen und die Attraktivität
der Bundeswehr darunter leiden wird.
Wir Sozialdemokraten haben immer gesagt: Wir brauchen eine massive Attraktivitätssteigerung. Wir haben
im Ausschuss beantragt, die Planstellenanteile für Unteroffiziere in der Besoldungsgruppe A 9 und für Offiziere
im Bereich A 13 moderat zu erhöhen, um einen Stau bei
den Beförderungen abzubauen. Das haben Sie abgelehnt.
Auch das wäre ein wichtiger Schritt in Richtung mehr
Attraktivität gewesen.
Wir Sozialdemokraten haben eingefordert, dass bei
dem Umbau der Bundeswehr hin zu einer Berufsarmee
ein massives Attraktivitätsprogramm auf den Weg gebracht wird. Herr Beck, Sie haben gerade davon gesprochen, das sei die zweite Seite der Medaille. Aber wir
müssen feststellen, dass diese Seite der Medaille bisher
sträflich vernachlässigt wurde. Es gab Ankündigungen.
Aber wirklich geschehen ist hinsichtlich der Attraktivität
nichts. Das fängt mit der Erhöhung der Vergütung für
mehrgeleisteten Dienst an. Das hat schon Herr zu
Guttenberg angekündigt. Bis heute aber ist nichts geschehen. Mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie
und Dienst wird öffentlichkeitswirksam von ElternKind-Zimmern gesprochen. Aber eine wirkliche Vereinbarkeit ist nur möglich, wenn die Kinderbetreuung ausgebaut wird und es eine Ausweitung flexibler Arbeitsformen gibt. Das wären Antworten, die wir vom
Minister erwarten und die heute notwendig wären.
({4})
Außerdem brauchen wir endlich verbindliche Planungen
für die Pendlerwohnungen.
Herr Minister, wir werden in den kommenden Wochen hinsichtlich der Attraktivität auch über Betreuungseinrichtungen und die Verpflegung reden müssen. Stoppen Sie sämtliche Ideen, die mit Schließungen und
Privatisierungen zu tun haben! Wir alle wissen, wie
wichtig Betreuungseinrichtungen für die Truppe sind.
Sie haben eine wichtige soziale Funktion für die Menschen in der Truppe. Deshalb ist es sinnvoll, von den
geplanten 55 000 Stellen für zivile Beschäftigte abzurücken und mehr darauf zu achten, was wir bei der Truppe
eigentlich brauchen.
({5})
Rücken Sie ab von willkürlichen Zielzahlen, und stellen
Sie die Aufgaben in den Mittelpunkt Ihrer Entscheidungen! Nur so kann die Bundeswehrreform wirklich gelingen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wäre gern
mit Ihnen den Weg einer gemeinsamen Reform zu Ende
gegangen. Wir hätten heute gern zugestimmt und ein gemeinsames Bundeswehrreform-Begleitgesetz für Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilbeschäftigte auf den
Weg gebracht.
({6})
Dafür hätten Sie aber eine realistische und durchfinanzierte Planung, ein demografiefestes Konzept, vor allem
ein durchdachtes und gut konzeptioniertes Attraktivitätsprogramm auf den Tisch legen müssen. Das alles haben
Sie nicht getan. Deswegen können wir nicht zustimmen.
Sie haben heute eine Chance vertan.
({7})
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Elke
Hoff.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der erste Teil Ihrer Rede, Kollege Klingbeil,
war sehr vielversprechend. Sie haben, glaube ich, sehr
gut dargestellt, dass etwas, was wir als Koalitionsfraktionen jetzt hier im Parlament auf den Weg bringen, vernünftig und gut ist. Sie hätten auch den zweiten Schritt
noch machen können. Aber vielleicht schaffen wir die
Gemeinsamkeit ja, wenn dieses Gesetz, das jetzt die notwendigen Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer
sehr ehrgeizigen Bundeswehrstrukturreform schafft, im
Jahr 2014 evaluiert wird. Auch als Koalition wissen wir,
dass das, was wir jetzt machen, ein dynamischer Prozess
ist. Wir werden mit aller Ruhe und Gelassenheit die notwendigen Punkte abarbeiten, um die Entwicklung unserer Streitkräfte hin zu einer attraktiven Freiwilligenarmee - nicht zu einer Berufsarmee, Herr Kollege! - auf
den Weg zu bringen.
({0})
Wie Sie sich als aufmerksamer Teilnehmer an den Sitzungen des Verteidigungsausschusses sicher erinnern
können, hat diese Koalition im Rahmen der Verhandlungen zum Einzelplan 14 und der Verabschiedung bereits
einen gemeinsamen Antrag zur Verbesserung der Attraktivität der Streitkräfte beschlossen. Ich gehe davon aus,
dass dieser jetzt mit allem Nachdruck und mit aller Vehemenz im Bundesministerium der Verteidigung abgearbeitet wird. Viele Punkte, die Sie zu Recht anmahnen,
finden sich auch schon in diesem Koalitionsantrag.
Wir müssen immer wieder auch daran erinnern, vor
welchem Hintergrund die Streitkräftereform stattfindet.
Wir haben eine Armee im Einsatz. Wir haben die demografische Entwicklung; das ist heute schon sehr zu Recht
angesprochen worden. Wir als diejenigen, die für die
Streitkräfte verantwortlich sind, müssen uns auch mit
den Anforderungen des Haushalts auseinandersetzen.
Wir können nicht alles, was wünschenswert ist und worüber in diesem Haus sicherlich auch Konsens bestehen
würde, sozusagen aus dem Ärmel schütteln und finanzieren. Wir können nicht so tun, als ob der Rest der Welt
nicht existieren würde.
Ich glaube, dass wir in der Kürze der Zeit in einem
sehr ordentlichen Verfahren für die Soldatinnen und SolElke Hoff
daten, die ihren Dienst leisten, eine vernünftige Verbesserung erreicht haben. Ich fand es gut, dass gerade der
Kollege der SPD die Punkte noch einmal aufgeführt hat,
weil wir sie zum großen Teil gemeinsam auf den Weg
gebracht haben. Wir hätten uns gefreut, wenn Sie uns
heute auf diesem Weg ein Stück weiter begleitet hätten,
um so auch ein gemeinsames Signal in die Truppe zu
senden. Ich glaube, dass viele Soldatinnen und Soldaten,
wenn wir es richtig kommunizieren, verstehen, dass wir
nicht alles das, was wünschenswert ist, sozusagen auf
einen Streich und in einem Tag auf den Weg bringen
können.
Wir haben große Meilensteine erreicht. Wir haben die
Wehrpflicht ausgesetzt; wir haben sie nicht abgeschafft,
Herr Kollege. Wir haben die Einsatzversorgung verbessert. Wir haben die Betreuungskommunikation verbessert. Wir haben die Ausrüstung und Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten verbessert.
({1})
Wir haben jetzt nachhaltige Rahmenbedingungen geschaffen. Kollege Beck, ich kann Ihnen nur zustimmen:
Es ist wirklich ein Paradigmenwechsel, dass es uns gegen erhebliche Widerstände aus vielen Bereichen gelungen ist, die Hinzuverdienstgrenze für freiwillig aus dem
Dienst ausscheidende Soldaten abzuschaffen. Das sind
Signale an unsere Soldatinnen und Soldaten, dass wir
selbstverständlich an ihrer Seite sind.
Auf der anderen Seite erwarte ich von den Betroffenen - das möchte ich an der Stelle sehr deutlich sagen -,
dass sie die Zwänge anerkennen, unter denen wir als
politische Entscheider stehen. Wir können nicht so tun,
als wenn uns eine Haushalts- und Finanzkrise nicht in
vielen Bereichen Fesseln anlegt. Alle gesellschaftlichen
Gruppen müssen hier ihren Beitrag leisten und müssen
aufeinander zugehen.
Ich vertraue darauf, dass die notwendigen Maßnahmen im Ministerium jetzt sehr schnell umgesetzt werden. Sollten wir feststellen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es an einigen Stellen holpert, wird im Jahr
2014 im Rahmen einer Evaluation das Gesetz angepasst.
Ich glaube, das Parlament ist mit an erster Stelle dabei,
wenn es darum geht, das, was nicht funktioniert, zu ändern.
Ich freue mich, dass es uns gemeinsam gelungen ist,
in der Kürze der Zeit einen Rahmen zu setzen, sodass die
Bundeswehr weiß, woran sie ist, und jeder weiß, welche
Möglichkeiten er hat. Erinnern wir uns daran, was die
Vertreter der Bundesagentur für Arbeit in der Anhörung
gesagt haben! Sie haben gesagt, dass sie froh sind, wenn
diese Leute kommen, weil sie sie dringend brauchen.
Wenn diese Kooperation gelingt, bin ich relativ unbesorgt, dass Soldatinnen und Soldaten eine vernünftige
und attraktive Weiterbeschäftigung im zivilen Bereich
finden werden.
Herr Minister, an dieser Stelle Ihnen und Ihrem Haus
ein herzliches Dankeschön für die Arbeit. Sie können
davon ausgehen, dass wir Sie weiterhin konstruktiv begleiten werden.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Harald Koch das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das vorliegende Bundeswehrreform-Begleitgesetz
ist wieder einmal ein Beispiel dafür, wie man mit Menschen eigentlich nicht umgehen sollte. Ihr Anspruch war
es, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der einen sozialverträglichen Personalabbau in der Bundeswehr ermöglicht.
Abgesehen davon, dass die gesamte Reform der Bundeswehr völlig falsch ausgerichtet und schlecht durchdacht
ist, kann auch von sozialverträglichem Personalabbau
keine Rede sein.
Es ist beispielsweise nicht sozialverträglich, dass Sie
eine Obergrenze für die Anzahl der Ausscheidewilligen
festlegen, mit der Sie noch nicht einmal Ihren selbst gesteckten Rahmen erreichen können. Warum lassen Sie
nicht alle gehen, die gehen wollen?
({0})
Vor allem ist es nicht sozialverträglich, Soldaten mit
Vordienstzeiten in der NVA auch 22 Jahre nach dem
Kalten Krieg, nach der deutschen Einheit noch immer zu
benachteiligen. Da haben Sie von der CDU, im Besonderen Herr Bergner, das Possenstück aufgeführt, ein schon
verabschiedetes Gesetz noch einmal in den Ausschuss zu
bringen, weil Sie die Ungleichbehandlung von Ostbiografien nicht länger hinnehmen wollten. Das hat so auch
in der Zeitung gestanden.
({1})
Aber das ganze Theater ändert nichts daran, dass Sie
diese Ungleichbehandlung auch mit dem jetzt nachgebesserten Gesetzentwurf nicht beseitigen.
({2})
Sie heben zwar die Hinzuverdienstgrenzen auch für ehemalige NVA-Soldaten auf, schaffen aber gleichzeitig
neue Ungerechtigkeiten, weil diese Regelung nur für
eine kleine Gruppe von Soldaten gilt, nämlich für diejenigen, die infolge der Maßnahmen des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes aus dem Dienst ausscheiden.
({3})
Alle anderen ehemaligen NVA-Soldaten, die vielleicht
bereits ausgeschieden sind, ohnehin in den vorzeitigen
Ruhestand versetzt worden wären oder erst nach 2017
ausscheiden wollen, sind auch weiterhin benachteiligt.
Das viel größere Problem ist jedoch, dass selbst der
Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen nur Augenwischerei
ist; denn das eigentliche Problem, die unterschiedlichen
Ruhestandsbezüge zwischen Soldaten mit reiner Bundeswehrbiografie und Soldaten mit NVA-Vorzeiten, wird
überhaupt nicht angegangen. Dies heißt, dass Soldaten
mit NVA-Zeiten auch weiterhin viel kleinere Renten erhalten werden als die Soldaten, die nur in der Bundeswehr gedient haben. Das ist das Problem. Finden Sie das
sozialverträglich und gerecht? Ich finde das skandalös.
({4})
Aus diesem Grund hat die Linke im Verteidigungsausschuss auch einen Antrag vorgelegt,
({5})
mit welchem sie die Bundesregierung auffordert, noch in
dieser Legislaturperiode einen Gesetzesentwurf vorzulegen, mit welchem sämtliche noch verbliebenen Schlechterstellungen von ehemaligen NVA-Soldaten gegenüber
Soldatinnen und Soldaten mit ausschließlicher Dienstzeit in der Bundeswehr beseitigt werden. Wir sind gespannt, ob die Aussagen von Herrn Bergner und Co. mal
wieder nur medienwirksame Lippenbekenntnisse waren
oder ob sie zukünftig wirklich eine Gleichbehandlung
anstreben.
Insgesamt zeigt sich wieder einmal das Problem, welches wir schon so oft kritisiert haben: Wenn es um Ausrüstung, Auslandseinsätze oder millionenschwere Beschaffungen geht, dann kann alles nicht schnell, effektiv
und schlagkräftig genug sein. Wenn es aber um die Versorgung der Soldaten geht, fangen Sie jedes Mal sofort
an, zu knausern.
Herr Kollege Koch, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Koch, darf ich Sie fragen, wie Sie dazu
kommen, in abenteuerlicher Weise neue Ungerechtigkeiten zu konstruieren? Ist Ihnen bekannt, dass alle diejenigen, die bisher von Personalstrukturmaßnahmen betroffen waren - das waren zumeist Soldaten, die in der alten
Bundesrepublik ihren Dienst geleistet haben -, wesentlich schlechtere Bedingungen hatten als die jetzt Betroffenen? Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass es
nicht opportun ist, hier neue Gräben aufzureißen, wo wir
die alten Gräben im Grunde gerade erst gemeinsam zugeschüttet haben? Bitte berücksichtigen Sie, dass dieses
Gesetz lediglich für diejenigen gilt, die von dieser zeitlich und personell begrenzten Maßnahme betroffen sind.
Herr Kollege Beck, es sind keine neuen Gräben, die
hier aufgerissen werden; es sind bestehende Gräben. Wir
sind bestrebt, diese Gräben zuzuschütten. Uns geht es
darum, dass die Soldatinnen und Soldaten, die mit früheren NVA-Dienstzeiten jetzt freiwillig in der Bundeswehr
dienen, die gleiche Anerkennung finden und die gleiche
Absicherung erhalten - insbesondere auf die Rente bezogen - wie die Soldatinnen und Soldaten, die nur in der
Bundeswehr gedient haben. Das wird mit diesem Gesetzentwurf aber nicht erreicht; das wird nicht einmal angegangen. Man weigert sich, und zwar aus rein fiskalischen Gründen, wie ich vermute.
({0})
- Nein, kann ich nicht.
({1})
Ein weiterer äußerst bedenklicher Aspekt des Gesetzes ist die Absicht der Bundesregierung, die zivile Komponente aus der Bundesverwaltung herauszudrängen und
zivile Dienstposten nun mit Militärs zu besetzen.
Art. 87 b Grundgesetz regelt eine klare Aufgabentrennung zwischen zivilen und militärischen Strukturen, und
das nicht ohne Grund. Diese Trennung ist eine Folgerung aus der deutschen Militärgeschichte. Soll diese
wichtige demokratische Errungenschaft nun auf dem Altar der Remilitarisierung geopfert werden? Das ist nicht
akzeptabel, da es nicht nur zu einer weiteren Militarisierung innerhalb der Bundeswehr, sondern auch zu einer
schleichenden Militarisierung der Gesellschaft beiträgt.
({2})
Die Linke lehnt das strikt ab.
({3})
Ebenfalls zu einer schleichenden Militarisierung der
Gesellschaft führt die vermehrte Rekrutierung von
Frauen. Unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung
und einer „menschlicheren“ Bundeswehr wird versucht,
vermehrt Frauen für den Dienst an der Waffe zu gewinnen. Dies ist angesichts der Ausrichtung der Bundeswehr fatal und hat auch nichts mit Emanzipation zu tun.
Die Bundeswehr ist eben kein Arbeitgeber wie jeder andere, und das in jeder Hinsicht.
Glück auf!
({4})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Agnieszka Brugger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind
uns einig: Die Reform der Bundeswehr ist ein notwendiAgnes Brugger
ger und in weiten Teilen längst überfälliger Schritt. Vom
Erfolg dieser Reform wird abhängen, wer mit welchen
Fähigkeiten und mit welcher Motivation künftig zur
Bundeswehr kommt. Das ist ganz entscheidend. Schließlich wollen wir alle nicht nur zahlenmäßig genug Bewerber und auch Bewerberinnen haben; wir wollen auch,
dass die Bundeswehr ein Spiegel der Gesellschaft bleibt:
pluralistisch und demokratisch.
({0})
Das Gesetz, das heute zur Abstimmung steht, prägt
diese Reform ganz maßgeblich. Mit diesem Gesetz soll
der umfassende Personalabbau sozialverträglich gestaltet werden; mit diesem Gesetz soll die Bundeswehr kleiner und attraktiver werden. Das sind wesentliche Voraussetzungen für den Erfolg der Reform, den auch wir
Grüne wollen.
Herr Minister, die entscheidende Frage ist doch:
Haben Sie genug für die Attraktivität der Bundeswehr
getan - mit diesem Gesetz, aber auch darüber hinaus?
Da habe ich meine Zweifel. Nehmen wir ein Beispiel,
das für die Bundeswehrangehörigen ausgesprochen
wichtig ist - gerade für die jungen Menschen - und für
den Dienstherrn daher nicht weniger Priorität haben
sollte: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In diesem Bereich besteht erheblicher Nachholbedarf. Die Regierung hat eigentlich versprochen, hier umfassend zu
liefern.
Konkret haben Sie unabhängig von diesem Gesetz die
Einrichtung von 300 Eltern-Kind-Zimmern angewiesen.
120 davon sind bereits eingerichtet. Das hört sich zwar
nett an; aber ohne Verbesserungen der Arbeitsstrukturen,
die erst die Nutzung solcher Räumlichkeiten ermöglichen, ist das eine leere Symbolmaßnahme.
({1})
Sie haben mit dem Gesetz zum Beispiel einen Anspruch
auf Kinderbetreuung während der Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen geschaffen. Auch das ist gut und
längst überfällig. Aber zusammengenommen ist das immer noch so, als würden Sie versuchen, mit einer Pipette
den Garten zu gießen. Die Soldatinnen und Soldaten
brauchen keine Symbolpolitik, sondern grundlegende
und umfassende Verbesserungen. Verlässliche Planungen, längere Stehzeiten an einem Standort, flächendeckende Betreuung für Kinder - das sind nur einige Beispiele für die bestehenden Herausforderungen, die Sie
nicht angehen.
Ein weiteres Beispiel ist die Erhöhung des Frauenanteils. Da widerspreche ich ausdrücklich dem Kollegen
Koch, für den das eine Remilitarisierung darstellt. Den
Bedarf an Nachwuchs, vor allem auch an hochqualifizierten Fachkräften, werden Sie auf Dauer nur decken
können, wenn auch mehr Frauen bereit sind, zur Bundeswehr zu gehen.
({2})
Dazu hören wir von Ihnen derzeit außer schönen Worten
nichts. Wir haben Ihnen in einem eigenen Antrag eine
Reihe von Vorschlägen gemacht und laden Sie herzlich
ein, dem nachher zuzustimmen.
Insgesamt untergraben aber nicht nur die fehlenden
Maßnahmen zur Verbesserung der Attraktivität die Erfolgschancen der Reform; auch die Art und Weise Ihres
Vorgehens ist alles andere als hilfreich. Sie bemühen
sich verzweifelt, das Bild eines wohlgeordneten und
durchdachten Prozesses zu beschreiben. Doch was wir
auf den letzten Metern der Beratungen über diesen Gesetzentwurf erleben durften, ist bezeichnend für den gesamten bisherigen Ablauf der Reform: Über die Presseverteiler wurde da von der Unionsfraktion schon der
erfolgreiche Abschluss der Beratungen verkündet. Aber
noch am gleichen Tag war klar, dass in Ihrer eigenen
Fraktion noch nicht alle Fragen geklärt waren, und das
ganze Gesetz ging zurück an den Ausschuss. Dieses Hin
und Her zieht sich durch den ganzen Reformprozess.
In der Abstimmung zwischen den Ministerien wurde
Ihr ursprünglicher Gesetzentwurf zum Zankapfel und in
jeder Hinsicht zerrupft und zerfleddert. Wie bei vielen
Fragen zeigt sich auch bei dieser Reform die tiefe Uneinigkeit der Bundesregierung. Sie verschieben Ihre Konflikte einfach ins Parlament, das dann die gröbsten
Schnitzer ausbügeln soll.
Für die Betroffenen bedeutet diese chaotische Vorgehensweise vor allem ein massives Auf und Ab. Eine
grundlegende Verunsicherung wird zum ständigen Begleiter. Die Soldatinnen und Soldaten und auch die zivilen Mitarbeiter sind doch kein Spielball der regierungsinternen Streitereien.
({3})
So kann eine Mitnahme der betroffenen Menschen einfach nicht gelingen, und das, meine Damen und Herren,
ist eine der größten Schwächen des Reformprozesses.
Was das Bundeswehrreform-Begleitgesetz im Konkreten betrifft: Im Verlauf des Beratungsprozesses wurden erhebliche Schwächen angesprochen. Sie, meine
Damen und Herren von der Koalition, haben sich da
durchaus bewegt, ein wenig zumindest, aber auch nicht
weit genug.
({4})
Bei anderen Gesetzen, die die Bundeswehr betreffen, haben Koalition und Opposition in den vergangenen Jahren
konstruktiv zusammengearbeitet. Hier haben Sie eine
solche Zusammenarbeit nicht wirklich verfolgt. Vor wenigen Wochen haben Sie hier im Plenum vollmundig
eine gemeinsame Arbeit an diesem Gesetz angekündigt.
Das waren allerdings leere Versprechungen. Sie haben
unsere Anträge im Ausschuss einfach niedergestimmt.
Das ist angesichts der Rolle der Bundeswehr als Armee
des gesamten Parlaments wirklich bedauerlich. Wir laden Sie jetzt noch einmal ein, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen, mit dem wir eine Reihe von Vor21984
schlägen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen und
der Attraktivität der Bundeswehr machen.
({5})
Das Gesetz ist jedenfalls immer noch keine runde Sache, auch wenn wir das Ziel einer kleineren und attraktiveren Bundeswehr teilen. Ich will zum Abschluss noch
einmal die drei wesentlichen Kritikpunkte nennen: Mit
den vorgeschlagenen Instrumenten werden Sie erstens
die Zielstruktur nicht erreichen. Sie werden zweitens die
Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr nicht wirklich verbessern. Das Gesetz ist damit drittens ein weiterer Beitrag zur Verschleppung der Probleme statt zu ihrer
Lösung. Darum können wir dem nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Diese Woche ist eine gute Woche für die Bundeswehrreform: Am Dienstag hat der Minister die Feinausplanung
der Stationierung bekannt gegeben, und heute beraten
und beschließen wir das Bundeswehrreform-Begleitgesetz. Beides sind zentrale Säulen dieser Reform. Seit
Dienstag ist klar, wann die bereits getroffenen Standortentscheidungen umgesetzt werden, und ab heute, unter
welchen auch finanziellen Rahmenbedingungen der erforderliche Personalumbau stattfindet.
Ich sage bewusst „Umbau“, weil es bei dem Gesetz
eben nicht nur um den Personalabbau geht, sondern auch
darum, jungen Menschen ein attraktives Angebot zu machen, damit sie zur Bundeswehr kommen. Das geschieht
beispielsweise durch die bessere Vereinbarkeit von Familie und Dienst, Verpflichtungsprämien oder attraktivere Fortbildungs- und Berufsförderungsmöglichkeiten.
Wir beenden damit in dieser Woche eine Phase der
Unsicherheit, die die Angehörigen der Bundeswehr, ihre
Familien, aber auch die Kommunen, die von Standortschließungen betroffen sind, erheblich belastet hat. Ich
verhehle nicht, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn
wir die Phase der Unsicherheit schon früher hätten beenden können. Ich sage aber auch: Schlimmer, als nichts zu
wissen, ist, etwas zu wissen, auf das man sich einstellt,
das dann aber wieder geändert werden muss, weil
irgendjemand irgendetwas vergessen hat. Deswegen
muss bei Vorhaben wie der Bundeswehrreform der
Grundsatz gelten: Sorgfalt vor Schnelligkeit.
Im Zuge der Beratungen über das Bundeswehrreform-Begleitgesetz haben wir im Parlament die Zeit
genutzt, das Gesetz noch einmal substanziell zu verbessern. Kollege Beck hat die Änderungen im Einzelnen
vorgestellt. Mir persönlich war es ein Anliegen, dass die
Hinzuverdienstgrenzen wegfallen; denn die Hinzuverdienstgrenzen waren für hochqualifizierte ehemalige
Soldaten im Ruhestand nichts anderes als ein Anreiz, zu
Hause zu bleiben, anstatt in die freie Wirtschaft zu
gehen. Das mag in Zeiten, in denen wir 5 Millionen
Arbeitslosen hatten, gerechtfertigt gewesen sein, aber es
passt nicht in die Zeiten des Fachkräftemangels.
Es war richtig, dass wir die Chance genutzt haben, im
Bereich Hinzuverdienst die Ungleichbehandlung der
Soldaten mit NVA-Vergangenheit zu beenden. Es
stimmt, liebe Frau Brugger, es geschah buchstäblich in
letzter Minute, aber wir haben es geschafft. Es ist an der
Zeit, darauf hinzuweisen, wer den Spieß in letzter Minute umgedreht hat. Das war unser kompromissbereiter
CSU-Innenminister Friedrich, aber es waren auch unsere
wirklich hartnäckigen Ost-CDU-Abgeordneten,
({0})
die sich über Wochen hinweg für dieses Thema eingesetzt haben.
({1})
Nur ihnen haben es die Betroffenen zu verdanken, dass
diese Ungleichbehandlung beendet wird. Einer der großen Vorkämpfer dafür sitzt hier: Robert Hochbaum.
({2})
Er wird zu diesem Thema noch sprechen.
Verehrte Damen und Herren von der Opposition, insbesondere der SPD und Grünen, an einem Punkt verstehe ich Sie nicht. Sie müssten dem, was wir in unserem
Änderungsantrag formuliert haben - Wegfall Hinzuverdienst, Ungleichbehandlung von NVA-Soldaten -, inhaltlich eigentlich zustimmen.
({3})
Ich verstehe nicht, warum Sie gestern im Verteidigungsausschuss unseren Änderungsantrag abgelehnt haben.
({4})
Das 08/15-Standardargument der Opposition: „Ja, Ihr
Antrag geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug“, ist an dieser Stelle nicht angebracht.
Herr Kollege Brandl.
Nein, ich mache fertig, und dann.
Was heißt das?
({0})
Die Uhr wird angehalten, wenn Sie die Zwischenfrage
zulassen.
Ich habe jetzt noch fünf Sätze, und die mache ich fertig. Dann können wir eine Kurzintervention machen.
({0})
Also gut, ich lasse die Zwischenfrage zu.
({1})
Frau Keul, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. Sie haben uns gerade gefragt, warum wir Ihrem Änderungsantrag nicht zugestimmt haben. Als es eben in der Rede der Kollegin
Brugger um den Anteil von Frauen in der Bundeswehr
ging, haben Sie alle applaudiert,
({0})
und auch Generalinspekteur Wieker hat sich öffentlich
ähnlich geäußert, wie wir das in unserem Antrag tun.
Deswegen hätte ich an Sie die Frage: Warum stimmen
Sie denn unserem Antrag „10 Jahre Frauen in der Bundeswehr“ nicht zu?
Wir haben uns mit Ihrem Antrag mindestens genauso
intensiv beschäftigt wie Sie sich mit unserem Änderungsantrag. Wir sind zu dem Schluss gekommen: Mit
den konkreten Maßnahmen, die wir im Bundeswehrreform-Begleitgesetz vorgesehen haben, zum Beispiel
die Erstattung von zusätzlichen Kinderbetreuungskosten, die während dienstlicher Qualifizierungsmaßnahmen anfallen, sind wir auf dem richtigen Weg, andere
müssen noch folgen. Verehrte Frau Kollegin Keul, Sie
können sich darauf verlassen, da werden weitere kommen.
({0})
Noch einmal zu unserem Änderungsantrag im Ausschuss und zu meinem Unverständnis darüber, dass Sie
ihm nicht zugestimmt haben. Sie wissen doch ganz genau, dass es für uns nicht so einfach war, all das, was wir
geschafft haben, auch tatsächlich durchzusetzen. In der
Opposition redet es sich leicht. Aber wir in der Regierungskoalition haben Rahmenbedingungen zu beachten,
nämlich Regelungen zu schaffen, die nicht nur für
unsere Soldatinnen und Soldaten und Beamtinnen und
Beamten in der Bundeswehr attraktiv sind, sondern allen
Bundesbediensteten vermittelt werden können. Dazu
gehört auch der Bundesfinanzminister. Die Regelungen
müssen auch der Bevölkerung vermittelt werden können.
Aus meiner Sicht ist uns dies mit diesem Gesetzentwurf gelungen. Wir unterbreiten den Soldatinnen und
Soldaten, die bleiben, den Soldatinnen und Soldaten, die
gehen, und den Soldatinnen und Soldaten, die kommen
wollen, ein faires Angebot. Ich bin stolz auf unseren
Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Karin Evers-Meyer
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Brandl, erlauben Sie mir, zunächst zu sagen:
Wir können Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen,
wenn Sie sich nicht mit unseren guten Anträgen beschäftigen und nicht einmal einige Anregungen aufnehmen.
({0})
Wir hätten das gerne gemeinsam gemacht. Ich glaube
aber, in diesem Fall hat es einmal nicht an SPD und Grünen gelegen.
({1})
Ich möchte mich ein wenig mit der Attraktivität der
Bundeswehr für Frauen beschäftigen. Wir haben seit
zehn Jahren Frauen in der Bundeswehr. Die Bundeswehr
hat dadurch ein ganz anderes Gesicht bekommen. Ich
finde, Frauen in der Bundeswehr sind heute eine Selbstverständlichkeit. Das ist insgesamt sehr erfreulich. Die
Öffnung der Bundeswehr für Frauen hat der Armee gutgetan: mehr Pluralität, mehr Offenheit, mehr Stabilität
und natürlich auch mehr Transparenz. Ich denke, man
muss wirklich sagen: Hier hat die Bundeswehr einen
ganz tollen Job gemacht. Soldatinnen so zu integrieren,
wie die Bundeswehr das gemacht hat, das ist schon ein
Lob wert.
Ich finde aber auch, dass man nicht auf halbem Wege
stehen bleiben sollte. Es gibt immer noch zu wenige
Frauen in der Bundeswehr. Ihr Anteil beträgt heute
knapp 10 Prozent. In manchen Dienstbereichen, beispielsweise bei den Feldjägern, liegt die Quote noch weit
unter der nach dem Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz angestrebten Quote von 15 Prozent. Da besteht ein ganz schöner Unterschied. Da haben wir noch
viel zu tun. Im Sanitätsdienst hingegen haben wir einen
Frauenanteil von 40 Prozent. An dieser Stelle muss ich
deutlich sagen: Die Quote beim Sanitätsdienst ist nicht
die weiße Salbe für die Defizite in den Dienstbereichen,
in denen Frauen immer noch ganz stark unterrepräsentiert sind.
({2})
Wir müssen wirklich darauf achten, dass der Frauenanteil in den verschiedenen Dienstbereichen möglichst
gleichmäßig verteilt anwächst. Blumige Erfolgsberichte
ändern nichts an mangelnden Fortschritten, auch wenn
die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP
das gerne hätten.
Eines steht aber auch fest: Viel zu wenige Frauen entscheiden sich für den Dienst in der Bundeswehr. Die
Frage ist: Warum ist das so? In der Koalition sind Sie
darüber - wie immer - ein wenig zerstritten. Für die
FDP liegt der Grund in der Verbesserung der Vereinbakeit von Familie und Dienst. Unserer Ansicht nach
stimmt diese Richtung. Für CDU und CSU fehlen die
zeitlichen Voraussetzungen für die Erfüllung der Quote.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion,
wenn ich daran erinnern darf: Frauen stehen seit zehn
Jahren alle Dienstbereiche offen und nicht erst seit zehn
Monaten.
Ein kleines Beispiel dazu: Ich bereise im Moment
meinen Wahlkreis. Dabei treffe ich auf Soldatinnen und
Soldaten. Zum Beispiel in der Nähe von Wittmund habe
ich eine verzweifelte Soldatin getroffen, die ihr Kind erst
um 8 Uhr im Kindergarten abgeben kann, aber um 7 Uhr
Dienstbeginn in Wilhelmshaven hat. Der Vater ist im
Einsatz. In meinem Wahlkreis treffe ich häufig auf solche Fälle. Ich denke, dass wir bisher zwar sehr viel darüber geredet haben, aber nur ganz wenig konkret getan
haben. Die Bundeswehr muss viel offensiver damit umgehen und darf sich nicht darauf verlassen, dass die
Kommunen und andere Einrichtungen genügend Plätze
zur Verfügung stellen. Auf gar keinen Fall!
({3})
Es darf auch nicht sein, dass ein sechsmonatiger Auslandseinsatz auf dem Rücken fürsorglicher Großeltern
ausgetragen wird. Daran ändern die Gesetze aus diesem
Hause gar nichts. Wenn man sich, so wie hier, nicht einig
ist, dann geht das immer zulasten von Eltern und Kindern, in der Regel zulasten von Frauen.
Es kommt jetzt darauf an, dass die Selbstverständlichkeit der Gleichstellung an Bedeutung gewinnt. Nur dann
werden Frauen und Männer gleiche Chancen haben, sich
auch in militärischen Führungspositionen zu beweisen.
Über dieses Thema haben wir heute im Laufe des Vormittags schon lang und breit gesprochen.
Wir werden jedenfalls alles genau beobachten und die
Regierung daran erinnern. Wenn Sie es mit der Gleichstellung von Frauen in der Bundeswehr tatsächlich ernst
meinen, haben Sie sicherlich vorgesehen, demnächst
eine Evaluierung durchzuführen. Mich würde es sehr
freuen, wenn ich ab und zu lesen könnte, welche Fortschritte es gibt.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat das Wort der Kollege Burkhardt MüllerSönksen von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
vor über zehn Jahren die ersten Soldatinnen ihren Dienst
in der Bundeswehr aufnahmen, markierte ihr Antritt für
manche der altgedienten Militärs den gefühlten Anfang
vom Ende ihrer geliebten Bundeswehr. Doch schon nach
kurzer Zeit wurde deutlich, welche Bereicherung engagierte Frauen für die Bundeswehr sind. Mittlerweile leisten mehr als 17 000 Frauen ihren Dienst, Tendenz steigend, und das ist auch gut so.
({0})
Aber die durchaus positiven Zahlen dürfen nicht den
Blick auf die immer noch in Teilen vorherrschenden Problemlagen verstellen. Die Integration von Frauen ist
noch längst nicht abgeschlossen. Sie ist ein langfristiger
Prozess, der die Bundeswehr auch in den nächsten Jahren begleiten wird. Diesen Prozess müssen wir als solchen wahrnehmen. Selbstverständlich dürfen wir ungeduldig sein, aber auch nicht ungerecht gegenüber
denjenigen, die sich bemühen, diesen Prozess zu fördern
und zu beschleunigen.
Die jährlichen Berichte des Wehrbeauftragten machen
deutlich, dass im persönlichen Umgang innerhalb der
Bundeswehr Soldatinnen mitunter nicht die verdiente
Wertschätzung ihrer Arbeit erfahren. Wir nehmen diese
Kritik ernst und sorgen dafür, dass diese Fälle - in der
Vergangenheit wie auch in Zukunft - konsequent verfolgt und aufgeklärt werden. Mein Dank gilt den militärischen und zivilen Gleichstellungsbeauftragten, die dieses wichtige Thema immer wieder ansprechen und mit
ihren Beratungsleistungen die Soldatinnen bei ihrer täglichen Arbeit begleiten.
Im April bin ich zu einem Besuch in Afghanistan gewesen. In Masar-i-Scharif und in Kunduz habe ich das
Gespräch mit Soldatinnen gesucht. Sie berichteten mir,
dass sie häufig eben nicht eine Sonderstellung aufgrund
ihres Geschlechts einnehmen wollen. Sie verstehen sich
als einen gleichberechtigten Teil ihrer Einheit. Für sie
hat manche gut gemeinte Fördermaßnahme den gegenteiligen Effekt, nämlich dass sie sich dem Anschein
einer Bevorzugung ausgesetzt sehen. Das zeigt, dass die
Maßnahmen zur Förderung mit Bedacht gewählt werden
müssen. Gut gemeint kann eben schnell zum Gegenteil
von Gut werden.
Was hilft, ist keine leere Symbolpolitik, sondern konkrete Maßnahmen, die die Bundeswehr als Arbeitgeber
für Frauen attraktiver machen. In vielen Studien wird als
aktuell größte Herausforderung die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie genannt. An diesem Punkt setzen wir
ganz konkret an. Familienfreundlichkeit wird in Zukunft
einer der wichtigsten Faktoren bei der Berufswahl junger
Menschen sein. Dabei ist es entscheidend, dass sich die
Unterstützungsangebote an den realen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Soldatinnen und Soldaten orientieren.
Wir realisieren aktuell - das ist ein ganz konkretes
Beispiel - das Projekt „Zu Hause in der Bundeswehr“,
bei dem neben attraktiven Wohnmöglichkeiten für die
ganze Familie ein umfassendes Familienbetreuungsprogramm angeboten wird. Wir ermöglichen die Kostenübernahme für die Betreuung der Kinder von Soldatinnen und Soldaten, die an Fortbildungsmaßnahmen
teilnehmen. All das sind Maßnahmen, die nicht nur die
Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber für Frauen
steigern, sondern generell allen Soldaten mit Familienpflichten helfen. Wir wollen ja ein bestimmtes gesellschaftliches Berufsmodell nicht nur auf die Soldatinnen
projizieren.
Ich komme zum Schluss. Wir nutzen den laufenden
Reformprozess als Chance, um das Ziel eines ausgewogeneren Geschlechterverhältnisses innerhalb der Bundeswehr zu erreichen. „Zehn Jahre Frauen in der Bundeswehr“ ist ein Erfolgsmodell, ein Erfolg keineswegs
nur für die Frauen selbst, sondern auch ein Erfolg für die
Bundeswehr und für unsere Gesellschaft.
Vielen Dank.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute - es wurde schon mehrfach angesprochen - ist ein guter Tag für die Bundeswehr. Heute ist
aber auch ein guter Tag für die Soldatinnen und Soldaten
sowie für die zivilen Angestellten bei unseren Streitkräften, die mit der anstehenden Reform konfrontiert wurden
und werden.
Mit der heutigen Beschlussfassung zum Bundeswehrreform-Begleitgesetz setzen wir einen weiteren zentralen
Meilenstein für eine leistungsfähige und effiziente Bundeswehr der Zukunft. Zusammen mit der von unserem
Minister de Maizière diese Woche vorgestellten Realisierungsplanung geben wir unseren Soldaten und zivilen
Angestellten Entscheidungshilfen, Anreize und feste Daten an die Hand, die sie befähigen, jetzt für sich und ihre
Familien eine zufriedenstellende Zukunftsplanung zu realisieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist nicht
weniger als unsere Pflicht, für die Menschen, die mit den
Auswirkungen unserer Entscheidungen konfrontiert
werden, Planungssicherheit zu schaffen und klare Perspektiven aufzuzeigen.
Der nun final vorliegende Gesetzentwurf gibt Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft, die unser Verteidigungsminister bei der Einbringung des Gesetzentwurfs treffend formuliert hat - ich zitiere -:
Wir brauchen weniger Personal. … Wir müssen das
richtige Personal am richtigen Platz in der Bundeswehr haben. … Wir brauchen neues Personal.
Um diese Ziele zu erreichen, haben auch wir uns im
parlamentarischen Raum eingebracht und einige Ergänzungen in den vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet. Wichtig waren für uns immer die Fragen: Reichen
die Anreize aus? Ermutigen sie Soldaten und Beamte,
die Bundeswehr freiwillig zu verlassen, einen sicheren
Arbeitsplatz aufzugeben und neue, vielleicht unsichere
Herausforderungen anzunehmen?
Ein besonderer Punkt war dabei aus meiner Sicht vor
allem die Nachbesserung beim Hinzuverdienst für vorzeitig ausscheidende Soldatinnen und Soldaten. Gerade
vor dem Hintergrund der von mir eben aufgeworfenen
Fragen zur Realisierung der Reform war es ein wichtiger
Schritt, die Hinzuverdienstgrenze für Tätigkeiten außerhalb des öffentlichen Diensts aufzuheben. Denn: Erstens. Für den Bundeshaushalt entsteht nach der Aufhebung der Grenze so gut wie keine Belastung. Zweitens.
Ganz im Gegenteil: Durch die Beschäftigungen, die
dann sozialversicherungspflichtig sind, generiert man
Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen. Drittens.
Die vorzeitig ausgeschiedenen Soldatinnen und Soldaten
werden trotz ihres Alters, wie bei der entsprechenden
Anhörung - etliche Kolleginnen und Kollegen waren dabei - durch die Bundesagentur für Arbeit bestätigt
wurde, gute Chancen auf eine Beschäftigung im ersten
Arbeitsmarkt haben.
Sehr geehrte Damen und Herren, nun komme ich zu
einem Punkt, der mir ganz persönlich - man hat es schon
gehört - am Herzen liegt: der Ost-West-Angleichung.
Ich danke dem Bundespräsidenten, der bei seinem Antrittsbesuch bei der Bundeswehr an der Führungsakademie in Hamburg folgenden Satz sagte - ich darf zitieren -:
Ich stehe vor der Bundeswehr, zu der ich seit
22 Jahren auch „meine Armee“ sagen kann.
({0})
Ja, seit 22 Jahren gibt es kein Ost und West mehr. Seit
22 Jahren sitzen Bundeswehrsoldaten mit und ohne
NVA-Vordienstzeit an einem Schreibtisch. Seit 22 Jahren kämpfen sie Seite an Seite im Auslandseinsatz. Sie
kämpfen Seite an Seite für die Sicherheit unseres geeinten Deutschlands.
Aus diesem Grund freue ich mich heute ganz besonders, dass es mit unserem Änderungsantrag gelungen ist,
einen weiteren Schritt in Richtung Gerechtigkeit bei der
Ost-West-Angleichung zu gehen, und wir nun Soldaten
mit NVA-Vordienstzeiten in der Bundeswehr bei einem
Ausscheiden die gleichen Chancen des Hinzuverdiensts
ermöglichen wie ihren Kollegen ohne diese Vordienstzeiten.
({1})
Ich möchte mich darum bei allen bedanken, die dies
ermöglicht haben, besonders natürlich bei unserem Verteidigungsminister Thomas de Maizière, aber auch bei
dem Sprecher der ostdeutschen Abgeordneten der CDU,
Arnold Vaatz, bei unserem Innenminister Dr. Hans-Peter
Friedrich - das ist hier schon angeklungen - und natür21988
lich bei all den anderen Kollegen, die daran beteiligt waren.
({2})
Herzlichen Dank für einen kleinen, aber wichtigen
Schritt zur Ost-West-Gerechtigkeit!
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Begleitung der Reform der Bundeswehr. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9954, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9340 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9986. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der SPDFraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9987. Wer stimmt dafür? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der Grünen und
der SPD abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „10 Jahre Frauen in der Bundeswehr“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8496, den Antrag der Fraktion der Grünen auf Drucksache 17/7351 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth ({1}), Marlene Rupprecht ({2}), Christoph Strässer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische
Kinderarbeit durchsetzen
- Drucksache 17/9920 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Marlene Rupprecht von der SPDFraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich weiß, dass es spät ist, und es tut mir auch leid, dass
wir jetzt noch reden müssen, aber ich denke, es ist notwendig, ab und zu ein Thema anzuschneiden, das im
politischen Geschäft nicht sehr im Vordergrund steht, zumal wir vorgestern, am Dienstag, dem 12. Juni 2012, das
zehnjährige Bestehen des Welttages gegen Kinderarbeit
begangen haben. Diese zehn Jahre sollten wir uns noch
einmal in Erinnerung rufen. Es ist also noch gar nicht so
lange her, dass wir uns weltweit darauf einigen konnten,
dass Kinderarbeit, und zwar ausbeuterische Kinderarbeit, in keiner Gesellschaft, egal wie sie beschaffen ist,
geduldet werden kann.
Für alle Jugendlichen und jungen Menschen: Es ist
gesetzlich klar geregelt, unter Kinderarbeit wird nicht
das Mithelfen im Haushalt verstanden; das vielleicht zur
Klarstellung. Nicht dass ein Kind morgen ankommt und
sagt: Ich bringe den Müll nicht mehr hinaus, weil das
Kinderarbeit ist. - Nein, das ist damit nicht gemeint.
Hier geht es um ausbeuterische Kinderarbeit, vor allem
in Ländern der Dritten Welt.
200 Millionen Kinder werden in ihrem Leben wirklich massiv von Kinderarbeit beeinträchtigt. Sie werden
ausgenutzt: in Fabriken zum Teppichknüpfen, in Steinbrüchen zum Steineschlagen, auf dem Feld zum Ernten,
und zwar in einer Art und Weise, dass ihre körperliche
und seelische Entwicklung massiv darunter leidet und
sie von jeglicher Bildung ferngehalten werden. Darum
geht es.
Marlene Rupprecht ({0})
Ich will mich nicht hier hinstellen - ich glaube, das
wird keiner von uns tun - und sagen: Wir sind die besseren Menschen, und wir wissen, worum es geht. - Nein,
es geht darum, dass ausbeuterische Kinderarbeit eine
ganz massive Menschenrechtsverletzung ist. Wir wissen
auch, dass Kinder nicht deswegen ausgebeutet werden,
weil ihre Eltern sie misshandeln wollen, sondern Kinder
werden ausgebeutet, weil Armut und Not so groß sind.
Deshalb müssen alle eingesetzten Maßnahmen dazu führen, dass Eltern ebenfalls aus ihrer Armut herauskommen, dass Kinder Bildung wahrnehmen können. Das
heißt, es braucht ein ganzes Maßnahmenbündel, damit
Kinderarbeit in diesen Ländern ein Ende hat.
({1})
Das ist die Grundvoraussetzung. Es geht hier nicht
um Gutmenschentum und auch nicht darum, unser Gewissen zu beruhigen. Nein, es geht darum, mit diesen
Ländern Verhandlungen zu führen, Projekte mitzufinanzieren, um Bildung zu ermöglichen, dass Kinder die
Schule besuchen können. Doppelt ausgebeutet sind
Mädchen, die sehr häufig verkauft werden, um in Haushalten als Sklavinnen zu arbeiten.
Was brauchen wir? Nachdem die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland voll ratifiziert und ohne Ausnahme anerkannt ist, ist sie Gesetz. Das heißt, jeder, der
sich nicht daran hält, begeht einen Gesetzesbruch. Es ist
notwendig, dass bei allen Maßnahmen, die wir ergreifen,
die Kinderrechte und die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation eingehalten werden. Auch
das Vergaberecht muss eingehalten werden; denn dort
steht eindeutig, dass all diese Belange zu berücksichtigen sind.
Wenn all das gemacht wird, haben wir eine Chance,
dass keine billigen Produkte auf den deutschen bzw. den
europäischen Markt gelangen, die durch ausbeuterische
Kinderarbeit entstanden sind, das heißt, dass Kinder
dazu benutzt werden, damit es uns gut geht.
Welches Problem haben wir als Verbraucher? Wir haben eine Vielfalt an Zertifikaten. Ich habe heute einmal
im Internet nachgeschaut: Angesichts der vielen Zertifikate und Siegel ist der Verbraucher völlig hilflos und
weiß nicht mehr, welche Zertifizierung dafür steht, dass
dieses Produkt ohne Kinderarbeit gefertigt wurde. Deshalb brauchen wir einen runden Tisch oder Ähnliches;
Versuche dazu sind schon unternommen worden. Die
Wirtschaft, die Politik, Abgeordnete, Regierung und
NGOs, Nichtregierungsorganisationen, die vor allem in
den Ländern aktiv gegen Kinderarbeit tätig sind, müssen
sich zusammensetzen und sich dann auf gemeinsame Label oder Zertifikate verständigen, damit das Ganze für
die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich durchschaubar
ist.
Wir müssen die Menschen aufklären, was Kinderarbeit wirklich bedeutet, statt das Thema beiseitezuschieben. Vor nicht einmal einem Jahrhundert gab es das auch
bei uns in Europa. Denken Sie nur an die Ausbeutung
der Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg, die im
Sommer über die Alpen zogen. Auch dem haben wir einen Riegel vorgeschoben und die Lebenssituation der
Menschen so verändert, dass das nicht mehr stattfindet.
Warum um Himmels willen soll es uns nicht gelingen,
weltweit für Kinder solche Lebensbedingungen zu
schaffen, dass es ihnen besser geht?
({2})
Dies muss die vornehmste Pflicht von Parlamenten und
Regierungen sein. Es muss ein Kernthema sein statt irgendein Nebenthema.
({3})
Dazu müssen wir auch die entsprechenden Organisationen in den Zielländern unterstützen, die versuchen, massiv dagegen vorzugehen. Wir haben die Mittel zurückgefahren, statt sie auszubauen.
Über 200 Millionen Kinder davor zu bewahren, halte
ich für eine richtig große Aufgabe. Deshalb reden wir
heute Abend über dieses Thema. Ich weiß, wie schwer es
Ihnen um diese Uhrzeit fällt,
({4})
zumal noch viele Themen auf der Tagesordnung stehen
und wir bis Mitternacht beraten. Ich hoffe, dass wir
heute Abend einen Konsens erzielen - deshalb haben wir
unseren Antrag vorgelegt - und alle Maßnahmen gemeinsam ergreifen und umsetzen, damit wir die Kinderarbeit künftig nicht mehr zum Thema machen müssen.
Vielen Dank.
({5})
Es spricht der Kollege Eckhard Pols für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Indien knüpfen Kinder bis zu 16 Stunden am Tag Teppiche. In Ägypten verätzen sich Kinder ihre Hände in Gerberlauge. In Kambodscha werden Kinder wie Waren als
Prostituierte oder Farmarbeiter nach Thailand verkauft.
All diese Kinderschicksale sind Beispiele für ausbeuterische Kinderarbeit.
Diese Kinderarbeit hat viele Gesichter: Sie kann in
Familien, in privaten Haushalten, in Form von Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft oder kommerzieller sexueller Ausbeutung stattfinden, in der Industrie und in der
Landwirtschaft. Kinderarbeit raubt Kindern nicht nur
ihre Kindheit, sondern auch ihre Würde und ihre Gesundheit. Als Mitglied der Kinderkommission stehen für
mich bei jeder gesetzgeberischen Initiative das Wohlergehen und der Schutz von Kindern stets im Vordergrund.
Maßstab unseres Handelns in der Kinderkommission
sind in erster Linie die in der UN-Kinderrechtskonvention garantierten Rechte. Rechtsklarheit in Bezug auf
Kinderarbeit bringt Art. 32 der Kinderrechtskonvention.
Danach hat jedes Kind das Recht, vor wirtschaftlicher
Ausbeutung geschützt zu werden. Insbesondere dürfen
Kinder nicht zu einer Arbeit herangezogen werden, die
Gefahren mit sich bringt oder die Gesundheit des Kindes
oder seine körperliche, geistige, seelische, sittliche oder
soziale Entwicklung schädigen könnte. Jeder Staat, der
die Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, ist deshalb verpflichtet, Maßnahmen zum Kinderarbeitsschutz
zu ergreifen.
Meine Damen und Herren, unter uns Familien- und
Entwicklungspolitikern herrscht Einigkeit dahin gehend,
dass es ein weltweites Verbot von Kinderarbeit geben
muss. Das ist ein ambitioniertes politisches Ziel vor dem
Hintergrund, dass es für dieses komplexe und vielschichtige Problem keine einfache und schnelle Lösung
gibt. Das werden die Entwicklungspolitiker sicherlich
auch zweifelsfrei bestätigen können.
Es gilt vor allem, die Ursachen von Kinderarbeit zu
bekämpfen statt nur die Symptome. Arme Familien schicken Kinder zur Arbeit, um kurzfristiges Überleben zu
sichern. Das heißt, Armut erzeugt Kinderarbeit, welche
wiederum Armut, Ungerechtigkeit und Diskriminierung
hervorruft: ein wahrer Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.
Ich bin Ihnen eigentlich dankbar, Frau Rupprecht,
dass Sie als Opposition die Gelegenheit genutzt haben,
rechtzeitig zum Welttag gegen Kinderarbeit am 12. Juni
Ihren Antrag auf die Tagesordnung zu setzen. Ich vermisse aber in Ihrem Antrag etwas inhaltlich Neues oder
auch bisher nicht bekannte Forderungen.
({0})
Wenn man sich nämlich Ihren Antrag anschaut, stellt
man fest, dass er weitgehend inhaltsgleich mit Anträgen
aus vergangenen Jahren ist.
({1})
Wenn man dieses sehr wichtige Thema ernst nimmt,
dann muss inhaltlich mehr kommen.
({2})
Die Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit ist bereits seit vielen Jahren ein Schwerpunktthema unserer
Entwicklungspolitik. Ich scheue mich nicht davor, Ihr
Erinnerungsvermögen an dieser Stelle etwas aufzufrischen und Ihnen aufzuzeigen, dass wir bei der Bekämpfung der Kinderarbeit schon auf einem recht guten Weg
sind. In den letzten Jahren hat sich die Bundesregierung
auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene
verstärkt für die Verankerung der UN-Kinderrechtskonvention und der ILO-Übereinkommen 182 - Verbot und
unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit - und 138 - Mindestalter
für die Zulassung zur Beschäftigung - eingesetzt.
Nicht unerwähnt bleiben sollte, weil Sie das auch in
Ihrem Antrag fordern, dass Deutschland neben den USA
und Japan drittgrößter Geber im Rahmen des IPEC-Programms der ILO ist.
({3})
Bereits seit 1999 fördert die Bundesregierung dieses
Programm zur Beseitigung der Kinderarmut mit insgesamt 55 Millionen Euro.
Von elementarer Bedeutung im Hinblick auf jegliche
Maßnahmen ist für mich das Recht des Kindes auf Bildung, das in Art. 28 der UN-Kinderrechtskonvention
festgelegt ist. Wir sprechen somit von einem fundamentalen Recht von Kindern, das durch ausbeuterische Kinderarbeit ausgehebelt wird; denn Kinderarbeit verhindert
Schulbildung. Erst die Bildung von Kindern ermöglicht
ein selbstbestimmtes Leben und ein Ausbrechen aus dem
Teufelskreis der Armut.
Frau Rupprecht, es ist richtig - Sie haben es angesprochen -: Auch vor Ort, auf kommunaler Ebene, kann
gegen ausbeuterische Kinderarbeit aktiv gekämpft werden. Erfreulich ist, dass viele Länder und Kommunen in
den letzten Jahren bereits Maßnahmen ergriffen haben,
um die Beschaffung von Produkten aus ausbeuterischer
Kinderarbeit zu verhindern. Auch das deutsche Vergaberecht - Sie haben es angesprochen, Frau Rupprecht - ermöglicht es, dass öffentliche Auftraggeber zusätzliche
Voraussetzungen für die Ausführung des Auftrags vorschreiben.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich in Deutschland
mittlerweile über 250 Städte, Gemeinden und Landkreise der Kampagne „Aktiv gegen Kinderarbeit“ angeschlossen haben und damit eindeutig bekundet haben,
dass sie Kinderarbeit ablehnen.
Auch wir als Bürgerinnen und Bürger können als Verbraucher aktiv gegen Kinderarbeit werden. Produkte aus
ausbeuterischer Kinderarbeit werden in Deutschland
verkauft. Wir haben es schon gehört; Beispiele sind auch
angeführt worden. Ich nenne nur Textilien, Natursteine,
Kaffee, Kakao und auch Fußbälle.
({4})
In allen diesen und weiteren Waren kann Kinderarbeit
stecken.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Deutschland
entgegen der in Ihrem Antrag vertretenen Auffassung
sehr aktiv im Kampf gegen Kinderarbeit ist. Bund, Länder, Kommunen, Unternehmen und Bürger sind zunehmend sensibilisiert und ergreifen vermehrt Maßnahmen,
um Produkte, die durch Kinderarbeit entstanden sind, zu
ächten.
Kinderarbeit zu tolerieren, ist unvereinbar mit der Investition in Kinder; denn Investitionen in unsere Kinder
sind Investitionen in eine bessere Zukunft eines jeden
Landes.
Vielen Dank.
({5})
Katrin Werner hat für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass aktuell weltweit circa 215 Millionen Kinder arbeiten müssen. Davon werden etwa 115 Millionen unter sklavenähnlichen Bedingungen ausgebeutet.
Die Linke hat vor einem Jahr hierzu einen Antrag in
den Bundestag eingebracht. Nun hat die SPD einen Antrag vorgelegt. Ich finde es richtig, dass wir mit Blick auf
den vorgestrigen Internationalen Tag gegen Kinderarbeit
erneut dieses Thema aufgreifen.
({0})
Die Länder der Dritten Welt sind von ausbeuterischer
Kinderarbeit besonders betroffen. Die wichtigste Ursache ist Massenarmut. Kinder arbeiten überall dort, wo
ihre Eltern bitterarm sind. Die Kinder werden in Steinbrüchen, in der Sexindustrie, auf Plantagen oder in Privathaushalten ausgebeutet. Laut UNICEF bekommen
vier von fünf Kindern für ihre Arbeit noch nicht einmal
einen Lohn. Allein in Indien arbeiten circa 150 000 Kinder als Arbeitssklaven in häufig lebensgefährlichen
Steinbrüchen. Die schwere körperliche Arbeit führt zu
Hauterkrankungen, Atemproblemen, gebrochenen Armen und Beinen, Taubheit und Blindheit. Zahlreiche
Kinder sterben an den Folgen dieser Arbeit. Ausbeuterische Kinderarbeit ist für uns moderne Sklaverei und gehört abgeschafft.
({1})
Die sozialen Ursachen für diese Kinderarbeit müssen
in den betroffenen Ländern bekämpft werden. Hierbei
muss die Bundesregierung die Bekämpfung der Massenarmut weitaus stärker unterstützen. Stattdessen hat
Deutschland aber seit Jahren die vereinbarte Zusage,
0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, bis heute nicht erfüllt. Es werden nur 0,4 Prozent bereitgestellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist wichtig,
dass Deutschland im Jahr 2002 das ILO-Übereinkommen über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur
Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit
ratifiziert hat. Allerdings zählt Deutschland auch zu den
Absatzmärkten für Produkte aus dieser Kinderarbeit. Die
Linke unterstützt deshalb den Beschluss des Bundesrates
vom 9. Juli 2010, möglichst auch den Marktzugang von
Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu verhindern. So stammen zum Beispiel allein zwei Drittel aller
Grabsteine auf deutschen Friedhöfen ursprünglich aus
Indien, wo die Steine von Kindern abgeschlagen werden.
Was ist mit dem von Kindern abgebauten Marmor?
Was ist mit der Goldkette aus Afrika? In Burkina Faso
arbeiten zwischen 60 000 und 200 000 Kinder in Goldminen. Rund 70 Prozent von ihnen sind unter 15 Jahren.
Schon Fünfjährige müssen beim stundenlangen Goldwaschen im kalten, schlammigen Wasser mithelfen. Daran
verdienen sich internationale Großkonzerne eine goldene Nase. Das müssen wir verhindern.
Wir fordern: Wir brauchen umgehend ein gesetzliches, möglichst EU-weites Verbot für die Einfuhr, den
Handel und die Verwendung von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit.
({2})
Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge durch Bund, Länder und Kommunen muss öffentlich gemacht werden, ob
die ILO-Konventionen gegen Kinderarbeit im Herkunftsland und in der Lieferkette lückenlos eingehalten
werden. Für die Linke gehört beides zusammen: Marktzugangssperren bei uns und Bekämpfung der sozialen
Ursachen der Kinderarbeit in den Entwicklungsländern.
({3})
Nur dann haben Kinder und Eltern eine Zukunft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der weltweite
Schutz der Kinderrechte muss Vorrang vor Profitinteressen von Unternehmen haben. Darüber muss über die
Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit bestehen. Der Antrag der SPD spricht wichtige Punkte an, über die wir in
den Ausschüssen reden müssen. Kinder sind unsere Zukunft und brauchen unseren besonderen Schutz.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Pascal Kober spricht jetzt.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation,
ILO, zufolge sind auch heute noch 215 Millionen Kinder
weltweit gezwungen, zu arbeiten. Rund 115 Millionen
dieser Kinder müssen sogar den schlimmsten, weil besonders gefährlichen Formen von Arbeit nachgehen. Sie
schmuggeln Drogen, sie müssen in Steinbrüchen arbeiten, und sie werden gezwungen, sich zu prostituieren
oder als Soldaten in den Krieg zu ziehen.
Vergangenen Dienstag fand der Welttag gegen Kinderarbeit statt. Angesichts der geschilderten Fakten soll
uns dieser Gedenktag ermahnen, in unseren Bemühungen um eine weltweite Ächtung ausbeuterischer Kinderarbeit nicht nachzulassen.
({0})
Ausbeuterische Kinderarbeit ist in den meisten Fällen
eine Folge der Armut der Eltern. Viele Familien sind darauf angewiesen, dass ihre Kinder zum Einkommen beitragen; denn die allermeisten Eltern - davon bin ich
überzeugt - würden ihre Kinder niemals zur Arbeit schicken, wenn sie nicht äußerste Not dazu zwingen würde.
Wir haben es hier jedoch mit einem Teufelskreis aus
Armut, ausbeuterischer Kinderarbeit und fehlender
Schulbildung zu tun; denn nicht nur kann ausbeuterische
Kinderarbeit bei diesen Kindern zu Traumatisierung und
Krankheiten führen und birgt erhebliche körperliche Gefahren bis hin zum Tod; nein, darüber hinaus mangelt es
diesen Kindern meist auch an Schulbildung. Denn während sie arbeiten müssen, können sie weder eine Schule
besuchen noch eine Ausbildung erhalten. Dadurch verlieren sie ihre späteren Chancen auf einen höher qualifizierten Arbeitsplatz und bleiben selbst in der Armut wie
ihre Eltern gefangen. In der Folge werden ihre eigenen
Kinder wieder Gefahr laufen, arbeiten zu müssen; denn
wenn die Not der Eltern groß genug ist, ist auch die Not
groß, ihre eigenen Kinder als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. So wird dieser Teufelskreis an die nachfolgende Generation vererbt.
Um dieses Problem anzugehen, müssen wir an vielen
Stellen gleichzeitig ansetzen. Beispielsweise wirken die
Bundesregierung und die Deutsche Botschaft in Taschkent
auf vielen Ebenen auf die Regierung Usbekistans ein, wo
ausbeuterische Kinderarbeit nach wie vor ein drastisches
Problem darstellt. Ich möchte meine Rede auch nutzen,
um auf die kläglichen und unhaltbaren Zustände bei der
dortigen Baumwollernte exemplarisch aufmerksam zu
machen. Zwar hat Usbekistan bereits die ILO-Konventionen zur Abschaffung von Zwangsarbeit und zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit ratifiziert, dennoch ist bisher kaum erkennbar, dass den
Unterschriften auch entsprechende Maßnahmen zur Umsetzung folgen. Im Gegenteil: Die usbekische Regierung
weigert sich beharrlich, eine unabhängige ILO-Untersuchungskommission einreisen zu lassen.
Die FDP-Bundestagsfraktion verurteilt diese Arbeitseinsätze unter Zwang und den Einsatz von Kinderarbeit.
Daher möchte ich es begrüßen, dass die Deutsche Botschaft Taschkent die jährliche Baumwollernte nicht nur
genau beobachtet, sondern sich auch bilateral, im Kreise
der Europäischen Union und in internationalen Gremien
mit Nachdruck gegenüber den usbekischen Behörden für
die Beseitigung von Kinderarbeit einsetzt, so im vergangenen Jahr bei den deutsch-usbekischen politischen
Konsultationen, beim EU-Usbekistan-Kooperationsrat
und bei der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO.
Dieses Engagement möchte die FDP-Fraktion durch einen Appell an die usbekische Regierung unterstützen,
noch in diesem Jahr eine ILO-Untersuchungskommission einreisen zu lassen.
({1})
Nicht nur das Auswärtige Amt, sondern auch das Entwicklungsministerium mit Dirk Niebel an der Spitze ist
sehr aktiv bei der Bekämpfung von Kinderarbeit.
({2})
Ein besonders positives Beispiel ist das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung geförderte Programm in Burkina Faso, das
bis 2015 mit voraussichtlich 5,6 Millionen Euro unterstützt wird. Dort nutzen Kinderhändler die weitverbreitete Armut in besonderem Maße aus. Mit der Aussicht
auf ein besseres Leben überzeugen sie Eltern davon, ihre
Kinder wegzugeben. Mehr als 160 000 Kinder sind so zu
Opfern von Kinderhandel und den schlimmsten Formen
von Kinderarbeit geworden.
Das Programm gegen Kinderarbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geht hiergegen vielschichtig vor. Neben Beratungstätigkeit gehören Theateraufführungen zu den
Themen Kinderhandel und Kinderarbeit ebenso dazu
wie die Förderung des Schulbesuchs von Mädchen. Die
ersten Ergebnisse stimmen hoffnungsvoll. In den Dörfern, die in das Programm integriert sind, stieg die Anzahl der Mädchen, die eine Schule besuchen, deutlich
an. Obwohl sich die Kampagne in erster Linie an Mädchen richtet, nahm zugleich auch der Schulbesuch der
Jungen in beachtlichem Maße zu.
Die Arbeit des Programms wird mittlerweile von der
lokalen Bevölkerung anerkannt und geschätzt. Inzwischen sprechen sich 90 Prozent der Bevölkerung in den
Schwerpunktregionen gegen Kinderhandel und gegen
Kinderarbeit aus. Die Medien in Burkina Faso berichten
regelmäßig über die Aktivitäten, was wesentlich dazu
beiträgt, dass sich das Bewusstsein in der Gesellschaft
nach und nach ändert.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
möchte betonen, dass die FDP Ihr Anliegen teilt, ausbeuterische Kinderarbeit weltweit zu ächten. Wie Sie an den
aufgeführten Beispielen jedoch sehen, ist die Bundesregierung bei der Bekämpfung ausbeuterischer Kinderarbeit bereits äußerst aktiv. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten gemeinsam die Bundesregierung auf
Ihrem Weg unterstützen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Katja Dörner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist absolut alle Energie wert und
auch nötig, ausbeuterische Kinderarbeit zu bekämpfen.
Wir sprechen hierbei über fast eine Viertelmilliarde Kinder und junger Menschen weltweit, davon rund 70 Millionen Kinder, die noch nicht einmal zehn Jahre alt sind.
Wir reden gerade nicht über Zeitungsaustragen oder einen Ferienjob, sondern wir reden über ausbeuterische
Verhältnisse, über Arbeitsverhältnisse, die zum Teil faktische Versklavung darstellen oder der Versklavung sehr
nahekommen. Das Schlimmste ist eigentlich, dass wir
registrieren müssen, dass die Zahlen wieder ansteigen.
Ich muss auch sagen, dass mir persönlich die autosuggestiven Mantras, die wir vonseiten der Regierungsfraktionen nach dem Motto „Wir sind auf einem guten Weg,
und wir machen doch schon alles“ hören, zu wenig sind.
Ich finde, die kleinen Näherinnen, die kleinen Knüpfer,
die elfjährigen Haushaltsgehilfinnen mit 70-StundenWoche, von denen ich in meiner Zeit in Afrika einige
kennengelernt habe, haben mehr Engagement verdient auch und gerade von dieser Bundesregierung.
({0})
Ich finde es gut, dass der Antrag, den wir heute beraten, deutlich macht, dass man auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen muss.
({1})
Ein einheitliches Zertifizierungssystem für die gesamte Produktions- und Lieferkette wäre ein sehr wichtiger Schritt. Mehr Informationen für die Verbraucherinnen und die Verbraucher wären auch ein deutlicher
Fortschritt, weil tatsächlich viele überhaupt nicht wissen,
dass sie es in ihrem Alltag mit Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu tun haben. Selbstverständlich
- das sollte wirklich selbstverständlich sein - muss die
Bundesregierung bei ihrer eigenen Auftragsvergabe und
Beschaffung eine Vorreiterrolle einnehmen.
Wir müssen aber vor allem den Blick auf die Ursachen von Kinderarbeit richten. Denn nur so kann dieses
Übel tatsächlich an der Wurzel gepackt werden. Die
Ursache von ausbeuterischer Kinderarbeit ist Armut
- das wurde heute Abend schon mehrfach gesagt -, also
die wirtschaftliche Situation der Familien und der Eltern,
die häufig keine andere Wahl lässt. Deshalb sind simple
Boykottappelle, wie es sie immer wieder einmal gibt,
oder auch Forderungen nach Einfuhrverboten sicherlich
gut gemeint;
({2})
aber ohne flankierende Maßnahmen können sie fatale
Folgen haben, weil sie die Situation der Kinder und ihrer
Familien zum Teil verschärfen.
Es ist von daher ganz wichtig, in der Entwicklungszusammenarbeit den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme viel stärker in den politischen Fokus zu
rücken. Wenn die Eltern in die Lage versetzt werden,
ihre Kinder selbst zu versorgen, und wenn es ein kostenloses Bildungssystem gibt, das es auch den ärmsten Kindern wirklich erlaubt, die Schule zu besuchen, dann kann
der Teufelskreis aus Armut und fehlender Bildung
durchbrochen werden.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Herausforderung ist groß. Nur eine kluge Kombination aus selektiven Verboten und staatlicher Unterstützung von Familien inklusive internationaler Sozialpolitik kann
ausbeuterische Kinderarbeit nachhaltig bekämpfen.
({3})
Aber gerade internationale Sozialpolitik kostet Geld. Für
uns Grüne ist klar - das möchte ich hier noch einmal
deutlich sagen -, dass wir zum 0,7-Prozent-Ziel stehen.
Wir sind bereit, die notwendigen Mittel im Bundeshaushalt umzuschichten.
({4})
Dass die schwarz-gelbe Bundesregierung hinter den finanziellen Zusagen, die Deutschland in der Entwicklungszusammenarbeit gemacht hat, weit zurückbleibt,
zeigt leider, wie wenig ernst es den Regierungsfraktionen mit ihren warmen Worten in Debatten wie der, die
wir heute Abend führen, ist.
Die Bundesregierung ist nicht zuletzt durch die Ratifizierung der ILO-Kernarbeitsnormen verpflichtet, aktiv
gegen ausbeuterische Kinderarbeit vorzugehen. Wenn
Deutschland im Zusammenhang mit der UN-Kinderrechtskonvention seine Vorreiterrolle behalten möchte,
dann braucht es deutlich mehr internationales Engagement. Also: weniger schöne Worte und mehr Taten.
250 Millionen Kinder heute und auch alle, die leider zukünftig wahrscheinlich von ausbeuterischer Kinderarbeit
betroffen sein werden, haben mehr Engagement verdient, auch und insbesondere von dieser Bundesregierung.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Paul Lehrieder spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Vor zwei Tagen war der Internationale
Tag gegen Kinderarbeit - Frau Kollegin Rupprecht hat
darauf hingewiesen -, der Jahrestag der Verabschiedung
der ILO-Konvention 182, in der weitreichende Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarbeit beschlossen wurden. Geht es nach der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, dann sollen bis 2016, also in vier Jahren,
weltweit die schlimmsten Folgen von Kinderarbeit ausgerottet sein - ein ambitioniertes, bei weitem noch nicht
erreichtes Ziel.
Wir alle setzen uns für eine Welt ohne Kinderarbeit
ein; hier herrscht in diesem Haus sicherlich Konsens.
Doch dieses ehrgeizige Ziel wird vor allem in der Dritten
Welt schwer zu erreichen sein. Auch hierauf hat Kollegin Marlene Rupprecht bereits hingewiesen. Ausbeuterische Kinderarbeit ist in den allermeisten Fällen schlicht
eine Folge von Armut. Viele Familien sind schlichtweg
darauf angewiesen, dass ihre Kinder zum Einkommen
beitragen.
Anlässlich des Internationalen Tags gegen Kinderarbeit hat die SPD-Fraktion vorgestern einen Antrag mit
dem Titel „Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische
Kinderarbeit durchsetzen“ vorgelegt. Dazu möchte ich
gern auf die Antwort der Bundesregierung, Drucksache 17/6662, auf Ihre Kleine Anfrage, Drucksache 17/6545, zu diesem Thema verweisen. In dieser
Antwort, bereits vom 25. Juli 2011, ist ausführlich dargestellt, welche vielfältigen Maßnahmen Deutschland
beim Kampf gegen Kinderarbeit bislang ergriffen hat.
Die Bundesregierung unterstützt die ILO seit Jahren
im Kampf gegen Kinderarbeit. So setzt sie sich für die
weltweite Ratifizierung der ILO-Konvention 182 zur
Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit
ein. Darüber hinaus setzt sich die Bundesregierung auch
für eine Verankerung dieser Normen in der Arbeit des
Internationalen Währungsfonds und der Weltbankgruppe
ein.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit fördert
bereits seit Anfang der 1990er-Jahre das Internationale
Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit, IPEC, der
ILO. Es unterstützt die teilnehmenden Länder bei der
Umsetzung von Strategien zur Bekämpfung der Kinderarbeit. Seit Gründung der für die Beseitigung der
Kinderarbeit zuständigen ILO-Abteilung, IPEC, war
Deutschland eine der größten Geldgeber; die Kollegen
haben bereits darauf hingewiesen.
Nachdem Frau Kollegin Rupprecht sehr viel Richtiges und Richtungsweisendes - ich kann das nicht zu jeder Rede sagen - zu diesem Thema bereits ausgeführt
hat, beziehe ich mich auf die Worte meiner Vorredner,
der Kollegin Marlene Rupprecht, des Kollegen Pols, und
gönne Ihnen die zwei Minuten und 30 Sekunden, die ich
noch an Redezeit hätte. Ich wünsche Ihnen noch einen
schönen Abend und nachher dem einen oder anderen
viel Spaß bei dem Sommerfest der DPG.
Herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Rebmann hat seine Rede netterweise zu
Protokoll gegeben,1) sodass wir am Ende der Aussprache
sind.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9920 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Kauder, Ute Granold,
Erika Steinbach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Marina Schuster, Serkan Tören, Pascal Kober,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Fortbestand des Klosters Mor Gabriel sicherstellen
- Drucksachen 17/9185, 17/9914 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Angelika Graf ({1})
Katrin Werner
Volker Beck ({2})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Graf ({3}), Klaus Brandner,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Kloster Mor Gabriel weiter schützen
- Drucksache 17/9921 -
Es wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu
geben.2) - Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren
wir so und kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9914, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/9185 anzu-
nehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung
durch die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Die
Linken haben dagegen gestimmt, die SPD hat sich ent-
halten.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/9921 mit dem Titel „Kloster Mor
Gabriel weiter schützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abge-
lehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion
und Bündnis 90/Die Grünen. Alle anderen waren dage-
gen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rio 2012 - Nachhaltige Entwicklung jetzt um-
setzen
- Drucksache 17/9922 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
1) Anlage 7 2) Anlage 8
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Eva Bulling-Schröter, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rio+20 - Globale Gerechtigkeit statt grüner
Kapitalismus
- Drucksachen 17/9732, 17/9988 Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Heiderich
Dr. Bärbel Kofler
Harald Leibrecht
Ute Koczy
Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Somit eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort
dem Kollegen Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Präsidentin, Sie haben sich eben bei einem Kollegen bedankt, weil er seine Rede netterweise zu Protokoll
gegeben hat. Ich will an dieser Stelle sagen, dass ich es
für gerechtfertigt und angezeigt halte, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt nicht zu Protokoll zu geben
und ihm einen Platz in diesem Plenum zu geben.
Warum? In der nächsten Woche trifft sich die Staatengemeinschaft dieser Welt, um in Rio de Janeiro über
Nachhaltigkeit zu diskutieren. 20 Jahre nach dem ersten
Weltgipfel trifft sich die Staatengemeinschaft, um die
großen Probleme dieser Zeit und die großen Probleme
für zukünftige Generationen miteinander zu besprechen
und zu diskutieren.
Ich glaube, es ist ein bisschen symptomatisch, dass
wir diesen Punkt heute erst zu so später Stunde diskutieren. Der Begriff der Nachhaltigkeit findet zwar in mehr
oder weniger jeder Politikerrede seinen Platz. Aber
Nachhaltigkeit ist inzwischen zu einem Begriff verkommen, der beliebig verwendet wird.
({0})
Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Parlament
und dass die deutsche Bundesregierung diesen Begriff
und diese Entwicklung, die 1992 in Rio de Janeiro begann, mit neuem Leben erfüllen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, 20 Jahre nach Rio blicken wir auf
eine Bilanz, angesichts derer wir uns eingestehen müssen, dass wenig von dem erfüllt wurde, was man sich
1992 vorgenommen hat. Wir haben weiter exorbitant
steigende CO2-Emissionen, noch nie lebten so viele unter der Armutsgrenze, und wir haben einen täglichen
Verlust biologischer Vielfalt. All die Dinge, die wir brauchen, um auf diesem Planeten zu leben, reißen wir als lebende Generation tagtäglich nieder. Das darf so nicht
weitergehen. Da müssen wir etwas verändern.
({1})
Es ist symptomatisch, dass die Bankenrettung, die
Rettung des Finanzsystems ganz oben auf der Tagesordnung steht - möglicherweise zu Recht.
({2})
Ich sage Ihnen, Herr Kollege Brand: Ich bin fest davon
überzeugt, dass wir miteinander ein Finanzsystem, ein
Bankensystem retten können. Aber bei den Punkten, die
ich eben aufgezählt habe - da geht es um Schöpfung, um
Ressourcen -, haben wir ein Gegenüber, mit dem wir
nicht verhandeln können. Das müssen wir Politiker,
liebe Kolleginnen und Kollegen, endlich begreifen,
wenn wir das Umsteuern ernst meinen.
({3})
Es kann nicht so sein, dass wir die Ressourcen, von
denen wir heute wissen, dass sie endlich sind - beispielsweise das Öl; da ist der Zenit schon längst überschritten -, weiter verantwortungslos ausplündern, obwohl wir wissen, dass die Weltbevölkerung in den
nächsten Jahren massiv zunehmen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer diesen Pfad nicht erkennt, der
handelt verantwortungslos gegenüber allen Generationen, die nach uns kommen.
({4})
Es ist bedauerlich, dass die Kanzlerin zum G-20-Gipfel nach Mexiko reist, es aber nicht auf sich nimmt, im
Anschluss ein paar Hundert Kilometer weiterzufliegen.
({5})
- Zumindest müsste sie nicht mehr über den großen
Teich, Kollege Kauch; sie ist ja dann schon auf diesem
Kontinent. - Die Kanzlerin bringt es nicht zustande, das
zu machen, was Helmut Kohl 1992 beim ersten Weltgipfel gemacht hat, was Gerhard Schröder beim Weltgipfel
in Johannesburg zehn Jahre später gemacht hat, nämlich
dort im Sinne der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie für
einen anderen Weg zu werben.
({6})
Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung, dass die Kanzlerin diese Kraft nicht aufbringt,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Worum ginge es? Es ginge darum, Vertrauen herzustellen, Vertrauen bei den Staaten herzustellen, die
augenblicklich noch festhalten am alten Denken, die
festhalten am alten Energiesystem der fossilen Energieversorgung oder an einem Energiesystem, von dem
gesagt wird, das sei die neue grüne Technologie, nämlich
an der Atomkraft. Wir könnten in Rio aktiv und offensiv
für den anderen Weg werben, den wir in diesem Haus
inzwischen in großem Konsens vereinbart haben. Wir
könnten für den Umstieg werben.
Auf der internationalen Ebene hat das viel mit Symbolik zu tun. Wenn die Bundesrepublik Deutschland dort
lediglich mit zwei Ministern vertreten ist - ich sage das
nicht abwertend - und nicht mit der Staatschefin, dann
zeigt das, wie ernst die Bundesregierung diese Entwicklung letztlich nimmt und wie ernst sie letztlich auch den
Weg ins neue Zeitalter, ins nachhaltige Zeitalter, nimmt,
liebe Kolleginnen und Kollegen - ein fatales Signal.
({7})
Ich meine, es geht darum, dass wir den Begriff der
nachhaltigen Entwicklung mit dem versehen, was ihn
ausmacht, nämlich mit Verbindlichkeit. Wir werden
darum kämpfen müssen. Ich bin mir sicher, dass die Parlamentariergruppe und die beiden Bundesminister versuchen werden, dort in großer Einigkeit zumindest dafür
zu werben. Wir werden versuchen, die Verbindlichkeit
durch klare Zielsetzungen bei den unterschiedlichsten
Themen - Armutsbekämpfung, Klimawandel, Erhalt der
biologischen Vielfalt - zu normieren.
Wir werden dafür kämpfen müssen, dass dort ein klares Zeitraster beschrieben wird, dass es möglicherweise
auch länderspezifische Angebote gibt, die auf Stärken
und Schwächen der jeweiligen Länder Rücksicht nehmen. Wir werden aber vor allen Dingen darum kämpfen
müssen, einen institutionellen Rahmen zu schaffen. Das
darf nicht darin münden, dass eine UN-Laberbude entsteht, in der man sich gegenseitig beteuert, wie wichtig
Nachhaltigkeit ist, die aber kein Gremium mit Zähnen
ist, das tatsächlich auch die nationale Politik beeinflussen kann.
Um diese Fragen werden wir ringen. Wir wissen, dass
die Rahmenbedingungen augenblicklich nicht günstig
sind. Umso wichtiger wäre es, unsere Argumente dort
mit großer Schlagkraft vorzubringen, und umso bedauerlicher ist die Nichtteilnahme der Bundeskanzlerin an dieser Konferenz.
Von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD liegt heute
ein Antrag vor, in dem wir sehr viele Punkte aufgeschrieben haben, aus denen sich deutlich ergibt, welche
Handlungsfelder vor uns liegen. Diese Handlungsfelder
betreffen die Existenz der Menschheit. Das muss uns
klar sein.
Ich wünsche mir, dass der Stellenwert der nachhaltigen Entwicklung in der UN, aber vor allen Dingen auch
in diesem Haus mehr Beachtung erfährt. Ich glaube, wir
sind aufgerufen, dort mit möglichst einer Stimme zu
sprechen. Die Weltgemeinschaft braucht eine starke
Stimme der Nachhaltigkeit. Ich verspreche mir von der
Teilnahme der Parlamentarier, dass sich der Spirit, also
der Geist, wie er auf der Rio-Konferenz im Jahre 1992
geherrscht hat, auf die Parlamente dieser Welt auswirkt.
Es sollte nicht nur eine Regierungskonferenz sein. Es
sollten nach dieser Konferenz Gesetze folgen, denen
man entnehmen kann, dass Nachhaltigkeit auch im Gesetz ein Gesicht bekommt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Mir liegt sehr daran, deutlich zu machen, dass es nicht
so ist, dass es mich gefreut hat, als Herr Rebmann seine
Rede zu Protokoll gegeben hat. Ich hätte ihn sehr gerne
gehört, und er hätte sehr gerne geredet. Für den Fortgang
der Sitzung war es aber sehr wichtig, dass sich das Präsidium nicht auflöst. Insofern bitte ich, mich nicht falsch
zu verstehen.
Ich rufe jetzt den Kollegen Göppel für die CDU/CSUFraktion auf.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich teile die Meinung des Kollegen Matthias Miersch,
dass diese Konferenz auch von uns mehr Beachtung verdient. In einem allerdings, lieber Freund Matthias
Miersch, bin ich beruhigter: Nachhaltigkeit kann man
zwar zu einem beliebigen Wort machen. Als Förster sage
ich aber: Die Gesetze der Natur kann der Mensch durch
Nichtbeachtung nicht außer Kraft setzen. Die Natur wird
sich wieder melden. Es ist nur die Frage, wie viel Leid
bis dahin über Menschen in verschiedenen Erdteilen
gebracht wird. Es liegt jetzt in unserer Verantwortung, zu
handeln.
Es macht sich allerorten Ernüchterung breit. Es wird
viel über Klein-Klein geredet. Es wird gesagt, vor
20 Jahren gab es eine große Aufbruchstimmung. Das
stimmt auch. Diejenigen unter uns, die dies damals in
den Medien oder direkt vor Ort verfolgen konnten, wissen, dass nach der Überwindung der Ost-West-Konfrontation eine geradezu euphorische Stimmung herrschte.
Aus diesem Geist heraus war bei der ersten Rio-Konferenz manches möglich. Ich erwähne die Agenda-21Gruppen, die bis in die letzte Gemeinde hinein gewirkt
haben und zum Teil heute noch aktiv sind.
Schaut man sich die vergangenen 20 Jahre an, so stellt
man positive Entwicklungen fest: der rasante Aufwuchs
der erneuerbaren Energien oder das Heranwachsen der
Zivilgesellschaft zu einer mächtigen Bewegung, die über
das Internet die Entwicklungen in dieser Welt beeinflussen kann. Diese Dinge können die Grundlage für eine
neue Bewegung sein, die von dieser Konferenz ausgeht.
Ich halte das Ziel der Rio-Konferenz, weltweit globale Nachhaltigkeitsziele festzulegen - eines von drei
Zielen -, für richtig. Wenn es solche Ziele gibt, dann
können Menschen in verschiedensten Ländern auch darauf Bezug nehmen und sie einfordern. Das ist so ähnlich wie bei der Agenda 21.
Nehmen wir die Wissenschaft. Ich nenne hier den
WBGU, den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“. Er spricht von
der großen Transformation, die notwendig ist. Ins Deutsche übersetzt, heißt dies, dass wir unser Leben und
Wirtschaften in Einklang mit der Natur bringen. Eine
solche Entwicklung hat viele Facetten: eine Energieversorgung, die kleinteiliger ist, die auf erneuerbare Quellen
baut und die auch von den Menschen in den Entwicklungsländern gehandhabt werden kann, oder auch eine
Bewegung, die nicht auf das Besitzen von Dingen, sondern auf das Nutzen von Dingen abstellt. Dies bringt
eine ganz andere Art des Wirtschaftens und der Nachhaltigkeit in Gang: Wenn etwa jemand Dinge vermietet,
dann haben der Hersteller und der Vermieter ein Interesse daran, dass diese Sachen möglichst lange genutzt
werden können. Deswegen sehe ich - ich sage es noch
einmal - auch sehr positive Aspekte.
Entscheidend ist aber immer, was wir in unserem
eigenen Land machen. Hier steht die Energiefrage im
Mittelpunkt. Es geht darum, die Energiewende entschlossen weiterzuführen, und zwar in der Weise, dass
wir unsere Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen
vorantreiben.
Die japanische Regierung und das Parlament in Tokio
haben übrigens erst jüngst das Motto ausgegeben, Japan
solle die energieeffizienteste Volkswirtschaft der Welt
werden. Dieses Motto will man dann auf die Märkte der
Welt übertragen, das heißt Exportieren zum eigenen Nutzen.
Minister Altmaier hat im Umweltausschuss betont,
dass bereits im Vorfeld der Konferenz von Rio viele Anfragen an ihn gerichtet wurden, er möge doch über die
deutsche Energiewende berichten. Dieses Experiment
wird in der Welt aufmerksam beobachtet; viele Menschen knüpfen Hoffnungen daran. In der Tat gibt es kein
anderes Land, das einen so entschlossenen Weg geht wie
Deutschland.
In Rio kursiert ein zweites Schlagwort: Green Economy. Manche sagen, Green Economy sei ein Wolf im
Schafspelz.
({0})
Warum? Weil effizientere Autos bei zugleich immer
schwereren Fahrzeugen oder immer intensiverer Nutzung letztlich doch ein Mehr an Umweltbelastungen mit
sich bringen. Wir müssen sicherlich aufpassen, dass es
wirklich zu Entlastungen und nicht zu neuen Belastungen kommt. Trotzdem halte ich den eingeschlagenen
Weg für richtig. Die Richtung stimmt, wenn beispielsweise der Bundesverband der Deutschen Industrie gemeinsam mit dem Bundesumweltminister ein entsprechendes Memorandum unterschreibt.
Ich darf noch einmal auf unsere Verantwortung
zurückkommen. Wir haben den Weg der Energiewende
beschritten. Diejenigen, die auf diesem Weg umkehren
wollen, schaden letztlich unserem Land, weil die fossilen Energien keine dauerhafte Zukunftsperspektive für
unseren Planeten bieten.
({1})
Deswegen ist die deutsche Energiewende richtig. Es
liegt in unserer Verantwortung, diesen Weg erfolgreich
zu gehen. Dann tun wir am meisten für den Gedanken
der Nachhaltigkeit in der Welt.
({2})
Heike Hänsel hat das Wort für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Göppel hat die Aufbruchsstimmung im
Jahr 1992 angesprochen. Ich habe diese Zeit als Studentin miterlebt. Nach der Blockkonfrontation gab es in
ganz Europa oder sogar weltweit die Hoffnung auf die
sogenannte Friedensdividende. Man wollte die Einsparungen, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges
durch die Senkung der Rüstungsausgaben ergeben hatten, für nachhaltige Entwicklung einsetzen.
Damals gab es im Zuge dieser Aufbruchsstimmung
die Idee der lokalen Agenden; das bedeutete, die konkrete Verantwortung in den Kommunen zu organisieren.
Viele Hunderttausende Menschen und etliche Gruppen
haben sich damals auf den Weg gemacht; auch ich habe
mich engagiert. Heute gibt es diese Aufbruchsstimmung
nicht mehr. Wenn wir nach nunmehr 20 Jahren Bilanz
ziehen und prüfen, wo wir heute stehen, dann stellen wir
fest, dass wir die höchsten Rüstungsausgaben zu verzeichnen haben, die weltweit jemals existierten, nämlich
mehr als 1 Billion Dollar jährlich. Das ist das Zehnfache
dessen, was für den Bereich der Entwicklung ausgegeben wird.
Deshalb unterstützen wir zum Beispiel eine Initiative,
die im Vorfeld des Rio-Gipfels von Friedensnobelpreisträgern ins Leben gerufen wurde. Sie heißt „Abrüsten für
nachhaltige Entwicklung“.
({0})
Diese Initiative sieht vor, bei den Rüstungsausgaben mindestens 10 Prozent jährlich einzusparen und diese Ersparnisse in einem Fonds bei den Vereinten Nationen anzulegen, um dadurch Armut und Hunger zu bekämpfen. Das
ist eine sehr gute Initiative. Sie steht natürlich im Gegensatz zu dem, was ansonsten auf dem Gipfel diskutiert
wird.
Es wurde schon erwähnt: Es geht nicht mehr um
Nachhaltigkeit; das neue Schlagwort heißt Green Economy. Wenn wir uns das genau anschauen, erkennen wir
darin eigentlich nichts anderes als grünen Kapitalismus:
Weitere Bereiche des Lebens soll einer Profitlogik unterstellt werden. Mit nachhaltiger Entwicklung war etwas
ganz anderes gemeint. Da ging es auch um die soziale
Dimension der Entwicklung, nicht nur um eine ökologische Erweiterung und Erschließung neuer Märkte mit
sogenannter grüner Technologie. Deswegen sagen wir:
Wir wollen diese Form des grünen Kapitalismus nicht;
wir wollen eine ernsthafte nachhaltige Entwicklung.
({1})
Das heißt eben auch, dass neue Technologien in solidarischer Zusammenarbeit zur Verfügung gestellt werden, dass sie nicht als Exportschlager genutzt werden,
um neue Märkte zu erschließen, sondern dass sie weltweit allen Ländern zur Verfügung gestellt werden, damit
sie sich nachhaltig entwickeln können. Das ist ein anderer Ansatz. Da geht es nicht um das Zu-Tode-Konkurrieren mit den neuesten Solarzellen, sondern darum, das
Wissen untereinander zu teilen, um diesen Planeten zu
retten. Da können wir viel von den Ländern des Südens
lernen: In Lateinamerika wird eine solidarische Ökonomie, eine Wirtschaft des gegenseitigen Ergänzens erprobt.
({2})
Es geht um die Frage: Wo sind Stärken und Schwächen?
In meinen Augen geht es hier um die zentralen Fragen
des 21. Jahrhunderts. Wenn wir die ökologische Herausforderung ernsthaft annehmen wollen, dann können wir
es nicht mit denselben Mitteln tun, mit denen wir überhaupt erst in die ökologische Krise geraten sind. Die
große Frage wird eben sein: Wie organisieren wir den
Zugang zu Ressourcen, zu Rohstoffen? Da sind wir der
Meinung: Wir brauchen weltweit eine ganz neue Verteilung des Reichtums, von Nord nach Süd und innerhalb
der Länder von oben nach unten. Wir müssen die Ressourcen teilen. Wir können nicht mehr so weitermachen.
({3})
Ganz konkret fordern wir deswegen auch einen Kompensationsfonds bei den Vereinten Nationen. Zum Beispiel könnte ein neuer Rat für nachhaltige Entwicklung,
wie er von verschiedenen Beratern von Ban Ki-moon
vorgeschlagen wird, solche neuen Instrumente entwickeln.
Der Rat könnte sich mit den grundsätzlichen Fragen auseinandersetzen. Er könnte all die marktbasierten Instrumente, die wir bisher haben - Emissionshandel, REDD -,
hinterfragen und überprüfen: Dienen sie wirklich einer
nachhaltigen Entwicklung, oder dienen sie nur der
Durchsetzung einer Profitlogik?
Das sind für uns die Herausforderungen. Darüber
wird in Rio vor allem auf einem Alternativgipfel diskutiert. Daran wollen wir uns beteiligen. Wir werden dort
präsent sein, natürlich auch auf dem offiziellen Gipfel,
und hoffen, dass wir mit neuen Antworten zurückkommen, die über die jetzigen hinausgehen.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen bei der Nachhaltigkeitspolitik nicht am Anfang; wir
sind nicht in einer Situation von 1992. Deshalb ist die Situation auch nicht mit der von Helmut Kohl im Jahr
1992 vergleichbar.
({0})
Die Konferenz von Rio hat einen Geist geschaffen,
der viele Prozesse hervorgebracht hat, die heute fortwirken: die lokalen Agendaprozesse in den Kommunen, der
UN-Klimaprozess, die UN-Konferenz über biologische
Vielfalt und die Konferenz über nachhaltige Entwicklung. Das sind die Prozesse, in denen sich unabhängig
von den großen Gipfeln die eigentliche Arbeit in der
Nachhaltigkeitspolitik vollzieht. Denn machen wir uns
doch nichts vor: Eine Konferenz allein wird die Welt
nicht retten. Es geht darum: Was passiert im Alltag des
politischen Geschäfts?
({1})
Deshalb ist der Gipfel in Rio wichtig, aber er ist nicht
das Einzige, was wir in der Nachhaltigkeitspolitik haben.
({2})
Meine Damen und Herren, einer der wesentlichen
Punkte in Rio wird die Organisationsreform der Vereinten Nationen sein. Es geht darum, eine UN-Umweltorganisation zu schaffen, die auf Augenhöhe beispielsweise
mit der Welthandelsorganisation bestehen kann. Es geht
auch darum - das sage ich ein wenig ungeschützt -, die
schrecklichste „Laberbude“ der Vereinten Nationen namens Konferenz für nachhaltige Entwicklung in New
York durch ein sinnvolles Gremium zu ersetzen, in dem
nicht nur jedes Jahr für viel Geld gesprochen wird, sondern das dafür sorgt, dass dabei am Ende etwas für die
Bereiche Umwelt und nachhaltige Entwicklung herauskommt.
({3})
Das zweite große Thema ist die Green Economy. Wir
haben - das macht die Diskussion auf der Konferenz
schwierig - ein unterschiedliches Verständnis davon,
was Green Economy ist. Mit unserem Hintergrund
- führende deutsche Unternehmen in der Umwelttechnik, eine Energiewende, die Deutschland an die Spitze
der Industrieländer, was die Umwelttechnologie angeht,
bringt - denken wir beim Begriff Green Economy zu oft
nur daran, dass wir den Ressourcenverbrauch mindern,
Umwelttechnologien voranbringen und sie vielleicht
auch exportieren wollen. Mit einem solchen Verständnis
alleine werden wir in Rio nicht erfolgreich sein. Vielmehr geht es darum, der sozialen und der wirtschaftlichen Dimension von Entwicklung genauso ein Gewicht
zu geben wie der Frage der Ressourceneffizienz von
Umwelttechnologien; denn es sind die Entwicklungsländer, die am Schluss überzeugt werden müssen, dass das,
was wir an neuen Technologien vorschlagen, gut für ihren Entwicklungsprozess ist. Wir müssen deutlich machen, dass Armutsbekämpfung und Befriedigung von
Grundbedürfnissen in den Entwicklungsländern Teil einer Strategie für nachhaltige Entwicklung ist.
({4})
In diesem Sinne ist das, was im internationalen Kontext gerade in den Entwicklungsländern unter Green
Economy verstanden wird, ganz nah an dem, was in dem
Bericht „The Blue Economy“ an den Club of Rome vorgeschlagen wurde. Wir von der FDP haben das auf unserem Parteitag „blaues Wachstum“ genannt. Ob das
Wachstum nun blau oder grün ist, das ist nicht entscheidend.
({5})
Das Entscheidende ist, dass es um Wachstum und nicht
um Verzicht geht, dass es um Marktwirtschaft und nicht
um Sozialismus geht.
({6})
Deshalb sagen wir Ihnen ganz klar: Natürlich geht es um
einen grünen Kapitalismus; denn die marktwirtschaftliche Ordnung - das hat die Geschichte gezeigt - geht am
effizientesten und am verantwortungsvollsten mit Ressourcen um, jedenfalls im Vergleich zu allen sozialistischen Experimenten der Vergangenheit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken.
({7})
Bei der Green Economy geht es nicht nur um Verzicht
und nicht nur um Teilen, sondern es geht auch darum,
Neues zu erschaffen, nämlich neues Wissen für bessere
Produkte, die weniger Ressourcen verbrauchen. Das ist
das Wachstum von morgen und in Wahrheit das Wachstum, das wir schon heute in großen Teilen haben. Wer sich
als Vertreter der Industrieländer hinstellt und den Menschen in den Entwicklungsländern sagt, dass Wachstum
schlecht ist, weil dadurch die Grenzen unseres Planeten
überstrapaziert werden, der muss sich fragen lassen: Mit
welcher Legitimation halten wir an unserem Wohlstand
fest und wollen ihn anderen verweigern?
({8})
Es geht nicht um Verzicht und um Teilen, sondern es
geht darum, mit neuen Ideen durch weniger Ressourceneinsatz mehr Bedürfnisbefriedigung zu erreichen. Das ist
im Sinne von nachhaltigem Wachstum. Nur dann werden
wir die Entwicklungsländer auf unseren Pfad bringen,
indem sie das Zeitalter der fossilen und nuklearen Entwicklung überspringen und direkt in das Zeitalter beispielsweise der erneuerbaren Energien und der Ressourceneffizienz eintreten.
({9})
Angesichts der Aufgeregtheit der Linken bei dieser
Diskussion vergisst man, dass in diesem Parlament über
die genannten Fragen große Einigkeit herrscht. Vier
Fraktionen - mit Ausnahme der Linken - haben im
Deutschen Bundestag im Herbst letzten Jahres einen Antrag verabschiedet, der die Grundlage für die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung bildet. Ich danke
insbesondere dem Bundesumweltminister - ich sage
ausdrücklich: dem alten Bundesumweltminister und dem
neuen Bundesumweltminister - und dem Bundesentwicklungsminister dafür, dass sie die Positionen des Parlaments sehr aktiv eingebracht haben und die Delegation
des Deutschen Bundestages auf der Konferenz sehr
nachdrücklich unterstützen werden; denn es ist von zentraler Bedeutung, dass die Rolle der Parlamente im internationalen Prozess beim Thema Nachhaltigkeit gestärkt
wird.
Herr Kollege.
Ich komme zum Ende. - Gerade die Parlamente in
den Schwellenländern bringen oft Innovationen ein,
wenn es um die Position ihrer Länder geht. Deshalb ist
es wichtig, dass wir mit unserer Parlamentarierdelegation nach Rio fahren, dort mit anderen Parlamentariern
sprechen und gemeinsam neue Ideen entwickeln.
Vielen Dank.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Valerie
Wilms das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Rio wird 20. 20 Jahre nach
dem Erdgipfel für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio
de Janeiro lädt Brasilien erneut zum Gipfel, zur UNKonferenz für nachhaltige Entwicklung.
Jubiläen werden in der Regel gefeiert. Zum Feiern
bietet der Gipfel aber keinerlei Anlass. Die Agenda 21
ist vielen Menschen kaum noch ein Begriff. Die internationalen Verhandlungen zum Klimaschutz und zur Biodiversität stagnieren seit langem. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind aber größer geworden:
Auf der Erde wird es deutlich enger, die Bevölkerung
nimmt weiter zu, und die Erderwärmung wird uns wertvolles Land kosten. Besonders dramatisch ist, dass gerade die ärmsten Länder am meisten darunter leiden
müssen, während die hochentwickelten Staaten die Probleme verursachen; denn wir haben diese Erde innerhalb
kürzester Zeit an ihre Grenzen gebracht.
({0})
Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, dem ich angehöre, sind wir uns über alle Fraktions22000
grenzen hinweg einig, dass wir umdenken und vor allen
Dingen umlenken müssen. Auch die besondere Verantwortung der Industrieländer erkennen wir alle. Wir
Grüne sind aber der Überzeugung, dass weit mehr möglich wäre als das, was bisher gemacht wurde. Unter
Green Economy als einem nachhaltigen Wirtschaften
verstehe ich, dass wir unsere Umwelt nicht weiter zerstören dürfen, die Erde nicht bis an ihre Grenzen ausbeuten dürfen sowie überall auf dieser Welt humane Arbeits- und Lebensbedingungen schaffen müssen. Wer
sonst als wir in der Politik ist in der Lage, einen verbindlichen Rahmen für ein nachhaltiges Wirtschaften festzulegen? Würden uns freiwillige Verpflichtungen helfen,
die die Kanzlerin ständig verteidigt, wären wir schon
längst weiter. Aber das funktioniert nicht, sondern dient
vor allem der Blockade von Entwicklungen. Die unsägliche Verpflichtung der Autoindustrie zur Reduzierung
des CO2-Ausstoßes hat uns das allzu deutlich gezeigt.
Die Kanzlerin fährt, anders als ihre beiden Vorgänger,
nicht einmal selbst nach Rio. Hat sie der Welt nichts zu
bieten?
({1})
So ist es anscheinend. 1992 hatte Helmut Kohl eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent im Gepäck. Er hatte also etwas anzubieten. 2002, in Johannesburg, versprach Gerhard Schröder den Ausbau des
Bereichs der erneuerbaren Energien. Von einer deutschen Selbstverpflichtung, die das schlingernde Schiff
Nachhaltigkeit voranbringt, ist mir dieses Mal nichts bekannt. Aber Überraschungen gibt es ja immer wieder.
Mit dem Weg zum G-20-Gipfel nach Mexiko in der
nächsten Woche legt die Kanzlerin räumlich schon die
halbe Strecke nach Rio zurück. Vielleicht gibt es da ja
noch Überraschungen.
({2})
Wir brauchen kommende Woche in Rio einen konkreten Auftrag, dass weltweit verbindliche Nachhaltigkeitsziele festgelegt werden. Wir müssen endlich verbindliche Ziele für ein umwelt- und sozialverträgliches
Wirtschaften im Jahr 2050 festlegen, und zwar mit Zwischenzielen für die Jahrzehnte davor, also für 2030, 2040
und am besten auch für 2020. Diese Ziele müssen länderspezifisch gelten; denn viele Staaten müssen erst einmal aus ihrer Armutsfalle herauskommen und eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aufbauen.
Als rohstoffarmes Land müssen wir in Deutschland
mit ehrgeizigeren Zielen Vorreiter sein. Dabei müssen
wir uns die gesamte Lieferkette vom Abbau der Rohstoffe in den Entwicklungs- und Schwellenländern über
den Transport bis hin zur Produktion und zum Vertrieb
vor Ort anschauen. Dann werden wir deutlich erkennen,
wie wirksam eine weitestgehende Wiederverwertung sowie eine Verlängerung des Lebenszyklus von Produkten
sind.
Noch immer wird Elektronikschrott nur zu rund einem Drittel recycelt. Wir in Deutschland verfügen aber
über ein großes Know-how beim Recycling. Dieses sollten wir endlich nutzen.
({3})
Vor allen Dingen sollten wir die derzeit angewandten
trickreichen Umgehungsmöglichkeiten unterbinden. Ich
möchte nicht mehr alte Computer auf Müllkippen in
Ghana sehen. Wenn wir unseren Unternehmen einen vernünftigen Übergangszeitraum gewähren, um ihre Strategie anzupassen, wird sich das sogar als Wettbewerbsvorteil herauskristallisieren.
In Rio unterstützen wir Grüne die Aufwertung des
Umweltprogramms der Vereinten Nationen zur UNEO,
zur Umweltorganisation, und die Einrichtung eines Rats
für nachhaltige Entwicklung.
({4})
Dieser könnte anstelle der UN-Laberbude - so haben es
schon zwei Vorredner ausgedrückt - die Konkretisierung
der weltweiten Nachhaltigkeitsziele voranbringen und
vor allen Dingen ein wirksames Monitoringsystem erarbeiten. In zehn Jahren möchte ich mich nicht mehr nur
über Ziele unterhalten müssen, sondern stolz auf das Erreichte blicken können.
({5})
Lassen Sie uns, Parlamentarier und Regierung, dafür in
Rio arbeiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Helmut Heiderich hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Konferenz Rio+20 ist ganz eindeutig ein internationales Top
Event. Je näher dieses rückt, umso mehr und umso häufiger bekommen wir Positionspapiere, Stellungnahmen,
Forderungskataloge usw. auf den Tisch. Ich denke, das
ist kein Wunder; denn von den angekündigten 50 000
Teilnehmern will jeder seine Position darstellen und
seine Argumente vortragen.
Das, was vonseiten der Linken jetzt kurz vor Toresschluss vorgelegt worden ist - ich beginne mit diesem
Antrag -, ist aus meiner Sicht weder zutreffend noch
hilfreich. Dort ist eher eine Reihe von Aussagen nach
dem Motto „Wir fallen wieder einmal in die alte Klassenkampfrhetorik zurück“ zusammengeschrieben worden. Ich will ein paar Punkte herausgreifen. Dort steht
zum Beispiel, eine Folge von Rio sei „die tiefste Krise
des Kapitalismus“, die Vermögenden hätten ihren Reichtum in der Krise abgesichert usw.
({0})
Das ist ein Rückfall in die linke Kampfrhetorik. Bei Ihnen scheint das Motto zu gelten: Nur der sozialistische
Mensch ist ein guter Mensch. Wenn Sie uns hier wirklich Hugo Chávez als Vorbild für die Zukunftspolitik
nach Rio präsentieren wollen, sind Sie, glaube ich, auf
dem Holzweg.
({1})
Wir haben eben gehört, dass sich der Deutsche Bundestag bereits im November vergangenen Jahres in einem fraktionsübergreifenden Antrag mit dieser Thematik beschäftigt hat. Deswegen bin ich etwas verwundert,
dass die Sozialdemokraten und die Grünen jetzt noch einen Antrag nachgeschoben haben, in dem sie alles untergebracht haben, was man sich zu diesem Thema vorstellen kann.
({2})
Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal an der Vorbereitung
einer solchen Konferenz beteiligt waren. Ihr Katalog
enthält sozusagen eine Planung der Regierungspolitik in
Deutschland für die nächsten 20 Jahre,
({3})
aber nicht das, was man zur Vorbereitung für Rio
braucht. Nichtsdestotrotz haben Sie sehr umfangreich in
dieses Thema eingeführt.
Rio ist nicht nur ein Event, Rio ist ein Prozess. Ich
habe bereits darauf hingewiesen, dass sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages schon im November
vergangenen Jahres mit dieser Thematik beschäftigt haben.
Es geht in diesem Antrag im Wesentlichen um drei
Forderungen:
Erstens - das ist eben schon angesprochen worden geht es um das neue Schlagwort der Green Economy; ich
werde gleich noch etwas dazu sagen.
Zweitens geht es um die Verbesserung der Effizienz
bei internationalen Organisationen; auch das ist, glaube
ich, ein wesentliches Thema.
Drittens - das ist etwas Neues - geht es um eine Initiative zur Armutsbekämpfung und zur Ernährungssicherung. Ich glaube, mit diesem neuen Thema auf der Tagesordnung von Rio haben wir einen entscheidenden
Schritt nach vorne gemacht. Das sollten wir nicht zu gering schätzen.
Sie haben heute Morgen die Bundeskanzlerin gehört.
Sie hat zur Vorbereitung des G-20-Gipfels erklärt, dass
die globale Gerechtigkeit, die Bekämpfung von Armut
und Hunger und die Verbesserung der Ernährungssituation und der ländlichen Entwicklung Topthemen sind,
nicht nur für die G 20, sondern auch für Rio+20.
({4})
Somit haben wir einen großen Erfolg erzielt.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koalition, aber auch die Bundesregierung hat seit Monaten
daran gearbeitet, dieses Thema nach vorne zu bringen.
Ich will nur daran erinnern, dass wir dazu im Laufe des
letzten Jahres vier umfangreiche Anträge eingebracht
haben, die von Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen von den Linken, ausnahmslos abgelehnt worden sind. Insofern sind Ihre heutigen Einlassungen nicht
gerade gut begründet.
({6})
Auch der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat vor
wenigen Tagen bestätigt, dass das eben von mir erwähnte Ziel, den Ärmsten, den Unterentwickelten und
den Hungernden, wie er es formuliert hat, echte Verbesserungen im täglichen Leben zu ermöglichen, eines der
Hauptziele auf der Agenda von Rio+20 ist. Ich glaube,
das ist in diesem Zusammenhang ein entscheidender
Fortschritt.
Die zweite große Aufgabe, vor der wir stehen - ich
will sie ganz kurz anreißen -, ist die Frage der Green
Economy. Davon ist im Moment von allen Seiten wie
von einer Art Zauberformel die Rede. Wichtig wird sein
- das wird in den Verhandlungen ein entscheidender
Punkt sein -, dass klar und eindeutig definiert wird, was
unter Green Economy zu verstehen ist. Im Moment hat
man nämlich den Eindruck, dass jeder etwas anderes darunter versteht, was dazu führt, dass wir am Schluss
nicht zu konkreten Ergebnissen kommen.
Die Bundeskanzlerin hat heute Morgen erklärt, dass
man, wenn man den Klimawandel bewältigen, gleichzeitig die Forderung nach nachhaltigem Wachstum erfüllen
und die Aufgabe, 1 Milliarde Menschen vom Hunger zu
befreien, erfüllen will, eine konkrete gegenseitige Abstimmung braucht und dass wir auch die Mithilfe der
Privatwirtschaft benötigen, um das notwendige nachhaltige Wachstum zu erzielen. Nur mit staatlichen Vorgaben
werden wir das nämlich nicht schaffen.
Deswegen ist der Ansatz, die Privatwirtschaft zu bekämpfen, falsch. Wir brauchen beides: das privatwirtschaftliche Engagement - woher sollen Innovationen
sonst kommen? - und die staatliche Unterstützung, Definition und Begleitung. Dann kann aus Rio+20 ein Erfolg
werden. Daran arbeiten wir gemeinsam mit der Bundeskanzlerin. Dieses Bemühen sollten Sie anerkennen und
unterstützen.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/9922 mit dem Titel „Rio 2012 -
Nachhaltige Entwicklung jetzt umsetzen“. Wer stimmt
für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch
die einbringenden Fraktionen. Die Koalitionsfraktionen
waren dagegen. Die Linke hat sich enthalten.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Rio+20 - Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapi-
talismus“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/9988, den Antrag auf
Drucksache 17/9732 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dage-
gen waren Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die SPD
hat sich enthalten.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Michael Grosse-
Brömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub,
Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Tokio-Konferenz zu einem entwicklungspoliti-
schen Erfolg führen
- Drucksache 17/9923 -
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/9923. Wer stimmt für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die
Linke war dagegen. Bündnis 90/Die Grünen und SPD
haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unseriöses Inkasso zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher stoppen
- Drucksache 17/9746 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft
und Technologie
Auch diese Reden wurden mit Ihrem Einverständnis
zu Protokoll gegeben.2)
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann verfahren wir so.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({1}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({2}) vom
11. August 2006 und folgender Resolutionen,
zuletzt 2004 ({3}) vom 30. August 2011 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/9873 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns alle treibt die Sorge über die Entwicklung in Syrien
und darüber hinaus im ganzen Nahen Osten um. Wir ha-
ben heute gehört, dass die Wahlen in Ägypten annulliert
worden sind. Wir werden sehen, was sich daraus entwi-
ckelt.
Unsere Gedanken gelten in besonderem Maße den
unschuldigen Menschen in Syrien. Ihr Leiden hat ein
schreckliches Ausmaß angenommen. Unsere Aufmerk-
samkeit gilt dieser Region. Längst ist aus dem Konflikt
innerhalb Syriens eine Gefahr für die Sicherheitslage
auch in angrenzenden Staaten geworden.
Der Nahe Osten wurde und wird oft - sicher etwas
vereinfacht - als Pulverfass bezeichnet. Wenn der Nahe
Osten ein Pulverfass ist, dann ist eine Lunte für dieses
Pulverfass auf jeden Fall im Libanon zu suchen. Hier
kommen unterschiedlichste Interessen zusammen. Hier
sind Interessenkonflikte seit Jahrzehnten an der Tages-
ordnung.
1) Anlage 9 2) Anlage 10
Eine militärische Eskalation zu verhindern und das
angespannte Verhältnis zwischen dem Libanon und Israel zu entschärfen, ist der Auftrag der seit 2006 mit einem robusten Mandat ausgestatteten UNIFIL-Mission.
Den im Rahmen von UNIFIL eingesetzten Streitkräften
fällt dabei nach wie vor die wichtige Funktion zu, ausgleichendes Element zu sein und Verständigung zu ermöglichen. UNIFIL erfüllt diese Funktion. Der UNIFILFlottenverband, an dem die deutsche Marine beteiligt ist,
trägt wesentlich dazu bei.
Die Unterstützung der Bundesregierung für UNIFIL
folgt dabei dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Damit
die libanesische Regierung allmählich selbst für Sicherheit auch zur See sorgen kann, muss sie über leistungsfähige Strukturen und Sicherheitskräfte verfügen.
Der vorliegende Antrag der Bundesregierung zeigt
auf, wie vielseitig und umfangreich Deutschland sich am
Aufbau dieser Strukturen und Kräfte beteiligt. Gemeinsam mit anderen Streitkräften sichern und kontrollieren
Einheiten der deutschen Marine den Seeverkehr vor der
libanesischen Küste. Gleichzeitig wird mit unserer finanziellen und organisatorischen Hilfe der Aufbau einer
leistungsfähigen Küstenradarorganisation vorangetrieben, damit die libanesische Marine diese Aufgabe künftig selbst wahrnehmen kann.
Noch in diesem Jahr wird die achte von insgesamt
neun Stationen der landesweiten Küstenradarorganisation in Betrieb gehen, und zwar in Tripoli. Die Aktivierung der letzten Station im Süden des Libanon wird 2013
folgen. Dank der Unterstützung durch die deutsche Marine wird bis dahin auch das für den Betrieb der Station
benötigte Personal ausgebildet sein. Damit verfügt die libanesische Marine ab dem kommenden Jahr über ein
vollständig ausgebautes und funktionsfähiges System für
die Erfassung des Schiffsverkehrs.
Mit der neuen Küstenradarorganisation verfügt der
Libanon gewissermaßen über Ohren und Augen, um Gefahren frühzeitig zu erkennen. Noch fehlen die Hände,
um diese Gefahren auch frühzeitig abwehren zu können.
Noch stellen die Einheiten von UNIFIL Schiffe mit Soldaten zur Verfügung, die Waffenlieferungen unterbinden
und den Seeverkehr ordnen. Unser Ziel ist es, den Libanon so schnell und umfassend wie möglich in die Lage
zu versetzen, in Zukunft auch selbst durchgreifen zu
können.
Zur Erfüllung ihres anspruchsvollen Auftrages werden die an UNIFIL beteiligten Kräfte der Bundeswehr
auch künftig bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten benötigen. Es bleibt bei dieser Mandatsobergrenze.
Die libanesische Marine muss allmählich den Schutz
der seeseitigen Grenzen eigenverantwortlich übernehmen können. Die dafür notwendige personelle und materielle Ausstattung und die dazu erforderliche Ausbildung
sind noch nicht vorhanden. Hier bedarf es der weiter gehenden Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft.
Die Fortsetzung von UNIFIL wird nicht nur von den
Vereinten Nationen begrüßt, sondern auch von libanesischer und insbesondere von israelischer Seite. Mehr
noch: Sie ist erwünscht. Dies gilt in besonderem Maße
für den deutschen Beitrag zu UNIFIL.
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für den Antrag der Bundesregierung, die deutsche Beteiligung bei UNIFIL für ein weiteres Jahr fortzusetzen.
({0})
Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst ein Wort zu der ungewöhnlichen Uhrzeit. Ich
glaube, das ist der späteste Beginn einer Mandatsdebatte
im Bundestag, den wir jemals hatten. Ich hoffe, das wird
ein Ausnahmefall bleiben. Diese Debatte gehört in das
Zentrum des Parlaments.
({0})
Was wir heute hier praktizieren, ist die klassische Parlamentsbeteiligung, die uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat und die wir mit einem Gesetz geregelt haben, an dem wir festhalten wollen. Es gibt
Diskussionen darüber, was das für die weitere europäische Vertiefung zu bedeuten hat.
Ich glaube, man darf nicht am Parlamentsvorbehalt
rühren, vielleicht aber an der Frage, wann sich das Parlament mit europäischen oder NATO-Fragen befassen
sollte. Denn immer dann, wenn Deutschland einer Mission zustimmt - sei es eine EU-Mission oder eine
NATO-Mission; es ist egal, ob wir uns daran substanziell
beteiligen oder nicht -, findet mit deutscher Legitimation ein internationaler Militäreinsatz statt. Dann ist es
immer ein Fall für das Parlament.
Da brauchen wir keine Angst zu haben, dass dann
vielleicht auch über den Einsatz von Soldaten gesprochen werden könnte, die von uns aus nötig sind, damit
dieses Mandat überhaupt erfolgreich sein kann. Wer
diese Diskussion im Grundsatz führen will, führt eine
Scheindebatte. Wir interessieren uns für alles, was die
EU und was die NATO in militärpolitischer Hinsicht international unternimmt. Auch wir wollen im Regelfall
dabei sein - und nicht nur die Bundesregierung, wenn
sie einer Mission zustimmt.
Hier reden wir über eine UNO-Mission, und zwar
über eine ganz besondere. Dass im Libanon schon über
Jahrzehnte eine UN-Mission an Land existiert, hat die
deutsche Öffentlichkeit erst zur Kenntnis genommen, als
sich die Frage stellte, ob auch wir uns an der seeseitigen
Mission beteiligen wollen. Bis dahin war das nicht auf
dem Radarschirm unserer Öffentlichkeit. Dabei war das
keine einfache Mission. Es hat Tote unter unseren Verbündeten gegeben, die unter dem Dach der UN den Frie22004
den im Libanon und den Frieden zwischen Libanon und
Israel sichern helfen wollten.
Wir interessieren uns dann, wenn es Deutsche betrifft.
Hier war nun die erste UN-Mission zur See auf den Weg
zu bringen. Wir können stolz darauf sein, dass dies mit
substanzieller deutscher Unterstützung gelang. Der erste
Offizier, der diesen UN-Verband zur See, die erste maritime UN-Mission, führte, war ein Deutscher. Wir haben
operative Grundlagen mitgeprägt für das, was die UN
selbst künftig vielleicht auch an anderer Stelle auf See
leisten kann, ohne Rückgriff auf andere Bündnisse zu
nehmen. Dies ist ein UN-geführter und nicht nur ein
UN-mandatierter Einsatz. Ich bin froh, dass Deutschland
dabei eine führende Rolle eingenommen hat.
Der Minister hat es angesprochen: Wir tun das nicht,
weil wir uns vordrängen, sondern weil Libanesen und
Israelis übereinstimmend der Meinung waren, dass
Deutschland dabei sein sollte. Das ist ein Zeichen des
großen Vertrauens, das unser Land sowohl in dieser Region als auch anderswo genießt. Diesen Wünschen sollte
man dann auch nachkommen. Wir können manches tun,
was andere nicht tun, weil uns heute eine gute Rolle zugetraut wird, auch in diesem Konflikt.
Es wird gelegentlich die Frage gestellt: Was hat das
denn gebracht? Wie viele Waffenschmuggler sind denn
gefasst worden? Wie viele Waffen sind eingesammelt
worden? Kann man das wirklich genau überprüfen? Die
FDP hat sich, als dieses Mandat das erste Mal beschlossen wurde, ganz anders ausgelassen - das will ich jetzt
gar nicht zitieren - als heute in der Regierungsverantwortung. Damals war sie dagegen, weil sie skeptisch
war, ob man diese Überprüfung tatsächlich erfolgreich
vollziehen kann.
Der Auftrag der UNIFIL-Mission war ein ganz anderer: Nicht das Einsammeln von Waffen war das Ziel,
sondern das Bilden von Vertrauen, das Herstellen einer
Situation, in der nicht mehr die israelische Marine den
Libanon von der See her blockiert, sondern in der diese
Blockade aufgehoben werden konnte und durch eine internationale Mission abgelöst wurde. Das war Vertrauensbildung in beide Richtungen. Das hat funktioniert. In
dieser Weise ist der militärische Beitrag erfolgreich gewesen.
Ich möchte sagen: Dieser Antrag ist gut formuliert.
Dieser Antrag enthält mehr als nur die Frage: Mit welchen militärischen Beiträgen und mit welchem Finanzaufwand beteiligen wir uns? Vielmehr ist die Frage: Was
tun wir sonst noch in dieser Region? Einige Dinge sind
noch nicht erledigt. Sie werden noch länger dauern müssen als der UNIFIL-Einsatz, der vielleicht in absehbarer
Zeit enden kann.
Was nicht enden kann, ist unser Engagement - das
kann auch ruhig bilateral sein -, ein deutsches Engagement zum Aufbau der sehr kleinen libanesischen Marine.
Wer einmal dort war, wird wissen, dass sie eigentlich
nicht als Marine gestartet ist, sondern als Schlauchbootabteilung des libanesischen Heeres. Das wird jetzt mit
unserer Unterstützung eine Marine. Wir sollten sie so
lange unterstützen, bis sie sich selbst trägt. Das kann
noch eine ganze Weile dauern, aber es ist kein großer
Aufwand. Für uns als großes Land ist es kein großer Aufwand, mit Material und den Ausbildungseinrichtungen,
die Deutschland zur Verfügung stellt, Unterstützung zu
leisten.
Gestatten Sie mir eine kurze Bemerkung zu der Diskussion, die wir vorhin geführt haben: Das ist in der
Bundeswehrreform übrigens auch dienstpostenrelevant.
Ich finde, dass das, was die Bundeswehr hervorragend
macht - nicht nur im Libanon, sondern auch an anderer
Stelle -, nämlich Nationen durch Ausbildungsunterstützung in die Lage zu versetzen, für ihre eigene Verteidigung zu sorgen, ein Beitrag von uns zur Sicherheit in der
Welt ist. Dies sollte sich auch hinsichtlich der Dienstposten in den Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr
niederschlagen und nicht immer nur zusätzlich sein. Es
geht dabei nicht um große Summen.
Wir sehen, dass es hier und da Probleme gibt. Deshalb
muss man ein bisschen nachsteuern und sagen: Das gehört zu der Sicherheitspolitik, die wir wollen und die wir
uns in der Welt, in der wir eine positive Rolle spielen
wollen, wünschen.
Das Mandat bleibt richtig. Es ist vernünftig formuliert, und es ist gut, dass es uns jetzt zur Abstimmung
vorgelegt wird. Es bleibt so lange notwendig, bis die Bedingungen, die das Mandat formuliert, eingetreten sind,
nämlich dass der Libanon selbsttragend für die Sicherheit seiner Seegrenzen sorgen kann. Ich glaube nicht,
dass wir uns mit dem Druck auf die UN, frühzeitig abzuziehen, beeilen müssen. Denn gerade in der unsicheren
Situation im Nahen Osten wird vielleicht ein Stabilitätsanker gebraucht. Ein kleiner Teil des Stabilitätsankers im
Nahen Osten kann die UNIFIL-Mission zur See sein, an
der wir uns beteiligen wollen. Wir werden zustimmen.
Schönen Dank.
({1})
Für die Bundesregierung ergreift der Staatsminister
Michael Link das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung begründet diesen Antrag natürlich
dann, wenn der Bundestag ihn auf die Tagesordnung
setzt, auch zu später Stunde - und dies aus Überzeugung.
Aber einen Wunsch an den Bundestag darf sie schon äußern - darin schließe ich mich dem Kollegen Bartels
ausdrücklich an -, nämlich dass wir das zu einer früheren Tageszeit machen könnten. Wir denken, dass dieses
Thema dort eher hingehören würde.
({0})
Keine Krise beschäftigt uns derzeit mehr als die in
Syrien. Das Leid der Menschen in diesem immer blutigeren Bürgerkrieg und die unerträglichen Grausamkeiten, die das Regime von Präsident Assad Tag für Tag begeht, stellen die internationale Gemeinschaft derzeit vor
extreme Herausforderungen.
Doch als wäre diese Krise für sich genommen noch
nicht furchtbar genug, birgt sie zusätzlich die Gefahr,
sich zu einem regionalen Flächenbrand auszuweiten.
Das Land, das hiervon vermutlich als Erstes betroffen
wäre, ist der Libanon. Seit einigen Wochen bereits beobachten wir die Lage dort mit wachsender Sorge. Die
jüngsten tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Alawiten in Tripoli und zwischen sunnitischen
Gruppen in Beirut haben gezeigt, wie real die Gefahr eines Übergreifens des Konflikts in Syrien auf den Libanon ist, auch wenn die libanesische Armee die Situation
wieder beruhigen konnte.
Außenminister Westerwelle, der letzte Woche in Beirut mit der libanesischen Führung zusammengetroffen
ist, hat dort für eine Politik des inneren Ausgleichs geworben und Deutschlands Interesse an einem stabilen
Libanon bekräftigt. Dieses Ziel verfolgt die Bundesregierung auf vielfältige Weise. Eine sehr wichtige Rolle
kommt dabei auch der deutschen Beteiligung an der maritimen Komponente der VN-geführten Mission UNIFIL
zu.
Die maritime Komponente von UNIFIL hat in den
letzten Jahren einiges erreicht: Die Sicherung der libanesischen Seegrenzen verläuft effizient und zuverlässig.
Die Präsenz der UNIFIL-Schiffe hat erheblich zur Stabilisierung der seeseitigen Grenzen des Libanon beigetragen. Zugleich ist der Ausbildungsstand der libanesischen
Marine deutlich verbessert. Diese ist nun in der Lage, die
Seegrenzen mit neuer Radartechnik zu überwachen, und
hat neue Fähigkeiten auf dem Meer erworben. Dazu haben wir nicht nur entscheidende Ausbildungshilfe geleistet, sondern auch die entsprechende Ausstattungshilfe.
Hier bleibt noch vieles zu tun; das ist unbestritten.
Aber wir haben erhebliche Verbesserungen erzielt. Das
ist besonders das Verdienst der Soldatinnen und Soldaten
der deutschen Marine. Hierfür gilt ihnen Dank, Respekt
und Anerkennung.
({1})
Deshalb beantragt die Bundesregierung die Verlängerung des UNIFIL-Mandats um ein weiteres Jahr. Personalobergrenze, Einsatzgebiet und Aufgabenbeschreibung bleiben unverändert. Es gilt, das bislang Erreichte
zu sichern und darauf aufzubauen. Der bisherige Ansatz
für die maritime Komponente ist weiterhin richtig. Die
deutsche Beteiligung an UNIFIL bleibt eingebettet in
das politische, wirtschaftliche und sozial-ökonomische
Maßnahmen umfassende Engagement der Bundesregierung für den Libanon und die Gesamtregion.
UNIFIL ist mit seiner Landkomponente und auch mit
der maritimen Komponente mehr denn je ein stabilisierendes Element in einer Region, die immer mehr von Instabilität gefährdet wird. Dem Libanon, der in den 80erJahren zum traurigen Inbegriff eines von ethnisch-religiösen Konflikten zerrissenen Landes wurde, droht nun
ein erschreckendes Szenario: Genau diese Art von Konflikten könnte aus dem Nachbarland Syrien wieder über
den Libanon hereinbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verurteilen in
aller Schärfe die Verbrechen, die das syrische Regime an
seiner eigenen Bevölkerung begeht und geschehen lässt.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle auf die aktuellen Tickermeldungen verweisen, die uns ganz besonders beunruhigen. Darin ist davon die Rede - bei aller Vorsicht, die bei
Tickermeldungen geboten ist, muss man doch zumindest
die entsprechende Sorge haben -, dass die syrische Armee aktuell widerstandsfreie Gebiete in größerem Maßstab schaffen will. Das lässt Schlimmstes befürchten.
Auch hier müssen wir klar und deutlich auf die Gefahren
hinweisen und das Regime von Assad zum Stoppen bewegen.
({3})
Darüber hinaus dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass Syrien noch mehr droht - nämlich in einen Teufelskreis ethnisch und religiös geprägter Gewalt
zu geraten.
({4})
Die Massaker in syrischen Dörfern, die uns in den letzten Wochen so erschüttert haben, fanden auch an der
Trennlinie zwischen den Konfessionen statt. Der Konflikt zwischen Sunniten und Alawiten wurde erwähnt. Es
ist möglich, dass hier auch untergeordnete lokale Motive
eine Rolle spielen. Das entbindet die Regierung in Damaskus aber in keiner Weise von ihrer Verantwortung,
zumal die reguläre syrische Armee offenkundig an den
Massakern jeweils zumindest beteiligt war.
({5})
Wenn aber das, was als politisches Aufbegehren gegen diktatorische Unterdrückung begonnen hat, nun in
einen Bürgerkrieg entlang konfessioneller Linien führt,
dann wird dieser Konflikt noch viel schwerer zu beenden
sein, als es ohnehin schon der Fall ist.
Dies alles sollte bedacht werden, bevor vorschnell
eine militärische Intervention in Syrien gefordert wird.
({6})
Derartige Forderungen untergraben im Übrigen den
politischen Prozess. Wir brauchen keine Diskussionen
um scheinbare militärische Optionen, sondern verstärkte
Anstrengungen auf dem politisch-diplomatischen Weg.
Er allein kann zu einer Lösung führen.
Wie diese Lösung aussehen wird, lässt sich heute
noch nicht abschätzen. Doch eines ist schon jetzt klar:
Wie immer der Konflikt in Syrien in den nächsten Wochen konkret weitergeht, er wird sich auf die gesamte
Region auswirken. Syrien grenzt unmittelbar an die Türkei, den Irak, an Jordanien, Israel und den Libanon. Allein das zeigt die Dimension des Konflikts - um von anderen schwierigen Nachbarn in der weiteren Region gar
nicht zu reden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung bleibt dem politisch-diplomatischen Weg verpflichtet, auch wenn wir auf diesem Weg nicht so schnell
vorankommen, wie wir uns dies wünschen. Umso wichtiger ist es, dass wir alles in unseren Möglichkeiten Stehende tun, um die Staaten der Region, der unmittelbaren
Nachbarschaft zu unterstützen und zu stabilisieren. Der
Außenminister hat dies in den letzten Wochen bei zahlreichen Reisen in die Region intensiv getan und dafür
auch bereits sehr viel Unterstützung gerade aus der Region heraus erfahren. Die Bundesregierung wird exakt
diesen Weg fortsetzen.
({7})
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Die UNIFIL-Mission leistet einen in der jetzigen Lage nicht ersetzbaren Beitrag.
Deshalb wollen wir sie fortsetzen. Die Vereinten Nationen und in seltener Einigkeit auch alle - ich betone ausdrücklich: alle - regionalen Akteure, einschließlich Israel, haben den deutschen Beitrag zur maritimen
Komponente von UNIFIL immer wieder gewürdigt und
uns gebeten, an diesem Weg festzuhalten. Genau das
werden wir tun. Wir bitten um Ihre Unterstützung.
({0})
Wolfgang Gehrcke hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich war während des Krieges in
Beirut. Ich bin extra mit Kollegen von anderen europäischen Parteien dort hingefahren, um der Bevölkerung
von Beirut und des Libanon ein Stück weit Solidarität
entgegenzubringen und zu zeigen, dass andere Menschen kommen, um sich mit ihnen zu verbünden. Ich
sehe nach wie vor die furchtbaren Bilder, die entstehen,
wenn Raketen in Wohnviertel einschlagen, Häuser plötzlich zusammenbrechen und wenn Gewalt eine hohe
Dimension erreicht. Es war zu beobachten, dass sich die
reichen Libanesen blitzschnell über die Autobahn nach
Syrien - das sind nur 50 Kilometer - absetzten. Wer
nicht aus der Stadt und aus dem Land herausgekommen
ist, das waren vor allen Dingen die Menschen, die in den
Flüchtlingslagern gelebt haben, die Palästinenserinnen
und Palästinenser und andere.
Deswegen war mir klar: Dieser Krieg muss schnell zu
Ende gebracht werden. Notwendig dafür war ein Waffenstillstand. Um einen Waffenstillstand zu erreichen,
war es notwendig, die UNIFIL-Vereinbarung unter dem
Dach der Vereinten Nationen abzuschließen. Das habe
ich hier im Bundestag immer vertreten.
({0})
Das hat für mich eine innere Logik. Gleichzeitig lag in
dieser Logik nicht, dass sich deutsche Militäreinheiten
daran beteiligen.
({1})
Ich fand und ich finde: Es wäre gut, wenn Deutschland
keine Soldaten in die Region des Nahen und Mittleren
Ostens entsendet.
({2})
- Auch wenn es gewünscht wird, ist das noch lange kein
Argument. - Das war meine Entscheidung. Ich finde es
ganz interessant, dass die FDP bis zu dem Zeitpunkt, als
sie in die Regierung eingetreten ist, ähnlich argumentiert
hat. Heute ist das bei euch alles vergessen. Das zeigt,
wie dünnhäutig ihr seid, und das spiegelt auch eure
Außenpolitik wider.
Unsere Sorge war, dass auch deutsche Soldatinnen
und Soldaten aus der Lage heraus in den Konflikt geraten können, zum Beispiel auch gegen israelische Soldatinnen und Soldaten bewaffnet vorzugehen.
({3})
Diese Sorge war nicht unberechtigt. Es lag oft in der
Luft, wenn israelische Einheiten die UNIFIL-Verbände
zumindest kontaktiert hatten, dass ein solcher Vorfall
eintritt. Deswegen haben wir Nein gesagt, und wir bleiben beim Nein.
({4})
Ich finde es recht interessant, dass beim Einbringen
des Antrags durch die Bundesregierung argumentiert
wurde, dass sich die Situation entlang der Grenzen auch
des Libanon durch die furchtbare Entwicklung in Syrien
verändert habe. Der ganze Nahe Osten ist in Gefahr, in
eine große militärische Auseinandersetzung einbezogen
zu werden. Darüber muss man sich doch klar werden.
An der Analyse habe ich gar nicht so viel auszusetzen.
Es ist ein Bürgerkrieg, und man muss schauen, dass man
aus diesem Bürgerkrieg wieder herauskommt. Ich fand
es aber interessant, dass keiner hier die Courage gehabt
hat, zu sagen: Der Vorschlag von Kofi Annan, eine neue
Kontaktgruppe einschließlich Russland, China und Iran
einzusetzen, ist ein vernünftiger Vorschlag, der die Unterstützung des Bundestages finden muss.
({5})
Das wäre eine gute Politik. Warum hat hier keiner
gesagt, dass man der internationalen Syrien-Konferenz
in Russland eine Chance geben muss und wir Politik in
diese Richtung entwickeln müssen? Wenn man sagt,
dass jetzt Diplomatie gefragt ist und nicht Säbelrasseln
und das Rufen nach militärischen Einsätzen, dann muss
man solche Chancen nutzen und aktiv dafür eintreten.
({6})
- Nein, das hat keiner gemacht, aber keiner hat etwas
dazu gesagt. Man kann solche Themen auch einfach verschweigen.
Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich ganz
deutlich machen: Mit militärischen Aktionen wird man
keine Probleme lösen.
({7})
Man muss eine aktive und ideenreiche Nahost-Politik
betreiben. Ich würde gern den alten Gedanken, ob man
nicht aus der europäischen Sicherheitskonferenz
Schlussfolgerungen für den Nahen Osten ziehen kann,
aufgreifen. Es sollte eine politische Initiative zu einer
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten gestartet werden. Das wäre jetzt wichtig, und
eine solche Initiative wäre dem Parlament angemessen.
Herzlichen Dank.
({8})
Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
kann zum UNIFIL-Einsatz sagen: Das ist ein verhältnismäßig kleiner Einsatz, es handelt sich nur um 300 Soldatinnen und Soldaten. Das ist ein vergessener Einsatz. Der
Debattenplatz heute Abend trägt auch nicht dazu bei,
dass sich das ändert. Man kann sagen: Es gibt keine Zwischenfälle. Man kann aber auch sagen: Es gibt keine
Zwischenfälle, weil es diese Präsenz vor Ort gibt. Nicht
nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch ihren
Familien, die eine sehr schwere private Situation durchmachen müssen, gilt ein herzlicher Dank für das, was sie
dort tun.
({0})
Man kann UNIFIL natürlich auch als Beitrag deutscher Verantwortung in einer der schwierigsten Regionen der Welt sehen. Es ist natürlich nicht unerheblich,
dass die beiden Konfliktpartner, die libanesische und die
israelische Seite, für diesen Einsatz waren und sind. Es
ist natürlich alles andere als unerheblich, dass das ein
UN-geführter Einsatz ist. Es ist natürlich alles andere als
unwichtig - Kollege Gehrcke hat es völlig zu Recht
gesagt -, dass dieser Einsatz den Krieg dort beendet hat.
Das kann man bei der Bewertung des Mandats nicht einfach weglassen. Deshalb, meine Damen und Herren,
werden wir der Fortsetzung von UNIFIL zustimmen.
Jeder Einsatz von Militär ist dafür da, Zeitfenster für
Politik zu schaffen. Die Frage ist, wie die Politik in diesem Zeitfenster tatsächlich tätig wird, damit der Einsatz
überflüssig wird. Ich finde, in diesem Zusammenhang
muss man der Bundesregierung das eine oder andere
vorwerfen. Wir haben darüber bereits im letzten Jahr im
Rahmen der Mandatsdebatte gesprochen.
Die Bundeswehr musste ihre Leadfunktion vor Ort
wegen der von der Bundesregierung beschlossenen Reduzierung aufgeben. Wenn man vor Ort nachgefragt hat,
musste man feststellen, dass die deutschen Soldatinnen
und Soldaten am Ende doch die Leadfunktion operativ
unter deutlich widrigeren Umständen mit ausübten.
Herr Minister, Sie haben gerade völlig zu Recht darauf hingewiesen, wie wichtig die libanesische Armee
ist. Sie ist noch mehr; denn die libanesische Armee ist
eine der wenigen Institutionen im ganzen Lande, die von
allen Seiten wirklich akzeptiert wird.
({1})
Der Gedanke einer Einheit ist ohne die Armee im Libanon gar nicht denkbar. Er wird gerade vor dem Hintergrund des bestehenden Konflikts in Syrien zunehmend
wichtiger.
Angesichts dessen verstehe ich nicht, warum der
Libanon bei der Ausbildungshilfe in der Priorität herabgestuft worden ist. Das wurde von Ihnen nicht korrigiert.
Da gehen Ihre Ausführungen und die Realität, die Handlungen der Bundesregierung, ein Stückchen auseinander.
Weil sich die Region so verändert, wäre es deshalb gut
gewesen, wenn Sie bei diesem Mandat nicht einfach so
weitergemacht hätten. Es reicht auch nicht, dass man
sehr beherzt applaudiert, wenn sich der Bundespräsident
zu Auslandseinsätzen äußert, sondern man muss auch
etwas tun.
({2})
Das ist leider Gottes ein Glied in einer Kette, die zu
außenpolitischer Bedeutungslosigkeit führt. Das ist beim
Südsudan so. Das ist am Horn von Afrika so. Das ist im
Falle von Libyen so gewesen. Hier geht es - das sage ich
noch einmal - nicht um das Engagement der Soldatinnen
und Soldaten, sondern hier geht es um die Begleitung
durch die Politik. Wie es die Bundesregierung macht,
reicht einfach nicht aus.
({3})
- Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen und ich noch
mehr Redezeit bekomme,
({4})
gebe ich Ihnen eine ausführliche Antwort. Aber ich habe
zum Beispiel zur Frage der Ausbildungshilfe und ihrer
Priorität für die libanesische Armee gerade einiges
gesagt.
({5})
- Selbstverständlich, Frau Kollegin. Wir waren schon
einmal zusammen in einem Ausschuss. Sie wissen, dass
man da natürlich die Soldatinnen und Soldaten vor Ort
besucht, um zu schauen, was sie dort leisten. - Jetzt
haben Sie mir viel Redezeit geklaut; das war nicht nett.
Ich möchte noch einige Sätze zum Kollegen Gehrcke
sagen. Ich bin bei Folgendem bei Ihnen: Die Anwendung von militärischer Gewalt ist immer von Übel. Man
muss natürlich hierbei auch die Frage stellen - das war
auch für meine Partei über die Jahrzehnte ein Lernprozess -, ob das nicht manchmal das kleinere Übel ist. Sie
haben eben nicht kategorisch jede Beteiligung ausgeschlossen, sondern Sie haben von der deutschen Beteiligung aufgrund der Geschichte gesprochen.
Aber wie Sie bei einem Einsatz, der explizit und
nachweislich Schmuggel und Proliferation von Waffen
in eine Konfliktregion unterbinden und Gewalt sowie
weitere Gewalt verhindern soll, einfach Nein sagen können, geht mir nicht in den Kopf.
({6})
Ich habe das Gefühl, dass es um das innenpolitische
Vorgärtchen und weniger um Frieden im Nahen Osten
geht.
({7})
Das ist sehr bedauerlich. Ich freue mich auf Ihre Erklärung.
Herzlichen Dank.
({8})
Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal zu unserem gemeinsamen Bundespräsidenten. Herr Nouripour, ich finde
schon, dass diese Debatte eines zeigt: dass wir das sehr
ernst nehmen, was der Bundespräsident uns mit auf den
Weg gegeben hat. Ich glaube, dass er einen wichtigen
Beitrag geleistet hat. Er hat eine gesellschaftliche Debatte, die die Union schon seit Jahren führt, aufgenommen und fortgesetzt. Es geht darum, dass wir uns bei
allen Mandaten, die wir hier beschließen, hinter die Soldatinnen und Soldaten stellen sollen.
({0})
Deshalb passt das, was wir hier gemeinsam beschließen,
eigentlich sehr gut zu dem von uns gemeinsam vorgeschlagenen und getragenen Bundespräsidenten. Insofern
habe ich die Einlassungen vorhin nicht verstanden.
({1})
Ich möchte mich an dieser Stelle vor allem - es ist
vorhin schon gesagt worden - bei den Soldatinnen und
Soldaten, die einen wichtigen Dienst leisten, bedanken.
Die deutsche Marine arbeitet auf ihren Schiffen effizient
und zielorientiert. Deshalb mein herzlicher Dank, auch
zu dieser Uhrzeit, an die Soldatinnen und Soldaten.
({2})
Drei Punkte sind mir wichtig; einige sind schon genannt worden.
Erstens. Ein Grund, warum wir bei dieser Mission
weiterhin unseren Dienst leisten sollten, ist: Die Region
ist insgesamt in Aufruhr. Das UNIFIL-Mandat ist erwünscht. Die Soldatinnen und Soldaten werden überall
in den beteiligten Ländern willkommen geheißen. Wir
leisten damit einen Beitrag zur Stabilität. Gerade mit
Blick auf die innenpolitische Situation des Libanon ist es
sehr wichtig, dass wir diesen Beitrag auch weiterhin leisten.
Zweitens. Dieser Dienst ist ein Beitrag zur Sicherheit
Israels. Er steht im Einklang mit dem, was die Bundeskanzlerin in ihrer vielbeachteten Rede vor der Knesset
gesagt hat. Es gehört zur deutschen Staatsräson, die
Sicherheit Israels zu schützen. Dies ist ein konkreter
Beitrag und damit auch eine Erfüllung unserer politischen Mission, für die wir als Union ja besonders eintreten.
Drittens. Unsere Beteiligung zeigt auch innerhalb der
Staatengemeinschaft, dass wir uns gemeinsam engagieren. Gerade die Teilnahme an UNIFIL, getragen von
Ländern wie Belgien, Bangladesch, Italien und Indonesien, zeigt, wie wichtig es ist, gemeinsam Lasten zu teilen und gemeinsam zielorientiert einen militärischen
Beitrag zu leisten, der über das rein Militärische hinaus
eine große Bedeutung hat.
Meine Damen und Herren, der Waffenschmuggel vor
der Küste des Libanon muss eingeschränkt werden.
Dazu gehört, die widerstreitenden Gruppierungen im Libanon selbst dazu zu bringen, auf eine weitere Bewaffnung zu verzichten. Dafür ist das UNIFIL-Mandat sehr
wichtig. Ich darf an dieser Stelle auch den Kooperationsgedanken noch einmal hervorheben, den gerade Kapitän
zur See Gerald Koch vor wenigen Wochen in einem Interview erwähnt hat. Deutschland hat durch die Ausrüstungshilfe und Ausbildungsunterstützung eine Vorreiterrolle übernommen. Auch das zeigt, dass wir mit diesem
Mandat eine sehr große Akzeptanz haben. Auf einer
Reise im Libanon, die Ruprecht Polenz und ich kürzlich
unternommen haben, sind wir von allen widerstreitenden
Gruppierungen auf diesen positiven Beitrag angesprochen worden. Ich glaube, das ist Grund genug, auf dieses
erfolgreiche Mandat zurückzublicken.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Deutschen Bundestag der Verlängerung dieses Mandats zustimmen können und dass wir uns darüber hinaus dafür
einsetzen sollten, weitere Aktivitäten in dieser Region zu
starten. Der Übergriff der Unruhen in Syrien auf den
Libanon steht unmittelbar bevor; das ist zu befürchten.
Vor diesem Hintergrund ist all das, was wir diplomatisch
und politisch tun können, um die Unruhen einzugrenzen,
wichtig und sinnvoll. Ich sehe den UNIFIL-Einsatz in
diesem Zusammenhang in einem größeren Rahmen. Ich
glaube, dass es wichtig ist, an diesem Mandat festzuhalten und damit, wenn auch nur mit kleinen Mitteln, zur
Stabilisierung des Libanons und der Region beizutragen.
Einen Flächenbrand im Nahen Osten zu verhindern,
wird ein wichtiger Punkt sein. Insofern empfiehlt unsere
Fraktion, diesem Mandat zuzustimmen. Wir bitten
darum, dass wir in den nächsten Wochen der Beratungen
dieses Mandat gemeinsam weitertragen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9873 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auskunftspflichten der Europäischen Zentralbank einfordern und für eine ausreichende Eigenkapitalbasis der Kreditwirtschaft sorgen
- Drucksache 17/9585 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1) Es wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9585 an
die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung
stehen. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen ({1})
- Drucksache 17/8986 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 17/9992 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Lothar Riebsamen
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen
in Krankenhäusern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein-
Schmeink, Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einführung eines pauschalierenden psychia-
trischen Entgeltsystems zur qualitativen
Weiterentwicklung der Versorgung nutzen
- Drucksachen 17/5119, 17/9169, 17/9992 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Lothar Riebsamen
Die Reden sind ebenfalls zu Protokoll gegeben.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einfüh-
rung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychia-
trische und psychosomatische Einrichtungen. Der
Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9992,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/8986 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich
um das Handzeichen. - Die Gegenstimmen! - Die Ent-
haltungen! - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt.
Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthal-
ten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! -
Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit fast dem
gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen,
allerdings hat die SPD jetzt dagegen gestimmt.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
17/9992 fort. Unter Buchstabe b wird die Ablehnung des
1) Anlage 11 2) Anlage 12
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5119
mit dem Titel „Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen in Krankenhäusern“ empfohlen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die
SPD. Die Linke war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9169 mit dem Titel „Einführung
eines pauschalierenden psychiatrischen Entgeltsystems
zur qualitativen Weiterentwicklung der Versorgung nutzen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, SPD und Linke. Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({4}) zu dem
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Übersetzungserfordernisse der nationalen
Parlamente in der mehrjährigen EU-Finanzplanung 2014-2020 berücksichtigen - Übersetzungen auch im intergouvernementalen Rahmen sicherstellen
- Drucksachen 17/9736, 17/10003 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Michael Roth ({5})
Dr. Stefan Ruppert
Dr. Diether Dehm
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10003,
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/9736 anzunehmen. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen.
Die Oppositionsfraktionen haben sich enthalten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Gustav Herzog, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine zukunftsfähige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und ein modernes Wasserstraßenmanagement
- Drucksache 17/9743 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die Reden sind wiederum zu Protokoll gegeben.2)
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9743 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der
Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden.
Das ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Harald Weinberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tagespflegepersonen stärken - Qualifikation
steigern
- Drucksache 17/9925 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand
des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot
an Kindertagesbetreuung für Kinder unter
drei Jahren für das Berichtsjahr 2011 ({8})
- Drucksache 17/9850 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.3)
Es wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen
17/9925 und 17/9850 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Gabriele Hiller-Ohm, Silvia Schmidt ({11}),
1) Anlage 13
2) Anlage 14
3) Anlage 15
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Barrierefreier Tourismus für alle
- Drucksachen 17/5913, 17/9853 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Hirte
Jens Ackermann
Markus Tressel
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir erstmals
über den vorliegenden Antrag geredet. Damals wurde
auch gerade der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskommission vorgestellt. In
der Zwischenzeit haben wir im Ausschuss das Thema
Barrierefreiheit in vielen Facetten diskutiert. Ich erinnere unter anderem an die Anhörung zum Thema im Februar dieses Jahres. Auch die ITB mit dem Schwerpunkttag des barrierefreien Tourismus liegt hinter uns. Das
zeigt, dass nicht nur die Politik das Thema immer wieder
auf die Agenda setzt, sondern auch die Branche selbst
erkennt, dass das Thema wichtiger wird. Es ist ethisch
wichtig, um Barrieren abzubauen und um mehr Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Es ist aber eben auch
ökonomisch eine Chance für Unternehmen, für Hotels,
für Reiseanbieter, kurzum: für die gesamte Leistungskette. Allerdings ist mein Eindruck, dass in der Branche
im Vergleich zur Politik noch der weitaus größere Nachholbedarf zu sehen ist.
Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema, und es gewinnt immer weiter an Bedeutung. Das sehen und erleben wir alle miteinander täglich. Barrierfreiheit geht
uns alle an. Wir haben Kinder oder Enkel, mit denen wir
die Barrieren des Alltags zu meistern haben, etwa mit einem Kinderwagen. Wir werden alle aber auch irgendwann einmal älter und sind nicht mehr so mobil, hören
schlechter, sehen schlechter. All das baut Barrieren auf.
Die demografische Entwicklung kommt hinzu und macht
uns deutlich, dass das Thema immer mehr an Fahrt gewinnt und weiter gewinnen wird.
Dem vorliegenden Antrag werden wir als Union dennoch nicht zustimmen. Uns allen ist klar, dass es immer
noch viel zu tun gibt, nicht zuletzt deshalb, ich habe es
erwähnt, weil die Zahl der Betroffenen größer wird. Der
demografische Wandel setzt uns quasi unter Druck,
nicht stillzustehen und immer wieder das Thema voranzubringen.
Man muss an dieser Stelle auch noch einmal betonen:
Im föderalen System ist Tourismus Ländersache. Gerade
beim barrierefreien Tourismus gilt: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Akteure müssen vor Ort schauen,
wie sie konkret Probleme lösen können, wie im Kleinen
Hilfe geleistet werden kann und Bedingungen verbessert
werden können. Das war ja durchaus auch ein Ergebnis
der Anhörung. Nicht immer braucht es die große Gesetzeskeule. Viel wichtiger ist der Einsatz und das Engagement der Menschen vor Ort.
Sie haben einige Forderungen bezüglich des barrierefreien Reisens aufgestellt. Die Bahn solle etwa die Angebote beim Einsteige-, Umsteige- und Ausstiegsservice
ausbauen. Meine Erfahrung, und das bestätigen zum
Beispiel Behindertenbeauftragte, mit denen ich regelmäßig Kontakt habe, ist die, dass die Bahn hier sehr zuverlässig Hilfsangebote bietet, den Service aber auch
immer weiter ausbaut. Oder denken Sie an die Mittel,
die wir auch als Bund bereitgestellt haben, um barrierefreie Bahnhöfe voranzubringen. Allein hier in Berlin haben wir die Baustellen vor Augen, an denen es vorwärts
geht. Und jeder hat aus seinem Wahlkreis wahrscheinlich Beispiele, die das auch untermauern.
Ich bin sehr dafür, dies immer weiter voranzutreiben.
Aber ich bin skeptisch, wenn wir dies immer mit neuen
Vorgaben aus Berlin tun. Wir wollen immer Bürokratieabbau, aber gleichzeitig fallen uns immer wieder tausend Dinge ein, bei denen der Staat handeln soll, bei denen neue Gesetze her müssen, deren Einhaltung dann
natürlich auch wieder kontrolliert werden muss. Manchmal ist es aber vielleicht tatsächlich ausreichend, auf die
Kreativität und die Intelligenz der Menschen in der Praxis zu vertrauen.
Die SPD hat in der Diskussion im Ausschuss selbst
darauf verwiesen, dass gerade im Tourismus viele Kleinund Kleinstbetriebe am Markt sind, oft genug mit dem
entsprechend geringen Eigenkapital. Ihre Forderung
nach einem KfW-Programm wird das Problem auch
nicht wirklich lösen. Denn so gering wie das Eigenkapital sind auch die Margen und damit die Chancen, diese
Kredite bedienen zu können.
Ich glaube, beim Thema Barrierefreiheit dürfen wir
nicht stillhalten. Aber uns muss auch klar sein, dass wir
Geduld brauchen. Barrierefreiheit im Tourismus und in
der Gesellschaft wird nicht allein im Bundestag entschieden, sondern in der Verantwortung eines jeden Einzelnen vor Ort.
Als Letztes möchte ich daran erinnern, dass die Politik, dass der Bund sich dennoch engagiert. Erwähnen
möchte ich das Projekt des Bundeswirtschaftsministeriums „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus
für alle in Deutschland“. Ich glaube, dass wir mit der
Förderung konkreter Projekte, die ein Zeichen setzen,
die Schule machen und die auch ein Anreiz sind, in den
Wettbewerb um die besten Ideen einzusteigen, gut fahren. Seit September 2011 gibt es zudem die Möglichkeit
für Schwerbeschädigte, kostenlos im Nahverkehr der
Bahn zu fahren. Auch dies war eine konkrete Initiative
des Bundes, die ein unglaublich wichtiger Beitrag ist.
Auch bei anderen Initiativen setzen wir ja genau auf den
Weg konkreter Angebote und Anreize, etwa bei den Anträgen zum Reformationsjubiläum. Das ist auch für den
Bundestag der richtige Weg. Länder haben die Verantwortung beim Tourismus. Wir können immer dann, wenn
wir konkrete Projekte initiieren oder begleiten, in diesen
Bereichen auf das Thema einwirken.
Nehmen Sie aktuell das Beispiel des Berliner Flughafens. Der Bund ist beteiligt und legt natürlich größten
Wert darauf, dass Barrierefreiheit gegeben ist. Das Desaster um die Verzögerungen steht auf einem anderen
Papier. Aber das Beispiel zeigt, dass der Bund mit gutem
Beispiel vorangeht, um beim Bau und im Tourismus
auch Akzente zu setzen. Ich glaube, dass diese Vorbildfunktion eben auch Druck auf die Akteure andernorts
aufbaut und dem Thema hilft. Ich habe jedenfalls großes
Vertrauen, dass wir mit diesem Weg weiter Stück für
Stück Barrieren abbauen.
Der barrierefreie Tourismus hat sich in der vergangenen Dekade grundsätzlich positiv entwickelt. Dennoch
ist die Botschaft „Tourismus für alle“ leider noch nicht
bei allen Unternehmen angekommen. Dabei sind Urlaub
und Reisen für Menschen mit Behinderungen wichtige
Faktoren für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Daher verfolgen alle Fraktionen des Ausschusses für
Tourismus das Ziel, die Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Deutschlandtourismus zu machen. Im
Ziel sind wir uns einig; wie wir das Ziel erreichen können, dazu gibt es in den Fraktionen allerdings unterschiedliche Vorstellungen.
Der vorliegende Antrag ist grundsätzlich nicht falsch,
aber die Vielzahl der in ihm enthaltenen Forderungen ist
so nicht umsetzbar. Es ist in naher Zukunft, um ein Beispiel herauszunehmen, nicht möglich, Großveranstaltungen über die gesamte Servicekette barrierefrei zu organisieren.
Auch die an die Deutsche Bahn gerichteten Forderungen lassen sich nicht von heute auf morgen umsetzen.
Die Umsetzung des Programms zur Barrierefreiheit bei
der Bahn wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen,
auch wenn die Bundesregierung mit dem Konjunkturprogramm schon erste wichtige Schritte angestoßen hat.
Die Bahn und ihr Vorstandsvorsitzender Grube sind auf
einem wichtigen und richtigen Weg. Als Parlament müssen wir ihn dabei ideell, finanziell und politisch weiter
unterstützen. Insgesamt ist die Realisierung der Barrierefreiheit mit sehr viel Geld verbunden. Daher müssen
die Ressourcen realistisch eingeschätzt und bei der Umsetzung Prioritäten gesetzt werden.
Wie bereits eingangs gesagt, sind wir uns einig, dass
so viel Barrierefreiheit wie möglich realisiert werden
muss. In Deutschland sind immerhin 30 bis 40 Prozent
der Bevölkerung mobilitätseingeschränkt. Aufgrund der
demografischen Entwicklung wird der Anteil der älteren
und mobilitätseingeschränkten Menschen an der Gesamtbevölkerung weiter ansteigen. Aber Barrierefreiheit
kommt ja nicht nur Menschen mit Handicaps zugute.
Der Konzeptidee des „Designs für alle“ liegt zugrunde,
dass Barrierefreiheit für 10 Prozent der Bevölkerung
zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 Prozent notwendig und für 100 Prozent komfortabel ist.
Viele mobilitätseingeschränkte Menschen verzichten
aufgrund mangelnder Barrierefreiheit auf das Reisen
oder würden bei einem besseren Angebot häufiger als
bisher in Urlaub fahren. Damit auch diese Menschen
reisen bzw. öfter verreisen, bedarf es einer flächendeckenden barrierefreien Infrastruktur, aber auch spezifischer Tourismusangebote für diese Zielgruppe. Für einen barrierefreien Tourismus ist eine geschlossene
Servicekette mit durchgängig barrierefreien Angeboten
Voraussetzung. Dazu gehört insbesondere die barrierefreie An- und Abreise sowie die Mobilität vor Ort.
Wir werden auch in Zukunft nicht aufhören, immer
wieder in der Tourismusbranche für Barrierefreiheit zu
werben. Gelungene Beispiele sind meiner Meinung nach
die besten Argumente, um noch unentschlossene Unternehmer und Anbieter zu überzeugen. So engagiert sich
die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in
Deutschland“ in der Entwicklung des barrierefreien
Tourismus. In ihr haben sich acht Städte und Tourismusregionen zusammengefunden, und der Erfolg gibt ihnen
recht. Auch meine Heimatregion, die Sächsische
Schweiz, ist als Modellregion mit dabei.
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe erarbeiten vor Ort
barrierefreie Angebote und suchen nach Lösungsmöglichkeiten bei bestehenden Problemen; sie sind Teil eines Netzwerkes mit einer großen Zahl von Beteiligten.
Die Mitglieder beziehen Behindertenverbände in ihre
Arbeit mit ein, sie setzen Marketingprojekte um, und sie
beraten bei Infrastrukturprojekten. Mein Wunsch ist es,
dass die Bundesregierung in den nächsten Monaten die
Arbeitsgemeinschaft durch eine konkrete Projektförderung unterstützt.
Wir werden beim Thema barrierefreier Tourismus
aber nur dann Fortschritte erreichen können, wenn wir
sensibilisieren und Konflikte beseitigen bzw. vermeiden.
Toleranz, Offenheit, Pragmatismus und Kreativität sind
dabei von allen Seiten gefordert. Wir müssen erreichen,
dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr am Rand
der Gesellschaft stehen und falsches Mitleid ernten. Integration im Tourismus beginnt für mich dort, wo wir
Mittel und Wege finden, Menschen mit gleichen Interessen zusammenzubringen. Konkret bedeutet das, dass Familien mit anderen Familien, Naturfreunde mit anderen
Naturfreunden oder Feinschmecker mit anderen Feinschmeckern ihre Freizeit verbringen können, ungeachtet
dessen, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie groß Solidarität
und Zusammenhalt zwischen Menschen mit gleichen Interessen werden, wenn sie sich über ihre Erfahrungen
austauschen können. Meines Erachtens hat ein gutes
barrierefreies Tourismusangebot vor allem auch ein hohes sozialpsychologisches Moment, wenn behinderte
Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit erfahren und
nichtbehinderte Menschen das Gleiche spüren. Jeder ist
anders, und trotzdem gehören alle auf eine gewisse Art
zusammen und teilen die gleichen Träume und Freuden,
ob groß oder klein, dick oder dünn, jung oder alt, ob hörend oder gehörlos, ob sehend oder blind.
Aufgrund des demografischen Wandels wird der Anteil der altersbedingt behinderten Menschen weiter steigen. So lässt bei vielen Menschen die Hör- und Sehfähigkeit nach. Touristische Destinationen werden daher
in Zukunft vermehrt in ein Design für alle investieren
müssen. Im Urlaub stehen Spaß, Erlebnis und EntspanZu Protokoll gegebene Reden
nung an erster Stelle, und da behinderte Menschen, wie
die meisten Reisenden, nicht gerne alleine ihren Urlaub
verbringen, muss bei barrierefreien Angeboten der Urlaubsgenuss für alle ({0})Reisenden im Vordergrund
stehen. Hier gilt es, innovative Angebote zu schaffen.
Ich beginne mit einem Zitat, das uns allen bestens bekannt sein müsste: „Um die Teilhabe aller an touristischen Angeboten zu ermöglichen, soll das Ideal des barrierefreien Reisens in der gesamten touristischen
Leistungskette verankert werden. Die Zugänge zu Bahnhöfen, Flughäfen, Verkehrsmitteln sowie zu Kultur- und
Freizeiteinrichtungen, Gaststätten und Hotels sollen
barrierefrei gestaltet sein.“
Diese Forderung steht in den Tourismuspolitischen
Leitlinien der Bundesregierung. Die SPD hat diese gemeinsam mit der CDU/CSU in der Großen Koalition
Ende 2008 im Kabinett beschlossen. Wir haben dann
2009 einen Antrag auf den Weg gebracht, der viele gute
Punkte für barrierefreies Reisen enthielt.
Von der schwarz-gelben Bundesregierung war dann
allerdings sehr lange nichts mehr zu sehen und zu hören
zu diesem wichtigen Thema.
Dabei ist Barrierefreiheit eine zentrale Voraussetzung, damit Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft teilhaben können. Die SPD setzt sich dafür
ein, dass Urlaub und Reisen für alle Menschen möglich
werden.
Warme Worte, wie wir sie immer wieder in Sonntagsreden vernehmen, reichen nicht aus. Es gilt, politisch die
richtigen Weichen zu stellen, um konkret Barrierefreiheit
im Deutschlandtourismus voranzubringen. Deshalb haben wir bereits im Mai 2011 den heute abzuschließenden
Antrag vorgelegt. Die Überschrift „Barrierefreier Tourismus für alle“ ist gleichzeitig das Motto, an dem sich
unsere Maßnahmen orientieren.
Wir haben damit viele gute Ideen auf den Tisch gelegt
und diese auch ausführlich diskutiert, unter anderem im
Rahmen einer Expertenanhörung im Februar im Tourismusausschuss. Die Anhörung hat unseren Kurs klar bestätigt: Alle Sachverständigen waren sich einig, dass
mehr politische Unterstützung für Barrierefreiheit notwendig ist.
In der Beschlussempfehlung kann man nachlesen,
dass Sie selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU und CSU, festgestellt haben, dass der Antrag nicht
grundsätzlich falsch sei. Ich frage Sie: Warum lehnen
Sie ihn dann ab? Sie stellen in Bezug auf Barrierefreiheit
fest, dies sei „eine Aufgabe, die die Bundesregierung
nicht allein erfüllen“ könne.
Genau, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, deshalb fordern wir, einen Masterplan
für barrierefreien Tourismus in Zusammenarbeit mit den
Ländern und den Kommunen aufzustellen. Die Verantwortung aber allein den Ländern, Kreisen, Städten und
Gemeinden zuzuschieben, wie Sie das machen, bringt
uns nicht voran. Wir stellen erneut fest: Regierungsverantwortung ist nicht Ihre Stärke.
Wir greifen Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Koalitionsfraktionen, gerne unter die Arme. Unser
Forderungskatalog ist umfassend. Wir sagen: Für eine
bundesweite Koordinierung ist professionelle Arbeit nötig. Diese kann die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, leisten - allerdings nur, wenn die
Finanzierung über vereinzelte Projekte hinausgeht.
Wir wollen die NatKo zu einer bundesweiten Kompetenzstelle ausbauen. Wie erfolgreich sie arbeiten kann,
hat sich beim ersten Tag des barrierefreien Tourismus
auf der Internationalen Tourismusbörse ITB gezeigt. Die
NatKo hat ihn organisiert und zu einem großen Erfolg
werden lassen. Dies ging jedoch hart an die Reserven
ehrenamtlicher Arbeit. Hier wollen wir, dass der Bund
sich für einen dauerhaften Barrierefreiheitstag auf dem
ITB-Kongress einsetzt und die Arbeit dafür entsprechend unterstützt.
Entscheidend ist, dass die gesamte Servicekette barrierefrei ist. Ansonsten scheitert der Urlaub für viele
Menschen mit Behinderung bereits an der Anreise. Noch
immer sind rund ein Drittel aller Bahnhöfe nicht ansatzweise barrierefrei. Die Bahn hat jetzt ihr zweites Programm für Barrierefreiheit vorgestellt. Es ist dringend
nötig und muss noch deutlich weitergehen.
Die sogenannte 1 000er-Regelung der Bahn führt
dazu, dass Stationen, die von weniger als 1 000 Reisenden am Tag genutzt werden, beim Bau von Aufzügen
oder langen Rampen hinten herunterfallen. Das sind
zwei Drittel aller Bahnhöfe. Wir fordern, dass Bahnhöfe
generell barrierefrei umgebaut werden, auch kleinere
Stationen. Dazu verpflichtet sich Deutschland im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Es gibt zudem sehr unterschiedliche Anforderungen
an Barrierefreiheit in den Nahverkehrsnetzen der Länder und verschiedene Bahnsteighöhen. Auf diesen Baustellen ist der Bund ganz zentral gefordert. Wir müssen
endlich zu bundeseinheitlichen Standards kommen.
Die Tourismuswirtschaft steht ebenfalls in der
Pflicht, mehr barrierefreie Angebote zu schaffen. Immer
noch gibt es viel zu wenig barrierefreie Hotels und Gaststätten. Die Sachverständigen haben in der Anhörung
bestätigt, dass viele Betriebe sich nicht dafür interessieren. Fakt ist auch: Gerade kleinen Familienbetrieben
fehlt oft das Geld für Umbauten. Deshalb fordern wir,
notwendige Investitionen in Hotels und Gaststätten zu
bezuschussen.
Das Potenzial von Barrierefreiheit ist für die Tourismuswirtschaft enorm: 5 Milliarden Euro zusätzlicher
Umsatz wären mit barrierefreiem Tourismus möglich,
90 000 Vollzeitarbeitsplätze könnten zusätzlich geschaffen werden. Und das Potenzial wird in unserer älter werdenden Gesellschaft immer größer.
Ich bin in meinem Wahlkreis Lübeck in unserer wunderschönen Altstadt mit dem örtlichen Behindertenrat
unterwegs, um hautnah zu erfahren, wo es Probleme und
Barrieren für Menschen mit Behinderung gibt. Die BeZu Protokoll gegebene Reden
troffenen wissen am besten, wo es hakt und wie praktische Lösungen auf der Straße, in Bahnhöfen, Restaurants oder Hotels aussehen können. Deshalb fordern wir,
bei allen Maßnahmen für Barrierefreiheit Menschen mit
Behinderungen und ihre Verbände mit einzubeziehen.
Zudem müssen sich die Betroffenen verlässlich über
barrierefreie Angebote informieren können. Wir haben
mit unserem Antrag den Aufbau eines bundesweiten
Qualitätsgütesiegels für barrierefreien Tourismus gefordert. Ich begrüße, dass die Bundesregierung diese Idee
aufgreift und das laufende Projekt des Deutschen Seminars für Tourismus, DSFT, und der NatKo unterstützt.
Um ein erfolgreiches Gütesiegel daraus zu machen,
brauchen wir allerdings einen „TÜV für Barrierefreiheit“. Wir fordern deshalb, unabhängig zu überprüfen,
ob als barrierefrei ausgezeichnete Angebote dies tatsächlich sind. Dass sich Betriebe selbst einschätzen,
reicht nicht aus. Das wird auch ein Knackpunkt des aktuellen Projekts des Wirtschaftsministeriums sein.
Rund 8 Millionen Menschen mit Behinderung sind
auf Barrierefreiheit angewiesen. Für mehr als 30 Millionen Menschen ist Barrierefreiheit hilfreich, gerade für
Ältere oder Familien mit kleinen Kindern. Fest steht
aber auch: Für 80 Millionen Menschen, also für alle, ist
Barrierefreiheit komfortabel.
Für barrierefreien Tourismus können und müssen wir
eine Menge tun. Der Bund steht in der Pflicht, erst recht
durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die in
Deutschland bereits seit 2009 gilt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, unterstützen Sie wie die gesamte Opposition auch
unseren Antrag, wenn Sie es ernst meinen, allen Menschen barrierefreies Reisen ermöglichen zu wollen.
In Deutschland beginnen in wenigen Tagen die Sommerferien, und damit befinden wir uns kurz vor Beginn
der großen Reisewelle. Was man dabei oft übersieht, ist,
dass es für circa 10 Millionen Menschen in unserem
Land, die mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen leben, nicht selbstverständlich und unproblematisch ist zu verreisen. Für Menschen mit einem körperlichen oder geistigen Handicap ist es immer noch
schwieriger als für gesunde Menschen zu verreisen. Das
zu ändern, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Tourismusindustrie, und dementsprechend muss die gesamte
touristische Servicekette barrierefrei gestaltet werden.
Einfach in den Urlaub zu fahren - ohne Angst vor der
Anreise, der Art der Beherbergung etc. -, sollte für behinderte Menschen zur normalen Sache werden, auf die
man sich freut und die man entsprechend genießen kann.
Für uns steht die Herstellung der Barrierefreiheit bei
allen Projekten und Maßnahmen der Bundesregierung
auf dem Gebiet der Tourismuspolitik im Vordergrund.
Der Bundesregierung ist dieses Thema wichtig. Sie setzt
sich dafür ein, dass barrierefreies Reisen im gesamten
Spektrum der touristischen Leistungskette verankert
wird.
Barrierefreiheit erhöht die Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland. Gerade im Hinblick auf die
Sicherung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des
Deutschlandtourismus stehen wir hier vor einer zentralen Aufgabe.
Wir setzen dabei auf Verantwortung und Bereitschaft
in der Tourismusbranche. Jedem Hotelier und Gastwirt
ist doch klar, dass er sich einen Wettbewerbsvorteil verschafft, wenn er auf die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Älteren und Behinderten eingeht. Gerade
angesichts der demografischen Entwicklung ist die Teilhabe aller Menschen am Tourismus von zentraler Bedeutung. Wir begrüßen deshalb jedwede Art von Initiativen und Projekten von Verbänden und Vereinen, um die
Öffentlichkeit und die Tourismuswirtschaft weiter für
das Thema barrierefreier Tourismus zu sensibilisieren.
Zentrale Aufgabe der Bundesregierung ist es, die
Rahmenbedingungen für barrierefreien Tourismus in
Deutschland zu verbessern. Zu diesem Zweck hat das
Bundeswirtschaftsministerium Studien zum Thema Barrierefreiheit gefördert. Die ökonomische Bedeutung des
barrierefreien Tourismus in Deutschland wurde untersucht und Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zu dessen
Qualitätsverbesserung herausgearbeitet.
Die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in
Deutschland“ hat von 2008 bis heute mehrere Modellregionen in sich vereint und setzt sich engagiert für die
Entwicklung von Angeboten für behinderte Gäste in den
Regionen ein.
Die Bundesregierung begleitet die Umsetzung der
UN-Behindertenkonvention im Bereich Tourismus mit
flankierenden Projekten. Sie fördert die Entwicklung
und Vermarktung barrierefreier Tourismusangebote und
Dienstleitungen. Im November 2011 konnte der Startschuss für das Projekt „Tourismus für alle: Entwicklung
und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen in Deutschland“ gegeben werden. Am
31. Mai 2012 hat der Tourismusbeauftragte der Bundesregierung, Herr Ernst Burgbacher, das Projekt in Berlin
vorgestellt. Es läuft bis 2013 und trägt zur Erfüllung des
Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention bei. Träger des
Projekts ist das Deutsche Seminar für Tourismus in Kooperation mit der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo. In die Durchführung eingebunden sind die Tourismuswirtschaft, die Deutsche Zentrale
für Tourismus, die Behindertenverbände, Verkehrsunternehmen, Landesmarketingorganisationen sowie eine
Reihe weiterer fachlicher Einrichtungen. Die Bundesregierung unterstützt das Projekt mit knapp 500 000 Euro.
Ziel ist es, eine einheitliche Kennzeichnung zu entwickeln und damit die vielen verschiedenen Kennzeichnungen durch ein einheitliches System zu ersetzen. Damit
fördern wir eine Transparenz der bestehenden Angebote
und Leistungen. Darüber hinaus sollen Führungspersonal und Mitarbeiter der Tourismusbranche für das
Thema sensibilisiert und geschult werden. Außerdem
wird eine Internetplattform erarbeitet, auf der sich Reisende über barrierefreie Angebote informieren können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Eine aktuelle Umfrage des Flughafenverbandes ADV
über die PRM-Leistungen an deutschen Flughäfen belegt, dass die deutschen Flughäfen bei der Unterstützung von Reisenden mit eingeschränkter Mobilität vorbildlich sind. So erhielten im vergangen Jahr mehr als
1 Million mobilitätseingeschränkter Reisender Unterstützung auf den Flughäfen, unter anderem beim Ein-,
Aus- und Umsteigen. Das sind sehr positive Nachrichten
und zeigt, dass die Branche auch hier auf dem richtigen
Weg ist.
Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Tourismus in
Deutschland werden sollte und vor allem werden kann.
Die Teilhabe aller Menschen am Tourismus muss ermöglicht werden. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam
erreichen, in Absprache mit den Ländern, Regionen,
Kommunen und den verantwortlichen Akteuren der Tourismuswirtschaft.
In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Berliner Fernsehturms steht:
Aufgrund der im Berliner Fernsehturm bestehenden
baulichen Gegebenheiten ist, um die Sicherheit der
Besucher im Evakuierungsfall zu gewährleisten,
Rollstuhlfahrern und Personen mit aktueller Gehbehinderung, d. h. Personen, die sich nicht ohne
fremde Hilfe oder ohne Hilfsmittel, wie Krücken
etc. fortbewegen können, der Zutritt nicht möglich.
Was hat das mit der heutigen Debatte zu tun? Der
Berliner Fernsehturm ist seit 1969 nicht nur das Wahrzeichen der Hauptstadt, sondern auch eine der bekanntesten und beliebtesten Sehenswürdigkeiten für Touristinnen und Touristen aus aller Welt. In einer kürzlich von
der Deutschen Zentrale für Tourismus veröffentlichten
Studie über die 100 Topreiseziele in Deutschland nimmt
der Fernsehturm einen vorderen Platz ein.
Aber es darf eben nicht jede oder jeder hinauf. Dabei
gibt es viele Beispiele, die zeigen, dass es möglich ist,
auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen den Zugang zu solchen Bauwerken zu ermöglichen. Nennen
möchte ich hier stellvertretend die Fernsehtürme in Düsseldorf und Schwerin, den Euromast in Rotterdam, den
Skytower in Toronto sowie seit den jeweiligen Paralympics die Akropolis in Athen und die Chinesische Mauer
in Padaling.
Die fehlende Barrierefreiheit beim Berliner Fernsehturm war auch Thema in einer Kleinen Anfrage der Linken, denn der Bund steht hier als Hauptaktionär bei der
Deutschen Telekom bzw. ihrer Tochtergesellschaft Deutsche Funkturm GmbH direkt in der Verantwortung. Deswegen ist es aus meiner Sicht unakzeptabel, wenn die
Bundesregierung auf die Frage, wie sie sich für die
Schaffung der Barrierefreiheit auf dem Fernsehturm einsetzen wird, am 22. Februar 2010 - Drucksache 17/786 antwortete: „Die Bundesregierung sieht hierfür keine
Veranlassung.“
Auf meine Frage, welche der 100 Topreiseziele
denn barrierefrei seien und welche der 100 Topreiseziele auch mit Blick auf die Schaffung von Barrierefreiheit Fördermittel des Bundes erhielten, antwortete
die Bundesregierung am 3. Mai 2012 - Drucksache
17/9518 -:
Informationen, welche der 100 beliebtesten Sehenswürdigkeiten in Deutschland barrierefrei sind, liegen der Bundesregierung nicht vor. … Bei der Beantwortung der Frage nach bereitgestellten Mitteln
des Bundes für bauliche Investitionen, Marketingmaßnahmen usw. für die 100 beliebtesten Sehenswürdigkeiten kann nicht nach barrierefreien und
nichtbarrierefreien Sehenswürdigkeiten unterschieden werden …
So viel Unkenntnis ist keine gute Grundlage, um den
barrierefreien Tourismus voranzubringen und Fördermittel des Bundes gezielt und effizient einzusetzen. Vor
einem Jahr, am 9. Juni 2011, hatten wir die erste Lesung
zu diesem Antrag im Bundestag. Bereits damals wies ich
darauf hin, dass die Linke bereits am 24. September
2008 einen Antrag mit dem Titel „Barrierefreier Tourismus für alle in Deutschland“ - Drucksache 16/10317 in den Bundestag eingebracht hatte. Unser Antrag
wurde mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
abgelehnt. Der nun zur Abstimmung stehende Antrag
der SPD hat mit unserem Antrag große, teilweise wörtliche Übereinstimmungen. Deswegen wird die Linke dem
Antrag auch zustimmen.
Was hat sich in diesem Bereich im letzten Jahr getan?
In zunehmend mehr Bundesländern, in Kommunen, touristischen Regionen, in der Tourismuswirtschaft und bei
Verkehrsunternehmen steht das Thema „Barrierefreier
Tourismus“ auf der Tagesordnung. Es gibt zunehmend
mehr barrierefreie Angebote und auch bessere Informationen darüber. Wir hatten auf der ITB 2012 erstmalig,
vor allem Dank der Initiative und Beharrlichkeit der
NatKo, einen Tag des barrierefreien Tourismus - wenn
auch noch ohne Unterstützung der Bundesregierung.
Und es gibt ein von der Bundesregierung gefördertes
Projekt „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier
Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“ unter Federführung des
Deutschen Seminars für Tourismus und Mitwirkung der
Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle
e.V., NatKo.
Aber es wird immer noch mehr geredet als getan. Ich
verzeichne auch weiterhin Gleichgültigkeit und Ignoranz. So hat Bundesverkehrsminister Ramsauer immer
noch nicht begriffen, warum Fragen der Barrierefreiheit
im Bundesbaugesetz verankert werden müssen, warum
Förderungen des Bundes mit der Schaffung von Barrierefreiheit verbunden werden müssen oder warum eine
Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes mit der
Verpflichtung zum Einsatz barrierefreier Busse im Fernlinienverkehr verbunden werden muss. Hier wird von einem Bundesminister permanent gegen Bundesgesetze
verstoßen, denn seit dem 26. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in Deutschland.
Mein Fazit: Die Bundesregierung nimmt nur unzureichend den Beschluss des Bundestages aus dem Jahr
Zu Protokoll gegebene Reden
2009, ihre eigenen Tourismuspolitischen Leitlinien sowie ihre in der Koalitionsvereinbarung erklärten Ziele
hinsichtlich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der Förderung des barrierefreien Tourismus ernst.
Für die Linke hat barrierefreier Tourismus neben der
wirtschaftspolitischen vor allem eine menschenrechtliche und soziale Dimension. Wir wollen die UN-Behindertenrechtskonvention - insbesondere Art. 30 - und
den Ehrenkodex der Welttourismusorganisation, „Tourismus für Alle“, in die alltägliche Praxis überführen.
Das nützt Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in
ihren Kommunen, beim öffentlichen Personenverkehr,
beim Einkaufen, bei Theater-, Sport- oder anderen Freizeitveranstaltungen, schafft neue, moderne Arbeitsplätze - auch für Menschen mit Behinderungen - und ist
nachhaltig innovativ.
Eine barrierefreie Infrastruktur nützt nicht nur allen
Bürgerinnen und Bürgern. Sie ist auch in Art. 3 Abs. 3
Grundgesetz vorgeschrieben. Fehlende Barrierefreiheit
ist ein Wettbewerbsnachteil. Laut der Studie „Barrierefreier Tourismus für Alle in Deutschland - Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zur Qualitätssteigerung“ des Wirtschaftsministerium aus dem Jahre 2008 ist für etwa
10 Prozent der Bevölkerung eine barrierefrei zugängliche Umwelt zwingend erforderlich, für etwa 30 bis
40 Prozent notwendig - das entspricht etwa 25 Millionen Menschen - und für 100 Prozent komfortabel. Demografisch bedingt wird die Zahl derjenigen, die auf
Barrierefreiheit angewiesen sind, weiter zunehmen. Das
zeigt auch ein Blick auf die Zahl der Urlaubsreisenden
zwischen 65 bis 75 Jahren. Hier wird bis 2020 ein Anstieg um 40 Prozent erwartet. In dieser Reisegruppe ist
aber auch ein besonders hoher Anteil an Deutschlandreisen festzustellen. Er beträgt 41,2 Prozent, im Durchschnitt liegt dieser bei 30,5 Prozent. Es handelt sich dabei also keineswegs um eine vernachlässigbare
Marktnische.
Barrierefreiheit muss umfassend gedacht werden von allen Beteiligten. Gebäude für Rollstuhlfahrerinnen
und Rollstuhlfahrer zugänglich zu machen, ist nur ein
Aspekt eines barrierefreien Angebots. Es gilt, auch die
Belange von Menschen mit Sinnesbehinderungen, chronisch-somatischen und psychischen Erkrankungen und
Lernschwierigkeiten zu berücksichtigen. Mögliche Effekte sind laut einer Studie des FUR bis zu 5 Milliarden
Euro zusätzliche Einnahmen in der Tourismusbranche
sowie zusätzliche 90 000 Arbeitsplätze.
Tipps für Maßnahmen und Informationen zum barrierefreien Tourismus bietet die „Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle“. Anbieter können damit ihr
Angebot über Checklisten auf Barrierefreiheit überprüfen und gezielt verbessern. Derzeit steht die NatKo vor
großen Finanzierungsschwierigkeiten. Sie zu erhalten,
ist von großer Bedeutung.
Über das Thema Barrierefreiheit wird häufig debattiert. Der Tourismusbeauftragte Ernst Burgbacher kündigte am 31. Mai 2012 an, dass Barrierefreiheit das
Markenzeichen des Tourismus in Deutschland werden
soll. Dann müssen aber endlich Taten den Worten folgen. Das, was die Bundesregierung liefert, ist mehr als
dürftig und zeigt einmal mehr, wie es um die soziale Dimension der Nachhaltigkeit bei dieser Bundesregierung
bestellt ist!
Der vorliegende Antrag greift viele Punkte auf und
zeigt damit wie umfassend das Thema gedacht werden
muss. Genau hier hat der Antrag aber auch einige kleine
Schwächen, über die wir schon in den Ausschüssen gesprochen haben. Ich möchte noch einmal betonen: Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung haben auch im
Bereich Tourismus ein Recht auf Teilhabe. Darüber hinaus spricht für den Abbau von Barrieren im Tourismus
auch die wirtschaftliche Sicht. Ein Ausbau des barrierefreien Tourismus ist unumgänglich.
Deshalb gilt es folgende Kernfrage zu lösen: Wie
kann sich unsere Tourismuswirtschaft auf diesen Anstieg
älterer Reisender mit ihren Bedürfnissen vorbereiten?
Hier bedarf es erstens zielgruppengerechter Ansprache
und auf Senioren abgestimmte Angebote. Zweitens brauchen wir Barrierefreiheit, um den Senioren von morgen
Deutschland als attraktives Reiseziel zu präsentieren.
Diese Senioren werden reiseerfahren und deshalb anspruchsvoll bei der Ausstattung ihrer Wunschdestination
sein. Der uneingeschränkte Zugang zu touristischer Infrastruktur darf deshalb in Zukunft nicht die Ausnahme
sein, sondern muss zur Selbstverständlichkeit werden.
Drittens muss die Erreichbarkeit von Destinationen mit
öffentlichem Nahverkehr sichergestellt werden. Das
komplette touristische Produkt muss nachhaltig und
barrierefrei gestaltet werden. Dies schließt alle Teilbereiche der Reisevorbereitung und Reisedurchführung
mit ein; unter anderem lesbare Reiseinformationen,
Möglichkeiten des Gepäcktransports, eine adäquate Gesundheitsversorgung vor Ort und vieles mehr.
Auch im internationalen Vergleich ist es für Deutschland wichtig, sich als barrierefreie Tourismusdestination zu positionieren: Der demografische Wandel findet
nicht nur in Deutschland statt. Mit einem Ausbau des
barrierefreien Tourismus können wir für Deutschland im
europäischen Vergleich ein bedeutendes Alleinstellungsmerkmal schaffen und damit auch internationale mobilitätseingeschränkte Gäste ansprechen. Gleichzeitig kann
ein barrierefreier Deutschland-Tourismus zum einen als
Indikator für Innovationsbereitschaft und soziale Nachhaltigkeit stehen und ebenso als Vorbild für den Tourismus des 21. Jahrhunderts dienen.
Ich fasse mich noch einmal zusammen: Auf den Ausbau eines nachhaltigen, barrierefreien Tourismus hat jeder Betroffene ein Recht. Es ist gleichzeitig eine Notwendigkeit und enorme ökonomische Chance für die
Tourismusindustrie in Deutschland. Die Erleichterungen kommen dabei im Endeffekt allen zugute. Die „Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle“, Natko,
bringt den gesellschaftlichen Gewinn mit dem Satz:
„Für 10 Prozent zwingend erforderlich, für über
30 Prozent hilfreich, für 100 Prozent komfortabel“, auf
den Punkt. Hierbei handelt es sich nur um die aktuellen
Zahlen. Die Tendenz ist steigend. Unsere Aufgabe ist es
jetzt, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um der Tourismusindustrie diesen notwendigen Umbau möglichst
schnell zu ermöglichen. Der Antrag schlägt trotz einiger
kleiner Mängel die richtige Richtung ein. Deshalb werden wir zustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Tourismus empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9853, den Antrag der Fraktion der SPD
mit der Drucksachennummer 17/5913 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen. Die Koalition hat zugestimmt, die Opposition war dagegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Tankred
Schipanski, Albert Rupprecht ({1}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann
({2}), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit
Ressortforschungsaufgaben stärken
- Drucksachen 17/7183, 17/9912 Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Dr. Martin Neumann({3})
Krista Sager
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Die Ressortforschung ist ein unverzichtbarer Bestandteil des deutschen Wissenschaftssystems. Seit Jahren verzeichnen wir einen wachsenden Bedarf an qualitativ
hochwertigen wissenschaftsbasierten Erkenntnissen bei
den verschiedenen Ressorts. Weil wir um die große Bedeutung der Ressortforschung wissen, wollen wir die betroffenen Einrichtungen weiterentwickeln und machen
mit unserem Antrag ganz konkrete Vorschläge.
Der Bundesbericht für Forschung und Innovation
2012 weist 40 öffentlich-rechtliche Bundeseinrichtungen mit Forschungs- und Entwicklungsaufgaben aus.
Hinzu kommt die dauerhafte Zusammenarbeit mit sechs
überwiegend privatrechtlich verfassten FuE-Einrichtungen. Zusammen werden sie als Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben bezeichnet. Neben
ihren hoheitlichen Funktionen unterstützen sie das jeweilige Ressort bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben
durch - vereinfacht gesprochen - wissenschaftsbasierte
Politikberatung. Diese erfolgt entweder durch die Einrichtungen selbst, in Kooperation mit anderen Forschungseinrichtungen oder durch die Vergabe von Forschungsaufträgen an externe Forschungsnehmer.
Im Jahr 2004 begann der Wissenschaftsrat auf Bitten
des BMBF, zunächst 13 Ressortforschungseinrichtungen
des Bundes zu evaluieren. Er stellte in seiner 2007 vorgelegten ersten Gesamtstellungnahme fest, dass die
FuE-Leistungen der Einrichtungen „häufig von guter
bis sehr guter Qualität“ seien, gab jedoch auch Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Ressortforschung.
Der Wissenschaftsrat benannte insbesondere das FuEManagement, Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem,
wissenschaftliche Qualitätssicherung sowie personalund haushaltsrechtliche Rahmenbedingungen als Reformfelder. Zwischen 2007 und 2010 begutachtete der
Wissenschaftsrat in einem zweiten Schritt die bis dahin
noch nicht evaluierten Einrichtungen. Die zweite Gesamtstellungnahme bestätigte die Ergebnisse der ersten
Evaluation und mahnte zusätzlich eine stärkere Profilierung sowie eine Verstärkung der internationalen Aktivitäten an.
Seit geraumer Zeit findet in mehreren Ressorts eine
erfolgreiche Umstrukturierung der Ressortforschungseinrichtungen statt. Das BMELV hat diesen Prozess bereits erfolgreich abgeschlossen. Mit unserem Antrag
wollen wir die Bundesregierung bei der Gestaltung dieses Prozesses mit konstruktiven Vorschlägen unterstützen und den Forderungen des Wissenschaftsrats parlamentarischen Nachdruck verleihen.
Lassen Sie mich diese Vorschläge im Einzelnen vorstellen. Zunächst muss zur Verbesserung der wissenschaftlichen Qualitätssicherung und Transparenz überprüft
werden, welche Einrichtungen künftig als Ressortforschungseinrichtung geführt werden sollen. Zentrales
Kriterium für Verbleib und Aufnahme muss sein, dass die
betreffenden Institutionen über eigene wissenschaftliche
Kompetenz verfügen, indem sie entweder eigene Forschung betreiben oder FuE-Projekte extern vergeben.
Im Hinblick auf Qualität und Struktur sind die 46 Einrichtungen höchst heterogen. Ein Blick auf den FuE-Anteil der 46 Ressortforschungseinrichtungen offenbart
dies. Während der FuE-Anteil bei 14 Einrichtungen unter 10 Prozent liegt, beträgt er bei 15 Institutionen
50 Prozent und mehr. Einige Einrichtungen - stellvertretend sei auf die Bundesanstalt für Materialforschung
und -prüfung, BAM, verwiesen - sind zweifellos hervorragend und wissenschaftlich exzellent aufgestellt. Andere müssen sich einer kritischen Überprüfung der wissenschaftlichen Kompetenz stellen. Diese Überprüfung
setzt voraus, dass die Ressorts zunächst ihre Forschungsbedarfe definieren und systematisch klären, welche Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben erforderlich sind.
Zweitens muss die Koordination zwischen den Einrichtungen, aber auch zwischen den übergeordneten
Ressorts verbessert werden. Nur so können wissenschaftliche Synergien optimal genutzt und Doppelarbeit
vermieden werden. Wichtige Voraussetzung hierfür ist
die vom Wissenschaftsrat empfohlene Kartierung der
FuE-Landschaft des Bundes und der Länder. Insbesondere in Politikfeldern, die auf europäischer Ebene koor22018
diniert werden, empfiehlt sich eine verstärkte Zusammenarbeit.
Drittens sehen wir in der wissenschaftlichen Qualitätssicherung eine zentrale Herausforderung. Diese
muss auf mehreren Säulen fußen. Alle Einrichtungen
müssen regelmäßig von erfahrenen externen Experten
evaluiert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt muss
selbstverständlich überprüft werden, ob die gegebenen
Empfehlungen auch umgesetzt wurden. Da die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Institutionen maßgeblich vom jeweiligen Leitungspersonal abhängt, müssen
wissenschaftliche Führungspositionen auch ausschließlich durch ausgewiesene Wissenschaftler besetzt werden. Wissenschaftliche Beiräte in den Einrichtungen
können einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung
leisten. Auch erachten wir es als erforderlich, dass passgenaue Qualitätssicherungssysteme entwickelt werden,
die auf validen Indikatoren basieren, zum Beispiel Anzahl und Qualität der Publikationen, Einwerbung von
Drittmittelprojekten, Kundenzufriedenheit etc.
Viertens wünschen wir uns - die Empfehlung der
zweiten Gesamtstellungnahme des Wissenschaftsrats
aufgreifend - eine noch stärkere Vernetzung der Einrichtungen untereinander und mit dem nationalen und
internationalen Wissenschaftssystem. Dies kann beispielsweise durch Personalaustausch oder gemeinsame
Berufungen geschehen. So würde die Sichtbarkeit der
Ressortforschung spürbar erhöht und die notwendige
Internationalisierung vorangetrieben werden.
Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben werden ebenso wie universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen an den Maßstäben wissenschaftlicher Qualität gemessen. Daher gilt es, die Einrichtungen mit
Ressortforschungsaufgaben als Teil der Wissenschaftslandschaft zu betrachten und im Hinblick darauf Sorge
für Rahmenbedingungen zu tragen, die einen fairen wissenschaftlichen Wettbewerb mit universitären und
außeruniversitären Einrichtungen ermöglichen. Größere administrative Freiheiten müssen für den jeweiligen Einzelfall geprüft und umgesetzt werden. Im Zuge
der Verabschiedung des Entwurfs für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz am 2. Mai 2012 hat die Bundesregierung
grundsätzlich ihre Absicht hierzu bekundet.
Schließlich fordern wir, dass über die hier vorgestellten Vorschläge zur Weiterentwicklung der Ressortforschung in den künftigen Ausgaben des Bundesberichts
für Forschung und Innovation detaillierter berichtet
wird. Zu einem umfassenden Bericht zählen mindestens
ein Überblick über die Schritte zur Verbesserung der institutionellen Rahmenbedingungen, über Maßnahmen
und Ergebnisse zur Qualitätssicherung, die Forschungspläne einzelner Ressorts sowie Evaluierungsschwerpunkte in den Einrichtungen. 2014 soll erstmals über die
Anpassung der Liste der Einrichtungen des Bundes mit
Ressortforschungsaufgaben berichtet werden.
Insgesamt gesehen ist die Qualität der Forschungsleistungen in Einrichtungen, die weitgehend den
„Wissenschaftlichen Ressortforschungseinrichtungen“ entsprechen, durchgängig gut bis sehr gut, in
einigen Bereichen auch international hervorragend.“
Das schreibt der Wissenschaftsrat selbst in seiner
Stellungnahme vom 12. November 2010. Mit dem „Konzept einer modernen Ressortforschung“ der Bundesregierung aus dem Jahr 2007 wurde in den Ressorts ein
kontinuierlicher Modernisierungsprozess angestoßen,
durch den in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Die Bundesregierung hat auf die
zweite Gesamtstellungnahme des Wissenschaftsrats mit
einem Bericht zur Weiterentwicklung der Ressortforschung reagiert, welcher dem Haushaltsausschuss am
1. Juli 2011 vorgelegt wurde.
Der vorliegende Antrag der Koalition von CDU/CSU
und FDP, den der Kollege Schipanski bereits im Detail
geschildert hat, verleiht den Handlungsempfehlungen
des Wissenschaftsrates nun parlamentarischen Nachdruck und signalisiert, dass die Koalition davon ausgeht, dass die durch den Wissenschaftsrat aufgezeigten
Optimierungspotenziale durch die Bundesregierung
auch konsequent und zügig genutzt werden und der Modernisierungsprozess fortgeführt wird, um die anerkannt
hohe Leistungsfähigkeit der Einrichtungen auch zukünftig zu sichern.
Eine Kernkritik der Opposition ist, dass die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes vorerst nicht vom
Anwendungsbereich des aktuell vorliegenden Wissenschaftsfreiheitsgesetzes, das wir voraussichtlich in der
kommenden Sitzungswoche in erster Lesung beraten
werden, erfasst sind. Es wird befürchtet, dass sich die
Rahmenbedingungen für die Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben von denen der außeruniversitären
Forschungseinrichtungen weiter auseinanderentwickeln. Es stimmt, dass die Ressortforschungseinrichtungen nicht am jährlichen 5-Prozent-Aufwuchs des Pakts
für Forschung und Innovation partizipieren. Allerdings
profitieren die Einrichtungen vom 6-Milliarden-EuroAufwuchs für Forschung in dieser Legislaturperiode.
Ich möchte Sie daran erinnern, das es der schwarzgelben Koalition zu verdanken ist, das Bildung und Forschung höchste Priorität eingeräumt werden.
Um zu verdeutlichen, dass die Ressortforschung hiervon nicht abgeschnitten wird, möchte ich Ihnen noch
einmal die Verteilung der zusätzlichen Forschungsmittel
auf die Ressorts vor Augen führen: 56 Prozent der Mittel
entfallen auf das BMBF, 18 Prozent auf das BMWi,
3 Prozent auf das BMVg, jeweils 2 Prozent auf das AA,
das BMVBS und das BMU, jeweils 1 Prozent auf das
BMELV, das BMG und BMI sowie 14 Prozent auf den
Energie- und Klimafonds. Aus dem aktuellen Bundesbericht Forschung und Innovation 2012 lässt sich
entnehmen, dass die Sollausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung an Ressortforschungseinrichtungen im Jahr 2012 circa 874 Millionen Euro betragen.
Das sind 33 Millionen Euro mehr als im Jahr 2011, was
einer Steigerung von rund 4 Prozent entspricht.
Selbstverständlich muss es unser Ziel sein, dass die
Ressortforschungseinrichtungen im Spannungsfeld von
Politikberatung und wissenschaftsbasierter AufgabenZu Protokoll gegebene Reden
wahrnehmung gleichberechtigte Partner im Wissenschaftssystem sind. Als Haushälter möchte ich Ihnen
jedoch darlegen, warum ich die vorläufige Ausklammerung der Ressortforschung von den Elementen des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes als angemessen betrachte.
Vor dem Hintergrund der Heterogenität der Ressortforschungseinrichtungen - 15 Einrichtungen weisen einen
Eigenanteil an Forschung am Tätigkeitsspektrum von
50 Prozent und mehr aus, bei 14 Einrichtungen liegt
dieser Anteil bei 10 Prozent und darunter - und ihren
spezifischen gesetzlich geregelten Aufträgen halte auch
ich die vom Wissenschaftsrat vorgeschlagene Ausdifferenzierung in forschungsintensive und administrative
Einrichtungen nicht für zielführend.
Der Ressortforschung kommt eine Brückenfunktion
zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu. Im
Unterschied zu anderen Forschungseinrichtungen unterliegen die Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben als nichtselbstständige Behörden besonderen
rechtlichen Grundlagen; Forschung und Entwicklung ist
in diesen Einrichtung kein Selbstzweck, sondern dient
im Kern der Wahrnehmung hoheitlicher Dienst- und
Amtsaufgaben, wie beispielsweise die Gewährleistung von Sicherheit in Technik und Chemie durch die
Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung oder
die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere der Infektionskrankheiten durch
das Robert-Koch-Institut.
Aufgrund der angesprochenen Heterogenität und des
geltenden Ressortprinzips, welches besagt, dass die
Feststellung des Ressortforschungsbedarf und die Ausrichtung bzw. Weiterentwicklung der Ressortforschung
in den Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Ressorts
fallen, ist es folgerichtig, dass die zuständigen Ressorts
aufgefordert sind, zu prüfen, inwieweit entsprechende
Flexibilisierungen in den Bereichen Haushalt, Personal
und Bauverfahren auf ihre Ressortforschungseinrichtungen oder auf einzelne Teile angewendet werden können. Die grundsätzliche Absicht hierzu hat die Bundesregierung durch einen gesonderten Beschluss anlässlich
der Verabschiedung des Entwurfes für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetzes im Kabinett am 2. Mai 2012 bekundet.
Im Einzelnen sollten die Ressorts folgende Maßnahmen prüfen: In Anbetracht des Spannungsverhältnisses
zwischen gesetzlichem Stellenabbau und der Erforderlichkeit hoch qualifizierter Experten in den Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben sollte erstens auf
die Angemessenheit der Stellenausstattung im jährlichen
Haushaltaufstellungsverfahren besonders geachtet werden. Zweitens sollte der Flexibilisierungsbedarf bei der
Bezahlung von Beamten und Arbeitnehmern im Bereich
des wissenschaftlichen Personals für die Ressortforschungseinrichtungen geprüft werden. Dies beinhaltet
die Gewährung von Zulagen als auch die Reaktionsgeschwindigkeit bei der Abwehr von Abwerbeangeboten
aus der Wirtschaft oder dem Ausland.
Die ressortspezifische Prüfung von Möglichkeiten zur
Flexibilisierung ist meiner Ansicht nach ein vernünftiger Kompromiss, der den großen Unterschieden zwischen den Einrichtungen Rechnung trägt und auch im
Hinblick auf haushalterische Folgewirkungen das richtige Maß ansetzt. Das Ziel einer gleichberechtigten
Partnerschaft gilt nicht nur im Hinblick auf die außeruniversitären Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen, sondern auch im Hinblick auf die ministerielle
Verwaltungsebene.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Opposition, abgesehen davon, verfügen die Ressortforschungseinrichtungen bereits heute über Möglichkeiten
der Flexibilisierung. Gemäß § 5 des Haushaltgesetzes
stehen den Einrichtungen Möglichkeiten einer weitgehenden Flexibilisierung von Haushaltsmitteln zur Verfügung, womit sie auf neue Entwicklungen und Erkenntnisse im Forschungsbereich schnell und flexibel
reagieren können. Diese werden ressort- und einrichtungsspezifisch genutzt und bei Bedarf angepasst.
Dies gilt auch für den Bereich der Beschaffungen.
Um international konkurrenzfähig zu sein, müssen die
Forschungseinrichtungen wirtschaftlich und zügig die
für die Forschungsvorhaben erforderliche Infrastruktur,
insbesondere die entsprechenden technischen Gerätschaften, beschaffen können. Die Ressortforschungseinrichtungen können Waren und Dienstleistungen bis zu
einem Höchstwert von 25 000 bzw. 30 000 Euro im Rahmen der freihändigen Vergabe einkaufen. Zudem profitieren sie - wie auch andere Forschungseinrichtungen von der sogenannten Forschungsklausel im Vergaberecht, wonach Aufträge bis zum EU-Schwellenwert ohne
förmliche Ausschreibung vergeben werden können.
Insgesamt kann man festhalten, dass die Ressortforschungseinrichtungen schon heute über gute institutionelle Rahmenbedingungen verfügen, unter denen sie
- wie bereits eingangs erwähnt - gute bis international
hervorragende Forschungsleistungen erzielen. Die
Koalition von CDU/CSU und FDP hat mit dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung beauftragt, die
Stärkung der Potenziale der Ressortforschungseinrichtungen weiterhin voranzutreiben und die Leistungsfähigkeit der Ressortforschung stetig weiterzuentwickeln. Ich denke, mit dem vorliegenden Antrag ist es uns
gelungen, den zentralen Empfehlungen des Wissenschaftsrats Nachdruck zu verleihen und somit die starke
Stellung der Ressortforschung in der nationalen und internationalen Wissenschaftslandschaft auch zukünftig zu
erhalten.
Mit den Ressortforschungseinrichtungen des Bundes
beschäftigte sich der Wissenschaftsrat erstmals im Jahr
2004. Bereits in dieser ersten Evaluation hat das Gremium die Rolle der Ressortforschungseinrichtungen
grundsätzlich positiv bewertet, aber auch auf Handlungsbedarfe hingewiesen.
Schon im Jahr 2007, noch zu Zeiten der Großen Koalition und unter aktiver Einflussnahme der SPD, hat
das BMBF ein Papier mit dem Titel „Zehn Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ publiziert, in welchem
die Verbesserungsvorschläge des Wissenschaftsrats aufgegriffen und in konkrete Handlungsvorschläge gefasst
Zu Protokoll gegebene Reden
wurden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass
dieses Papier noch heute über die Website des BMBF
abrufbar ist. Die inhaltlichen Zielvorgaben für eine
politische Weichenstellung hin zu einer zukunfts- und
leistungsfähigen Ausrichtung der Ressortforschungseinrichtungen, die den gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird, sollten daher
auch den Koalitionsfraktionen hinlänglich bekannt sein.
Man könnte demnach annehmen, dass mit einer solchen Vorlage eine politische Umsetzung - vor allem im
parlamentarischen Raum - reine Formsache wäre. Liest
man aber den vorliegenden Antrag von Union und FDP,
muss man mit Enttäuschung feststellen, dass dem nicht
so ist. Vorab sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass zwischen Publikation der Leitlinien und dem
jetzt vorliegenden Antrag knapp fünf Jahre vergangen
sind. Hatte die Union in der letzten Wahlperiode mit der
SPD-Bundestagsfraktion noch einen Koalitionspartner
an der Seite, der sie dazu drängte, in dieser Frage als
ressortführende Partei endlich zu handeln, so muss man
heute feststellen, dass ohne den nötigen Druck offenbar
alles wesentlich länger dauert.
Der Umstand, dass man auf einen Antrag der Regierungsfraktionen in dieser Frage so lange warten muss,
ist an sich schon äußerst unbefriedigend, wäre aber hinnehmbar, wenn der Antrag selbst eine inhaltliche Tiefe
hätte, die eine solche „Bearbeitungszeit“ rechtfertigen
könnte. Mit Ernüchterung muss man aber feststellen,
dass der vorliegende Antrag leider substanziell hinter
den Leitlinien des BMBF zurückbleibt - er es also nicht
vermag, die Mindestzielvorgaben des eigenen Ministeriums zu erfüllen.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Wird in den „Zehn
Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ unter
Punkt fünf explizit eine Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses - einhergehend mit der Schaffung
von Weiterqualifizierungsmaßnahmen des wissenschaftlichen Personals an den jeweiligen Einrichtungen - gefordert, so findet sich dieser wichtige Punkt im Forderungskatalog des Antrags nicht wieder. Zwar wird im
Begründungsteil in dieser Frage noch explizit auf die
Empfehlungen des Wissenschaftsrats hingewiesen und
festgestellt, dass zur optimalen Ausschöpfung der Potenziale der Ressortforschungseinrichtungen die Nachwuchsförderung eine wichtige Rolle spielt. Doch leider
unterlässt es der Antrag, diesen Punkt im Forderungsteil
aufzugreifen. Oder um es anders auszudrücken: Es wird
ein Bedarf identifiziert; allein die logische Schlussfolgerung aus der Analyse hin zu einer Handlungsempfehlung erfolgt nicht. Daher sei an dieser Stelle die Frage
erlaubt, wie die Regierungsfraktionen dem künftigen Bedarf der Ressortforschung Rechnung tragen möchten,
wenn sie den jeweiligen Einrichtungen nicht die Mittel
in die Hand geben, qualifizierten wissenschaftlichen
Nachwuchs für ihre spezifischen Bedarfe auszubilden?
Im Antrag der Koalitionsfraktionen ist zudem die
Rede davon, dass die Ressortforschungseinrichtungen
- insbesondere solche mit einem hohen Forschungsanteil - „im Wettbewerb zu universitären sowie außeruniversitären … Wissenschaftseinrichtungen“ stehen
und sie folglich auch „im Wettbewerb um hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gestärkt werden“ müssen. Zur Bewältigung dieser Aufgabe
müssen diese Einrichtungen jedoch über geeignete Möglichkeiten der akademischen Ausbildung verfügen, um
entsprechend qualifiziertes Personal möglichst frühzeitig zu rekrutieren und an sich zu binden. Denn die Ressortforschungseinrichtungen werden ihren künftigen
akademischen Personalbedarf nicht allein durch die
Anwerbung externen Personals decken können.
Aber selbst inhaltliche Punkte, die tatsächlich von
den „Zehn Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ ihren Weg in den Antrag gefunden haben,
werden bei genauer Betrachtung im Spiegel der Regierungsrealität als das enttarnt, was sie sind: reine Lippenbekenntnisse. So findet sich in besagtem Antrag bzw.
in den Leitlinien die richtige Einschätzung wieder, dass
im Sinne einer stärkeren Vernetzung der jeweiligen Ressortforschungseinrichtungen mit dem Wissenschaftssystem gemeinsame Berufungen mit Hochschulen als „geeignetes Mittel“ anzusehen sind. Nach Auskunft der
Bundesregierung auf eine schriftliche Frage des Abgeordneten Klaus Hagemann ist diese Berufungspraxis
seit dem Jahr 2007 - also seitdem diese Forderung erstmals in den Leitlinien der Bundesregierung publik gemacht wurde - in lediglich drei({0}) Ressortforschungseinrichtungen erfolgt. Alle drei Einrichtungen fallen in den
Geschäftsbereich des BMWi, was ebenfalls für eine nur
punktuelle Umsetzung dieser Vorgabe spricht.
Auch wenn der Antrag zu der Erkenntnis kommt, dass
die „wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Einrichtungen … maßgeblich von deren wissenschaftlichem
Leitungspersonal“ abhängt, scheint es die Bundesregierung im Einzelfall besser zu wissen. Als Negativbeispiel
sei an dieser Stelle die Berufungspraxis des Bundesministers Ramsauer bei der Ressortforschungseinrichtung Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, BBSR, genannt. Offenbar scheint ebenjener
Bundesminister wissenschaftliche Expertise und Exzellenz mit Parteizugehörigkeit zu verwechseln. Man weiß
zwar, dass der neue Leiter ein schwarzes Parteibuch
hat; eine einschlägige Publikationsliste dieses neu berufenen Leiters der Ressortforschungseinrichtungen ist
uns zumindest - und wohl auch der Bundesregierung nicht bekannt. Ob auf diese Weise die gewünschte Vernetzung mit der Wissenschaftslandschaft herbeigeführt
werden kann, sei dahingestellt. Dem Ansehen der Ressortforschungseinrichtungen ist eine solche Berufungspraxis jedenfalls nicht dienlich.
Die Mängelliste ist noch viel länger, kann aber
- mangels Zeit - nicht weiter ausgeführt werden. Abschließend sei aber darauf verwiesen, dass wir uns zu
den vom Wissenschaftsrat angeregten wichtigen Fragen
hinsichtlich der künftigen eigenen Einwerbung von
Drittmitteln und der Koordinierung der Forschungsund Entwicklungstätigkeiten der Ressortforschungseinrichtungen handfeste Handlungsvorschläge gewünscht
hätten. Aber bei diesem Wunsch verhält es sich wie bei
so manchen Versprechungen dieser Bundesregierung:
Sie bleiben unerfüllt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Als der Deutsche Bundestag 2004 das Bundesministerium für Bildung und Forschung beauftragte, die Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben
systematisch zu evaluieren, hatte die FDP-Bundestagsfraktion bereits 2001 mit einem Antrag auf die Notwendigkeit einer umfassenden Evaluation hingewiesen. Der
Antrag wurde abgelehnt; drei Jahre später gelangten
SPD und Bündnis 90/Die Grünen dann doch zu der Einsicht, dass eine systemische Evaluation der Ressortforschung notwendig sei. Denn viel zu lange wurden die
Ressortforschungseinrichtungen als Teil des Wissenschaftssystems ignoriert und nur in ihrer dienenden
Funktion für die Bundesministerien wahrgenommen.
Welches wissenschaftliche Potenzial sich tatsächlich dahinter verbirgt, wurde nicht wahrgenommen.
Mit der Forderung nach einer systemischen Evaluation der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben lösten wir Liberale in vielen Ressorts
auch erstmals einen Denkprozess über die wissenschaftspolitische Stellung ihrer Einrichtungen aus. Als
die Evaluation durch den Wissenschaftsrat 2007 dann in
einer ersten Gesamtstellungnahme veröffentlicht wurde
und die Bundesregierung darauf aufbauend zehn Leitlinien für eine moderne Ressortforschung vorlegte, war
dies ein erster wichtiger Schritt zur Stärkung der Ressortforschung. Ein wichtiger Schritt, den wir Liberale
als Erfolg über die Fraktionsgrenzen hinweg anerkennen.
Für uns Liberale war aber auch klar, dass mit den
zehn Leitlinien für eine moderne Ressortforschung aus
der Zeit der Großen Koalition der Prozess keinesfalls
abgeschlossen sein kann. Denn der Wissenschaftsrat
verdeutlichte 2010 mit der zweiten Gesamtstellungnahme, dass die Ressortforschungseinrichtungen als
Instrument der Politikberatung weiter gestärkt werden
müssen. Dies gelänge, indem sich die Ressortforschungseinrichtungen dem Wissenschaftssystem weiter
öffneten, die Einrichtungen näher an das Wissenschaftssystem herangeführt würden und man einen engen Austausch förderte. Mit unserem Antrag „Potenziale der
Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben stärken“ greifen wir als christlich-liberale Koalition genau diese Möglichkeit auf. Mit unserem Antrag
zielen wir darauf, die Ressortforschung fortzuentwickeln, damit die jeweils zuständigen Bundesministerien für die Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben,
für die Erfüllung der Beratungs-, Forschungs- und
Dienstleistungsaufgaben, auf hohe wissenschaftliche
Kompetenz zurückgreifen können.
Um die hohe wissenschaftliche Qualität in den Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben sicherzustellen, muss zuallererst eine grundlegende Überprüfung
aller Einrichtungen erfolgen. Diejenigen, die keine Ressortforschungsaufgaben leisten, können nicht als Ressortforschungseinrichtungen erhalten bleiben, sondern
sollten wie im Antrag gefordert ins Wissenschaftssystem
überführt werden. Alle Einrichtungen, die als Ressortforschungseinrichtungen verbleiben, sollen Forschungsprogramme entwickeln. Darin sollen aktuelle
und erwartbare Forschungsbedarfe dargelegt werden.
Als einen weiteren zentralen Punkt sehen wir eine
stärkere Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem durch
Personalaustausch an. Auch Kooperation mit internationalen Partnern sowie gemeinsame Berufungen mit
Hochschulen führen zur besseren und stärkeren Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem. In diesem Zusammenhang ist darauf zu achten, dass wissenschaftliche
Leitungspositionen zukünftig im Rahmen öffentlicher
Ausschreibungen nur noch durch ausgewiesene Wissenschaftler besetzt werden. Für uns Liberale ist dies eines
der wichtigsten Elemente im Antrag. Eine hohe wissenschaftliche Qualität der Ressortforschungseinrichtungen ist vor allem dann möglich, wenn diese ausschließlich durch hervorragende Wissenschaftler geführt
werden. Ein Beispiel, wie die Besetzung wissenschaftlicher Leitungspositionen umgesetzt werden kann, bietet
das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie.
2011 wurde bei der Neubesetzung der Leitungsposition
der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt eine eigens
für diesen Zweck installierte Expertenkommission berufen, deren Empfehlungen Bundesminister Dr. Philipp
Rösler uneingeschränkt gefolgt ist.
Ziel aller Kooperationen und personellen Verschränkungen ist es, Synergien und Kompetenz für die Ressortforschung zu nutzen und auch dem Wissenschaftssystem
einen Zugang zu den Forschungsinfrastrukturen zu
geben, die der Bund vorhält. Denn Kooperation und
Vernetzung ist nicht eindimensional, sondern verläuft in
beide Richtungen. Als Forschungspolitiker sind wir in
der christlich-liberalen Koalition an der Stärkung der
Hochschulen und des gesamten deutschen Wissenschaftsstandorts interessiert. Deshalb müssen wir allen
Akteuren im Wissenschaftssystem Kooperationen und
Synergien, mittels einer Kartierung der FuE-Infrastrukturen über einem Anschaffungswert von 1,5 Millionen
Euro, eröffnen. Eine solche Kartierung entfaltet dabei
eine größere Wirkung, wenn diese gemeinsam mit den
Ländern erstellt wird.
Ein weiterer wichtiger Punkt aus liberaler Sicht ist
die im Antrag adressierte intensiviere Vernetzung der
Ressortforschungseinrichtungen mit Partnern auf europäischer Ebene. Denn die deutschen Ressortforschungseinrichtungen müssen noch stärker als Agendasetter in
einer europäischen und internationalen Gremien- und
Ausschussarbeit auftreten.
Mit dem Antrag zieht diese christlich-liberale Koalition den richtigen Ansatz aus der Evaluation der Ressortforschungseinrichtungen und folgt im Übrigen vielen gemeinsamen überfraktionellen Anliegen, die in den
letzten Jahren über die Fraktionen hinweg adressiert
wurden. Insofern ist die Ablehnung des Antrags durch
Oppositionsfraktionen in den Beratungen des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung bedauerlich. Denn es stellt aus deren Sicht einen
Rückschritt dar, aus nicht nachvollziehbaren Gründen.
Die Punkte, die von SPD und Grünen im Ausschuss angeführt wurden, stechen nicht; denn das Kernanliegen,
die Stärkung der Potenziale, wird außer Acht gelassen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Koalition reagiert mit dem Antrag auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung
der Ressortforschung. Diese umfasst derzeit 46 Einrichtungen mit einem Gesamtausgabevolumen von etwa
2 Milliarden Euro. Das Spektrum der Einrichtungen
reicht vom Umweltbundesamt über die PhysikalischTechnische Bundesanstalt, das Robert-Koch-Institut bis
zum Bundesinstitut für Berufsbildung, BIBB. Der Wissenschaftsrat hat sich in seinen Empfehlungen vor allem
für eine stärkere Internationalisierung der Einrichtungen sowie für mehr Transparenz, Profil und intensivere
Kooperation mit anderen Wissenschaftseinrichtungen
ausgesprochen.
Die Koalition beantragt, dass eine klare Zugehörigkeit von Wissenschaftseinrichtungen zur Ressortforschung anhand konkreter Kriterien definiert wird. Nur
Einrichtungen, die eigene Forschungstätigkeit vollziehen, sollen benannt werden. Dazu gehören auch solche
technisch-administrativen Einrichtungen mit geringeren
eigenen Forschungsanteilen. Der Koalitionsantrag bleibt
leider die Antwort auf die Frage schuldig, welchen Status Einrichtungen bekommen sollen, die nicht auf die
Liste der Ressortforschung aufgenommen werden. Eine
solche Klärung ist jedoch notwendig, wenn die vom Wissenschaftsrat empfohlene Klassifizierung vorgenommen
werden soll. Wir müssen diesen Einrichtungen, die zumeist sinnvolle, oft hoheitliche Aufgaben leisten, eine
Perspektive bieten.
Die Einrichtungen der Ressortforschung sollten nach
der Vorstellung der Koalition Forschungs- und Entwicklungsprogramme erarbeiten und die von ihnen bearbeiteten Fragestellungen konkretisieren. Zudem sollen die
Einrichtungen weiterhin regelmäßig evaluiert werden.
Wir finden es verdienstvoll, dass die Koalitionsfraktionen nicht länger auf die Bundesregierung warten und
sich dieses Themas im gebotenen Umfang angenommen
haben. Fünf Jahre liegen die letzten strategischen Positionierungen der Bundesregierung zurück. Es wird nun
Zeit, der erfolgten Evaluierung der Einrichtungen und
den Empfehlungen des Wissenschaftsrats endlich Taten
folgen zu lassen. Dabei muss natürlich die Rolle des
Wissenschaftsrates, der in erster Linie aus Politik und
universitärer Wissenschaft zusammengesetzt ist, kritisch
berücksichtigt werden.
Die Koalition entlässt jedoch die Bundesregierung zu
weit aus der Verantwortung. Der Wissenschaftsrat hatte
empfohlen, dass nicht die Einrichtungen selbst, sondern
vor allem die Bundesregierung ihre Forschungsbedarfe
regelmäßig und unter Einbezug externen Sachverstands
ermittelt und auch mit dem Parlament diskutiert. Davon
ist bei der Koalition jetzt nichts zu lesen; dabei wäre
eine solche Debatte der erste Schritt zu mehr Transparenz.
Dazu passt leider, dass die Bundesregierung sich aus
der Detailsteuerung der Forschungseinrichtungen in
Fragen der Haushalts- und Personalführung zurückziehen soll. Dies wird aber nicht mit einer entsprechenden
transparenten Steuerung bezüglich der institutionellen
Entwicklung, der Kooperationen und der zu bearbeitenden Forschungsfelder verknüpft. Die Linke fordert, das
spezifische Anforderungsprofil der Einrichtungen präzise zu definieren und dementsprechend auch die Governancestrukturen auszurichten. Wer autonome Einrichtungen will, muss auch sagen, was er von ihnen erwartet.
Erst dann ist es auch möglich, eine nachhaltige Personalpolitik an den Ressortforschungseinrichtungen zu
gestalten. Ein planloser Abbau von Personal, wie an
vielen Einrichtungen in der Vergangenheit geschehen,
ist nicht im Interesse einer zukunftsfähigen Entwicklung
der Institute.
Zudem ist sicherzustellen, dass die Einrichtungen kritische und für die entsprechenden Ministerien unbequeme Ergebnisse veröffentlichen dürfen. Die Wissenschaftsfreiheit sollte auch für die Ressortforschung und
für beauftragte externe Institute ausgelegt werden. Wir
erinnern uns an mehrere Fälle eines unwürdigen Gezerres etwa um Studien aus dem Umweltbundesamt.
Mehr Transparenz ist insbesondere auch in die Ressortforschung des Verteidigungsministeriums zu bringen. Hier forschen allein 14 Institute mit einem Etat von
mehr als 150 Millionen Euro. Das Beispiel der Forschung an Pockenviren im Wehrwissenschaftlichen Institut für Schutztechnologien in Munster zeigt, dass eine
Debatte über Regeln guter wissenschaftlicher Praxis
auch in der Ressortforschung notwendig ist.
Alles in allem: Die Koalition ist gesprungen - leider
zu kurz.
Der Forschungsausschuss hat sich zuletzt im Dezember 2010 mit den Empfehlungen des Wissenschaftsrats
befasst. Damals kündigte die Bundesregierung an, im
Frühjahr 2011 eine ausführliche Stellungnahme zu diesen Empfehlungen vorzulegen. Davon hat man dann
aber nichts mehr gehört.
Die Modernisierung und Neustrukturierung der Ressortforschung ist offensichtlich ins Stocken geraten, das
Engagement der Bundesregierung offenbar erlahmt.
Nachvollziehbar vor diesem Hintergrund, dass die
Koalitionsfraktionen die Bundesregierung jetzt per Antrag dazu auffordern, einige der Vorschläge des Wissenschaftsrats aufzugreifen. Auch ihnen ist aufgefallen,
dass die Regierung zu zögerlich ist, den Empfehlungen
des Wissenschaftsrats von 2007 und 2010 Konsequenzen
und strukturelle Entscheidungen folgen zu lassen.
Ich begrüße das Bemühen, der Bundesregierung
mehr Dampf bei der Reform der Ressortforschungseinrichtungen zu machen. Wenn die Koalition aber bis
heute gebraucht hat, um sich darüber zu verständigen,
welche Empfehlungen des Wissenschaftsrats man überhaupt aufgreifen will: Wie lange wird es dann wohl noch
dauern, bis es zur Umsetzung kommt?
Wir wissen doch alle: Jedes Ressort hockt auf seinen
Ressortforschungseinrichtungen wie die Henne auf ihren Küken. Deshalb ist es schade, dass in Ihrem Antrag
keinerlei Ideen entwickelt werden, wie denn der Prozess
der Umsetzung von Veränderungen in der RessortforZu Protokoll gegebene Reden
schung organisiert werden kann. Denn mit Appellen des
BMBF an die anderen Ministerien ist es sicher nicht getan.
Die Koalition bekennt sich in ihrem Antrag zur regelmäßigen Überprüfung der Forschungsbedarfe. Und sie
ermutigt die Bundesregierung, zu überprüfen, welche
Einrichtungen zukünftig tatsächlich weiter als Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben geführt werden
sollten. Nun hätte ich allerdings erwartet, dass im Antrag konkretere Vorstellungen entwickelt werden, wie ein
solcher Entscheidungsprozess organisiert werden kann.
Dazu schweigt sich der Antrag jedoch aus. Die Koalition ist also keinen Schritt weiter beim zentralen Thema,
innerhalb welcher Strukturen denn nun zukünftig Entscheidungen getroffen werden sollen. Wie kann es da zur
Anpassung der Liste der Ressortforschungseinrichtungen bis 2014 kommen, über die im Bundesforschungsbericht dann berichtet wird?
Der Antrag gibt keine Antwort darauf, wie zentrale
Fragen gelöst werden sollen: Welche Ressortforschungseinrichtungen sollen weitergeführt, welche als Ressortforschungseinrichtungen nicht auf der Liste beibehalten, und welche Empfehlungen des Wissenschaftsrats
zur strukturellen Verbesserung sollen auf welchem Weg
umgesetzt werden?
Auch in anderer Hinsicht greift der Antrag zu kurz.
Bemerkenswerterweise finden zentrale wissenschaftspolitische Entscheidungen der Bundesregierung auf die
Ressortforschungseinrichtungen des Bundes keine Anwendung. Ich nenne hier zum Beispiel das Wissenschaftsfreiheitsgesetz, die forschungspolitische Internationalisierungsstrategie oder die Umsetzung von Gleichstellungsstandards und mehr Chancengleichheit im Forschungsbereich. An der Ressortforschung laufen diese
Strategien vorbei, und Ihr Antrag schweigt dazu.
Auf welche Einrichtungen welche Regelungen des
jetzt im Entwurf vorliegenden Wissenschaftszeitvertragsgesetzes angewendet werden sollten, dazu hätte ich
mindestens etwas von Ihnen erwartet. Das ist doch ein
offenkundiges Defizit.
Wir haben in dieser Woche in einer Anhörung des
Forschungsausschusses gehört, dass es an der Zeit ist,
beim Thema Gleichstellungspolitik in der Wissenschaft
wesentlich mehr Verbindlichkeit und Überprüfbarkeit
der Fortschritte durchzusetzen. In der Ressortforschung,
wo der Bund direkten Einfluss hat, zeigt er aber leider in
dieser Hinsicht bisher wenig Engagement. Der Bund
bleibt hier hinter den Erfordernissen zurück und verpasst Chancen, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Der Wissenschaftsrat plädiert dafür, Hochschulen
und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen stärker
bei Forschungsaufträgen der Bundesministerien zu berücksichtigen. Zukünftig mehr Forschungsaufträge,
Fragestellungen und letztlich auch finanzielle Mittel direkt an Hochschulen, außeruniversitäre Einrichtungen
oder auch unabhängige Forschungseinrichtungen zu
geben, halte auch ich vom Ansatz her für völlig richtig.
Leider fehlt es in dem Koalitionsantrag auch hier an
Ideen, wie das umgesetzt werden kann.
Ich sehe ein Manko darin, dass der Wissenschaftsrat
2004 einheitliche Kriterien an völlig unterschiedliche
Einrichtungen angelegt hat. Dabei macht es offenkundig
keinen Sinn, zum Beispiel einer Einrichtung, die vorrangig Genehmigungs- und Kontrollfunktionen hat, aufzuerlegen, dass sie mehr eigenständige Forschung betreiben oder mehr wissenschaftlich publizieren soll. Erst auf
Basis einer funktionalen Differenzierung ist es möglich,
Forschungsnotwendigkeiten spezifisch zu unterscheiden.
Alle Fragen zu klären: „Wo wäre die Vergabe von
Forschungsaufträgen und wissenschaftsbasierten Dienstleistungen nach außen sinnvoll? Wo ist eigene Forschung in einer eigenen Einrichtung unerlässlich? Und
in welchen Einrichtungen geht es sinnvollerweise vorwiegend um professionelle Beratung, Information und
Entscheidung auf Basis des aktuellen Stands der Forschung?“, würde aber auch voraussetzen, die Einrichtungen stärker nach ihren jeweiligen Aufgabenstellungen und Funktionen zu differenzieren.
Lassen Sie mich zum Schluss einen bislang unterbelichteten Punkt in den Fokus rücken. Die Einbindung
von zivilgesellschaftlichen Stakeholdern in die Entwicklung von Forschungsfragestellungen, der partizipative
Dialog mit der Gesellschaft über Forschungsschwerpunkte und Transparenz bzw. Rechenschaftslegung gegenüber der Öffentlichkeit - das sind Anforderungen,
die gegenüber Forschung, Wissenschaft und Technologiepolitik immer stärker formuliert werden. Dem kann
sich auch und gerade die Ressortforschung nicht entziehen. Ich halte es für nicht zeitgemäß, wenn Ministerien
abgeschottet von gesellschaftlichen Debatten über Arbeits- und Forschungsprogramme der Ressortforschungseinrichtungen entscheiden. Besser wäre es,
wenn solche Entscheidungen im Dialog und unter Einbeziehung von Stakeholdern, gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen selbst vorbereitet würden. Bei einigen Ressortforschungseinrichtungen findet dies sicher
schon statt, es ist aber eine politische Aufgabe, dies zu
systematisieren. Der ausstehende Modernisierungsprozess in den Ressortforschungseinrichtungen sollte auch
in diese Richtung fortentwickelt werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/9912, den Antrag auf Drucksache 17/7183 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen. Dagegen war die SPD, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linken.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Dr. Barbara Höll, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wirksamer Schutz für Flüchtlinge, die wegen
ihrer sexuellen Identität verfolgt werden
- Drucksache 17/9193 22024
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Mit dem vorliegenden Antrag beabsichtigt die Fraktion Die Linke eine quasiautomatische Zuerkennung des
Flüchtlingsstatus für alle Lesben, Schwulen, Bisexuelle,
Transgender, Trans- und Intersexuelle, die aus Ländern
stammen, in denen die sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität strafrechtlich kriminalisiert wird.
Nach Auffassung der Antragsteller stößt diese Gruppe
im Asylverfahren auf Vorurteile und sachwidrige Ablehnungsmuster, obwohl diese Gruppe in vielen Staaten
massiv in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und sexuelle Selbstbestimmung verletzt würde.
Als vorbildlich wird die angebliche Rechtslage in Italien
dargestellt, hier genüge „für die Asylanerkennung bereits der Umstand, dass gleichgeschlechtliche sexuelle
Aktivitäten im Herkunftsland kriminalisiert und unter
Strafe gestellt sind“.
Mit dem Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, gesetzgeberische und andere Maßnahmen
zu ergreifen, um wegen ihrer sexuellen Identität Verfolgte wirksam zu schützen. Hierzu soll nach dem Willen
der Antragsteller den Betroffenen ein Schutzstatus verliehen werden, wenn sie aus einem Land kommen, in
dem „die sexuelle Identität ({0}) kriminalisiert wird“; ein Verweis auf staatlichen Schutz bei nichtstaatlicher Verfolgung und innerstaatliche Fluchtalternativen sowie die Verbergung der sexuellen Identität
sollen nicht erfolgen. Die Einschätzung der Glaubwürdigkeit der sexuellen Identität im Asylverfahren solle
nur durch entsprechend geschultes Personal erfolgen.
Außerdem sollen besondere Schutzvorkehrungen für
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und
Intersexuelle in Aufnahme-, Haft- und Unterbringungseinrichtungen geschaffen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion
Die Linke, zum einen halte ich die von Ihnen angeführte
Studie für nicht repräsentativ. So basieren die der Studie
in Bezug auf Deutschland zugrunde gelegten Erkenntnisse auf einem von einer Nichtregierungsorganisation
beantworteten Fragebogen. Die Aussagekraft der Studie
halte ich vor diesem Hintergrund für sehr fraglich. Auch
die Darstellung der italienischen Rechtslage geht fehl,
denn auch in Italien wird nicht jeder als Asylbewerber
anerkannt, der aus einem Land stammt, in dem gleichgeschlechtliche Handlungen mit Strafe bedroht sind.
Insbesondere aber geht der Antrag von der Zielsetzung über das gebotene und in der Praxis realisierbare
Maß an Schutz von Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden, hinaus. In der Konsequenz würde der von
Ihnen vorgelegte Antrag auf eine Asylberechtigung aller
Menschen hinauslaufen, die aus einem Land stammen,
in denen bestimmte „Handlungen“ pönalisiert sind, und
die glaubhaft machen, unter einen der betroffenen Tatbestände zu fallen. Sollte, wie in Ihrem Antrag gefordert,
die Behauptung bzw. Glaubhaftmachung ausreichen, die
von der Asylbehörde im Einzelfall kaum überprüft oder
widerlegt werden kann, würde dies zu einer nahezu beliebigen Ausweitung der Gruppe der Asylberechtigten
führen. Zudem bestünden Wertungswidersprüche, weil
in zahlreichen Ländern auch außer- oder voreheliche
Handlungen mit zum Teil drastischen Strafen bedroht
sind. Von diesem Tatbestand ist potenziell zumindest jeder ehefähige, auch heterosexuelle Mensch betroffen.
Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, den Betroffenen nicht mehr zumutet, Ihre Homosexualität im
Verborgenen zu leben, um dadurch eine drohende Verfolgung zu vermeiden. Dass das Bundesamt weiterhin individuell prüft, ob eine Entdeckung der Homosexualität im
Herkunftsland beachtlich wahrscheinlich ist und deshalb eine Verfolgung droht, finde ich den Betroffenen gegenüber nicht nur zumutbar, sondern auch legitim und
dringend geboten. Wesentliches Element der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus ist immer eine Einzelfallprüfung dahin gehend, ob tatsächlich Verfolgungsgefahr
besteht. Eine pauschale Zuerkennung des Flüchtlingsstatus ohne eine solche individuelle Prüfung kommt
grundsätzlich nicht in Betracht und würde auch gegen
den Gleichheitsgrundsatz verstoßen.
Eine Ausnahme wäre nur denkbar, wenn die Person
einer abgrenzbaren sozialen Gruppe zuzurechnen wäre
- Verfolgungsgrund - und alle Mitglieder dieser Gruppe
im Herkunftsland einer so massiven, tatsächlich stattfindenden Verfolgung - Verfolgungshandlung - ausgesetzt
wären, dass auch die Verfolgung der betroffenen Person
wahrscheinlich wäre. Gleichzeitig dürfte es im Herkunftsland keine zumutbaren Ausweichmöglichkeiten
geben. Für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender,
Trans- und Intersexuelle gibt es in der Asylpraxis solche
Fälle jedoch bislang nicht.
Auch den Verweis auf staatlichen Schutz bei nichtstaatlicher Verfolgung oder der Verweis auf Fluchtalternativen innerhalb der jeweiligen Staaten, in denen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und
Intersexuelle kriminalisiert werden, oder darauf, dass
staatliche Behörden homosexuellen-, transsexuellenoder transgenderfeindlich sind, halte ich für zumutbar
und legitim. Diese Praxis steht im Übrigen im Einklang
mit der EU-Qualifikationsrichtlinie. Nach Maßgabe der
EU-Qualifikationsrichtlinie schließt wirksamer staatlicher Schutz die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
aus ({1}). Vergleichbare
Grundsätze gelten für die Asylberechtigung. Wegen der
Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes
- diesen benötigt nur, wer im Heimatstaat keinen Schutz
finden kann -, halten wir daran fest.
Ihre Forderung nach geschultem Personal ist obsolet,
denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bietet umfassende Schulungsmaßnahmen zum Themenkomplex Verfolgung in Anknüpfung an die sexuelle Identität
an. Die Entscheider werden sowohl in den damit verbundenen Rechtsfragen als auch im persönlichen Umgang
mit den Antragstellern geschult ({2}).
Das Bundesamt verlangt grundsätzlich keine sexualwissenschaftlichen Gutachten. Der Asylbewerber muss
glaubhaft machen, dass die begründete Furcht vor Verfolgung an seine tatsächliche oder vermeintliche Homosexualität anknüpft. Bei der Bewertung der Frage, ob
die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen,
sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Bei Homosexualität als Verfolgungsgrund kommt es daher nicht darauf an, ob der Betreffende
nach sexualwissenschaftlichen Maßstäben homosexuell
ist oder nicht, sondern darauf, ob er im Herkunftsstaat
als homosexuell angesehen wird. Eine sexualwissenschaftliche Begutachtung ist vor diesem Hintergrund
grundsätzlich nicht zielführend.
Auch lehnt das Bundesamt keine Asylanträge allein
wegen eines späten Vorbringens ab. Es findet immer
eine Prüfung der Gesamtumstände statt.
Das Bundesamt ist bei der Bearbeitung von Asylanträgen darauf angewiesen, dass Antragsteller bei der
Aufklärung des Sachverhalts mitwirken, dabei selbst
ihre Furcht vor Verfolgung begründen und die erforderlichen Angaben machen ({3}).
Es wird jedoch berücksichtigt, dass aufgrund soziokultureller Prägungen oder, aufgrund der Tatsache, dass die
Intimsphäre betroffen ist, es nicht allen Antragstellern
möglich sein wird, von sich aus über Verfolgungen, die
an die sexuelle Orientierung anknüpfen, zu sprechen. In
Fällen, in denen Anhaltspunkte für eine derartige Verfolgung vorliegen, wird daher auch ohne eigenständiges
Ansprechen durch die Antragsteller im Rahmen der Anhörung gezielt, aber mit der gebotenen Sensibilität
nachgefragt.
Die Anhörung wird von besonders geschulten Entscheidern, den sogenannten Sonderbeauftragten, durchgeführt, wenn Antragsteller dies wünschen oder es geboten erscheint. Als Sonderbeauftragte können je nach
Fallgestaltung sowohl weibliche als auch männliche
Entscheider eingesetzt werden.
Soweit im Asylverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die sexuelle Identität als Verfolgungsgrund vorgetragen wird, erfolgt eine individuelle
Prüfung unter Berücksichtigung der bereits vorhandenen oder anlässlich des vorliegenden Einzelfalls recherchierten Erkenntnisse zum Herkunftsland.
Für die Hauptherkunftsländer der Asylantragsteller
verfasst das Auswärtige Amt mindestens jährlich Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage.
In ihnen finden sich jeweils auch Ausführungen zu
geschlechtsspezifischer Verfolgung sowie zu einer möglichen Ahndung homosexueller Handlungen. Das Auswärtige Amt wertet für seine Lageberichte verschiedenste Quellen aus, insbesondere auch Berichte von
Nichtregierungsorganisationen. Zur Lage von Lesben,
Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen berichten zudem die deutschen Botschaften regelmäßig und speziell im Fall aktueller Anlässe.
Zuletzt möchte ich noch kurz auf Ihre Forderung nach
besonderen Schutzvorkehrungen für Lesben, Schwule,
Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuelle in
Aufnahme-, Haft, und Unterbringungseinrichtungen
eingehen.
Die Unterbringung von Asylbewerbern und Abschiebungshäftlingen fällt in die Zuständigkeit der Länder.
Eine gesonderte Unterbringung von Lesben, Schwule,
Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuellen erfolgt nach den Informationen der Länder in der Regel
nicht. Eine Befragung nach der sexuellen Identität wäre
diskriminierend und findet daher nicht statt. Infolgedessen ist in der Regel nicht bekannt, ob und wer zum Kreis
der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Transund Intersexuellen gehört. Die Länder haben jedoch
Schutzmaßnahmen vorgesehen für den Fall, dass einzelne Personen Hilfe benötigen. Die Betroffenen können
sich etwa an Sozialarbeiter wenden, erhalten bei Bedarf
Einzelzimmer oder werden in andere Einrichtungen verlegt. In keinem Land wurden bislang nennenswerte Probleme bei der Unterbringung von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen bekannt.
Alles in allem bin ich der Ansicht, dass wir der besonderen Situation und Problematik von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen, die
aus Ländern stammen, in denen die sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität strafrechtlich kriminalisiert wird, so gut es überhaupt geht, Rechnung tragen.
Aber ich weise noch einmal darauf hin, dass die in Ihrem
Antrag enthaltenden Forderungen über das gebotene
und in der Praxis realisierbare Maß an Schutz von Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder
ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden, hinausgehen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Politisch Verfolgte erhalten in Deutschland Asyl. Ein
Mensch wird verfolgt, wenn ihm aufgrund seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder aufgrund von für ihn unverfügbaren Merkmalen, die seine Persönlichkeit prägen, gezielt schwere
Rechtsverletzungen zugefügt werden oder zu befürchten
ist, dass ihm solche Verletzungen zukünftig zugefügt
werden. Die sexuelle Orientierung eines Menschen gehört zu den von ihm unverfügbaren Merkmalen. Menschen, die aufgrund dessen in ihren Heimatländern verfolgt werden, können und müssen in Deutschland Asyl
erhalten.
Wenn sie nicht aufgrund von Art. 16 a Grundgesetz
anerkannt werden, haben sie einen Anspruch auf Prüfung des sogenannten kleinen Asyls, also auf Prüfung
der Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer
Flüchtlingskonvention ({0}). Dies
wurde durch die 2004 in Kraft getretene QualifikationsZu Protokoll gegebene Reden
richtlinie, auf die § 60 AufenthG deklaratorisch verweist, konkretisiert. In Art. 10 Abs. 1 d heißt es: „Eine
Gruppe gilt insbesondere als soziale Gruppe, wenn die
Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale … teilen, die so bedeutsam für die Identität sind …, dass der
Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu
verzichten. … Je nach Gegebenheit im Herkunftsland
kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten,
die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen
Ausrichtung gründet.“ ({1})
Für die Anerkennung als Asylberechtigter oder als
Flüchtling gibt es bei uns also bereits Gesetze, die dies
ermöglichen. Im Asylverfahren vor dem Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge erfolgt in diesen wie in allen
Fällen politischer Verfolgung eine individuelle Prüfung
unter Einbeziehung der vorhandenen oder anlässlich
des Einzelfalls recherchierten Erkenntnisse aus dem
Herkunftsland ({2}).
Unterschiedlich ist die Haltung der deutschen Gerichte in Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Transgender-, Trans- und Intersexuellen-Fällen ({3}).
In seiner Entscheidung vom 15. März 1988 ({4})
hat das Bundesverwaltungsgericht klargestellt, dass die
Verfolgung wegen Homosexualität ein Asylgrund ist. Allerdings trifft es auch unserer Erkenntnis nach zu, dass
einige deutsche Gerichte die drohende Durchsetzung einer exzessiven Strafe im Herkunftsland für die Zuerkennung des Schutzstatus verlangen - so wie es in dem Antrag der Fraktion Die Linke kritisiert wird -, wogegen
andere den Schutzstatus in korrekter Anwendung der
Qualifikationsrichtlinie gewähren, wenn im Herkunftsland die sexuelle Ausrichtung als solche kriminalisiert
wird.
Auch wenn wir für eine einheitliche, der Qualifikationsrichtlinie entsprechende Entscheidungspraxis der
deutschen Gerichte sind, so sehen wir in diesem Punkt
keinen Handlungsbedarf im Sinne der Schaffung neuer
Gesetze. Sollte sich die Lage jedoch ändern und es Anzeichen für mehr ablehnende, restriktive oder diskriminierende Entscheidungen und Urteile geben, werden wir
diesen Standpunkt überdenken.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag des
Weiteren, die Bundesregierung möge LSBTTI schützen,
indem ihnen nicht entgegengehalten werden könne und
dürfe, sie sollten eine inländische Fluchtalternative nutzen oder ihre sexuelle Identität zur Vermeidung von Verfolgung verbergen.
Der auch von der Fraktion Die Linke zitierten Studie
von Sabine Jansen und Thomas Spijkerboer „Fleeing
Homophobia“ ist zu entnehmen, dass Deutschland insoweit eine „vorbildliche Praxis“ hat, als bei uns nicht
verlangt wird, dass LSBTTI um staatlichen Schutz in
Ländern nachsuchen müssen, in denen Homosexualität
kriminalisiert wird. In der genannten Studie wird auch
gesagt, dass in Deutschland gewöhnlich nicht verlangt
wird, LSBTTI müssen um staatlichen Schutz nachsuchen, wenn bekannt sei, dass die Autoritäten homophob
seien.
Der Verweis eines Antragstellers auf eine bestehende
inländische Fluchtalternative ist allerdings grundsätzlich als solche in der Qualifikationsrichtlinie in Art. 8
vorgesehen. Danach ist eine Verfolgung nicht anzunehmen, wenn in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung „besteht und von dem
Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann,
dass er sich in diesem Landesteil aufhält.“ Dies sind allgemeine Grundsätze, die so auch bei der Prüfung eines
Antrags auf politisches Asyl ohne LSBTTI-Bezug gelten
und geprüft werden.
Wenn die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert,
LSBTTI dürfe nicht entgegengehalten werden, sie sollten
sich in ihrem Heimatland diskret verhalten, um so einer
drohenden Verfolgung zu entgehen, so stimmen wir dem
zu.
In der Qualifikationsrichtlinie (Art. 10 Abs. 1 d wird
- wie bereits gesagt - bestimmt, dass eine Gruppe insbesondere dann eine soziale Gruppe ist, wenn die Angehörigen dieser Gruppe Merkmale teilen, die so bedeutsam
für die einzelnen Gruppenmitglieder sind, dass sie nicht
gezwungen werden sollten, darauf zu verzichten. Ein
Diskretionsgebot würde von LSBTTI aber genau das
verlangen: den Ausdruck ihrer sexuellen Orientierung
oder Geschlechtsidentität zu verleugnen. Mithin würde
ein solches Erfordernis gegen die Qualifikationsrichtlinie verstoßen.
Die Bundesregierung hat die diesbezügliche Frage
der Fraktion Die Linke nicht deutlich beantwortet in
dem Sinne, ob sie das Erfordernis erhebt, sich im Herkunftsland diskret zu verhalten, oder nicht: „Bei glaubhaft gemachter Homosexualität stellt das BAMF im
Rahmen einer Prognoseentscheidung fest, ob eine Entdeckung der Homosexualität im Herkunftsland wahrscheinlich ist und ob der Betreffende deshalb mit asylerheblicher Verfolgung rechnen muss.“ Das ist nicht
eindeutig. Allerdings sind es die gleichen Maßstäbe, die
bei der Prüfung eines Antrags auf Schutz aufgrund einer
praktizierten religiösen Überzeugung gelten.
Kernstück eines Asylverfahrens ist die Glaubhaftmachung der Verfolgung. Hauptbezugspunkt ist die Aussage des Antragstellers. Aufgrund dieser Aussage hat
der Entscheider zu beurteilen, ob die behaupteten Ereignisse stattgefunden haben und was voraussichtlich passieren wird, wenn der Antragsteller wieder in seine Heimat zurück muss.
Von LSBTTI wird hier verlangt, dass die begründete
Furcht vor Verfolgung an die tatsächliche oder vermeintliche sexuelle oder geschlechtliche Orientierung
anknüpft. Entsprechend der Qualifikationsrichtlinie
kommt es dabei nicht auf die „Irreversibilität“ der Homosexualität an, was die Bundesregierung genauso sieht
({5}). Laut der
Bundesregierung verlangt das BAMF von LSBTTI auch
Zu Protokoll gegebene Reden
keine sexualwissenschaftlichen Begutachtungen. Wenn
solche Begutachtungen jedoch vom Antragsteller selbst
vorgelegt werden, dann werden sie natürlich zugelassen.
Da grundsätzlich der Nachweis der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität auf den Angaben des
Antragstellers beruht, sollten die Einzelentscheider entsprechend geschult sein, so auch eine in dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke enthaltene Forderung. Hierzu hat die Bundesregierung in der genannten
Entscheidung angeführt, dass das BAMF umfassende
Schulungen zum Themenkomplex „Verfolgung im Zusammenhang mit der sexuellen Identität“ anbietet und
durchführt. Dabei werden die Entscheider sowohl in
Rechtsfragen als auch im persönlichen Umgang mit den
Antragstellern geschult.
Die Frage einer inländischen Fluchtalternative, nach
einem diskreten Verhalten und die Kriterien und Maßstäbe, die an die Glaubhaftmachung angelegt werden,
sind keine speziell auf LSBTTI bezogenen Fragen. Die
zugrunde liegenden Probleme sind verallgemeinerungsfähig und deshalb in Verfahren der Anerkennung und
Glaubhaftmachung in Bezug auf jeden Verfolgungsgrund mehr oder weniger vorhanden.
Wir brauchen eine allgemeine Debatte über die Ausgestaltung des Anerkennungsverfahrens, innerhalb derer wir darüber sprechen sollten, ob sich die Standards
bei der Glaubhaftmachung und der Nachweispflicht ändern sollten; dass man Menschen - zumal wenn sie zum
Beispiel traumatisiert sind, und das müssen nicht nur
LSBTTI sein - vielleicht auch Zeit geben muss, Dinge zu
einem späteren Zeitpunkt vorzubringen, da es ihnen aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit schwerer
fallen könnte, bei der ersten Anhörung alles für den Entscheider Wesentliche zu sagen und glaubhaft zu machen.
Das Grundanliegen, die Anerkennung der sexuellen
oder geschlechtlichen Orientierung als Asyl- und
Fluchtgrund, teilen wir, ebenso die Forderung nach einer diskriminierungsfreien Behandlung von LSBTTI im
Verfahren. Aus unserer Sicht bedarf es dazu jedoch keiner gesetzlichen Änderung; das „Werkzeug“ ist vorhanden.
Ich empfehle daher, sich dem Antrag gegenüber zu
enthalten.
Der Antrag der Linken ist, wie so viele dieser offenbar zur Glaubenssekte verkommenden Partei, bizarr.
Zur Begründung - aber auch in den Forderungen stützt er sich vollständig auf eine niederländische Studie, die unwissenschaftlich und keinesfalls repräsentativ
ist. Wenn die Linken den Bundestag auffordern, sich
solch ein Elaborat unkritisch zu eigen zu machen, ist es
mit der politischen Gestaltungskraft der Linken wohl
nicht mehr allzu gut bestellt.
Die Linken zitieren in ihrem Antrag nicht zu Unrecht
die deutsche Rechtsprechung. So habe das Bundesverfassungsgericht festgestellt, das Asylrecht habe nicht die
Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles
Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen.
Warum die Linken in ausdrücklicher Bezugnahme auf
die Verfassungsgerichtsrechtsprechung nicht gleich einen Verfassungsänderungsantrag einbringen, wäre ein
Rätsel, wenn wir nicht alle wüssten, dass der Bekenntnisakt im Sektierertum das Entscheidende ist.
In einer poltischen Partei dagegen kommt es auf politische Gestaltung an. Davor hat die Linkspartei offenbar
längst kapituliert. Dass die Linken einmal mehr statt der
individuellen Prüfung eines Verfolgungsschicksals
gleich pauschal die Bürger ganzer Länder für in
Deutschland asylberechtigt anerkennen wollen, ist inakzeptabel.
Man kann nur hoffen, dass die vielen gutgläubigen
Wählerinnen und Wähler der Linkspartei sich die absehbaren Konsequenzen solcher Forderungen konkret für
ihren Wohnort deutlich vor Augen führen.
Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die
Flüchtlings- und Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und auch die EU-Planungen auf diesem Gebiet kritisch und konstruktiv
begleiten.
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transund Intersexuelle - ich möchte sie im Folgenden, entsprechend einem in Fachkreisen geläufigen Kürzel,
LSBTTI nennen - werden in zahlreichen Ländern der
Welt wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt. In einigen
Ländern nimmt die Bedrohungslage sogar noch zu. Ich
nenne beispielhaft Uganda, wo ein Gesetz zur Einführung der Todesstrafe für „schwere Homosexualität“ im
Gespräch ist, und Russland, wo das St. Petersburger
Stadtparlament erst vor wenigen Monaten ein Gesetz
gegen die „Propagierung“ von Homosexualität verabschiedet hat. Die gesetzliche Verfolgung von einvernehmlicher Homosexualität geht häufig einher mit tief
verwurzelten Vorurteilen und Ablehnungen von Homosexualität innerhalb der Bevölkerung. Die Fraktion Die
Linke legt nun einen Antrag vor, um den Menschen, die
wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt werden und aus
ihren Ländern fliehen müssen, einen möglichst wirksamen Schutz in Deutschland zu bieten.
Dass Handlungsbedarf besteht, hat unlängst eine wissenschaftliche internationale Studie - „Fleeing Homophobia“ - umfassend belegt. Dass wir etwas tun müssen,
wird aber auch offenkundig, wenn man sich aktuelle
Behördenentscheidungen, vor allem aber eine zum Teil
skandalöse Asylrechtsprechung in Bezug auf LSBTTI
konkret ansieht. In unserem Antrag nennen wir zur Illustration beispielhaft ein Urteil des Verwaltungsgerichts
Augsburg vom April letzten Jahres. Das Gericht hielt allen Ernstes eine dreijährige Gefängnisstrafe für einen
homosexuellen Soldaten in Syrien für legitim und nicht
asylrelevant, weil sie dem „Schutz der öffentlichen
Moral“ diene und eine dreijährige Haft auch keine „unmenschliche Strafe“ sei. Das ist leider kein Einzelfall.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viele Gerichte berufen sich auch heute noch auf ein
völlig antiquiertes Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts, BVerwG, aus dem Jahr 1988. Darin wird
ausgeführt, dass Gesetze zum „Schutz der öffentlichen
Moral“ und „der Zwang, sich entsprechend den in dieser Hinsicht herrschenden sittlichen Anschauungen zu
verhalten und hiermit nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen“, „keine politische Verfolgung“ darstellten. Das Asylrecht habe auch „nicht die
Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles
Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen“. Die homosexuellenfeindliche Rechtslage im Iran wurde vom Bundesverwaltungsgericht sogar mit einem Verweis darauf
relativiert, dass ja auch in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 eine entsprechende Verbotslage geherrscht habe - die wiederum der im Jahr 1935 ({0}) geänderten Fassung des § 175 im Wesentlichen entsprach,
fügten die Richter kommentarlos hinzu. Aber es ist doch
unerträglich, wenn verfolgten LSBTTI ein Schutz in
Deutschland versagt wird mit dem Argument, dass ihnen
im Faschismus und in der Bundesrepublik Deutschland
bis vor wenigen Jahrzehnten ein vergleichbares Unrecht
angetan wurde! Unerträglich ist auch, dass das Bundesverwaltungsgericht schließlich vorgab, dass eine politische Verfolgung nur dann vorliege, wenn Homosexuellen Strafen drohten, die nicht nur „besonders streng“,
sondern „offensichtlich unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt schlechthin unangemessen“ seien. Strafgesetze, die einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen
verbieten, sind schlicht und ergreifend diskriminierend
und stellen eine schwerwiegende Verletzung eines
grundlegenden Menschenrechts dar. Das Recht auf freie
Entfaltung der Persönlichkeit und auf Schutz der Privatsphäre gilt uneingeschränkt auch für LSBTTI und darf
nicht im Rahmen einer auf Abwehr bedachten Asylrechtsprechung relativiert werden.
Das Bundesverwaltungsgericht berief sich bei seiner
Entscheidung im Übrigen zu Unrecht auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR. Zwar
hieß es im Dudgeon-Urteil des EGMR von 1981 tatsächlich, dass „eine gewisse Regelung des männlichen homosexuellen Verhaltens“ „in einer demokratischen Gesellschaft“ gerechtfertigt werden könne. Das BVerwG
unterschlug jedoch einen entscheidenden Einschub des
EGMR; denn im Originalurteil lautet der Satz wie folgt:
„Es lässt sich nicht bezweifeln, dass eine gewisse Regelung des männlichen homosexuellen Verhaltens, wie in
der Tat jeder Form sexuellen Verhaltens, mit dem Mittel
des Strafrechts als notwendig in einer demokratischen
Gesellschaft gerechtfertigt werden kann.“ Der EGMR
rechtfertigte also strafrechtliche Regelungen jeglichen
sexuellen Verhaltens - allerdings nur zum Schutz derjenigen, „die besonders ungeschützt sind, weil sie jung,
geistig oder körperlich schwach oder unerfahren sind
oder sich in physischer, amtlicher oder wirtschaftlicher
Abhängigkeit befinden“, und nicht „zum Schutz der Moral“, wie das BVerwG freihändig hinzugefügt hatte.
Schließlich lautete das Urteil des EGMR im Ergebnis,
dass die damaligen Strafbestimmungen in Irland zu einvernehmlichen homosexuellen Beziehungen zwischen
Erwachsenen ungeachtet der dort bestehenden rigiden
moralischen Normen einen nicht zu rechtfertigenden
menschenrechtswidrigen Eingriff in das Recht des
schwulen Klägers auf Achtung seines Privatlebens darstellten, unabhängig davon, wie wahrscheinlich es war,
dass diese Gesetzesvorschriften in der Praxis auch tatsächlich zur Anwendung kamen - was im Umgang mit
LSBTTI-Flüchtlingen ebenfalls von Bedeutung ist.
Ich habe die Bundesregierung gefragt, inwieweit das
überkommene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
aus dem Jahr 1988 zeitbezogen und unter Berücksichtigung des öffentlichen Wandels im Umgang mit Homosexualität interpretiert und angewandt werden müsse.
Die Antwort war, dies gehe nur durch eine neuerliche
höchstrichterliche Entscheidung - „es sei denn, der Gesetzgeber regelt die Frage durch Gesetz“. Genau das
will die Linke jetzt anstoßen; denn auf eine höchstrichterliche Entscheidung werden wir lange warten müssen,
nachdem ein Vorlageverfahren beim Europäischen Gerichtshof zur Klärung dieser Fragen „geplatzt“ ist: Der
Kläger wurde als Flüchtling anerkannt, nachdem das
Verfahren vom EuGH wie üblich unter Nennung seines
Namens öffentlich bekannt gemacht wurde.
Der EuGH sollte unter anderem eine ganz entscheidende Frage klären: Ist es zumutbar, Schutz suchende
LSBTTI dazu aufzufordern, sich im Herkunftsland „bedeckt“ zu halten, um eine Verfolgung wegen ihrer sexuellen Identität zu vermeiden, und mit dieser Begründung eine Asylanerkennung zu verweigern? Eine solche
Zumutung mag für unbefangene Ohren absurd klingen denn wer käme schon auf die Idee, politisch Verfolgten
anzuraten, sich politisch diskret zu verhalten, um nicht
verfolgt zu werden? Aber bis heute ist genau dies im
Umgang mit LSBTTI in Teilen der Asylrechtsprechung
üblich. Auch die Bundesregierung war noch bis vor kurzem dieser Auffassung. Umso mehr hat mich gefreut,
dass sie auf Anfrage der Linksfraktion bestätigt hat, dass
ein solches Ablehnungsargument jedenfalls nach Inkrafttreten der EU-Qualifikationsrichtlinie nicht mehr
angewandt werden darf.
Erfreulich ist die Antwort der Bundesregierung auf
Bundestagsdrucksache 17/8357 auch deshalb - zu einer
solchen Einschätzung gibt mir die Bundesregierung übrigens nur sehr selten Anlass -, weil sich die Regierung
von weiteren alten Zöpfen der Rechtsprechung trennt,
etwa wonach drohende Strafen besonders hart und unerträglich streng sein müssten, wonach das Asylrecht
nicht hiesige Grundrechtsvorstellungen auf andere Länder übertragen wolle oder wonach eine „irreversible“
Homosexualität nachgewiesen werden müsse. Nur waren die Antworten der Regierung zu den konkreten
Handlungsvorschlägen der Studie „Fleeing Homophobia“ nicht so erfreulich, und leider gibt es, wie dargelegt, viele Gerichte, die anders entscheiden.
Deshalb haben wir uns zu dem vorliegenden Antrag
entschlossen, und zu allen weiteren Details möchte ich
Sie auf diesen verweisen. Ich empfehle zudem die sehr
gute Überblicksdarstellung zur internationalen Rechtsprechung von Frau Dr. Annegret Titze in der „Zeitschrift
für Ausländerrecht und Ausländerpolitik“ Nr. 4/2012.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich hoffe, dass wir auf dieser Grundlage dann zu einer
ernsthaften und sorgfältigen Beratung unseres Anliegens im weiteren parlamentarischen Verfahren kommen.
Ich lade alle anderen Fraktionen ein: Sie müssen ja
nicht alle unsere Forderungen im Detail übernehmen,
aber im Interesse der Menschen bitte ich Sie, daran mitzuwirken, die geltenden Gesetze, Bestimmungen und
Praktiken so zu ändern, dass allen Menschen, die wegen
ihrer sexuellen Identität verfolgt werden und nach
Deutschland fliehen müssen, hier ein wirksamer Schutz
gewährt wird.
In 75 Staaten werden schwule Männer verfolgt und
wird schwule Liebe mit Freiheitsentzug oder sogar mit
der Todesstrafe bestraft. Für lesbische Frauen ist es in
den meisten dieser Staaten nicht zum Besseren bestellt:
Wo die ausdrückliche Bestrafung nicht genannt wird,
werden sie häufig mit gemeint und mit verfolgt. Diese
Verfolgungen sind Menschenrechtsverletzungen, wie
auch die Bundesregierung nicht müde wird zu betonen.
Ich habe mit Außenminister Westerwelle viele Briefwechsel geführt, in denen der Minister wiederholt auf
Einzelfälle von Verurteilungen reagiert hat und beispielsweise im Fall eines schwulen verfolgten Paares in
Malawi auch erwogen hat, den beiden Betroffenen Asyl
nach § 22 Aufenthaltsgesetz anzubieten. Dieser Fall
hatte international hohe Aufmerksamkeit erzeugt, für die
beiden Männer ist eine andere Lösung gefunden worden.
Leider haben viele Menschen nicht das Glück, dass
internationale Medien über ihr Schicksal berichten.
Schwule und Lesben, die in Deutschland Asyl suchen,
werden dagegen mit der unbarmherzigen Maschine des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge konfrontiert.
Denn unbarmherzig ist es, wie dieses Amt mit Menschen
umgeht, die aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt
wurden. Gerade aktuell liegt mir ein Ablehnungsbescheid einer lesbischen Iranerin vor, der an diskriminierender Sprache und absurden Forderungen nicht zu
übertreffen ist. So könnten „Homosexuelle, die sich im
Ausland aufhielten, unbeschadet wieder nach Iran zurückkehren, falls nicht eine sexuelle Verfehlung erfolgt
und nachgewiesen sei“. Die Rückkehr sei unproblematisch, falls die Homosexuellen mit „ihren Neigungen
nicht auf offener Straße provozierten“. Fazit des Amtes,
das dem Bundesinnenminister untersteht: „Die Homosexuellen könnten im Iran ein sicheres Dasein führen.“
Das steht im eklatanten Widerspruch zu der Tatsache,
dass im Iran Homosexualität mit der Todesstrafe
bedroht wird und diese Strafe auch angewandt wird. Die
Menschenrechtsorganisation Hrana spricht von zwei bis
fünf Fällen im Jahr 2011, wobei die Dunkelziffer hoch
ist; denn im Iran gibt es eben keinen Rechtsstaat wie in
Deutschland mit klarer Statistikführung und einer breiten Zivilgesellschaft, die den Staat kontrollieren kann.
Herr Außenminister, das BAMF bezieht sich bei all
diesen zitierten Äußerungen auf eine Stellungnahme des
Auswärtigen Amts aus dem Jahr 2008. Ich frage mich
doch, welche Äußerungen in Bezug auf die Sicherheit
von homosexuellen Menschen im Iran eigentlich gelten:
die offiziell gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit vorgetragenen menschenrechtlichen Bedenken
oder die geheim gehaltenen Stellungnahmen gegenüber
dem BAMF? Wir werden prüfen müssen, wie solche Einschätzungen zustande kommen und wer dafür Verantwortung trägt.
Diese eben zitierten Stellen aus dem Bescheid machen aber auch deutlich, wie lebensfremd und menschenfeindlich die Entscheidungen des Bundesamts
sind. De facto wird hier gesagt: Homosexuelle sollen
doch einfach aufhören, homosexuell zu sein, dann passiere ihnen schon nichts. Damit wird der Sinn des Asylrechts und des Flüchtlingsschutzes ausgehöhlt und ins
Gegenteil verkehrt. Denn nach derselben Logik könnten
verfolgte Christen im Irak einfach aufhören, ihre christliche Religion zu praktizieren, und könnten politisch
Verfolgte aufhören, ihre Meinungsfreiheit zu nutzen. Die
Menschenrechte sind aber unteilbar. Es ist deswegen
richtig, wenn die Linkspartei in ihrem Antrag fordert,
dass eine Abschiebung von homosexuellen Menschen in
Länder, die Homosexualität kriminalisieren, generell
unterbunden werden muss. Ich begrüße den vorsichtigen
Positionswechsel der Koalition in dieser Frage, wie er
sich in der Antwort der Bundesregierung in Drucksache
17/8357 andeutet. Ich erwarte, dass wir hier in den weiteren Beratungen zu einer besseren Verständigung kommen.
Der Antrag behandelt auch Fragen, die den Umgang
mit homosexuellen Flüchtlingen im Zuge des Verfahrens
thematisieren. Es ist richtig, dass die Glaubhaftmachung von Homosexualität nicht immer einfach nachzuprüfen ist. Eine Beweiserhebung im Herkunftsland wäre
verfassungswidrig, ein Beweis über Gutachten medizinischer Art ist nicht möglich. Deswegen müssen wir zu einem Verfahren kommen, dass besonders auf entsprechend
geschultes Personal hier in Deutschland abstellt. Dabei
sollten die Lesben- und Schwulenverbände und -beratungsstellen eine Schlüsselfunktion erhalten, denn sie
können vorurteilsfrei und präzise entsprechende Fragen
stellen und überprüfen.
Mich freut, dass in diese Debatte wieder Bewegung
kommt. Die Koalition hat an verschiedenen Stellen angedeutet, zu Änderungen im Asylverfahren kommen zu
wollen. Ich hoffe, dass wir in den Ausschüssen zu konkreten Ergebnissen kommen, um den Umgang mit homosexuellen Flüchtlingen zu verbessern.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Das ist
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg ({0}), Michael Kretschmer, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Sylvia Canel, Dr. Martin
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Neumann ({1}), Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der
Lehrerausbildung
- Drucksache 17/9937 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Haushaltsausschuss
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Die Qualität eines Bildungssystems hängt entscheidend von der Qualifikation der Lehrerschaft ab. Gute
Schule und gute Lehrer bewirken guten Unterricht! Lehrer fungieren als Vermittler zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und der jungen Generation. Insbesondere sind
sie es, die jungen Menschen neben den Eltern das Rüstzeug mitgeben, dass diese sich in die Gesellschaft einbringen und einen erfolgreichen Berufsweg beschreiten
können. Und nicht zuletzt sollen sie Motivator sein, um
die Lebensgestaltung junger Menschen positiv zu beeinflussen. Wir alle in diesem Hause haben hier unsere persönlichen Erfahrungen und könnten sofort eine Lehrerin
bzw. einen Lehrer nennen, der uns im Leben motiviert
hat. Wir haben gute bis sehr gute Lehrer. Sie sind zu einem großen Teil sehr engagiert und verstehen es, ihre
Schülerinnen und Schüler zu motivieren.
Aber das Anforderungsprofil an die Lehrerschaft hat
sich besonders in den vergangenen Jahren gewandelt.
Verschiedene internationale und nationale Vergleichsstudien haben die enormen Herausforderungen beschrieben, denen sich die deutschen Schulen und damit
vor allem die Lehrerschaft gegenübersehen. Insbesondere die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen in
Verbindung mit den Herausforderungen der Integration
sowie die verstärkt differenzierten Anforderungen von
Wirtschaft und Gesellschaft machen eine Anpassung der
Lehrerausbildung erforderlich.
Ebenso ist belegt, dass die Qualität des Unterrichts
durch die Lehrkräfte ein entscheidender Faktor für das
Kompetenzniveau und die Entwicklung von Schülern mit
unterschiedlichen Voraussetzungen ist.
Eine weitere Herausforderung liegt in der Zusammensetzung der Lehrerschaft: Über die Hälfte sind älter
als 50 Jahre. Die unter 40-Jährigen bilden mit 27 Prozent hingegen eine relativ kleine Gruppe. Unter 30 Jahre
sind lediglich 6 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer.
Eine ältere Lehrerschaft bedeutet zwar nicht automatisch einen Verlust an Unterrichtsqualität, doch eine gut
durchmischte Zusammensetzung in der Altersstruktur
der Lehrer verstärkt auch einen größeren Erfahrungsund Kompetenzaustausch. Es ist erstrebenswert, den
Lehrerberuf attraktiver zu machen, um mehr Abiturienten für ein Lehramtsstudium zu gewinnen. Der Lehrerberuf muss für junge Menschen wieder erstrebenswerter
werden!
Eine weitere Herausforderung ist die begrenzte Mobilität von Lehramtsstudierenden und aktiv tätigen Lehrkräften zwischen den einzelnen Bundesländern. Durch
die nach wie vor uneinheitliche Anerkennung von Studienleistungen und Abschlüssen der verschiedenen Bundesländer existieren unnötige Hemmnisse, die einen
konstruktiven bundesweiten Austausch didaktischer und
fachlicher Expertise innerhalb der Lehrerschaft erschweren. Daher sollte es auch Ziel sein, die Mobilität
angehender und aktiver Lehrer zu fördern. Dies im Einklang mit dem föderalen Bildungssystem zu gestalten, ist
Herausforderung und Chance zugleich.
Dem Wandel dieser Anforderungen und den aktuellen
Herausforderungen muss die Bildungspolitik Rechnung
tragen. Die kontinuierliche Verbesserung Deutschlands
im PISA-Ranking spricht zwar dafür, dass in den Schulen vieles gut läuft, aber es gibt Verbesserungsbedarf.
Daher müssen auch Strukturen und Inhalte der Lehrerbildung überprüft und verbessert werden, sei es im fachlichen, didaktischen oder auch im methodischen Bereich.
Für eine Verbesserung der Lehrerbildung bedarf es
eines Steins des Anstoßes, der die Öffentlichkeit und die
Lehrer der Zukunft für die Notwendigkeit exzellenter
Lehrerbildung sensibilisiert. Ein solcher erster Schritt
und Impuls kann - wie bei den Hochschulen bereits bewiesen - in einer Exzellenzinitiative liegen. Die von uns
auf den Weg gebrachte „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ hat zum Ziel, die Lehrerausbildung und -weiterbildung fortzuentwickeln. Ziel ist es, durch Förderung
universitärer Initiativen, die in einem Wettbewerb bewertet und gefördert werden, nachhaltige Impulse zu
setzen - Impulse dafür, die Bedeutung der Lehrerbildung
an Hochschulen aufzuwerten und sie aus der „Nische“
ins Zentrum der universitären Profilbildung zu rücken.
So soll ein Qualitätsschub in Forschung und Lehre erreicht werden. Damit soll die Lehrerbildung in ihrer
ganzen Breite weiterentwickelt werden, und das Schulsystem soll ebenso profitieren.
Die Exzellenzinitiative soll im Rahmen eines Wettbewerbs stattfinden. Dabei können einzelne Hochschulen
oder Hochschulen im Verbund Zukunftskonzepte einreichen, die eine praxisorientierte und forschungs- bzw.
evidenzbasierte Lehrerbildung zum Inhalt haben. Die
Auswahl erfolgt anhand verschiedener Kriterien wie
dem aktuellen Stand der Forschung oder klarer Berufsfeldorientierung. Ebenso soll das Konzept die Fachdidaktik stärken und, damit einhergehend, eine fundierte
Wissensbasis für die angehenden Lehrer schaffen.
Die Bewertung erfolgt durch eine externe Jury. Die
ausgewählten Hochschulen können für fünf oder zehn
Jahre gefördert werden und sollten sich dazu verpflichten, das Konzept nach Auslaufen der Förderphase institutionell zu sichern. Die ausgewählten Konzepte werden
so zu Leuchttürmen der Lehrerbildung und können als
solche flächendeckend wahrgenommen werden.
Gerade von einem Leuchtturmprojekt wie einer Exzellenzinitiative für die Lehrerbildung kann eine Strahlkraft für die gesamte Schullandschaft ausgehen, von der
eine positive Wirkung für das gesamte Bildungswesen
ausgehen kann. Wir wollen sehr gute Schüler, sehr gute
Lehrer, sehr gute Bildung - mit der Exzellenzinitiative
für Lehrerbildung kommen wir diesem Ziel wieder ein
Stück näher. Die Bildungsrepublik Deutschland nimmt
langsam Gestalt an.
Guter Unterricht ist und bleibt das Kernziel von
Schulentwicklung. Er muss strukturiert sein, herausfordernde Lerninhalte bieten und in einem unterstützenden
Klima stattfinden. Dies belegen zahlreiche Ergebnisse
der Bildungsforschung. Der demografische Wandel und
eine bessere Integration von Kindern und Jugendlichen
mit Migrationshintergrund sowie die Verwirklichung
eines inklusiven Bildungssystems sind nur einige der
Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Auch der
ausgeprägte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft
und Bildungschancen bleibt eine große Herausforderung.
Die Hälfte aller befragten Lehrer beklagt, dass sie
durch ihre Ausbildung nur unzureichend auf den Unterricht vorbereitet werden. Das ist das Ergebnis einer Studie des Allensbach-Instituts, die im April 2012 veröffentlicht wurde. 20 Prozent dieser Befragten empfanden den
Einstieg ins Berufsleben als sehr schwierig.
Die Qualität des Unterrichts durch die Lehrkräfte ist
jedoch ein entscheidender Faktor für das Kompetenzniveau, die Herausbildung von Schülerinteressen und
insbesondere für die Förderung von Schülerinnen und
Schülern mit unterschiedlichen sozialen und ethnischen
Hintergründen. PISA hat gezeigt, dass sich die unterschiedliche Lehrerausbildung in den einzelnen Bundesländern mit einem Leistungsunterschied der Schüler von
bis zu einem ganzen Schuljahr auswirkt. Die COACTIVStudie hat des Weiteren bewiesen, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen fachlichem, fachdidaktischem und pädagogischem Wissen von Lehrern einerseits und der Effektivität ihres Unterrichts auf der
anderen Seite gibt. Um die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems zu steigern, muss somit das Wissen und
das Know-how des Lehrerberufs in allen Abschnitten
der Ausbildung erhöht werden.
Zunächst ist es wichtig, geeignete und motivierte Studienanfänger zu finden. Leider ist das Berufsbild des
Lehrers in den letzten Jahren mit einer Abnahme des
Ansehens und Respekts bei gleichzeitiger Zunahme der
Anforderungen konfrontiert. Dies muss sich ändern - die
Profilbildung des Berufs muss gestärkt werden. Zweitens müssen die Studierenden früh mit der Realität des
Klassenzimmers konfrontiert werden. Es kann nicht sein,
dass ein zukünftiger Lehrer erst am Ende seiner Studienzeit Praxiserfahrung sammelt. Daher ist es essenziell,
dass die vom Bund geförderten Projekte immer in engem
Austausch mit einer oder mehreren Schulen stehen.
Zuletzt muss dafür gesorgt werden, dass Lehrer durch
Fort- und Weiterbildungsangebote im Sinne eines lebenslangen Lernens gefördert werden. Deshalb sprechen wir
uns in unserem Antrag für einen Qualitätswettbewerb
für eine exzellente Lehrerbildung aus. Dabei sollen
besonders herausragende Konzepte der Lehrerausbildung ausgezeichnet werden und dadurch die Einführung
der prämierten Ideen oder die Stärkung bereits vorhandener Strukturen ermöglicht werden. Die Hochschulen
konkurrieren um eine Fördersumme von insgesamt
16 Millionen Euro im Jahr. Dabei ist uns wichtig, dass
sich nicht nur bereits exzellente Hochschulen bewerben,
sondern auch solche Hochschulen eine Gelegenheit
bekommen, die über gute Entwicklungspotenziale verfügen. Es sollen auch nicht nur vereinzelte Fakultäten
gefördert werden, sondern die Hochschulen können sich
mit ihren Konzepten zu Verbünden zusammenschließen.
Daher läuft der Vorwurf der Grünen, die Regierung
würde nur Exzellenz fördern und nicht auf eine Breitenwirkung setzen, meines Erachtens ins Leere. Selbstverständlich bleiben die Länder in der Verantwortung, die
Hochschuen in vollem Umfang zu unterstützen. Dabei
können Sie aber auf die geförderten Best-PracticeModelle des Bundes zurückgreifen. Es liegt dann in ihrer
Hand diese in voller Bandbreite zu implementieren.
Ich möchte nochmal daran erinnern, dass die Bundesregierung so viel für die deutschen Hochschulen tut
wie keine Regierung zuvor. Durch die Hochschulpakte I
und II sowie den Qualitätspakt Lehre werden die Forschungs- und Lehrbedingungen an deutschen Hochschulen nachhaltig verbessert.
Worauf ich zuletzt noch eingehen möchte und was mir
als Bildungspolitiker aus Bayern wirklich am Herzen
liegt, ist die länderübergreifende Angleichung der Lehramtsstudien. Bayern kann dabei als Vorbild für einen
sehr hohen Standard, wie es die TUM School of Education beweist, dienen.
Mit dem Antrag „Initiative zur Stärkung der Exzellenz
in der Lehrerausbildung“ nehmen die Koalitionsfraktio-
nen auf, was seit längerem in der deutschen Kultus-
ministerkonferenz und auch der gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz von Bund und Ländern erarbeitet wird,
und bringen es in die parlamentarische Mitberatung ein.
Wir begrüßen es, dass es hierzu jetzt eine parlamentari-
sche Diskussion gibt, zumal wir zu etlichen Punkten,
was die Analyse und auch die Bewertung der Aufgaben-
stellung angeht, Übereinstimmungen haben.
Erstens. Natürlich stimmen wir darin überein, dass
entscheidend für die Qualität von Schulbildung die Qua-
lität der Lehrkräfte ist. Lehrkräfte sind entscheidende
pädagogische Bezugspersonen, sie wirken als Persön-
lichkeit, sie organisieren Lern- und Sozialprozesse, sie
vermitteln Wissen und Fertigkeiten auf möglichst hohem
Niveau in kind- und jugendgerechter Form. Gute Schule
muss gute Lehrkräfte gewinnen, gute Hochschule den
Lehrkräften in Aus- und Weiterbildung das optimale
Rüstzeug mitgeben und gute Lehrkräfte auch zur Koope-
ration im engeren schulischen Umfeld mit anderen Pro-
fessionen, mit Eltern wie Schülern verhelfen. Sie müssen
auch darauf vorbereitet und darin unterstützt werden,
Schule als Teil eines kommunalen, eines sozialen Umfel-
des gut zu organisieren.
Zweitens. Der Lehrerberuf ist ein ausgesprochen
schöner Beruf. Er ist auch ein ausgesprochen fordernder
Beruf, weshalb wir nachdrücklich unterstreichen, was
Zu Protokoll gegebene Reden
auch an Anerkennung gegenüber den Lehrkräften in der
Öffentlichkeit wieder stärker aufgebaut werden muss.
Gute personale Autorität, Zufriedenheit mit dem Beruf,
die dann auch auf Schüler, Kolleginnen und Kollegen
und Eltern ausstrahlen kann, fordert auch von uns als
politische Meinungsträger und Multiplikatoren, diesem
Beruf immer wieder zur Anerkennung zu verhelfen. Das
muss erst recht auch dafür gelten, der Aus-, Fort- und
Weiterbildung von Lehrkräften, nicht zuletzt an den
Hochschulen, ein wesentlich höheres Gewicht zu geben.
Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Hochschulen,
hervorragende Lehrkräfte auszubilden. Es ist keine Ne-
benaufgabe, es ist nicht etwas, das die wissenschaftliche
Leistungsfähigkeit von Hochschulen einschränkt, son-
dern ganz im Gegenteil: Eine gute Hochschule ist auch
eine gute Lehrerausbildungsstätte.
Drittens. Die Analyse, die von den Koalitionsfraktio-
nen dem Antrag vorangestellt worden ist, weist auch auf
eine quantitative Problematik hin. Allerdings kommt der
Antrag an dieser Stelle mit einer gewissen Verzögerung,
denn nicht zuletzt die Gewerkschaft Erziehung und Wis-
senschaft oder auch einzelne Bildungsökonomen und
Wissenschaftler wie Klaus Klemm und andere weisen
schon seit Jahren darauf hin, dass in Deutschland zu we-
nig Lehrkräfte ausgebildet werden und wir von daher in
ein dramatisches Nachwuchsproblem an den Schulen
hineinlaufen werden. Will man allerdings guten Nach-
wuchs gewinnen, müssen nicht nur die materiellen und
ideellen Rahmenbedingungen stimmen, was die öffent-
liche Anerkennung und Motivierung angeht, sondern
auch die Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen
vorgehalten werden und dieses rechtzeitig, mit langem
zeitlichen Vorlauf und in der entsprechenden Qualität.
Viertens. Übereinstimmung besteht schließlich darin,
dass der Beruf der Lehrkraft immer anspruchsvoller
wird aus pädagogisch-psychologischen Gründen, im ge-
sellschaftlichen Umfeld und auch in der Neuorgani-
sation von Schule. Sie weisen in Ihrem Antrag richtig
darauf hin, dass die Umsetzung der UN-Behinderten-
rechtskonvention erfordert, die stärkere Inklusion als
wesentlichen Gegenstand von Lehrerausbildung für alle
verpflichtend aufzubauen. Sie haben auch in Ihrem An-
trag ganz in Übereinstimmung mit der sozialdemokrati-
schen Betrachtung aufgeführt, dass die alten Strukturen
der Lehrerausbildung für die Zukunft nicht mehr ausrei-
chen, was die Rekrutierung und Motivierung von Studie-
renden angeht, die studienbegleitende Beratung, die
Verstärkung der Praxisbezüge und den Ausbau der Pra-
xisphasen bis hin zu neusten Erkenntnissen in der Di-
daktik und Methodik, die für moderne Lernarrange-
ments in Schule einzubringen sind und schließlich auch
die soziale und personale Kompetenz. An dieser Stelle
haben wir Übereinstimmungen, so wie es sie auch in der
Kultusministerkonferenz und der gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz gibt.
Wenn diese Übereinstimmungen langsam gewachsen
sind, so sind Wegmarken hierfür sicherlich die ersten
großen Studien zur empirischen Bildungsforschung, die
sich mit Kürzeln wie TIMMS und PISA verknüpfen. Im-
merhin sind das Studien, die zum Teil bereits über ein-
einhalb Jahrzehnte zurückliegen. Als der sogenannte
PISA-Schock ausgelöst wurde, hatte sich die damalige
Kultusministerkonferenz auf acht Handlungsfelder ver-
ständigt, an denen in Zukunft gemeinsam und länder-
übergreifend auch im Zusammenwirken mit dem Bund
vorrangig gearbeitet werden müsste, um die evident ge-
wordenen Schwächen des deutschen Schulsystems auf-
zuarbeiten und zu verändern. Die Lehrerausbildung ist
hierbei allerdings ein großer Restant geblieben, und es
ist deshalb höchste Zeit, dass auf der Kultusminister-
ebene, aber eben auch auf der Bundesebene diesem
wichtigen und zentralen Handlungsfeld mehr Aufmerk-
samkeit gewidmet wird. Erste Verabredungen in der
KMK aus dem Jahr 2004 über gemeinsame Standards
sollen hier nicht verschwiegen werden, aber auch dies
ist schon acht Jahre her und die Probleme sind gewiss
nicht kleiner geworden. Weshalb?
Erstens. Zum einen gibt es immer noch keine ausrei-
chende Konsensbildung und Konvergenz in Bezug auf
die verschiedenen Schulstrukturen, die in den einzelnen
Bundesländern angeboten werden, sondern im Gegen-
teil erleben wir in Teilen sogar noch eine weitere Ausdif-
ferenzierung. Grundsätzlich muss Lehrerbildung aber
auf eine Praxis ausgerichtet sein, die sich nicht an erster
Stelle über Schulstrukturen definiert, sondern über Al-
tersphasen, das heißt Entwicklungsphasen von Kindern
und Jugendlichen und bestimmte pädagogisch-schu-
lische Leitprinzipien. Diese Betrachtung darf deshalb
unseres Erachtens auch in der Zukunft einer länderüber-
greifend ausgerichteten Lehrerausbildung nicht ausge-
spart werden. Allerdings gibt es hier Tabus, und Tabus
führen bekanntlich dazu, dass sich Entscheidungen auch
hinziehen bzw. verdrängt werden und letztlich rudimen-
tär bleiben.
Zweitens. Gute Lehrerbildung erfordert einen hohen
Einsatz an den Universitäten wie in den Praxiseinrich-
tungen. Und in einer Situation, in der die Hochschulen
nicht zuletzt wegen der begrüßenswerten Zuwächse an
Studienanfängerzahlen sowieso schon eine starke zu-
sätzliche Bildungsleistung erbringen, gibt es auch unter
dieser Überlastungswahrnehmung eine gewisse Distanz
zu einer deutlichen qualitativen Verbesserung und auch
einem quantitativen Ausbau von Lehrerbildung. Nur kann
diese Überlastungssituation nicht der Maßstab bleiben,
unter dem wir in Zukunft diese zentrale Rolle der Lehrer-
ausbildung weiterhin bewerten. Gerade weil die Hoch-
schulen schon so viel leisten, müssen sie an dieser Stelle
noch eine besondere Unterstützung erfahren.
Drittens. Niemand soll ja drumherumreden: Gerade
im Schulbereich und in Verbindung damit auch in der
Lehrerausbildung gibt es noch eine Kleinstaaterei in
Deutschland, die, historisch gewachsen, dennoch nicht
mehr in diese Zeit passt: Statt der Konkurrenz muss es
hier zur Kooperation kommen, dies aber eben nicht nur
in Bezug auf die Schulen unmittelbar, sondern auch auf
die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Weil aber
der Abschied von einem konkurrierenden Föderalismus
hin zu einem kooperativen Föderalismus vielen Beteilig-
ten nicht leicht fällt, ist hier sicherlich zu viel Zeit ins
Land gegangen, die guten Einsichten der PISA-Reform
auch schnell in Taten umzusetzen. Kooperation heißt
hier aber auch, sich offen zu zeigen gegenüber den in-
Zu Protokoll gegebene Reden
haltlich wie materiell - sprich haushalterisch - gegebe-
nen Möglichkeiten des Bundes als einem weiteren Mit-
verantwortlichen, damit Bildung in Deutschland und
speziell Lehrerbildung zu einem guten Ergebnis ge-
bracht wird. Das gute Ergebnis wird sich dann auch da-
ran bemessen, dass es für die Lehrkräfte selbst keine aus
der Zeit gefallenden Einschränkungen gibt und eine
wechselseitige Anerkennung ihrer Qualifikation zwi-
schen den einzelnen Bundesländern sowie die Möglich-
keiten ihrer Mobilität in Deutschland und mit einer
langfristigen Perspektive auch über Deutschland hinaus
Standard wird.
Nun zu Ihrem Antrag im Einzelnen, wobei hier sicher-
lich auch Differenzierungen und kritische Bewertungen
stärker deutlich werden.
Erstens. Sie beziehen sich bei Ihrem Antrag, dem von
daher auch nur eine begrenzte Originalität zuzuspre-
chen ist, im Wesentlichen auf die Eckpunkte für die in-
haltliche Ausrichtung der Bund-Länder-Initiative Leh-
rerbildung, wie sie von der Kultusministerkonferenz,
KMK, bis hin zur Gemeinsamen Wissenschaftskonfe-
renz, GWK, vorbereitet worden ist. Dort ist davon die
Rede, dass Schwerpunkte einer solchen gemeinsamen
Initiative sein sollten: a) die Profilierung und Optimie-
rung der Strukturen der Lehrerbildung an den Hoch-
schulen, b) die Qualitätsverbesserung des Praxisbezugs
in der Lehrerbildung, c) die Verbesserung der profes-
sionsbezogenen Beratung und Begleitung der Studieren-
den in der Lehrerbildung, d) die Fortentwicklung der
Lehrerbildung in Bezug auf die Anforderungen der He-
terogenität und Inklusion, e) die Fortentwicklung der
Fachlichkeit, der Didaktik und der Bildungswissenschaften.
Wir stimmen dem gerne zu, möchten hier aber ergänzen, dass natürlich auch ein großer Bereich von Veränderung in den nächsten Jahrzehnten, der in Deutschland
längst überfällig ist, die Entwicklung von Schule hin zur
Ganztagsschule ist. Deutschland hat hier einen gewaltigen Nachholbedarf und steht in seiner Struktur der
Halbtagsschule vollkommen isoliert in Europa und auch
darüber hinaus da. Erste Ansätze, hier Ganztagsschule,
und zwar gute Ganztagsschule, aufzubauen, sind seit der
Regierung von Gerhard Schröder und Edelgard Buhlman
in Bewegung gekommen. Nun müssen sich das veränderte Bild von Schule und auch die veränderten Anforderungen an die Lehrkräfte natürlich auch in einer reformierten Lehrerausbildung in angemessener Form
wiederfinden, bei der sich Lehrkräfte nicht nur von
vornherein in der Ausbildung darauf einzustellen haben,
dass sie als zentrale Beteiligte an einem Ganztagslernund Lebensort Schule ganz anders gefordert sind. Sie
müssen auch in einer solchen erneuerten Lehrerausbildung bzw. Weiterbildung immer wieder darauf vorbereitet bzw. dafür qualifiziert werden, mit viel mehr Beteiligten zu kooperieren, neue Ideen von Schule zu entwickeln
und zu leben, als sie Schule im klassischen Klassenzimmerunterricht über lange Jahre selbst noch kennengelernt haben. Von SPD-Seite im Bundestag aus wünschen
wir uns jedenfalls, dass diese große Zukunftsaufgabe der
guten Ganztagsschule gleichberechtigt neben die andere
Zielsetzung tritt und dieses auch mit einschließt, den
Lehrerberuf aus seiner isolierten Position zu befreien
und als Teil eines Gesamtberufsfeldes Schule zu verstehen.
Zweitens. Die Frage der Schulstruktur soll nicht im
Vordergrund der Lehrerausbildung stehen, gerade weil
die Lehrertätigkeit vom einzelnen Kind und Jugendlichen her zu sehen ist, im emotionalen Bezug, in der pädagogischen Führung, in der Fachdidaktik und in der
Anlage von Unterricht. Deshalb darf die Lehrerausbildung in der Zukunft die Schulstrukturfrage nicht ganz
aussparen. Wir beobachten jetzt schon in der Lehrerausbildung in vielen Bundesländern, dass diese nach Überwindung des klassischen mehrgliedrigen Schulsystems
zunehmend auch alters- und entwicklungsstufenbezogene Schulstrukturen in die Lehrerausbildung mit hineinnehmen. Dies wird umso wichtiger werden, wenn
gleichzeitig ein offener Arbeitsmarkt für Lehrer geschaffen werden soll, der nicht nur aus Sicht der einzelnen
Lehrkräfte, sondern auch aus Sicht der Bundesländer
und letztlich auch mit der europäischen Perspektive immer wichtiger wird. Viele Bundesländer gehen deshalb
schon dazu über, neben dem Lehramt für die Grundschule ein Lehramt für die Sekundarstufe I und II an Gemeinschaftsschulen, Stadtteilschulen, Gesamtschulen und
Gymnasien auszuweisen und darüber hinaus auch noch
die Lehrämter an den Schulen für besondere Förderbedarfe sowie den beruflichen Schulen. Weil alle Beteiligten wissen, dass dieses ein sehr schwieriges Feld ist,
darf es dennoch nicht aus der Entwicklung von zukunftsbezogener Lehrerausbildung ausgespart werden,
sondern die Perspektiven, die sich mit einer stärker koordinierten und stärker konsensorientierten Lehrerausbildung mit Blick auf die Konsensbildung in der Schulstruktur absehbar ergeben, müssen jetzt schon in die
Verbesserung der Lehrerausbildung in Qualität und
Quantität mit einbezogen werden. Schließlich werden
Lehrer nicht für eine kurze Berufsphase, sondern für einen Arbeitsplatz, der in der Regel über 35 Jahre im Berufsfeld Schule wahrgenommen wird, ausgebildet. Hier
Offenheit und Anschlussfähigkeit in einer harmonisierten Struktur der Lehrerausbildung mit zu befördern,
sollte deshalb auch ein Anliegen dieser Initiative für die
Stärkung der Lehrerausbildung in Deutschland sein.
Natürlich sind hier an erster Stelle die Länder gefordert,
aber wenn es schon zu einem kooperativen Vorgehen von
Bund und Ländern in der Verbesserung der Lehrerausbildung kommt, darf es hier auch keine Tabus mehr geben, was die Erwartungen durch den Bund als Teilnehmer angeht.
Allein der demografische Wandel mit der Verringerung der Schülerinnen- und Schülerzahlen zwingt hier
alle klassischen Schulideologen aus ihren Schützengräben heraus und zu einer stärker konsensorientierten gemeinsamen Politik. Die Lehrerbildung kann hier hinter
nicht zurückstehen und muss im Gegenteil sogar Antreiber für eine solche veränderte Politik sein. Damit beantwortet sich auch, dass natürlich eine Bund-Länder-Initiative zur Stärkung der Lehrerausbildung auch immer
mit einschließen muss, das Anerkennungsverfahren der
jeweiligen in den einzelnen Bundesländern erreichten
Qualifikationen so zu verändern, dass die teilweise wiZu Protokoll gegebene Reden
dersinnigen Hürden und Abgrenzungen einer wahrlich
vernünftigen und betroffenen- wie schulzentrierten Offenheit weichen.
Drittens. Wenn die Koalitionsfraktionen die Überschrift wählen „Initiative zur Exzellenz in der Lehrerausbildung“ und auch an mancher anderer Stelle im Antrag, hier allerdings weniger in den Forderungen als
vielmehr im Begleittext, assoziativ an die Exzellenzinitiative im Hochschulbereich, den Wettbewerbscharakter
dieser Exzellenzinitiative und an das Paradigma der
Leuchttürme-Philosophie anknüpfen, so ist dies nicht
unser Verständnis, und wir glauben, auch nicht das Verständnis der KMK und der gemeinsame Geist aus der
GWK von Bund und Ländern. Uns muss es darum gehen,
die Lehrerausbildung generell in Deutschland zu verbessern und nicht einzelne Hochschulen als quasi Exzellenzhochschulen mit der Lehrerausbildung zu identifizieren. Wir möchten deshalb nachdrücklich dafür
werben, dass Sie in Ihrem Verständnis dabei bleiben,
dass ein Element der Verbesserung der Hochschullehrerausbildung an den 120 Hochschulen, die wir in
Deutschland haben, die Identifikation von Best-PracticeBeispielen sein kann, dass es aber im Übrigen nicht nur
um einen Wettbewerb gehen darf, in dem eine Prämierung von als besonders gut identifizierten Lehrerausbildungen stattfindet, sondern ein Prozess organisiert wird,
der Breitenwirkung entfaltet und am Ende alle Hochschulen in Deutschland und die gesamte Lehrerausbildung erreicht. Über die einzelnen Bedingungen eines
solchen Qualitätswettbewerbs wird deshalb auch noch
im Einzelnen zwischen den Bundesländern und auch
zwischen Bund und Ländern zu diskutieren und zu verhandeln sein. In den Ziffern 2 und 3 Ihres Antrags haben
Sie dazu einige Vorschläge gemacht. Ob es klug ist, hier
als Bundestag die Regierung anzuweisen, und dies
schon zum jetzigen Zeitpunkt, in dieser Weise den Qualitätswettbewerb auszugestalten, ohne es mit den Partnern in den Ländern bereits abschließend geklärt zu haben, ob diese Form der Eingrenzung tatsächlich das
angestrebte Ziel ist, nämlich eine Stärkung der Lehrerausbildung mit mehr Qualität und Quantität insgesamt
in Deutschland zu erreichen, sei deshalb dahingestellt.
Viertens. Natürlich spielt auch das Geld eine große
Rolle. Der Hinweis in Ihrem Antrag, dass unter strikter
Beachtung der verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse haushalterisch Vorsorge getroffen werden
soll, dass der Wettbewerb für eine Laufzeit von fünf Jahren gesichert ist und die Fördermaßnahmen im kommenden Jahr beginnen können, kann einerseits als Selbstverständlichkeit gesehen werden andererseits aber auch
als Hinweis darauf, wie verwirrend hier die Regierungsfraktionen bisher agieren. So gibt es Zeitungsmeldungen, zum Beispiel aus dem „Hamburger Abendblatt“
vom 12. März 2012, wonach die Fraktionen der Union
und der FDP im Wettbewerb angeblich planen, dass sich
die Hochschulen um eine Fördersumme von jeweils
16 Millionen Euro im Jahr für die einzelne Hochschule
bewerben sollen. Davon sollen nach der Berichterstattung aus dem „Hamburger Abendblatt“ 10 bis 16 solcher sogenannten Zukunftskonzepte gefördert werden.
Zugleich wird von der „Süddeutschen Zeitung“ am
21. April 2012 berichtet, dass das Programm über zehn
Jahre laufen und eine Größenordnung von 500 Millionen Euro haben solle. Damit würden pro Jahr 50 Millionen Euro zur Verfügung stehen, und man muss nicht
Adam Riese bemühen, um in diesen verschiedenen Verlautbarungen, die offensichtlich sehr mediengeleitet in
die Öffentlichkeit gebracht worden sind, auf der Hand
liegende Widersprüche zu erkennen.
Und wenn wir dann als Abgeordnete noch wissen,
dass die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP eine
mittelfristige Finanzplanung vorgelegt hat, bei der die
Haushaltsmittel des Bundes ab 2014 für Bildung und
Forschung rückläufig sein sollen, bleibt erst recht die
Frage, was eigentlich die finanzielle bzw. materielle
Substanz ist, die seitens der Bundesregierung für dieses
Projekt der Lehrerausbildung mobilisiert werden soll.
So sind wir gespannt, auch in den weiteren Beratungen
im Ausschuss Näheres zu hören. Allerdings sollten die
CDU/CSU- und FDP-Fraktionen zusammen mit ihrer
Regierung vorher mehr Klarheit in sich selbst gefunden
haben, statt hier weiter zur Verwirrung beizutragen.
Dass eine solche Initiative zur Verbesserung der Lehrerausbildung von Bund und Ländern einer ausreichenden finanziellen Absicherung bedarf, steht für die SPD
außer Zweifel. Vielleicht kann hier auch ein neues Nachdenken bei den Koalitionsfraktionen über das unsinnige
Kooperationsverbot nachhelfen, das immer noch von Ihnen im Bereich der hochschulischen und der schulischen
Bildung hochgehalten wird. Es ist doch im Gegenteil so,
dass wir hier keine minimale, nur auf ganz konkrete Probleme abzielende Lösungsstrategie brauchen, sondern
eine umfassende Öffnung neuer Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern in der Finanzierung und in
der Gestaltung von Bildung an Schule und Hochschule.
Wie sehr dies notwendig ist, zeigt sich auch in der Initiative der Verstärkung der Lehrerausbildung in Qualität
und Quantität. Als SPD im Bundestag werden wir diesen
Prozess im Bundestag konstruktiv begleiten.
Bildung ist einer der Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Folglich muss eine hohe Qualität des deutschen
Bildungssystems gewährleistet sein, um den wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt unserer Gesellschaft zu garantieren.
Sie wissen, dass Deutschland eine Bildungsrepublik
ist. Genau aus diesem Grund müssen wir uns auch im internationalen Wettbewerb behaupten können und auf
dieser Grundlage das gesamte Bildungssystem sowie
dessen Qualität mit Blick in die Zukunft stetig verbessern. Es ist richtig, dass die Dozenten, Ausbilder und
Ausbilderinnen sowie Lehrerinnen und Lehrer in diesem
Prozess eine besondere und wichtige Rolle spielen.
Die Entwicklung des Bildungssystems wird in der
heutigen Zeit maßgeblich vor drei gesellschaftliche Herausforderungen gestellt: den demografischen Wandel,
die Inklusion und die Digitalisierung.
Der demografische Wandel spielt in dem gesamten
Prozess der Verbesserung der Qualität des BildungssysZu Protokoll gegebene Reden
tems in Deutschland eine Schlüsselrolle. Es ist bekannt,
dass in den folgenden Jahren viele Lehrerinnen und
Lehrer aufgrund des Erreichens des Rentenalters aus
dem Schuldienst ausscheiden werden. Schon heute ist
beinahe jede zweite Lehrkraft über 50 Jahre und älter.
Damit bilden die 50- bis 60-Jährigen die größte Altersgruppe im Schuldienst. Im Vergleich dazu gibt es nur einen geringen Anteil von jungen Lehrkräften. Dies ist
zum einen auf die Länge der Hochschulausbildung zurückzuführen, zum anderen wurden aufgrund der demografischen Entwicklung weniger Lehrkräfte eingestellt.
Für das Jahr 2020 wird ein Rückgang der Zahl der
Schülerinnen und Schüler um 2,2 Millionen erwartet.
Junge Leute müssen daher motiviert werden, den Beruf
des Lehrers zu erlernen. Um dieses Ziel zu erreichen und
die Motivation der potenziellen neuen Lehrkräfte zu steigern, müssen die Ausbildungsbedingungen verbessert
werden.
Auch für die Problematik der Inklusion muss eine Lösung gefunden werden. Konkret bedeutet das einen veränderten Umgang mit der Leistungsdifferenzierung,
eine Abkehr von homogenen Lerngruppen, eine Hinwendung zu individuellen Lernarrangements und eine
Anpassung pädagogischer Unterstützungsleistungen.
Deutschland setzt sich für eine inklusive Pädagogik ein
und muss folglich eine Neuausrichtung der Lehrerausbildung und Schulorganisation vornehmen. Dies setzt
voraus, dass die jeweilige Schule sich an die Förderbedürfnisse der ihr anvertrauten Schüler anpasst und die
Lehrkräfte umfassend qualifiziert werden.
Die Digitalisierung fordert das Bildungssystem ebenfalls heraus. Die Lehrerausbildung muss sich demzufolge an die aktuelle Bildungstechnologieentwicklung
anpassen, um die daraus entstehenden wichtigen Perspektiven für den Unterricht und die Kooperation mit
den Unternehmen verstärkt nutzen zu können. Die gesamte Gesellschaft verändert sich. Da darf die Lehrerausbildung nicht bleiben, wie sie ist.
Gute Lehrer sind der Grundpfeiler eines gelingenden
Bildungssystems. Ihr Engagement verdient höchste
gesellschaftliche Anerkennung; denn die Qualität im
Klassenzimmer wird maßgeblich durch die Qualität der
Lehrerausbildung bestimmt. Guten Unterricht gibt es
nur mit guten Lehrern. Doch die Lehrerausbildung wird
in Deutschland vernachlässigt.
Die Zersplitterung der Lehrerausbildung ist ein weiteres ärgerliches Hemmnis. So wie ein Arzt und ein
Jurist muss auch ein Lehrer mit seinem abgeschlossenen
Studium in allen Bundesländern gleichermaßen anerkannt und angestellt werden können. Auch soll die Ausbildung sich mehr an den Erfordernissen des Unterrichtens orientieren.
Wir wollen Lehrer, die Fachleute vor Ort sind, ernst
nehmen, indem wir ihnen mehr Gestaltungsfreiheit übertragen. Ebenso gibt es einen Zusammenhang zwischen
Schülerleistung und Autonomie: Je eigenständiger die
Schule, desto besser die Leistung der Schüler. Darum:
Wir benötigen Freiheit und Stärke vor Ort. Mehr
Bildungsqualität braucht ein klares Bekenntnis zur Eigenständigkeit der Schulen mit den Möglichkeiten der
Leistungsdifferenzierung.
Die Ziele dieser Initiative sind vielseitig und umfangreich. So soll die Struktur der Lehrerbildung an den
Hochschulen im Sinne einer Profilbildung befördert
werden. Dies soll die Sichtbarkeit sowie die Lehrerbildung stärker an den Hochschulen verankern. Insgesamt
soll eine Stärkung der Lehrerausbildung vorgenommen
werden.
Ein weiteres Ziel der Initiative ist die Weiterentwicklung von Konzepten der Lehrerbildung. Das bedeutet,
eine fachliche, fachdidaktische und pädagogische Ausbildung zu garantieren. Ferner soll die Verzahnung von
Lehrerausbildung und pädagogischer Forschung verbessert werden. Des Weiteren sollen an ausgesuchten
Standorten die finanziellen Kapazitäten aufgestockt und
damit die Grundlage zu einer deutlichen Qualitätssteigerung geschaffen werden.
Ein Problem stellt im Moment noch das BundLänder-Programm dar, da dieses noch zur Verhandlung
aussteht. Durch sogenannte Leuchtturmprojekte sollen
die künstlichen Barrieren zwischen den Bundesländern
eingerissen werden. Die gegenseitige Anerkennung der
Abschlüsse muss nämlich gegeben sein. Betrachtet man
die Initiative insgesamt, so ist dies der erste Schritt in
die richtige Richtung.
Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag zur Verbesserung der Lehrerausbildung auf den Weg gebracht.
Es ist erfreulich, dass sie die Bedeutung einer guten Lehrerausbildung für eine gute Schule und gute Bildungsabschlüsse von Lernenden begreifen, und es ist erfreulich,
dass sie zu der Einsicht gekommen sind, dass es nicht
reicht, diese Aufgabe den Ländern allein zu überlassen.
Immerhin wurde der vor ziemlich genau zwei Jahren
eingebrachte Antrag der Fraktion Die Linke für ein
Fachkräfteprogramm Bildung und Erziehung noch mit
dem Verweis auf den Hochschulpakt und die Zuständigkeit der Länder abgelehnt. Man sah keinen Handlungsbedarf.
Das scheint sich nun geändert zu haben, und das ist
ein ermutigendes Zeichen. Dass mehr als die Hälfte der
Lehrerinnen und Lehrer heute älter als fünfzig Jahre
sind und damit ihr Verbleib im Schuldienst endlich ist,
war allerdings schon damals bekannt. Nun fällt der
Koalition auf, dass trotz des Hochschulpakts zu wenige
Lehrerinnen und Lehrer nachwachsen, denn nur 27 Prozent sind insgesamt unter 40 Jahre alt. Auch das ist für
die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen keine
Neuigkeit, sehen sie es doch jeden Tag in der eigenen
Schule.
Auf der anderen Seite wurde auch von der Seite der
Politik in den letzten Jahren zu wenig getan, die Anerkennung des Lehrerberufes zu verbessern. So geht immer noch das Sprichwort herum, dass Lehrer vormittags
Unterricht und nachmittags frei hätten. Abfällige Äußerungen über Lehrerinnen und Lehrer wie die eines uns
allen gut bekannten ehemaligen Ministerpräsidenten
Zu Protokoll gegebene Reden
eines Bundeslandes haben dabei offensichtlich nachhaltige Wirkungen hinterlassen.
Vielleicht reagiert die Koalition ja auch erst, wenn
sich die Wirtschaft in Bildungsangelegenheiten zu Wort
meldet: So hat eine Studie des Allensbach-Instituts im
Auftrag der deutschen Wirtschaft jüngst herausgefunden, dass sich zwar die Anerkennung des Lehrerberufes
in den letzten Jahren geändert hat, dass aber die Anziehungskraft des Lehramtsberufes nach wie vor gering ist.
Darum wundert es nicht, dass zu wenige Studierende mit
der Absicht ein Studium beginnen, am Ende Lehrerin
oder Lehrer zu werden. Und wenn schon, dann doch
eher für Grundschulen oder besser noch Gymnasien,
aber keinesfalls für Hauptschulen oder zusammengefasste Haupt- und Realschulen, die es nun in irgendeiner
Weise in den meisten Bundesländern geben wird.
Zu meiner Zeit als Landespolitikerin konnte man die
Studierenden eines Jahrgangs für ein Lehramt an
Sekundarschulen an einer Hand abzählen. Das hat sich
noch nicht wesentlich verbessert.
Ein Grund ist sicher auch, dass die Länder über viele
Jahre hinweg eine verfehlte Einstellungspolitik praktiziert haben, weshalb vor allem im Osten ausgebildete
Lehrerinnen und Lehrer verstärkt in die finanzstärkeren
Westländer gegangen sind, seit die Länder auch die Hoheit über die Besoldung von Lehrkräften in eigener Regie regeln.
Tatsächlich gibt es inzwischen zwar eine größere Anerkennung der Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern,
aber an der problematischen Arbeitssituation in den
Schulen hat sich nichts zum Positiven gewendet, im Gegenteil. Lehrerinnen und Lehrer werden mit immer mehr
Vorschriften, Programmen, abzurechnenden Verpflichtungen überhäuft, sodass für das Kerngeschäft Unterricht zu wenig Zeit bleibt.
Auf der anderen Seite haben die Hochschulen zu
wenig getan, um die Qualität der Lehrerausbildung zu
befördern und mit der Einführung des Bachelor-MasterSystems ist die berufliche Ausbildung von Lehrerinnen
und Lehrern noch unübersichtlicher geworden, wurden
die Bildungswissenschaften vernachlässigt usw.
Es gibt also allen Grund, etwas für die Lehrerausbildung zu tun, zumal dieser Ausbildungsbereich für Hochschulen nicht drittmittelfähig ist und damit kein Geld
bringt.
Doch was fällt der Koalition ein? Sie beschließt:
„Wir machen einen Wettbewerb.“ „Wer bildet die besten
Lehrerinnen und Lehrer aus?“ Das soll es richten. Die
am besten ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer werden dann mit Kusshand von den Ländern aufgenommen,
die am besten bezahlen können. So ist das halt in einer
vom Wettbewerb geprägten Gesellschaft, und warum
soll es in der Schule anders sein? Länder, die ärmer
sind, können sich dann die Lehrkräfte leisten, deren Ausbildung eben noch nicht so gut war. Was ja nicht an ihrer
persönlichen Eignung liegen muss, sondern vielleicht an
der Kurzsichtigkeit oder auch nur der Unterfinanzierung
von Hochschulen. Die Lehrenden und die Lernenden in
den Ländern, die nicht die am besten ausgebildeten
Lehrkräfte abbekommen, sind erneut die Gelackmeierten.
Die Koalition behauptet in ihrem Antrag, dass die unterschiedliche Unterrichtsqualität von den unterschiedlichen Unterrichtsmustern abhänge. Was immer sie
darunter versteht, es erklärt nicht den Hang zum Wettbewerbsföderalismus als Heilmittel für die Mängel in der
Lehrerausbildung in Qualität und Quantität in der Fläche und in den Bildungsergebnissen in Deutschland. Ein
solcher Wettbewerb führt auch nicht zur Verringerung
der hohen Zahlen von Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne Abschluss, die heute in zahlreichen
Bundes- und Landesprogrammen wenigstens teilweise
aufgefangen werden. Es führt dazu, dass die Schere weiter aufgeht, ganze Generationen von Lehrenden und
Lernenden abgehängt werden, dass die wirtschaftliche
und soziale Lage zwischen den Bundesländern weiter
auseinanderdriftet. So kann man das richtig erkannte
Problem nicht lösen.
Eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwischen den Bundesländern und Regionen und gleiche
Teilhabe in der Bildung wird sich so ebenso wenig herstellen lassen wie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen an den Schulen außerhalb der Gymnasien.
Was von dem Antrag der Koalition bleibt, ist neben
der Einsicht, dass es in der Lehrerausbildung ein Problem gibt, aus dem sich der Bund nicht herausmogeln
kann, die Erkenntnis, dass der alte biblische Spruch
„Wer hat, dem wird gegeben“ für die Koalition immer
noch politischer Leitfaden ist.
Der Bund hat eine gesamtstaatliche Verantwortung,
auch im Bildungsbereich. Sonst könnte man den Art. 7
auch gleich aus dem Grundgesetz entfernen, nach dem
das Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht. Der
Bund muss, gemeinsam mit den Ländern auch gesamtstaatlich handeln. Wenn das Kooperationsverbot in der
Bildung dabei hinderlich ist, dann muss es weg.
Das Image der Lehrer in Deutschland hat sich verbessert. In der Studie „Lehre({0}) in Zeiten der Bildungspanik“ des Allensbach-Instituts, die im April 2012 veröffentlicht wurde, landeten die Lehrer im Bezug auf
Ansehen auf dem vierten Platz hinter Ärzten, Krankenschwestern und Polizisten. In derselben Studie beklagte
sich die Hälfte der befragten Lehrkräfte, dass sie sich
durch ihre Ausbildung nur unzureichend auf ihre Arbeit
vorbereitet fühlten. Unter den jungen Lehrern, die bis zu
fünf Jahre im Beruf sind, waren es sogar 62 Prozent.
Das zeigt überdeutlich: Eine bessere Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ist eine beständige Herausforderung für alle Länder und Hochschulen. Ein Förderprogramm von Bund und Ländern zur Verbesserung der
Lehrerbildung kann ein sinnvoller Ansatz sein, gute Beispiele zu unterstützen, die dann idealerweise Impulse für
die Verbesserung der Lehrerbildung an anderen Hochschulen auslösen.
Gute Schulen brauchen gute Lehrerinnen und Lehrer.
Die konkreten beruflichen Anforderungen an sie wachZu Protokoll gegebene Reden
sen und müssen bei einer Erneuerung der Lehrerausbildung maßgeblich sein. Im Schulalltag sind hohe fachliche Qualifikationen genauso gefordert wie zunehmend
anspruchsvolle didaktische Qualitäten oder diagnostische und evaluative Kompetenzen. Neben erzieherischen
und betreuenden Kompetenzen benötigen Lehrkräfte die
Fähigkeiten zur Qualitätsentwicklung und klugen
Selbstverwaltung. Studium und Referendariat müssen
darauf dringend besser vorbereiten und können so die
Basis schaffen für pädagogische Eigenverantwortung,
hohe Unterrichtsqualität und ein demokratisches Schulklima mit sozialem Zusammenhalt.
Wer höchste Lernleistungen und Chancengleichheit
will, muss alle Schülerinnen und Schüler nach ihren individuellen Potenzialen fördern und darf kein Talent
vergeuden. Alle Lehrerinnen und Lehrer müssen deshalb
im professionellen Umgang mit Heterogenität ausgebildet sein, um produktiv mit der gewachsenen Vielfalt ihrer Schülerschaft umgehen zu können.
Unterschiedliche soziale Lebenslagen in unserer Einwanderungsgesellschaft erfordern eine schulische Lehrund Lernkultur, die Integration und Inklusion in den Mittelpunkt guter pädagogischer Praxis rückt. Eine reformierte Lehrerausbildung ist daher ein Schlüssel für
beste Bildung vor Ort. Sie muss Teamfähigkeit stärken,
da selbstständige Ganztagsschulen mit Personalmix
diese brauchen, und sie sollte Lehrkräfte stärker zur Interdisziplinarität befähigen: Es braucht nicht nur die
Fähigkeit zur Verständigung zwischen Schulfächern,
sondern unter anderem auch mit Sozialarbeit, Gesundheitsprävention und kommunaler Quartiersentwicklung.
Denn Schulen werden heute vielerorts zum zentralen
Baustein lokaler Bildungslandschaften.
Diesen modernen Ansprüchen genügt der Antrag der
Regierungsfraktionen nicht. Es ist zweifelhaft, dass die
von Union und FDP skizzierte „Initiative zur Stärkung
der Exzellenz in der Lehrerausbildung“ zu einer flächendeckenden Verbesserung der Lehrerbildung in
Deutschland führen wird.
Erstens scheint das Prinzip der individuellen Förderung in den Köpfen und Herzen von CDU/CSU und FDP
immer noch nicht angekommen zu sein.
Zweitens beschränken sich die Regierungsfraktionen
fast völlig auf die Ausbildung von Lehrkräften, ihre
Fort- und Weiterbildung wird nur alibimäßig erwähnt.
Dabei zeigen die Zahlen über Alterskohorten, dass hier
ein riesiger Bedarf liegt. Niemand kann und darf warten, bis es zu einem kompletten Austausch der Lehrkräfte
gekommen ist. Fort- und Weiterbildung müssen gleichrangig zur Ausbildung von Lehrkräften gesehen werden.
Drittens ist es erstaunlich, dass Schwarz-Gelb das
Kooperationsverbot in der Bildung nicht anrührt, dann
aber in ihrem Parlamentsantrag formuliert, die Bundesregierung solle mit dem Qualitätswettbewerb darauf
hinwirken, „dass auch die länderübergreifende Anerkennung von Ausbildung und Abschlüssen in der Lehrerausbildung und damit eine verbesserte Mobilität von
Studierenden und Lehrkräften als Ziele des Wettbewerbs
verankert werden“. Damit erkennen auch die Fraktionen von Union und FDP die dringende Notwendigkeit
an, dass Bund und Länder in einem zentralen Bereich
der Bildungspolitik kooperieren. Es geht ihnen also
nicht nur um abstrakte Exzellenz der Hochschulbildung
für eine Fächergruppe, sondern es geht auch ihnen um
die praktische Verbesserung der Schulen. Darum, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP: Seien
Sie ehrlich, öffnen Sie die Verfassung auch im Bildungsbereich, und ermöglichen Sie dort endlich Kooperation!
Bundesbildungsministerin Schavan muss endlich aus
ihren Fehlern lernen und mehr Steuerungs- und Verhandlungsgeschick beweisen, damit mehr Bund-LänderKooperation möglich wird und eine echte Offensive für
die Lehrerbildung herauskommt. Sonst wird Schavan
einmal mehr als Ankündigungsministerin dastehen, wie
bei den mickrigen Deutschlandstipendien, dem ad acta
gelegten Zukunftskonto für jedes Kind, den zusammengeschrumpften lokalen Bildungsbündnissen oder dem
gescheiterten Plan einer „Akademie für die Lehre“.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9937 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Sie sind einverstanden. Das ist so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen
Deutschland und Polen
- Drucksache 17/9947 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Tourismus
Hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
Der Ausbau des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen ist sinnvoll und notwendig, sowohl im
Personen- als auch im Güterverkehr. Wir sind uns einig,
dass es große Defizite bei der grenzüberschreitenden Eisenbahninfrastruktur gibt und dass sich teilweise die
Fahrzeit mit den Zügen in Polen derzeit mit dem Pkw
nicht messen kann. Aber was die Grünen nicht sagen,
ist, dass derzeit in Polen auf sehr vielen Strecken Ausbau- und Modernisierungsarbeiten stattfinden. Dies
führt dazu, dass die Züge große Umwege machen müssen, um an ihr Ziel zu gelangen.
Die Modernisierung in Polen wird sehr zügig vorangetrieben. Schwerpunkt liegt eindeutig auf den Strecken,
die Teil des transeuropäischen Verkehrsnetzes sind. Außerdem wird in die technische Aufrüstung des Bestandnetzes investiert. Im Jahr 2012 wurden in Polen Schienenverkehrsprojekte im Wert von rund 4,5 Milliarden
Euro allein zwischen dem zentralen Eisenbahninfra22038
strukturunternehmen PkP Polskie Linie Kolejowe und
verschiedenen Auftragnehmern beschlossen.
Dieser enorme Umfang der Sanierungsmaßnahmen
verursacht leider zahlreiche Verzögerungen durch die
Bauarbeiten, da die Bahnen die Baustellen weiträumig
umfahren müssen. Mit einer deutlichen Verbesserung
wird ab dem Jahr 2014 gerechnet.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung und insbesondere unser Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer streben
eine Fortführung der intensiven und guten Zusammenarbeit zu grenzüberschreitend bedeutsamen Infrastrukturprojekten mit der polnischen Seite an. Der Zustand
der grenzüberschreitend bedeutsamen Schienenprojekte
begründet einen weiteren Investitionsbedarf auf beiden
Seiten, der bisher und künftig im Bundeshaushalt angemessen berücksichtigt wird.
Es bedarf hierfür jedoch internationaler Abkommen,
in der Regel Staatsverträge, für deren Abschluss
erfahrungsgemäß lang dauernde Abstimmungsprozesse
erforderlich sind. Im Rahmen der deutsch-polnischen
Regierungskonsultationen im Juni 2011 wurde eine gemeinsame Projektliste bezüglich Bau und Betrieb aller
Verkehrsträger mit grenzüberschreitender Bedeutung
vereinbart, deren Umsetzung von deutscher Seite nachdrücklich verfolgt wird.
Aktuell verhandelt werden Ressortabkommen zum
Ausbau der Eisenbahnverbindung Berlin-Stettin und
zum Eisenbahnbetrieb.
Ich möchte die wichtigsten Ausbaustrecken erörtern:
ABS Berlin-Stettin:Die Ausbaustrecke Berlin-Stettin ist
ein internationales Vorhaben des Bedarfsplans Schiene.
Folgende Maßnahmen sind geplant: Ausbau auf eine
Streckengeschwindigkeit von bis zu 160 Stundenkilometern, durchgehende Elektrifizierung, Erhöhung der Kapazität durch Blockverdichtung, langfristig und bei entsprechender Entwicklung des Verkehrsaufkommens die
Herstellung der durchgehenden Zweigleisigkeit, Investitionsvolumen: rund 104 Millionen Euro ohne Zweigleisigkeit.
Nach mehrjährigen Verhandlungen und einer Unterbrechung von nahezu zwei Jahren durch die polnische
Seite wurde im Sommer 2011 ein überarbeiteter polnischer Entwurf bilateral erörtert. Der ursprünglich angestrebte Fertigstellungstermin der Elektrifizierung 2016
ist nicht mehr umsetzbar. Über die Inhalte besteht inzwischen weitestgehend Einvernehmen. Eine abschließende
Einigung zum Realisierungszeitraum war bisher nicht
möglich. Aus haushalterischen Gründen ist eine Fertigstellung aus deutscher Sicht nicht vor 2020 zu erwarten.
Nach erneuten Gesprächen unter anderem auf Ministerebene im Mai/Juni 2012 soll nun gemeinsam mit dem
polnischen Verkehrsministerium eine schnelle Lösung
gefunden werden. Angestrebt wird eine Unterzeichnung
des Abkommens noch in 2012.
ABS Berlin-Cottbus-Görlitz: Es bestand die Möglichkeit, nach Abschluss der Bauarbeiten in beiden Ländern, die Fahrzeit zwischen Berlin und Breslau um bis
zu 40 Minuten zu verkürzen. Der Ausbau des Abschnittes
Berlin-Cottbus ermöglicht eine Reduzierung um bis zu
20 Minuten. Es zeichnet sich derzeit ab, dass die polnische Eisenbahn den alten Laufweg über den Grenzübergang Forst trotz Ausbaus der niederschlesischen
Magistrale zwischen Kohlfurt und Breslau für eine Streckengeschwindigkeit von 160 Stundenkilometern weiterhin beibehalten will. Die DB AG steht hierzu in Verhandlung mit der polnischen Seite.
Bahnstrecke Hoyerswerda-Horka-Grenze Deutschland/Polen-Wegliniec: Polen ist stark daran interessiert,
dass der deutsche Abschnitt der niederschlesischen Magistrale Grenze-Horka-Hoyerswerda zweigleisig elektrifiziert ausgebaut wird, einschließlich des Neubaus der
Eisenbahngrenzbrücke bei Horka. Die Planungen zum
Ausbau der Strecke wurden seitens der DB Netz AG
beauftragt. Erste Planfeststellungsbeschlüsse liegen vor.
Der Beschluss zum Planfeststellungsabschnitt 3 HorkaGrenze Deutschland/Polen wird frühestens Mitte 2012
erwartet. Die notwendige Finanzierungsvereinbarung
mit einem Investitionsvolumen von rund 420 Millionen
Euro zwischen Bund und DB AG wurde im April 2012
abgeschlossen. Ein Baubeginn ist frühestens im Herbst
2012 möglich. Die Streckengeschwindigkeit soll nach
Fertigstellung 120 km/h betragen.
Im Zusammenhang mit dem zweigleisigen Ausbau
einschließlich Elektrifizierung ist der Neubau der
Grenzbrücke über die Lausitzer Neiße bei Horka durch
die polnische Seite erforderlich. Polen geht von einer
Fertigstellung bis 2014 aus.
Bahnstrecke Dresden-Görlitz-Grenze-Breslau ({0}): Neben der Elektrifizierung der noch fehlenden Abschnitte der Verbindung Breslau-Dresden ist die polnische Seite sehr daran interessiert, den Bahnhof Görlitz
als vorgezogene Maßnahme zu elektrifizieren. Zum möglichen Ausbau der Strecke Dresden-Görlitz auf 120 bis
160 Stundenkilometer können unter Beachtung der Priorisierung derzeit keine zeitlichen Angaben getätigt werden. Dies trifft insbesondere auf die Elektrifizierung dieser Strecke zu, die aus deutscher Sicht erst langfristig
vorgesehen ist.
Bahnstrecke Zittau-Liberec: Die Bahnstrecke hat lediglich regionale Bedeutung. Die Verkehrsleistung wird
durch die Vogtlandbahn/Trilex nach Ausschreibung im
Jahre 2010 erbracht. Es besteht Regelungsbedarf aufgrund des sehr schlechten Zustands des auf deutscher
und polnischer Seite befindlichen Viadukts. Im Jahre
2008 wurde von polnischer Seite ein trilateraler Staatsvertrag ({1}) vorgelegt, der
vor allem Tschechien und Deutschland zu Instandsetzung und Unterhaltung verpflichten würde. Die Verhandlungen über eine für alle Seiten befriedigende Lösung laufen.
Erläutern möchte ich noch das deutsch-polnische Abkommen zum Eisenbahnbetrieb: Im Rahmen der Verhandlungen im Oktober 2010 wurde in Warschau der
Entwurf eines deutsch-polnischen Abkommens über die
Zusammenarbeit im Bereich des grenzüberschreitenden
Eisenbahnverkehrs paraphiert. Die Unterzeichnung des
Abkommens durch die Verkehrsminister beider Länder
wird kurzfristig angestrebt. Ein für Anfang Juni 2012 beZu Protokoll gegebene Reden
reits geplanter Unterzeichnungstermin konnte wegen
noch nicht erfüllter formeller Voraussetzungen auf der
polnischen Seite nicht realisiert werden.
Der Ausbau des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen wird von deutscher Seite sehr stark vorangetrieben, ohne dass es eines Antrags bedarf. Ich
bitte Sie, unterstützen Sie mit uns unseren Bundesverkehrsminister Dr. Ramsauer in seinem Einsatz für bessere Verkehrsanbindungen in ganz Deutschland.
Ich möchte gleich an den Anfang meiner Rede stellen,
dass meine Fraktion den vorgelegten Antrag nicht unterstützt, weil vieles, was hier wortreich gefordert wird, bereits gemacht wird und anderes wiederum schlichtweg
falsch dargestellt wird.
Die Analyse der antrageinreichenden Fraktion ist jedoch dahin gehend richtig, dass der grenzüberschreitende Bahnverkehr zwischen Deutschland und Polen
weiter ausgebaut und verbessert werden muss.
Das ist aber keine Erkenntnis mit Neuigkeitswert.
Das ist eine Erkenntnis, die niemand hier im Raum infrage stellt. Seit Jahren wird über diese Verbesserungen
verhandelt. Darüber verhandelt die Bundesregierung
mit der polnischen Regierung, darüber tauschen sich die
Ministerpräsidenten der an Polen grenzenden Bundesländer regelmäßig mit den Wojewoden aus, darüber diskutieren die Bahnunternehmen der Länder miteinander.
Über Verbesserungen wird unter anderem auch am
„Runden Tisch Verkehr der Oder-Partnerschaft“ intensiv debattiert.
Ich gebe zu, dass auch ich mir wünsche, dass die Verhandlungen beispielsweise für die Strecke Berlin-Stettin, die bereits vor dem Beitritt Polens zur Europäischen
Union aufgenommen wurden, endlich in einen unterschriebenen Vertrag münden. Die Strecke führt durch
meinen Wahlkreis, und sowohl die Menschen auf der
polnischen Seite als auch die Uckermärker sind sich bewusst, dass ihre Regionen von einer besseren verkehrlichen Vernetzung zwischen den attraktiven touristischen
Gebieten profitieren würden. Die positive Nutzen-Kosten-Relation dieser Strecke wurde auch durch das Bundesverkehrsministerium bereits 2003 bei Aufstellung des
geltenden Bundesverkehrswegeplans festgestellt.
Dennoch: Deutschland und Polen sind zwei gleichberechtigte Partner, die nicht in jedem Punkt der verkehrlichen Vernetzung eine identische Interessenlage haben.
Die Strecken haben teilweise unterschiedliche strategische Bedeutung beiderseits der Grenze. Da helfen auch
parlamentarische Anträge, die das bisher Erreichte infrage stellen, nicht weiter. Ich glaube daher nicht, dass
der vorgelegte Antrag die laufenden und weit vorangeschrittenen Verhandlungen unterstützt.
Wir müssen bedenken: Polen hat nicht nur die verkehrlichen Verbindungen nach Deutschland auszubauen. Vielmehr wurde auch der grenzüberschreitende
Verkehr und dessen Infrastruktur mit anderen Nachbarländern unter der sozialistischen Diktatur stark vernachlässigt. Wir wissen, wie schwierig es in Deutschland ist, den Infrastrukturausbau finanziell abzusichern.
Unser Nachbarland Polen mit einem wesentlich höheren
infrastrukturellen Defizit und anderer öffentlicher Einnahmesituation sollte motiviert werden - zum Beispiel
über die guten europäischen Fördermöglichkeiten -,
gute Verkehrsverbindungen nach Deutschland anzustreben. Wir sollten unseren Nachbarn aber nicht bevormunden.
Ich halte auch nichts davon, wenn man den Straßenverkehr gegen den Bahnverkehr ausspielt. Beides hat
seine Bedeutung für das Zusammenwachsen der Regionen. Beides hat seine Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg in Polen und Deutschland. Eine Straßenverbindung weniger nach Deutschland bedeutet nicht einen
Schienenweg mehr nach Deutschland! Hier wird mit
dem Antrag etwas suggeriert, was nicht haltbar ist.
In den letzen Jahren wurde im Bereich des Schienenverkehrsangebots zwischen Deutschland und Polen einiges erreicht, zum Beispiel im Bereich Usedom, die
Strecke Bützow-Szczecin, die Dreiländerbahn, der Ausbau Küstrien-Kietz, die Verbindung mit der brandenburgischen Stadt Guben. Die Aufzählung der erfolgreichen Projekte ließe sich fortsetzen.
Ob die Bahnangebote verbessert werden, ist aber
nicht nur eine Frage des Infrastrukturausbaus, sondern
auch der Bestellpolitik der Länder und der unternehmerischen Entscheidungen der Bahn. Wenn die Länder, die
für den Nahverkehr verantwortlich sind, grenzüberschreitende Verkehrsangebote nicht bestellen oder nur
unbefriedigende Taktzeiten vorsehen, bringen Anträge wie von den Grünen formuliert - gar nichts. In Brandenburg beispielsweise macht die rot-rote Landesregierung
vor, wie man es nicht machen sollte. Hier werden die
Schienenangebote in die ländlichen Gebiete und damit
in den Grenzraum massiv ausgedünnt. Hier muss bei der
Novellierung des Regionalisierungsmittelgesetzes angesetzt werden. Ländliche Räume müssen für die Nachteile
kompensiert werden, die aus der dünnen Siedlungsdichte bei der Bestellung von Bahnleistungen bestehen.
Dann werden auch mehr Züge im Grenzraum fahren.
Eine Verkehrspolitik, wie die von Ministerpräsident
Platzeck, die das Zusammenwachsen Europas behindert, darf nicht weiter einfach akzeptiert werden.
Der Bahnverkehr zwischen Deutschland und Polen
wird und muss in den kommenden Jahren deutlich verbessert werden. Wir, die schwarz-gelbe Koalition, sind
uns unserer Verantwortung bewusst, und auch die polnische Regierung und die Bundesländer wissen, dass erreichte Fortschritte zum Nutzen aller sind.
Als die deutsche Fußballnationalmannschaft 1954
Weltmeister wurde, hat sie die Deutsche Bundesbahn mit
einem Sonderzug aus Bern nach Deutschland gefahren.
Die Fahrt hat lange gedauert, weil damals entlang der
Strecke und an den Bahnhöfen Tausende Menschen standen und feierten.
Wenn in diesen Wochen die deutschen Fußballer Europameister würden - was zu wünschen wäre - und die
Zu Protokoll gegebene Reden
heutige Bahn AG sie wieder mit einem Sonderzug abholen würde, wäre die Fahrzeit aus der Ukraine über
Polen noch sehr viel länger. Aber nicht wegen der längeren Strecke oder noch mehr feiernder Anhänger, sondern
schlicht deshalb, weil die Bahnverbindungen zwischen
Deutschland und Polen in einem Zustand sind, wie sie
nach mehr als 20 Jahren nach dem Fall des „Eisernen
Vorhangs“ eigentlich nicht sein dürften.
Die Fahrtzeit mit der Bahn von Berlin nach Breslau,
nur ein Beispiel, beträgt mehr als fünf Stunden. In den
30er-Jahren hat man für die gleiche Strecke nur zweieinhalb Stunden benötigt.
An politischen Vorgaben, diese Misere zu beenden
und die bahntechnische Teilung in Ost und West zu überwinden, hat es nicht gemangelt. Bereits im deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 wurde festgehalten, dass die Bundesrepublik Deutschland und die
Republik Polen eine „Erweiterung der Transportverbindungen im Luft-, Eisenbahn- und Straßenverkehr sowie
in der See- und Binnenschifffahrt unter modernsten
Technologien“ anstreben.
Zuletzt forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung im Juni 2011 fraktionsübergreifend auf, die
Zusammenarbeit mit Polen in allen Politikbereichen
voranzutreiben und für „rasche und substanzielle Fortschritte beim Ausbau der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur zu sorgen, insbesondere bei den
Schienenverbindungen in Richtung Stettin, Warschau
und Breslau“.
Die Bundesregierung hat sich zudem anlässlich des
20. Jahrestages der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit verpflichtet, zusammen mit
der polnischen Regierung ein Programm zur erweiterten
Zusammenarbeit vorzulegen. Man hat sich explizit auf
eine deutliche Fahrzeitreduzierung auf den Schienenstrecken Berlin-Breslau und Berlin-Stettin verständigt
und den Ausbau und die Elektrifizierung der Strecken
zwischen Horka und Hoyerswerda sowie Breslau und
Dresden beschlossen.
Alle diese Maßnahmen sind dringend notwendig,
denn die Wirtschaft in Deutschland und Polen wächst
und partizipiert in enormem Maße voneinander. Der stetig steigende Güter- und Warenaustausch - aber auch
der Personenverkehr zwischen beiden Ländern - beweist das.
Vor allem Grenzregionen wie zum Beispiel die strukturschwache Region von Ost-Vorpommern können bei
besserer Anbindung von der boomenden Wirtschaft im
nahen Stettin partizipieren.
Aber der angestrebte zweigleisige Ausbau der Strecke
Berlin-Stettin mit einer durchgehenden Elektrifizierung
kommt nicht voran, noch immer muss in Angermünde
umgekoppelt werden - ein verkehrstechnisches Armutszeugnis, dass mitten in Europa zwei boomende Regionen
wie Berlin und die Region um Stettin über eine solch
schlechte Anbindung verfügen.
Ein weiteres Beispiel: Der künftige Hauptstadtflughafen BER wird auch für die westpolnischen Regionen
ein wichtiger Luftverkehrsstandort sein, der daher
bahnseitig besser angeschlossen werden muss. Laut dem
Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg - VBB - müssen
dafür bis 2020 sechs Bahnkorridore zwischen dem BER
und Westpolen ausgebaut werden.
Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Immerhin gibt es für den Ausbau der sogenannten niederschlesischen Magistrale über Horka bis 2016 einen Silberstreif am Horizont.
Auch die nun umsteigefreie Anbindung Danzigs im
Rahmen der Maßnahmen für die Fußballeuropameisterschaft ist ein Schritt aus der bahntechnischen Steinzeit
hinein ins 21. Jahrhundert.
Gleichwohl, das reicht alles nicht aus. Gerade mit
Blick auf die deutsche Geschichte ist jede deutsche Regierung in der Pflicht, alles zu tun, um die sich stetig
weiterentwickelnde Verzahnung der deutschen und der
polnischen Gesellschaft zu unterstützen. Dazu gehört
eben auch ein adäquater Ausbau der Schienenverkehrswege.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen zählt die Maßnahmen auf, die so schnell wie
möglich zu realisieren sind. Die SPD erwartet von der
Bundesregierung, sich ernsthaft und zielorientiert mit
der polnischen Seite über deren Umsetzung zu verständigen. „Schwarzer-Peter-Spiele“, bei denen der anderen Seite vorgeworfen wird, zu verzögern, müssen aufhören. Sie dienen häufig nur dazu, zu verschleiern, dass
letztlich Geldfragen im unterfinanzierten Etat des
BMVBS und die einseitige Fokussierung auf den Straßenbau für den schleppenden Ausbau verantwortlich
sind.
„Es fährt kein Zug nach nirgendwo…!“ Ja, diesen
Eindruck bekomme ich, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Bündnis 90/Die Grünen, wenn ich Ihren Antrag lese.
Ich habe das Gefühl, unser Nachbarland Polen ist mit
dem Zug praktisch nicht erreichbar. Sie zeichnen ein
völlig verzerrtes Bild! Vielmehr ist es doch so, dass der
Infrastrukturausbau weit vorangekommen ist und auch
angebotsseitig in den letzten Jahren von deutscher und
polnischer Seite Fortschritte bei den Eisenbahnverbindungen erzielt werden konnten. Gleichwohl sind diese
noch lange nicht auf dem Stand, den Sie und ich uns
wünschen. Doch das liegt nicht immer nur an der Bundesregierung, denn zu einem Vertrag gehören immer
zwei Parteien. Vielleicht hat die polnische Regierung
andere verkehrspolitische Prioritäten,oder es ist schlichtweg eine Frage fehlender Mittel .
Nehmen wir die von Ihnen angesprochene Verbindung nach Breslau. Diese ist in der Tat etwas schwieriger zu realisieren, da es sich auf der polnischen Seite um
eine Regionalstrecke handelt, für die keine EU-Mittel
bereitgestellt werden. Demnach liegt es nicht nur an der
deutschen Seite - so wie Sie es in ihrem Antrag darstellen -, sondern vielleicht auch an fehlenden Mitteln auf
Zu Protokoll gegebene Reden
polnischer Seite, dass der Ausbau nicht auf allen Strecken zügig vorangeht.
Bei dem einen oder anderen Streckausbau sind während der deutsch-polnischen Regierungskonsultationen
im vergangenen Jahren keine konkreten Zeitpläne vereinbart worden. Bei anderen Strecken sind Vereinbarungen mit den betroffenen Nachbarländern erzielt worden,
und diese sind auch entsprechend im noch unter RotGrün erstellten und beschlossenen Bundesverkehrswegeplan eingestuft worden. Ein Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung der Eisenbahnverbindung Berlin-Stettin ist derzeit in Vorbereitung. Darüber hinaus ist ein Abkommen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen
über die Zusammenarbeit im Bereich des Eisenbahnverkehrs über die deutsch-polnische Staatsgrenze im Oktober 2010 paraphiert worden; eine Unterzeichnung folgt
dieser Tage.
Besonders hervorheben möchte ich das Ausbauvorhaben „niederschlesische Magistrale“ KnappenrodeHorka-Hoyerswerda-Bundesgrenze. Hier sind wir mittlerweile so weit, dass wir eine Entwurfsplanung haben
und drei von sechs Planfeststellungsbeschlüssen vorliegen. Die noch fehlenden Planfeststellungsbeschlüsse
Knappenrode-Niesky werden im Lauf des Jahres 2012
erfolgen. Nach derzeitigem Stand ist mit einer vollständigen Umsetzung des Projekts „niederschlesische Magistrale“ bis zum Jahr 2016 zu rechnen.
Auch die von Ihnen angesprochene Strecke nach Stettin ist bei der Bundesregierung in guten Händen. Alle
Seiten wollen einen möglichst zügigen Ausbau der Strecke von der Hauptstadt nach Stettin. Auf deutscher Seite
muss noch ein 30 Kilometer langer Streckenabschnitt bis
zur Grenze elektrifiziert werden, auf der anderen Seite
der Grenze sind es zehn Kilometer. Voraussetzung zum
Abschluss des Projektes ist nach Worten eines Bahnsprechers ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland
und Polen. Das solle bis zum Jahr 2020 zustandekommen.
Ein Punkt in Ihrem Antrag hat mich doch sehr erstaunt. Soweit ich mich erinnere, ist es besonders die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die bei Schienenprojekten peinlich auf das Kosten/Nutzen-Verhältnis achtet.
Da wundert es mich schon, wenn ich dann lesen muss,
dass die Strecke Berlin-Cottbus-Görlitz nur knapp die
Wirtschaftlichkeit erreicht hat, Sie sich aber in Ihrem
Antrag massiv für diese Strecke starkmachen. Da könnte
man ja auf die Idee kommen, dass der Kollege Kühn
Grundprinzipien grüner Verkehrspolitik beim eigenen
Wahlkreis etwas lockerer auslegt. Ich kann mich noch
sehr gut an Diskussionen im Verkehrsausschuss erinnern, in denen die Grünen bei einem Kosten/Nutzen-Verhältnis von 1,3 oder 1,1 lauthals die Sinnhaftigkeit des
Baus von Strecken infrage gestellt haben.
Zu guter Letzt noch eine aktuelle Nachricht: Am
6. Juni dieses Jahres haben Bundesverkehrsminister
Ramsauer, Bahnchef Grube und der polnische Verkehrsminister Nowak gemeinsam die neue Eurocitystrecke,
die Direktverbindung Berlin-Danzig in Betrieb genommen. Die neue Eurocitystrecke führt von Berlin nach
Frankfurt/Oder und Posen ({0}) in die polnischen
Küstenregion Dreistadt mit den Zentren Danzig, Zoppot
und Gdingen. Sie sehen, auch die Bundesregierung weiß
um die Potenziale einer guten Schienenverkehrsverbindung zwischen Deutschland und Polen. Denn Polen und
Deutschland rücken schon längst zusammen.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Thema Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und
Polen auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Und wir unterstützen auch den Antrag der Grünen zu dieser Thematik vollinhaltlich.
Jüngst schrieb der Kabarettist Steffen Möller - er ist
in Wuppertal geboren, lebt seit 1994 in Polen und ist
dort landesweit unter anderem durch das Fernsehprogramm „Europa da się lubić - Europa lässt sich mögen“
bekannt: „Polen ist mit Sicherheit von allen neun Nachbarländern Deutschlands das exotischste. Eher macht
der Potsdamer eine Kaffeefahrt nach Holland oder der
Hellersdorfer eine Kreuzfahrt durch die Antarktis. Und
warum ist das so? … Weil die polnische Grenze für uns
… gefühlt 2 000 km im Osten liegt, kurz vor dem Ural.
Dabei liegt Warschau näher an Berlin als Köln.“ ({0}).
Wenn Steffen Möller hier indirekt auf die deutsch-polnische Geschichte mit all den Narben, die diese zurückließ, verweist, dann mag dies eine Erklärung dafür sein,
dass das östliche Nachbarland vielen Deutschen fremd
ist. Eine andere Erklärung hat jedoch mit der aktuellen
Politik zu tun - und Verkehrspolitik und Bahnpolitik sind
doch Teil der aktuellen Politik.
Nehmen wir mal das Beispiel unseres großen westlichen Nachbarn. Frankreich und Deutschland sahen
sich auch rund ein hundert Jahre lang als Feinde; es gab
sogar den Begriff „Erbfeinde“. Doch dann kam es nach
dem Zweiten Weltkrieg zu einer politisch gewollten und
vorangetriebenen Annäherung, zu „jumelage“, zu den
vielen Hundert Partnerschaften zwischen westdeutschen
und französischen Städten, zu hunderttausendfachem
Schüleraustausch und auch zu einem teilweise guten
Ausbau des Schienenverkehrs zwischen beiden Ländern.
Sehen wir uns doch einmal im Vergleich die Verbindungen Frankfurt/Main-Paris und Berlin-Warschau an.
Die Strecke Frankfurt am Main nach Paris ist stolze
741 Kilometer lang. Die ICE- bzw. TGV-Züge benötigen
auf dieser Verbindung 3 Stunden und 56 Minuten. Und
die Züge sind fast immer gut gebucht. Die Bahnlinie
Berlin-Warschau ist deutlich kürzer, sie hat eine Länge
von nur 591 Kilometer. Doch der vier Mal am Tag verkehrende Fernverkehrszug „Berlin-Warszawa-Express“ benötigt auf der Verbindung 5 Stunden und
24 Minuten, also eine um eineinhalb Stunden längere
Zugfahrt für eine um 150 Kilometer kürzere Strecke. Das
ist irgendwie höhere Mathematik. Entsprechend sehen
im Übrigen die Fahrgastzahlen aus. Es herrscht oft gähnende Leere in diesen weißblau lackierten Zügen. Und
natürlich ist man dann schnell dabei zu sagen: Das AnZu Protokoll gegebene Reden
gebot wird nicht angenommen, worauf eine Verbindung
ausgedünnt oder komplett eingestellt wird. Überhaupt:
Warum fährt der ICE nach Kopenhagen, nach Paris,
nach Zürich, gar nach Interlaken und nach Wien, aber
nicht nach Warschau?
Es gibt da nicht nur fehlende Angebote. Es gibt real
existierenden Abbau von Angeboten. So beim letzten
Fahrplanwechsel vor ein paar Tagen. Da wurde doch
der Eurocity Berlin-Sczeczin - immerhin die einzige
durchgehende Verbindung zwischen den beiden Großstädten - komplett eingestellt. Auch hier hieß es: mangelnde Nachfrage. Doch wer den - inzwischen alten Fahrplan mal genauer studiert hat, der weiß: Die Nachfrage hat eben auch hier mit dem Angebot zu tun. Originellerweise benötigte man mit diesem durchgehenden
EC eine um zehn Minuten längere Fahrtzeit als mit der
schnellsten Nahverkehrsverbindung - bei Nutzung eines
Regionalexpresszuges und einer Regionalbahn mit Umsteigen in Angermünde. Im Übrigen kostete dann die
langsamere EC-Fahrt auch noch zwei Euro mehr - gewissermaßen eine Art Draufgeld für Entschleunigung.
Im Übrigen trifft ja nicht ganz zu, was Steffen Möller
sagte. Es ist vor allem der Schienenpersonenverkehr, der
zwischen beiden Ländern darnieder liegt. Der Straßenverkehr und auch der Luftverkehr zwischen Deutschland
und Polen hat sich dagegen sprunghaft entwickelt. Und
warum? Vor allem, weil die Infrastruktur hier massiv
ausgebaut wurde - völlig im Gegensatz zur Schiene.
Das lässt sich im Übrigen auch beim Güterverkehr
ablesen. 2010 wurden zwischen Polen und Deutschland
gerade mal 8,2 Millionen Tonnen Güter auf der Schiene
transportiert. Das ist der niedrigste Werte seit 1990. Er
ist auch niedriger wie zu DDR-VR-Polen-Zeiten, und
niedriger als in den 1920er-Jahren. Gleichzeitig
schnellte jedoch nach 1990 der Straßengüterverkehr
zwischen beiden Ländern nach oben - allein seit 2000
mit 28 Millionen Tonnen bis 2010 auf 40 Millionen Tonnen.
Zum Schluss noch drei ergänzende Anmerkungen zum
Antrag selbst:
Erstens. Wenn in Punkt 4 des Antragteils gefordert
wird, dass auf den zentralen Korridoren zwischen beiden Ländern „ein angemessenes Fernverkehrsangebot
eingerichtet wird“, dann erinnere ich daran, wie oft wir
seitens der Regierung, gelegentlich auch durch Mitglieder der Grünen Partei belehrt wurden, dass es nicht Sache der Bundesregierung sei, im Schienenpersonenverkehr Angebote einzurichten usw. Wir stimmen diesem
Punkt im Antrag ausdrücklich zu und glauben, eine solche Forderung lässt sich aus Art. 87 des Grundgesetzes
ableiten, in dem der Bund nicht nur für die Schieneninfrastruktur, sondern auch für „Angebote“ auf dem
Schienennetz in die Pflicht genommen wird. Im Übrigen
verweise ich an dieser Stelle darauf, dass alle, die ja zur
Änderung von § 13 des Personenbeförderungsgesetzes
- und damit ja zu einer Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - sagen, an dieser Stelle in einen Widerspruch geraten. Wenn es zu dieser Liberalisierung
kommt, so werden gerade Strecken wie die hier Genannten oft mit Buslinienfernverkehr bedient werden, was
eine Ausweitung oder gar erst Einrichtung von Schienenfernverkehrsangeboten enorm erschwert, wenn nicht
verunmöglicht. Dabei ist es oft die DB AG selbst, die von
Zug auf Bus umstellt, so vor zwei Jahren auf der Verbindung Nürnberg-Prag.
Zweitens. Im Antragstitel ist zwar allgemein von
„Schienenverkehr“ die Rede, doch real wird nur von
Schienenpersonenfernverkehr gesprochen. Das sehe ich
kritisch. Die Potenziale im grenzüberschreitenden
Schienenverkehr auf mittleren und kurzen Distanzen
sind rund zehn Mal größer als die des Fernverkehrs. Im
Grunde wäre ein ergänzender Antrag für den grenzüberschreitenden Schienenpersonennahverkehr zwischen
Deutschland und Polen sinnvoll. Hier gab es in jüngerer
Zeit sogar komplette Streckenstilllegungen bzw. die Aufgabe jeglichen Schienenverkehrs, so wurde im Oktober
2002 der Schienenpersonenverkehr zwischen Guben und
Czerwiensk eingestellt.
Drittens. Schließlich möchte ich mich in diesem Zusammenhang für den Wiederaufbau der Karniner Brücke und damit für eine schnelle Schienenverbindung
zwischen Berlin und Usedom bzw. Swinoujscie ({1}) einsetzen. Im Februar 2012 erklärte der Berliner Senat - nach Absprache mit Vertretern der Inselgemeinden auf Usedom und der Stadt Swinemünde - seine
Unterstützung für dieses Projekt. Die äußerst erfolgreiche Usedomer Bäderbahn und sogar DB Netz unterstützen inzwischen dieses Vorhaben. Damit würde sich die
Fahrtzeit von Berlin nach Usedom oder Swinemünde
von vier auf zwei Stunden halbieren und die deutsch-polnische Insel wäre wieder das, was sie einmal war: „Berliner Badewanne“. Leider lehnt Bundesverkehrsminister Ramsauer weiterhin eine Unterstützung dieses
Projekts ab. Wir sollen bei der Beratung im Ausschuss
prüfen, ob der Antrag nicht um diesen Punkt erweitert
werden sollte.
Ach ja: Der zitierte Kabarettist Steffen Möller schrieb
in seinem erwähnten Grußwort: „Auf die Frage nach
meiner wahren Heimat würde ich heute sofort antworten: ,der Berlin-Warszawa-Express‘“.
Die beiden auf Frankfurt ({2}) zulaufenden Bahnverbindungen ab Eberswalde und ab Königs Wusterhausen sind ebenfalls von Abbestellungen bedroht. Auch
hier gibt es spezifische Gründe für das unbefriedigende
Fahrgastaufkommen. Auf der Verbindung EberswaldeFrankfurt ({3}) verkehrt die ODEG über viele Kilometer als Bummelbahn, mit Tempo 40 km/h. Auf der Strecke
Königs Wusterhausen ist die Reisegeschwindigkeit ebenfalls deutlich zu niedrig, wobei sie hier vor allem durch
die langen Wartezeiten auf den Ausweichbahnhöfen zustande kommt.
Wenn schließlich die Verbindung Angermünde-Tantow-Sczeczin ein zu niedriges Fahrgastaufkommen aufweist, dann gibt es auch hierfür gute Gründe. Auf der
Strecke zwischen der größten deutschen Stadt und der
mit 400 000 Einwohnern siebtgrößten polnischen Stadt
- übrigens Partnerstadt von Berlin-FriedrichshainKreuzberg - gibt es derzeit pro Tag gerade mal zwei
durchgehende Zugverbindungen: eine mit einem durchgehenden Regionalexpress ({4}) und eine mit einem Eurocity ({5}). Die Letztere soll im Übrigen mit dem kommenden Fahrplanwechsel eingestellt werden.
Ansonsten gibt es nur sechs Nahverkehrsverbindungen mit Umsteigen in Angermünde. Es ist schlicht peinlich, dass für die Deutsche Bahn bzw. für die deutsche
Verkehrspolitik - und analog für die polnische Seite - zu
gelten scheint: Je mehr Europa beziehungsweise je mehr
EU, desto weniger Schienenverkehrsverbindungen. Das
Hauptproblem bei dieser Verbindung ist aber in dem
Dreisatz zu sehen: Es gibt erstens zu wenig Direktverbindungen, zweitens zu wenige Verbindungen überhaupt
und drittens liegt bei allen Verbindungen die Reisegeschwindigkeit ({6}) deutlich zu
niedrig.
Die Fußballeuropameisterschaft rückt unseren Nach-
barn Polen für drei Wochen in den Mittelpunkt des me-
dialen Interesses, und manch einem wird in diesem Zu-
sammenhang erst bewusst, wie beschwerlich zumindest
teilweise die Anreise mit der Bahn ist. Wir sind der An-
sicht, dass mehr als 20 Jahre nach Öffnung der Grenzen
und acht Jahre nach dem EU-Beitritt Polens es Zeit ist,
auch im Verkehrssektor Bilanz zu ziehen.
Polen ist heute ein aufstrebendes Land. Nicht zuletzt
der Beitritt unserer Nachbarn östlich von Oder und
Neiße zur Europäischen Union hat eine Dynamik entwi-
ckelt, die viele in der alten, westlich geprägten EU nicht
für möglich gehalten haben. Die deutschen Exporte ha-
ben sich seit dem EU-Beitritt verdoppelt; Polen ist in der
Außenhandelsbilanz bei den Ausfuhren mittlerweile auf
Rang 10 und bei den Einfuhren auf Rang 12 aufgerückt.
„Handel bringt Wandel“ - sagt ein Sprichwort, und so
gesehen sind die Beziehungen zwischen Deutschland
und Polen also auf einem guten Weg.
Stärkere wirtschaftliche Beziehungen sind ohne Ver-
kehrswege nicht denkbar. Schauen wir auf den Zustand
der Verkehrswege zwischen beiden Ländern, dann zeigt
sich uns ein zweigeteiltes ambivalentes Bild. Wir stellen
nämlich fest, dass das Fernstraßennetz im deutsch-pol-
nischen Grenzgebiet in den letzten beiden Dekaden mas-
siv ausgebaut wurde. Alle geplanten Vorhaben sind fer-
tiggestellt bzw. im Bau. Welch ein Kontrast im Vergleich
zu dem Zustand der Eisenbahnstrecken, die über Oder
und Neiße führen.
Besonders drastisch wird dies an der Verbindung
Berlin-Wrocław deutlich. Mit dem Pkw ist man rund
vier Stunden unterwegs, während der Bahnreisende für
die rund 320 Kilometer fünf Stunden und 22 Minuten be-
nötigt - vor allem gibt es diese Verbindung nur einmal
am Tag. Vor 75 Jahren benötigte der Bahnfahrgast übri-
gens nur zwei Stunden und 40 Minuten für diese Strecke.
Eine mittelfristig umsetzbare Lösung könnte darin
bestehen, die „niederschlesische Magistrale“, deren
Ausbau bis 2016 erfolgen soll, für die Verbindung
Berlin-Wrocław zu nutzen. Der Schlüssel dafür ist die
Elektrifizierung der rund 94 Kilometer zwischen Cott-
bus und Görlitz. Dann ließen sich Fernverkehrszüge
zwischen Berlin und Wrocław erstmalig durchgehend
mit E-Loks bespannen, und die Fahrzeit würde um rund
zwei Stunden auf etwa dreieinhalb Stunden zusammen-
schmelzen. Damit könnten die Bahnen gegenüber dem
Pkw konkurrenzfähige Angebote etablieren. Auch bei
der Strecke Berlin-Stettin liegt noch vieles im Argen.
Zwar haben wir dank des Engagements des dortigen
Aufgabenträgers für den Nahverkehr auf der Schiene
- dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg - ein dich-
teres Angebot; jedoch werden die Züge durch Langsam-
fahrstellen und eine Elektrifizierungslücke von rund
30 Kilometern ausgebremst.
Neben infrastrukturellen Voraussetzungen fehlen uns
im Fernverkehr auf der Schiene aber auch die Angebote.
Während noch Anfang der 1990er-Jahre 15 Zugpaare
des Fernverkehrs Bahnreisen zwischen Deutschland und
Polen ermöglichten, sind es heute gerade einmal be-
scheidene sieben Zugpaare. Daran ändert auch die in
der vergangenen Woche erfreulicherweise eingeführte
neue Eurocity-Verbindung von Berlin nach Danzig
nichts. Wo Licht ist, da ist auch Schatten: Während die
neue Verbindung nach Danzig gefeiert wurde, fuhr zwi-
schen Berlin und Stettin der letzte Fernverkehrszug.
Leider müssen wir im Jahr 2012 konstatieren, dass
die Bahnverbindungen zwischen Deutschland und Polen
der gewachsenen Bedeutung der deutsch-polnischen Be-
ziehungen nicht gerecht werden. Angesichts des mage-
ren Fernverkehrsangebots wundert es kaum, dass der
Marktanteil im Personenverkehr auf fast unbedeutende
2 Prozent abgesunken ist. Auch der Güterverkehr auf
der Schiene konnte vom wachsenden Verkehrsmarkt
nicht profitieren, was letztendlich dazu geführt hat, dass
der Marktanteil unter 20 Prozent abgesunken ist.
Sehr geehrter Herr Minister Ramsauer! Wir fordern
Sie auf: Beenden Sie das Trauerspiel beim Ausbau des
Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen! Be-
enden Sie das mittlerweile unwürdige Schwarze-Peter-
Spiel beim Abschluss eines Staatsvertrags zum Ausbau
der Strecke Berlin-Stettin! Bei gutem Willen könnte die
Strecke - wie von polnischer Seite gefordert - bis 2016
in Betrieb gehen.
Senden Sie ein Signal für gute nachbarschaftliche Be-
ziehungen und bringen Sie diesen Staatsvertrag endlich
zum Abschluss. Einigen Sie sich mit unseren polnischen
Nachbarn auch bei der Strecke Berlin-Wrocław auf eine
Ausbauvariante und bringen Sie die dazugehörigen Pro-
jekte auf den Weg, sodass auch hier spätestens 2020
endlich attraktive Angebote auf der Schiene angeboten
werden können.
Sehr geehrter Herr Minister: Für die Verbesserung
der deutsch-polnischen Bahnverbindungen wurde über
die Jahre viel angekündigt und wenig umgesetzt. Die
Zeit der Ankündigungen muss vorbei sein: Handeln Sie,
Herr Minister!
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9947 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
schüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Dann
haben wir das beschlossen.
Tagesordnungspunkt 28 a und b:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene
Mortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Helga Daub, Horst
Meierhofer, Jens Ackermann, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Kinder- und Jugendtourismus unterstützen
und weiter fördern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-
Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Reisen für Kinder und Jugendliche ermögli-
chen - Förderung sicherstellen und „Ak-
tionsplan Kinder- und Jugendtourismus in
Deutschland“ weiterentwickeln
- Drucksachen 17/8451, 17/8924, 17/9913 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Helga Daub
Thomas Lutze
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mitgliedschaft in der International Organisa-
tion of Social Tourism
- Drucksachen 17/4844, 17/9308 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Jens Ackermann
Markus Tressel
Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.1)
Kinder- und Jugendreisen in Deutschland verdienen
unsere besondere Aufmerksamkeit. Sie sind nicht nur für
die Tourismuswirtschaft bedeutsam, sondern fördern
auch die Entwicklung, die soziale Kompetenz und den
Zusammenhalt junger Menschen in unserem Land. Kin-
der- und Jugendreisen schaffen intensive Gemein-
schaftserlebnisse. Sie stärken unsere Kinder auf dem
Weg zur Selbstständigkeit. Sie bieten gute Gelegenhei-
ten, die eigene Heimat kennen- und schätzen zu lernen
sowie auch frühzeitig in Kontakt mit anderen Ländern
und Kulturen zu treten.
Wir haben in unserem Antrag darauf hingewiesen,
wie die Bundesregierung bereits mit erheblichen Mitteln
Fort- und Weiterbildungsangebote, Informationsveran-
staltungen, die internationale Jugendarbeit, den Bau
von Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten so-
wie von Jugendherbergen unterstützt.
Wir machen uns zudem für eine noch intensivere Un-
terstützung stark: bei der Qualifizierung, bei der Vernet-
zung und Kooperation jugendtouristischer Angebote,
beim möglichen Aufbau einer Internetplattform sowie
bei der intensiveren internationalen Vermarktung.
Für Letzteres bietet das Themenjahr „Junges Reise-
land Deutschland“ der Deutschen Zentrale für Touris-
mus im kommenden Jahr einen idealen Anknüpfungs-
punkt.
Darüber hinaus wollen wir, dass die Einsatzmöglich-
keiten des neuen Bundesfreiwilligendienstes in jugend-
touristischen Einrichtungen verstärkt genutzt werden.
Auf diese neuen Möglichkeiten soll die Bundesregierung
an geeigneter Stelle hinweisen.
Im Gegensatz zu den Forderungen der SPD gibt es
noch weitere Punkte, mit denen wir auch ohne finanziel-
len Aufwand einiges bewegen können. Einige Bundes-
länder etwa lassen Reisevermittler als Organisatoren
von Klassenfahrten nicht zu. Wie kürzlich bei einer Ver-
anstaltung des Bundesforums Kinder- und Jugendreisen
e. V. deutlich wurde, wünschen sich dies aber manche
Lehrer. Da die mit der Organisation einer Klassenfahrt
verbundene Arbeit neben dem normalen Job aus ihrer
Sicht zuweilen zu aufwendig ist, hätten sie gern die Mög-
lichkeit, bei Bedarf auch auf kommerzielle Anbieter zu-
rückgreifen zu können.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, bei den
Bundesländern auf die positiven Aspekte der Einbezie-
hung von Reisevermittlern bei der Planung von Klassen-
fahrten hinzuweisen. Dabei geht es nicht um die Vergabe
öffentlicher Mittel für private Anbieter, sondern um eine
Unterstützung für Lehrer bei der Planung und Durch-
führung von Klassenfahrten, die ansonsten möglicher-
weise nicht stattfinden.
Das zweite Thema der heutigen Debatte ist die Forde-
rung der Linken, dass Deutschland Mitglied in der Inter-
nationalen Organisation für Sozialtourismus werden
soll. Damit soll die Möglichkeit für eine direkte Einfluss-
nahme auf die Fortentwicklung des Sozialtourismus und
das Kennenlernen guter Praxisbeispiele eröffnet wer-
den.
Diese Organisation ist aber bisher vergleichsweise
wenig in Erscheinung getreten, und eine dortige Mit-
gliedschaft ist unserer Meinung nach nicht zielführend.
Schon heute engagiert sich die Bundesregierung stark
im sogenannten Sozialtourismus und fördert Familien-1) Anlage 16
ferienstätten, Jugend-, Bildungs- und Begegnungsstätten, Jugendherbergen sowie die internationale Jugendarbeit. Eine Auflistung der wichtigsten Punkte können
Sie gerne in unserem Antrag nachlesen.
Außerdem gibt es neben den aus öffentlichen Mitteln
und von gemeinnützigen Organisationen unterstützten
Angeboten für die genannten Zielgruppen in Deutschland zahlreiche attraktive und preisgünstige Quartiere.
Dies gilt insbesondere für den ländlichen Raum, dessen
Stärkung ein Schwerpunkt unserer tourismuspolitischen
Arbeit ist. So gibt es eine Vielzahl sehr attraktiver, naturnaher, sehr persönlich betreuter Urlaubsangebote auf
dem Bauernhof, die noch dazu häufig sehr preisgünstig
sind. Das gilt nicht nur für die Übernachtung, sondern
auch für das Essen und andere Dienstleistungen.
Anfang dieser Woche haben wir - die Koalitionsfraktionen - einen Kongress mit 500 Teilnehmern zum
Thema „Ländliche Räume, regionale Vielfalt“ durchgeführt. Dabei haben wir uns auch intensiv mit der Frage
beschäftigt, wie wir die ländlichen Räume als Reiseziel
stärken können. Das hervorragende Preis-LeistungsVerhältnis der oft einzigartigen touristischen Angebote
ist sicher ein wichtiges Argument dabei. Gerade hier
sind Urlauber und Familien mit begrenztem Budget gut
aufgehoben.
Außerdem möchte ich auf die ausgezeichneten und
preiswerten Angebote der Bundesarbeitsgemeinschaft
Familienerholung hinweisen, die vom Katholischen und
dem Evangelischen Arbeitskreis für Familienerholung
zusammen mit dem Paritätischen Arbeitskreis für Familienerholung gebildet werden. Die Vorsitzende des Katholischen Arbeitskreises ist die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker aus unserer Fraktion, die Vorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises - und gegenwärtig auch der Bundesarbeitsgemeinschaft - ist unsere
SPD-Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller.
Zentrales Anliegen ist es dort, Familien mit vielen
Kindern einen preiswerten Urlaub in familienfreundlichen Unterkünften anzubieten und den Zusammenhalt in
den Familien zu stärken. Dafür gibt es in Deutschland
120 gemeinnützige Familienferienstätten, die seit den
50er-Jahren entstanden sind. In diesen Einrichtungen
gibt es immerhin rund drei Millionen Übernachtungen
pro Jahr.
Familienerholung wendet sich an alle Familien, doch
werden finanziell benachteiligte und kinderreiche Familien, Alleinerziehende sowie Familien mit behinderten
Kindern oder behinderten Angehörigen besonders berücksichtigt. Angebote für Familienberatung, zur Stärkung der Familienkompetenz und zur gesundheitlichen
Prävention spielen dabei heute eine große Rolle. Bau
und Renovierung von Familienferienstätten werden im
Übrigen ebenfalls bereits aus dem Bundeshaushalt gefördert in Kofinanzierung mit den Bundesländern und
den Trägern.
Statt Geld für eine nicht zielführende Mitgliedschaft
in einer internationalen Organisation auszugeben, sollten wir lieber als Bundestagsabgeordnete diese Familienferienstätten unterstützen, die sich manchmal noch
etwas schwertun bei der Vermarktung und noch lange
nicht allen bekannt sind, die als Gäste infrage kommen.
Wenn sich in Ihrem Wahlkreis eine solche Einrichtung
befindet, informieren Sie sich doch einmal vor Ort über
deren Arbeit, weisen Sie mit auf diese Angebote hin und
machen Sie beispielsweise bei eigenen Besuchen in
Schulen und Kindergärten auf diese besonderen und
preisgünstigen Familienerholungsangebote aufmerksam. Damit könnten wir alle einen wichtigen Beitrag
leisten und gezielt helfen.
Heute debattieren wir hier im Plenum des Deutschen
Bundestages innerhalb von gut vier Monaten zum dritten Mal über das Thema Kinder- und Jugendtourismus.
Als Koalitionsfraktionen haben wir mit unserer Antragsinitiative das Thema auf die Tagesordnung der Politik
hier im Bundestag gesetzt. Wenn wir heute zum dritten
Mal über dieses Thema beraten, dann zeigt dies, dass
der Kinder- und Jugendtourismus auch für die Tourismuspolitik im Deutschen Bundestag eine hohe Bedeutung hat. Insofern ist es den Sozialdemokraten nicht zu
verübeln, dass auch sie mit einem eigenen Antrag hinterher gekommen sind.
Bereits bei der ersten Beratung über den Antrag der
Koalitionsfraktionen der christlich-liberalen Koalition
hier im Plenum haben wir auf die Bedeutung des Kinder- und Jugendtourismus für den Tourismus insgesamt
hingewiesen. Er umfasst einen Jahresumsatz von etwa
12 Milliarden Euro. Kinder- und Jugendreisen machen
einen Anteil von 20 Prozent des Inlandstourismus aus.
Allein die Jugendherbergen verzeichnen über 10 Millionen Übernachtungen und einen Umsatz von insgesamt
über 1 Milliarde Euro an Wertschöpfung. Dies erlebe
ich gerade in meinem Wahlkreis Nordfriesland/Dithmarschen-Nord, der mit 13 Jugendherbergen so viele
Jugendherbergen umfasst wie kein anderer Wahlkreis in
Deutschland.
Eigentlich waren wir uns auch in vielen Punkten, in
denen wir seitens der Politik den Kinder- und Jugendtourismus unterstützen können, einig. Niemand von uns
würde sagen: Das wollen wir nicht unterstützen.
Schließlich geschieht ja auch bereits viel an Unterstützung, unsere Bundesregierung leistet diese Unterstützung in vielfältiger Form. Das gilt für die internationalen Jugendreisen, den Jugendaustausch, die Förderung
des deutsch-französischen und des deutsch-polnischen
Jugendaustausches und für die deutsch-israelischen
Jugendbegegnungen.
Wenn im kommenden Jahr die Deutsche Zentrale für
Tourismus das Themenjahr „Junges Reiseland Deutschland“ weltweit vermarktet, dann finanzieren wir dies
auch aus Bundesmitteln, die wir auf über 27 Millionen
Euro aufgestockt haben. Mit unserem Antrag zeigen wir
aber auch die Aspekte auf, wo wir noch Handlungsnotwendigkeiten sehen.
Ich will nicht alles wiederholen, was wir bereits vor
vier Monaten debattiert haben. Schließlich hat sich in
dieser Hinsicht an den Sachverhalten selbst ja auch
nichts geändert: dass wir mehr für Qualitätssicherung
Zu Protokoll gegebene Reden
und Qualitätssteigerung tun müssen, dass es um Klassifizierung geht, aber auch darum, dass die Bundesländer
in ihrer Zuständigkeit einiges tun können, zum Beispiel
zur Steigerung des pädagogischen Profils von Klassenfahrten.
In den vergangenen Wochen nach Vorlage unseres
Antrages und in der Ausschussberatung haben wir über
einige neue Aspekte diskutiert. Nachdem wir unseren
Antrag veröffentlicht hatten, sind uns viele Anregungen
zugegangen, was man noch alles mehr tun könnte - vor
allem, wo man noch mehr Geld ausgeben könnte. Vieles
davon wäre wünschenswert, aber wir alle müssen uns
nach der finanziell knappen Decke strecken. Deshalb
haben wir bewusst davon abgesehen, in unseren Antrag
einen „Wunschkatalog“ aufzunehmen, ohne dass die
darin enthaltenen Maßnahmen finanziell abgesichert
wären. Dies kann nur in den Haushaltsberatungen selbst
geschehen. Deshalb sind die entsprechenden Passagen
im Antrag der Sozialdemokraten zwar nett zu lesen, aber
heute schlichtweg verfehlt. Wir sind eben nicht in den
Haushaltsberatungen.
Wir haben in den vergangenen Wochen auch über die
unterschiedlichen Aufgaben und die wechselseitige Abgrenzung zwischen gewerblichen und gemeinnützigen
Anbietern im Kinder- und Jugendtourismus gesprochen.
Sicherlich gibt es hier Konkurrenz, aber jeder hat eben
seine speziellen Geschäftsfelder, seine Profile und seine
Aufgaben. Damit hat auch jeder seine eigene Berechtigung. Ich halte überhaupt nichts davon, diese Anbieter
gegeneinander auszuspielen. Jeder hat seine Funktion
und wird dem gerecht.
Dabei ist auch klar, dass die finanzielle Förderung
mit staatlichen Mitteln sich darauf bezieht, dass besondere im Gemeinwohl liegende Aufgaben wahrgenommen
werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies in erster Linie die gemeinnützigen Anbieter sind. Insofern ist
jede Sorge unbegründet, wir wollten in irgendeiner
Form Mittel umschichten von gemeinnützigen zu gewerblichen Unternehmen, wenn wir auch deren spezielle
Rolle in diesem touristischen Segment nennen und anerkennen.
Unser Antrag beschreibt das Thema, nennt die
Herausforderungen, vor denen der Kinder- und Jugendtourismus steht, und zeigt Handlungsoptionen auf, wie
wir unterstützen und helfen wollen. Dabei sind unsere
Möglichkeiten auf Bundesebene allein begrenzt, wir
brauchen auch die Bundesländer, die gerade hier in vielfältiger Form in der Verantwortung stehen. Insofern
geht es auch um eine Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung des Kinder- und Jugendtourismus.
Der Antrag der Fraktionen der christlich-liberalen
Koalition wird diesem Anliegen gerecht. Der Tourismusausschuss hat dem Antrag mehrheitlich zugestimmt, und
ich bitte auch heute hier im Plenum darum, unserem Antrag zuzustimmen.
Mit den beiden Anträgen zum Thema Kinder- und
Jugendtourismus verhandeln wir heute auch über den
Antrag der Fraktion Die Linke, Deutschland möge
Mitglied in der „International Organisation of Social
Tourism“, OITS, werden. Diesen Antrag werden wir ablehnen.
Schon heute engagiert sich die Bundesregierung
stark im sogenannten Sozialtourismus. Familienferienstätten, Jugend-, Bildungs- und Begegnungsstätten,
Jugendherbergen sowie die internationale Jugendarbeit
fördern wir. Darauf habe ich bereits hingewiesen. Hinzu
kommen Hilfen auf Landes- und Kommunalebene für
Familien mit geringem Einkommen. Neben den aus den
öffentlichen Mitteln und von gemeinnützigen Organisationen unterstützten Angeboten gibt es für diese Zielgruppe in Deutschland eine Vielzahl attraktiver und
preisgünstiger Quartiere. Dazu gehört auch der Urlaub
auf dem Bauernhof. Wir sehen nicht, wie eine Mitgliedschaft in dieser Organisation den Menschen, um die es
doch eigentlich geht, tatsächlich konkret helfen soll.
Lassen Sie mich aber auch gern eine persönliche Anmerkung anfügen: In der Begründung zum Antrag der
Fraktion Die Linke wird Bezug genommen auf den
Ethikkodex der Welttourismusorganisation UNWTO, in
dem das „universelle Recht auf Tourismus“ angesprochen wird. Mit Verlaub: Die Partei Die Linke steht in der
Nachfolge der Parteien PDS und SED. Diese Partei beteiligt sich immer wieder gern an der Verherrlichung der
SED/DDR-Vergangenheit - und dazu gehört auch, dass
die Regierung das eigene Volk eingesperrt hat. Damals
gab es überhaupt kein Recht auf Tourismus und freies
Reisen, Reisefreiheit war ein Fremdwort. Von dieser
Partei braucht sich niemand etwas über das „Recht auf
Tourismus“ sagen zu lassen.
Auch aus diesem Grunde bitte ich um Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke.
Ich freue mich, dass wir uns heute erneut mit Kindern
und Jugendlichen befassen, genauer: mit ihren Chancen
zu reisen und ihren Horizont zu erweitern.
Die vorliegenden Anträge haben viel Bewegung in
das Themenfeld gebracht. Das allein reicht aber nicht.
Wir müssen die entstandene Dynamik für gutes politisches Handeln nutzen.
Schon die Titel der Anträge machen deutlich, wie verschieden die politischen Ansätze sind. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, geht es
vor allem um die Tourismuswirtschaft, die sich den
Markt der Kinder- und Jugendreisen stärker erschließen
soll. Natürlich wollen auch wir, dass der starke Aufwind
im Deutschlandtourismus anhält und wir in diesem Jahr
die Schallmauer von 400 Millionen Übernachtungen
durchbrechen. Der SPD kommt es jedoch in erster Linie
darauf an, Kindern und Jugendlichen das Reisen zu ermöglichen. Wir wollen allen jungen Menschen die
Chance geben, zu reisen, unser Land und andere Kulturen kennenzulernen, toleranter und selbstbewusster zu
werden. Dass Reisen die persönliche Entwicklung
stärkt, wissen wir alle aus eigenen Kindheitserfahrungen.
Reisen bildet - und die Bildung und Entwicklungschancen unserer Kinder sind uns viel wert. Dazu gehört,
Zu Protokoll gegebene Reden
das nötige Geld bereitzustellen, um qualitativ hochwertige Reiseangebote für Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Gemeinnützige und jugendverbandliche Träger
stehen in besonderem Maße für pädagogisch wertvolle
Angebote, von denen auch Kinder aus Familien profitieren, die kaum Geld für einen Urlaub übrig haben.
Die Förderung aus dem Kinder- und Jugendplan des
Bundes ist deshalb unverzichtbar. Sozial benachteiligten
Kindern und Jugendlichen, jungen Menschen mit Behinderung und mit Migrationshintergrund wird bei der Förderung besonderes Augenmerk gewidmet.
Sehr bedauerlich ist, dass CDU/CSU und FDP in diesem Jahr die Mittel für Jugendherbergen, Jugendbildungs- und Begegnungsstätten um 500 000 Euro gekürzt
haben. Dass Sie, meine Damen und Herren Koalitionäre, dies in Ihrem Antrag auch noch falsch darstellen
und verschweigen, wirft ein schlechtes Licht auf Ihren
Antrag.
Wir haben uns bereits im letzten Jahr im Haushaltsausschuss gegen die Kürzungen gestellt. Wir fordern Sie
auch jetzt mit unserem Antrag auf: Nehmen Sie die Kürzungen im neuen Haushalt zurück! Damit können Sie
mehr für Kinder- und Jugendreisen tun als mit ihrem
wortreichen, aber schlappen Antrag. Zwischen Reden
und Handeln liegen Welten bei Ihnen. Sie sind seit 2009
in Regierungsverantwortung und hätten schon seit drei
Jahren etwas tun können - vor allem für die Familien
mit Kindern und Jugendlichen, die sich aus dem eigenen
Geldbeutel keine Reise leisten können.
Ich erinnere Sie gerne daran: Die SPD war es, die
sich im vorigen Jahr im Vermittlungsausschuss dafür
eingesetzt hat, dass vom Bildungs- und Teilhabepaket
auch Familien profitieren, die Kinderzuschlag und
Wohngeld beziehen. Mit Erfolg: 500 000 Kinder zusätzlich haben Anspruch auf die monatlichen 10 Euro. Diese
können für Ferienfreizeiten angespart werden. Sie hätten das am liebsten verhindert. Gut, dass Sie an uns
nicht mehr vorbeikommen im Bundesrat.
Wir haben Ende April beim Polittalk mit den Reiseanbietern und Trägern der Kinder- und Jugendarbeit
ausführlich über Kinder- und Jugendreisen diskutiert.
Es wurde von allen Seiten bestätigt, dass unsere Forderung sinnvoll ist, den 2002 von Rot-Grün aufgelegten
„Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ weiterzuentwickeln. Wir brauchen dringend
neuen Schwung und müssen den Aktionsplan thematisch
breiter aufstellen. Ein zentraler Baustein ist, Betreuerinnen und Betreuer optimal zu qualifizieren und auch für
das Problem sexueller Gewalt zu sensibilisieren. Wichtig ist ebenfalls, gesundheitsfördernde Konzepte durchzusetzen. Gesundes Essen und viel Bewegung sind zu
fördern. Die Jugendaktion „GUT DRAUF“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet eine gute
Grundlage.
Das Ziel ist klar: Es muss überall gewährleistet sein,
dass Kinder und Jugendliche in guten Händen sind und
das Kindeswohl an allen Stellen berücksichtigt wird.
Wir sagen der Bundesregierung ganz deutlich: Setzt
euch dabei mit den Trägern zusammen. Dort sind viel
Sachverstand und praktische Erfahrung vorhanden, die
die Politik nutzen sollte.
Die Regierung muss auch die Länder ins Boot holen.
Wir müssen es schaffen, dass alle Länder eigene Aktionspläne für den Kinder- und Jugendtourismus ableiten
und umsetzen. Hier haben die meisten Nachholbedarf.
Der Dachverband Bundesforum Kinder- und Jugendreisen hat ebenfalls die SPD-Forderung begrüßt, eine
interministerielle Arbeitsgruppe einzurichten, um bestehende Kompetenzen zusammenzuführen.
Wir fordern die Regierung zudem auf: Gebt den Vereinen und Verbänden einen zentralen Ansprechpartner!
Sie dürfen sich nicht länger im Labyrinth der verschiedenen Ministerien verirren.
Das sind allesamt Punkte, die die Koalition verschlafen hat, auch in ihrem Antrag. Wir lehnen diesen deshalb
ab.
Fördern Sie Kinder- und Jugendreisen richtig, und
unterstützen Sie unseren Antrag! Er geht weit über die
Prüfaufträge des Koalitionsantrags hinaus.
Ich hoffe, dass auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, sich noch anschließen. Denn die vorgebrachten Gründe für eine Enthaltung zu unserem Antrag
sind nicht stichhaltig. Sie schreiben in der Beschlussempfehlung, dass wir nichts zur Datenlage sagen. Das
stimmt nicht. Wir fordern, dass bundesländerübergreifend eine einheitliche statistische Erfassung für Kinderund Jugendreisen geschaffen wird. Wir wollen aktuelle,
zuverlässige Zahlen auf dem Tisch haben. Und die von
Ihnen gewünschte konzertierte Aktion zur Verbesserung
der Qualität und Qualifizierung wollen wir ja gerade
mit der Fortschreibung des Aktionsplans erreichen - gemeinsam mit den Fachleuten der Träger. Sie können sich
unserem Antrag also bedenkenlos anschließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich freue
mich über Ihre Unterstützung des Antrags. Sie selbst haben zum heutigen Debattenpunkt Ihren Antrag zur Mitgliedschaft der Bundesregierung in der International
Organisation of Social Tourism, OITS, aufsetzen lassen.
Die OITS verfolgt international das Thema Sozialtourismus. Darüber können sicher gute Praxisbeispiele ausgetauscht werden, wie mehr Menschen am Tourismus
teilhaben können. Das Ziel, dass alle Menschen am Tourismus teilhaben können, haben wir in unserer Regierungszeit auch in den Tourismuspolitischen Leitlinien
der Bundesregierung beschlossen.
Wir denken, dass Deutschland in der OITS mit dem
Bundesforum Kinder- und Jugendreisen bereits gut vertreten ist. Da kaum andere staatliche Stellen Mitglied
der OITS sind, scheint die Beteiligung der deutschen Regierung verzichtbar. Deshalb enthalten wir uns bei der
Abstimmung über diesen Antrag.
Vorab: Es war wichtig und richtig, sich in den vergangenen Monaten so intensiv mit dem Thema Kinderund Jugendreisen zu beschäftigen. Darüber sind sich die
Koalitionsparteien einig. Die breite Resonanz auf unZu Protokoll gegebene Reden
sere Beratungen in den Reihen der Träger dieser Reisen
zeigt die Relevanz des Themas.
Von den vielen Stellungnahmen aus dem Nichtregierungsbereich greife ich das Bundesforum Kinder- und
Jugendreisen heraus. Das Forum hat in seiner neuerlichen Stellungnahme recht mit seiner Feststellung - ich
zitiere -:
Kinder- und Jugendreisen werden in Deutschland
durch eine vielfältige Trägerlandschaft mit unterschiedlichen Wertevorstellungen und unterschiedlichen Zielen veranstaltet. Darunter sind gemeinnützige Anbieter, Organisationen mit gewerblicher
Firma und gemeinnützigem Verein sowie gemeinnützige Anbieter. Unabhängig von der Gesellschaftsform müssen beide Bereiche wirtschaftlich
arbeiten.
Damit sind die Rahmenbedingungen für unsere Beratungen eigentlich hervorragend beschrieben. Für die
FDP fasse ich zusammen, welche Ansprüche wir an den
Kinder- und Jugendtourismus haben: Wir wollen Vielfalt. Wir wollen Wettbewerb. Wir wollen Qualität. Wir
wollen Wirtschaftlichkeit. Wir wollen aber keine mehr
oder weniger willkürlichen Abgrenzungen zwischen den
Veranstaltern.
Im Sinne einer besseren Zusammenarbeit aller Anbieter von Kinder- und Jugendreisen wünschen wir uns im
Übrigen auch eine weitere Öffnung des Bundesforums
Kinder- und Jugendreisen e.V. für gewerbliche Anbieter.
Wichtig ist für uns: Auf die Qualität der Angebote kommt
es an. Und da gelten für Kinder- und Jugendreisen natürlich andere Kriterien als für Angebote des Massentourismus. Für uns gibt da unser Koalitionsantrag am
meisten her. Wir bedauern, dass sich dafür eine breitere
und fraktionsübergreifende Akzeptanz nicht herstellen
ließ.
Der SPD-Antrag bringt uns - wie schon in den vorangegangenen Diskussionen und Debatten gesagt - nicht
weiter. Wieder einmal wollen die Sozialdemokraten ihre
altbekannten und längst verworfenen Instrumente auspacken. Hier soll ein Haushaltstitel angehoben werden,
dort sollen Bundesmittel erhöht werden, Statistiken erstellt und neue bürokratische Positionen geschaffen
werden. Das alles kostet ein Heidengeld und bringt
nichts für die Kinder- und Jugendlichen.
Was den Antrag der Fraktion Die Linke angeht, kann
ich nur sagen: Jeder nach seinen Möglichkeiten! Wir packen die Dinge an, formulieren konkrete Vorschläge und
bringen die Beteiligten an einen Tisch. Die Linke fordert
die Mitgliedschaft in einer weiteren internationalen
Organisation, in der es um den sozialen Tourismus geht.
Na prima, die werden unsere Probleme schon lösen,
wenn wir den jährlichen Mitgliedsbeitrag bezahlen.
Nein, unverändert bleibt richtig: Kinder und Jugendliche werden als bedeutende Zielgruppe für die Reisebranche häufig unterschätzt. Beim Reisen entwickeln die
jungen Menschen den Blick für Neues und anderes. Nie
mehr im Leben ist der Mensch so lernfähig und aufnahmebereit wie gerade in der Jugend, und gerade auch
deshalb gilt es, den Bereich Kinder- und Jugendtourismus weiterhin im Fokus zu behalten. Dass wir das tun
wollen, ist aber längst klar. Die Initiative der DZT beweist das. Insgesamt hilft die öffentliche Hand an vielen
Stellen bereits heute bei notwendigen Finanzierungen.
Ich schließe mich dem Lob des Deutschen Jugendherbergswerks in seiner Stellungnahme zur Ausschussberatung ausdrücklich an:
Mit MeckPomm, einem speziellen Angebot für Klassen- und Jugendreisen aus Mecklenburg-Vorpommern,
gibt es ein Beispiel dafür, was zum Beispiel auf Länderebene noch alles getan werden kann. An diesem Beispiel
könnten sich auch andere Bundesländer orientieren und
evaluieren, welche touristischen Angebote für Kinder
und Jugendliche vorhanden sind und wo Verbesserungen möglich sind. „Action am Strand“, Rangertouren im
Wald oder „Paddeln statt Pauken“ sind Ideen, die sich
nicht nur mit MeckPomm umsetzen lassen. Man muss
eben nur einmal genau hinsehen.
Ich will mich an dieser Stelle nicht wiederholen und
verweise auf unsere früheren Diskussionen. Richtig
bleibt: Die Bundesregierung wird diesen wichtigen touristischen Bereich weiter unterstützen; finanziell - aber
auch dort, wo es gilt, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und Neues zu wagen. Aber Gießkannenpolitik à la
SPD oder neue Mitgliedschaften in unbekannten Organisationen, wie von der Linkspartei gefordert, bringen
uns auch beim Kinder- und Jugendtourismus nicht weiter. Gute Ideen sind gefragt, und die waren in dem bereits beschlossenen Koalitionsantrag längst enthalten.
Wir sehen deswegen immer noch keinen Grund, dem Antrag der SPD oder dem Antrag der Linkspartei zuzustimmen, und werben für unseren eigenen.
Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den Antrag der Linken,
in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, Mitglied
in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus
zu werden, ab. In der Begründung heißt es: „Schon jetzt
engagiere sich die Bundesregierung stark im so genannten Sozialtourismus.“ Sie verwies auch auf „die Gefahr
eines Subventionswettlaufs zulasten sich selbst tragender Angebotsstrukturen.“ Siehe Drucksache 17/9308.
Was damit gemeint sein könnte, erfuhren die Zuschauerrinnen und Zuschauer der Sendung „Panorama“ am
7. Juni 2012 in der ARD: „Allgäu, Haus am See, Doppelzimmer ab 9 Euro die Nacht. Oder Häuschen für
6 Personen in Italien, 20 Euro die Nacht für alle. Und
hier: Eine Nacht im bayerischen Schloss Hohenaschau
ab 7 Euro 80. Nicht schlecht, was? Buchen kann man
diese sagenhaft günstigen Urlaube allerdings nur, wenn
man etwa Beamter oder Angestellter der Bundesverwaltung ist. Zum Beispiel Diplomaten, Zöllner oder Finanzoder Ministerialbeamte. … Kampen auf Sylt. Traumhafte Landschaft, nur leider für Normalverdiener fast
unbezahlbar. Oft kosten Ferienwohnungen in Strandnähe mehr als 100 Euro am Tag, es sei denn man ist Beamter oder Angestellter der Bundesverwaltung. Wie hier
in Kampen finden sich auf der Insel so einige preiswerte
Domizile für Staatsdiener. Diese Ferienwohnung zum
Beispiel ist schon für ganze 6,60 Euro pro Nacht und
Zu Protokoll gegebene Reden
Person zu haben. Da ist die Erholung nur ein Grund
nach Sylt zu fahren.“
Seit 52 Jahren organisiert das Sozialwerk „Bund“
mit millionenschweren direkten und indirekten Zuschüssen preiswerte Reisen für Bundesbeamte, unabhängig
von deren Einkommen und sozialer Bedürftigkeit. Natürlich fehlt dann das Geld an anderer Stelle, zum Beispiel
für dringend notwendige Investitionen in den Kinderund Jugenderholungszentren, in Jugendherbergen oder
für den Jugendaustausch in Richtung Osteuropa. Auch
die wenigen sozial wirklich bedürftigen Familien, die
mal Urlaub in den von Bund bzw. einigen Ländern geförderten Familienheimstätten machen dürfen, würden
sich über solche Konditionen sehr freuen. Es würde sich
also schon lohnen, wenn die Bundesregierung gemäß eigenen Worten zielgerichtet fördert und nicht mit der
Gießkanne die Steuermittel verteilt. Und es würden sich
dann auch die 4 000 Euro für den jährlichen Mitgliedsbeitrag in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus finden. Ich meine, es wäre gut angelegtes
Geld, denn der Erfahrungsaustausch mit den rund
140 Mitgliedern, darunter die Staaten Griechenland,
Italien, Polen, Belgien, Frankreich, Schweiz, Türkei,
Portugal, Spanien und Mexiko, in dieser 1963 gegründeten Organisation käme auch der Entwicklung des Tourismus für Kinder und Jugendliche, für Menschen mit
Behinderungen und finanzschwachen Familien in
Deutschland zugute. Ein Drittel der Kinder in Deutschland - dem „Reiseweltmeister“ - kann nicht in den Urlaub fahren. Tendenz steigend! Es sind vor allem finanzielle, aber auch bauliche und kulturelle Barrieren. Das
ist kein Problem, welches sich durch die Selbstheilungskräfte des Marktes lösen lässt. Hier ist die Politik gefragt. Auch und gerade für diese Kinder und Jugendlichen sind Reisen zur Förderung von Bildung, Erholung,
Gesundheit und Weltanschauung wichtig.
Welche Kenntnisse die Bundesregierung zur realen
Situation in diesem Bereich hat, zeigt sich in der Antwort
der Bundesregierung vom 7. Februar 2012 auf meine
wiederholten Fragen zu Kinder- und Jugendreisen für
alle, Drucksache 17/8637, Seite 46/47. Hier teilt die
Bundesregierung, vertreten durch ihren Staatssekretär
Dr. Bernhard Heitzer, achtmal in ähnlichen Formulierungen mit: „Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor. Entsprechende Daten werden nicht erhoben.“ Und zur Bewertung der Tatsache, dass ein Drittel
aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland aus finanziellen Gründen keine Urlaubsreise mehr machen
können, antwortet dieser Staatssekretär - Drucksache
17/8637, Seite 48 -: „Auch Menschen mit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellen Einschränkungen sollen
reisen können. Über die Nichtteilnahme von Kindern
und Jugendlichen an Urlaubsreisen aus finanziellen
Gründen liegen der Bundesregierung keine Primärerhebungen vor.“
Ich möchte Ihnen an einem Beispiel zeigen, wie das
wirkliche Leben ist, und dazu aus dem Schreiben des Bezirksamtes Pankow von Berlin an das BDP-Integrationsprojekt e.V., BDP - Bund Deutscher PfadfinderInnen,
vom 6. Februar 2012 zitieren: „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass der Bezirk Pankow in den Haushaltsjahren
2012 und 2013 keine Leistungen der Kinder- und Jugenderholung im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 5 SGB VIII mehr erbringen kann. Unter dieses Leistungsangebot fallen
auch die behindertenbedingten Mehrkosten bei den Erholungsreisen, die in Ihrer Trägerschaft durchgeführt
werden.“ Und das ist kein Einzelfall, sondern die Regel
in den Kommunen infolge ihrer Haushalts- und Finanzpolitik. Deswegen fordert die Linke unter anderem eine
Fortschreibung des Aktionsplanes Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland durch Bund, Länder sowie die
Betroffenen und ihre Interessenverbände; deswegen fordert die Linke, dass eine Klassenfahrt pro Jahr in allen
Altersstufen Pflichtteil der schulischen Bildung wird,
und deswegen fordert die Linke eine stärkere Förderung
von Familienurlauben und -freizeiten. Auch deswegen
wird die Linke als Zeichen des guten Willens zur Zusammenarbeit auf diesem Gebiet nicht gegen den Koalitionsantrag stimmen und dem SPD-Antrag zustimmen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 17/9913. Unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8451 mit dem
Titel „Kinder- und Jugendtourismus unterstützen und
weiter fördern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen waren SPD
und Bündnis 90/Die Grünen, die Linke hat sich enthalten.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8924 mit dem Titel
„Reisen für Kinder und Jugendliche ermöglichen - Förderung sicherstellen und ‚Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland‘ weiterentwickeln“. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen von SPD und Linken.
Tagesordnungspunkt 28 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Mitgliedschaft in der International Organisation of Social Tourism“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9308, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/4844 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Die SPD hat sich enthalten. Bündnis 90/Die Grünen und
die Linke waren dagegen, die Koalitionsfraktionen dafür.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Menschenrechte in Zentralasien stärken
- Drucksache 17/9924 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Die Regionen Zentralasiens und des Kaukasus sind
seit dem Zerfall der Sowjetunion fast traditionell ein außenpolitisches Randthema der Europäischen Union,
aber auch Deutschlands. Oftmals richtet sich unser prüfender Blick zu unseren östlichen Partnern nur, wenn
Großevents wie die Fußballeuropameisterschaft in der
Ukraine oder ein großes europäisches Event wie der
Eurovisioncontest in Aserbaidschan gastieren.
Dabei ist die Nichtbeachtung dieser Weltregion für
unsere nationalen wirtschaftlichen Interessen und demokratischen Ansprüche nahezu sträflich, befindet sich
doch eine Vielzahl von Rohstoffen, Handelswegen und
geostrategischen Ansätzen in der Region, die Deutschland und Europa besser im Blick haben müssen.
Zudem ist Deutschlands Engagement im Bereich der
Verbesserung der Menschenrechte gefragt. Gerade die
Regierungen der zentralasiatischen Länder - Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan - sind für die Missachtung der Menschenrechte
bekannt. In einigen Ländern wie Usbekistan und Turkmenistan hat sich die Situation seit dem Ende der Sowjetunion sogar noch verschlechtert. Turkmenistan gilt
als eines der repressivsten Länder der Welt. Kasachstan
wird immer noch von einem Spitzenpolitiker der ehemaligen Sowjetunion, Nursultan Nasarbajew, regiert. Die
aktuelle Regierung Kirgisiens kam vor zwei Jahren an
die Macht und versprach Reformen. Bis jetzt hatte der
Menschenrechtsschutz in dem Land jedoch weiter keine
Priorität.
Das untergeordnete Interesse der EU an dieser Weltregion zeigt auch, dass nur Deutschland das einzige
Land innerhalb der Europäischen Union ist, das in allen
fünf zentralasiatischen Staaten Botschaften unterhält.
Zudem ist Deutschland im Rahmen der EU der größte
bilaterale Geldgeber. Wir genießen in Zentralasien einen sehr guten Ruf als ehrlicher Makler. Trotz unseres
im Vergleich zu unseren EU-Partnern starken Engagements bleiben auch hier die wechselseitigen Interessen
untereinander diffus - jeder gibt sich offen, aber niemand weiß so recht, was durch die Tür kommen wird.
Um diesem Missstand entgegenzuwirken, hat die
Bundesregierung kürzlich im Rahmen der EU-Zentralasienstrategie darauf gedrungen, eine Vielzahl von Angeboten an die Länder Zentralasiens zu formulieren. Die
Chancen, den deutschen Einfluss und damit auch unsere
positiven Standards nachhaltiger in die Region einzubringen, sind gegeben. Nachdruck ist deshalb mehr
denn je gefordert, denn alle Länder Zentralasiens sind
an einer intensiven Zusammenarbeit mit Deutschland
interessiert.
Klar ist, sollten wir unser Engagement erhöhen, werden wir auch eine nachhaltigere Menschenrechtspolitik
in Zentralasien erreichen. Faire Zusammenarbeit und
Ehrlichkeit sind Tugenden, die die Regierungen dort
verstehen, denn noch befinden sich die jungen Staaten
des Kaukasus und Zentralasiens im schwierigen Prozess
des Übergangs zur Demokratie. Aus diesem Grund sollten wir klar in der Analyse der Probleme sein, um die demokratische und wirtschaftliche Zusammenarbeit in den
nächsten Jahren zu verbessern.
Eines der Hauptprobleme der gesamten Region sind
nach wie vor die wirtschaftliche Situation sowie aufflammende ethnisch definierte Konflikte - in NagorniKarabach, Abchasien, Südossetien und anderen Teilen
des Kaukasus und Zentralasiens.
Die bleibend labile Sicherheitslage in Zentralasien
ist symptomatisch für die mangelnde soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklung in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die sich sowohl mit wachsender
politischer Unzufriedenheit im Innern als auch mit
immer häufigeren Scharmützeln in den Grenzgebieten
konfrontiert sehen. Eine Bedrohung stellt zudem auch
der Drogenhandel - insbesondere mit Opium - dar, doch
handelt es sich dabei nicht um die bedeutendste Gefährdung für die Sicherung einer friedlichen Entwicklung.
In dieser schwierigen Gemengelage entwickeln sich
viele Staaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten
zu mehr oder weniger demokratischen Strukturen. Nicht
alles ist perfekt, doch die Richtung stimmt für mich in
kaukasischen Ländern wie Armenien, Georgien und mit
mehr Abstrichen auch Aserbaidschan, vielleicht sogar
in Abgrenzung zu Zentralasien im gesamten Kaukasus.
Gerade bei meiner Tätigkeit als Wahlbeobachter der
OSZE bei den Wahlen in Armenien hat sich gezeigt, dass
die demokratischen Spielregeln geachtet werden und die
Umsetzung von Menschenrechten auch bei der Regierung nicht nur Lippenbekenntnis ist. Es lohnt jedoch
auch ein kurzer Blick auf die anderen Länder Zentralasiens, um einen Eindruck zu bekommen, dass noch vieles im Bereich der Menschenrechte im Argen liegt.
Die meisten ungelösten Probleme im Bereich der
Menschenrechte gibt es in Turkmenistan und Usbekistan. Das sind zwei Staaten, in denen Andersdenkende
besonders unterdrückt werden - und das nicht nur politisch oder religiös, sondern auch in wirtschaftlicher
Hinsicht. Fakt ist, dass internationale Menschenrechtsaktivisten zudem nur schwer in diesen beiden Ländern
arbeiten können.
Anders sieht die Lage wiederrum in Kirgisistan,
Kasachstan und Tadschikistan aus, wo es Vertretern von
Amnesty International durchaus gelingt, mit Bürgern
vor Ort zu sprechen.
Mir erzählen europäische Menschenrechtsaktivisten
oft, dass im Falle Usbekistans vor allem auf den Umgang mit der Todesstrafe in dem Land aufmerksam geJürgen Klimke
macht werden muss. Seit dem 1. Januar 2009 ist die
Todesstrafe zwar abgeschafft, trotzdem ist nicht bekannt,
wie viele Personen von Gerichten bereits zum Tode verurteilt worden sind und bei wie vielen Menschen die Todesstrafe inzwischen durch eine lebenslange Haftstrafe
ersetzt worden ist. Manchmal wissen die Angehörigen
der zum Tode Verurteilten nicht, ob ihre Angehörigen
noch leben oder nicht.
In Tadschikistan müssen wir besonders das Thema
häusliche und sexuelle Gewalt ansprechen. Ein weiteres
Problem: Flüchtlinge und Asylsuchende aus Usbekistan
werden in Kirgisistan nach wie vor mit dieser Abschiebung bedroht, betonen viele besonders in Deutschland
engagierte Menschenrechtler. In Kasachstan haben die
Behörden den Druck auf Vertreter religiöser Minderheiten verstärkt. Weiterhin bleiben Brutalität und Amtsmissbrauch bei Vertretern kasachischer Rechtsschutzorgane immer noch unbestraft, obwohl der Staat
versichert hat, für Ordnung zu sorgen.
Viele Menschenrechtler machen zudem auf russischen Einfluss in ehemaligen Sowjetrepubliken aufmerksam. Es ist daher die Aufgabe der deutschen und europäischen Politik, den Einfluss Russlands mit einer
aktiven Politik zurückzudrängen. Leider nehmen sich
häufig die zentralasiatischen Staaten die russische Praxis zum Vorbild. Beispielsweise hat man gerade erst das
russische Gesetz über Nichtregierungsorganisationen in
Kirgisistan übernommen, was die Arbeit von Menschenrechtlern deutlich erschwert. Auch ist der Einfluss Russlands auf den Stand der Ermittlungen zur Erschießung
friedlicher Bürger in Andischan in Georgien zu beobachten.
Wir sehen also, dass die Kooperation zwischen der
EU, Deutschland und den Ländern Zentralasiens und
dem Kaukasus intensiv fortgeführt werden muss, damit
die benannten Missstände abgebaut werden können.
Ich empfehle daher eine effektivere Koordination der
existierenden Strategien: Wesentlich ist ein Ausbau der
Vertretung und damit der Sichtbarkeit der EU und des
Europäischen Auswärtigen Dienstes in der Region. Investiert werden muss in eine Bildungs- und Ausbildungsinitiative, die der jungen Generation Perspektiven bietet. Eine Ausbildung zukünftiger zentralasiatischer
Eliten an europäischen Hochschulen muss gefördert
werden. Es muss ein regelmäßiger, strukturierter und ergebnisorientierter Menschenrechtsdialog mit den einzelnen Staaten stattfinden. Die Zusammenarbeit mit der
OSZE, den Vereinten Nationen, internationalen Finanzinstitutionen und regionalen Organisationen soll ausgebaut werden. Ich möchte besonders hervorheben, dass
die Bundesregierung die wichtige Rolle, die die auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik bei der europäischen
Zentralasien-Strategie spielen kann, in den letzten Jahren massiv unterstützt hat. Gerade auf zivilgesellschaftlicher Ebene, gerade im Umgang mit Ländern, wo sich
die Beziehung auf staatlicher Ebene nicht gerade problemlos und durch offene Kommunikation auszeichnet,
ist das Instrument der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik von unschätzbarem Wert. Es ist daher gut,
dass die Bildungsoffensive im Kaukasus und Zentralasien durch diese Bundesregierung verstärkt wurde.
Der Kaukasus und Zentralasien sind unser Brückenkopf nach Asien. Dieser Leitlinie müssen wir uns immer
wieder bewusst werden, wenn wir über unsere zukünftigen geostrategischen Entwicklungen nachdenken. Die
Bundesregierung und die EU haben auf der politischen
Ebene seit 2007 konstruktive Schritte unternommen. Es
gilt auch, die europäische Öffentlichkeit stärker auf die
Chancen und Probleme dieser Länder aufmerksam zu
machen. Neue Partnerschaften brauchen auch ein gesellschaftliches Fundament. Hieran müssen wir noch
viel arbeiten.
Seit 2007 bildet die EU-Zentralasien-Strategie den
politischen Rahmen, um die Zusammenarbeit zwischen
Europa und den zentralasiatischen Staaten zu intensivieren. Sie wird seit Anfang 2012 überprüft und soll in
neuen EU-Ratsschlussfolgerungen zu Zentralasien münden. Europa hat sich mit der Zentralasien-Strategie vor
allem das Ziel gesetzt, die gute Staatsführung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Einhaltung von Menschenrechten zu fördern.
Mit demokratisch anmutenden Verfassungen haben
sich die zentralasiatischen Länder - Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aber nicht
in eine demokratische, sondern eher in eine autoritäre
Richtung entwickelt. Die fortlaufende Verlängerung der
Amtszeiten der Präsidenten und die anhaltend prekäre
Menschenrechtslage gehen dabei Hand in Hand. Offenbar fürchten die regierenden Präsidenten, dass eine Öffnung und Demokratisierung der Gesellschaft unmittelbar mit ihrem Machtverlust verbunden ist.
Stabilität wird so in den zentralasiatischen Staaten
als Stabilität der Regime verstanden und Sicherheit wird
nicht auf den einzelnen Menschen und die Wahrung seiner Rechte, sondern auf die staatstragenden Eliten bezogen. Die EU hingegen sieht gerade in Öffnung und Demokratisierung die Voraussetzung für Sicherheit und
Stabilität sowie für wirtschaftliche Entfaltung. Auf diese
Diskrepanz gilt es einen entsprechenden Politikansatz,
mit dem die EU und Deutschland den zentralasiatischen
Staaten gegenübertreten können, zu finden.
Die menschenrechtliche Lage in den zentralasiatischen Staaten ist besorgniserregend:
In keinem der fünf Staaten existiert ein wirklich unparteiisches Rechtssystem, es gibt teilweise keine Verfassungsgerichtsbarkeit und Frauen und Minderheiten
sind nicht ausreichend geschützt. Hier versucht die EURechtsstaatsinitiative mit konkreten Projekten, Beratungen, Ausbildungshilfen und Ähnlichem Abhilfe zu schaffen. Auch die Arbeit der politischen Stiftungen leistet
hier einen Beitrag. Kleine Erfolge sind zwar sichtbar,
aber wir brauchen unverminderte Anstrengungen, um
die rechtliche Situation der Menschen in Zentralasien
schrittweise zu verbessern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch die Religionsfreiheit ist in den zentralasiatischen Ländern teilweise erheblich eingeschränkt. Das
betrifft sowohl das freie Bekenntnis als auch die Mission. Kleinen Verbesserungen - wie zum Beispiel bei der
Registrierung von Gemeinden - stehen teilweise gravierende Verschlechterungen - wie zum Beispiel das tadschikische Gesetz über die „Verantwortung der Eltern
bei der Erziehung ihrer Kinder“, das grundsätzlich die
Religionsausübung stark beschneidet - gegenüber.
Das Bildungssystem ist ebenfalls in einem alarmierend schlechten Zustand, und in Ländern wie Usbekistan
stellt der umfangreiche Einsatz von Kindern bei der
Baumwollernte einen zusätzlichen Bildungshemmschuh
dar.
Die Reise- und Bewegungsfreiheit ist besonders für
regimekritische Menschenrechtsverteidiger und Journalisten teilweise erheblich eingeschränkt.
Die Situation in den Gefängnissen ist größtenteils erschreckend, Haftbedingungen menschenunwürdig und
Folter an der Tagesordnung. Regelmäßige Besuche des
IKRK finden nicht statt, und es ist hier noch erheblicher
politischer Druck nötig, um die Situation vor allem der
politischen Gefangenen nachhaltig zu verbessern und
menschenwürdig zu gestalten.
Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit gibt es
nur in eingeschränktem Maße. Kritische Journalisten
werden verfolgt, es herrscht zum Teil strikte staatliche
Zensur. Besonders der Zugang zu Informationen über
das Internet und internationale Medien muss ermöglicht
und die staatliche Zensur abgeschafft werden.
Politische Opposition wird unterdrückt, Wahlen immer noch manipuliert und Wahlergebnisse gefälscht, obwohl sich alle zentralasiatischen Staaten durch ihre
OSZE-Mitgliedschaft automatisch zur Einhaltung des
Kopenhagener Dokuments und damit zur Durchführung
von Wahlen nach demokratischen Standards verpflichtet
haben. Nach wie vor werden politische Oppositionsparteien bei ihrer Arbeit behindert, Gegenkandidaten zu
den amtierenden Machthabern nicht zur Wahl zugelassen oder in Haft genommen. Unbequeme Journalisten,
Gewerkschafter, Umweltaktivisten und Menschenrechtsverteidiger sind ständiger Behinderung und Verfolgung
ausgesetzt. Die Maßnahmen reichen von Schikanen, Berufsverbot und Hausarrest hin zu Inhaftierung und teilweise Ermordung. Jüngstes Beispiel ist der Gewerkschaftsaufstand in der Stadt Zhanaosen, der in einem
beispielhaften Schauprozess mit 34 teilweise äußerst
fragwürdigen Verurteilungen sein unrechtes und nicht
der Aufklärung verpflichtetes Ende fand. Der Vorfall
von Zhanaosen wirft aber auch die drängende Frage
auf, ob die Beziehungen Deutschlands und der EU zu
den zentralasiatischen Regierungen politisch tragfähig
und menschenrechtlich vertretbar sind, oder ob
Deutschland und die EU Gefahr laufen, sich dem Vorwurf der doppelten Standards auszusetzen, wenn sie einerseits die Menschenrechtsverletzungen in den zentralasiatischen Ländern verurteilen, aber andererseits
keine Konsequenzen daraus für ihre Wirtschaftsbeziehungen zu den einzelnen Ländern ziehen.
Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern sind
notwendig, denn nur der Dialog schafft die Voraussetzungen für Veränderungen. Es müssen aber konkrete
Verbesserungen für die Menschen erreicht werden, reden allein kann da zu wenig sein. Seit Anfang 2012 läuft
eine Überprüfung der EU-Zentralasien-Strategie, die in
neuen EU-Ratsschlussfolgerungen zu Zentralasien münden soll. Dies ist sehr zu begrüßen. Wichtig erscheint
vor dem Hintergrund der Umbrüche in der arabischen
Welt besonders eine stärkere Fokussierung auf die Zivilgesellschaft, denn nur deren Erstarken wird einen demokratischen und friedlichen Wandel bewirken können.
Es gilt die hinsichtlich ihrer bürgerlichen Freiheiten
und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten politisch
enttäuschten Menschen zu adressieren und sie in die
Lage zu versetzen, sich zu vernetzen und politisch zu artikulieren.
Dann können jene kritischen Massen entstehen, die in
den arabischen Ländern Massenproteste in Gang gesetzt haben und die autoritäre Regime einer ganzen Region erschüttert und zum Einsturz gebracht haben.
Daneben müssen selbstverständlich die Projekte und
Initiativen zur Rechtsstaatlichkeit, zur Verbesserung der
Situation in den Gefängnissen und alle anderen weiter
gefördert und angemessen finanziell ausgestattet werden.
Das Gelingen sämtlicher Bemühungen wird von einer
stärkeren Hinwendung zur Zivilgesellschaft und ihrer
Akteure abhängen.
Ein Verharren bei den vermeintlich Mächtigen dieser
Länder kann dazu führen, dass die Ansprechpartner in
den jeweiligen Ländern wegbrechen, da eher mittel- als
langfristig mit einem Erstarken der Zivilgesellschaft in
den zentralasiatischen Ländern und damit mit einem
Ende der autoritären Regime zu rechnen ist.
Dann tun Deutschland und die EU gut daran, für den
Aufbau einer demokratischen Spielregeln verpflichteten
wirtschaftlichen und kulturellen Partnerschaft die entsprechenden Ansprechpartner zu kennen.
Ich begrüße die Debatte zu einer Region, die oft nur
durch die Brille der wirtschaftlichen und energiepolitischen Zusammenarbeit gesehen wird. Derweil sind die
Regierungen der zentralasiatischen Länder - Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan - für die Missachtung der Menschenrechte ihrer Bevölkerung bekannt. In einigen Ländern wie
Usbekistan und Turkmenistan hat sich die menschenrechtspolitische Situation seit dem Ende der Sowjetunion sogar noch verschlechtert. Turkmenistan gilt als
eines der repressivsten Länder der Welt. Kasachstan
wird immer noch von einem Spitzenpolitiker der ehemaligen Sowjetunion, Nursultan Nasarbajew, regiert, ohne
eine einzige nationale Wahl gemäß den OSZE-Wahlstandards abgehalten zu haben. In Usbekistan steht staatlich
organisierte Kinderarbeit und Zwangsarbeit auf der Tagesordnung. Die Forderungen an Usbekistan, eine ILOZu Protokoll gegebene Reden
Untersuchungskommission einreisen zu lassen, verhallen schon seit Jahren ungehört.
Wie in dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen richtig dargelegt, wird Stabilität in den semiautoritären bzw. autoritären Regimen Zentralasiens als
„Stabilität des Regimes“ verstanden; eine offene demokratische Gesellschaft dagegen als dessen Risiko, einhergehend mit Macht- und Reichtumsverlust für die
herrschende Elite.
Was der vorliegende Antrag allerdings nur unzureichend beleuchtet, ist die Diskrepanz zwischen den Ländern Zentralasiens. Die Heterogenität der Länder untereinander und die schwelenden Konflikte zwischen den
einzelnen Ländern dürfen nicht übersehen werden. Sie
sind für die Behebung menschenrechtlicher Vergehen
- auch diese sind in den jeweiligen Ländern unterschiedlich ausgeprägt - mit einzubeziehen. Während in
Zentralasien ethnische Konflikte zwischen den einzelnen
Ländern auf der einen Seite bestehen, herrschen Verteilungskonflikte um Wasser auf der anderen Seite. Manche
Länder profitieren von deren Öl- und Gasreichtum,
während Kirgisistan und Tadschikistan wirtschaftlich
stagnieren. Die wirtschaftliche und soziale Schieflage
zwischen den Ländern wird durch Probleme der organisierten Kriminalität, so beispielsweise des Drogenhandels aus Afghanistan, verschärft.
Die fehlende Stabilität der Region, resultierend aus
den genannten Konflikten, führt zu negativen Ausstrahleffekten - im Bereich der organisierten Kriminalität, des
Terrorismus etc. - bis nach Europa. Ein weiterer Punkt,
der Deutschland und Europa unmittelbar betrifft, ist die
Stabilisierung und die zukünftige Entwicklung Afghanistans. Denn auch diese ist eben nicht unabhängig von
der Situation in den umliegenden Nachbarstaaten. Zentralasien hat als geostrategische Brücke zwischen
Europa, Russland und China das Potenzial einer politischen und wirtschaftlichen Drehscheibe. Um jedoch ein
verlässlicher Partner Europas zu werden, sind Rechtsstaatlichkeit, verantwortliche Staatsführung und Demokratisierung sowie die Einhaltung von Menschenrechten
Voraussetzung. Diese sind ebenso Bedingungen für Sicherheit und Stabilität. Dafür setzt sich die Bundesregierung seit der 1991 gewonnenen Unabhängigkeit der
zentralasiatischen Länder ein.
Deutschland ist bisher das einzige EU-Land mit Botschaften in allen fünf zentralasiatischen Hauptstädten.
Gleichwohl ist die Einflusskraft Deutschlands und Europas auf Zentralasien begrenzt. In ihrer politischen Relevanz rangiert die EU hinter den in Zentralasien seit langem etablierten Akteuren Russland, China und den USA.
Dies unterstreicht umso mehr die Wichtigkeit eines gemeinsamen und konzertierten Vorgehens innerhalb
Europas. Die Zentralasienstrategie bietet dafür seit
2007 den ersten konzertierten Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen Europa und Zentralasien. Der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und die Achtung der
Menschenrechte stellen dabei einen Schwerpunkt der
Zentralasien-Strategie dar.
Deutschland engagiert sich sowohl im Rahmen der
EU-Zentralasien-Strategie als auch bilateral in vielfältiger Weise in Zentralasien. Die deutschen politischen
Stiftungen führen Programme zur Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Zentralasien durch.
Seit den 90er-Jahren unterstützt Deutschland die zentralasiatischen Staaten im Bereich der Rechts- und Justizreform. Andere Schlüsselbereiche des deutschen Engagements sind verantwortungsvolle Staatsführung und
Demokratisierung. Im Bereich der Rechts- und Justizreform fördert ein Regionalprojekt insbesondere den Aufbau der für die Gewährleistung von Menschenrechten
erforderlichen rechtsstaatlichen Strukturen. Im Rahmen
dieses Regionalvorhabens erfolgte beispielsweise auch
der Erfahrungsaustausch zwischen dem tadschikischen
Verfassungsgericht und dem deutschen Bundesverfassungsgericht. In einem weiteren Projekt finden Austausch und rechtliche Zusammenarbeit des Justizministeriums mit den Ministerien Kasachstans und
Usbekistans statt, zum Beispiel durch Seminare zum
Strafvollzug oder zur Gerichtsorganisation. Im Rahmen
der Zentralasienstrategie koordiniert Deutschland gemeinsam mit Frankreich die EU-Rechtsstaatsinitiative
für Zentralasien.
Zur Förderung des Menschenrechtsschutzes werden mit
allen zentralasiatischen Staaten strukturierte Menschenrechtsdialoge durchgeführt. In deren Rahmen erfolgt ein
intensiver Austausch mit hochrangigen Vertretern der Justiz- und Innenbehörden der zentralasiatischen Staaten.
Die erste Runde des EU-Menschenrechtsdialogs fand
2007 unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft statt.
Seit vielen Jahren fördert das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die
Modernisierung der Rechtssysteme in allen fünf zentralasiatischen Ländern. Seit 2002 wurden hierfür mehr
als 12 Millionen Euro bereitgestellt. Schwerpunkte der
Beratung sind das Zivil- und Wirtschaftsrecht sowie der
Aufbau unabhängiger und qualifizierter Organe der
Rechtspflege. Dabei findet ein ständiger Austausch sowohl der zentralasiatischen Staaten untereinander als
auch mit deutschen und europäischen Institutionen statt.
Deutschland unterstützt zudem ein Projekt mit der Venedig-Kommission des Europarats zur Anwendung internationaler menschenrechtlicher Standards.
Darüber hinaus wird der Aufbau von zivilgesellschaftlichen Organisationen auf unterschiedlichen Ebenen mit verschiedensten Instrumentarien unterstützt.
Zentrales Element der EU-Politik ist dabei das Programm „Nichtstaatliche Akteure und lokale Behörden in
der Entwicklungszusammenarbeit“, das für den Zeitraum 2007 bis 2013 mit Fördermitteln in Höhe von
4,36 Millionen Euro für Projekte in Zentralasien ausgestattet ist.
Auch in politischen Gesprächen mit den zentralasiatischen Regierungen setzt sich die Bundesregierung
nachdrücklich für die Verbesserung der Menschenrechtslage vor Ort ein. So war der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe zu Gesprächen bereits in Kirgisistan und in
Usbekistan.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vor diesem Hintergrund des deutschen Engagements
bündelt der vorliegende Antrag ein wichtiges Thema.
Doch auch wir als Parlamentarier sind bereits aktiv tätig. So reiste der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages letztes Jahr nach Tadschikistan und
informierte sich vor Ort über die Situation der Menschenrechte im Land. Die Reise nach Usbekistan steht
noch aus. Zudem haben Kollegen im Rahmen des Programms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“
Patenschaften übernommen; zum Beispiel hat Angelika
Graf, MdB, eine Patenschaft für den usbekischen Oppositionspolitiker und Menschenrechtsaktivisten Agzam
Turgunov übernommen. Ich fordere alle Kolleginnen
und Kollegen auf, sich ebenfalls am Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ zu beteiligen und
Patenschaften zu übernehmen. So erhöhen wir die Sichtbarkeit der verheerenden Menschenrechtssituation vor
Ort und erhöhen den Druck auf die politischen Eliten.
Jeder von uns kann etwas tun - für die Menschenrechte.
Ich freue mich, dass wir heute über Zentralasien sprechen. Der Region wurde lange Zeit viel zu geringe Beachtung geschenkt. Zentralasien gliedert sich in die fünf
Staaten Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Tadschikistan, zwischen und in denen zahlreiche ungelöste Konflikte bestehen. Vor allem Usbekistan
und Turkmenistan sind auch für den Transport und die
Logistik des Afghanistankrieges von hoher militärstrategischer Bedeutung. Und nicht zu vergessen: Zentralasien ist außerordentlich reich an Rohstoffen wie Erdöl,
Erdgas, Uran und seltenen Erden. Gleichzeitig existieren große ökologische Probleme von überregionaler Bedeutung wie das Verlanden des Aralsees und der Streit
um die Wassernutzungsrechte der Quellzuflüsse Amudarja und Syrdarja. Deshalb weisen Expertinnen und
Experten immer wieder darauf hin, dass sich die Region
in naher Zukunft zum wohl weltweit bedeutsamsten Austragungsfeld imperialer Gegensätze entwickeln könnte.
Gegenwärtig konkurrieren bereits die Großmächte
Russland, China und die USA um Einfluss in Zentralasien, die EU zeigt ebenfalls wachsendes Interesse.
Indien, Pakistan oder der Iran könnten bald noch hinzukommen. Die Türkei verfügt aufgrund ihrer engen
sprachlichen und kulturellen Verbindungen ohnehin
über historisch enge Sonderbeziehungen zu den TurkRepubliken.
Insgesamt ist dies eine komplexe Ausgangsituation, in
der sich die Frage stellt, mit welcher Politik Deutschland bzw. die EU die Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern künftig gestalten will und um welche
konkreten Interessen es hierbei gehen soll. Ein erster
Eindruck lässt sich durch die EU-Zentralasien-Strategie
gewinnen. Unter dem Stichwort „Good Governance“
wird als abstraktes Ziel zwar auch die Förderung von
Menschenrechten und Demokratie erwähnt, insgesamt
dominieren aber wirtschaftliche Interessen, vor allem im
Bereich der Energiezusammenarbeit. Konkret geht es
um die Diversifizierung der Energiebezugsquellen und
Transitwege im Rahmen zu errichtender marktwirtschaftlicher Strukturen in Zentralasien. Das bedeutet
nichts anderes, als dass Demokratie und Menschenrechte in der Praxis unter wirtschaftlichem Vorbehalt
stehen sollen. Wie heißt es doch in der EU-ZentralasienStrategie? Ich zitiere:
Die EU unterstützt die Beseitigung von Handelshemmnissen zwischen den zentralasiatischen Staaten und setzt sich weiterhin dafür ein, dass die vier
zentralasiatischen Staaten, die noch nicht Mitglieder der WTO sind, der WTO unter handelspolitisch
tragbaren Bedingungen und in voller Übereinstimmung mit den WTO-Anforderungen beitreten können. Der WTO-Beitritt ist der Schlüssel zu einer
weiterreichenden Reform und Diversifizierung der
Wirtschaft und einer besseren Integration der Staaten in das internationale Handels- und Wirtschaftssystem.
Im Kern sollen die zentralasiatischen Länder nur das
neoliberale Wirtschaftsmodell der EU übernehmen, damit die EU leichter an die dortigen Rohstoffe kommt und
neue Absatzmärkte für sich selbst gewinnt. Das bedeutet: Wenn dabei gegebenenfalls auch mehr Demokratie
in den zentralasiatischen Ländern herauskommt, dann
ist dies sicherlich gut; wenn dabei aber keine Demokratie herauskommt, dann ist dies im Zweifelsfall egal. Das
ist mehr als nur ein menschenrechtspolitisches Armutszeugnis.
Es ist Tatsache, dass die EU und die deutsche Bundesregierung jederzeit gern bereit sind, mit autoritären Regimen zusammenzuarbeiten, solange dies für sie wirtschaftliche oder geostrategische Vorteile bringt. Solange
die herrschenden Eliten in autoritär regierten Staaten
kooperationswillig sind, wird selbst zu massiven Menschenrechtsverletzungen hartnäckig geschwiegen. Sind
sie hingegen nicht oder nicht mehr zur Kooperation bereit, werden plötzlich die Menschenrechte entdeckt oder
oppositionelle Kräfte dazu ermutigt, einen Regimewechsel herbeizuführen. Häufig wird dabei das Völkerrechtsprinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten nach der UN-Charta
missachtet und selbst militärische Interventionen werden zunehmend im Namen der Menschenrechte geführt.
Das Ergebnis sind menschenrechtliche Doppelstandards: Während die Bundesregierung an Saudi-Arabien
Kampfpanzer geliefert hat, die ja nicht zufällig bei der
Niederschlagung der Demokratiebewegung in Bahrain
zum Einsatz kamen, trat sie im Fall des LukaschenkoRegimes in Belarus vorgeblich der Menschenrechte wegen als Fürsprecherin von verschärften EU-Sanktionen
auf. Die blutige Unterdrückung der friedlichen Gewerkschaftsproteste in Kasachstan wurde von der Bundesregierung nicht kommentiert, der Abschluss eines Partnerschaftsabkommens mit Nursultan Nasarbajew war ihr
wichtiger. Demgegenüber wurden bestimmte Demokratieprobleme in Aserbaidschan und der Ukraine im Vorfeld des Eurovision Song Contests bzw. der Fußball-EM
umgehend verallgemeinert und geradezu hysterisch
politisiert.
Bei allen genannten Fällen bestanden durchaus konkrete Missstände, die Kritik verdienten. Die vorgeblichen „nationalen Interessen“ Deutschlands, mittels
Zu Protokoll gegebene Reden
derer die Bundesregierung aber entscheidet, ob und wie
sie Kritik ausübt oder auf Kritik verzichtet, sind Ausdruck ihrer politischen Doppelmoral. In Wahrheit dient
dies nur den herrschenden Eliten und Großkonzernen,
jedoch nicht der Bevölkerung. Die Linke fordert die
Bundesregierung auf: Beenden Sie endlich ihre politische Heuchelei beim Thema Menschenrechte!
Sie werden jetzt wieder danach fragen, was denn unsere Vorschläge seien. Ich will sie Ihnen nicht vorenthalten:
Mit einigen Abstrichen im Fall Kirgisistans herrschen in allen zentralasiatischen Republiken autoritäre
Regime, die mitunter sogar notstandsfeste Menschenrechte wie das absolute Folterverbot systematisch verletzen oder die ausbeuterische Kinderzwangsarbeit tolerieren bzw. sogar aktiv fördern. Das ist vollkommen
inakzeptabel und zu Recht empörend, dennoch lassen
sich Menschenrechte und Demokratie nicht erzwingen
oder herbeibomben. Menschenrechte erfordern eine zivile Logik. Die Linke fordert einen konsequenten und
kritischen Menschenrechtsdialog mit den zentralasiatischen Staaten und die Schaffung von geeigneten politischen und wirtschaftlichen Anreizen für menschenrechtliche Fortschritte.
Der Förderung von Nichtregierungsorganisationen
und Gewerkschaften ist Vorrang einzuräumen, da dies
die demokratische Zivilgesellschaft insgesamt stärkt.
Soziale Entwicklung und Demokratie erfordern auch
andere wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Linke
ist nicht gegen internationalen Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Entscheidend sind die Bedingungen und, ob alle Beteiligten auch tatsächlich davon profitieren.
Die zentralasiatischen Länder leiden meist noch
unter historisch bedingten, technologisch wenig entwickelten und umweltschädlichen Monowirtschaften, vor
allem im Bereich der Rohstoffgewinnung. Dies betrifft
die Erdöl- und Erdgasproduktion, aber auch die Baumwollgewinnung und die Elektrizitätserzeugung. Die Diversifizierung der Binnenwirtschaft und der Ausbau der
Infrastruktur bei Verkehr, Telekommunikation, Gesundheitsversorgung sind längst noch nicht abgeschlossen.
Gerade im Bereich der Industrie- und Konsumgüterproduktion müssten viel stärker kleinere und mittlere Unternehmen gefördert werden, um insbesondere in den teilweise großflächigen ländlichen Räumen Zentralasiens
regionale Wirtschaftskreisläufe und eine zahlungskräftige Binnennachfrage zu schaffen.
Dabei ist es sehr wichtig, dass deutsche Unternehmen, die in den zentralasiatischen Staaten tätig sind,
internationale Menschenrechtsstandards und die Kernarbeitsnormen der ILO einhalten. Es ist völlig inakzeptabel, wenn deutsche Unternehmen einheimische
Arbeitskräfte zu menschunwürdigen Bedingungen beschäftigen und damit ihrerseits zu Menschenrechtsverletzungen beitragen oder diese verursachen. Es ist beispielsweise seit langem bekannt, dass in Usbekistan zur
Baumwollernte Kinder zur Zwangsarbeit verpflichtet
werden. Die Linke fordert: Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit müssen international geächtet werden! Hier muss auch die ILO ihrer internationalen Verantwortung zur Durchsetzung der Konventionen zur
Abschaffung von Zwangsarbeit und den schlimmsten
Formen der Kinderarbeit stärker gerecht werden. Die
Linke fordert die deutschen Arbeitgeberverbände auf,
dass sie ihre Blockadehaltung in der ILO aufgeben,
damit das Thema Kinderzwangsarbeit in Usbekistan
endlich behandelt werden kann. Die Linke ist auch
gespannt, wie sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen zu diesem Thema verhalten werden.
Über diese und andere Aspekte des Antrags von SPD
und Grünen werden wir in den Ausschüssen in den
nächsten Wochen diskutieren. Ich freue mich auf eine
kritische Debatte.
Ich freue mich, dass wir heute einen gemeinsamen
rot-grünen Zentralasien-Antrag einbringen können. Leider widmen wir uns der Region im Bundestag nur selten.
Dabei nimmt die sicherheitspolitische Bedeutung Zentralasiens im Rahmen des ISAF-Abzugs aus Afghanistan
für die NATO-Staaten zu. China und Russland bauen ihr
Engagement in der Region stark aus, und Europa spielt
trotz der EU-Zentralasien-Strategie von 2007 nur eine
begrenzte Rolle in Zentralasien. Doch der als Great
Game bezeichnete Kampf externer Großmächte um die
Vormachtstellung in Zentralasien und die Gunst der
größtenteils extrem autoritären Regime ist nicht das,
woran wir uns beteiligen sollten; er wird auf dem Rücken
der Menschen in Zentralasien ausgetragen und trägt
nicht zur Stabilität der Region bei, im Gegenteil.
Die Bundesregierung trägt jedoch etwa mit der bilateralen Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan oder dem
nicht öffentlich zugänglichen militärischen Transitvertrag mit Usbekistan zu diesem Great Game bei. Das gestern vorgestellte Asien-Konzept der CDU/CSU-Fraktion
hat den engstirnigen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Ansatz der Bundesregierung gegenüber Zentralasien noch mal eindeutig bestätigt.
Mit dem Antrag „Die Menschenrechte in Zentralasien stärken“ möchten wir dazu einen deutlichen Gegenpol setzen: Die so wichtige dauerhafte Stabilität der
Region hängt ganz entscheidend davon ab, ob sich verantwortungsvolle Staatsführung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte in Zentralasien entwickeln können. Doch momentan scheint nur in Kirgisien
mit der friedlichen Machtübergabe und einem gestärkten Parlament eine solche Entwicklung in näherer Zukunft denkbar.
Insgesamt müssen wir einsehen, dass wir mit dem
bisherigen Politikansatz der EU-Zentralasien-Strategie
keine relevanten Erfolge erzielt haben; teilweise gab es
sogar gravierende Rückschritte in der Menschenrechtslage. Diese Realität müssen wir anerkennen und eine
überzeugende Antwort für die Gestaltung deutscher und
europäischer Politik finden. Doch leider habe ich den
Eindruck, dass der Evaluierungsprozess der EU-Zentralasien-Strategie im ersten Halbjahr dieses Jahres dieZu Protokoll gegebene Reden
ses Problem umgangen hat und der Rat der Außenminister demnächst ein Weiter-so in Bezug auf Zentralasien
beschließen wird.
Unser Antrag fordert dagegen eine Neuausrichtung
der deutschen und europäischen Zentralasien-Politik,
die sich an der Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen orientiert. Dies betrachten wir als eine zentrale
Lehre aus dem arabischen Frühling. Dieser hat gezeigt,
wie schnell junge Generationen, die nach ökonomischen
Perspektiven und persönlichen Freiheiten streben, eine
ganze Reihe autoritärer Regime hinwegfegen können.
Wir dürfen uns zwar in dieser Hinsicht in Zentralasien
keinen falschen Hoffnungen hingeben. Aber die scheinbare Stabilität der Regime wird spätestens mit dem Ableben langjähriger Präsidenten erschüttert werden. Ob
die darauf anstehenden Machtwechsel friedlich stattfinden werden, bleibt eine offene Frage.
Eine selbstbewusste Zivilgesellschaft wäre für eine
friedliche Entwicklung jedenfalls ein entscheidender
Faktor. Deswegen sollten wir uns jetzt ganz genau überlegen, mit welchen Mitteln wir die Entstehung bzw. Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Zentralasien
unterstützen können. Dazu sind einerseits klare Worte in
Menschenrechtsfragen notwendig; hierzu haben wir
eine Reihe konkreter Forderungen in unserem Antrag
aufgelistet. Es darf zum Beispiel nicht sein, dass in Usbekistan aus sicherheitspolitischen Erwägungen und im
Fall Kasachstan aufgrund von Rohstoffinteressen Menschenrechtsstandards aufgeweicht werden, weil es vermeintlich um Wichtigeres geht.
Andererseits müssen wir uns auch selbstkritisch fragen: Was sind wir bereit zu investieren, um Veränderungsprozesse in Zentralasien zu fördern? Ich denke, ein
wichtiger Aspekt muss hier die Visapolitik sein. Was für
die östliche Partnerschaft gelten sollte, muss auch für
die Gesellschaften in Zentralasien eine Perspektive darstellen. Ich spreche von erleichterten Einreisemöglichkeiten in Bezug auf die EU, die positive gesellschaftliche
und politische Veränderungen anstoßen können.
Selbstverständlich können bessere Reisemöglichkeiten nur ein Ansatzpunkt sein, und die Stärkung der Zivilgesellschaft in Zentralasien ist kein einfaches Unternehmen - die Rahmenbedingungen sind mehr als widrig.
Aber das macht sie nicht weniger notwendig, und ich
hoffe, wir können mit unserem Antrag einen wichtigen
Impuls in diese Richtung geben.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9924 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Sie sind einverstanden. Das ist so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 30:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Andreas G. Lämmel,
Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto
Solms, Dr. Martin Lindner ({0}), Claudia
Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Neue Herausforderungen der regionalen Wirtschaftsstruktur meistern - GRW fortführen
und EU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert
gestalten
- Drucksache 17/9938 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Reden sind wiederum zu Protokoll genommen.
Deutschland ist ein vielfältiges Land mit starken Regionen. In Deutschland gibt es nicht eine dominante Metropole und einen Rest flache Provinz. Die Mehrheit der
Deutschen lebt nicht in Großstädten, sondern in ländlichen Regionen oder mittleren Städten. Dementsprechend konzentriert sich das wirtschaftliche Geschehen
auch nicht auf eine Metropolregion. Die Vielfalt von
Stadt und Land spiegelt sich auch in der heterogenen
wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen wider. Es
gibt Regionen, da herrscht Vollbeschäftigung, während
in anderen Teilen des Landes leider eine höhere Arbeitslosenquote zu verzeichnen ist. Weiterhin sind viele
Regionen von den Großtrends wie Strukturwandel, Globalisierung oder der deutschen Einheit höchst unterschiedlich betroffen.
Gleichzeitig verlangt das Grundgesetz die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland.
Das zentrale und bewährte Instrument dafür ist seit
1969 die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW. Gemeinsam unterstützen Bund und Länder strukturschwache Regionen, die den Strukturwandel nicht aus eigener
Kraft bewältigen können bzw. die vor besonderen regionalen Herausforderungen stehen. Hauptziel ist die
Schaffung und Sicherung dauerhaft wettbewerbsfähiger
Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen durch die
Förderung von gewerblichen Investitionen, Investitionen in die wirtschaftsnahe Infrastruktur und gezielte
Maßnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit
kleiner und mittlerer Unternehmen. Die GRW zielt also
auf die Aktivierung der regionalen Wirtschaftskraft als
Hilfe zur Selbsthilfe ab.
Im Rahmen der regelmäßigen Evaluation der GRW
wird ihre positive Wirkung ständig bestätigt. Schwerpunkte der Förderung liegen eindeutig bei kleinen und
mittleren Unternehmen und bei Innovationen. So haben
die geförderten Unternehmen zwischen 1998 und 2008
einen Beschäftigungszuwachs in Höhe von durchschnittlich 4,6 Prozent und einen Einkommenszuwachs in Höhe
von 6 Prozent erziehlt. Gerade in den jüngsten Krisenjahren konnte mit dem Sonderprogramm der GRW auf
ein bewährtes und eingespieltes System zurückgegriffen
werden, um die wirtschaftliche Basis in den strukturschwachen Regionen zu stärken. Zwischen 2008 und
2010, also während des heftigsten Einbruchs der Konjunktur in der Geschichte der Bundesrepublik, führten
5,8 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von Bund und Ländern sowie EFRE-Mittel der Europäischen Union zu
25,1 Milliarden Euro Investitionen von Unternehmen. In
der gewerblichen Wirtschaft wurden über 74 000 neue
Dauerarbeitsplätze geschaffen und circa 301 000 Dauerarbeitsplätze erhalten. Hohe Mittelabflüsse von über
90 Prozent belegen das hohe Interesse seitens der Bundesländer und der Unternehmen vor Ort.
Nun steht die regionale Wirtschaftspolitik in Deutschland vor einer großen Herausforderung:
Die beihilferechtlichen Rahmenbedingungen für die
nationale Regionalpolitik werden von der Europäischen
Kommission für die neue Förderperiode ab dem Jahr
2014 neu ausgerichtet. Diese Regeln werden festlegen,
wo und was zukünftig in Deutschland regionalpolitisch
gefördert werden darf.
Der demografische Wandel wirkt zuerst in ländlichen
und strukturschwachen Räumen, also in jenen Gebieten,
auf die sich die GRW-Mittel konzentrieren.
GRW-Mittel stehen auch für die gewerbliche Umwidmung ehemaliger Bundeswehrstandorte zur Verfügung.
Die angelaufene Reform der Bundeswehr stellt eine
neue Aufgabe für die GRW dar.
Die Investitionszulage für Unternehmen in Ostdeutschland wird Ende des Jahres 2013 auslaufen. Der
Solidarpakt II zur Unterstützung der ostdeutschen Bundesländer ist bis zum Jahr 2019 befristet. Die Mittel aus
den europäischen Strukturfonds werden in Deutschland
ab dem Jahr 2014 vermutlich ebenfalls erkennbar zurückgehen, sodass der GRW eine höhere regionalpolitische Verantwortung zukommt.
Die europäischen Strukturfonds werden ab 2014 neu
fokussiert.
Von daher werden momentan die Weichen dafür gestellt, dass die GRW effektiv und flexibel zur Stärkung
der Regionen im Standortwettbewerb beitragen kann
und auch die strukturschwachen Regionen ihren Anteil
am gesamtdeutschen Wirtschaftswachstum leisten können.
Die christlich-liberale Koalition steht zur GRW als
zentrales Instrument der regionalen Wirtschaftspolitik.
Wir bekennen uns aber ebenfalls zur Schuldenbremse.
Daher musste auch die GRW ihren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. Im Gegensatz zu mancher
Vorgängerregierung haben wir die GRW aber nicht als
haushalterischen Steinbruch genutzt. Außerdem haben
wir in den parlamentarischen Haushaltsberatungen dieser Legislaturperiode den Regierungsvorschlag stets ein
wenig zugunsten der GRW verschoben.
Im Rahmen der Haushaltsmittel und der Schuldenbremse steht diese Koalition zur Fortführung des Haushaltstitels der GRW auf bestehendem hohem Niveau und
zu einer finanziellen Ausstattung, die gewährleistet,
dass sie strukturell wirksam bleibt und die neue Aufgabe
der Konversion ehemaliger Bundeswehrliegenschaften
entsprechend gewürdigt wird. Weiterhin erwarten wir
von den Regierungen der Bundesländer, dass sie die paritätische Kofinanzierung durch Landesmittel sicherstellen. Die GRW ist eine Gemeinschaftsaufgabe.
Tiefgreifende Entscheidungen für die regionale Wirtschaftspolitik in Deutschland werden momentan auf EUEbene vorbereitet. In diesen Verhandlungen unterstützen
wir die Bundesregierung bei den Verhandlungen zur
Weiterentwicklung der Regionalleitlinien der Europäischen Union. Es muss faire und wirksame Übergangsregelungen für Regionen geben, die ihren Status
als A-Fördergebiet verlieren. In Deutschland betrifft
dies konkret die Unterstützung des Angleichungsprozesses der ostdeutschen Bundesländer. Entsprechend dem
Grundsatz der Subsidiarität müssen auch künftig nationale Spielräume zur wirkungsvollen Förderung strukturschwacher Regionen in den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union bestehen. Dies betrifft auch die
Förderung strukturschwacher Regionen in Westdeutschland.
Wir bestärken daher die Bundesregierung in den Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Leitlinien der
Regionalpolitik der Europäischen Union in ihrem Einsatz unter anderem für die Verlängerung der Übergangsperiode für Ex-A-Gebiete bis 2020, die Begrenzung des Fördergefälles zu Höchstfördergebieten auf
15 Prozentpunkte und die Fördermöglichkeit von Großunternehmen auch in Ex-A- und C-Gebieten.
Auch bei den Verhandlungen über die zukünftige Kohäsionspolitik unterstützen wir die Bundesregierung.
Insbesondere begrüßen wir, dass die Strukturfonds verstärkt auf die Ziele der Strategie „Europa 2020“ ausgerichtet werden und damit Wettbewerbsfähigkeit und
nachhaltiges Wachstum vorantreiben. Dabei muss die
Kohäsionspolitik weiter auf das Vertragsziel, den Abbau
regionaler Entwicklungsunterschiede, ausgerichtet bleiben. Wir brauchen einen effizienten und zweckmäßigen
Einsatz der EU-Mittel in allen Staaten. Daran hat es in
den letzten Jahren oft gefehlt, wie wir heute sehen können. Von daher ist die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene thematische Ausrichtung und Konzentration der künftigen Kohäsionspolitik in weiten
Teilen sinnvoll. Allerdings müssen den Regionen dabei
Spielräume verbleiben, um den spezifischen regionalen
Bedürfnissen und Erfordernissen Rechnung tragen zu
können.
Die Bundesregierung hat unsere Unterstützung in den
weiteren Verhandlungen des Legislativpaketes für die
Kohäsionspolitik. Es geht unter anderem um ein Sicherheitsnetz für ehemalige Konvergenzregionen, das mindestens zwei Drittel der Förderung der Jahre 2007 bis
2013 entspricht, der Sicherstellung eines effizienten und
zweckmäßigen Einsatzes der EU-Mittel in allen Mitgliedstaaten und deren regelmäßige Fortschritts- und
Zu Protokoll gegebene Reden
Erfolgskontrolle sowie die Senkung der Bürokratiekosten bei der Umsetzung der Kohäsionspolitik für alle Beteiligten, insbesondere für die nationalen Behörden und
die betroffenen Unternehmen. Weiterhin ist uns die Abfederung des Förder- und Behilfengefälles in den Grenzregionen wichtig.
Wir werden über diesen Antrag noch vertiefend in
verschiedenen Ausschüssen diskutieren. Ich werbe um
die Zustimmung aller Fraktionen. Die regionale Wirtschaftspolitik verdient unser aller Unterstützung, gerade
bei den Verhandlungen in Brüssel.
Es ist erstaunlich, dass die Koalitionsfraktionen
knapp 15 Monate brauchten, um nach der Einbringung
unseres Antrages „Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe
‚Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur‘ - Finanzierung langfristig sichern“ jetzt einen eigenen Antrag einzubringen, der in weiten Teilen deckungsgleich
mit unserem ist. Das hätten wir einfacher haben können,
indem wir uns bereits im letzten Jahr zusammengeschlossen hätten. Aber damals wollten oder durften das
die Koalitionsfraktionen nicht. Denn wenn ich mir jetzt
Ihren Antrag ansehe, bekomme ich ein déjà vu.
Es ist gut, dass alle im Bundestag vertretenen Fraktionen die Auffassung teilen, dass die GRW die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land erheblich nach
vorne gebracht hat. Die hier investierten Gelder zahlten
sich um ein Mehrfaches aus. Nicht nur wurden erhebliche Investitionen angestoßen, auch der Aufwuchs an Arbeitsplätzen war und ist beachtlich. Wegen der Verteilung der Mittel in den Osten unseres Landes ist dort die
Wirkung auch am größten. Aber das wollen wir ja so,
hier muss sehr schnell eine wirtschaftliche Dynamik einsetzen, um jungen Menschen eine Perspektive in ihrer
Heimat zu geben. Wir können es nicht einfach hinnehmen, dass ganze Landstriche keine Jugend mehr haben.
Das hat Folgen für die Infrastruktur, angefangen von
der Versorgung des täglichen Bedarfs bis hin zu Handwerksbetrieben, Ärzten, Sozialdiensten und vielem mehr.
Hier kommt der GRW eine wesentlich größere Bedeutung zu, als viele glauben.
In der Zwischenzeit sehen wir, dass zunehmend auch
im Westen Gebiete entstanden sind, die unserer Aufmerksamkeit und unserer Unterstützung bedürfen. Das
sind aber nicht nur die ehemaligen Zonenrand- und
bayerischen Grenzgebiete, sondern auch Regionen, in
denen die klassische, traditionelle Industrie wegen der
günstigeren Produktionsstandorte im europäischen und
asiatischen Ausland zusammengebrochen ist. In meiner
Heimatregion, der Pfalz, betrifft es Pirmasens, einst die
Hochburg der deutschen Schuhindustrie. Unser Anliegen muss hier eine innovative Wirtschaftsförderung sein,
wie sie das Land Rheinland-Pfalz bereits bei den Konversionsgebieten der ehemaligen US-Streitkräfte-Stützpunkte durchgeführt hat. In Kaiserslautern entstand auf
dem großen Kasernengelände direkt neben der A 6 ein
Technologiepark, der gute, interessante und innovative
neue Arbeitsplätze zu bieten hat.
Kommen wir zurück zu Ihrem Antrag. Ich verstehe ja,
dass Sie unseren Antrag nicht ohne eigene Antwort behandeln wollen. Und erstaunlich ist, wie konkret jetzt
Ihre Forderungen gegenüber Ihrer eigenen Bundesregierung sind. Fast zu allen Ihren Forderungen finden
sich Entsprechungen in unserem Antrag - nur, wie gesagt, 15 Monate früher.
Ja, es ist richtig, eine Diskussion über die Zukunft der
Kohäsionspolitik zu führen und sie auf die Strategie Europa 2020 auszurichten.
Es stimmt auch, dass die Investitionszulage für Unternehmen in Ostdeutschland Ende 2013 ausläuft. Wir
hatten vorgeschlagen, deshalb die GRW mit entsprechend mehr Finanzmitteln auszustatten. Letztes Jahr
hätten Sie bereits dafür kämpfen können, statt es jetzt zu
bedauern.
Was ich als sinnvolle Ergänzung zu unseren bisherigen Forderungen betrachte, ist Ihre Forderung, GRWMittel auch für die gewerbliche Umwidmung ehemaliger
Bundeswehrstandorte zur Verfügung zu stellen. Wie gesagt, weiß ich, wovon ich spreche, da mein Bundesland
Rheinland-Pfalz eine ganze Arie zu dem Problem Konversion singen könnte. Dann sollten Sie aber Ihre Forderungen konsequenter durchdenken. Denn wie soll das in
der Haushaltsplanung für 2013 aussehen, in der „die
Rolle der GRW bezüglich der Konversion“ entsprechend
gewürdigt werden soll, andererseits der „Haushaltstitel
der GRW auf bestehendem hohem Niveau“ fortgeführt
und finanziell so ausgestattet werden soll, dass die GRW
strukturell wirksam bleibt? Heißt das nun, dass der diesjährige Ansatz bestehen bleiben soll, oder soll er gekürzt
werden, oder soll er vielleicht sogar aufgestockt werden,
eben für diese neue Aufgabe?
Hier kneifen Sie, hier bleiben Sie im Ungenauen, Sie
können sich nicht dazu durchringen, die von uns schon
im letzten Jahr geforderten zusätzlichen Mittel von der
eigenen Bundesregierung einzufordern, obwohl Sie
schon damals uns eigentlich recht gaben. Und da hatten
wir noch gar nicht die Konversion mit im Gepäck. Wie,
glauben Sie, soll die Förderung für Konversionsgebiete
vonstatten gehen?
Sind Sie sicher, dass Sie das mit Ihrer Regierung so
abgesprochen haben?
Etwas gewundert hat mich, dass Sie auch Selbstverständlichkeiten in Ihren Forderungskatalog schreiben,
zum Beispiel den Punkt II Ziffer 3. Bisher war doch klar,
dass die Bundesländer die paritätische Cofinanzierung
der GRW übernehmen müssen. Wieso „bestehen“ Sie
jetzt darauf? Gibt es da eventuell neue Bestrebungen?
Noch nicht ganz verstehen kann ich Ihre Aufforderung
an Ihre eigene Regierung, dass diese sich in den anstehenden Verhandlungen für „die Förderfähigkeit von Unternehmensinvestitionen auch außerhalb von KMU“ einsetzt - das ist Punkt 16. Und bereits in Punkt 10 fordern
Sie von der Bundesregierung deren Einsatz für „die Fördermöglichkeit von Großunternehmen auch in Ex-A- und
C-Gebieten“.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn dies jetzt nicht gelänge, bestünde dann tatsächlich die Gefahr, dass Regelungen aus Brüssel unseren
„grundgesetzlichen Auftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland“ behindern
würden? Was befürchten Sie da?
Wen genau meinen Sie mit den Großunternehmen, die
förderbar werden sollen? Eigentlich wundert mich, dass
die FDP ein solches Ansinnen mitträgt.
Nun, wir werden hoffentlich bald Gelegenheit haben,
uns mit den Anträgen und den sich daraus ergebenden
Fragen dann endlich auch im Unterausschuss zu befassen, nachdem wir darauf jetzt über ein Jahr lang warten
mussten.
Die Koalition stärkt die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW.
Das ist eine gute Nachricht für die Wirtschaft in strukturschwachen Regionen. Die Gemeinschaftsaufgabe wird
mit zusätzlichen Finanzmitteln in Höhe von 39 Millionen
Euro ausgestattet, ohne dabei den Bundeshaushalt zusätzlich zu belasten. Das wiederum ist eine gute Nachricht für den Steuerzahler und ganz im Sinne unseres
Ziels einer Haushaltskonsolidierung. Die GRW-Mittel
steigen damit von den ursprünglich im Regierungsentwurf des Bundeshaushalts für 2012 vorgesehenen
557 Millionen Euro auf 596 Millionen Euro an. Das bedeutet die Fortführung der Regionalförderung, entsprechend des Koalitionsvertrages, auf hohem Niveau, trotz
notwendiger Sparmaßnahmen im Zuge des beschlossenen Sparpakets.
Die investive GRW-Förderung leistet einen wirkungsvollen und nachhaltigen Beitrag zur Stärkung wettbewerbsfähiger Strukturen und zum Aufbau nachhaltiger
Beschäftigung. Damit kann die GRW ihre erfolgreiche
Förderung strukturschwacher Regionen in den ost- und
westdeutschen Bundesländern fortsetzen. Gerade vor
dem Hintergrund der wegfallenden Investitionszulage
und Unsicherheiten über die Zuflüsse aus dem EFRE ab
2014 ist eine hinreichende Ausstattung der GRW für
eine wirkungsvolle Regionalpolitik erforderlich. Der
Umfang der im Haushalt 2012 ausgebrachten Verpflichtungsermächtigungen ermöglicht den Bundesländern
Mittel für Investitionen in den kommenden drei Jahren in
notwendiger Höhe zu bewilligen und damit eine kontinuierliche und nachhaltige Förderung zu gewährleisten.
Diese Entscheidung ist ein deutliches Signal an die Regierungen der Bundesländer, ihrerseits entsprechende
Haushaltsmittel bereitzustellen.
Als Beauftragte für IT-Kommunikation meiner Fraktion
und stellvertretende Vorsitzende der Koalitionsarbeitsgruppe „Ländliche Räume, regionale Vielfalt“ möchte
ich besonders einer Verwendung der zusätzlichen Finanzmittel für die Förderung des Breitbandausbaus anregen.
Die Standortnachteile ländlicher Regionen, die in Sachen Breitbandausbau noch Defizite aufweisen, können
so in Angriff genommen werden.
Die GRW-Förderung wirkt, und das belegt auch die
hohe Abfrage der Mittel seitens der Bundesländer und
Unternehmer. Auch in Phasen einer schleppenden Konjunktur hat sich die Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur bewährt. Das bestätigt die Evaluierung
der GRW-Förderung zwischen 2008 und 2010. Demnach stiegen die Investitionen von Unternehmen, es
konnten Arbeitsplätze geschaffen und erhalten werden.
Diese Ergebnisse bestärken uns in der Entscheidung,
die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ fortzuführen.
Die Kohäsionspolitik gehört zu den Kernaufgaben
der EU. Sie soll die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten und einzelnen
Regionen verringern. Ein Drittel des gesamten EUHaushalts wird dafür ausgegeben. Mit den Geldern werden zum Beispiel Investitionen in kleine und mittlere
Unternehmen, KMU, Qualifizierungsprojekte für Arbeitslose und Infrastrukturmaßnahmen gefördert. Einige
Entwicklungsunterschiede konnten so schon reduziert
werden. Kohäsionspolitik stärkt den wirtschaftlichen,
sozialen und territorialen Zusammenhalt.
In Deutschland haben vor allem die ostdeutschen
Bundesländer von den EU-Fördermitteln profitiert. So
wurde die Erneuerung der Infrastruktur, die Förderung
von Forschung und Entwicklung und die Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit möglich. In Deutschland selbst wird
außerdem über die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“,
GRW, an der Gleichstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland gearbeitet.
Ab 2014 sollen neue EU-Vorgaben für die Regionalpolitik gelten. Damit fallen Entscheidungen darüber, wo
und was zukünftig in Deutschland regionalpolitisch gefördert werden darf. Diese Weichenstellungen müssen
der Grundidee der Struktur- und Kohäsionspolitik gerecht werden!
Die Bundesregierung will mit Strukturpolitik, „insbesondere wirtschaftlich schwächeren Regionen dabei helfen, Standortnachteile abzubauen und Anschluss an die
allgemeine Wirtschaftsentwicklung zu halten“. Aber das
darf nicht das einzige Ziel sein. Mit diesen Geldern muss
auch der sozial-ökologische Umbau vorangetrieben
werden. Regionale Wirtschaftskreisläufe müssen gestärkt werden statt einseitiger Exportorientierung. Bei
den geförderten Investitionsprojekten müssen Tarifverträge eingehalten und ökologische Standards sichergestellt werden. Und selbst wenn Wirtschaftswachstum
nicht wie erhofft generiert werden kann, dürfen strukturschwache Regionen nicht abgeschrieben werden. Das
heißt, in Regionen, die besonders vom demografischen
Wandel betroffen sind, stellt sich weniger die Frage, wie
Wachstum initiiert werden kann. Hier geht es darum, Lebensqualität langfristig zu sichern und so auch dem
Schrumpfen der Bevölkerung entgegenzuwirken.
Im vorliegenden Antrag der schwarz-gelben Koalition begrüßen wir die Forderung, die Rolle der GRW bezüglich der Konversion ehemaliger Bundeswehrliegenschaften entsprechend zu würdigen. Auch unterstützen
Zu Protokoll gegebene Reden
wir das Ansinnen, faire Übergangsregelungen für die
ostdeutschen Bundesländer und andere Regionen zu
schaffen, die ihren Status als A-Fördergebiet verlieren.
Für die Förderung von Großunternehmen ist die EURegionalpolitik allerdings weder geeignet, noch wird sie
dafür gebraucht. Aber genau das fordert die Regierungskoalition. Wir fordern stattdessen, dass die ohnehin nicht gerade üppig bemessenen Gelder den Kernaufgaben der Regionalpolitik zugutekommen sollen.
Außerdem müssen die Kriterien des Verteilungsmechanismus erweitert werden. Bisher wird die Förderbedürftigkeit von Regionen ausschließlich nach wirtschaftlichen Kennzahlen ermittelt. Aber auch vom
demografischen Wandel besonders betroffene Regionen
müssen explizit berücksichtigt werden.
Darüber hinaus muss sich die Bundesregierung in
den Verhandlungen mit der EU für folgende drei Punkte
einsetzen:
Erstens darf die Kohäsionspolitik nicht zu einem
bloßen Umsetzungsinstrument der EU-2020-Strategie
werden. Die Verbindung von Kohäsionspolitik mit der
neoliberalen EU-2020-Strategie brauchen wir nicht.
Zweitens muss sich die Mittelvergabe aus dem Europäischen Sozialfonds mehr auf die Förderung von „Guter Arbeit“ und auf die Armutsbekämpfung richten.
Wettbewerbsfähigkeit ist kein Ziel an sich.
Drittens ist die Idee der „makroökonomischen Konditionalität“ sofort zu verwerfen. Die EU-Kommission
will damit durchsetzen, dass Mitgliedstaaten, die sich einem Defizitverfahren aufgrund der Verletzung der
Maastricht-Kriterien unterziehen müssen, mit einem
teilweisen Entzug von Mitteln aus den Strukturfonds bestraft werden. So würden Regionen für die Haushaltspolitik der Nationalstaaten bestraft, für die sie keine
Verantwortung tragen. Hinzu kommt, dass ein Staat, der
sich offensichtlich in haushalts- und fiskalpolitischen
Schwierigkeiten befindet, nicht noch zusätzlich durch
den Entzug von Fördergeldern bestraft werden sollte.
Die Kohäsionspolitik war und ist ein deutliches Zeichen
der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, und das
muss sie auch bleiben!
Wäre dieser Antrag gut gemacht, könnte er nicht nur
Menschen und kleinen und mittleren Unternehmen in
strukturschwachen Gebieten in Deutschland helfen. Er
könnte auch gegen die Rezession, besonders gefährlich
in Spanien, Italien und Griechenland, helfen, zu einer
Lösung beitragen. Stattdessen bringen Sie unterstützungsbedürftige Menschen in Deutschland und in Europa in die Gefahr, dass ihnen ab 2014 die Hilfe entzogen wird. Denn hinter den Widersprüchen und den
irreführenden Begriffen dieses Antrags verbirgt sich vor
allem die Forderung nach weniger: Sie wollen rund
100 Milliarden Euro weniger im wahrscheinlich siebenjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union. Und
Sie wollen weniger klare Regeln, als die EU-Kommission vorgeschlagen hat und die Grünen im Europaparlament unterstützen. Das ist falsch. In der Krise brauchen
wir mehr Europa. Wir brauchen mehr europäische Solidarität in Form eines Investitionsprogramms in den sozialen und ökologischen Wandel, in Berliner Bezirken, in
ostdeutschen Kommunen und in Spanien, Italien und
Griechenland. Damit das Geld klug in Köpfe statt in
eine neue Immobilienblase fließt, in die nötige Infrastruktur für das Einsparen der 400 Milliarden, die
Europa jetzt noch für Ölimporte ausgibt, braucht es verbindliche Regeln und wirksame Erfolgskontrolle.
Der irreführende Begriff Better Spending heißt in der
Realität zuerst: Statt 1,12 Prozent des Bruttonationaleinkommens bisher soll die EU in sieben Jahren nur
1,0 Prozent investieren können. Dieser Freundeskreis
von Regierungen will Ländern in der Rezession helfen,
indem er Investitionsmittel kürzt. Die Bundesregierung
ist ganz vorne dabei. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat gerade noch einmal ausgerechnet, dass diese
Bundesregierung 2009 bis 2012 durch den Zinsvorteil
von Bundesanleihen 52,5 Milliarden Euro Entlastung
ohne Eigenleistung erfahren hat. Braucht die Bundesregierung diese 52,5 Milliarden so dringend, um so zu tun,
als würde sie sparen, dass nichts übrig bleibt, um in die
Energiewende in Europa zu investieren? Investitionen in
erneuerbare Energien in Griechenland senken nicht nur
das Außenhandelsdefizit dort, sondern bringen auch
Jobs für deutsche Fachbetriebe. Sie verhindern das aktuell. Wir fordern: Lassen Sie uns jetzt in eine nachhaltige Wirtschaft investieren!
Eine faire Regelung, ohne de facto die sozial-ökologischen Investitionsmittel noch weiter zu kürzen, braucht
auch die Frage der Reste à Liquider, kurz RAL. Übrige
Mittel sollten nicht einfach aus dem EU-Haushalt herausfallen.
Mit weniger Geld für den EU-Haushalt gefährden Sie
aber die Vorteile der EU-Strukturfonds nicht nur für andere Länder in Europa, sondern auch für strukturschwache Gebiete in Deutschland, die davon bisher sehr profitieren konnten. Viele Gebiete sollen nach bisherigen
Regeln endgültig aus der Höchstförderung herausfallen.
Wer sich mit der Debatte auch außerhalb Deutschlands
beschäftigt, weiß: Der Kommissionsvorschlag der Übergangsregionen ist die einzige Hoffnung, für diese
Gebiete, einen sanften Übergang finden zu können. Sie
sollten wissen, dass Ihre Forderung nach einem „Sicherheitsnetz“ ganz vorwiegend spezifisch für Ostdeutschland nicht für einen europäischen Kompromiss taugt.
Machen Sie den Menschen keine falschen Hoffnungen.
Unterstützen Sie wie wir die Übergangsregionen.
Better Spending meint nicht nur weniger Geld, sondern völlig gegen die Logik der deutschen Sprache auch
schlechtere Regeln und verwässerte Ziele im Vergleich
zum EU-Kommissionsvorschlag. Die Kommissare hatten vorgeschlagen: In entwickelten Regionen müssen
80 Prozent für die Energiewende ausgegeben werden,
50 Prozent über den Europäischen Sozialfonds - also in
Köpfe statt in Beton. Einige kämpfen gerade gegen die
Mindestquote für den Europäischen Sozialfonds, den
ESF. Finger weg von diesem wichtigen Vorschlag der
Kommission!
Zu Protokoll gegebene Reden
Vordergründig unterstützen Sie die EU-2020-Ziele,
öffnen dann aber Hintertüren, um zum Beispiel mit dem
Argument Tourismusförderung doch wieder Autobahnen
zu bauen. Sie wollen Förderung auf kleine und mittlere
Unternehmen konzentrieren, aber ja nicht die Großindustrie ausschließen. Gar keine Entscheidung im Bundestag, um es Kompromissen nachts beim Gipfel zu
überlassen? So viel Entscheidungsunfähigkeit ist gefährlich.
Besonders schädlich war in der Vergangenheit die
Förderung für Neuansiedlungen von Großbetrieben, die
dann wie Nokia aus dem Ruhrgebiet nach Rumänien zogen und inzwischen schon wieder den Standort gewechselt haben. Die Kommission und wir wollen damit
Schluss machen. Finden auch Sie die Stärke zu dieser
Entscheidung.
Einig sind wir uns beim Anliegen, die Mittel nach
dem Prinzip der Subsidiarität zu verwenden. Das heißt,
diejenigen, die sich vor Ort auskennen, sollen eng in die
Entscheidungen eingebunden sein. Praktisch fordern Sie
deshalb mehr Macht für die Landesregierungen. Aber
die lokalen Partner, die Zivilgesellschaft, die Kommunen sind noch näher am Wissen um die lokalen Strukturen. Auch die Abgeordneten der Landtage kennen ihre
Wahlkreise gut. Seien Sie konsequent und unterstützen
Sie unsere Forderungen, die Partner und Parlamente
auf allen Stufen der Entscheidung wirksam einzubinden.
Ausreichend Mittel, um gegen den Zyklus dieser Krise
zu kämpfen, wirksame Regeln für die Umsetzung der
EU-2020-Ziele ohne Hintertüren und die demokratische
Einbindung des Wissens der lokalen Expertinnen und
Experten: Damit richten Sie die Gemeinschaftsaufgabe
Regionale Wirtschaftsstruktur und die EU-Kohäsionspolitik gegen die Krise und für die Zukunft richtig aus.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9938 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 36:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marco Bülow, Dirk Becker, Gerd
Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Keine deutsche Zustimmung zu einer europäischen Förderung der Atomenergie
- Drucksachen 17/9554, 17/9799 Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Bareiß
Die Reden haben wir zu Protokoll genommen.
Der vorliegende Antrag verdeutlicht einmal mehr, wie
sehr die Opposition an ihrem Lieblingsthema Atomkraft
klebt. Auch wenn zu Euratom und Atomausstieg schon
alles gesagt wurde, versuchen einige unbeirrbar, weiterhin das Thema durch immer neue Anfragen und Anträge
aufzublasen. Diesen sei gesagt: Wir schalten die Kernkraftwerke ab. Suchen Sie sich ein neues Thema.
Die deutsche Bundesregierung hat mit der Energiewende einen mutigen und weltweit beispiellosen Weg beschritten. Die Förderung der erneuerbaren Energien
steht dabei an erster Stelle. Doch auch wenn Deutschland beschlossen hat, aus der Kernenergie auszusteigen,
bedeutet dies nicht, dass uns andere EU-Mitgliedstaaten
automatisch folgen müssen. Als guter europäischer
Nachbar haben wir es zu respektieren, wenn andere EULänder die mit der Kernenergie verbundenen Risiken für
akzeptabel halten. Wir können und dürfen nicht aus
einer nationalen Befindlichkeit heraus den Strommix
unserer Nachbarn bestimmen. Die Wahl des Strommixes
bleibt auch weiterhin den Mitgliedsländern selbst überlassen. Hierzu empfehle ich den geschätzten Oppositionskollegen die Lektüre des Lissabon-Vertrags: Dort steht
in Art. 194 explizit das Recht eines Mitgliedstaats auf
die Wahl seiner Energiequellen festgeschrieben.
Der Energiefahrplan der EU-Kommission stellt fest,
dass mit der Kernenergie eine Dekarbonisierungsoption
geboten wird, die den Großteil des in der EU verbrauchten CO2-arm erzeugten Stroms liefert. Dabei muss man
ganz klar sehen, dass dieser Anteil nicht so schnell wie
von manchen gefordert zu ersetzen sein wird. EU-weit
ist die Forderung nach weniger Kernkraft im Stromsektor mit den ehrgeizigen EU-Klimaschutzzielen vorerst
nicht vereinbar. Im Gegenteil bietet Strom aus Kernenergie mit CO2-Emissionen von 32 Gramm je Kilowattstunde bessere Emissionswerte als Wasserkraft mit
40 Gramm je Kilowattstunde oder Solarzellen mit sogar
101 Gramm je Kilowattstunde. Wenn man die ökonomische Seite des Klimaschutzes betrachtet, so taucht die
Frage nach den Kosten der CO2-Vermeidung auf: Also,
wie viel kostet es, eine Tonne weniger CO2 zu emittieren? Schaut man sich diese Größe an, so bietet die Kernenergie mit Vermeidungskosten von 15 bis 30 Euro je
Tonne vermiedene CO2-Äquivalente sogar eine günstigere Alternative als Strom aus Sonne, Wind und Wasser.
Man muss diese Zahlen kennen, um über Kernenergie
und Klimaschutz diskutieren zu können.
Nichtsdestotrotz haben wir in Deutschland unter dem
Eindruck der Ereignisse von Fukushima beschlossen,
dass wir uns den Ausstieg aus der Kernenergie leisten
möchten. Deutschland steht somit vor einer doppelten
Herausforderung im Energiesektor: Die abgestellten
Kernkraftwerke sind möglichst schnell klimaschonend
zu ersetzen. Wenn wir uns jedoch den damit verbundenen Anstrengungen stellen, so heißt das nicht, dass auch
andere Länder diese auf sich nehmen müssen. Wir sollten es unseren Nachbarn also selbst überlassen, auf welchem Wege sie die Klimaschutzziele erreichen, anstatt
dauernd zu versuchen, in ihre Angelegenheiten reinzureden.
Die Opposition hält ihr altes Kampfthema Kernkraft
immer noch hoch. Doch nicht die Kernenergie, sondern
der Ausbau der erneuerbaren Energien steht im Mittel22062
punkt des EU-Energiefahrplans. Deshalb ist es doch
sinnvoller, über neue Chancen zu reden, anstatt dem alten Klassenfeind nachzutrauern. Der EU-Energiefahrplan 2050 weist uns Wege für mehr Klimaschutz und für
eine nachhaltige Energiepolitik. Die enthaltenen Szenarien für eine fast vollständige Treibhausgasreduktion,
nämlich auf 5 bis 20 Prozent im Jahre 2050 verglichen
mit 1990, sind sehr ambitioniert. Darüber in das KleinKlein der Kernenergiefragen zu verfallen, zeugt nicht
gerade von großem Verantwortungsbewusstsein. Stattdessen sollte die Opposition lieber konstruktiv an der
Energiewende hierzulande mitarbeiten, um Europa und
der Welt zu zeigen, dass der Weg Deutschlands durchaus
gangbar ist. Mitarbeiten heißt konkret, Blockadehaltungen auflösen, beispielsweise auf Landesebene beim Ausbau der Netze oder beim Bau von dringend benötigten
Pumpspeicherkraftwerken, wie zum Beispiel Atdorf im
Schwarzwald.
Über mehr Klimaschutz und Ressourcenunabhängigkeit als Ziele unserer Energiepolitik sind wir uns hoffentlich alle einig. Genau deswegen ist es richtig, dass
wir europaweit nicht nur den Ausbau der erneuerbaren
Energien vorantreiben, sondern auch die Energieeffizienz fördern. Das Ziel von 20 Prozent mehr Energieeffizienz bis 2020 ist ehrgeizig, aber auch erreichbar.
Die Steigerung der Energieeffizienz führt dazu, dass wir
insgesamt weniger Energie verbrauchen, unabhängig
von der Erzeugungsart. Deshalb dürfte es unseren
Nachbarländern in Zukunft einmal leichter fallen, auf
Kernenergie zu verzichten, zumal bei einem weiteren Zubau von erneuerbaren Energien.
Der EU-Energiefahrplan zeigt auf, dass wir die Energieeffizienz noch weiter werden steigern müssen. Auf europäischer Ebene sorgt der Energieeffizienzplan für die
notwendigen Anreize und Schwerpunktsetzung. Vor allem der Bereich der Gebäudesanierung verspricht hier
große Möglichkeiten. Die Blockadehaltung der Opposition im Bundesrat bei der Zustimmung zur steuerlichen
Förderung der Gebäudesanierung ist deshalb besonders
beschämend.
Gleichzeitig wird auf nationaler Ebene durch Initiativen wie das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, die
Mietrechtsnovelle oder das Marktanreizprogramm für
regenerative Wärmetechnologien Anreize für mehr Energieeffizienz geschaffen. Wir sind also auf dem richtigen
Weg.
Mit den 20-20-20-Zielen hat sich die EU ambitionierte Energie- und Klimavorgaben gegeben. Es ist
unser aller gemeinsames Ziel, diese zu erreichen. Diese
gemeinsame Zielsetzung rechtfertigt jedoch keine Souveränitätsverletzung einzelner Mitgliedstaaten in Energiefragen. Denn auch wenn die Opposition am liebsten
alle Länder zu einem Atomausstieg zwingen möchte,
muss dennoch akzeptiert werden, dass andere Mitgliedstaaten an der Kernenergie festhalten.
Mit Euratom haben wir auf europäischer Ebene auch
das passende Instrument, um angemessen in Kernenergiefragen mitreden zu können und dies trotz des selbstgewählten Ausstiegs aus der Kernenergie. Die von Teilen der Opposition erhobene Forderung nach einer
Anpassung von Euratom oder gar einem Ausstieg schießen deshalb weit über das Ziel hinaus. Nicht einmal
Greenpeace Österreich ist für einen Austritt aus Euratom. Wir können zwar mit dem eingeschlagenen Weg zeigen, dass wir unsere Energieversorgung ohne Kernenergie gewährleisten können, aber wir können die anderen
Länder nicht zwingen, aus der Kernenergie auszusteigen.
Zweifelsohne werden im EU-Energiefahrplan bis
2050 neue Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Aber
was nun den heutigen Antrag konkret angeht, darf ich
erst einmal Dichtung und Wahrheit sortieren:
Es gab im April eine sich dann als falsch erwiesene
Pressemeldung, dass Frankreich, Großbritannien, Polen
und Tschechien sich per Brief an die EU-Kommission
gewandt hätten mit dem Ziel, „dass Brüssel Nukleartechnik genauso wie Wind- und Solaranlagen fördert“,
„Süddeutsche Zeitung“, 13. April 2012. Richtig ist, dass
sich diese die Staaten in ihren Stellungnahmen zum sogenannten Energiefahrplan 2050 für eine Gleichwertigkeit aller CO2-armen Technologien einsetzen. Damit ist
jedoch nicht notwendigerweise eine Förderung auf EUEbene verknüpft. Das ist eine reine Behauptung Ihrerseits.
Die Bundesregierung setzt sich in ihrer Stellungnahme zum Entwurf der Ratsschlussfolgerungen zum
Energiefahrplan dafür ein, dass keine Förderung von
Nuklearenergie durch die EU-Ebene erfolgt. Es gibt
nach vorliegenden Informationen derzeit auch keine
Pläne, auf EU-Ebene eine Subventionierung geplanter
oder in Betrieb befindlicher Kernkraftwerke anzustreben. Damit ist Ihr Antrag bereits obsolet.
Deutschland vertritt eine andere Haltung zur Nuklearenergie als die in der Pressemeldung genannten Staaten.
Gleichzeitig ist jedoch die souveräne Entscheidung eines jeden EU-Mitgliedstaates zu achten, der gegebenenfalls Nuklearenergie auf seinem Gebiet zulässt und fördert. Der Vertrag von Lissabon belässt die Hoheit über
den Energiemix in der Hand der EU-Mitgliedstaaten.
Europäische Energieeffizienzpolitik muss die unterschiedlichen Potenziale zur Steigerung der Energieeffizienz und die Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten berücksichtigen.
Ich bin mir allerdings sicher, die deutsche Energiewende wird sich langfristig auch auf die anderen Mitgliedstaaten auswirken, wenn sie uns überzeugend gelingt, ganz nach dem Motto Vorbild statt Bevormundung.
Aber ich möchte doch auf Ihr Szenario eingehen.
Wenn Sie die Kernkraft so sehr fürchten, müssen Sie
doch dafür eintreten, dass die bestehenden Kraftwerke
auf die technisch besten Sicherheitsstandards gebracht
werden. Solange sie noch genutzt werden, haben wir
doch ein ureigenes Interesse daran, dass der von Ihnen
beispielhaft erwähnte Reaktorpark in Frankreich sicherheitstechnisch ertüchtigt wird. Selbst wenn es hierfür
auch EU-Mittel bedürfte, wäre dies doch allemal besser,
als irgendwelche Risiken zu erhöhen. Zudem sollten wir in
Zu Protokoll gegebene Reden
der Tat - und da widerspreche ich Ihnen ausdrücklich allen energieerzeugenden Technologien unter dem Aspekt der CO2-Vermeidung offen gegenüberstehen.
Sie nennen die Windkraft als positives Beispiel. Dabei
vermeiden Sie geflissentlich, die CO2-Bilanz der Photovoltaik zu erwähnen. Die fällt nämlich gegenüber der
Kernkraft deutlich schlechter aus, und zwar um das
Vier- bis Achtfache schlechter. Das zeigt eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages
über die „CO2-Bilanzen verschiedener Energieträger im
Vergleich“. Also, wenn schon, dann bitte die ganze
Wahrheit.
Machen wir uns doch nichts vor: Wir können den anderen Mitgliedstaaten erstens nichts vorschreiben und
zweitens nicht von jetzt auf gleich eine Vollbremsung
hinlegen. Noch haben wir unsere Probleme wie den nötigen Ausbau der Hochspannungsnetze, die Fragen der
Energiespeicherung und vieles mehr auch noch nicht zufriedenstellend gelöst. Da ist es klüger, nicht allzu eingleisig aufgestellt zu sein.
Als Wirtschaftspolitiker sehe ich auch den positiven
Effekt, dass der deutsche Technologie- und Forschungsstandort sich weiter frei entwickeln können muss. Da wir
anerkanntermaßen mit weltführend sind, was die Sicherheitstechnik in Kernkraftwerken angeht, wäre es fatal,
hier mit ideologischen Scheuklappen von jetzt auf gleich
alle abzuwürgen. Solange es weltweit immer noch Kernkraftwerke gibt und geben wird, sollte wenigstens deutsche Sicherheitstechnik zum Einsatz kommen können.
Ich sage, wir müssen die Energiewende sorgfältig,
Schritt für Schritt und mit Augenmaß vornehmen.
Wir alle sind gegen einen hemmungslosen CO2-Ausstoß, der keine Rücksicht nimmt auf die Folgen für Menschen und Umwelt. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es,
für eine verlässliche und umweltverträgliche Stromversorgung zu sorgen, die uns aber nicht die Basis unseres
Sozialstaates - Wirtschaft und Arbeitsplätze - unter unseren Füßen wegzieht.
Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass man an
dieser Stelle, wenn man über das Thema Atomenergie
redet, vorrangig über die Fragen debattiert: Wie kann
man noch schneller aussteigen? Wie kann man für mehr
Sicherheit sorgen? Wie kann man einer Lösung der Endlagerfrage näherkommen? Wie kann man Nachbarn
beim Atomausstieg helfen? Gerne hätte man das Gefühl,
es ginge voran, man würde einen großen Schritt nach
dem anderen machen, um mehr Sicherheit für Mensch
und Umwelt zu schaffen und die Energiewende konsequent zu vollziehen. Aber nein, stattdessen man muss
tatsächlich darüber reden, dass Atomenergie nicht noch
zusätzlich gefördert wird.
Vor einem Jahr sind wir mit viel rhetorischem Brimborium ausgestiegen. Seitdem ist beim Thema Atomenergie nichts mehr passiert. Wo bleiben denn die Initiativen der Bundesregierung, um den Atomausstieg auch
international voranzutreiben? Den Griechen wollen wir
ständig erklären, was sie zu tun und zu lassen haben schließlich geht es da um unser Geld! Wenn es nicht um
Geld, sondern „nur“ um die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger geht, dann halten wir uns vornehm
zurück. Wir wollen ja angeblich niemandem irgendwo
hineinreden. Jedes Land solle selbst entscheiden, wie es
seinen Energiebedarf deckt. Ja, das ist richtig, aber nur
solange andere davon nicht bedroht werden. Fossile und
nukleare Energieproduktion haben aber internationale
Folgen. Auch wenn sich in der globalen Klimapolitik zuletzt leider nichts mehr bewegt hat, so ist wenigstens
hier doch nahezu allen Beteiligten seit Jahren klar, dass
es nicht allein um nationale Belange geht, sondern das
Verhalten einzelner Länder Auswirkungen auf Menschen
in ganz anderen Erdteilen hat.
Bezüglich des Betriebs von Atomkraftwerken wissen
wir schon seit Jahrzehnten, dass sich die Auswirkungen
eines Reaktorunfalls in der Regel nicht auf nationale
Territorien beschränken. Trotzdem passiert hier nichts,
um einen globalen Atomausstieg zumindest als langfristiges Ziel zu formulieren. Im Gegenteil, Politiker der Regierungskoalition, die vor einem Jahr für den Atomausstieg in Deutschland gestimmt haben, sind nach wie vor
dafür, dass Nachbarländer Atomkraftwerke betreiben.
So hat beispielsweise der Kollege Joachim Pfeiffer noch
an diesem Montag in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses zu Euratom erwähnt, dass es richtig sei, dass
andere Länder noch auf Atomenergie setzen.
Natürlich wundert mich das nicht; denn der erneute
Atomausstieg im letzten Jahr war nicht für alle in Union
und FDP eine Überzeugungstat, sondern für genügend
Atomfreunde ein wahltaktisches Manöver, das sie zähneknirschend vollzogen haben. Daher fehlt es in Union
und FDP jetzt an Geschlossenheit, um das Thema weiterhin offensiv anzugehen. Der nächste Schritt wäre
konsequenterweise, sich in der EU für einen europaweiten Atomausstieg stark zu machen. Wenn man liest, dass
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie in
Mainz errechnet haben, dass Ereignisse wie in Tschernobyl und Fukushima etwa einmal in 10 bis 20 Jahren
auftreten können und damit 200-mal häufiger als in der
Vergangenheit geschätzt, dann sollte man alles andere
tun, als die Füße stillzuhalten. Die Mainzer haben auch
festgestellt, dass Westeuropa weltweit das höchste Risiko einer radioaktiven Kontamination trägt, denn hier
ist die Dichte an Reaktoren am höchsten. Insgesamt sind
in Europa noch 133 Atomkraftwerke am Netz. Es bleibt
also noch viel zu tun.
Wenn Länder wie Frankreich, Großbritannien, Polen
und Tschechien jetzt plötzlich auch noch fordern, Atom
als klimafreundliche Energie anzuerkennen, um sie somit genauso subventionieren zu können wie zum Beispiel
erneuerbare Energien, dann reicht es nicht, wenn die
Bundesregierung dies still und leise ablehnt. Hier wäre
ein lautes und klares Nein die richtige Antwort, und
zwar eingebettet in eine Initiative, die versucht, auch andere Länder davon zu überzeugen, dass Atomenergie
keine Zukunft mehr hat. Neue Atomkraftwerke, besonders im dichtbesiedelten Europa, bauen zu wollen, zeugt
von nationalem Egoismus, den man nicht, wie Herr
Pfeiffer, beklatschen sollte. Es ist schon traurig, dass die
Führungseliten einiger Länder, offensichtlich unter dem
Zu Protokoll gegebene Reden
Eindruck der Atomlobby stehend, nicht das Sicherheitsbedürfnis und die Gesundheit ihrer Bevölkerung in den
Vordergrund stellen. Aber wenn das schon so ist, dann
ist es nicht nur legitim, sondern geradezu eine Verpflichtung für die Bundesregierung, zu sagen: Wir können das
nicht tolerieren, weil auch Menschen in Deutschland dadurch gefährdet werden.
Man muss sich über die Überlegungen Großbritanniens schon sehr wundern, für Strom aus neuen Atomkraftwerken eine feste Einspeisevergütung garantieren
zu wollen, quasi ein EEG für Atomkraftwerke - und das
für eine seit Jahrzehnten eingeführte Technologie, die
sich am Markt bis heute nicht so weit wirtschaftlich
rechnet, dass sich private Investoren finden würden, die
das immense Milliardenrisiko ohne staatliche Unterstützung in Kauf nehmen wollten; für eine Technologie, die
hochgefährliche Abfälle hinterlässt, deren sichere Entsorgung auch im Vereinigten Königreich nicht geklärt
ist; für eine Technologie, die wieder einmal auf zentralistische und unflexible Großstrukturen setzt, die mit
dem Ausbau der erneuerbaren Energien nicht zusammengehen. Es ist einfach ein Widerspruch, in Zukunft
vor allem auf die Erneuerbaren setzen, aber gleichzeitig
neue Atomkraftwerke bauen zu wollen.
Ich würde gerne einmal von einem Menschen mit wirtschaftlichem Sachverstand erklärt bekommen, wie sich
neue Atomkraftwerke ganz ohne Hilfe der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler rechnen sollen, wenn sie es bisher nicht getan haben, obwohl die Rahmenbedingungen
sogar günstiger waren. Schließlich müssen die Atomreaktoren in Zukunft viel häufiger ihre Leistung drosseln,
hoch- und runterfahren, also im verschleißfördernden
Lastwechselbetrieb laufen, um auf die zum Teil volatile
Stromeinspeisung von erneuerbaren Energien reagieren
zu können. Offenbar gibt es selbst unter Atomenergiebefürwortern keinen mehr, der eine solche Rechnung nachvollziehbar aufmachen kann. Ansonsten würde man nicht
ausgerechnet aus Großbritannien, dem Vorreiterland des
völlig liberalisierten Marktes, das sich immer gegen jeden staatlichen Interventionismus wendet, Stimmen hören, die die Förderung der Atomenergie fordern.
In unserem Antrag „Keine deutsche Zustimmung zu
einer europäischen Förderung der Atomenergie“ fordern wir daher die Bundesregierung auf, die Anliegen
Großbritanniens, Frankreichs, Polens und Tschechiens
ganz klar abzulehnen. Eine Gleichstellung von Atomenergie mit den erneuerbaren Energien ist geradezu absurd. Wenn sich morgen die zuständigen EU-Minister
treffen, um erneut über das Thema zu reden, dann muss
das Nein Deutschlands eindeutig stehen. Das sind Sie
den Menschen, denen Sie im letzten Jahr mehr Sicherheit und eine nachhaltige Energiewende versprochen
haben, schuldig.
In ihrem Antrag fordert die SPD-Fraktion die Bundesregierung auf, sich beim Europäischen Rat für Verkehr,
Telekommunikation und Energie am 15. Juni klar gegen
eine Gleichstellung der Atomenergie mit erneuerbaren
Energien auszusprechen. Sie soll sich dort gegen jede
Subventionierung vorhandener oder geplanter Kernkraftwerke aussprechen - ein frommer Wunsch. Allerdings gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung
derzeitig überhaupt gar keine konkreten Pläne, auf
EU-Ebene eine Subventionierung geplanter oder schon
in Betrieb befindlicher Kernkraftwerke anzustreben.
Vielmehr will die EU die Umsetzung der Energiewende
mit einer gemeinsamen EU-Richtlinie vereinheitlichen.
Auch bin ich der Auffassung, dass es in Deutschland
einhellige Meinung ist, ausgereifte und erprobte Technologien nicht noch obendrein zu fördern. So äußerte sich
auch eindeutig der Parlamentarische Staatssekretär
beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Ernst Burgbacher.
Anders sieht es natürlich bei dem Forschungsprojekt
ITER aus. Hier sind Investitionen in Forschung und Entwicklung durchaus angesagt. Mit dem internationalen
Fusionsexperiment ITER wird erstmals eine Fusionsanlage entstehen, die einen Nettoenergiegewinn erzielen
kann. ITER stellt damit einen entscheidenden Schritt auf
dem Weg zu einem kommerziellen Fusionskraftwerk dar und damit zu einer schier unerschöpflichen und ebenso
sauberen Energiequelle.
Maßgeblichen Anteil an diesem Fortschritt hat das
Max-Planck-Institut. Im Teilinstitut Greifswald des MaxPlanck-Instituts für Plasmaphysik, IPP, entsteht derzeit
mit Wendelstein 7-X das weltweit größte und fortgeschrittenste Stellaratorexperiment. Es soll die Kraftwerkstauglichkeit dieses Anlagentyps demonstrieren.
Kernstück der Anlage ist ein Spulensystem aus 70 supraleitenden Magnetspulen. Durch dieses Engagement können deutsche Forscher an der Spitze der Weltelite agieren: sei es in der theoretischen Forschung oder in der
praktischen Materialentwicklung. Die notorischen Kritiker an diesem Projekt erscheinen mir immer wie die Pessimisten, die vor gut hundert Jahren dem Automobil
keine Zukunft voraussagten.
In ihrem Antrag verweist die SPD-Fraktion auf die
von der dänischen Ratspräsidentschaft erbetenen Stellungnahmen zum EU-Energiefahrplan bis 2050. Vier
Mitgliedstaaten - Großbritannien, Frankreich, Polen
und Tschechien - hätten sich darin für eine Gleichstellung der Atomenergie mit erneuerbaren Energien ausgesprochen. Beide Energieformen seien kohlendioxidneutral und damit wichtige Mittel gegen den Klimawandel.
Deshalb wollen die vier EU-Mitgliedsländer die finanzielle Förderung des Abbaus der Kohlendioxidemissionen technologiefrei erfolgen lassen. In dieser Forderung
eine Motivation ökonomischer Natur zu sehen, wie es
die SPD tut, ist wirklich keine große Kunst. Es ist aber
verwunderlich, wenn Rot-Grün seinerzeit selbst Hunderte von verschiedenen Fördertatbeständen geschaffen
hat und sich dann erstaunt zeigt, wenn das System auf
europäischer Ebene Schule macht.
Im Dezember 2011 waren in 31 Ländern 437 Kernkraftwerke mit einer installierten elektrischen Bruttoleistung von etwa 389 Gigawatt in Betrieb.
In 14 Ländern sind 63 Kernkraftwerke mit einer elektrischen Bruttoleistung von knapp 65 Gigawatt im Bau.
Zu Protokoll gegebene Reden
In Europa nutzen heute 14 der 27 EU-Mitgliedstaaten
Kernenergie. Dies tun sie nach dem deutschen Ausstiegsbeschluss mit insgesamt 135 Reaktoren.
Die weltweite Stromerzeugung aus Kernenergie betrug im Jahr 2011 netto rund 2 497,1 Milliarden Kilowattstunden. Seit der ersten Stromerzeugung in einem
Kernkraftwerk 1951 in den USA - sind kumuliert rund
65 600 Milliarden Kilowattstunden netto erzeugt worden.
Dies zeigt, dass für viele andere Länder die Kernkraft
noch lange kein Auslaufmodell ist. Das müssen wir so
akzeptieren. Insofern mutet es zumindest fragwürdig an,
wenn die SPD die Kernkraft in Bausch und Bogen als
völlig unwirtschaftlich ablehnt. Wo diese doch auch in
Europa noch durchaus verbreitet ist. Schließlich obliegt
es laut Euratom-Vertrag jedem einzelnen Staat, sich für
oder gegen die friedliche Nutzung der Kernkraft zu entscheiden. Diese Entscheidung darf nicht durch europäische Gesetzgebung festgelegt werden.
Nach SPD-Meinung soll die Bundesregierung auf
eine Weiterentwicklung der Energiewende hinwirken.
Diese Meinung ist als Bemerkung schlichtweg überflüssig. Denn sie tut es ja: Energiepaket, Netzentwicklungsplan, EEG- und KWK-Novelle usw.
Zielführender wäre es jedenfalls, wenn die Opposition ihre egozentrische Grundhaltung im Bundesrat ändern und die energetische Häusersanierung wie auch
die Anpassung der PV-Förderung nicht weiter blockieren würde.
Zum Schluss argumentiert die SPD-Fraktion dann
noch mit einem vermeintlich hohen Energieverbrauch
beim Uranabbau. Deshalb sei die Kernkraft nicht kohlendioxidneutral. Das renommierte Schweizer PaulScherrer-Institut hat unter Einbeziehung aller Faktoren
für die Kernkraft 16 bis 23 Gramm Kohlendioxidäquivalent pro Kilowattstunde berechnet. Zum Vergleich: Für
die Photovoltaik fallen in Bezug auf Lebensdauer und
Produktion zwischen 80 und 160 Gramm Kohlendioxid
pro Kilowattstunde an. Dieser Ansicht folgend wies das
Landgericht Berlin am 9. November 2010 eine einstweilige Verfügung auf Untersagung zurück. Mit dieser Verfügung sollte dem Deutschen Atomforum Werbung
untersagt werden, die Kernkraft als CO2-freie Stromproduktion darstellt.
Der SPD-Antrag ist alles in allem ohne Bezug zur europäischen Realität und auch in der sachlichen Argumentation von einseitig interessengeleiteten Gutachten
getragen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.
Vor wenigen Tagen wurde eine Studie veröffentlicht,
aus der hervorging, dass der Süden Deutschlands die
mit am meisten von einem atomaren GAU gefährdete
Region Europas ist - und dabei handelt es sich nicht nur
um die Bedrohung aus eigenen Atomkraftwerken, vielmehr auch um Bedrohungen durch die nahegelegenen
französischen AKW knapp hinter der Grenze.
Atomkraft zu betreiben, ist keine national-isolierte
Angelegenheit. Eine radioaktive Wolke macht vor
Staatsgrenzen nicht halt. Deswegen müssen wir in der
Europäischen Union dringend über die nachbarschaftlichen Verantwortlichkeiten in Sachen Atomkraft sprechen. Während Deutschland einen zwar langsamen,
aber doch richtungsweisenden Atomausstieg vollzieht,
umzingeln uns geplante AKW-Neubauten, neuerlich
auch in Polen. Dieser Zustand ist unerträglich und muss
endlich in einer Diskussion um den Sinn und Zweck des
Euratom-Vertrags und letztendlich in dessen Auflösung
münden. Nur auf Grundlage des Euratom-Vertrags sind
solche absurden Forderungen, wie sie von Polen, Großbritannien, Tschechien und Frankreich jetzt zur Förderung der Atomkraft nach Vorbild des Erneuerbare-Energien-Gesetzes erhoben werden, überhaupt erst möglich.
Es ist ganz klar, dass der Betrieb von Atomkraftwerken
nicht nur ökologisch Irrsinn ist, sondern auch ökonomisch. Die Kosten, die mit der Atomkraft verbunden
sind, sind so hoch, dass es noch nie irgendwo ein Atomkraftwerk gegeben hat, das ohne staatliche Unterstützung zu bauen gewesen wäre. Genau daher kommt auch
diese absurde Forderung. Da Polen den fatalen Weg in
die Atomkraft einschlagen will und Großbritannien den
Bau mehrerer neuer Atomkraftwerke erwägt, brauchen
sie solch eine Förderung, um den Neubau ihrer Atomkraftwerke irgendwie wirtschaftlich darstellen zu können.
Die Atomwirtschaft lässt sich von vorn bis hinten
durchsubventionieren: für den Bau, für den Betrieb, für
den Rückbau und für die Entsorgung von Atomkraftwerken und ihren Begleiterscheinungen. Allein in
Deutschland sind in den vergangenen Jahrzehnten so
Kosten von wenigstens 200 Milliarden Euro zusammengekommen, die die Steuerzahler aufgebracht haben. In
anderen Staaten sind die Relationen zumindest ähnlich.
Als ob das nicht genüge - als ob es nicht genüge, dass
wir uns ebenfalls mit Steuergeldern noch um Jahrmillionen strahlenden Müll werden kümmern müssen, und als
ob es nicht genüge, dass ein Atomkonzern mit einem laufenden Atomkraftwerk 1 Million Euro Profit täglich erwirtschaften kann - bekommt die internationale Atommafia den Rachen nicht voll genug und fordert ein EUSubventionsprogramm für die Atomkraft. Die Bevölkerung von Staaten wie Österreich, die verfassungsmäßig
Atomkraft im eigenen Land verboten haben, würden
dann zur Kasse gebeten werden zur Förderung ausländischer Atomkraftwerke. Welch ein Irrsinn! Man kommt
sich vor wie in die 50er-Jahre versetzt, als Franz Josef
Strauß als Atomminister durch die Lande zog und allen
das Märchen vom billigen, sauberen und sicheren Atomstrom auftischte und sagte, dass das Wirtschaftswunder
davon abhinge.
Die international agierende Atomwirtschaft bäumt
sich wieder auf und versucht mit aberwitzigen Mitteln,
ihren Albtraum weiter zu träumen, und zwar auf Kosten
der Menschen, der Umwelt und der zukünftigen Generationen. Gleichzeitig verhindern die Institutionen der
Europäischen Union die Gründung einer europäischen
Antiatom-Bürgerinitiative mit dem billigen Argument,
eine solche verstieße gegen den Euratom-Vertrag. Wenn
Zu Protokoll gegebene Reden
das Diktat der Wirtschaft in Europa mehr Gewicht hat
als die Entfaltung basisdemokratischer Strukturen, dann
haben wir ein ernsthaftes Demokratieproblem. Deutschland muss seinen Weg aus der Atomkraft konsequent
gehen und auf EU-Ebene ausweiten. Der Euratom-Vertrag muss aufgelöst werden und einem Vertrag für eine
soziale und ökologische Energiewende weichen. Die
Linke wird ihren Teil dazu beitragen und an der internationalen Vernetzung von Umweltverbänden und Antiatominitiativen weiter aktiv mitwirken.
Die Geschichte der staatlichen Förderung der Atomkraft ist seit dieser Woche um eine Anekdote reicher. Die
deutschen AKW-Betreiber wollen in der ihnen eigenen
Dreistigkeit die Steuerzahler mit rund 15 Milliarden
Euro für einen in breiter Mehrheit beschlossenen Atomausstieg büßen lassen. Ob ihre Rechnung aufgeht, ist
zwar mehr als fraglich. Aber man muss auch festhalten:
Abermals steht eine happige Summe im Raum, die unser
Staat für die Atomkraft aufbringen soll. Sie steht nur
deshalb im Raum, weil Schwarz-Gelb mit dem rot-grünen Atomausstieg aus dem Jahr 2000 gebrochen hat,
dem ein ausgehandelter Konsens mit den EVU aus gutem Grund vorausging. Mit ihrer unsäglichen Laufzeitverlängerung vom Herbst 2011 hat die Regierung
Merkel den Menschen in Deutschland neben dem atomaren Risiko nun auch ein völlig unnötiges Finanzrisiko
in Milliardenhöhe eingebrockt.
Im europäischen Kontext betrachtet hat diese Geschichte dennoch etwas Positives. Denn sie handelt vom
Niedergang der Atomkraft. Andere Länder sind leider
noch nicht so weit. So wollen in der EU Frankreich,
Großbritannien, Polen und Tschechien mit weiteren Unsummen dafür sorgen, dass Atomkraft Bestandteil im jeweiligen Energiemix bleiben bzw. werden kann. Es
spricht schon Bände, dass sich die seit Jahrzehnten
staatlich gepäppelte Atomkraft ohne erneute staatliche
Hilfe ganz offensichtlich nicht selbst behaupten könnte.
Der Einfluss der Atomlobby ist in vielen EU-Ländern
stark. Das geht auch zulasten dessen, was auf EU-Ebene
energiepolitisch insgesamt notwendig wäre. Längst ist
klar, dass die EU sich darum kümmern muss, die Grundlagen und Leitplanken für eine zukunftsfähige Energieversorgung zu schaffen. Das heißt, sie muss den Mitgliedstaaten mit Engagement und Elan den Weg ebnen
zu Energieeffizienz, Energieeinsparung und erneuerbaren Energien; mithin den Weg zu einer dezentralen
Stromversorgung. Ein Zementieren zentraler Versorgungsstrukturen wäre für die Zukunftsfähigkeit der europäischen Energie- und Klimapolitik fatal. Auch deshalb darf es keine europäische Hilfe für weitere
Päppelungen der Atomkraft geben.
Dass die Bundesregierung durchaus Einfluss in der
EU haben kann, konnte man jüngst am negativen Beispiel ihrer Blockade der EU-Energieeffizienzrichtlinie
sehen. Es wird höchste Zeit, dass die schwarz-gelbe
Bundesregierung ihren Einfluss auf die europäische
Energiepolitik sinnvoll geltend macht. Im Bereich Atompolitik heißt das, aktiv Nein zu sagen zu Vorstößen staatlicher Subventionierung einer sinnlosen und hochgefährlichen Technologie. Es heißt, alles dafür zu tun, dass
gut ein Jahr nach der Atomkatastrophe von Fukushima
die richtige Diskussion geführt wird: nicht die um neue
Atomsubventionen, sondern die um höhere Sicherheitsanforderungen für die bestehenden AKW. Darum müsste
sich in Europa heute eine energische und fruchtbare Debatte drehen, mit einer gut hörbaren Bundesregierung,
die zum Beispiel den AKW-Stresstest der EU dafür nutzt,
dass die gefährlichsten Anlagen in Europa möglichst
schnell stillgelegt werden - am besten sofort -, und die
dafür kämpft, dass die noch am Netz bleibenden Anlagen
mit umfangreichen Nachrüstungen deutlich sicherer gemacht werden.
Doch davon fehlt bislang jede Spur. Beim EU-Stresstest macht das zuständige Bundesumweltministerium im
Gegensatz zu manchen Bundesländern gerade das Allernötigste. Mit Indifferenz und Untätigkeit trägt es dazu
bei, dass der Stresstest zum Wohlfühl- und PR-Programm für die europäischen AKW-Betreiber verkommt.
Noch schlimmer ist es um die Rolle des Bundesumweltministeriums im Bereich der Terrorgefahren für
europäische Atomkraftwerke bestellt. Vor rund einem
Jahr wurde diesbezüglich auf EU-Ebene eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die kürzlich weitgehend unbeachtet
ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Dieser ist unfassbar oberflächlich, ist das Papier nicht wert, auf dem er
steht. Anstatt sich den wichtigsten Problemen und den
gefährdetsten Anlagen zu widmen, hat die Arbeitsgruppe
anscheinend genau das Gegenteil getan: keine konkreten Anlagen untersucht und auch nicht die vorhandenen
gehaltvollen Unterlagen ausgewertet. Sie hat Empfehlungen ausgesprochen, ohne sicherzustellen, dass sie
umgesetzt werden, geschweige denn schnell umgesetzt
werden.
Nun kann in Prozessen, an denen mehrere Staaten beteiligt sind, natürlich nicht alles so laufen, wie ein einzelner Staat es für optimal hielte. Doch das Erschreckende ist, dass sich die Bundesregierung nicht von den
unsäglichen Ergebnissen dieser Arbeitsgruppe distanziert. Vielmehr stellt sie sich voll und ganz dahinter. Damit ist sie maximal von der Haltung entfernt, die sie einnehmen müsste, wenn sie es ernst meinte mit einem
Mehr an Atomsicherheit als Konsequenz aus der japanischen Atomkatastrophe. Sie müsste ihren Einfluss geltend machen, damit die Arbeitsgruppe ein neues, besseres Mandat bekommt und noch einmal richtig arbeitet.
Ähnlich schlecht ist es um die Haltung des Umweltministeriums in Bezug auf das tschechische AKW-Neubauvorhaben Temelin 3 und 4 bestellt. Hier versteckt sich
das BMU hinter den Bundesländern Sachsen und Bayern und lässt damit den Großteil der deutschen Bevölkerung im Regen stehen. Anstatt den Menschen eine maximale Mitsprache bei einem Projekt mit so enormem
Schadenspotenzial wie zwei neuen AKW kurz hinter der
deutschen Grenze zu ermöglichen, steckt das BMU seine
Energie in immer neue Argumente, warum es sich nicht
zuständig fühlt.
Ähnlich untätig und feige hätte sich das BMU auch
vor einem Jahrzehnt verhalten können, als es um die ReZu Protokoll gegebene Reden
aktorblöcke Temelin 1 und 2 ging. Das tat es aber nicht,
sondern hat sich engagiert und seine Ressourcen genutzt, um aktive Schadensvorsorge für die Bevölkerung
zu betreiben und gemeinsam mit Tschechien das Sicherheitsniveau von Temelin 1 und 2 zu erhöhen.
Umweltminister Altmaier täte daher gut daran,
Jürgen Trittin zum Vorbild zu nehmen anstatt seinen direkten Vorgänger und Parteikollegen Norbert Röttgen.
Vierzehn Monate voll hochtrabender Ankündigungen
und kaum Taten sind im Bereich Atomsicherheit nach
der Fukushima-Katastrophe vergangen. Es wird höchste
Zeit, die noch verbleibenden vierzehn Monate in dieser
Wahlperiode zu nutzen, um das Versäumte nachzuholen
und zahlreiche Lippenbekenntnisse in Taten umzusetzen.
Herr Altmaier, Sie stehen in besonderer Pflicht!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9799, den Antrag
auf Drucksache 17/9554 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die
Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Koalitionsfraktionen waren dafür, die Oppositionsfraktionen dagegen.
Tagesordnungspunkt 32:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs
- Drucksache 17/1221 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({0})
- Drucksache 17/9841 Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön ({1})
Miriam Gruß
Katja Dörner
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der
SPD vor. Die Reden haben wir zu Protokoll genommen.
Das Elterngeld ist heute aus dem Kanon der familienpolitischen Leistungen nicht mehr wegzudenken. Für
immer mehr junge Paare ist es ein fester Bestandteil ihrer finanziellen Planungen, und - darüber freue ich
mich ganz besonders - auch immer mehr Väter nehmen
eine Auszeit von ihrem Beruf, um sich um die Erziehung
des Nachwuchses zu kümmern.
Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf
wollen wir den Vollzug des Elterngeldes vereinfachen,
für die Antragssteller ebenso wie für die Mitarbeiter der
Behörden; denn im Laufe der vergangenen Jahre hat die
Praxis gezeigt, dass bei der verwaltungstechnischen
Umsetzung des Elterngeldes Verbesserungsbedarf besteht. Insbesondere die Einkommensermittlung der Bezieher hatte in den Ländern viele Kapazitäten in Anspruch genommen.
Ich begrüße deshalb besonders, dass die gefundenen
Verbesserungen im Einvernehmen mit den Ländern, der
Bundesregierung sowie den christlich-liberalen Fraktionen getroffen werden konnten. Wir Familienpolitiker
von CDU/CSU und FDP hatten in einem gesonderten
Antrag noch einmal bei einigen Punkten nachjustiert
und den bestehenden Gesetzentwurf des Bundesrates an
unterschiedlichen Stellen ergänzt. Die neuen Regelungen werden somit zum 1. Januar 2012 in Kraft treten
können.
Ich möchte Ihnen einige konkrete Verbesserungen
nennen, welche die Gesetzesnovelle mit sich bringt:
Das Kernstück des Gesetzentwurfs des Bundesrates
ist die Einführung von Pauschalen für Steuern und
Abgaben. Dadurch wird die Ermittlung des Einkommens, an dessen Höhe sich das letztendlich auszuzahlende Elterngeld bemisst, wesentlich erleichtert. Auch
der Vollzug wird erleichtert. Die Verwaltungsmitarbeiter
müssen nun nicht mehr die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen als einzelne Positionen separat bewerten und
übernehmen, sondern können mit den pauschalen Sätzen
rasch und mit Unterstützung der elektronischen Datenverarbeitung verfahren. Auf diese Art und Weise werden
auch mögliche Fehlerquellen minimiert. Lästiges Nachfragen - wie es in der Vergangenheit ab und an der Fall
war - entfällt, was den Aufwand für die Elterngeldstellen und Arbeitnehmer spürbar verringert.
Vonseiten der Fraktionen von CDU/CSU und FDP
war es uns darüber hinaus ein Anliegen, den bürokratischen Aufwand für Selbstständige durch eine Vereinfachung bei der Ermittlung des Bemessungseinkommens
zu reduzieren. Dies wird gewährleistet, indem der Nachweis des Einkommens aus selbstständiger Erwerbstätigkeit grundsätzlich über den Steuerbescheid des letzten
abgeschlossenen Veranlagungszeitraums vor der Geburt
erfolgt.
Die Selbstständigen müssen somit nicht zusätzlich zur
steuerlichen Gewinnermittlung noch eine elterngeldliche Gewinnermittlung vornehmen. Ich bin mir sicher,
das ist ganz in ihrem Sinne. Gleichzeitig verringert sich
abermals der Verwaltungsaufwand in den Elterngeldstellen, weil die vormals gesondert erstellten Gewinnberechnungen für die tatsächliche Berechnung des Elterngeldes wegfallen. Die neue Regelung hilft somit beiden
Seiten.
Darüber hinaus sieht unser gemeinsamer Ergänzungsantrag vor, das Prozedere zur generellen Ermittlung des Einkommens aus selbstständiger Arbeit zu
vereinfachen: Dies geschieht, indem wir den Antragstellern mit Einkommen aus selbstständiger Arbeit die Möglichkeit geben, für die Ermittlung der Betriebsausgaben
eine Pauschale von 25 Prozent der zugrunde zu legenden Einnahmen anzusetzen. Machen die Elterngeldberechtigten davon Gebrauch, entfällt das Erfordernis des
Nadine Schön ({0})
bisweilen sehr aufwendigen Einzelnachweises von Betriebsausgaben und die entsprechende Umrechnung auf
die Bezugszeit des Elterngeldes.
Diese Vereinfachungen werden durch weitere Verbesserungen ergänzt, die aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre ratsam geworden sind: So wird der Höchstbetrag des berücksichtigungsfähigen Einkommens vor
der Geburt auf 2 770 Euro erhöht. Eine andere Ergänzung sieht vor, dass der Elterngeldantrag je nach Bedarf
geändert werden kann. Die Beschränkung zulässiger
Antragsänderungen, die sich in der Praxis nicht
bewährt hat, wird somit aufgehoben. Zusätzlich wird
klargestellt, dass auch bei der Berechnung von Kostenbeiträgen - etwa für die Kita-Betreuung - das Elterngeld in der Regel bis zu einem Betrag von 300 Euro nicht
berücksichtigt werden darf.
Um auch künftig einen möglichst guten Einblick darüber zu haben, welche Entwicklungen das Elterngeld in
der Praxis nehmen wird und wo es gegebenenfalls noch
etwas nachzujustieren gibt, werden wir auch Verbesserungen bei der statistischen Erfassung vornehmen. So
wird eine Bestandsstatistik eingeführt und eine Ergänzung der Übermittlungsbefugnisse des Statistischen
Bundesamtes vorgenommen. Auf diese Art und Weise ist
die Erstellung einer differenzierteren Datenlage möglich, die wiederum eine bessere gesetzgeberische Planung und Folgenabschätzung möglich macht.
Es wird deutlich, dass der ganz überwiegende Teil der
Änderungen rein formeller Natur ist und sich aus regelungstechnischen Erfordernissen speist. Aus Gründen
der Rechtsförmlichkeit und Systematisierung des Gesetzes haben wir über den gesamten Gesetzestext hindurch
Veränderungen vorgenommen, Passagen glattgestrichen
und mögliche Widersprüche aus dem Weg geräumt. Das
Ergebnis wird ein kompakteres und in sich abgerundetes
Gesetz sein.
Ich möchte abschließend noch ergänzen, dass die
vorzunehmenden Veränderungen im praktischen Verwaltungsablauf natürlich einen einmalig höheren Programmierungs- und Schulungsaufwand erfordern. Ich
bin aber überzeugt, dass sich, sobald sich die Neuerungen eingespielt und bewährt haben, mittel- und langfristig der Arbeitsaufwand in der Verwaltung reduzieren
wird, und das war schließlich eines unserer Anliegen.
Kurzum: Mit dieser Novelle verbessern wir formell
ein materiell erwiesenermaßen sehr erfolgreiches Gesetz. Ich bitte sie daher um Ihre Zustimmung.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs enthält zwar positive Regelungen, die zur Vereinfachung der Berechnung des
Elterngelds beitragen werden. Insbesondere Selbstständige werden wohl von der Verwaltungsvereinfachung
profitieren können, auch wenn das Problem der Selbstständigen mit nicht verstetigten Einkommen dabei keinesfalls gelöst wurde; denn es wird lediglich der Vollzug
vereinfacht. Aber dies wird zumindest teilweise gelingen.
Trotzdem lehnen wir als SPD-Bundestagsfraktion
diesen Gesetzentwurf auch mit den Änderungen, die
durch die Koalitionsfraktionen eingebracht wurden, ab;
denn er enthält an vielen Stellen Ungereimtheiten. Die
Koalitionsfraktionen verschlechtern sogar einzelne Regelungen, wie etwa beim Bezug von Mutterschaftsgeld.
Betroffen hiervon sind vor dem errechneten Geburtstermin Gebärende. Diese Mütter dürfen sich bei den Koalitionsfraktionen für deren vermeintliche „Klarstellung“
bedanken.
Auch die Anrechnungsfreiheit des Geschwisterbonus
auf Leistungen nach dem SGB II und XII ist durch die
schwarz-gelbe Koalition wieder aufgehoben worden.
Hier war der Gesetzentwurf besser als der Änderungsantrag von CDU/CSU und FDP. Wir lehnen diese Anrechnung ab, ebenso wie wir grundsätzlich die Anrechenbarkeit des Mindestelterngelds auf die entsprechenden
Sozialleistungen ablehnen.
Zu einer weiteren „Ungereimtheit“ zählt etwa auch
die durch nichts begründete und durch die Koalition einfach festgelegte Höhe des pauschalen Abzugs von
25 Prozent der Betriebseinnahmen als Betriebsausgaben bei Selbstständigen ohne Einkommensteuerbescheid. Der Gesetzentwurf sah hier 20 Prozent Abzugshöhe vor. Dies führt unweigerlich zu einer Senkung des
Bemessungseinkommens für die Berechnung des Elterngelds.
So ließen sich noch viele weitere Detailregelungen
anführen, die dazu beigetragen haben, dass der Gesetzentwurf für uns insgesamt nicht zustimmungsfähig ist.
Zudem wurde eine Chance vertan, das Elterngeld sinnvoll weiterzuentwickeln. Das bleibt grundsätzlich festzuhalten.
Aber vielleicht auch noch einmal etwas Grundsätzliches zum Ansatz dieses Gesetzentwurfs. Um den Vollzug
des Elterngelds zu vereinfachen, hat sich der Bundesrat
für eine Orientierung am Einkommensteuerrecht entschieden. Die Übernahme des steuerrechtlichen Einkommensbegriffs auf der einen Seite, aber Ausschluss
etwa von Einmalzahlungen, Sonn- und Feiertagszuschlägen, Weihnachtsgeld bei der Einkommensberechnung für das Elterngeld auf der anderen Seite sind kaum
verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Einmalzahlungen zum Beispiel versteuert werden.
Überhaupt, wenn es bestimmte steuerrechtliche Regelungen gibt, müssen sie auch Eltern bei der Berechnung
des Elterngelds zugutekommen. Verwerfungen im Steuerrecht dürfen nicht auf ihrem Rücken ausgetragen werden. Dies hat uns auch die Anhörung im Familienausschuss deutlich gemacht. Wenn es also die Möglichkeit
der Freibeträge gibt, dann muss diese Möglichkeit auch
Eltern zur Verfügung stehen, die Elterngeld beziehen
wollen. Im Übrigen ist die Eintragung von Freibeträgen
ja auch an die vorhersehbaren realen Aufwendungen geknüpft, womit das Einkommen in dieser Höhe den Eltern
für die Steuerzahlung nicht zur Verfügung steht.
Im Zusammenhang mit den Freibeträgen haben wir
auch gleich eine auf den ersten Blick erkennbare
Gruppe von Verlierern der Neuregelung. Eltern mit BeZu Protokoll gegebene Reden
hinderung oder Eltern, deren Kinder eine Behinderung
haben, haben nun nicht mehr die Möglichkeit, Freibeträge eintragen zu lassen und so ihren vorhandenen
Mehrbelastungen entsprechend zu begegnen. Dies ist in
der Anhörung von allen Sachverständigen kritisiert worden, und es ist eine Lösung - und wenn auch außerhalb
dieses Gesetzentwurfs - eingefordert worden. Allerdings
meine ich nach wie vor, dass eine Lösung genereller Natur sein sollte und daher für alle eine Berücksichtigung
der Freibeträge erfolgen muss.
Wir dürfen auf jeden Fall sehr gespannt sein, was die
Bundesregierung hier zu tun gedenkt. Nur viel Zeit darf
sie sich im Interesse der Betroffenen wohl kaum lassen.
Wir werden dies jedenfalls entsprechend beobachten
und einfordern.
Apropos Zeit: Als Grund für diese notwendige Reform
zur Verwaltungsvereinfachung wird genannt, dass auch
eine Verkürzung der Bearbeitungsfristen erforderlich
ist, weil Eltern zu lange auf ihren Bescheid warten müssten. Ist das so? Ich jedenfalls kenne keine Statistik, die
verlässlich Auskunft über die Bearbeitungsdauer der
Anträge durch die einzelnen Elterngeldstellen gibt.
Die SPD-Bundestagsfraktion bringt deswegen auch
einen Entschließungsantrag ein, der unter anderem die
Bundesregierung auffordert, die durch dieses Gesetz in
Kraft tretenden Regelungen zu evaluieren und dem
Deutschen Bundestag spätestens nach einem Jahr erstmalig zu berichten, welche Auswirkungen und welche
Ergebnisse durch die Rechtsänderungen im BEEG eingetreten sind. Geht es jetzt wirklich schneller? Welche
Elterngeldberechtigten haben gegebenenfalls welche
Nachteile erfahren? Welche Erfahrungen liegen in der
Verwaltung vor? Gibt es weniger Nachfragen bei den
Antragstellern oder sogar mehr? Was wir zu einer sinnvollen Beurteilung wirklich brauchen, sind verlässliche
empirische Daten.
Aber ich komme noch einmal grundsätzlich zurück
zum Elterngeld: Es ist als Lohnersatzleistung konzipiert,
soll die finanziellen Einbußen nach der Geburt eines
Kindes abfedern, wenn die Erwerbsarbeit ganz oder teilweise aufgegeben wird, und gleichzeitig den erforderlichen Schonraum für die Betreuung im ersten Lebensjahr
des Kindes bieten. Es hat „den doppelten Charakter einer Einkommensersatzleistung und einer Anerkennungsund Unterstützungsleistung“, so wörtlich das BMFSFJ
in seiner schriftlichen Antwort auf die Frage Nr. 5/455.
Nur die Anerkennungs- und Unterstützungsleistung erhalten nicht mehr alle Eltern. Würdigung der Erziehungsleistung, Gleichbehandlung, Gleichstellung, dies
ist bei dieser Bundesregierung absolute Fehlanzeige.
Dies gilt auch für die Weiterentwicklung des Elterngelds. Es soll auch dazu beitragen, dass sich die Einschränkung der Erwerbstätigkeit - vor allem von Müttern - zeitlich begrenzt halten lässt, und letztlich soll die
Väterbeteiligung an der Betreuung und Erziehung zunehmen. Damit sich Väter noch mehr als bisher beteiligen und Frauen ihre Erwerbsarbeit ebenfalls vielleicht
nur reduzieren, muss als Erstes zwingend der doppelte
Anspruchsverbrauch beseitigt werden. Dies hat die Koalition zwar verkündet und auch im Koalitionsvertrag
festgehalten, aber nach dem Motto „Papier ist geduldig“ blieb es bisher dabei. Eine wirkliche Absicht liegt
wohl nicht vor, denn der Gesetzentwurf hätte die Chance
dazu geboten.
Auch sind alle weiteren Chancen vertan worden, das
Elterngeld partnerschaftlich weiterzuentwickeln, damit
sich Erziehungs- und Erwerbsarbeit zwischen den Eltern entsprechend aufteilen lässt.
Auch zum Elterngeld liegen genügend Untersuchungen, Studien und Berichte vor, die der Bundesregierung
viele Hinweise und Vorschläge für ihr weiteres Handeln
gegeben haben. Aber sie stehen wohl nur im Regal der
Ministerin, vielleicht nicht einmal gelesen.
Die Eltern und Kinder in diesem Land haben wirklich
eine bessere Familienpolitik verdient. Sie haben eine
bessere Familienministerin und eine bessere Bundesregierung verdient.
Das Elterngeld ist eine insgesamt erfolgreiche - und
sehr beliebte - familienpolitische Maßnahme. Seine Einführung hat zwei Effekte gehabt, die ich sehr begrüße:
Zum einen hat es die Erwerbsbeteiligung von Müttern
im zweiten Lebensjahr des Kindes gesteigert, und zum
anderen hat es die Rolle des Vaters in der Erziehung gestärkt. Die berühmten „Vätermonate“ sind ein großer
Erfolg.
Das hat allerdings seinen Preis: Allein 4,6 Milliarden
Euro sind für das laufende Jahr im Haushalt veranschlagt. Um diese Kosten in Schach zu halten, sind wir
als Staat aufgefordert, sorgsam nachzusteuern und Prozesse zu optimieren. Das haben wir mit dem vorliegenden Entwurf getan. Der Elterngeldvollzug wird einfacher und effektiver. Und das ist gut für alle Beteiligten für die Kommunen, für die Eltern und für den Bundeshaushalt.
Die Anhörung zum Elterngeldvollzug hat eindeutig
gezeigt, dass alle Expertinnen und Experten den Gesetzentwurf und den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen im Grundsatz begrüßen. Lassen Sie mich einige
Verbesserungen im Einzelnen aufzählen:
Die Regelungen der §§ 2 und 3 BEEG werden einfacher. Dadurch kann die Bearbeitung schneller erfolgen.
Das ist gut für die Eltern, die Anträge stellen.
Die Ermittlung des Einkommens für Selbstständige
wird einfacher. Statt 96 Eingaben sind nunmehr nur
noch 12 Eingaben notwendig. Gerade dieser Punkt war
uns Liberalen wichtig. Dabei haben wir die Kritik, dass
bei Gründern das Einkommen häufig von Jahr zu Jahr
stark schwankt, durchaus zur Kenntnis genommen. Eine
Berechnung über einen längeren Zeitraum, beispielsweise fünf Jahre, hätte aber das Ziel der Vereinfachung
wieder konterkariert.
Außerdem ist zu nennen: Der Höchstbetrag des berücksichtigungsfähigen Einkommens wird auf 2 770 Euro
angehoben. Die Antragstellung, insbesondere die Änderungsmöglichkeiten, wird flexibilisiert und dem Bedarf
der Antragsteller angepasst. Bei der Berechnung von
Zu Protokoll gegebene Reden
Kostenbeiträgen darf das Elterngeld in der Regel bis
zum Betrag von 300 Euro nicht berücksichtigt werden.
Zudem wird die statistische Datenbasis verbessert.
All das optimiert den Elterngeldvollzug deutlich. Gerade uns Liberalen ist immer an einer Entbürokratisierung gelegen.
Es gibt aber vor allem einen Punkt, bei dem auch wir
Ergänzungsbedarf sehen. Das ist die Situation von Behinderten. Hier kann es im Einzelfall zu einer Schlechterstellung kommen. Allerdings haben alle Experten
erklärt, dass man einen entsprechenden Nachteilsausgleich nicht in diesem Gesetz regeln sollte, sondern außerhalb dieses Gesetzes, zum Beispiel durch einen prozentualen oder pauschalen Zuschlag. Deshalb haben
wir von einem entsprechenden Änderungsantrag abgesehen.
Ich hoffe, dass dieses Gesetz im Bundesrat nicht blockiert wird. Schließlich war es der ausdrückliche
Wunsch der Länder, hier etwas zu tun. Das Gesetz führt
zu Bürokratieabbau und zu einer bürgerfreundlichen
Politik im Sinne der betroffenen Eltern. Deshalb sollten
Bund und Länder gleichermaßen ein Interesse daran haben, dass dieses Gesetz zum 1. Januar 2013 in Kraft treten kann.
Und wieder werden Chancen vertan, das Elterngeld
sinnvoll weiterzuentwickeln.
Ziel des Gesetzentwurfs des Bundesrates sind die Vereinfachung des Elterngeldvollzugs und die dadurch bedingte Reduzierung der finanziellen Belastung der Länder. Ein Ziel, das durchaus ehrenwert ist. Aber man
muss auch die Risiken und Nebenwirkungen beachten,
die eine solche Regelung mit sich bringt oder bringen
kann.
Positiv ist, dass die Berechnung für das Elterngeld
schneller geht und damit Eltern auch schneller in den
Bezug von Elterngeld gelangen. Jedoch gibt es auch Eltern, welche durch die Vereinfachung schlechter gestellt
werden. Die Nichtanrechnung des Geschwisterbonus bei
Sozialleistungen ist eine sinnvolle Fortführung der Anrechnungsfreiheit von Mindestelterngeld und Mehrlingsbonus. Da jedoch das Mindestelterngeld beim Bezug von
Hartz-IV-Leistungen abgezogen wird, profitieren Eltern,
welche sich im ALG-II-Bezug befinden, leider nicht davon.
Bei der Pauschalierung ergibt sich das Problem, dass
diejenigen Eltern, welchen hohe Freibeträge auf der
Lohnsteuerkarte eingetragen waren, sei es wegen eines
langen Arbeitswegs, also Pendlerpauschale, oder gar
einer doppelten Haushaltsführung, eben mit dieser Pauschalierung schlechter gestellt werden.
Weiter gibt es Ungerechtigkeiten, die teilweise zu Anspruchsverlusten führen. Beispielsweise entfällt der Elterngeldanspruch für den gesamten Monat, wenn die
Mutter nur einen Tag Mutterschaftsgeld bezieht.
Der Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und
Jugend hat eine Anhörung zu diesem Gesetz durchgeführt. Von allen Sachverständigen wurde der Gesetzentwurf grundsätzlich positiv eingeschätzt; jedoch wurde
auch bemängelt, dass bestimmte Elterngruppen benachteiligt werden, so beispielsweise Eltern mit Behinderung
oder Eltern von Kindern mit Behinderung. Von daher ist
dem Entschließungsantrag der Grünen zuzustimmen, da
dieser die Regierung auffordert, für diese besondere Elterngruppe nach einer Lösung zu suchen, welche die Benachteiligung abschafft.
In der Anhörung konnte auch von allen Sachverständigen einhellig festgestellt werden, dass der doppelte
Anspruchsverbrauch bei Teilzeitarbeit der Eltern geändert werden sollte. Von daher hat meine Fraktion den
entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, um Eltern nicht finanziell schlechter zu stellen, welche die Erziehung gemeinschaftlich mit Teilzeitarbeit leisten. So
sollen Eltern, die halbtags arbeiten gehen, auch nur jeweils einen halben Monat Elterngeldanspruch verbrauchen. Wenn beide Eltern nacheinander jeweils sieben
Monate im Beruf aussetzen, bekommen sie gemeinsam
14 Monate lang das volle Elterngeld. Wenn beide parallel sieben Monate halbtags arbeiten, ist für sie schon
nach sieben Monaten der Bezug des Teilelterngelds vorbei. Das soll der Antrag ändern.
Der Entschließungsantrag der SPD geht ebenfalls in
die richtige Richtung und versucht auch in Teilen, die
Ungerechtigkeiten dieses Gesetzes zu beheben, gerade
was die Anrechnungsfreiheit des Elterngelds bei Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern II und XII angeht.
Von daher wird die Linke diesem Entschließungsantrag
zustimmen.
Es ist schade, dass die Regierung unter Berufung auf
die Haushaltskonsolidierung wieder einmal verpasst,
Familien vernünftig zu unterstützen. In der Neujahrsansprache hat die Bundeskanzlerin versprochen, Familien
zu unterstützen. Und wieder einmal gilt für diese gelbschwarze Koalition: Versprochen - gebrochen!
Die Anträge der Opposition sind durchweg richtungsweisend, was eine Besserstellung von Familien betrifft. Daran hat die Regierung ganz offensichtlich nicht
das geringste Interesse. Konsolidierung ist gut; das
kann man aber auch an anderen Stellen tun, zum Beispiel bei Rüstungsausgaben.
Der Vollzug des Elterngelds wird durch das Gesetz
zwar vereinfacht; bestehende Ungerechtigkeiten werden
allerdings nicht behoben.
Im Ergebnis wird meine Fraktion dem Gesetz wegen
der vertanen Chancen nicht zustimmen, sondern sich
aufgrund der Vereinfachung der Bearbeitung und der
sich daraus ergebenden nicht zu negierenden Beschleunigungseffekte enthalten.
Diejenigen, die derzeit die Republik überzeugen wollen, dass ein Betreuungsgeld notwendig und sinnvoll ist,
mögen unterschiedliche Motive haben. Doch eines haben sie nicht: die Wünsche der Familien im Blick.
Zu Protokoll gegebene Reden
1,2 Milliarden Euro jährlich sind für das Betreuungsgeld vorgesehen. Eine unsinnige und immens kostspielige Maßnahme, gegen die es zu Recht ein breites Bündnis von Verbänden und Wissenschaftlern gibt, die die
Mehrzahl der Deutschen ablehnt und die trotzdem jetzt
wider alle Vernunft im Schweinsgalopp durch das Parlament gepeitscht werden soll.
Diese 1,2 Milliarden Euro könnten wir in der Familienpolitik an anderer Stelle sehr viel besser einsetzen.
Und das würde auch den Wünschen vieler Mütter und
Väter entsprechen. Doch dafür hat die Bundesregierung
kein Geld. Beispielsweise liegen die seit 2009 angekündigten Weiterentwicklungen beim Elterngeld, also das
Teilelterngeld und der Ausbau der Vätermonate, auf Eis,
weil sie unter Finanzierungsvorbehalt stehen.
Bei der kürzlich durchgeführten Anhörung zum Elterngeld waren sich die Expertinnen und Experten völlig
einig, dass wir das Teilelterngeld ausbauen sollten. Die
jetzige Regelung hat den großen Nachteil, dass die Eltern, die sich die Kindererziehung partnerschaftlich teilen, benachteiligt und diskriminiert werden. Das können
wir alle eigentlich nicht wollen. Alle Expertinnen und
Experten waren sich auch einig: Die Partnermonate
beim Elterngeld müssen ausgebaut werden. Auch das
finden wir eigentlich alle richtig. Beide Vorschläge sind
auch im Koalitionsvertrag so vorgesehen. Es liegen
auch bereits Vorschläge vor, das Teilelterngeld mit nur
geringen Kosten oder gar kostenneutral zu ermöglichen
oder die Partnermonate auszuweiten. Doch die Regierung lässt sich lieber von der bayerischen Landespartei
ein antiquiertes Familienbild diktieren und propagiert
ein Betreuungsgeld, als tatsächlich bessere Rahmenbedingungen für ein Leben mit Kindern zu schaffen. Die
Weiterentwicklung des Elterngeldes wäre die richtige
Maßnahme zum richtigen Zeitpunkt, flankiert durch eine
gute, verlässliche Kinderbetreuung.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Vollzug des
Elterngelds hat die Bundesregierung leider nicht die
Chance genutzt, Familienpolitik entlang der Bedürfnisse
von Familien zu machen und das Elterngeld substanziell
weiterzuentwickeln. Neben richtigen verwaltungstechnischen Veränderungen, die zu einer Verkürzung der Bearbeitungszeiten und zu einem Abbau von Bürokratie führen sollen, drohen durch die Gesetzesänderung jedoch
auch Verschlechterungen für bestimmte Personengruppen. Ich spreche hier von Eltern und Kindern mit Behinderungen. Durch die Reform werden behinderungsbedingte Freibeträge bei der Berechnung des Elterngelds
ausgeklammert. Das führt zu einer Absenkung des ausgezahlten Elterngelds. Eltern mit Behinderungen oder
Eltern, deren Kinder mit Behinderungen aufwachsen,
sind jedoch ohnehin oft in ihrer Erwerbstätigkeit eingeschränkt. Daher wäre es ungerecht und nicht im Sinne
der Zielsetzung des Elterngelds, wenn die wirtschaftliche Situation dieser Familien durch ein geringeres Elterngeld weiter verschlechtert wird. Hier muss die Bundesregierung dringend eine Lösung finden. Statt sich
wegen des Betreuungsgeldes in immer neuen Krisengesprächen aufzureiben, sollte sie endlich die richtigen
Prioritäten in der Familienpolitik setzen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9841, den
Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1221
in der Ausschussfassung anzunehmen.
Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9996 ab. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. CDU/CSU und FDP waren dagegen.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die SPD
war dagegen. Bündnis 90/Die Grünen und die Linke haben sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer möchte zustimmen und erhebt sich deswegen? - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! - Mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie
vorher ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/9997. Wer stimmt für den
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei
Zustimmung durch die einbringende Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Die Koalitionsfraktionen waren allerdings dagegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Tom Koenigs, Hans-Christian
Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eigengebrauch von Cannabis wirksam entkriminalisieren - Nationale und internationale
Drogenpolitik evaluieren
- Drucksache 17/9948 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auch hierzu sind die Reden zu Protokoll gegeben
und genommen.
In Ihrem Antrag sprechen Sie davon, dass Cannabis
eine Alltagsdroge sei. Aber die aktuelle Repräsentativerhebung „Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2011“ der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung zeigt, dass der Konsum von
Alkohol, Tabak und Cannabis unter Jugendlichen im
Alter von 12 bis 17 Jahren in den letzten zehn Jahren
kontinuierlich zurückgegangen ist. Im Jahr 2011 gaben
6,7 Prozent der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen an,
schon einmal Cannabis konsumiert zu haben. Damit hat
sich der Prozentsatz im Vergleich zum Spitzenwert aus
dem Jahr 2004 - 15,1 Prozent - mehr als halbiert.
Im Gegensatz zum insgesamt positiven Trend bei den
Jugendlichen ist bei den jungen Erwachsenen zwischen
18 bis 25 Jahren der Alkoholkonsum unverändert hoch
und der Cannabiskonsum stabil.
Wenn wir aber wenigstens solche Erfolge zumindest
bei den Jugendlichen vorweisen können, gäben wir doch
ein völlig falsches Signal, wäre es geradezu kontraproduktiv, wenn man wie Sie die Legalisierung der Droge
fordert.
Zusätzlich ist auch die Anzahl der Personen, die sich
in Behandlung begibt, weiterhin hoch. Im Jahr 2010 waren es 23 349 Personen, die wegen einer cannabisbezogenen Störung eine ambulante oder stationäre Therapie
gemacht haben.
Es ist meines Erachtens außerordentlich wichtig und
muss doch hoffnungsvoll stimmen, wenn deutlich weniger Kinder und Jugendliche Cannabis konsumieren. Unsere Prävention wirkt offensichtlich. Eine derart unverantwortliche Haltung Ihrerseits in der Drogenpolitik
kann ich nicht nachvollziehen.
Eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes, wodurch die Strafbarkeit bei Personen entfällt, die Cannabis in geringen Mengen zum Eigenverbrauch konsumieren, wird es mit uns nicht geben.
Eine sinnvolle Suchtpolitik stellt den Menschen in den
Mittelpunkt mit seinen spezifischen, meist suchtstoffübergreifenden Problemen. Es geht um die Fragen der
Entstehung von Sucht, der meist ein komplexes Geflecht
aus Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen, Störungen im emotionalen Gleichgewicht oder Misshandlung zugrunde liegt.
Wir stellen mit unserem Verständnis von Drogen und
Suchtpolitik deshalb Prävention, Therapie, Hilfe zum
Ausstieg und die Bekämpfung der Drogenkriminalität in
den Mittelpunkt. Unser christliches Menschenbild geht
vor allem vom freien unabhängigen Menschen aus.
Denn wer abhängig ist, kann nicht frei über sein Leben
entscheiden. Genau deshalb stehen wir zuerst für Prävention und im zweiten Schritt für Hilfe zum Ausstieg.
Staatliche Strafverfolgung ist und bleibt notwendig,
um den Schutz der Gesundheit Dritter, aber vor allem
auch von Kindern und Jugendlichen, zu sichern. Der
Bund fördert mit diesem Verständnis von Sucht zahlreiche Initiativen und Projekte, die sich insbesondere an jugendliche Konsumenten wenden. Ich verweise hier zum
Beispiel auf das Internetangebot der BZgAw „drugcom.de“.
Wir wollen die Menschen mit riskantem Cannabiskonsum so früh wie möglich mit unterschiedlichsten Angeboten erreichen, um so den Ausstieg zu ermöglichen
oder zumindest den Konsum zu reduzieren. Das ist für
mich der richtige Weg.
Konkret zu Ihrem Antrag stelle ich fest: Illegale Drogen wie Cannabis stellen nachgewiesenermaßen und
entgegen Ihrer Darstellung für die Gesundheit der Menschen eine erhebliche Gefahr dar. Während in anderen
europäischen Staaten, allen voran den Niederlanden,
der Konsum von Cannabis - Haschisch, Marihuana immer weiter eingeschränkt wird, wollen Sie mit Ihrem
Antrag Cannabis in Deutschland künftig erlauben.
Nochmals: Cannabis ist kein harmloses Betäubungsmittel. Der Cannabiskonsum birgt nach neueren medizinischen Erkenntnissen erhebliche physische und psychische Risiken. Chronischer Konsum kann nicht nur zur
psychischen, sondern auch zur körperlichen Abhängigkeit führen. Genau davor will das BtmG schützen.
Ein wissenschaftliches Gutachten aus den Niederlanden aus dem Jahr 2008 bestätigt überdies, dass die Einführung von Cannabisclubs, ein Thema, das Ihnen auch
am Herzen liegt, der organisierten Kriminalität erheblichen Vorschub leistet, weil die Trennung der Märkte, das
ursprüngliche Ziel der niederländischen Drogenpolitik,
nicht funktioniert.
Nicht zuletzt gehen wir sehr differenziert vor: Mit der
25. Verordnung zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften haben wir neben wichtigen anderen
Regelungen zur Verbesserung der betäubungsmittelrechtlichen Rahmenbedingungen auf dem Gebiet der
Palliativmedizin auch die betäubungsmittelrechtlichen
Voraussetzungen für die Zulassungs- und Verschreibungsfähigkeit cannabishaltiger Fertigarzneimittel geschaffen. Eine Legalisierung des Cannabiskonsums
- egal in welcher Menge - lehnen wir aber weiterhin ab.
Nur nochmal zur Erinnerung: Die von mehr als
180 Staaten unterzeichneten Suchtstoffkonventionen der
Vereinten Nationen verpflichten die Bundesrepublik
Deutschland überdies, die Verwendung von Cannabis
und anderen Suchtstoffen auf ausschließlich medizinische oder wissenschaftliche Zwecke zu beschränken sowie den Besitz, Kauf und Anbau für den persönlichen
Verbrauch mit Strafe zu bewehren. Deshalb ist in
Deutschland wie auch in anderen europäischen Staaten,
die allesamt Vertragsstaaten der Suchtstoffkonventionen
sind, der Verkehr mit Cannabis, dazu zählen insbesondere Anbau, Herstellung, Handel, Einfuhr, Abgabe, Veräußerung, Erwerb und Besitz von Pflanzen oder Pflanzenteilen, nach dem BtMG grundsätzlich strafbar.
Hiervon umfasst ist auch der ({0})Anbau.
Zudem ist in der von Ihnen zitierten „Cannabisentscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März
1994 gerade ausdrücklich die Verfassungsmäßigkeit der
gesetzlichen Cannabisverbote anerkannt. Mit seinen Beschlüssen vom 29. Juni 2004 und 30. Juni 2005 hat das
Bundesverfassungsgericht sogar seine früheren Entscheidungen zur Strafbarkeit in aller Deutlichkeit bestätigt und unsere Haltung ausdrücklich gestärkt.
Das Gericht hat lediglich die Strafverfolgungsorgane
aufgefordert, von der Verfolgung der in § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes - einer damals noch sehr jungen
Zu Protokoll gegebene Reden
Vorschrift - bezeichneten Straftaten unter den dort genannten Voraussetzungen nach dem Übermaßverbot abzusehen bzw. die Strafverfahren einzustellen. Die Länder
wurden aufgefordert, für eine einheitliche Einstellungspraxis bei Strafverfahren wegen Cannabisbesitz - zum
Beispiel hinsichtlich der „geringen Menge“ - zu sorgen.
Dieser Verpflichtung sind die Länder nachgekommen. In
der Regel findet eine Verurteilung wegen des Besitzes
kleiner Mengen Cannabis bis zu 6 Gramm unter den übrigen Voraussetzungen nicht statt. Wenn Sie dann von
unterschiedlichen Einstellungspraktiken sprechen, so
kann ich nur auf den Föderalismus verweisen.
Auch bezüglich des Anbaus, Handels und Besitzes
von Cannabis bleibt die Rechtslage mit uns unverändert.
Denn die grundsätzliche Strafbarkeit beruht auf der Gefahr der Weitergabe an Dritte und dem Ziel des Gesundheitsschutzes des Einzelnen und der Bevölkerung. Auch
neuere Studien haben Cannabis nicht als unbedenklich
bewertet, vielmehr wird auf eine Reihe akuter und langfristiger Risiken des Cannabiskonsums hingewiesen. Die
Gefährlichkeit des Cannabiskonsums wird in den letzten
Jahren sogar eher höher eingeschätzt als früher, zumal
eine stetige Steigerung des THC-Gehalts bei Cannabisprodukten zu beobachten ist. Die Gesundheitsgefahren
des Cannabismissbrauchs gerade bei Jugendlichen und
Heranwachsenden sind medizinisch erwiesen. Ich bin
auch dankbar, dass sich in jüngster Zeit grundsätzlich
ein Rückgang im Konsum und in der Verbreitung von
Cannabis zeigt. Dies zeigt doch vor allem, dass unsere
zahlreichen Initiativen und Projekte Wirkung zeigen.
Dies gilt es fortzusetzen. Dafür stehen dem Bund in diesem Jahr rund 12,6 Millionen Euro und insbesondere
rund 7 Millionen Euro für Aufklärungsmaßnahmen zur
Verfügung.
Um letztlich noch auf Ihren zweiten Antrag einzugehen: Richtig ist, dass Deutschland weiterhin die internationale Zusammenarbeit im Bereich des Betäubungsmittelrechts aktiv mitgestaltet. Die Drogenbeauftragte hat
zuletzt in der Sitzung des Gesundheitsausschusses vom
13. Juni 2012 dazu berichtet. Selbstverständlich fließen
auch diese internationalen Erkenntnisse in die Drogenpolitik der christlich-liberalen Koalition ein. Aber
Evaluierung heißt erfassen und bewerten, nicht 1:1-Umsetzung. Die christlich-liberale Fraktion wird die Bundesregierung dort in ihren Reformbemühungen unterstützen, wo dies aus ihrer Sicht notwendig ist. Auf das
differenzierte Vorgehen im Hinblick auf cannabishaltige
Fertigarzneimittel habe ich bereits beispielhaft verwiesen. Dazu bedarf es keiner weiteren Kommission.
Schlussendlich bleibt festzuhalten: Mit dem Willen
unserer Fraktion werden auch künftig der Handel und
die Verwendung von Cannabis zu Rauschzwecken verboten bleiben. Durch die präventive Wirkung der Strafdrohung soll die Verfügbarkeit und Verbreitung der Substanz weiterhin eingeschränkt bleiben.
Ein Wegfall der Strafbarkeit und, damit gleichgesetzt,
eine Freigabe der Droge ist ein gesundheitliches und innenpolitisches Armutszeugnis. Eine weitere Freigabe
von Rauschmitteln ist angesichts der enormen Anstrengungen, den Missbrauch von Alkohol zu verhindern und
Jugendliche zu schützen, nicht vertretbar. Eine Öffnung
würde zu einem deutlich höheren Konsum und einer größeren Zahl von Abhängigen führen. In der Folge kämen
auch Kinder und Jugendliche einfacher und häufiger mit
diesem Rausch- und Suchtmittel in Kontakt. Dies könnte
insbesondere von dieser Personengruppe als Aufmunterung zum Drogenkonsum verstanden werden.
Wir lehnen daher alle Maßnahmen mit dem Potenzial
zur unmittelbaren und aktiven Förderung des Konsums
von illegalen Drogen ab.
Der effektivste Schutz vor illegalen Substanzen besteht vielmehr darin, den Konsum dieser Substanzen
konsequent zu unterlassen. Das erfordert unsere Anstrengungen in der Prävention und vor allem auch dahin
gehend, die Lebensbedingungen für junge Menschen in
Deutschland so zu gestalten, dass eine Flucht aus der
Realität in die Sucht erst gar nicht als Ausweg in Betracht gezogen wird. Genau in diesem Bereich ist die
christlich-liberale Koalition mit ihren Anstrengungen
zum Beispiel für Arbeitsplatzsicherheit und daraus resultierend zum Beispiel einer der besten Quoten für Jugendarbeitslosigkeit in Europa auf dem richtigen Weg.
Die Rechtspraxis bezüglich des § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes ist in den jeweiligen Bundesländern
und Gerichtsbezirken in der Tat nicht einheitlich und damit aus rechtsstaatlichen und demokratiepolitischen
Gründen durchaus problematisch. Zu Recht kritisieren
dies die Grünen in ihrem Antrag. Und die Debatte ist
nicht neu. Die damalige SPD-geführte Bundesregierung
hatte schon als Reaktion auf die sogenannte HaschischEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994
bei den zuständigen Landesjustizministerien insbesondere die Festlegung einer „geringen Menge“ für den Eigenkonsum angeregt. Vor allem die starre Haltung der
unionsgeführten Bundesländer in dieser Problematik
hat dazu geführt, dass es bis heute keine einheitliche Regelung zur Festlegung der Kriterien für die Einstellungspraxis nach § 31 a BtMG gibt und wir uns immer
wieder mit unterschiedlichen Gerichtsurteilen in den
einzelnen Gerichtsbezirken und Bundesländern auseinandersetzen müssen. Ich erinnere Sie an die letzte
Anhörung des Gesundheitsausschusses zum Thema Cannabis als Arzneimittel, in der dieses Thema auch zur
Sprache kam. Dies kann der Gesetzgeber nicht hinnehmen. Dies untermauern auch die im Antrag angeführten
Studien zur Rechtsanwendung.
Der heute eingebrachte Antrag der Grünen fordert
also aus meiner Sicht zu Recht eine einheitliche Strafverfolgung, doch schießt er meines Erachtens in anderen Teilen ein Stück weit über das Ziel hinaus. Ist die
Forderung nach einer Kommission zur Evaluierung des
Betäubungsmittelgesetzes noch verständlich und unterstützenswert, so ist die Forderung nach einem Gesetzentwurf, der den Anbau von Cannabis ohne transparente
und exakte Grenze straffrei stellen soll, unrealistisch
und naiv.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Grünen-Fraktion: Die AnhörunZu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
gen des Deutschen Bundestages zum Konsum von Cannabis scheinen Sie leider nur sehr selektiv wahrzunehmen. Sowohl die Frage, inwiefern Cannabiskonsum die
Wahrscheinlichkeit für einen späteren Konsum härterer
Drogen erhöht, als auch die Frage nach der Gesundheitsgefährdung durch gelegentlichen oder regelmäßigen Konsum von Cannabis sind in den Anhörungen mitnichten so eindeutig widerlegt worden, wie die Grünen
in ihrem Antrag behaupten. Zudem geben die Grünen
weder auf die Frage, wie der Anbau zum Eigenverbrauch definiert bzw. kontrolliert werden soll, eine
glaubhafte Begründung noch für Folgeprobleme, die mit
so einer Regelung entstehen würden, wie zum Beispiel
die Kontrolle des THC-Grenzwerts von Konsumenten im
Straßenverkehr. Dabei ist beim Cannabis die Dosis/Konzentration-Wirkung-Beziehung immer noch weitgehend
unbekannt, und sie kann nicht so zuverlässig wie beim
Alkoholkonsum kontrolliert werden. Bei Cannabis handelt es sich um eine Vielzahl von Mitteln und Substanzen
mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Fahrleistungen.
Ich habe das Gefühl, im Gegensatz zu anderen Problematiken und Sachverhalten erscheinen Ihnen solche
Detailfragen erstaunlich lästig und unwillkommen. Das
macht einen dann schnell skeptisch. Die Liberalisierung
des Eigengebrauchs beim Cannabiskonsum scheint für
Sie ein überfälliges Zeichen an Ihre Wählerinnen und
Wähler zu sein. So liest sich zumindest der Antrag spätestens bei den Begründungen. Diese wirken auf mich
wie Teile eines Strategiepapiers des Hanfverbands. Was
für die FDP die Unterstützung der privaten Krankenversicherung ist, ist für die Grünen vermutlich die regelmäßige Forderung nach der Freiheit des Kiffens. Mich sorgt
dabei vor allem die sichtbare Bagatellisierung der Gesundheitsgefährdungen durch den regelmäßigen Konsum von Cannabis sowie vor allem die Gedankenlosigkeit der Grünen bei zu definierenden Grenzen des
Eigengebrauchs. Warum legen Sie sich nicht auf eine
feste Grenze für eine mögliche Geringe-Mengen-Regelung für § 31 a in Verbindung mit § 29 BtMG fest? Weil
dem Hanfverband 10 oder 15 Gramm nicht reichen,
oder weil Sie fürchten, in den Verhandlungen mit unionsgeführten Ländern unter diesen Grenzen zu landen? Sie
schreiben selbst in der Begründung des Antrags - übrigens
fast im Stil einer Gebrauchsanweisung -, dass der Ertrag
allein einer Cannabispflanze bereits über 10 Gramm liegen könnte. Und Sie schlussfolgern daraus, dass man
neue Regelungen für den Anbau von Pflanzen und für
den Erwerb von Samen brauche. Sie beantworten die
Fragen aber nicht, wer denn für die Kontrolle dieses Anbaus zuständig sein soll, wer ihn überwachen soll etc.
In den weiteren Beratungen dieses Antrags werden
Sie deutlich machen müssen, wie viele Pflanzen es Ihrer
Meinung nach sein sollen, inwiefern wir uns auf die angeblich etwas kleinere Psychosewahrscheinlichkeit
durch Cannabis verlassen können, ob es anderslautende
Studien gibt und wie die Folgeprobleme eines straffreien
Eigenanbaus gelöst oder vermieden werden können.
Welches Signal ein straffreier Eigenanbau für die Suchtprävention ist und wie die Grenze des Eigenanbaus definiert und kontrolliert werden soll, wären weitere Fragen
der praktischen Politik und Rechtsanwendung, die Sie
- ähnlich der daueroppositionellen Linksfraktion - bei
diesem Thema stets unbeantwortet lassen.
An der FDP können Sie sehen, wie schief es gehen
kann, wenn man sich auf Geschenke an die eigene Klientel konzentriert. Auf die 4,8 Prozent der Cannabiskonsumenten, die Sie in Ihrem Antrag als Begründung für eine
Legalisierung angeben, würde ich mich dabei nicht verlassen; denn auch diese Bürgerinnen und Bürger schätzen eine verantwortungsvolle Politik, die beispielsweise
den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Drogen
und Sucht ernst nimmt. Und davon ist in Ihrem Antrag
leider keine Silbe zu lesen. Sehr schade.
Ziel des vorliegenden Antrags ist der komplette Wegfall der Strafbarkeit von Konsum, Anbau, Herstellung,
Einführung, Erwerb, Besitz und Handel von Cannabis.
Das ist unhaltbar.
Ich halte den Weg, den Gelegenheitskonsum von
Cannabis ein Stück weit zu entkriminalisieren, durchaus
für richtig. Es gilt, angemessen und verhältnismäßig auf
die Tatsache zu reagieren, dass das gelegentliche Rauchen eines Joints ein gesellschaftliches Phänomen ist,
das nicht mit aller Staatsmacht angegangen werden
muss. Deshalb halte ich eine Entkriminalisierung über
den Weg geringer Eigenbedarfsmengen für praktikabel.
Dabei muss zunächst festgehalten werden: Der bloße
Konsum von Cannabisprodukten war schon immer straffrei, nur der Besitz und Handel etc. nicht. Es gilt weiterhin: Wer Cannabisprodukte „anbaut, herstellt, mit ihnen
Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in Verkehr bringt, erwirbt
oder sich in sonstiger Weise verschafft“ - so hält der
§ 29 des Betäubungsmittelgesetzes es fest - macht sich
strafbar. Allerdings gab es durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts bereits eine gewisse Entkriminalisierung des Eigengebrauchs von Cannabis. Das Bundesverfassungsgericht hat sich jedoch nicht genau
festgelegt, was eine geringfügige Menge denn nun tatsächlich ist. Das Gesetz unterscheidet nur zwischen der
„geringen Menge“, der „Normalmenge“ und der „nicht
geringen Menge“, gibt dafür jedoch Anhaltspunkte. Es
liegt im Ermessen der jeweiligen Bundesländer, inwieweit der Besitz gewisser Mengen straffrei bleibt. Die
Länder haben da jeweils unterschiedliche Regelungen.
Das erwähnte Urteil sollte vor allem dazu beitragen,
Erst- oder Geringkonsumenten zu entkriminalisieren,
sodass von einer Strafverfolgung abgesehen werden
kann, begründet unter anderem durch das verfassungsmäßige Verbot übermäßiger Bestrafung.
Eine praktikable Entkriminalisierung des Eigenbedarfs würde durch eine Anhebung oder gar Aufhebung
der Mengengrenze konterkariert. Eine praktikable Entkriminalisierung kann meines Erachtens nur über eine
möglichst niedrige Menge gewährleistet werden. Denn
nur dadurch, durch die möglichst niedrige Menge, wird
deutlich, dass mit dem mitgeführten Betäubungsmittel
kein Handel betrieben werden soll und ausschließlich
Zu Protokoll gegebene Reden
der Eigenbedarf bzw. der tatsächliche eigene Konsum
im Vordergrund steht. Je höher die Grammzahl jedoch
ist, desto mehr kann man aus der mitgeführten Menge
ableiten, dass vielleicht doch andere Konsumenten an
dem Stoff teilhaben sollen und mit ihm gedealt werden
könnte. Deshalb wäre eine Anhebung der Mengengrenze
kontraproduktiv. Denn es kann nicht ausgeschlossen
werden, dass der von den Grünen skizzierte „gemeinsame Konsum“ tatsächlich unentgeltlich stattfindet. Das
ist grüne Träumerei. In Wahrheit wird doch gedealt, bis
sich die Balken biegen.
Bei allem gemeinsamen Bestreben, Erst- oder Geringkonsumenten entgegenzukommen, muss festgehalten
werden: Cannabis ist illegal, sein Konsum ist gefährlich
und kann den Einstieg in eine Suchtspirale hin zu härteren Drogen bedeuten. Die in der Öffentlichkeit oft geäußerte völlige Unbedenklichkeit des Cannabiskonsums
entspricht nicht den vorliegenden wissenschaftlichen
Erkenntnissen. Experten warnen insbesondere, dass
Cannabis immer stärker und immer giftiger wird. Der
THC-Gehalt ist im Laufe der Jahre stetig gestiegen. Beispielsweise weisen Experten auf die Gefahr von schizophrenen Psychosen hin. So heißt schon es im Drogenund Suchtbericht der Bundesregierung vom Mai 2009,
dass manche neue, synthetische Substanzen aus der Arzneimittelforschung stammen und daher eine vielfach
stärkere Wirkung als das THC der Cannabispflanze haben. Dies bedeutet ein hohes gesundheitliches Risiko.
Es sind Erkenntnisse wie diese, die mich ermutigen,
weiterhin vor der Verharmlosung von Cannabis zu warnen - und eine weitergehende Entkriminalisierung
würde genau diese Verharmlosung bewirken. Im Übrigen halte ich diesen Ansatz der Grünen für schizophren.
Denn wo immer sie können, wollen sie den Konsum
„normaler“ Tabakprodukte einschränken, verbieten
oder sanktionieren. Aber wenn dem Tabak ein bisschen
Harz oder Gras beigemischt ist, verfolgen sie eine ganz
andere Linie. Das ist nur schwer nachvollziehbar.
Ich freue mich darüber, dass nun auch die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag zur vollständigen
Entkriminalisierung des Cannabiskonsums vorgelegt
hat. Wir haben bereits mit unserem Antrag zur Einführung von Cannabisclubs - Drucksache 17/7196 - Ende
des letzten Jahres einen konkreten Vorschlag für eine
Legalisierung auf den Weg gebracht, der in einer öffentlichen Anhörung zum Antrag am 25. Januar 2012 mündete. Unser Ziel war es, einen Wettbewerb der Parteien
zu initiieren, in welchem die besten Lösungen für eine
moderne Drogenpolitik im Mittelpunkt stehen. Das haben wir erreicht.
Der vorliegende Antrag geht in die richtige Richtung,
auch wenn klar gesagt werden muss, dass unser Antrag
zur Einführung von Cannabisclubs den weitergehenden
Antrag darstellt. Leider beantwortet der Antrag der
Grünen nämlich nicht die Frage nach dem Vertrieb von
Cannabis. Nach dem vorliegenden Antrag sollen die
Konsumierenden die Möglichkeit zum Eigenanbau erhalten. Ist das jedoch nicht möglich, müssen sie weiterhin auf den Schwarzmarkt zurückgreifen oder das Glück
besitzen, jemanden zu kennen, der Eigenanbau betreibt
und bereit ist, zu teilen. Außerdem muss betont werden,
dass zur Ermöglichung des Eigenanbaus auch der
Vertrieb von Samen erlaubt werden müsste. Das wird im
Antrag - wenn überhaupt - nur implizit gefordert.
Trotzdem ist der Antrag auf dem Weg zu einer modernen Drogenpolitik ein richtiger Schritt. Die Kriminalisierung der Cannabiskonsumierenden muss endlich ein
Ende haben. Sie ist unverhältnismäßig der Bürgerin und
dem Bürger gegenüber und steht dem Jugend- und
Verbraucherschutz vollkommen entgegen. Sie grenzt
Cannabiskonsumierende aus der Gesellschaft aus.
Diese werden gezwungen, sich an den Schwarzmarkt zu
binden; im schlimmsten Fall entstehen dadurch Kriminalitätskarrieren.
Die Kriminalisierung bedeutet zudem eine konkrete
Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Personen, die auf den Konsum von Cannabis aus medizinischen Gründen angewiesen sind. So berichtet Herr
Dr. med. Grotenhermen, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin, in seiner Stellungnahme zur Anhörung des Gesundheitsausschusses am
9. Mai 2012 zur medizinischen Verwendung von Cannabis von einem erblindeten Multiple-Sklerose-Patienten,
der vor etwa 15 Jahren festgestellt hat, dass Cannabis
bei seiner Symptomatik hilfreich ist. Er wurde im Frühjahr dieses Jahres in einem Zug aus den Niederlanden
mit 150 Gramm Cannabis aufgegriffen und muss sich
nun strafrechtlich verantworten. Herr Grotenhermen
berichtet ebenso von einem weiteren ihm bekannten
Patienten aus Würzburg, der eine ähnliche Situation erlebte und daraufhin nach Spanien ausgewandert ist, da
er die Bewährungsauflagen in Deutschland aus gesundheitlichen Gründen nicht einhalten konnte.
Dass Cannabis unter das Betäubungsmittelgesetz
fällt, stellt einen erheblichen Eingriff in die Bürgerrechte dar. Gerade deshalb müssen die Folgen dieses
Eingriffs im Gleichgewicht zum Zweck der Maßnahme
stehen, um legitim zu sein. Das ist bei der aktuellen
Drogenpolitik nicht der Fall.
Der Antrag der Grünen fordert richtigerweise eine
einheitliche Rechtslage in Deutschland zum Eigenverbrauch von Cannabis. Aber wie bereits erwähnt, kann
dies nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer vollkommenen Legalisierung von Cannabis sein. Wie im
Antrag erwähnt, greift dieser ähnliche Initiativen der
SPD-Bundestagsfraktion aus der 12. und 13. Legislaturperiode auf. Ich hoffe daher, dass die SPD endlich über
ihren Schatten springt und dazu beiträgt, die Kriminalisierung endlich zu beenden.
Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass SPD und
Grüne in ihrer Regierungszeit 1998 bis 2005 keinerlei
Verbesserungen im Bereich der Entkriminalisierung der
Konsumierenden eingeführt und sich nicht für die Legalisierung von Cannabis und Cannabisprodukten eingesetzt haben. Auch unter der Federführung eines grünen
Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg sind bis
heute noch keinerlei Verbesserungen für Cannabiskonsumierende eingetreten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aber weiter zum Antrag: Die Forderung nach Einrichtung einer Kommission, die das Betäubungsmittelrecht im Hinblick auf unerwünschte Wirkungen formulieren soll, ist ein ebenso richtiger Schritt. Diese
Kommission soll rechtliche, soziale und gesundheitliche
Folgen evaluieren und Empfehlungen für Reformen in
der Drogenpolitik abgeben.
Hierbei sollten wir auf die Erfahrungen aus Portugal
zurückgreifen: Dort ist man mit der Einrichtung einer
solchen Kommission den ersten von vielen nötigen
Schritten hin zu einer modernen Drogenpolitik gegangen. Die Anzahl der Konsumierenden oder Abhängigen
von bis dato illegalisierten Drogen hat sich in Portugal
nicht erhöht; dafür hat sich die Gesundheitslage der Abhängigen verbessert, die HIV-Infektionsrate ist zurückgegangen und die Kriminalisierung der Konsumierenden wurde beendet.
Eine Evaluierung des gesamten Drogenstrafrechts ist
daher auch in Deutschland dringend erforderlich.
Kriminalisierung von Konsumentinnen und Konsumenten, Verhinderung der letzten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten für chronisch kranke Menschen: Cannabis und der Umgang damit ist das Symbol
dafür, was grundsätzlich falsch läuft in der nationalen
und internationalen Drogenpolitik.
Obwohl mittlerweile wissenschaftlich belegt ist, dass
es für die Tatsache und die Höhe des Konsums von Cannabis keine Rolle spielt, ob diese Substanz verboten ist,
hält die Bundesregierung nach wie vor daran fest.
Gleichfalls wissenschaftlich belegt ist, dass die gesundheitlichen Risiken des Cannabiskonsums unter denen
von Alkohol oder Tabak liegen. Trotzdem hält die Bundesregierung an dem Verbot fest und verbreitet weiter
die unhaltbare These, dass der Cannabiskonsum per se
gefährlich sei. Und obwohl inzwischen klar ist, dass es
vor allem die Kriminalisierung der Konsumentinnen und
Konsumenten ist, die durch den Schwarzmarkt zu erheblichen gesundheitlichen Risiken führt, hält die Bundesregierung an dem Verbot fest und nimmt damit erhebliche
Gesundheitsschäden der vielfach jungen Menschen in
Kauf.
Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Schon 2004 hat
die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen angemerkt,
dass die strafrechtliche Verfolgung der Konsumentinnen
und Konsumenten kontraproduktiv ist. Die Europäische
Drogenbeobachtungsstelle hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass es keinen Zusammenhang zwischen gesetzlichen Regelungen und dem Konsum gibt. 2009 hat eine
Studie im Auftrag der Bundesregierung ergeben, dass
etwa zwei Drittel des finanziellen Engagements des
Staates in Bezug auf Drogen in repressive Maßnahmen
fließen. 10 Prozent der gesamten öffentlichen Ausgaben
für die öffentliche Sicherheit und Ordnung haben einen
Bezug zu illegalen Drogen. Nur ein geringer Teil der
Mittel fließt hingegen in Prävention, Therapie- und
Hilfsangebote. Und schon vor fast 20 Jahren hat eine
Studie im Auftrag des Bundeskriminalamts die These
von Cannabis als Einstiegsdroge verworfen.
Ich frage mich nun ernsthaft, warum wir uns eigentlich auf nationaler und europäischer Ebene all die Studien und Beratungsinstitutionen in der Drogenpolitik
leisten, wenn deren Erkenntnisse insbesondere durch die
Bundesregierung überhaupt nicht berücksichtigt werden. Oder um grundsätzlich zu fragen: Warum verzichten wir in der Drogenpolitik auf Evidenz? Warum werden Forschungsergebnisse ignoriert und weiter Mythen
verbreitet? Warum macht die Bundesregierung drogenpolitische Strategien und evaluiert nicht einmal, ob und
wie ihre repressiven Maßnahmen in der Drogenpolitik
wirken? Warum behaupten Sie nach wie vor, Cannabis
sei eine Einstiegsdroge oder habe eine Schrittmacherfunktion, obwohl seit 20 Jahren das Gegenteil belegt ist?
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Frau
Dyckmans, behauptet, sie würde für eine moderne, am
Menschen orientierte Drogenpolitik stehen. Am
26. März dieses Jahres hat sich nun diese Drogenbeauftragte zusammen mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamts vor die Presse gestellt und gefordert, den Kampf
gegen die Betäubungsmittelkriminalität weiterhin mit
allen zur Verfügung stehenden Mitteln - präventiv wie
repressiv - zu betreiben. Und so frage ich die Bundesregierung weiter: Warum spielt es keine Rolle für Sie, dass
der von ihr propagierte „War on drugs“ viele Staaten an
den Abgrund geführt und allein in Mexiko seit 2007 fast
50 000 Menschenleben gekostet hat?
1994 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem
damaligen Urteil darauf hingewiesen, dass auch bei
Cannabiskonsumenten das verfassungsrechtliche Übermaßverbot zu gelten hat. „Die Verhängung von Kriminalstrafe gegen Probierer und Gelegenheitskonsumenten kleiner Mengen von Cannabis kann in ihren
Auswirkungen auf den einzelnen Täter zu unangemessenen und spezialpräventiv eher nachteiligen Ergebnissen
führen, wie etwa einer unerwünschten Abdrängung in
die Drogenszene“, urteilte das Bundesverfassungsgericht seinerzeit.
Allerdings hat die herrschende Drogenpolitik hieraus
kaum Schlüsse gezogen. Nach wie vor wird das Märchen
erzählt, der Eigengebrauch von Cannabis sei entkriminalisiert. Die Bundesregierung behauptet in der gewohnten Spitzfindigkeit, ihr lägen keine Erkenntnisse
vor über die Zahl konsumnaher Delikte. Dann gebe ich
Ihnen eine Hilfestellung: Schauen Sie einfach in die sogenannten Lagebilder Rauschgiftkriminalität des Bundeskriminalamts und dort unter Allgemeine Verstöße
gegen das Betäubungsmittelgesetz. Da werden Sie entsprechende Zahlen finden: Gegen fast 100 000 Menschen werden Jahr für Jahr Strafverfahren eröffnet, weil
sie Cannabis zum Eigenverbauch besitzen oder anbauen. Schauen Sie sich an, bei wie vielen Cannabiskonsumentinnen und -konsumenten Jahr für Jahr die Fahreignung überprüft wird oder wie viele gar ihre
Fahrerlaubnis verlieren, obwohl sie gar nicht unter Einfluss dieser Droge gefahren sind. Diesen Menschen mag
die Behauptung, der Eigengebrauch von Cannabis sei
bei uns entkriminalisiert, wie Hohn in den Ohren klingen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir erleben in Berlin gerade, wie ohne Not eine Absenkung der sogenannten geringen Menge für Cannabis
erwogen wird. Dabei zeigen uns Studien, dass es keinerlei Rolle für den Cannabiskonsum spielt, ob die geringe
Menge bei 15 Gramm oder 6 Gramm liegt. In Berlin
wird eine rein ideologische Diskussion geführt, die niemandem nutzt, aber am Ende viel Schaden anrichtet. Da
sind unsere Kolleginnen und Kollegen von der SPD hier
im Bundestag offensichtlich deutlich weiter. Deren drogenpolitische Sprecherin, Frau Graf, befürwortete
immerhin kürzlich eine Entkriminalisierung von „Süchtigen“ und sprach sich für eine bundeseinheitliche geringe Menge aus.
Wir wollen vor diesem Hintergrund mit unserem Antrag nun einen neuen Anlauf nehmen, um eine Entkriminalisierung des Eigengebrauchs von Cannabis zu erreichen. Unser Vorschlag ist eine Regelung, durch welche
die Strafbarkeit des Eigengebrauchs von Cannabis entfällt. Das ist zwar noch keine Legalisierung, wie wir sie
uns vorstellen, aber es ist ein erster Schritt, um die Konsumentinnen und Konsumenten endlich wirksam vor
Kriminalisierung zu schützen.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9948 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der
Tagesordnung finden. - Sie sind damit einverstanden.
Dann haben wir das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 34:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und
Präventionshilfe ({0})
- Drucksache 17/9695 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Die Reden wurden zu Protokoll genommen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Strafgesetzbuchs, mit der offiziellen Bezeichnung „Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe“ hat zum
Gegenstand, den Anwendungsbereich der Kronzeugenregelung einzuschränken.
Die erst 2009 eingeführte Änderung der Kronzeugenregelung hat sich als sehr weitgehend erwiesen. Daher
ist eine Korrektur angebracht, zumal es unserem Rechtssystem ohnehin eher wesensfremd ist, über Strafen zu
verhandeln. Unser Strafrecht beruht auf dem Schuldprinzip. Das Schuldprinzip bedeutet, dass eine gerechte,
schuldangemessene und vor allem gleichmäßige, also in
vergleichbaren Fällen ähnliche Strafe zu finden ist. Wir
reden hier von schweren Straftaten und schwerkriminellen Tätern und Strukturen.
Ein „strafrechtlicher Deal“, und einen solchen stellt
die Kronzeugenregelung dar, kann damit nur in den Fällen gerechtfertigt sein, in denen der Staat, weil er ansonsten an die bedeutsamen Hintermänner schwerer
Straftaten nicht herankommen kann, sie weder aufklären
noch verhindern könnte, kapitulieren müsste.
Dies betrifft damit nur Bereiche, in denen der Staat in
„Aufklärungsnotständen“ ist. Die Kronzeugenregelung
sollte also nicht inflationär, sondern nur restriktiv in geeigneten Fällen angewandt werden. Dies ist angezeigt
bei organisierter Banden-, Milieu- und Wirtschaftskriminalität, bei terroristischen Vereinigungen und bei Serientaten, Korruption, sowie Betäubungsmittelkriminalität also Straftaten, bei Verbrechen Hand in Hand gehen
die feste Strukturen aufweisen, bei denen das Schweigen
Voraussetzung für den Verbrechenserfolg ist und wo der
Verräter sich selbst erheblicher, gar einer Lebensgefahr
aussetzen würde.
Das ist also dort, wo wir derartig straffen Strukturen
gegenüberstehen, dass nur die Offenbarung von Insiderwissen eine Strafverfolgung oder Verhinderung ermöglicht. Das sind Taten, bei denen der übliche Instrumentenkasten der normalen Ermittlungen nicht mehr
ausreicht. Will der Staat nicht vor diesen Verbrechen
kapitulieren, muss er andere Methoden anwenden, wie
das Einschleusen von verdeckten Ermittlern oder die Belohnung für das Offenbaren von Insiderwissen.
Das Insiderwissen gibt es aber nicht umsonst. Der
Preis, den wir dafür bezahlen müssen, ist, dem Straftäter, der zur Offenbarung seines Wissens bereit ist, mit
einer Strafmilderung entgegenzukommen. Die Kronzeugenregelung ist also eine Strafrahmenverschiebung, die
auf einem Deal beruht. Die durch die Aussage des Kronzeugen mögliche Verurteilung oder Prävention von
Straftaten fordert jedoch rechtspolitisch einen durchaus
hohen Preis:
Durch die verhandelte Strafmilderung wird das Prinzip einer gleichmäßigen, berechenbaren und der Schuld
angemessenen Bestrafung verwischt. So kann sich ein
Täter mit besonders großer Schuld möglicherweise einen Vorteil bei der Strafzumessung erhandeln, den sogenannte kleine Straftäter nicht erlangen können. Wir wenden das Strafrecht also ungleich an.
Es besteht auch immer die Gefahr, dass sich Täter
durch falsche Beschuldigungen versuchen, einen Vorteil
zu erkaufen. Anders als ein unbelasteter Zeuge ist es ein
Straftäter, dem es freisteht, sich zu äußern und ob und
wie sehr er sich selbst belasten will. Der Kronzeuge ist
eben nicht der unbelastete und objektive Zeuge im Strafprozess. Er kann seinen Tatbeitrag verharmlosen und
den anderer Täter preisgeben, um für sich und unter
Umständen mit einem „faulen Deal“ einen erheblichen
Vorteil bei der Strafzumessung zu erzielen. Er kann seinen Tatbeitrag ungestraft verharmlosen, obwohl er
Schlimmeres begangen hat, um so Strafklageverbrauch
in eigener Sache zu erreichen. Letztlich bleibt daher immer auch ein Zweifel an dem Wert und der Qualität der
Aussage vom Kronzeugen.
Diese schwere Einschätzung fällt allerdings erheblich leichter, wenn das Offenbarte im Zusammenhang
mit der eigenen Tat steht. Gleichzeitig lässt der Kronzeuge damit erkennen, wie sehr er sich von der Tat und
der Gruppe distanziert. Dies macht auch seine Aussage
wertvoller und damit gewichtiger für seine Schuldfrage.
Nur aus diesem Gesichtspunkt kann es gerechtfertigt
sein, das Maß des Schuldvorwurfs und damit das Maß
der Strafe zu reduzieren.
Soweit er andere Straftaten, die nicht im inhaltlichen
Zusammenhang mit seiner eigenen Straftat stehen, aufklären oder verhindern hilft, findet dies ausreichend Berücksichtigung durch eine Milderung der Strafe durch
die Anwendung der allgemeinen Strafzumessungsregelung des § 46 StGB.
Es geht bei der Beurteilung einer Kronzeugenregelung also im Ergebnis immer darum, die Möglichkeit der
Aufklärung einer Straftat dort, wo der Staat im Ermittlungsnotstand ist, auf der einen Seite gegenüber dem
Preis einer erkauften Strafmilderung auf der anderen
Seite abzuwägen.
Ich meine, dass der aktuelle Gesetzentwurf einen ausgewogenen Kompromiss anbietet. Die Offenbarung von
Insiderwissen zur Aufklärung oder der Verhinderung
von Straftaten sollte in einem Zusammenhang zu der eigenen Straftat stehen.
Nur in diesem Kontext ist der rechtstreuen Bevölkerung die Vergünstigung bei der Milderung des Schuldvorwurfs und der Strafe durch die Kronzeugenregelung
zu vermitteln: nämlich eine Strafmilderung für die eigene Tat, wo die Offenbarung von Insiderwissen im
Zusammenhang mit der eigenen Tat steht und zu eine
Aufklärung oder Verhinderung von gravierenden Taten
anderer erst ermöglicht wird.
Nur so lässt sich der strafrechtliche Handel, der der
Kronzeugenregelung zugrunde liegt, vor der rechtstreuen Bevölkerung glaubhaft und nachvollziehbar
rechtfertigen.
Im Jahre 2009 haben die Koalitionsfraktionen nach
langem Ringen und vielen Diskussionen die Neuauflage
der sogenannten Kronzeugenregelung verabschiedet.
Diese Regelung dient der effizienteren Aufklärung und
Verhinderung von Straftaten, insbesondere in den Bereichen organisierte Kriminalität und terroristische Vereinigungen. Unter der Voraussetzung, dass die Aussage
des Kronzeugen tatsächlich zu einem Aufdeckungserfolg
führt oder die Begehung bestimmter Straftaten verhindert, soll dessen Strafe gemildert werden können.
Der nun von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf
will den Anwendungsbereich der Kronzeugenregelung
einschränken. Kann bisher dem Täter die Vergünstigung
für eine Kooperation unabhängig davon gewährt werden, ob zwischen seiner Tat und der Tat, zu der er Aufklärungs- oder Präventionshilfe leistet, ein Zusammenhang
besteht, soll diese Verknüpfung zukünftig erforderlich
sein. Die Taten müssen nach dem Willen der Bundesregierung zwar nicht aus dem gleichen Deliktsbereich
stammen, es muss jedoch ein innerer oder inhaltlicher
Bezug zwischen den Taten bestehen. Dies soll, so die Begründung, der Fall sein, wenn die eigene und die offenbarte Tat Teil eines kriminellen Gesamtgeschehens sind.
In der Großen Koalition haben wir uns vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des
Staats zur Verbrechensaufklärung und mit Blick auf die
abgeschotteten Täterstrukturen der organisierten Kriminalität bewusst für eine weit gefasste Regelung entschieden. Was hat sich geändert? Die Bundesregierung argumentiert, der weite Anwendungsbereich ermögliche
Strafmilderungen, die aus Sicht des Tatopfers nicht mehr
schuldangemessen seien und die das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung beeinträchtigen könnten. Zudem werde man dem Zweck der Norm, geschlossene Täterkreise aufzubrechen, mit der Eingrenzung
besser gerecht, da es speziell der Hinweise von Personen aus dem Täterkreis bedarf.
Diese Argumente sind nicht neu. In der letzten Legislaturperiode haben wir dem entgegengehalten, dass
§ 46 b StGB keine zwingende Strafmilderung vorsehe
und das Gericht in der Abwägung den Wert der Aufklärungs- oder Präventionshilfe zur Schwere der Straftat
und Schuld des Kronzeugen ins Verhältnis zu setzen
habe.
Mittlerweile sind jedoch zweieinhalb Jahre vergangen, sodass wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung
zum Anlass nehmen sollten, die damals von der Opposition und heute von der Bundesregierung vorgetragenen
Argumente auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Daher
werden wir eine Anhörung fordern, in der wir insbesondere den Umgang der Rechtsprechung mit der Kronzeugenregelung beleuchten wollen. Zudem sollte in der Anhörung geklärt werden, ob und inwieweit Aussagen von
Kronzeugen, deren Tat nicht im Zusammenhang mit der
offenbarten Tat stehen, wesentlich zur Aufdeckung oder
Verhinderung beigetragen haben oder beitragen können.
Wir reden heute über die Veränderung der sogenannten Kronzeugenregelung, also die Veränderung des
§ 46 b StGB.
Die Kronzeugenregelung ist nicht neu, sie hat im Gegenteil eine sehr wechselvolle Geschichte. Noch unter
Helmut Kohl wurde sie 1989 eingeführt und zunächst auf
zwei Jahre beschränkt. Danach wurde sie gegen den Willen der damaligen Bundesjustizministerin LeutheusserSchnarrenberger verlängert, und erst unter Rot-Grün
lief die Kronzeugenregelung aus. Es war die Koalition
aus SPD und CDU, die die Kronzeugenregelung 2009
wieder einführte.
Ich gehe davon aus, dass die heutige Bundesjustizministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Hinblick auf die Kronzeugenregelung immer noch die gleiche Position vertritt wie die Bundesjustizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger in den Neunzigerjahren.
Deshalb ist es für mich nicht nachvollziehbar, warum
aus dem Haus der Bundesjustizministerin nicht ein GeZu Protokoll gegebene Reden
setzentwurf kommt, der die Kronzeugenregelung wieder
abschafft, sondern lediglich ein Gesetzentwurf, der die
Kronzeugenregelung einschränkt. Dabei liegen noch
nicht einmal empirische Erkenntnisse vor, ob diese Regelung zur Aufklärung von Straftaten überhaupt benötigt wird. Hinzu kommt, dass Kronzeugen häufig dazu
neigen, falsche Angaben zu machen, um einer Verurteilung zu einer langjährigen Haftstrafe zu entgehen. Sie
sind aufgrund dessen häufig unglaubwürdig und ihre
Aussagen sind daher untaugliche Beweismittel. Zudem
können Richter und Richterinnen bereits jetzt im Rahmen des § 46 StGB etwaige Aufklärungshilfe berücksichtigen.
Worum geht es bei der Kronzeugenregelung? Ein Täter bzw. eine Täterin wird mit einer geringeren Strafe
oder gar mit Absehen von Strafe für eine begangene
Straftat belohnt, wenn er bzw. sie Aufklärungs- oder
Präventionshilfe im Hinblick auf zukünftige Straftaten
vorwiegend abgeschotteter Strukturen leistet. Bislang
musste zwischen der eigenen Tat und der zukünftigen
Tat, zu der Informationen gegeben werden, kein Zusammenhang bestehen. Das soll durch den Gesetzentwurf
geändert werden. Will man sich überhaupt auf das System Kronzeugenregelung einlassen, ist dies sicherlich
richtig.
Aber angesichts der Diskussionen in der Vergangenheit um die Kronzeugenregelung und angesichts der Tatsache, dass die Kronzeugenregelung nichts anderes ist
als ein Deal des Staates mit Straftätern zur Aushöhlung
der im Strafgesetzbuch festgehaltenen Schuldstrafe, ist
das nicht überzeugend. Eine geringere Strafe als die der
Schuld des Täters bzw. der Täterin aufgrund ihrer bzw.
seiner Taten entsprechende, unter Umständen sogar das
Absehen von Strafe ist unserem streng rechtsstaatlichen
Verfahren vom Grunde her fremd. Ein solcher Deal mit
der Strafe hat auch nichts mit dem Prinzip der schuldangemessenen Strafe zu tun. Rechtssystematisch ist eine
solche Weitergabe eben auch kein Schuldmilderungsgrund, denn die Tat ist abgeschlossen, die Tatschuld ist
vollendet. Es ist schon ein wenig absurd, wenn die Sicherheitsfanatiker, insbesondere bei der Union, nach
immer härteren Strafen für jede kleine Straftat rufen,
aber in Kauf nehmen, dass unter Umständen bei
schwersten Straftaten die Täter straffrei ausgehen, wenn
sie entsprechende Informationen über Strukturen und
geplante Straftaten weitergeben.
Die Verhinderung und Aufklärung von zukünftigen
Straftaten, zum Beispiel durch Informationsweitergabe
über abgeschottete Strukturen, ist nichts, was es extra zu
belohnen gilt, sondern sollte eine Selbstverständlichkeit
sein.
Schließlich will ich noch auf einen Aspekt hinweisen:
Mit der Kronzeugenregelung findet ein Deal mit der Gerechtigkeit zugunsten der „großen Fische“ und zulasten
der „kleinen Fische“ statt. Täter und Täterinnen, die tief
ins kriminelle Milieu verstrickt sind, können aufgrund
ihrer Kenntnisse besser aufklären helfen als Täter und
Täterinnen, die vielleicht erstmalig straffällig geworden
sind.
Kurz und gut: Der Gesetzentwurf hält an der Kronzeugenregelung fest, und genau das können wir nicht akzeptieren. Hier hätte von einer liberalen Ministerin ein
größerer Wurf erfolgen können und auch müssen: ein
Gesetzentwurf, der mit der Kronzeugenregelung aufräumt und diese abschafft.
1989 hat die damalige schwarz-gelbe Koalition eine
Kronzeugenregelung befristet eingeführt. Sie lief 1999
aus, weil wir Grüne und die SPD sie wieder abgeschafft
haben, wir haben sie auslaufen lassen. 2009 hat die Koalition von SPD und CDU/CSU sie wieder eingeführt,
und das in einem so erschreckend weiten Ausmaß, dass
die jetzige schwarz-gelbe Koalition sie wieder einschränken will.
In den 10 Jahren von 1989 bis 1999 ist die Kronzeugenregelung im Bereich des Terrorismus weniger als
25-mal und in ungefähr genauso vielen Fälle im Bereich
der organisierten Kriminalität eingesetzt worden. In den
folgenden 10 Jahren ohne Kronzeugenregelung ist die
Kriminalität in Deutschland kontinuierlich zurückgegangen, die Ausklärungsquoten sind gleich hoch geblieben oder sie sind gestiegen, und besonders im Bereich
des Terrorismus hatten die Ermittlungsbehörden alle
Möglichkeiten, Terroranschläge zu verhindern, und die
Justiz alle Beweismöglichkeiten zur Aburteilung terroristischer Straftäter. Und das alles ohne eine Kronzeugenregelung!
Damit ist eines völlig klar: Die Justiz braucht die
Kronzeugenregelung nicht. Sie setzt sie so gut wie nie
ein, und sie gewährleistet hohe Sicherheit vor Straftaten
ohne sie. Umso größer ist der Schaden für den Rechtsstaat.
Die Kronzeugenregelung ist ein Geschäft mit Straftätern: Um vermeintlicher oder tatsächlicher Aufklärungserfolge willen machen Polizei und Staatsanwaltschaft Straftätern - natürlich informell - Zusagen, sie
vor schuldangemessener Strafe zu schützen, wenn sie
„auspacken“. Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit
bleiben dabei auf der Strecke.
Wir Grünen lehnen die Kronzeugenregelung nach wie
vor ab:
Die Kronzeugenregelung ermöglicht einen schmutzigen Handel mit Straftätern. Dies ist eines Rechtsstaats
nicht würdig. Einsicht, Reue und Mitleid braucht ein
Kronzeuge nicht zu zeigen. Bei dem Handel um die Höhe
seines Strafrabatts dienen ihm als Kapital seine Verstrickung und sein Insiderwissen. Je mehr er hiervon
einbringt, um so günstiger kommt er weg.
Die Kronzeugenregelung verletzt den Grundsatz
schuldangemessenen Strafens und den Gleichheitsgrundsatz. Denn der angemessene Strafrahmen darf unterschritten werden. Es ist nicht erträglich, dass bei einem Mord, der nach jahrelangem Martyrium an dem
Peiniger begangen wird, eine Milderung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach dem Gesetzeswortlaut nicht
möglich sein soll, bei einem Mörder, der sich aus rein
egoistischen Gründen als Kronzeuge zur Verfügung
Zu Protokoll gegebene Reden
stellt, dagegen schon. Besonders infrage gestellt wird
der Schuldgrundsatz, wenn sogar ganz von Strafe abgesehen werden kann, obwohl an sich drei Jahre Freiheitsstrafe angemessen wären.
Die Kronzeugenregelung schafft Anreize für falsche
Anschuldigungen: Je umfangreicher die Belastungen
anderer, umso größer kann der „Strafrabatt“ für den
Kronzeugen ausfallen.
Für eine Kronzeugenregelung gibt es kein praktisches
Bedürfnis. Schon nach der Strafzumessungsregel des
§ 46 StGB kann das Gericht - außer bei Mördern Strafrabatt gewähren, wenn der Angeklagte hilft, andere
Delikte aufzuklären. Ein angebliches „Bedürfnis der
Praxis“ nach einer Kronzeugenregelung ist nicht ersichtlich: Vom Deutschen Anwaltverein bis zum Deutschen Richterbund lehnen große Teile der Praxis eine
Kronzeugenregelung mit großer Einigkeit ab.
Nicht zuletzt ist die Präklusionsregelung zu kritisieren, wonach eine Kronzeugenaussage noch vor Eröffnung der Hauptverhandlung gemacht werden muss. Damit wird die Hauptverhandlung zur Farce. Denn das
Gericht kann so nur noch prüfen, was im Vorverfahren
geschehen ist, wäre jedoch gehindert, vor Gericht gemachte Aussagen in gleicher Weise zu berücksichtigen
wie vor dem Staatsanwalt gemachte „Kronzeugenaussagen“.
Nunmehr hat sich die FDP mit einer Minireparatur
an der Kronzeugenregelung durchgesetzt, die die SPD
und CDU/CSU beschlossen haben. So konnte sich in den
letzten Jahren - genauer seit dem 29. Juli 2009 - ein
Straftäter einen Strafrabatt schon allein dadurch erkaufen, dass er Dritte einer Straftat bezichtigte, mit der er
selbst nichts zu tun hatte. Diese Regelung war doppelt
unerträglich. Zum einen ermuntert sie zu Falschbelastungen und honoriert mit Strafrabatt ohne Reue und
Schuldeinsicht, zum anderen bevorzugt sie diejenigen,
die mehr im kriminellen Umfeld verstrickt sind und an
der Spitze krimineller Strukturen stehen. Wer mehr weiß,
kann mit mehr auspacken.
Der Vorschlag der Bundesregierung geht dahin, dass
die Tat, die vom Kronzeugen offenbart wird, im Zusammenhang mit seiner eigenen Tat stehen muss. Entsprechende Änderungen werden auch für das Betäubungsmittelrecht vorgelegt. Das engt den Anwendungsbereich
der Kronzeugenregelung ein wenig ein und soll der
Uferlosigkeit von Drittbelastungen vorbeugen.
Deshalb ist, bei aller fortbestehenden Kritik an der
Kronzeugenregelung, der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf
ein kleines Stück in die richtige Richtung. Wir werden
uns ihm nicht verweigern, aber wir werden uns weiterhin für eine Wiederabschaffung der Kronzeugenregelung einsetzen.
Sie alle wissen, dass eine allgemeine Kronzeugenregelung, so wie sie heute in § 46 b StGB verankert ist,
seit vielen Jahren rechtspolitisch umstritten ist.
Der Deutsche Anwaltverein, die Bundesrechtsanwaltskammer sowie der Deutsche Richterbund, aber
auch der Bundesrat kritisierten bei ihrer Einführung im
Jahr 2009 vor allem einen Punkt. Kritisiert wurde, dass
§ 46 b StGB auch dann eine Strafmilderung ermögliche,
wenn die offenbarte Tat überhaupt nichts mit der eigenen Tat des Kronzeugen zu tun hat und daher seine
unmittelbare Tatschuld gar nicht beeinflussen könne.
Dadurch könne es zu Strafmilderungen kommen, die
nicht nur für das Tatopfer als nicht mehr angemessen
angesehen werden, sondern die auch das Vertrauen der
Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts beeinträchtigen könnten. Mit diesem Gesetzentwurf will
die Bundesregierung diese Kritik aufgreifen.
In Zukunft soll die Kronzeugenregelung daher nur
noch gelten, wenn ein Zusammenhang zwischen begangener und aufgeklärter bzw. verhinderter Tat besteht. So
haben wir das im Koalitionsvertrag vereinbart, und das
setzen wir mit dem Gesetzentwurf jetzt eins zu eins um.
Wir erreichen damit, dass eine etwaige Strafmilderung stärker vom Verhältnis der geleisteten Aufklärungs- oder Präventionshilfe zur eigenen Tatschuld des
Täters abhängt und die Regelung somit noch deutlicher
den allgemeinen Strafzumessungsgrundsatz der schuldangemessenen Strafe betont.
Mit der von uns angestrebten Neuregelung erreichen
wir zudem einen Gleichklang zu der „kleinen Kronzeugenregelung“ des § 31 BtMG, bei dem das Erfordernis
des Zusammenhangs nach der Rechtsprechung ohnehin
schon seit vielen Jahren gilt. Vor diesem Hintergrund
freue ich mich, dass der Bundesrat gegenüber dem Gesetzentwurf keinerlei Einwendungen erhoben hat, also
dem Entwurf unverändert zugestimmt hat.
Ich möchte dennoch kurz auf gelegentlich vorgetragene Bedenken gegen unseren Vorschlag eingehen.Vereinzelt wird befürchtet, durch die vorgeschlagene Änderung könne die Regelung für die Bekämpfung der
organisierten Kriminalität und des Terrorismus ihre
Wirkung einbüßen, da in diesen Bereichen häufig ein hohes Maß an Abschottung anzutreffen sei. Diese Bedenken halte ich für unbegründet.
In der Tat werden gerade bei organisierten bzw. terroristischen Täterkreisen oftmals stark abgeschottete
Strukturen vorherrschen. Die für das Aufbrechen dieser
Strukturen notwendigen „internen“ Kronzeugen, also
Personen, die deshalb über detailliertes Wissen verfügen, weil sie Teil dieser Strukturen sind, werden durch
die Neuregelung aber keineswegs ausgeschlossen. Vielmehr werden zukünftig gerade sie von der Neufassung
erfasst. Denn gerade weil sie Teil der jeweiligen kriminellen Struktur sind, werden ihre eigenen Taten in der
Regel den notwendigen Zusammenhang zu den anderen
Taten dieser Struktur aufweisen.
Insgesamt kann daher der Gesetzentwurf der Hauptkritik, die aus rechtsstaatlicher Sicht an der Regelung
von 2009 erhoben wurde, Rechnung tragen, ohne die mit
ihr angestrebten Erleichterungen bei der Tataufdeckung
und -verhinderung wesentlich zu beinträchtigen. Ich
Zu Protokoll gegebene Reden
hoffe deshalb, dass er auch in diesem Haus eine breite
Unterstützung finden wird.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9695 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere
Vorschläge gibt es nicht. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/9851 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Die Reden haben wir zu Protokoll genommen.
Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf eines
Dritten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher
Vorschriften. Die christlich-liberale Bundesregierung
hat diesen Gesetzentwurf eingebracht, weil die Veränderungen im Wohngeldverfahren einige Rechtskonkretisierungen notwendig gemacht haben. Im Zuge der Föderalismusreform I im Jahre 2006 hat die damalige Große
Koalition aus CDU/CSU und SPD das Wohngeldverfahren erheblich verändert. Das Wohnraumförderungs- und
Wohnungsbindungsrecht ist von der Kompetenz des
Bundes in die Kompetenz der Länder übertragen worden. Gemäß Wohngeldgesetz soll zudem ein automatisierter Datenabgleich im Wohngeldverfahren stattfinden. Durch dieses transparente Verfahren wird der
rechtswidrigen Inanspruchnahme von Wohngeld vorgebeugt. Dies ist im Sinne der Haushaltskonsolidierungen
und im Sinne der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler,
die ein Interesse daran haben, dass Sozialleistungen
sachgerecht eingesetzt werden. Die Kosten, die bei der
Datenstelle der Träger der Rentenversicherung für die
Durchführung und Vermittlung des automatisierten Datenabgleichs entstehen, sollen die Länder tragen. Der
vorliegende Gesetzentwurf präzisiert dieses Verfahren
des automatisierten Datenabgleichs, damit dieses Verfahren auch effizient eingesetzt werden kann. So schaffen wir mit dem Gesetz eine Rechtsgrundlage für die
Kostenerstattung der Länder an die Datenstelle für den
Datenabgleich.
Wie hoch sind diese Kosten? Den Ländern entstehen
Kosten in Form der jährlichen Erstattung der Verwaltungskosten, die bei der Datenstelle anfallen. Das macht
im ersten Kalenderjahr nach Einführung 2 700 Euro zuzüglich 950 Euro je Kalendervierteljahr. In den nachfolgenden Jahren beläuft sich die Summe auf bis zu 3 800
Euro. Angenommen, die Länder würden den automatisierten Datenabgleich ohne die Hilfe der Datenstelle
vollziehen, so wären die Kosten um ein Vielfaches höher.
Kosten und Nutzen stehen in einem sehr gewinnbringenden Verhältnis.
Darüber hinaus erwartet die christlich-liberale Koalition von diesem neuen Verfahren erhebliche Einsparungen an Wohngeldausgaben. Der automatisierte Datenabgleich deckt Fälle rechtswidrigen Wohngeldbezugs
auf, die daraufhin zurückgezahlt werden müssen. Dass
hier erhebliche Einsparungspotenziale liegen, beweisen
diejenigen Länder, die den automatisierten Datenabgleich bereits eingeführt haben. Denn durch die Föderalismusreform I wurde den Bundesländern die Kompetenz
eingeräumt, eigene landesrechtliche Wohnraumförderungs- und Wohnungsbindungsgesetze einzuführen. Nur
in denjenigen Ländern, die darauf bislang verzichtet haben, gilt weiterhin das Bundesrecht. Für diese Fälle
schaffen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine
Rechtsgrundlage für den automatisierten Datenabgleich.
Bislang haben vier Bundesländer bereits eigene Landesgesetze eingeführt: Baden-Württemberg, Berlin,
Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Diese Länder haben mit dem automatisierten Datenabgleich sehr gute
Erfahrungen gemacht. Mit seiner Hilfe konnten insbesondere bei der Antragstellung zum Wohngeld verschwiegene Kapitalerträge aufgedeckt werden. Auf
diese Weise wurde ein überhöhter Leistungsbezug verhindert. So wurde in Nordrhein-Westfalen allein beim
ersten Datenabgleich ein Rückforderungspotenzial von
9 Millionen Euro ermittelt. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass diese Summen tendenziell abnehmen, wenn
sich herausstellt, dass zukünftig strikter kontrolliert
wird. In NRW wurde beim vierten Datenabgleich immerhin noch 1 Million Euro Rückforderungspotenzial ermittelt. Die Ausweitung dieses effizienten Verfahrens auf die
gesamte Bundesebene ist insofern sehr lohnenswert.
Es ist eindeutig: Gemessen an diesen Kostenersparnissen fallen die einmalig entstehenden Kosten zur Einführung des technischen Verfahrens nicht ins Gewicht.
Dieses neue Verfahren macht den Wohngeldbezug hingegen wesentlich gerechter und bedürfnisbezogener. Die
Bundesregierung schafft mit diesem Gesetzentwurf somit ein effizientes System zur Aufdeckung nicht gerechtfertigter Wohngeldbezüge. Darüber hinaus stellt der Gesetzentwurf klar, dass Kreditinstitute für Auskünfte über
Kapitalerträge nach Wohngeldgesetz eine Entschädigung durch die Länder erhalten. Dies ist in anderen Sozialleistungsbereichen ohnehin gängige Praxis. Pro
Auskunftsersuchen werden hierdurch Kosten in Höhe
von 50 Euro entstehen. Diese Kosten werden durch die
zu erwartenden Einsparungen jedoch ebenfalls deutlich
überkompensiert werden.
Der Gesetzentwurf nimmt weitere Konkretisierungen
vor. Die Wohngeldstatistik wird zukünftig bei der Erhebung der Merkmale Erwerbsstatus und Geschlecht auf
alle zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder ausgeweitet. Die Erhebung von Kindern und Jugendlichen
wird vereinfacht. Hierdurch entsteht ein vollständigeres
statistisches Bild des Wohngeldbezugs in Deutschland.
Durch die statistische Erhebung dieser zusätzlichen
Merkmale entstehen keine nennenswerten Mehrkosten.
Es ist lediglich eine einmalige Anpassung des Datensatzes notwendig - sprich, einmalige Umstellungskosten
des Statistischen Bundesamts von rund 20 000 Euro. Für
die Länder entstehen Umstellungskosten von jeweils
5 000 Euro und laufende Mehrkosten von rund
7 000 Euro jährlich, wohlgemerkt: für alle Länder zusammen. Diese 7 000 Euro, die die Länder jährlich insgesamt mehr aufbringen müssen, sind absolut vertretbar
in Hinblick auf die Einsparungen im Millionenbereich,
die dieses Gesetz bewirken wird.
Ein weiteres - sehr spezifisches - Problem, das wir
mit diesem Gesetz lösen wollen, liegt bei der abweichenden Bundeskompetenz des Bergarbeiterwohnungsbaus.
Denn auch in Bundesländern mit eigenen Wohnraumförderungs- und Wohnungsbindungsgesetzen gelten für die
Belegung von Wohnungen, die von der Zweckbindung
für Wohnungsberechtigte im Kohlenbergbau freigestellt
sind, die Vorgaben des Bundesrechts. Diese unübersichtliche Lage in den Ländern mit eigenen Landeswohnraumförderungs- und Landeswohnungsbindungsgesetzen wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf
aufgelöst. Auch für die von der Zweckbindung freigestellten Bergarbeiterwohnungen gelten zukünftig - sofern vorhanden - die Landesgesetze.
Durch den neuen Gesetzentwurf wird eine weitestgehend lückenlose Aufdeckung von Missbrauchsfällen
beim Wohngeldbezug gewährleistet. Das Gesetz nimmt
umsichtige und notwendige Anpassungen vor. Auch der
Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen e. V. unterstützt unsere Pläne deshalb
ausdrücklich. Das Gesetz dient aber nicht nur der Aufdeckung rechtswidriger Inanspruchnahme des Wohngelds, sondern auch der umfassenden Prävention. Denn
der Datenabgleich findet bereits während der Wohngeldbeantragung statt. Würden die Länder den neuen
automatisierten Datenabgleich nicht durchführen, so
würden Bund und Ländern Millionenbeträge verloren
gehen, Millionenbeträge wohlgemerkt, die sonst rechtswidrig als Wohngeld ausgezahlt wurden.
Ich bin deshalb zuversichtlich, dass wir die anstehenden Ausschussberatungen zu diesem Gesetzentwurf zügig abschließen können, um diese notwendigen Verbesserungen im Wohngeldverfahren schnell einzuführen.
Heute findet die erste Lesung des Dritten Gesetzes
zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften statt.
Wir werden uns also in den Ausschüssen in den kommenden Wochen mit den Details dieses Gesetzentwurfs befassen. Der Bundesrat hat dazu bereits eine Stellungnahme abgegeben und war eigentlich recht zufrieden.
Lediglich ein paar kleinere Änderungen werden gewünscht. Es macht den Eindruck, als sei es ein gelungener Entwurf, über den wir hoffentlich nicht viel streiten
werden.
Nachdem wir im Zuge der Föderalismusreform I im
Jahr 2006, an der ich mitarbeiten durfte, die Zuständigkeit für das Wohnraumförderungs- und Wohnraumbindungsrecht auf die Länder übertragen haben, wurde
über die Jahre offensichtlich, dass einige Nachbesserungen erforderlich sind.
Nun hat die Bundesregierung vor, die Regelungen
zum wohngeldrechtlichen Datenabgleich zu präzisieren
und zu verbessern. Auch soll eine Ermächtigungsgrundlage für die Kostenerstattung der Länder an die Datenstelle im Rahmen des automatisierten Datenabgleichs
geschaffen sowie die Vorschrift zur Berücksichtigung
vom weitergeleiteten Pflegegeld präzisiert werden.
Ferner wird mit dem Gesetz klargestellt, dass Kreditinstitute für Auskünfte über Kapitalerträge eine Entschädigung erhalten.
Aber auch die Erfassung statistischer Werte soll erweitert werden, indem bei der Erhebung der Wohngeldstatistik die Merkmale Erwerbsstatus und Geschlecht
auf alle zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder ausgeweitet und die im Haushalt lebenden Kinder und
junge Erwachsene mit aufgenommen werden sollen.
Ein besonderer Punkt, der zudem geregelt werden
soll, ist die Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes.
Es sollen zukünftig für die von der Zweckbindung freigestellten Bergarbeiterwohnungen und alle öffentlich geförderten Sozialwohnungen jeweils landeseinheitliche
Vorschriften für die Ermittlung des Einkommens und der
Einkommensgrenzen gelten.
Doch nun zu den Plänen im Einzelnen:
Der automatisierte Datenabgleich im Wohngeldverfahren nach § 33 Abs. 5 Wohngeldgesetz, WoGG, ist unerlässlich, um eine rechtswidrige Inanspruchnahme zu
verhindern. Es kommt zu Rückzahlungen und Einsparungen von Geldern, auf die es keinen Anspruch gab.
Dies führt dazu, dass Bund und Länder Haushaltsmittel
einsparen, die an anderen Stellen viel besser eingesetzt
werden könnten.
Die Erfahrungen in den Bundesländern, die bereits
den automatischen Datenabgleich eingeführt haben, wie
zum Beispiel NRW oder Baden-Württemberg, waren
sehr positiv. Schon bei der Antragstellung konnten viele
Anträge abgewiesen werden, weil die Antragsteller sich
nach einer Prüfung als nicht berechtigt herausstellten.
Gut, NRW muss ja auch zuzusehen, dass es an Geld
kommt, denn man hat ja bekanntlich extreme haushalterische Defizite und plant, sich noch weiter zu verschulden. Da kann man jeden Euro gebrauchen.
Aber zurück zum Thema: Im Rahmen des Datenabgleichs nehmen also die Länder die Hilfe der Datenstelle in Anspruch; denn würden sie den Datenabgleich
selber vornehmen, würden die Kosten noch viel höher
ausfallen. Die einmalig aufzubringenden Kosten zur
Einrichtung der Technik sind daher auch im Vergleich zu
den zu erwartenden Summen, die zurückfließen, als eher
untergeordnet zu betrachten. Die entstandenen Einsparungen stehen entsprechend den Finanzierungsanteilen
jeweils hälftig dem Bund und dem jeweiligen Land zu.
Um mögliche, nicht angegebene Kapitalrücklagen zu
erfahren, werden Auskünfte bei Banken eingeholt. Diese
sollen künftig für ihre Informationen bzw. ihren Aufwand
entschädigt werden. Es wird mit einer Summe von etwa
50 Euro pro Anfrage gerechnet.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bei diesem Punkt gibt es allerdings wahrscheinlich
noch Diskussionsbedarf, denn es ist nicht vorhersagbar,
wie oft diese Auskünfte künftig eingeholt werden müssen. So schlägt der Bundesrat in seiner Stellungnahme
vor, dass diese Kosten durch die betroffenen Bürger
übernommen werden sollten, da die betreffende Person
durch das Verschweigen von Angaben letztendlich für
diese Prüfung selbst verantwortlich ist. Darüber werden
wir also nochmal sprechen müssen.
Die Ausweitung der Erhebung statistischer Daten ist
ebenfalls sinnvoll und nur mit geringen Kosten und geringem Aufwand verbunden. Es muss dazu eine Umstellung der Technik vorgenommen werden. Das sind für das
Statistische Bundesamt einmalig 20 000 Euro, die dieses
übernimmt, und für die Statistischen Landesämter jeweils einmalig 5 000 Euro. Die jährlichen Mehrkosten
für die Länder belaufen sich voraussichtlich auf insgesamt 7 000 Euro; also alles Summen, die gut zu verkraften sind. Diese liefern wertvolle Daten für die Statistiken.
Das bedeutet konkret, dass an die bisher schon bestehende Informationspflicht beim Wohngeldantrag noch
die Information über im Haushalt lebende Kinder und
junge Erwachsene hinzugefügt wird. Damit kann die Informationspflicht über einen möglichen Kindergeldbezug für den Antragsteller entfallen. Außerdem gibt es bekanntlich immer mehr Mehrverdienerhaushalte, sodass
es wichtig wird, in diesem Rahmen einzelne Erwerbsquellen statistisch zu erfassen.
Jetzt komme ich nochmal kurz auf die Föderalismusreform I zu sprechen. Damals verblieb die Kompetenz
für das Recht des Bergarbeiterwohnungsbaus beim
Bund. Es wurde durch das Inkrafttreten länderspezifischer Wohnraumförderungsgesetze, das Wohnraumförderungsgesetz und das Wohnraumbindungsgesetz des
Bundes ersetzt - auch bei mir in Bayern. Aber die Bergbauwohnungen wurden weiterhin ausschließlich aus
dem bundeseigenen Bundestreuhandvermögen für den
Bergarbeiterwohnungsbau im Kohlenbergbau gefördert.
Da es sowohl unpraktisch, ineffizient und schon gar
nicht bürgernah und transparent ist, gleich zwei Regelungen zu haben, soll § 22 Abs. 3 WoBindG dahingehend
ergänzt werden, dass landesrechtliche Regelungen in
der jeweiligen Fassung nun auch für von der Zweckbindung freigestellte Bergarbeiterwohnungen gelten können.
Ich stimme mit der Schlussfolgerung der Bundesregierung überein, dass es eindeutig besser und im Sinne
aller Beteiligten ist, wenn für die Erteilung eines Wohnberechtigungsscheins in solchen Fällen der Freistellung
von der Zweckbindung öffentlich geförderter Wohnungen landeseinheitliches Recht gilt.
Wohnen ist für alle Menschen ein zentrales Grundbedürfnis, ist persönlicher Rückzugsraum. Wohnraum
macht nicht nur seine Quantität, sondern gerade die
individuelle Qualität lebenswert. Haushalte mit Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen,
Singles, Paaren usw. haben hier oft sehr unterschiedliche spezielle Wohnbedürfnisse. Unterhalb bestimmter
Einkommensgrenzen greift hier die soziale Wohnraumförderung, um Härten abzufedern und einen Grundlebensstandard zu sichern. Bezahlbare Wohnungen werden vielerorts immer knapper, gerade wenn noch
bestimmte bauliche Voraussetzungen wie beispielsweise Barrierefreiheit erforderlich sind. Zusammen mit
den steigenden Energiekosten bei gleichbleibenden Gehältern und Löhnen, der Zunahme der Zahl von Geringverdienern am Arbeitsmarkt, niedrigeren Renten
aufgrund niedriger Einkommen im Erwerbsleben und
Brüchen in den Erwerbsbiografien werden zukünftig
mehr Menschen Unterstützung brauchen.
Wohngeld wird zur wirtschaftlichen Sicherung angemessenen und familiengerechten Wohnens als Mietzuschuss für Mieter von Wohnraum oder als Lastenzuschuss für Eigentümer gewährt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möchte die Bundesregierung die gesetzlichen Regelungen zum wohngeldrechtlichen Datenabgleich im Wohngeldverfahren
automatisieren und verbessern. Gleichzeitig ist eine
Harmonisierung von Gesetzen der Länder und des Bundes vorgesehen.
Darüber hinaus soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch mittels des automatisierten Datenabgleichs
die rechtswidrige Inanspruchnahme von Wohngeld vermieden und der Gesetzesvollzug erleichtert werden.
Nach dem Entwurf der Bundesregierung wäre nun ein
Abgleich der Meldedaten bereits bei der Antragsbearbeitung möglich und kann auch hinsichtlich einer versicherungspflichtigen oder geringfügigen Beschäftigung
unter Nennung des Arbeitgebers vorgenommen werden.
Der automatisierte Datenabgleich wird bundesweit eingeführt. Dies soll der Prävention von rechtswidriger Inanspruchnahme von Wohngeld dienen und somit ein
Schlupfloch zum Leistungsmissbrauch schließen, aber
auch Fehler in den Antragstellungen vermeiden und somit die Zahl nachträglicher Aufhebungsbescheide und
entsprechender Rückforderungsansprüche verringern.
Allerdings ist dafür Sorge zu tragen, dass der Datenschutz sichergestellt ist.
Es ist wichtig, dass Wohngeld denjenigen zugutekommt, die wirklich darauf angewiesen sind. Deswegen
darf sich die Bundesregierung nicht nur darauf ausruhen, Leistungsmissbrauch zu verhindern, sondern muss
auch dafür Sorge tragen, dass die Mittel für diese Leistungen in ausreichender und zeitgemäßer Form zur Verfügung stehen, um laut § 1 WoGG angemessenes und familiengerechtes Wohnen zu ermöglichen. Hierzu gehört
auch ein Monitoring und die Überprüfung, ob die vorhandene Gesetzeslage und Regelstruktur tatsächlich
ausreichend ist. Auch eine Mittelaufstockung und zeitgemäße Anpassung sollte regelmäßig überprüft werden.
Im Zusammenhang mit steigenden Heizkosten und zukünftig nicht absehbar sinkenden Energiepreisen sollte
ebenfalls überprüft werden, ob der pauschale Zuschlag
für Heizkosten, den die schwarz-gelbe Bundesregierung
2011 gestrichen hat, nicht dringend wieder eingeführt
werden müsste.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Aspekt der einseitigen Entschädigung für Kreditinstitute für Bankauskünfte zur Ermittlung des wohngeldrechtlichen Einkommens wird von außen insofern
kritisiert, dass natürlich auch Immobilienverwalter,
aber auch Vermieter Bestätigungen und Bescheinigungen für Mieter im Antragverfahren ohne Vergütung ausstellen. Hier ist klar zu prüfen, ob dies nicht zu einer Ungleichbehandlung führt.
Wichtig wird sein, Wohnraum jetzt und zukünftig bezahlbar, angemessen, barrierearm und familienfreundlich zu ermöglichen.
Das Wohngeld ist eine wesentliche und wichtige
Säule unseres Sozialstaats. Es gewährt Bürgerinnen und
Bürgern mit geringem Einkommen einen Mietzuschuss
oder einen Lastenzuschuss für selbst genutztes Wohneigentum. Es unterstützt damit alle, die sich bemühen, ihr
Leben zu gestalten, auf eigenen Beinen zu stehen, für
sich und ihre Nächsten zu sorgen und zu arbeiten, denen
es aber trotzdem nicht gelingt, dies ganz aus eigener
Kraft zu leisten. Es entspricht unserer zutiefst liberalen
Grundüberzeugung, den Menschen einerseits für diese
Lebensgestaltung allen möglichen und notwendigen gesellschaftlichen Freiraum zu schaffen. Andererseits ist
es Aufgabe unseres sozialen Gemeinwesens, überall dort
einzuspringen, wo die elementaren Lebensrechte unverschuldet nicht gesichert sind.
Allein für Wohngeld sind im laufenden Haushaltsjahr
650 Millionen Euro vorgesehen. Zu jedem Euro Wohngeld steht die FDP. Wir haben uns in der Vergangenheit
dagegen eingesetzt - ich erinnere an die Debatte im
Jahre 2010 -, und wir werden das auch in Zukunft tun,
wenn Haushaltskonsolidierung auf dem Rücken der sozial Schwächsten betrieben werden sollte, zum Beispiel
zulasten der Wohngeldbezieher. Jeder, der arbeitet, jeder
der sich mit täglicher Anstrengung und Einsatzbereitschaft den eigenen Unterhalt versucht zu erwirtschaften,
hat ein Recht auf unsere Hilfe und muss unterstützt werden. Nur so ist es möglich, sich letztlich selbstständig
und unabhängig zu machen von staatlicher Versorgung.
Verbunden mit diesem finanziellen Einsatz des Bundes und der Länder ist die Pflicht, sparsam, sorgsam
und bedacht mit dem Geld der Steuerzahler umzugehen.
Im heute diskutierten Dritten Gesetz zur Änderung
wohnungsrechtlicher Vorschriften führt die christlichliberale Koalition unter anderem den automatischen
Datenabgleich im Wohngeldverfahren ein. Das dient
erstens der Vermeidung einer rechtswidrigen Inanspruchnahme von Wohngeld. Es führt damit zur Einsparung von Haushaltsmitteln im Bund und in den Ländern - und das in nicht unerheblicher Größenordnung.
Dort, wo dieser Datenabgleich bereits eingeführt worden ist, in Nordrhein-Westfalen, in Hamburg, in Berlin
und in Baden-Württemberg, überall dort konnten zum
Beispiel verborgene Kapitalerträge aufgedeckt und
überhöhte Leistungsbezüge verhindert werden. Allein in
Nordrhein-Westfalen lag das Rückforderungspotenzial
im ersten Datenabgleich bei 9 Millionen Euro. Damit
spart der Staat nicht nur Geld, das Verfahren trägt darüber hinaus, zweitens, in erheblichem Maße zu Rechtssicherheit und Verfahrensgerechtigkeit bei.
Hier geht es weder um den Schnüffelstaat noch soll
irgendwem ein Anspruch auf Sozialleistungen streitig
gemacht werden. Für die betroffenen Bürgerinnen und
Bürger entsteht weder eine neue Informationspflicht
noch werden berechtigte Leistungen gekürzt oder eingeschränkt. Recht soll und muss hier Recht bleiben. Auch
der Wohnungswirtschaft und insbesondere den vielen
Mittelständlern in diesem Bereich erwachsen keine zusätzlichen Kosten durch das Gesetz. Keine bisher bestehende Informationspflicht wird geändert oder abgeschafft oder ergänzt. Lediglich der Verwaltung entstehen
für die statistische Erhebung der Daten und die Umstellung der Datenerhebungs- und Statistiksoftwarekosten.
Diese aber sind marginal im Vergleich zu den erwartbaren Einspareffekten.
Einen dritten positiven Aspekt möchte ich zum Abschluss noch ansprechen: Mit der Gesetzesänderung
soll die Wohngeldstatistik insbesondere bei der Berücksichtigung von Haushaltsmitgliedern und bei der Erfassung von Kindern und Jugendlichen vereinheitlicht und
vereinfacht werden. Vereinfachung und Vereinheitlichung struktureller und administrativer Abläufe und
Regelungen ist seit langem eine politische Forderung
der FDP nach Entbürokratisierung. Hier gehen wir
einen kleinen, doch weiteren Schritt. Auch das wird perspektivisch Steuergelder sparen und den Verwaltungsaufwand senken. Solide statistische Daten sind die
Grundvoraussetzung für einen effektiven und passgenauen Einsatz öffentlicher Mittel. Auch dazu werden wir
mit dieser Gesetzesänderung beitragen.
Einsparungen, wo möglich, Anspruchsgerechtigkeit,
wo nötig, Bürokratieabbau, wo er sinnvoll ist: Das ist liberale Politik, in diesem Fall christlich-liberale Politik.
Es hat ganz den Anschein, dass die Bundesregierung
in voller Breite und mit preußischer Gründlichkeit gegen
die Mieterinnen und Mieter in diesem Land vorgehen
will. Erst dieser unsägliche und völlig überflüssige Entwurf eines „Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“, dann die
permanenten Fluchtversuche aus den Verpflichtungen
zur sozialen Wohnraumförderung mit ungewissem Ausgang und nun dieses „Dritte Gesetz zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften“. Das alles passt zusammen und wirft erneut ein grelles Licht auf das Denken
und Handeln dieser Bundesregierung.
Der politische Anspruch des eingebrachten Entwurfes ist nicht: Wie kann den rund 900 000 Menschen in
diesem Land geholfen werden, die auf Wohngeld angewiesen sind, weil sie sowieso schon nicht wissen, wie sie
sonst ihr alltägliches Leben fristen sollen? Nein, es geht
darum, wie die von diesen schreienden sozialen Missständen betroffenen Menschen noch effizienter verwaltet, überwacht und ausgepresst werden können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bis zur letzten Briefmarke soll geregelt werden, welche Behörde, welches Kreditinstitut wem gegenüber
welche Kosten in Rechnung stellen darf und wem gegenüber ein Erstattungsanspruch in welcher Höhe besteht.
Zuletzt immer gegen diejenigen, die ohnehin schon nichts
haben: Kein Geld, keine Rechte und keine Lobby - außer
uns.
Dieser Gesetzentwurf zeugt von einem tiefen Misstrauen eines Obrigkeitsstaats seinen Untertanen gegenüber, eines Staats, der sich längst von den Grundsätzen
des Sozialstaats verabschiedet hat, der dabei ist, sich
über die Phase des Verwaltungsstaats immer mehr zu einem Überwachungsstaat zu entwickeln. Ein solches Gesetz brauchen die Menschen in diesem Land nicht - vielleicht mit Ausnahme einiger Regierungsbeamter, die mit
der Erarbeitung solcher Vorlagen ihr Geld verdienen.
Was die Menschen - besonders die von diesem Gesetzentwurf Betroffenen; es handelt sich dabei zu einem
ganz überwiegenden Teil um Rentnerhaushalte - stattdessen brauchen, ist zunächst die Wiederberücksichtigung der Heizkosten bei der Wohngeldberechnung, die
ja auch von dieser Koalition zum 1. Januar 2011 gestrichen worden war, und zwar mit der völlig weltfremden
Begründung, die Heizkosten seien gesunken. Angesichts
der tatsächlich steigenden Mieten und der geradezu explodierenden Heiz-, Energie- und Wasserkosten sowie
anderer wohnnaher Kosten und Gebühren ist eine Erhöhung des Wohngelds nötig, weil immer mehr Mieterhaushalte einen immer größeren Teil ihres Einkommens
für Wohnkosten auszugeben gezwungen sind. Mehr als
40 Prozent der deutschen Mieterhaushalte müssen heute
schon die Hälfte ihres monatlichen Nettoeinkommens
für Wohnkosten aufwenden. Da diese Haushalte schon
jetzt keine Einkommens- und schon gar keine Vermögensreserven - wie der vorliegende Ge-setzentwurf unterstellt - mehr haben, müssen sie bei anderen lebensnotwendigen Ausgaben sparen und verzichten. Es droht
in diesem Land eine neue, flächendeckende, durch
Wohnkosten verursachte Armut. Das ist der eigentliche
Skandal. Dagegen muss der Gesetzgeber dringend aktiv
werden.
Angesichts der tatsächlichen, für immer mehr Menschen spürbaren und für einen wachsenden Teil der Bevölkerung existenzbedrohenden Wohnprobleme brauchen wir ein klares Bekenntnis der Politik zum Wohnen
als sozialem Grundbedürfnis und ein daran orientiertes
Regierungshandeln. Wir brauchen eine verlässliche Zusage zur Fortführung einer bedarfsgerechten sozialen
Wohnraumförderung, und wir brauchen ein soziales
Mietrecht, das Mieterinnen und Mieter ihren Vermietern
nicht ausliefert, sondern sie ihnen rechtlich gleichstellt.
Was wir absolut nicht brauchen, ist ein Gesetz für einen automatisierten Datenabgleich zur Vermeidung
rechtswidriger Inanspruchnahme des Wohngelds zur
Einsparung von Haushaltsmitteln des Bundes. Das ist
absurd und menschenverachtend und muss von jedem
verantwortungsbewussten Volksvertreter sofort zurückgewiesen werden.
Der von der Bunderegierung eingebrachte Gesetzentwurf ist in seiner inhaltlichen Ausrichtung weitestgehend unproblematisch, da es sich um die Umsetzung des
bereits in der Wohngeldnovelle 2009 angelegten Datenabgleichs handelt. Seine finanziellen Auswirkungen sind
insbesondere für die Kommunen allerdings kritisch zu
hinterfragen. Deswegen habe ich gemeinsam mit meiner
Fraktion im März diesen Jahres eine Kleine Anfrage
({0}) gestellt. Obwohl es das
parlamentarische Fragerecht im Deutschen Bundestag
gibt, war ich mit den Antworten der Bundesregierung
({1}) äußerst unzufrieden.
Der Datenabgleich hat zum Ziel, die rechtswidrige
Inanspruchnahme des Wohngelds zu verhindern. Er wird
zur Folge haben, dass Bund und Länder mittelfristig weniger Wohngeldkosten zu tragen haben. Umgesetzt wird
der Datenabgleich allerdings in den Kommunen, die
diesen wahrscheinlich mit höherem Personalaufwand
umsetzen werden. Zusätzlich entstehen für die Kommunen nach Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfs weitere Kosten durch die Entschädigung der Kreditinstitute für die
Auskunftserteilung.
Auf diese Problematik habe ich unter anderem in meiner Kleinen Anfrage hingewiesen. Auf meine Frage
„Wie hoch werden die Kosten für die Kommunen, entstehend aus der neuen Erstattungspflicht für die auskunftgebenden Kreditinstitute, sein?“, hat die Bundesregierung geantwortet, dass sie „… nicht von nennenswerten
Mehrkosten für die Kommunen aus[geht].“ Dem widerspricht sie allerdings in ihrer Gegenäußerung auf die
Einwände des Bundesrates, siehe Seite 17 des vorliegenden Dokuments ({2}): „Da die Anzahl
der Bescheinigungen nicht absehbar ist, kann der gesamte Erfüllungsaufwand für die Wohngeldbehörden
nicht beziffert werden.“
Angesichts der weit verbreiteten schlechten finanziellen Lage vieler Kommunen sollten wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren eine Lösung finden. Bund und
Länder zahlen die Wohngeldkosten hälftig. Maßnahmen,
die zu finanziellen Einsparungen führen, sollten die
Kommunen nicht zusätzlich belasten.
Es wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9851 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in
der Tagesordnung stehen. - Das sehen Sie auch so. Dann
ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 38:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sönke
Rix, Ute Kumpf, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Ulrich Schneider, Ekin
Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher
Verantwortung stärken
- Drucksache 17/9926 22086
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Ich habe mir in Vorbereitung auf diese Rede noch einmal die Mühe gemacht, die Plenarprotokolle der zurückliegenden Reden zum Thema Freiwilligendienste und
Bundesfreiwilligendienst zur Hand zu nehmen und die
Aussagen von damals mit den Realitäten zu vergleichen.
Um es vorwegzunehmen: Ihre Aussagen von damals
müssen Ihnen - und dabei meine ich von den antragstellenden Fraktionen insbesondere die Grünen - ziemlich
peinlich sein. Aus Zeitgründen ist es gar nicht möglich,
alle Fehleinschätzungen aufzulisten, deshalb beschränke ich mich auf einige wenige Aussagen in der
Debatte vom 24. März 2011.
„Der Bundesfreiwilligendienst wird als Lückenbüßer
für den Zivildienst nicht funktionieren und kein Erfolgsmodell sein.“ Das war die Aussage des Grünen-Redners
von damals. Fest steht heute: Sie haben unrecht gehabt.
Genau das Gegenteil ist eingetreten. Wir haben es geschafft, die Wehrpflicht auszusetzen, einen anerkannten
Bundesfreiwilligendienst zu etablieren und das bürgerschaftliche Engagement in einer bisher nie dagewesenen
Weise zu verstärken. Der Systemwechsel mit all seinen
Begleiterscheinungen ist geglückt. Die Freiwilligendienste sind mit einem gestärkten Rücken aus dem gesamten Prozess hervorgegangen.
Wie froh können wir alle sein, dass wir nicht auf Ihre
Kassandrarufe gehört haben und uns von Ihrer sehr oft
parteipolitisch und negativ vorgetragenen Kritik nicht
aus der Ruhe haben bringen lassen. Sie haben von geringer Nachfrage schwadroniert und von fehlender Akzeptanz. In der Realität ist genau das Gegenteil eingetreten. Jeder einzelne Platz im BFD wurde besetzt - wir
sehen uns sogar mit dem Problem konfrontiert, dass
nicht genügend freie Plätze für alle Bewerberinnen und
Bewerber zur Verfügung stehen. Dies zeigt: Der Bundesfreiwilligendienst ist bei den engagementbereiten Menschen längst angekommen. Was hat es alles für
Ratschläge von Ihnen gegeben, was zu tun wäre. Wir
können im Sinne der Freiwilligen gemeinsam froh und
dankbar sein, diese Vorschläge nicht aufgegriffen zu haben. Wenn Sie heute in Ihrem Antrag schreiben:„Die
große Engagementbereitschaft Jugendlicher zeigt, dass
die Warnungen und Verwerfungen im Sozialbereich infolge der Zivildienstaussetzung unbegründet und übertrieben waren“, ist dies insofern zuallererst als Selbstkritik an Ihren eigenen Fehleinschätzungen zu sehen.
Ich finde es gut und richtig, dass Sie das heute eingesehen haben.
Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen aus der
christlich-liberalen Koalition, der Bundesregierung und
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesamts
für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben sowie
insbesondere auch Herrn Dr. Kreuter für ihre Leistungen in den zurückliegenden Monaten. Es war gut und
richtig, dass wir den Bundesfreiwilligendienst eingeführt und die Jugendfreiwilligendienste deutlich gestärkt
haben. Es ist zudem ein großartiger Ausweis jugendlichen Verantwortungsbewusstseins, wenn man betrachtet, wie viel Interesse in diesen Generationen besteht,
sich für die Gesellschaft einzusetzen. Es kann uns alle
mit Freude erfüllen, dass gerade die junge Generation
so viel Verantwortungsbewusstsein zeigt.
Eine weitere Aussage der Grünen, die Ihnen heute
bitter aufstoßen müsste, ist: „Es ist ein Kardinalfehler,
dass Schwarz-Gelb Freiwilligendienste erster und zweiter Klasse schaffen will.“ Mittlerweile müsste auch den
Grünen deutlich geworden sein, dass diese Unterstellung jeglicher Grundlage entbehrt. Unser Ziel war es,
dass die Teilnehmer an den Jugendfreiwilligendiensten
und dem Bundesfreiwilligendienst auf gleichem Niveau
betreut und unterstützt werden - sowohl finanziell als
auch organisatorisch. Genau das ist gelungen - und ich
denke, das bestreitet heute auch niemand mehr. Wir sind
angetreten mit dem Ziel, dass die Teilnehmer an beiden
Formaten keinen Unterschied in ihren Diensten merken.
Unterschiede sind heute nur sehr gering. Das war uns
wichtig, und deshalb haben wir bei der Umstellung
beide Komponenten immer auch parallel mitgedacht.
Das hat sich ausgezahlt, und es freut uns, dass wir heute
auch von vielen Trägern nach anfänglicher Skepsis viel
Anerkennung und Zustimmung erfahren haben.
Diese Koalition hat sich schon im Koalitionsvertrag
vorgenommen, die Jugendfreiwilligendienste zu stärken.
Genau das haben wir auch getan. Wir haben die Förderpauschalen erhöht, und zwar schon vor der Aussetzung
der Wehrpflicht. Inzwischen werden die Förderpauschalen im Jugendfreiwilligendienst dreimal so hoch sein wie
noch zu Beginn der Legislaturperiode. Wir haben eine
Sonderregelung eingeführt, um Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarf besser zu unterstützen. Wir haben die Einsatzbereiche über das Freiwillige Soziale
Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr hinaus deutlich ausgedehnt und ausgebaut. Heute können Jugendliche sich auch in der Politik, im Sport, in der Kultur, in
der Bildung und in der Integration mit ihren jeweiligen
Fähigkeiten und ihren Ideen einbringen.
Die Freiwilligendienste haben in dieser Legislaturperiode eine Aufwertung und eine Unterstützung erfahren,
wie es sie noch nie vorher gab. Es ist die große gesellschaftspolitische Entscheidung, das große gesellschaftspolitische Projekt dieser Legislaturperiode. Wenn die
antragstellenden Fraktionen dann an den verschiedenen
Details herumkritteln, dann muss man sich vor Augen
führen, woher wir kommen und was angesichts von
Haushaltskonsolidierungsdruck und Schuldenbremse
alles auf dem Spiel stand. Wir haben insofern allen
Grund, auf das Gesamtergebnis stolz zu sein. Wenn Sie
angesichts dieser Entwicklungen und der damals zu lösenden Mammutaufgaben dann von „handwerklichen
Mängeln“ und dergleichen schwadronieren, muss man
sich schon fragen, ob die Komplexität der Aufgabe Ihrerseits erfasst wurde.
Es ist an dieser Stelle noch einmal wichtig, zu betonen, dass Sie es sich mit Ihren Aussagen zu den Doppelstrukturen beim BFD und den Jugendfreiwilligendiensten ziemlich einfach machen. Sie wissen um die
verfassungsmäßige Problematik, die sich rund um die
Frage dreht, inwieweit der Bund sich an den Jugendfreiwilligendiensten der Länder beteiligen darf. Mit der erheblichen Aufstockung der Mittel für die Jugendfreiwilligendienste ist die Bundesregierung bereits weit
gegangen. Sie hat dies ganz im Sinne der Stärkung der
Jugendfreiwilligendienste getan. Die zivilgesellschaftliche Komponente hat alleine durch diesen Aufwuchs eine
Stärkung erfahren, wie es sie bislang nicht gab. Dies
müssen Sie bei Ihrer Forderung nach Stärkung der Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Verantwortung
zur Kenntnis nehmen, und ich denke, dass es daran fraktionsübergreifend keinen Zweifel gibt.
Ich finde es auch sehr interessant, wie ambivalent Sie
immer wieder mit der Frage der Zivilgesellschaft umgehen. Das hat sich ja bei den Beratungen rund um den
Bundesfreiwilligendienst deutlich gezeigt. Auf der einen
Seite haben Sie sich darüber aufgeregt, dass der staatliche Einfluss auf den Bundesfreiwilligendienst zu groß
sei und der Staat nun einen zu großen Einfluss auf die Zivilgesellschaft nimmt. Andererseits sind Sie nicht müde
geworden, immer neue Forderungen zu stellen, was alles noch gesetzlich geregelt werden muss, um es nicht
der Zivilgesellschaft selbst zu überlassen. Unter diesem
Blick muss auch Ihre Forderung nach neuen gesetzlichen Regelungen oder - wie Sie es nennen - „einem einheitlichen Rechtsrahmen“ gesehen werden.
Umstellungsprozesse brauchen immer ein wenig
Zeit - und es gibt tatsächlich das eine oder andere, das
aus meiner Sicht noch geschärft werden muss. Ich habe
keinen Zweifel, dass wir diese Änderungen im Sinne der
Freiwilligen in beiden Säulen angehen werden.
Ein knappes Jahr nach der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wo steht der BFD?
Nach wie vor ist deutlich spürbar, dass das Gesetz
zum Bundesfreiwilligendienst unter einem hohen Zeitdruck durch die Gremien gebracht werden musste. Es
gibt weiterhin grundsätzliche Schwachstellen, die sich
aus der „Pflichtdienstlogik“ ergeben - schließlich sollte
der BFD die Lücke schließen, die der Zivildienst vermeintlich hinterlassen hat -; aber es gibt auch massive
Probleme bei der Umsetzung, der Verzahnung zwischen
BFD und FSJ/FÖJ und der Arbeitsmarktneutralität.
Anfang des Jahres hat meine Fraktion gemeinsam mit
Freiwilligen, Trägern und Einsatzstellen versucht, systematisch die Schwächen des BFD aufzuzeigen. Gemeinsam mit den Grünen bringen wir nun einen Antrag ein,
der unsere Vorstellung von klugen Rahmenbedingungen
für Freiwilligendienste deutlich macht. Diesen Rahmenbedingungen liegt unserer Meinung nach ein grundsätzlich anderes Verständnis von Freiwilligendiensten zugrunde als das, das die Bundesregierung im letzten Jahr
vermittelt hat. Wir nämlich sind der Überzeugung, dass
Freiwilligendienste in zivilgesellschaftliche Verantwortung gehören und nicht in staatliche.
Man kann es aufgrund der aktuellen Entwicklungen
nicht oft genug sagen: Freiwilligendienste sind weder
Ausfallbürgen noch Lückenbüßer für sozialstaatliche
Aufgaben. Engagement im Rahmen eines Freiwilligendienstes ist für die Gesellschaft, aber eben auch für den
einzelnen Freiwilligen ein großer Gewinn. Freiwilligendienste sind Bildungsdienste. Das muss auch für den
BFD gelten. In diesem Sinne muss er sich in seiner Struktur stärker an den Jugendfreiwilligendiensten orientieren.
Dazu gehört - und damit komme ich zum harten Kern
unseres Antrags - die Verankerung des Trägerprinzips
im Bundesfreiwilligendienstgesetz. Denn es kann nicht
sein, dass die Träger, die wichtige Ansprechpartner für
ihre Freiwilligen sind, die eine koordinierende Funktion
wahrnehmen und für die Qualitätssicherung zuständig
sind, im BFD kein Vertragspartner sind. Neben dem
Grundsatz der Subsidiarität, den es hier zu wahren gilt,
stellt die momentane Situation die Träger allein schon
verwaltungstechnisch vor unlösbare Aufgaben - müssen
sie doch auch hinsichtlich ihres Kontingents einen Überblick über die Anzahl und die Daten „ihrer“ Freiwilligen erhalten.
Wir wollen, dass auch der BFD - genau wie die Jugendfreiwilligendienste - seinen Anspruch als Bildungsdienst ernst nimmt. Noch ist dies nicht der Fall: Beispielsweise ist die pädagogische Begleitung in den
Einsatzstellen nicht festgeschrieben; für mein Dafürhalten ist sie aber essenziell. Zum anderen gibt es organisatorische Schwierigkeiten beim Umgang mit den Bildungsgutscheinen für die ehemaligen Zivildienstschulen.
FSJ- und FÖJ-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer können
häufig nicht an den Seminaren teilnehmen, weil es vonseiten der Bildungszentren keine Flexibilität gibt. So
verfallen die Bildungsgutscheine und damit ein Teil der
aufgestockten Mittel. Hier fordern wir in unserem Antrag ein neues System und eine grundlegende Reform
des Bildungskonzeptes.
Neben vielen anderen Punkten, die wir in unserem
Antrag aufführen, ist mir ein Thema besonders wichtig:
Die Doppelrolle des BAFzA sehen wir mehr als kritisch.
Einerseits ist es steuernde, koordinierende und kontrollierende Behörde und verwaltet die Zuschüsse an die
zivilgesellschaftlichen Zentralstellen. Andererseits ist es
insbesondere für kleine und kommunale Träger Zentralstelle und Dienstleister. Somit tritt das BAFzA in Konkurrenz zu den Zentralstellen aus dem dritten Sektor.
Das widerspricht unter anderem dem Subsidiaritätsgebot. Wir fordern, dass diese zweite Rolle des BAFzA aufgegeben wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Grundsätzlich müssen wir uns die Frage stellen, wie
wir uns die Freiwilligendienstlandschaft in Zukunft vorstellen. Ich begrüße, dass es mit dem BFD nun auch eine
Möglichkeit für Menschen über 27 gibt, einen Freiwilligendienst zu leisten. Gleichzeitig wirft dies aber Fragen
auf, die wir klar beantworten müssen. Die Abgrenzung
zum Arbeitsmarkt und zu anderen Formen des bürgerschaftlichen Engagements muss gewährleistet sein.
Tätigkeitsfelder müssen neu definiert und stets kontrolliert werden. Die Möglichkeiten, die die Abschaffung des
Wehr- und Zivildienstes nun bieten, müssen wir nutzen,
und zwar besser, als es die Bundesregierung momentan
tut. Wir brauchen ein kluges, durchdachtes und zivilgesellschaftlich orientiertes Konzept für eine Zukunft der
Freiwilligendienste. Unser Antrag stellt eine gute
Grundlage dafür dar.
Das große Interesse am Bundesfreiwilligendienst hat
die Bundesregierung überrascht, sie feiert das als ihren
Erfolg. Wir, die SPD, waren nicht überrascht. Das Interesse am freiwilligen Engagement ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Die Engagementquote ist
in den letzten zehn Jahren um 2 Prozent gestiegen, bei
den über 60-Jährigen sogar um mehr als 5 Prozent. Auf
einen Platz im Freiwilligen Sozialen bzw. im Freiwilligen Ökologischen Jahr kamen drei Bewerbungen. Die
SPD hat in ihrer Regierungsverantwortung, in der 14.
und 15. Wahlperiode, die klassischen Jugendfreiwilligendienste kontinuierlich ausgebaut, quantitativ wie
qualitativ. Diesen Ausbau wollten wir fortsetzen, die
Bundesregierung nicht. Stattdessen hat sie mit dem Bundesfreiwilligendienst einen neuen Dienst eingeführt.
Danken müssen wir den Freiwilligen wie den Trägern. Trotz der widrigen Bedingungen haben sie aus den
neuen Vorgaben das Beste gemacht und den neuen
Dienst erfolgreich umgesetzt. Freiwillige, die bereits als
junge Erwachsene erfahren, welchen Wert und welche
Bedeutung ihr Engagement für die Gesellschaft hat,
werden sich auch im weiteren Verlauf ihres Lebens engagieren, davon bin ich überzeugt. Wir, die SPD, fordern
daher auch in unserem Antrag, dass wir eine Kultur der
Anerkennung und Wertschätzung entwickeln müssen.
Das darf sich nicht auf schöne Worte und Schulterklopfen beschränken.
Anerkennung muss schon bei der Bundesregierung
anfangen. Während das Familienministerium für den
neuen Dienst wirbt, beschäftigt sich das Finanzministerium lieber damit, wie man Freiwilligen in die Tasche
greifen kann. Das Finanzministerium erarbeitete Pläne
für eine Engagementsteuer! Das ohnehin schon geringe
Taschengeld der Freiwilligen sollte besteuert werden.
Solche Gedankenspiele sind ein vollkommen falsches Signal, sie sind das Gegenteil einer Anerkennungskultur.
Solche Stolpersteine dämpfen Engagement, anstatt es zu
befördern.
Eine Kultur der Wertschätzung und Anerkennung
müssen auch die Einsatzstellen und Träger entwickeln.
Der Zivildienst war ein Pflichtdienst. Viele Einsatzstellen müssen erst noch realisieren, dass sie es mit Freiwilligen und nicht mit Dienstverpflichteten zu tun haben,
denn Freiwillige können ihren Dienst jederzeit quittieren. Die Abbrecherquote von rund 10 Prozent im Bundesfreiwilligendienst muss daher näher untersucht werden. Was sind die Gründe, dass Freiwillige ihren Dienst
abbrechen? Welche Konsequenzen müssen daraus gezogen werden? In Gesprächen mit Freiwilligen äußerten
viele, dass sie als Freiwillige gesehen werden wollen,
und nicht als Verpflichtete. Sie wollen ihre Qualifikationen im Freiwilligendienst einbringen, auch Veränderungen anstoßen, Freiwillige erwarten, dass sie auf Augenhöhe behandelt werden.
Unklarheiten gibt es auch nach wie vor bei der Anrechnung eines Freiwilligendienstes als Wartesemester
oder Praktikum für eine spätere Ausbildung oder ein
Studium. FSJ und FÖJ sind eingeführt und werden angerechnet. Für die Freiwilligen im BFD muss dies auch
gelten. Die Bundesregierung ist hier noch nicht aktiv geworden.
Die ersten Bundesfreiwilligen sind schon fertig mit
ihrem Dienst, und es gibt - nach einem Jahr - noch nicht
einmal einen Bundesfreiwilligendienstausweis. Die Bundesregierung versichert immer wieder, man arbeite an
dem Problem. Wie lange noch? Dabei ist ein einheitlicher und breit akzeptierter Freiwilligendienstausweis,
der zu Ermäßigungen berechtigt, ein wichtiger Baustein
für mehr Anerkennung.
Auch Arbeitgeber sind in Sachen Anerkennung gefordert. Ehemalige Freiwilligendienstleistende sind ein Gewinn für Arbeitgeber. Wer einen Freiwilligendienst geleistet hat, bringt außergewöhnliche Kompetenzen,
Fertigkeiten und Erfahrungen mit, Qualifikationen, die
auch im Job gefragt sind. Davon profitieren sowohl Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber als auch Kolleginnen
und Kollegen. Umgekehrt müssen Arbeitgeber auch jungen Auszubildenden die Teilnahme an einem Freiwilligendienst ermöglichen, ohne dass sie ihren sicheren Job
aufgeben müssen. Denn bisher werden Freiwilligendienste von jungen Leuten meistens zwischen Schule und
Studium oder vor dem Berufseinstieg absolviert. Auszubildende, die von ihrem Betrieb übernommen werden
wollen, können sich einen Freiwilligendienst gar nicht
leisten, weil sie damit die Übernahme aufs Spiel setzen.
Wir brauchen daher eine „Allianz für Freiwilligendienste“. Die Arbeitgeber verpflichten sich, einen Freiwilligendienst mit gleichzeitiger Rückkehr in den Job zu
ermöglichen. Zivis hatten ein Rückkehrrecht. Eine
Selbstverpflichtung wäre ein Baustein für eine reale Anerkennung. Und sie erspart uns gesetzliche Regelungen.
Der Bundesfreiwilligendienst richtet sich nicht nur an
Junge, sondern auch an Ältere. Eine erste Studie zum
BFD, verfasst von der Hertie School of Governance und
des CSI, „Ein Jahr Bundesfreiwilligendienst“, zeigt:
Über 30 Prozent der Bundesfreiwilligen sind über 27.
Auf den ersten Blick sieht das toll aus. Schaut man sich
die Verteilung auf die Bundesländer an, fällt auf, dass es
in den östlichen Bundesländern überproportional viele
ältere Teilnehmer am BFD sind. Während in BadenWürttemberg 16 Prozent der BFDler älter als 27 sind,
sind es in Thüringen 79 Prozent. Ist die ArbeitsmarktZu Protokoll gegebene Reden
neutralität im Osten nicht gegeben? Mir wurden Fälle
geschildert, in denen die Arbeitsagentur Arbeitsuchende
zur Aufnahme eines Bundesfreiwilligendienstes aufgefordert hat. Aus der persönlichen Sicht der Arbeitslosen
kann ein Bundesfreiwilligendienst vielleicht ganz schön
sein. Bei einem Besuch bei der Diakonie habe ich mit älteren Freiwilligen gesprochen. Oft sind es Brüche im Lebenslauf, die der Aufnahme eines BFD vorausgegangen
sind. Es kann aber nicht sein, dass aktive arbeitsmarktpolitische Instrumente gekürzt werden und Arbeitslose
mit dem Bundesfreiwilligendienst abgespeist werden.
Der Bundesfreiwilligendienst ist keine AB-Maßnahme
und darf nicht zu weiteren prekären Beschäftigungsverhältnissen führen.
Die Altersöffnung ist aber mit noch mehr Fragezeichen verbunden. Mitnahmeeffekte sind möglich: Durch
geringe Stundenzahl im BFD und einem Teilzeitjob im
selben Bereich kann Missbrauch betrieben werden. Hier
ist die Bundesregierung in der Pflicht. Möglicher Missbrauch muss untersucht und konsequent unterbunden
werden.
Alle die aufgeworfenen Themen sind in unserem Antrag aufgeführt. Wir fordern einen klaren Rechtsrahmen.
Wir brauchen eine Abgrenzung zum Arbeitsmarkt. Freiwilligendienste dürfen nicht als Ersatz für soziale Arbeit,
arbeitsmarktpolitische oder Wiedereingliederungsmaßnahmen missbraucht werden. Ein Freiwilligendienstestatusgesetz schafft Abhilfe. Es kann dazu beitragen,
dass das Angebot für Interessierte übersichtlich ist, gesellschaftliche Anerkennung gewährleistet ist, Zuständigkeiten klar und transparent geregelt sind, und die
Qualität der Einsatzstellen gesichert ist.
Die Vielfalt und die zivilgesellschaftliche Verankerung der Freiwilligendienste muss darin gewährleistet
sein.
Ein letzter Punkt, der uns als SPD wichtig ist, ist die
Frage der Partizipation. Wer sich für einen Freiwilligendienst entscheidet, will mitreden, mitgestalten und
teilhaben. Gerade in den Freiwilligendiensten geht es
nicht um das Ableisten einer Dienstpflicht. Dazu benötigt es eine Interessenvertretung der Freiwilligen, sowohl bei den Einsatzstellen, als auch bei den Trägern.
Das ist bisher nicht gewährleistet. Es muss eine Plattform geschaffen werden, auf der sich BFDler organisieren und austauschen können.
Die SPD steht zum Ausbau der Freiwilligendienste,
dazu bekennt sich unser Antrag. Wir wollen die Vielfalt
und die Verlässlichkeit in der Finanzierung gewährleisten. Unser Ziel bleibt es, jedem und jeder Interessierten
einen qualitativ guten Freiwilligendienstplatz anbieten
zu können, und dazu braucht es die entsprechenden
Haushaltsmittel.
Man soll den Tag bekanntlich nicht vor dem Abend
loben. Aber in diesem Falle möchte ich das Wagnis eingehen. Schließlich stellt dieser Antrag fast eine 180Grad-Wendung von SPD und Grünen dar. Man erlebt es
nicht alle Tage, dass die Opposition in einem Antrag so
offen und unumwunden einräumt, dass die mutige Entscheidung der Koalition, die Wehrpflicht auszusetzen,
richtig war. Da gab es in der Vergangenheit ja durchaus
unterschiedliche Signale von der linken Seite des Hauses. Die SPD war mal für die Wehrpflicht, dann dagegen, dann für eine „freiwillige Wehrpflicht“; unklarer
ging es kaum.
Für uns Liberale war die Sache hingegen eindeutig:
Anstatt babylonische Sprachverwirrung zu betreiben,
haben wir uns seit über einem Jahrzehnt konsequent für
die Aussetzung der Wehrpflicht und damit aller Zwangsdienste eingesetzt, weil wir die Wehrpflicht aus bekannten sicherheitspolitischen Erwägungen nicht mehr für
zeitgemäß hielten.
Als Nächstes hieß es dann, die Aussetzung sei übereilt, komme zum falschen Zeitpunkt oder sei in der aktuellen Lage fehl am Platze. Ich freue mich, dass Sie all
diese vorschnellen Urteile mit diesem Antrag öffentlich
eingestehen. Ferner räumen Sie Ihren Irrtum ein, dass
der BFD ein Rohrkrepierer werden würde. Sie haben uns
dies stets prophezeit - und ganz offensichtlich die Engagementbereitschaft der Menschen in unserem Lande
massiv unterschätzt. Aber aus Fehlern kann man bekanntlich lernen.
Ich wünschte, dass ich es dabei schon belassen
könnte. Aber wo Licht ist, da ist auch Schatten, und der
ist in diesem Fall leider ziemlich lang. Wenn Sie feststellen, dass mit der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes die Chance verpasst wurde, die Jugendfreiwilligendienste weiterzuentwickeln und auszubauen, dann
haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Sie ignorieren wieder einmal geflissentlich die Hinweise des Bundesrechnungshofs, der bereits die heutige
Förderung der Jugendfreiwilligendienste wiederholt gerügt hat. An anderer Stelle, liebe Mitglieder der Opposition, argumentieren Sie doch gerne mit dem Bundesrechnungshof. Warum weigern Sie sich in diesem Fall so
beharrlich, dessen Hinweise zur Kenntnis zu nehmen?
Außerdem unterschlagen Sie schlicht die enormen
Anstrengungen, die diese Koalition im Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements unternommen hat. Wir
haben die Unterstützung für die Freiwilligendienste, die
pädagogische Förderung, um das beinahe Vierfache erhöht. Nichts annähernd Vergleichbares ist unter Ihrer
Ägide geschehen. Daher können wir, CDU, CSU und
FDP, mit Fug und Recht sagen, dass wir die Koalition
des bürgerschaftlichen Engagements sind. Und es ist
kein Geheimnis, dass sich insbesondere die Liberalen
für den Ausbau der Jugendfreiwilligendienste von Beginn dieser Legislatur an eingesetzt haben.
In Ihrem Antrag stellen Sie nun eine Reihe von Forderungen. Teilweise werden diese schon erfüllt. So läuft
die Evaluation des BFD bereits, und natürlich wird dabei dezidiert auf die Arbeitsmarktneutralität geachtet.
Und es steht doch völlig außer Frage, dass die Freiwilligendienste nicht als arbeitsmarktpolitisches Instrument missverstanden werden dürfen. Da sind wir fachpolitisch völlig einer Meinung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Für einige andere Punkte, die Sie fordern, habe ich
allerdings kein Verständnis. Nicht etwa, weil ich sie inhaltlich nicht teilen würde, sondern weil Sie sich
schlicht und ergreifend wieder einmal den falschen Adressaten für Ihre Forderungen ausgesucht haben. Für
die Anerkennung von bürgerschaftlichem Engagement
in Form von Wartesemestern durch die Universitäten
beispielsweise ist der Bund überhaupt nicht zuständig.
Und das trifft auch auf eine Reihe anderer Punkte zu.
Das sollten Sie eigentlich wissen.
Es steht Ihnen aber selbstverständlich frei, sich bei
Ihren Landeskollegen für eine größere Wertschätzung
des bürgerschaftlichen Engagements einzusetzen. Es
wäre höchste Zeit, und ich würde das ausdrücklich begrüßen.
Sicherlich gibt es auch Punkte, wie zum Beispiel die
Zukunft der Bildungszentren, die Sie selbst ansprechen,
über die wir uns im Ausschuss austauschen sollten. Das
gesetzliche „Feintuning“ beim BFD ist ohne Frage
noch nicht abgeschlossen; wie sollte es auch. Die Freiwilligendienste haben sich über 40 Jahre entwickelt.
Der BFD wurde in weniger als einem Jahr von uns
sprichwörtlich aus dem Boden gestampft. Rom wurde
bekanntlich auch nicht an einem Tag erbaut. Da wartet
noch Arbeit auf uns. Ob aber dieser Antrag dazu beiträgt, die wichtigsten Baustellen erfolgreich abzuschließen, habe ich doch erhebliche Zweifel.
Es ist interessant, wie stark sich die anderen Fraktionen - trotz gegenteiliger Beteuerungen - regelmäßig an
den Positionen der Linken orientieren, so wie in diesem
Fall SPD und Bündnisgrüne, die in ihrem gemeinsamen
Antrag zu den Freiwilligendiensten viele Forderungen
und Bedenken der Linken aufnehmen.
Unsere Forderungen, die von Ihren alles andere als
weit entfernt sind, stellten wir schon im Februar 2011 im
Bundestagsplenum zur Abstimmung. Unserem Antrag
„Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen, statt Bundesfreiwilligendienst einführen“ stimmten Sie damals
aber leider nicht zu. Im Mai 2012 wurde meine umfassende Kleine Anfrage zur „Weiterentwicklung des Bundesfreiwilligendienstes“ von der Bundesregierung beantwortet. Diese Anfrage haben Sie, wie Ihr Antrag
zeigt, zu Recht genau studiert. Doch ob hier im Plenum
oder im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“. Nicht nur die Regierungskoalition, auch Sie von
SPD und Grünen untermalten regelmäßig unsere Anmerkungen - ob zur vermeintlichen Arbeitsmarktneutralität oder zur Altersöffnung - mit genervtem Desinteresse. Dies macht Sie nicht unbedingt glaubwürdiger!
Wenn Sie jetzt schon einiges von der Linken guttenbergen, ist es umso bedauerlicher, dass wir nicht einen
oppositionsübergreifenden Antrag vorlegen. Dies hätte
erstens Ihrem jetzigen Antrag noch mehr Nachdruck und
Glaubwürdigkeit verliehen, gerade in die soziale Bewegungs- und Engagementszene hinein. Und zweitens
hätte dies Ihrem Antrag gewiss zu noch mehr Qualität
verholfen.
Rot-Grün fordert nun im Antrag, dass alle Freiwilligendienste vollständig zivilgesellschaftlich organisiert
sein sollen. Dies ist richtig. Doch wären Sie nur immer
schon so konsequent gewesen! Die Linke lehnte den
staatlich organisierten Bundesfreiwilligendienst von
vornherein und - das ist der Unterschied zu Ihnen - mit
Nachdruck ab. Wir wollten rechtliche Voraussetzungen
schaffen, um die bestehenden Jugendfreiwilligendienste
mithilfe erfahrener zivilgesellschaftlicher Akteure weiter
auszubauen und zu stärken. Sie eierten dagegen rum!
Aber in Ihrem Antrag wird vieles Richtige und Wichtige angesprochen:
Der Linken liegt das Thema Arbeitsmarktneutralität
ganz besonders am Herzen. Da lassen wir auch nicht locker. Schön, dass Sie sich dieses Themas zumindest in
Ihrem Antrag ein bisschen ausführlicher annehmen. In
Debatten schoben Sie es bisher allzu oft schnell beiseite.
Uns ist wichtig, dass alle Freiwilligendienste noch klarer von Erwerbsarbeit und arbeitsmarktpolitischen
Maßnahmen abgegrenzt werden. Gerade in Ostdeutschland wurden und werden viele Erwerbslose von den Arbeitsagenturen in den Bundesfreiwilligendienst geschickt. Es ist doch offensichtlich, warum: Erwerbslose
stellen eine Armada an günstigen Arbeitskräften da nun auch noch unter dem Deckmantel des staatlichen
Freiwilligendienstes. In der Altersgruppe von 27 bis
65 Jahren leisten mehr Frauen als Männer einen Bundesfreiwilligendienst, weil ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt geringer sind als die von Männern. Kommunen schielen aufgrund ihrer Finanznöte immer öfter auf
Freiwillige jeglicher Couleur. Und dann gab es noch den
absurden Vorschlag, Bundesfreiwilligendienstler vermehrt in Kitas zu schicken.
Hieran sehen wir doch deutlich: Freiwillige sollen
immer häufiger für fehlende Fachkräfte und Arbeitsplätze sowie als Ausgleich für zu geringe Finanzmittel in
die Bresche springen. Sie müssen es oftmals sogar tun,
um zum Beispiel als Erwerbslose überhaupt über die
Runden zu kommen. Auch Seniorinnen und Senioren
sind in ihrer berechtigten Furcht vor Altersarmut davon
besonders betroffen. Mit einem Bundesfreiwilligendienst
können sie ihr Einkommen bzw. ihre Rente wenigstens
ein kleines Stück aufstocken. Gerade die geringere Stundenzahl für über 27-Jährige im Bundesfreiwilligendienst
verführt dazu. Generell sehen wir im Gegensatz zu SPD
und Grünen die Altersöffnung sehr kritisch. Zudem
kommt es immer öfter vor, dass mehrere derartig niedrig
entlohnte Beschäftigungen kombiniert werden. Die Zuverdienstmöglichkeiten für Beziehende von Arbeitslosengeld II verstärken dieses „Getriebenwerden in den
Bundesfreiwilligendienst“ ebenso wie die vom Gesetzgeber angestrebten Anreize, mit einem Bundesfreiwilligendienst wieder Ansprüche auf Arbeitslosengeld I zu
erhalten.
Doch das ist der völlig falsche Weg! Die Linke ist der
Meinung, dass Freiwilligendienste nicht als Ausfallbürgen und Freiwillige nicht als Lückenbüßer in einem bewusst ausgetrockneten Sozialsystem herhalten dürfen!
Bürgerschaftliches Engagement als Ganzes darf und
kann nicht all das übernehmen und auffangen, was die
Zu Protokoll gegebene Reden
öffentliche Hand nicht mehr finanzieren kann oder will.
Es darf nicht länger Notnagel im Zuge des Sozialstaatsabbaus sein und auch nicht reguläre, qualifizierte Beschäftigung verdrängen! Die Linke will nicht, dass der
Bundesfreiwilligendienst eine weitere Niedriglohnoase
zwischen klassischem Engagement und regulärer Erwerbsarbeit wird.
Was wir an erster Stelle brauchen, sind mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mit qualifizierten
Beschäftigten bei tariflichem Lohn oder wenigstens
10 Euro Mindestlohn und mehr betriebliche Ausbildungsplätze. Statt prekärer Beschäftigung und Leiharbeit will die Linke existenzsichernde Arbeitsplätze und
gute Arbeit für Jung und Alt. Erwerbslose brauchen eine
sank-tionsfreie, Teilhabe ermöglichende Grundsicherung. Und wir fordern eine armutsfeste und lebensstandardsichernde Rente.
Die Kommunen wiederum haben stabilere und höhere
Einnahmen nötig, um wieder handlungsfähig zu werden
und umfassende kommunale Daseinsvorsorge zu garantieren. Deshalb muss unter anderem die Gewerbesteuer
zur Gemeindewirtschaftsteuer weiterentwickelt werden.
Dies alles muss dringend angegangen werden! Ein
Bundesfreiwilligendienst wird kein Heilsbringer sein!
Kommen wir zu anderen Punkten Ihres Antrags:
Die Linke sieht Freiwilligendienste ebenfalls primär
als Lern- und Bildungsdienste, aber eher für junge Menschen. Deren zielgruppengerechte pädagogische Begleitung in der jeweiligen Einsatzstelle muss gesichert sein!
Da stimmen wir mit Ihnen überein. Jedoch zeigen sich
auch hier Probleme aufgrund der Altersöffnung: Sinnvolle Regelungen aus dem Bereich Bildung lassen sich
nicht so einfach von Jugendfreiwilligendiensten auf
Bundesfreiwilligendienstler jedes Alters übertragen. Die
Verschiedenartigkeit dieser Gruppe macht Bildungsbegleitung und das Entwickeln konsistenter Bildungskonzepte sehr schwer.
Auch befürwortete die Linke schon immer eine breite
Anerkennungskultur für Engagement in Freiwilligendiensten, was beispielsweise in unserem Antrag aus dem
letzten Jahr nachzulesen ist. Ergänzend zu den rot-grünen Forderungen unter anderem nach einem Freiwilligendienstausweis, ÖPNV-Vergünstigungen und Anerkennung eines Dienstes als Wartesemester oder
Praktikum möchte ich noch Vergünstigungen beim
BAföG oder Möglichkeiten zur gebührenfreien Weiterbildung in die Debatte einbringen.
Dass Arbeitgeber Beschäftigte, die einen Freiwilligendienst geleistet haben oder leisten wollen, mehr
wertschätzen bzw. besser unterstützen sollen, ist eine
sinnvolle Forderung. An dieser Stelle gilt es aber, sich
für konkrete Freistellungsregelungen und vor allem für
einen starken Kündigungsschutz einzusetzen.
Im Unterschied zu SPD und Grünen fordern wir die
ausdrückliche Beachtung von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsprinzipien in Freiwilligendiensten. Im
Bereich Mitgestaltung der Teilnehmenden an einem
Freiwilligendienst bleiben Sie außerdem zu schwammig:
Die Linke möchte nicht nur eine vage Mitgestaltung,
sondern Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz. Ebenso wichtig ist die demokratische Mitbestimmung an Zielen, Inhalten und Ausrichtung der Jugendfreiwilligendienste selbst. Gremien der Mitbestimmung
sind aus unserer Sicht bei jedem Träger von Freiwilligendiensten notwendig.
In Ihrem Antrag hätten Sie zudem deutlicher hervorheben müssen, dass Freiwilligendienste niedrigschwelligere Zugangsmöglichkeiten bieten müssen, um unterrepräsentierte Gruppen vermehrt zu gewinnen. Die Linke
fordert, dass sich Freiwilligendienste stärker für neue
Zielgruppen öffnen, wobei besonders Migrantinnen und
Migranten und Menschen mit Behinderung in den Blick
genommen werden müssen. Freiwilligendienste dürfen
aber auch hier nicht Platzhalter für umfassende Integration und Inklusion sein.
Was insgesamt an diesem in weiten Teilen gelungenen
Antrag auffällt, ist, dass Sie wie die Bundesregierung
Freiwilligendienste als Hauptinstrument zur Engagementförderung ansehen. Damit agieren Sie jedoch zu
einseitig. Sie verstärken die Sicht auf freiwilliges Engagement als bloße Dienstleistung für die Bewältigung sozialer Probleme. Der Staat greift auf Freiwillige zu, an
der Zivilgesellschaft vorbei. Engagement soll geradezu
planwirtschaftlich gesteuert werden. Freiwillige werden
dem Bereich zugeteilt, in dem sie gerade gebraucht werden: heute Pflege, morgen Kita, je nachdem, wo aktuell
durch Sozialabbau die Strukturen geschliffen wurden.
Der engagierte Mensch wird damit zur bloßen Ressource, zur Ware. Das lehnt die Linke entschieden ab!
Bund, Länder und Kommunen - nicht Freiwillige sind gefordert, eine breite öffentliche Daseinsvorsorge
zu gewährleisten. Am Bundesfreiwilligendienst wird hingegen berechtigterweise die zu große Staatsnähe und
das Kleben an der Logik der Pflichtdienste kritisiert.
Der vermoderte, altertümliche Dienst-Begriff stellt in
den Schatten, dass sich bürgerschaftliches Engagement
an dem freien und freiwilligen, solidarischen Miteinander aller Menschen in einer vitalen und sozialen Demokratie orientieren sollte.
Dies alles wird seit geraumer Zeit unter dem Stichwort „Verdienstlichung der Engagementpolitik“ diskutiert. Dem sollten wir uns in den entsprechenden Ausschüssen vertiefend annehmen.
Bürgerschaftliches Engagement hat noch mehr Facetten als nur die Freiwilligendienstseite. Dies müsste
mal dem Familienministerium bewusst werden!
Die Linke fordert nach dem „Gesetz zur weiteren
Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements“ aus der
letzten Wahlperiode daher eine weitreichende Strukturförderung von bürgerschaftlichem Engagement auch
jenseits der Freiwilligendienste. Kommunen, Vereine,
Verbände und Initiativen müssen in die Lage versetzt
werden, zielgenaue Infrastrukturen zur Engagementförderung aufzubauen.
Denn nur dann kann freiwilliges Engagement als das
gestärkt werden, was es sein sollte: als wichtiges soziaZu Protokoll gegebene Reden
les Plus in einer demokratischen und gerechten Gesellschaft.
Knapp ein Jahr ist die Aussetzung der Wehrpflicht
und des damit verbundenen Zivildiensts her. Und knapp
ein Jahr besteht der Bundesfreiwilligendienst.
Allen Unkenrufen zum Trotz ist mit dem Ende des
Zivildienstes das soziale System in Deutschland nicht
zusammengebrochen. Im Gegenteil: Es gibt eine große
Nachfrage nach allen Freiwilligendiensten. Aktuell leisten circa 85 000 vorwiegend junge Menschen in
Deutschland ein freiwilliges Jahr.
Circa 35 000 von ihnen haben einen Platz im Bundesfreiwilligendienst - in einem Dienst, den Union und
FDP im Hauruckverfahren im vergangenen Jahr eingeführt haben und der das bewährte System der Jugendfreiwilligendienste in eine Schieflage gebracht hat, weil
die Qualität der Angebote hinter der Quantität weit zurücksteht. Vor diesem Hintergrund haben wir gemeinsam mit der SPD den vorliegenden Antrag eingebracht,
um wenigstens die groben Probleme kurzfristig anzugehen.
Mit der Einführung des Bundesfreiwilligendiensts
durch die Bundesregierung am 1. Juli 2011 entstanden
Risse in der Erfolgsgeschichte der Freiwilligendienste
und eine große Verunsicherung für alle Beteiligten.
Wäre die jahrelange Erfahrung der Träger bei Einführung des neuen Bundesfreiwilligendiensts nicht vorhanden gewesen, hätten sie nicht die Freiwilligen und Einsatzstellen unterstützt und wären sie darüber hinaus
nicht in finanzielle Vorleistung gegangen, dann gäbe es
den Bundesfreiwilligendienst ein Jahr nach seiner Einführung so nicht mehr. An dieser Stelle also ein großes
Lob an die Träger und Einsatzstellen, die die Einführung
des Bundesfreiwilligendiensts zu einem Erfolg gemacht
haben! Und ein Lob an die Freiwilligen, die sich nicht
haben verunsichern lassen!
„Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Verantwortung stärken“ ist Titel und Ziel unseres Antrags.
Das bedeutet für uns Grüne, dass das Subsidiaritätsprinzip flächendeckend für alle Freiwilligendienste gelten muss. Traditionell sind unsere Inlandsfreiwilligendienste FÖJ und FSJ und ihre vielen Facetten in den
Bereichen Kultur, Sport, Politik, Denkmalschutz usw. zivilgesellschaftlich organisiert. Der Bundesfreiwilligendienst untergräbt dieses Prinzip, indem der Staat - mittels des „neuen“ Bundesamts für Familie und
zivilgesellschaftliche Aufgaben, kurz BAFzA, und seiner
Bildungszentren - die zentrale Steuerungsfunktion übernimmt und gleichzeitig als Zentralstelle fungiert. Diese
Doppelrolle muss beendet werden. Die Träger haben
ausreichend Erfahrung im Umgang mit Freiwilligen.
Die Verwaltungsstruktur des BAFzA dagegen ist überdimensioniert, schwerfällig und teuer.
Außerdem muss die Rolle der Bildungszentren entsprechend angepasst werden. Die Qualität von Bildung
und pädagogischer Begleitung der bewährten Jugendfreiwilligendienste muss wieder unbedingter Maßstab
werden. Die staatlich geführten Bildungszentren bereiten den Trägern in ihrer Ausrichtung als „Nachfolgeeinrichtung“ der Zivildienstschulen Probleme in der pädagogischen Begleitung und Passgenauigkeit. Die Träger
haben momentan keine Möglichkeit der Einflussnahme
auf das Curriculum der staatlichen Bildungszentren. Die
Vielfalt der unterschiedlichen Akteure in den Freiwilligendiensten geht dadurch verloren und weicht einem
Zentralangebot, das nur erhalten werden muss, um den
Fortbestand der Zivildienstschulen zu sichern. Hier sollten sich BAfzA und Familienministerium einmal beim
Verteidigungsminister erkundigen, der überflüssige
Strukturen nach der Aussetzung der Wehrpflicht abschafft und Kasernen schließt.
Schließlich wollen wir die Teilhabe der Freiwilligen
im Rahmen ihres Freiwilligendiensts gewährleisten.
Denn es kann nicht nur darum gehen, die Freiwilligen in
die Pflicht zu nehmen. Engagement braucht Raum für
Kreativität, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung.
Hierfür ist eine fundierte Evaluation für die Weiterentwicklung der Freiwilligendienste dringend nötig. Kurzfristig müssen Zwischenergebnisse der Evaluation die
Weiterentwicklung begleiten, um unter anderem die Arbeitsmarktneutralität sicherzustellen und den steigenden
Abbrecherquoten entgegenzuwirken.
Es gibt noch viel zu tun, bis die Struktur der Freiwilligendienste insgesamt aus einem Guss ist. Es gibt noch
viel zu tun, bis der Bundesfreiwilligendienst ein echter
Freiwilligendienst ohne staatliche Fernsteuerung ist
und bis sich der Dschungel der Freiwilligendienste für
junge engagierte Menschen gelichtet hat.
Die Bundesregierung muss endlich handeln und das
lange angekündigte Freiwilligendienstestatusgesetz vorlegen. Auch dazu fordern wir sie mit unserem Antrag
auf.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9926 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 37:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Für effektive EU-Regeln zur Beteiligungstransparenz an börsennotierten Unternehmen
und die Möglichkeit des Stimmrechtsverlustes
von Aktionären bei Verstößen gegen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a des Wertpapierhandelsgesetzes in der Fassung des Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetzes
- Drucksache 17/9940 Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Einige spektakuläre Übernahmefälle in der Vergangenheit haben gezeigt, wie wichtig die Beteiligungstransparenz für die betroffenen Unternehmen, AnteilsRalph Brinkhaus
eigner und Arbeitnehmer ist. Gleichzeitig wurde
deutlich, dass die bestehenden Regelungen nicht ausreichten, da sie durch die Nutzung von Finanzinstrumenten, die der Meldepflicht nicht unterlagen, umgangen
werden konnten. So konnten unerkannt Stimmrechtspositionen an Unternehmen aufgebaut werden. Man spricht
diesbezüglich auch von „Anschleichen“.
Mit dem Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes
und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts, das zu Beginn des vergangenen Jahres verabschiedet wurde, haben wir die Meldepflichten daher
deutlich ausgeweitet. Mit dem neuen § 25 a WpHG
wurde ein Auffangtatbestand geschaffen, um alle bekannten, aber auch alle noch nicht angewendeten Strategien zur Verschleierung des Aufbaus von Beteiligungen zu erfassen. Es werden alle Instrumente erfasst, die
es ihrem Inhaber faktisch oder wirtschaftlich ermöglichen, mit Stimmrechten verbundene und bereits ausgegebene Aktien eines Emittenten zu erwerben. Der neue
§ 25 a WpHG ist daher ein geeignetes Mittel, um - der
Kreativität der Finanzbranche trotzend - in zukünftigen
Fällen ein Anschleichen wirksam zu verhindern. Wir haben dies national festgelegt, haben aber großes Interesse
daran, dass diese Regelung auch europaweit gilt. Wir
fordern die Bundesregierung daher auf, dieses Anliegen
im Rahmen der Verhandlungen über den Vorschlag der
Europäischen Kommission zur Novellierung der Transparenzrichtlinie einzubringen.
Zu einem wirksamen Verbot gehört aber auch eine
wirksame Sanktionierung bei Verstößen gegen dieses
Verbot. Ein Verstoß gegen die Transparenzvorschriften
des WpHG ist eine Ordnungswidrigkeit, die bisher mit
einem Bußgeld bis zu 1 Million Euro geahndet werden
kann. Das Bußgeld ist im Vergleich zu Bußgeldandrohungen in anderen Rechtsgebieten sehr hoch. Bei den
immensen Werten, um die es beim versuchten Anschleichen geht, steht aber zu befürchten, dass auch diese
hohe Bußgeldandrohung keine ausreichend abschreckende Wirkung hat. Daher haben wir bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des
Kapitalmarkts zugesagt, zu prüfen, ob die bestehenden
Sanktionen ausreichen.
Zwar sind weitere negative Folgen mit einem Melderechtsverstoß verbunden. So gibt es beispielsweise die
Möglichkeit der Vorteilsabschöpfung, unter bestimmten
Umständen auch strafrechtliche Konsequenzen und in
jedem Fall einen erheblichen Reputationsschaden. Insgesamt erscheint es uns aber dennoch notwendig, im
Falle einer vorsätzlichen Zuwiderhandlung gegen die
Transparenzvorschriften der §§ 25, 25 a WpHG auch
die Möglichkeit eines vorübergehenden Stimmrechtsverlustes vorzusehen. Denn mit einem Stimmrechtsverlust
verliert derjenige, der verdeckt eine Position aufbaut,
die Möglichkeit, die erworbenen Stimmrechte und Mehrheiten einzusetzen. Mit dieser Sanktionsandrohung wird
jedem Erwerber der Anreiz genommen, verdeckt vorzugehen; denn sie trifft ihn in seinem Grundanliegen. Die
Sanktion des Stimmrechtsverlustes trägt daher dazu bei,
das Anschleichen effektiv zu verhindern.
Die bereits erwähnte Novellierung der Transparenzrichtlinie ist eine gute Gelegenheit, die bestehenden
deutschen Regelungen um die Möglichkeit zur Stimmrechtsaussetzung zu ergänzen. Denn wir legen großen
Wert darauf, dass wir bei diesem doch sehr weitgehenden Eingriffsinstrument europaweit abgestimmt handeln. Auch wenn ein nationaler Alleingang in anderen
Fällen von Vorteil sein kann, würde er in diesem Fall
mehr schaden als nützen. Zum einen ginge es nicht um
die Einführung der Meldepflicht - diese haben wir bereits eingeführt. Es ginge lediglich um die Verschärfung
der Sanktionen bei einem Verstoß gegen diese Meldepflichten. Zum anderen rechnen wir mit einem baldigen
Abschluss der Verhandlungen. Das grundsätzlich mögliche nationale Vorangehen wäre nur von kurzer Dauer.
Dies würde unter den Marktteilnehmern wahrscheinlich
mehr Verwirrung als Respekt für die neuen Meldetatbestände schaffen.
Es ist uns daher wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag entsprechend positioniert und die Bundesregierung bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene aktiv begleitet. Konkret geht es dabei um folgende drei
Punkte:
Erstens wollen wir erreichen, dass die harmonisierten Regeln zur Beteiligungstransparenz nicht hinter dem
in Deutschland durch die §§ 25, 25 a WpHG erreichten
Standard zurückbleiben. Wir haben uns bewusst dafür
entschieden, für Meldepflichten einen Auffangtatbestand zu schaffen, auch wenn wir dadurch nicht heute
schon alle Instrumente konkret benennen können, die
unter die Meldepflicht fallen. Mit dieser gewissen Unsicherheit zu leben, ist besser, als immer neuen Gestaltungen mit angepassten Regelungen hinterherzulaufen. Daher wäre es wichtig, dass auch die Transparenzrichtlinie
einen Auffangtatbestand nach deutschem Vorbild enthält.
Zweitens wollen wir erreichen, dass als mögliche
Sanktion bei vorsätzlichen Verstößen gegen Meldepflichten, die auf der Transparenzrichtlinie beruhen und
der Beteiligungstransparenz dienen, die Möglichkeit eines vorübergehenden Stimmrechtsverlusts eingeführt
wird. Diese Sanktionsandrohung soll die Erfüllung der
Meldepflichten beim Aufbau einer Beteiligung sicherstellen. So können wir Fälle, in denen ein Anschleichen
zur Vorbereitung einer Übernahme versucht wird, wirkungsvoll verhindern, da es im Falle einer geplanten
Übernahme gerade auf die Ausübung der Stimmrechte
ankommt.
Drittens erwarten wir eine zügige Verabschiedung
der Transparenzrichtlinie. Wir streben an, die Richtlinie
nach Inkrafttreten schnell - möglichst noch in dieser Legislaturperiode - in deutsches Recht umzusetzen. Dabei
wollen wir darauf achten, gleiche Wettbewerbsbedingungen für börsennotierte Unternehmen in Deutschland
und den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union sicherzustellen.
Die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen im Rat
zeigen, dass die Bundesregierung erfolgreich im Sinne
des vorliegenden Antrages tätig ist. Vor den anstehenden abschließenden Beratungen im Rat und dem sich anZu Protokoll gegebene Reden
schließenden Trilogverfahren wollen wir mit diesem
Antrag die Verhandlungsposition der Bundesregierung
noch einmal gezielt stärken. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag.
„Creeping in“, das unbemerkte Anschleichen von Investoren an große Aktiengesellschaften, verfolgt das Ziel
der Übernahme einer kontrollierenden Beteiligung.
Diese Praxis soll europaweit durch Beteiligungstransparenz im Aktienrecht verhindert werden. Deshalb gibt
es bei börsennotierten Aktiengesellschaften Melde- und
Offenlegungspflichten ab einem Paketanteil von 3 Prozent. Auch Optionsgeschäfte, mit denen nur das Recht
erworben wird, Aktien in diesem Umfang erwerben zu
können, müssen nach dem Wertpapierhandelsgesetz
offengelegt und veröffentlicht werden, § 25 a WpHG.
Verstöße sind bußgeld- und unter Umständen auch strafbewehrt. Außerdem droht nach dem deutschen Wertpapierhandelsgesetz bei einem Verstoß gegen die Mitteilungspflichten ein vorübergehender, sechsmonatiger
Stimmrechtsverlust aus den Aktien, wenn sie selbst gehalten oder zugerechnet werden, zum Beispiel bei Sicherungsübertragung an einen Dritten, § 28 WPHG.
Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag
für eine Änderung der Transparenzrichtlinie, 2007/14/
EC ({0}) vorgelegt, mit dem sie eine
Maximalharmonisierung der Beteiligungsmeldungen
anstrebt. Die Sanktionen für Verstöße gegen Meldepflichten sollen drastisch bis zu einer Höhe von 10 Prozent des Konzernumsatzes angehoben werden, so Art.
28 a Nr. 2 d, und Meldepflichten soll es künftig - wie im
deutschen Recht - auch für Optionsgeschäfte geben,
steht in Art. 13 des Richtlinienvorschlags.
Der Koalitionsantrag fordert die Bundesregierung
auf, die Kommission bei diesem Vorschlag zu unterstützen. Die europäisch vorgegebenen Mitteilungspflichten
dürften nicht hinter dem nationalen Recht, insbesondere
hinter § 25 a Wertpapierhandelsgesetz, zurückbleiben.
§ 25 a Wertpapierhandelsgesetz regelt die Mitteilungspflichten auch bei Optionsgeschäften. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Forderung, den Richtlinienvorschlag der Kommission betreffend Mitteilungspflichten
für Optionsgeschäfte zu unterstützen. Die Schutzmechanismen sollten nach unserer Auffassung aber nicht nur
börsennotierte Unternehmen im Auge haben. Die Forderung nach weiteren gesetzlichen Maßnahmen bezüglich
des Umfangs der Beteiligungstransparenz - trotz Änderungen durch das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz - wird insbesondere von Vertretern der
Unternehmen und Gewerkschaften, aber auch mehrheitlich von Investmentbankern befürwortet, während die
Rechtsberater und Wissenschaftler mehrheitlich das
Transparenzniveau für ausreichend halten.
Außerdem soll nach Art. 28 Nr. 2 c des Richtlinienänderungsvorschlags die zuständige Behörde die Befugnis zur vorübergehenden Aussetzung von Stimmrechten
bei Verstoß gegen die Meldepflichten erhalten. Der
Koalitionsantrag fordert die Bundesregierung deshalb
auf, darauf hinzuwirken, dass die Mitgliedstaaten als
Sanktion die Aussetzung von Stimmrechten vorsehen
müssen. Diese Verschärfung des Richtlinienvorschlags
unterstützen wir, weil der Stimmrechtsverlust die wichtigste Sanktion gegen unbemerktes Anschleichen darstellt. Er ist wirksamer als Ordnungswidrigkeitentatbestände. Vor Einführung der Sechsmonatsfrist im
deutschen Wertpapierhandelsgesetz war es gängige
Praxis, zwischen zwei Hauptversammlungen unerkannt
ein relevantes Paket aufzubauen und erst kurz vor der
Hauptversammlung die Meldepflicht zu erfüllen, um
dann das Stimmrecht auszuüben. Das muss auch auf
europäischer Ebene unterbunden werden. Denkbar wäre
über den vorliegenden Antrag hinaus, die in Folge einer
nicht korrekten Meldung einem Aktionär nach § 28
WpHG nicht zustehenden Dividendenzahlungen als
Sanktion - gegebenenfalls auch nur teilweise - verfallen
zu lassen bzw. sie zugunsten der Staatskasse einzuziehen.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag.
Gestatten Sie mir allerdings noch eine Bemerkung zur
Art und Weise, wie der Antrag von CDU/CSU und FDP
eingebracht wurde. Wie Sie wissen, haben wir mehrfach
unseren Wunsch bekräftigt, Aufforderungen an die Bundesregierung bezüglich europäischer Verfahren im Einvernehmen zwischen Koalition und Opposition zu verfassen. Leider ist hier erneut versäumt worden, sich an
diese Gepflogenheit zu halten, was wir sehr bedauern.
Mit unserem Antrag führen wir der Bundesregierung
bei den Verhandlungen über den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Transparenzrichtlinie in einer
Detailfrage die Feder. Es geht um die Transparenz von
Beteiligungsverhältnissen an börsennotierten Aktiengesellschaften. Wer eine Beteiligung an einer börsennotierten Aktiengesellschaft erwirbt oder ausbaut, muss
dies offenlegen. Das ist schon lange so. Problematisch
sind Verstöße gegen diese Transparenzpflicht. Wir müssen uns mit der Frage befassen, was passieren soll,
wenn jemand eine Beteiligung nicht meldet, die er melden muss. Ganz einfach ist dies nicht zu beantworten.
Das liegt an dem Spannungsfeld, in dem wir uns hier bewegen.
Zunächst ist da die Frage der Sanktionierung eines
Verstoßes. Im Grunde stehen uns hier nur Bußgelder zur
Verfügung. Doch diese haben keine ausreichende abschreckende Wirkung. Wer eine Milliardenübernahme
stemmt, der stört sich nicht an einem Millionenbußgeld.
Das ist der Grund, warum wir schon seit längerem über
eine Aussetzung des Stimmrechts nachdenken. Damit
könnten wir das nötige Abschreckungsniveau erreichen.
Es stört den Übernehmer empfindlich, wenn er die
Stimmrechte aus unter Verstoß gegen die Transparenzvorschriften erworbenen Anteilen nicht ausüben darf.
Dann aber laufen wir in ein Problem der Rechtssicherheit. Ein Verstoß gegen Transparenzvorschriften
kommt üblicherweise erst später ans Licht. Er kommt
häufig sogar erst so spät ans Licht, dass eine Hauptversammlung bereits durchgeführt wurde und die Stimmrechte ausgeübt worden sind, die eigentlich ausgesetzt
Zu Protokoll gegebene Reden
sein sollten. Nun stehen wir vor einem erneuten
Dilemma, wenn wir die so gefassten Hauptversammlungsbeschlüsse als unwirksam behandeln. Denn dann
verlagert sich das Risiko der Rechtsverletzung vom
Übernehmer auf die Gesellschaft und die anderen Aktionäre. Diese wissen nicht, welche Beschlüsse gültig sind.
Dabei sollen die Konsequenzen des Verstoßes doch bei
dem liegen, der die Transparenzregeln verletzt. Wenn
wir die Beschlüsse der Hauptversammlung dagegen als
gültig betrachten, dann ist die Stimmrechtsaussetzung
folgenlos, weil die für den Übernehmer wichtigen Beschlüsse schon gefasst worden sind.
Schließlich ist zu beachten, dass die nationalen Gesellschaftsrechtstatute noch sehr verschieden sind. Sie
sind - und so muss es auch sein - nicht harmonisiert.
Wir wollen einen Wettbewerb der Rechtsformen in Europa. Wegen der Niederlassungsfreiheit kann jeder deutsche Gründer unter vielen europäischen Rechtsformen
wählen und die passende aussuchen. Das Gleiche gilt
für erfolgreiche gestandene Unternehmen. Die Vielfalt
der Angebote führt zu einem race to the top zum Nutzen
aller, wie wir es aus dem weltweit führenden amerikanischen Gesellschaftsrecht kennen. Diesen tatsächlichen,
rechtspolitisch auch gewollten Befund galt es hier zu
berücksichtigen.
Daher fordern wir die Bundesregierung auf, einen
großen nationalen Umsetzungsspielraum zu verhandeln.
Je weniger die Richtlinie vorschreibt, desto mehr nationalen Umsetzungsspielraum haben wir, um den Interessen der Gesellschaften und Anteilseigner gerecht
werden zu können. Deshalb ist es gut, dass wir die Möglichkeit der Stimmrechtsaussetzung auf vorsätzliche Verstöße beschränken. Deshalb ist es auch gut, dass die
Stimmrechtsaussetzung nicht zwingend ist, sondern nur
eine mögliche und vorübergehende Folge ist. Wenn die
Richtlinie schließlich verhandelt ist, dann haben wir den
nötigen Raum zum Manövrieren auf nationaler Ebene,
den wir dann später eigenständig und in Übereinstimmung mit den europäischen Vorgaben füllen werden.
Anschleichen und bereit machen zum Entern! Nein,
wir reden heute nicht über die Piratenpartei, aber gewissermaßen über Freibeuter des Kapitalmarkts. Ob
Hochtief, Continental oder Porsche, das Anschleichen,
das überfallartige Aufkaufen bzw. die Übernahme börsennotierter Unternehmen standen in den vergangenen
Jahren öfters im Blickpunkt. Die modernen Freibeuter
sicherten sich beispielsweise große Aktienpakete und
betrieben einen verdeckten Ausbau ihrer Beteiligung an
einem börsennotierten Unternehmen. Durch Anschleichen sollen Übernahmekosten verringert werden, denn
bei Bekanntwerden eines Übernahmeinteresses steigt
der Börsenkurs des angegriffenen Unternehmens.
Um diesem heimlichen, verdeckten Agieren teilweise
vorzubeugen, wurde auf europäischer Ebene die Transparenzrichtlinie entwickelt. Die Richtlinie will die
Unterrichtung der Anleger über die Ergebnisse und
Finanzlage börsennotierter Unternehmen sowie über
Änderungen größerer Beteiligungen verbessern. In
Deutschland sollte das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, das im Februar dieses Jahres in
Kraft trat, den Freibeutern das Handwerk legen. Zusätzliche Melde- und Veröffentlichungspflichten bei der
feindlichen Übernahme von Unternehmen wurden darin
beschlossen und ins Wertpapierhandelsgesetz, WpHG,
übernommen. Wer Instrumente hält, die ihm den Erwerb
börsennotierter Aktien ermöglichen, muss dies bei
Überschreiten bestimmter Beteiligungsschwellen der
Gesellschaft mitteilen. Die Gesellschaft bzw. das Unternehmen muss diese Mitteilungen veröffentlichen. So soll
Beteiligungstransparenz erreicht werden.
Die Linke unterstützt Regeln, die ein unbemerktes Anschleichen an Unternehmen verhindern. Höhere Transparenz- und Offenlegungspflichten sind für mögliche
Zielgesellschaften und ihre Beschäftigten vorteilhaft.
Die bisherigen Regeln sehen wir aber nicht als ausreichend an. Denn die erweiterten Mitteilungspflichten der
§§ 25 und 25 a WpHG ändern kaum etwas daran, dass
das deutsche Aktien- und Kapitalmarktrecht börsennotierte Unternehmen grundsätzlich dazu zwingt, übernahmeoffen zu sein. Unternehmen und ihre Beschäftigten
bleiben der Gefahr ausgesetzt, dass sich Finanzinvestoren oder Großkonzerne an sie heranschleichen und sie
gegen den ausdrücklichen Willen von Vorständen und
Betriebsräten übernehmen, mit Schulden überhäufen
und der Gefahr des Zugrundewirtschaftens sowie des
Arbeitsplatzverlusts aussetzen können. Werden gemäß
dem Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz
Mitteilungspflichten verletzt, gilt dies als Ordnungswidrigkeit und zieht eine Geldbuße nach sich. Ein Verstoß
gegen die Mitteilungspflichten für Finanzinstrumente
nach § 25 a WpHG löst jedoch keinen Stimmrechtsverlust aus.
In dem heute zur Debatte stehenden Antrag von
Union und FDP wird gefordert, dass die EU-Mitgliedstaaten als Sanktion für vorsätzliche Verstöße gegen
Mitteilungspflichten, die auf der Transparenzrichtlinie
beruhen und der Beteiligungstransparenz dienen, die
Möglichkeit einer Stimmrechtsaussetzung vorsehen
müssen. Das heißt, ein Freibeuterinvestor, der Geschäfte
nach §§ 25 und 25 a WpHG nicht meldet, muss befürchten, dass ihm die Stimmrechte aus den Aktien, wenn er
sie denn später erwirbt, streitig gemacht werden. Union
und FDP betonen dabei stets nur den „vorübergehenden“ Verlust der Stimmrechte eines meldepflichtigen Aktionärs. Im Ganzen stellt diese weitere Sanktionsmöglichkeit sicherlich einen Fortschritt dar. Dieser ist aber
immer noch nicht ausreichend. Ob das angekündigte
„scharfe Schwert“ wirklich so scharf ist, ist zu bezweifeln. Es bleibt fraglich, ob und in welchem Umfang die
Sanktionsmöglichkeiten überhaupt greifen und abschrecken. Zudem bleibt das Grundproblem, dass Unternehmen grundsätzlich übernahmeoffen sein müssen, wenn
sie sich über die Börse rekapitalisieren wollen, was auch
Monopolisierungstendenzen vergrößert.
Dies alles wird durch das deutsche Aktienrecht verstärkt, welches Marktfreiheit in der Regel höher als Vertragsfreiheit bewertet. So ist es nicht möglich, dass offen
agierende Aktionäre eines Unternehmens selbst erweiterte Offenlegungspflichten oder StimmrechtsregelunZu Protokoll gegebene Reden
gen in ihrer Satzung festlegen. In der Folge scheiden im
deutschen Aktienrecht sinnvolle Regelungen aus, zum
Beispiel Erwerbsbegrenzungen von Aktien, wie in der
Schweiz üblich, oder Mehrfachstimmrechte für langfristig investierende Aktionäre bzw. Mehrstimmrechtsaktien
wie in Frankreich oder Schweden.
Die Linke fordert, den Zielunternehmen und ihren Belegschaften das Recht einzuräumen, selbst zu bestimmen, wer und in welchem Umfang Unternehmensanteile
erwerben kann. Im Grunde sollten Investoren gezwungen werden, ihre Beteiligungen an Unternehmen wieder
langfristiger auszurichten, um nicht in Versuchung zu
geraten, das eigene Geschäftsmodell auf dem Rücken
der Beschäftigten und zulasten des nachhaltigen Wachstums eines Unternehmens durchzudrücken. Deshalb ist
es aus meiner Sicht nötig, das Stimmrecht an die Haltedauer der Aktien zu koppeln.
Wenn es dann doch zur Übernahme oder Fusion
kommt, will die Linke vor allem die Beschäftigtenrechte
stärken. Die Auskunfts- und Mitbestimmungsrechte der
Belegschaften, Aufsichtsratsvertreter und Gewerkschaften müssen erweitert werden. Gewerkschaften brauchen
einen gesetzlichen Anspruch auf Abschluss eines Fusionstarifvertrags zum Erhalt sozialer und tariflicher
Standards. Ein Vetorecht für den Betriebsrat des betroffenen Unternehmens gegen Übernahmen ist nötig. Beschäftigte müssen ferner im Übernahmerat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht paritätisch
vertreten sein. Der öffentlichen Hand muss schließlich
ein Vetorecht bei Übernahmen mit großem öffentlichem
Interesse, zur Verhinderung von Unternehmenskonzentration und zur Beschäftigungssicherung eingeräumt
werden.
Mit ihrem Antrag werden Sie das Anschleichen an
Unternehmen und die „feindliche Übernahme“ nicht
verhindern können. Zielunternehmen und ihre Beschäftigten brauchen hier mehr Rechte. Die Linke nimmt im
Gegensatz zu Ihnen Existenzängste von Beschäftigten eines betroffenen Unternehmens sehr ernst.
Den Freibeutern des Kapitalmarkts ist das Handwerk
zu legen, damit niemand mehr auf hoher See und auf
dem Kapitalmarkt hilflos ausgeliefert ist.
Wir beraten heute über den Antrag der Koalitionsfraktionen für effektive EU-Regeln zur Beteiligungstransparenz an börsennotierten Unternehmen und die
Möglichkeit des Stimmrechtsverlusts von Aktionären bei
Verstößen gegen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a
Wertpapierhandelsgesetz in der Fassung des Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetzes. Die Tatsache, dass wir einen solchen Antrag hier in diesem Hause
debattieren, ist begrüßenswert. Hintergrund ist, dass auf
EU-Ebene derzeit im Rahmen der Revision der Transparenzrichtlinie die Kommissionsvorschläge für eine verbesserte Durchsetzung der Mitteilungspflichten diskutiert werden.
Ich bin jedoch einigermaßen verwundert und auch
enttäuscht, warum wir diesen Antrag ohne inhaltliche
Ausschussberatung heute sofort abstimmen müssen. Seit
langem ist die Überarbeitung der Transparenzrichtlinie
auf europäischer Ebene bekannt. Warum der Antrag nun
so eilig beschlossen werden muss, ist mir unverständlich
und offenbart eine mangelnde Abstimmung und auch
Versäumnisse in den Reihen der Koalition. Im November
letzten Jahres haben wir im Finanzausschuss in einvernehmlichem Rahmen ein inhaltlich aufschlussreiches
Fachgespräch zur Überprüfung der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Übernahmerechts
und der möglichen Benachteiligung deutscher Unternehmen durchgeführt. Dort spielten die neuen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a Wertpapierhandelsgesetz
und insbesondere die Frage der Rechtsfolgen bei Verstößen eine entscheidende Rolle. Warum die Koalitionsfraktionen nun ein halbes Jahr später nicht einmal versuchen, zu einem fraktionsübergreifenden gemeinsamen
Antrag mit der Opposition zu gelangen, ist mir schleierhaft. Ich hatte bereits im Mai 2011, als wir den Antrag
der Koalitionsfraktionen zum Europäischen Zahlungsverkehr, SEPA, in einem ähnlichen Hauruckverfahren
durch das Plenum brachten, meine Bedenken über das
parlamentarische Verständnis dieser Koalition zum Ausdruck gebracht. Ich möchte noch einmal betonen, dass
den Stellungnahmen des Bundestages ein weitaus größeres Gewicht zukommt, wenn wir gemeinsam vorgehen
und mit einer interfraktionellen Stimme zu europäischen
Themen und Vorhaben sprechen. Diese Chance hat die
schwarz-gelbe Koalition heute wieder einmal verpasst.
So viel zum Verfahren - ich komme zum Inhaltlichen.
Wir begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen im vorliegenden Antrag die Bundesregierung auffordern, sich
bei den Verhandlungen über den Kommissionsvorschlag
dafür einzusetzen, dass die der Beteiligungstransparenz
dienenden Mitteilungspflichten in ihrer durch die revidierte Transparenzrichtlinie harmonisierten Form in ihrem Tatbestand nicht hinter den §§ 25 und 25 a Wertpapierhandelsgesetz zurückbleiben. Erst mit dem im April
2011 verkündeten Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz wurde national die Pflicht zur Meldung
sogenannter Erwerbsrechte im Sinne des § 25 Wertpapierhandelsgesetz um „sonstige Instrumente“ ergänzt
und eine Meldepflicht für Instrumente mit wirtschaftlicher Zugriffsmöglichkeit auf Aktien nach § 25 a Wertpapierhandelsgesetz eingeführt. Damit sollte der heimliche
Aufbau größerer Beteiligungen verhindert werden. Damals war - unabhängig von der Kritik aus der Wissenschaft, dass die neuen Meldepflichten bestimmte Strategien zur Umgehung der Beteiligungstransparenz und
Instrumente nicht erfassen - bereits klar, dass es zur
Absicherung der neuen Meldepflichten jedenfalls geeigneter Sanktionen bei Meldepflichtverstößen bedarf. Klar
war auch, dass die dafür vorgesehene Erhöhung des
Bußgeldrahmens von zuvor 200 000 Euro auf zunächst
500 000 Euro - Diskussionsentwurf - und sodann auf
1 Million Euro nicht mehr als ein stumpfes Schwert sein
kann. Der Grund dafür, dass selbst ein Bußgeld in Höhe
von 1 Million Euro nicht in der Lage ist, die Einhaltung
der neuen Meldepflichten sicherzustellen, liegt in den
immensen Vorteilen und Erträgen von größeren Übernahmetransaktionen. Inwieweit diese das maximale
Bußgeld übersteigen, zeigt exemplarisch der Fall ContiZu Protokoll gegebene Reden
nental/Schaeffler, wo von Einsparungen durch Optionsgeschäfte von 145 Millionen Euro die Rede ist. Bei der
Beschlussfassung zum Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz verständigte man sich sodann auf
ein Fachgespräch, um der Frage nachzugehen, ob „abschreckendere Sanktionen für Verstöße gegen die neuen
Meldepflichten nach § 25 a Wertpapierhandelsgesetz ergriffen werden sollten und wie diese auszugestalten
sind“.
Der heute diskutierte Antrag stellt fest, dass vorsätzliche Verstöße gegen die Pflichten aus den §§ 25, 25 a
Wertpapierhandelsgesetz die Möglichkeit eines vorübergehenden Verlusts der Stimmrechte des meldepflichtigen
Aktionärs nach sich ziehen sollten. Da die Absicherung
der neuen Meldepflichten auf der Rechtsfolgenseite nur
mit einem scharfen Schwert gelingen kann, ist dieses Ansinnen zu begrüßen. Leider bleibt die Ausgestaltung eines solchen Stimmrechtsverlusts jedoch ziemlich vage.
Entscheidend ist gerade die Beantwortung der Frage, ob
es einen Stimmrechtsverlust ipso iure, eine Anordnung
der Aufsicht oder ein Antragsrecht der Aufsicht mit einer
gerichtlichen Entscheidung geben soll. Leider schweigt
der Antrag zu diesem Punkt. Gleichfalls gibt der Antrag
keinerlei Antwort darauf, dass zusätzliche Sanktionen in
Form des Stimmrechtsverlusts auch das Anfechtungspotenzial von Beschlüssen in Hauptversammlungen erhöhen, was unter Umständen die Falschen trifft. Darauf
hatten die Sachverständigen im Rahmen des Fachgesprächs einvernehmlich hingewiesen. Festzuhalten
bleibt damit, dass der Antrag kaum Aufschluss gibt zu
konkreten Punkten einer möglichen Ausgestaltung eines
auf Verstöße gegen die neuen Meldepflichten erweiterten Stimmrechtsentzugs. Wir werden uns daher enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/9940. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und SPD. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und Linke.
Tagesordnungspunkt 40:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Groschek, Uta Zapf, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Katja Keul, Volker Beck
({0}), Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Für einen wirkungsvollen UN-Waffenhandelsvertrag ({2})
- Drucksache 17/9927 In der Tagesordnung lesen Sie, dass die Reden zu
Protokoll genommen worden sind.
Der weltweite Handel mit konventionellen Waffen findet seit langer Zeit in besonderem Maße das Interesse
der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft. Bislang
werden jedoch nur Teile des internationalen Waffenhandels durch einzelne Verträge reguliert. Zu nennen ist
hier beispielsweise das „Ottawa-Protokoll“ von 1997
zum Handel mit Landminen oder auch die „Konvention
über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes
bestimmter konventioneller Waffen“ von 1980, die Waffen verbietet, welche unterschiedslos wirken oder besonderes Leiden verursachen, zum Beispiel Brandwaffen
oder blindmachende Laserwaffen.
Ein rechtlich verbindliches Dokument, das den globalen Handel mit konventionellen Waffen, zum Beispiel
Kampfpanzern und -flugzeugen oder Kleinwaffen, umfassend reguliert, fehlt jedoch bislang. Das nicht
vorhandene Exportkontrollsystem im Bereich Rüstungsgüter hat ausufernde illegale Waffenmärkte und Waffenmissbrauch in Konflikten zur Folge. Insbesondere kleine
und leichte Waffen werden weltweit in großer Zahl für
schwere Menschenrechtsverletzungen benutzt. Keine andere Waffenart fordert in Kriegen und Bürgerkriegen
mehr Opfer. Kleine und leichte Waffen sind die Waffen
der Warlords, des Terrorismus, des organisierten Verbrechens. Es sind die Waffen, mit denen heute weltweit
über 300 000 Kinder als Soldaten in den Krieg geschickt
werden.
Gerade in vielen Staaten der MENA-Region, also die
Staaten von Marokko bis Iran, sind kleine und leichte
Waffen eine Gefahr für das Individuum und die Gesellschaften. Schätzungen zufolge zirkulieren 50 bis 90 Millionen Kleinwaffen in der Region, von denen 80 Prozent
in den Händen der Zivilbevölkerung sind. In der MENARegion gibt es verschiedenste offene Konflikte, was die
Proliferationsgefahr noch verstärkt. Hier müssen wir als
internationale Gemeinschaft dringend aktiv werden.
Schon seit den 1990er-Jahren verhandeln wir über
einen Handelsvertrag für konventionelle Waffen. Dabei
geht es nicht um ein generelles Verbot des Handels mit
Rüstungsgütern, sondern um die Sicherstellung eines
verantwortungsvollen Umgangs mit ihnen. Von Anfang
an hat die Bundesregierung diesen Prozess aktiv begleitet und den Abschluss eines internationalen Abkommens
zur Regulierung des legalen Handels mit konventionellen Rüstungsgütern vorangetrieben. Im Juli dieses
Jahres haben wir nun erstmals die Chance, ein solches
Abkommen - den ATT - zu verabschieden. Von Anfang
an wurde der Verhandlungsprozess von Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft unterstützt. Ohne sie und ihre tatkräftige Lobbyarbeit und
Unterstützung wäre der Prozess nicht so weit fortgeschritten. Dafür möchte ich der Zivilgesellschaft ein
großes Kompliment aussprechen.
Der ATT ist für uns vor allem wichtig, weil er ein
wirksames Instrument vernetzter Sicherheit sein kann
und als Mittel der zivilen Krisenprävention bereits bei
der Konfliktvermeidung ansetzt - und nicht erst, wenn es
zu spät ist. Damit werden wir auch der ersten Säule der
Responsibility to Protect, R2P, der Responsibility to Prevent, gerecht. Mir kommt es in der Sicherheitspolitik auf
die Vernetzung vorhandener Strukturen und Fähigkeiten
an, um wirkungsvolle Krisenprävention, Frühwarnfä22098
higkeit und rasches Handeln besser zu verknüpfen. Das
reduziert auch den Aufwand in der Krisennachsorge und
verzahnt bisher parallel, aber nicht synergetisch wirkende Handlungsfelder.
Wie bereits ausgeführt ist die Gefahr illegalen Waffenhandels in der MENA-Region besonders virulent.
Hier - nur als ein Beispiel - käme der ATT mustergültig
zur Anwendung und wird dringend gebraucht.
Wie es der Antrag von SPD und Grünen fordert, will
Deutschland mit dem ATT international rechtlich verbindliche Standards für den Handel mit konventionellen
Rüstungsgütern auf hohem Niveau etablieren. Uns geht
es um die Wahrung von Frieden, Sicherheit und Stabilität, um die Prävention von bewaffneten Konflikten im
Sinne einer zivilen Krisenprävention und um die Abwehr
von Terrorismus und Kriminalität.
In diesem Sinne vertreten wir, vertritt unser Land,
eine der positivsten und aufgeschlossensten nationalen
Positionen gegenüber dem ATT. Nach unserer Vorstellung sollte sich der ATT auf sämtliche konventionellen
Rüstungsgüter erstrecken, insbesondere auf kleine und
leichte Waffen sowie Munition. Ein ATT sollte zudem einen klaren Kriterienkatalog für Waffenausfuhren beinhalten - mit höchstmöglichen Mindeststandards bei
der Genehmigung von Rüstungstransfers. Insbesondere
die Beachtung von Menschenrechten und humanitärem
Völkerrecht, die Bewahrung der regionalen Stabilität
und die Berücksichtigung der inneren Lage im Empfängerland sollten dabei eine Rolle spielen. Weitere Priorität beim ATT ist für uns ein wirksames System zur Endverbleibssicherung sowie ein nach Transferarten
differenziertes nationales Kontrollsystem.
Bei den Verhandlungen im Juli dieses Jahres in New
York muss die Bundesregierung deshalb darauf achten,
erstens auf einen möglichst umfassenden Regulierungsbereich hinzuwirken und zweitens ein möglichst starkes
Abkommen zu erzielen. Drittens muss auch die Anwendbarkeit des ATT gewährleistet sein, und das Abkommen
muss viertens eine Chance auf Verabschiedung haben.
Die Verhandlungen werden schwierig werden. Deshalb
sollten wir uns für eine Überprüfungskonferenz bezüglich des ATT zwei bis drei Jahre nach Abschluss des Vertrags einsetzen, um gegebenenfalls Nachverhandlungen
zu ermöglichen.
Denn leider stehen nicht alle Staaten dem ATT so aufgeschlossen gegenüber wie wir. Gerade die großen
Exporteure China, Russland oder auch die USA wollen
sich nur ungern weitreichenden Beschränkungen unterwerfen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass es überhaupt eine Basis für gemeinsame Verhandlungen gibt.
Wir werden uns jetzt nicht mit jeder weitreichenden Forderung durchsetzen können. Eine umfassende Kontrolle
in allen Einzelheiten werden wir im Juli wohl nicht erreichen. Den privaten Waffenbesitz und illegale Märkte
wird man mit dem ATT nicht direkt beeinflussen können.
Trotz allem gilt für mich: Lieber im Juli Abschluss eines
Vertrags, bei dem wir nachverhandeln, als gar kein
Abschluss!
Der gemeinsame Antrag von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen „Für einen wirkungsvollen UN-Waffenhandelsvertrag ({0})“, den wir heute ins
Parlament einbringen, sollte ursprünglich ein gemeinsamer Antrag mit den Regierungsfraktionen werden.
Nachdem mir die Kollegen Schnurr und Kiesewetter ihr
grundsätzliches Einverständnis signalisiert hatten, ging
es um die konkrete Umsetzung. In Anbetracht des Themas wäre ein gemeinsamer Antrag auch angebracht gewesen. Die Bundesregierung war von den mitbeteiligten
Nichtregierungsorganisationen in der Vergangenheit für
ihr Auftreten und ihre Positionen ausdrücklich gelobt
worden. Ein gemeinsamer Antrag des deutschen Parlaments hätte die Regierung bei den abschließenden Verhandlungen im Juli dieses Jahres bei den Vereinten Nationen gestärkt.
Doch es kam anders: Sobald es konkret werden sollte,
wurden die Kollegen Kiesewetter und Schnurr wieder in
die Büsche zurückgepfiffen. Der Kollege Kiesewetter
entschuldigte sich mit Verweis auf den FDP-Kollegen
Dr. Stinner, dass ein gemeinsamer Antrag nicht möglich
sei. Der FDP-Kollege Schnurr wusste von all dem nichts
und sein Büro wurde von dem meinen erstmalig über den
Sachverhalt aufgeklärt. Aus dem zu diesem Zeitpunkt
noch vorliegenden Einverständnis wurde so sehr schnell
eine Ablehnung.
Nun haben Bündnis 90/Die Grünen und die SPD einen Oppositionsantrag eingebracht, der die Schaffung
einer sogenannten Implementation Support Unit, ISU,
zum zentralen Gegenstand macht. Denn was auch immer
bei den Verhandlungen im Sommer diesen Jahres bei den
Vereinten Nationen herauskommt - die Überwachung
des Handels mit konventionellen Rüstungsgütern und
die damit einhergehende Auswertung der Berichte ist finanziell und personell zu gewährleisten.
Des Weiteren macht sich der Antrag dafür stark, dass
die Beachtung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
eines Staats beim Handel mit Rüstungsgütern berücksichtigt werden soll, sowie, neben der Exportkontrolle,
auch der Import, der Transit, die Lizenzherstellung und
der Technologietransfer. Wenn es gelingt, endlich auch
den Handel mit Kleinwaffen und deren Munition weltweit zu kontrollieren, wären wir einen guten Schritt weiter.
Es existieren auf europäischer Ebene bereits einige
gut funktionierende Kontrollregime der weiteren konventionellen Rüstungsgüter. Auch die europäische Rüstungsindustrie gibt bei den jetzigen Verhandlungen Rückendeckung. Dies machen sie natürlich nicht
uneigennützig. Bisher hatten sie im Zweifel beim weltweiten Handel mitunter das Nachsehen, wenn ihr die bereits bestehenden Kontrollregime einen Strich durch die
Rechnung gemacht haben. Wenn es jetzt durch den ATT
eine weltweit geltende Regelung geben soll, dann kann
dies einigen Händlern nur gefallen.
Und daher komme ich erneut auf den Rückpfiff der
von mir geschätzten Kollegen Kiesewetter und Schnurr
zu sprechen. Welche Strategie verfolgen die Kräfte in
Union und FDP, wenn sie diesen Antrag von vorneherZu Protokoll gegebene Reden
ein ablehnen, ohne inhaltliche Bewertung? Ist dies
schon der Vorbote für einen beginnenden Lagerwahlkampf kurz vor Ende der Legislaturperiode? Werden gemeinsame Werte im internationalen Kampf gegen
kriegsentscheidende Waffenlieferungen über Bord geworfen, nur weil ein gemeinsamer Antrag mit der Opposition nicht ins Schema passt? Diese Antwort erscheint
mir als die wahrscheinlichste. Denn um ein Ringen um
Inhalte ging es ja gar nicht. Schließlich wäre eine sachliche Begründung schwieriger zu führen. Da nicht einmal erste Formulierungen Gegenstand der Betrachtung
waren, ließe dies dann die Schlussfolgerung zu, dass die
Bundesregierung in der Vergangenheit lediglich gute
Miene zum bösen Spiel gemacht hat und von vorneherein auf ein Scheitern der Verhandlungen bei den Vereinten Nationen gesetzt haben müsste. Demzufolge bräuchten sich die Regierungsfraktionen gar nicht erst mit
einem solchen Antrag herumzuschlagen.
Um die Inhalte geht es den Regierungsfraktionen
scheinbar nicht. Ich glaube, einigen in den Reihen der
Regierungsfraktion ist es egal, ob bei den Vereinten Nationen ein starker oder schwacher Waffenhandelsvertrag herumkommt. Die Menschenrechte, die im Übrigen
ein Kriterium bei diesem Vertrag sein sollen, sind diesen
Leuten egal, und die Tatsache, dass allein mit Kleinwaffen jährlich bis zu 500 000 Menschen getötet werden,
was sie zu den „Massenvernichtungswaffen der Gegenwart“ macht, wie der Stern titelt, geht an dieser Stelle lediglich zu Protokoll.
Für die Verhandlungen bei den Vereinten Nationen ist
es wünschenswert, dass ein möglichst starker ATT zustande kommt. Ein Scheitern würde bedeuten, dass es
analog zu den Verhandlungen der Ächtung von Streumunition in den 90er-Jahren zu einem Ottawa-Abkommen
kommen müsste. Damals hat sich die Staatengemeinschaft bei den Vereinten Nationen nicht einigen können,
und durch die Initiative einiger Staaten haben sich mittlerweile circa 160 Staaten auf das Ottawa-Abkommen
einigen können. Auch die Bunderepublik hat bereits
1998 frühzeitig dieses Abkommen ratifiziert.
Die anstehende Staatenkonferenz zum Arms Trade
Treaty ist nicht der erste Versuch der Weltgemeinschaft,
gemeinsame Regeln für den internationalen Waffenhandel zu finden. Fast 90 Jahre ist es her, dass die Staaten
des damaligen Völkerbunds Verhandlungen zum gleichen Thema geführt haben. Damals waren die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs allgegenwärtig. Heute ist es
der arabische Frühling und es sind die Bürgerkriege der
1990er- und der 2000er-Jahre, die uns die Notwendigkeit der Regulierung des Waffenhandels vor Augen führen.
Es waren aber nicht die Staaten, die diese Notwendigkeit zuerst erkannt haben. Der ATT-Prozess wurde vor
fast zehn Jahren von einer Gruppe von Nobelpreisträgern, unterstützt von Nichtregierungsorganisationen,
angestoßen. Es war also die Zivilgesellschaft, die all das
möglich gemacht hat, die immer wieder die treibende
Kraft war und die weiter Impulse gibt. Als Liberaler ist
es mir besonders wichtig, darauf hinzuweisen und allen
Beteiligten für ihren oft jahrelangen Einsatz zu danken.
Dieser Einsatz hat Wirkung gezeigt. In der Bundesrepublik gibt es heute einen breiten Konsens - zwischen
Regierung und Parlament, zwischen den Parteien und
Fraktionen. Selbst Nichtregierungsorganisationen und
Industrie finden einhellig lobende Worte für die Anstrengungen der Regierung. Ein solch breiter Konsens ist
nicht selbstverständlich.
Woher kommt er also? Vor allem von der gemeinsamen Erkenntnis, dass die gegenwärtige Situation ein
Problem darstellt.
Entgegen den Hoffnungen nach Ende des kalten Krieges sind die weltweiten Ausgaben für Rüstungsgüter im
letzten Jahrzehnt stark gestiegen. Gleichzeitig hat die
Globalisierung den Handel in allen Bereichen befördert.
Beides hat dazu geführt, dass sich auch der internationale Handel mit Waffen und anderen militärischen Gütern intensiviert hat. Während die Staaten Europas, der
NATO und einige wenige andere aber Exportkontrollen
eingeführt haben und damit Waffenlieferungen an diktatorische Regime weitestgehend verhindern konnten, ist
dies in den meisten Ländern der Welt noch nicht der
Fall. Das ist bereits heute ein Problem, wird sich in Zukunft aber noch verschärfen, da immer mehr Staaten eigene Kapazitäten für die Produktion von Rüstungsgütern aufbauen und damit zu potenziellen Exporteuren
werden. In den falschen Händen können Waffen aber
Konflikte anheizen, intensivieren und verlängern. Die
Kontrolle des Waffenhandels ist daher ein wichtiges Element präventiver Sicherheitspolitik.
Der breite Konsens in Deutschland, auch in Europa,
sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verhandlungen im Juli sehr schwierig werden. Ein Erfolg
ist keineswegs sicher. Zu weit gehen die Auffassungen
der beteiligten Staaten auseinander. Das betrifft den Regelungsgehalt ebenso wie den Regelungsumfang. Wenige Wochen vor Beginn der Verhandlungen ist beispielsweise völlig offen, welche Waffenkategorien ein
ATT beinhalten soll, ob auch Munition erfasst wird und
welche Kriterien für Exportentscheidungen maßgeblich
sein sollen. Einige, wenn auch wenige Staaten, stehen
gar dem ganzen Vorhaben skeptisch gegenüber. Das im
Vorfeld für die Konferenz vereinbarte Konsensprinzip ist
eine zusätzliche Hürde, die die Verhandlungen erschweren wird. Das gilt auch für die kurze Dauer der Verhandlungen. In lediglich vier Wochen soll der Vertrag stehen.
Andere Rüstungskontrollfragen wurden und werden zum
Teil über viele Jahre hinweg debattiert.
Es ist also völlig offen, ob es überhaupt zu einem Vertragsabschluss kommt. Im Moment sieht es so aus, als
stünden sich der Anspruch auf Robustheit, auf einen
starken und wirkungsvollen Vertrag, und der Wunsch
nach Universalität konträr gegenüber. Wir werden vermutlich nicht beides haben können. Die Kunst der Verhandlung wird darin liegen, das eine nicht gänzlich für
das andere aufzugeben.
Ich blicke daher mit vorsichtiger Hoffnung nach New
York und hoffe darauf, dass sich die Zögerer noch überZu Protokoll gegebene Reden
zeugen lassen und am Ende ein Vertrag steht, der tatsächlich Einfluss auf die Staatenpraxis nimmt. Allerdings mahne ich auch zur Vorsicht und warne vor
überhöhten Erwartungen. Die Gefahr ist real, dass solche Erwartungen enttäuscht werden.
Denn selbst wenn sich die Staatengemeinschaft auf
einen Vertrag einigen sollte, wäre das erst der Auftakt.
Mindestens ebenso wichtig wird die anschließende
Phase der Implementierung. Erst dann entscheidet sich,
welche Bedeutung die Buchstaben des Vertrags haben,
ob und wie der Vertrag die Exportpraxis der Staaten beeinflusst. Von großer Bedeutung wird es dann sein, dass
es zu regelmäßigen Überprüfungskonferenzen kommt,
auf denen der Vertrag weiterentwickelt werden kann und
eine Diskussion über die getätigten Exportentscheidungen möglich ist.
Immer im Hinterkopf sollten wir auch behalten, dass
der ATT nur ein Teil einer größeren Strategie der Sicherheitsvorsorge sein kann. Er löst nicht alle Probleme,
noch nicht einmal im eng begrenzten Bereich des Waffenhandels: So kann er sich im besten Fall indirekt auf
den illegalen Waffenhandel auswirken. Komplementär
bietet sich hier immer noch das VN-Kleinwaffenaktionsprogramm an, das weiter gestärkt werden muss. Vor allem aber kann der ATT das Problem der Entstehung von
Konflikten nicht lösen. Konfliktprävention und -bewältigung müssen noch stärker in den Fokus der Weltgemeinschaft rücken, damit die Nachfrage nach Militärgütern
gar nicht erst entsteht.
Trotz alldem bin ich der festen Überzeugung, dass wir
einen Arms Trade Treaty brauchen und dass ein solcher
ein wichtiges Element einer umfassenden Sicherheitspolitik sein kann. Ebenso sicher bin ich mir, dass sich die
Bundesregierung nach Kräften und im Sinne des Hohen
Hauses für den Abschluss eines starken Vertrags einsetzen wird. Der vorgelegte Antrag ist daher nicht nötig.
Hoffen wir lieber gemeinsam darauf, dass die Konferenz
im Juli erfolgreicher verläuft als vor 90 Jahren, als sich
ein weltweites Abkommen nicht durchsetzen ließ.
Keine Minute vergeht, in der nicht irgendwo auf dieser Welt ein Mensch mit Waffen, insbesondere Kleinwaffen, getötet wird. Mit dem UN-Waffenhandelsvertrag
soll ein wichtiger Schritt unternommen werden, dem einen Riegel vorzuschieben. Die Vertragsverhandlungen
im Juli werden entscheidend dafür sein, ob der Waffenhandelsvertrag als Papiertiger daherkommen oder ein
ernsthaftes Instrument zur Eindämmung und Kontrolle
des internationalen Geschäfts mit dem Tod sein wird.
SPD und Grüne stellen in ihrem Antrag richtige Forderungen auf, und die Bundesregierung wäre gut beraten, diese Forderungen energisch bei den Verhandlungen in New York zu vertreten. Eine Ausweitung der
Erfassung von Waffengeschäften auf Kleinwaffen, auf
Munition und vor allem auf Rüstungskomponenten ist
unabdinglich. Ansonsten würde die Mehrzahl der Rüstungsexporte gar nicht unter den Vertrag fallen. Auch
die Forderung nach einem handlungsfähigen Gremium
zur Umsetzung des Waffenhandelsvertrages ist sinnvoll.
Das Mandat des Gremiums darf sich nicht nur auf die
Erfassung und Verwaltung der Waffengeschäfte beschränken, sondern muss auch einen Mechanismus für
den Informationsaustausch zu den jeweiligen Genehmigungsentscheidungen umfassen. Nur so entsteht eine
politische Rechenschaftspflicht, die Regierungen davon
abhalten kann, Waffen an problematische Empfänger zu
liefern.
Genauso wichtig ist es, auf die Beibehaltung der bislang in der Diskussionsvorlage für die Vereinten Nationen enthaltenen Mindeststandards für erlaubte Rüstungsexportgeschäfte hinzuwirken - allen voran die
Einhaltung der Menschenrechte. Allein die Erfahrungen
des Arabischen Frühlings haben gezeigt, welche
schrecklichen Konsequenzen es für die Menschen haben
kann, wenn man Waffen und Gerät an repressive Regime
liefert. Hier hätten SPD und Grüne allerdings besser
noch die Forderungen von Nichtregierungsorganisationen übernommen. Diese fordern zu Recht, dass Rüstungstransfers bereits zu untersagen sind, wenn ein erhebliches Risiko besteht, dass die Rüstungsgüter zu
schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen benutzt
werden, und nicht erst, wenn dies nachweislich der Fall
ist.
Die Linke gibt sich allerdings keiner Illusion über die
positiven Auswirkungen des Waffenhandelsabkommens
auf die deutsche Genehmigungspraxis hin. Hier sieht es
Jahr für Jahr düster aus. Trotz aller vermeintlich hohen
Standards gehört Deutschland regelmäßig zu den größten Rüstungsexportnationen. Diktaturen wie SaudiArabien erhalten Waffen aller Art; deutsche Unternehmen - zum Teil sogar mit Unterstützung der Bundeswehr - bauen in diesen Ländern Rüstungskapazitäten
auf. Deutschland liefert gerne auch in Spannungsgebiete; Stichwort: U-Boot-Lieferungen an Israel. Derzeit
wird über Kampfpanzer nach Saudi-Arabien und Indonesien spekuliert; Algerien soll Know-how für den Bau
von Panzern und einige Kriegsschiffe bekommen. Nach
wie vor bemüht man sich um den Verkauf von Kampfflugzeugen nach Indien. Und wenn man sich die Liste
der Waffensysteme ansieht, die aufgrund der Bundeswehrreform ausgemustert werden sollen und für die
Käufer gesucht werden - neben den Kampfpanzern auch
Tornado-Kampfflugzeuge und Panzerhaubitzen -, kann
einem nur angst und bange werden. Daher bleiben wir
bei unserer grundsätzlichen Forderung nach einem
Stopp aller deutschen Rüstungsexporte.
Trotzdem: Der Waffenhandelsvertrag ist wichtig, um
weltweit Standards zu setzen und langfristig ein Umdenken zu erreichen. Je mehr Länder mitziehen, umso besser. Deswegen sollte so lange wie möglich an einem
Konsens gearbeitet werden. Wenn allerdings die Standards heruntergeschraubt werden, dann darf die Bundesregierung dem nicht zustimmen. Dann muss als Alternative eben der gleiche Weg beschritten werden wie
bei den Kontrollregimen für Landminen und Streumunition: In beiden Fällen hat sich eine Gruppe gleichgesinnter Staaten auf höhere Standards verpflichtet, andere sind daraufhin nachgezogen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Paul Schäfer ({0})
Darüber hinaus wäre es gefährlich, wenn die Diskussion um einen UN-Waffenhandelsvertrag den Blick auf
die anderen großen Herausforderungen verstellt. Nur
zur Erinnerung: Die EU-Staaten haben sich bereits
1998 einen Verhaltenskodex für Waffenausfuhren gegeben, der 2009 zu einem Gemeinsamen Standpunkt aufgewertet worden ist. Das hat nichts daran geändert, dass
die EU-Staaten mit Exportgenehmigungen im Wert von
sage und schreibe 31 Milliarden Euro nach wie vor mehr
als 170 Staaten außerhalb der EU mit Rüstungsgütern
versorgen. Das zeigt deutlich: Wenn man ernsthaft an
einer Verbesserung der Kontrollen und Standards für
Rüstungsexporte interessiert ist, darf das Bemühen nicht
beim UN-Waffenhandelsvertrag aufhören. Man sollte
vor allem vor der eigenen Haustür anfangen. Das bleibt
für die Linke auf der Tagesordnung.
Am 2. Juli beginnen in New York die Verhandlungen über einen weltweiten Waffenhandelsvertrag auf
UN-Ebene.
Deutschland kommt als einem der sechs großen Rüstungsgüter exportierenden Staaten eine besondere Verantwortung im Rahmen der Verhandlungen zu. Nur
wenn die Bundesregierung sich für einen umfassenden
und verbindlichen Vertrag einsetzt und positiv Einfluss
auf die übrigen Staaten nimmt, besteht die Chance, dass
am Ende ein erfolgreiches Abkommen verhandelt wird.
Erfolgreich bedeutet, sowohl einen weiten Geltungsbereich als auch einen hohen Kontrollstandard im Vertrag zu verankern. Es müssen Waffen, die in zwischenstaatlichen Konflikten oder für Repressionen gegen die
eigene Bevölkerung genutzt werden können, vor allem
Kleinwaffen und leichte Waffen, einbezogen werden. Die
meisten Menschen, die weltweit Opfer militärischer Gewalt werden, sterben nicht durch Panzer oder andere
Großwaffensysteme, sondern durch Handfeuerwaffen.
Alle abseits der medialen Aufmerksamkeit geführten
Konflikte in Afrika, Asien und Amerika sind auf die stete
Zufuhr mit ebendiesen leicht verbringbaren Waffen angewiesen. Wenn wir es schaffen können, den unkontrollierten Handel mit diesen Waffen zu regulieren, haben
wir eine Chance, die Gewalt in diesen Konflikten wirksam einzudämmen. Kleinwaffen sind die Massenvernichtungswaffen der heutigen Zeit.
Einmal produziert, sind Handfeuerwaffen leicht von
einem Konflikt in den nächsten zu transportieren; sie
sind pflegeleicht in der Lagerung und können ohne nennenswerte Ausbildung bedient werden. Eine AK-47 kann
Jahrzehnte genutzt werden und ein Elfjähriger ohne größere Probleme damit schießen. Geschmuggelt, entzieht
es sich allen legalen Kontrollwegen.
Auch Munition muss ein Teil des Abkommens werden.
Eine Handfeuerwaffe kann Jahrzehnte eingesetzt, eine
Gewehrkugel hingegen lediglich einmal verschossen
werden. Um wirksam Einfluss auf schwelende Konflikte
nehmen zu können, ist es wichtig, den Nachschub mit
Munition zu unterbinden. Ohne die notwendige Munition können auf Dauer keine Konflikte geführt werden,
und deshalb ist es so wichtig, die Munition in den Waffenhandelsvertrag einzubeziehen. Hier muss die Bundesregierung gegenüber unserem größten Bündnispartner, den USA, standhaft bleiben.
Der Vertrag muss außerdem menschenrechtliche und
humanitäre Gesichtspunkte enthalten. Staaten, die systematisch die Rechte ihrer Bürger missachten und in kriegerischen Auseinandersetzungen immer wieder gegen
das humanitäre Völkerrecht verstoßen, sollen sich auf
dem weltweiten Waffenmarkt nicht mehr legal mit den
Mitteln für dieses Unrecht eindecken können. Diese
- von den Nichtregierungsorganisationen - als „goldene Regeln“ bezeichneten Kriterien müssen für die
Bundesregierung die roten Linien in den anstehenden
Verhandlungen darstellen.
Die Bundesregierung muss sich aber auch für sozioökonomische Kriterien einsetzen. Diese sollen bewirken,
dass Staaten durch Rüstungsausgaben nicht in ihrer
wirtschaftlichen Entwicklung gefährdet werden. Das
Rüstungsstreben eines Staats muss im Verhältnis zu seinen sozialen und wirtschaftlichen Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern stehen. Wenn dies nicht gegeben ist, dürfen keine Waffen exportiert werden. Bestes
Beispiel dafür sind die deutschen Exporte nach Griechenland in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch
der Staatfinanzen.
Entscheidend ist aber, dass der Vertrag am Ende
mehr wert ist als das Papier, auf dem er geschrieben
steht. Ein Abkommen mit vielen leeren Versprechungen
ist vertane Zeit. Dies gilt besonders in Anbetracht des
Umstands, dass ein Waffenhandelsvertrag nur der Beginn eines Prozesses sein kann, an dessen Ende eine
spürbare Verringerung der globalen Rüstungsausgaben
stehen muss. Daher fordern wir die Bundesregierung
auf, sich für eine starke „Implementation Support Unit“
einzusetzen, die den Vertragsstaaten bei der Anpassung
ihrer Strukturen an die neuen Regelungen hilft und die
gewonnenen Daten auswertet und veröffentlicht. Dies
wäre ein Schritt auf dem Weg zu mehr Transparenz, der
zumindest zu ein wenig mehr Ehrlichkeit in diesem für
Korruption und Bestechung sehr anfälligen Wirtschaftsbereich führen könnte.
Unverständlich ist mir, dass es nicht möglich war, die
Abgeordneten der Koalition für einen gemeinsamen Antrag zu gewinnen. Es hätte der Bundesregierung sicher
bei den anstehenden Verhandlungen geholfen, wenn sie
mit einem starken Verhandlungsmandat des Deutschen
Bundestages in New York hätte auftrumpfen können. Ihr
FDP-Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Georg
Link hat vor einigen Tagen bei einer Veranstaltung im
Auswärtigen Amt selbst gesagt, dass eine parteiübergreifende Behandlung des Themas jetzt notwendig und
geboten sei. Deshalb ist es geradezu grotesk, dass ein
gemeinsamer Antrag an seiner eignen Fraktion im Bundestag scheiterte. Liebe Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU: Lassen Sie sich nicht immer von der FDP
vorführen, und stimmen Sie unserem Antrag für einen
starken VN-Waffenhandelsvertrag zu!
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Antrag der beiden Fraktionen auf Drucksache 17/9927? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
abgelehnt bei Zustimmung durch die Oppositionsfraktionen. Dagegen waren die Koalitionsfraktionen.
Tagesordnungspunkt 39:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Klimaziel der EU auf 30 Prozent anheben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Europäisches Klimaschutzziel für 2020 auf
30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen Überschüssige Emissionsrechte stilllegen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,
Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
EU-Klimaziel anheben - 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020
- Drucksachen 17/9561, 17/9562, 17/9175,
17/9993 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({1})
Michael Kauch
Bärbel Höhn
Die Reden wurden zu Protokoll genommen.
Der Gipfel in Rio de Janeiro setzte 1992 Maßstäbe
für eine weltweite Politik zum Schutz von Klima und
Umwelt in einer gerechteren Welt. Exakt 20 Jahre danach werden wir uns besonders an den Erfolgen oder
Misserfolgen messen lassen müssen. In diesem Kontext
gilt es, die bereits international und national aufgestellten Wegmarkierungen noch einmal unter die Lupe zu
nehmen.
Der Weg und das Ziel sind dabei mehr oder minder
klar umrissen. Die auf der Weltklimakonferenz in Cancun 2010 festgelegte 2-Grad-Grenze gilt es auf jeden
Fall zu erreichen, um die schlimmsten Auswirkungen auf
das Klima und die Umwelt zu verhindern. Das 2007/
2008 von der EU beschlossene 20-20-20-Programm war
hierbei bereits ein erster Aufschlag. Die Beschlüsse von
Durban vom Dezember 2011 legten dann die rechtlichen
Grundlagen für die Klimaschutzanstrengungen der Industriestaaten unter dem Kioto-Protokoll, voraussichtlich bis 2020. Mittlerweile ist es allgemein anerkannt,
dass die bisher verbindlich vorgelegten Minderungsangebote allerdings wohl nicht ausreichen werden, um die
international vereinbarte 2-Grad-Grenze für den globalen Temperaturanstieg einhalten zu können. Es ist - wieder einmal - an der Zeit, zu handeln. Wir dürfen uns auf
den für einen langen Zeitraum festgelegten Zielen nicht
ausruhen, sondern sollten technische Innovationen und
gesellschaftliche Lernprozesse aufgreifen und nutzen,
um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, Machbares umzusetzen, die vorhandenen Instrumente und Vorgaben anzupassen.
Tatsache ist, dass wir in der Europäischen Union das
20-Prozent-Ziel an CO2-Einsparung bis 2020 schaffen
werden, ohne uns anstrengen zu müssen, da die bisher
geleisteten technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Anstrengungen ausreichen werden. Doch wenn
wir die kommenden acht Jahre ungenutzt verstreichen
lassen, dann verschaffen wir uns ohne Not eine schlechtere Ausgangsposition für eine kosteneffiziente Erfüllung der Langstreckenziele bis 2050. Aktuelle Prognosen machen deutlich, dass eine Erhöhung des EUKlimaziels auf 30 Prozent bis 2020 hier den Druck herausnehmen kann und darüber hinaus machbar ist.
Wir brauchen hierfür klare Signale der europäischen
Politik, dass sich Investitionen in die Dekarbonisierung
der Wirtschaft in Europa lohnen. Blieben wir auf Dauer
beim derzeitigen Ziel von 20 Prozent bis 2020, laufen
wir darüber hinaus Gefahr, dass die Europäische Union
international als anspruchslos und träge wahrgenommen wird. Dies gilt es zu vermeiden, um auch die
Schwellen- und Entwicklungsländer zu einem konsequenteren Handeln zu animieren. Das gegenwärtige 20Prozent-Ziel der EU liegt noch unterhalb der unteren in
Cancun beschlossenen Spannbreite der Emissionsminderung für die Industrieländer von 25 bis 40 Prozent bis
2020 gegenüber 1990. Diese Spannbreite wurde auch
vom Weltklimarat IPCC 2007 als notwendig angesehen,
um zumindest mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu
verhindern, dass die globale Erwärmung um mehr als
2 Grad Celsius Temperaturerhöhung steigt.
Als Vorreiter wird international von uns erwartet,
dass wir gangbare Schritte machen und unsere gesteckten Ziele regelmäßig überprüfen, Vorbild geben und
Nachahmung initiieren. Gleichzeitig demonstrieren wir
durch eine Erhöhung den innovativen Vorsprung, den
wir anderen vermitteln können. Ich bin fest überzeugt,
dass ein verbindliches Klimaziel von 30 Prozent Reduktionen der europäischen Emissionen bis 2020 eine wirtschaftliche Dynamik auslösen kann, die zusätzliche Arbeitsplätze schafft und Wirtschaftswachstum ermöglicht.
Von dem bestehenden 20-Prozent-Ziel sind kaum neue
Investitionsanreize zu erwarten, da schon 2009 die
Emissionen bereits 17,3 Prozent unter dem Niveau von
1990 lagen.
Die EU-Mitgliedstaaten müssen unter den geltenden
rechtlichen Rahmenbedingungen nur noch eine zusätzliche Minderung von 285 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent in dem Zeitraum von 2009 bis 2020 erbringen.
Bei einem 30-Prozent-Ziel müsste die Europäische
Andreas Jung ({0})
Union bis 2020 eine Minderung von insgesamt 1,22 Milliarden Tonnen leisten, hiervon hat sie aber mit 535 Millionen Tonnen bereits fast die Hälfte erreicht. Im März
2011 legte die Europäische Kommission eine Analyse
vor, aus der hervorgeht, dass die europäischen Emissionen bis 2020 um 25 Prozent unter das Niveau von 1990
sinken, wenn die Europäische Union allein ihre längst
verabschiedeten Ziele erreicht, insbesondere im Bereich
Energieeffizienz. Das schafft keine Anreize.
Die Europäische Union hat in einer Zeit großer Umbrüche und Transformationen schon heute einen strategischen Vorsprung - mit der verbindlichen Einführung
eines CO2-Preises, ihrer Klimaschutzgesetzgebung und
den damit einhergehenden Innovationsimpulsen im
Bereich der Umwelttechnologien. Diesen Vorsprung gilt
es jetzt konsequent zu verteidigen und auszubauen,
Wenn wir uns vor diesem Hintergrund das EU-Klimaund -Energiepaket aus dem Jahr 2008 anschauen, wird
allerdings schnell klar, dass wir hier unbedingt nachbessern müssen. Die Erhöhung des EU-Klimaziels ist hierbei ein wesentlicher Schritt.
Europa muss nun sein Ambitionsniveau im Klimaschutz erhöhen. Dies kommt auch den Forderungen der
Wirtschaft nach einer langfristigen Investitionssicherheit nach und bietet eine Chance, auf einen Wachstumspfad für Europa zu kommen, ohne auf ein verbindliches
internationales Klimaschutzabkommen warten zu müssen. Zudem ist es die angemessene strategische Antwort
der Europäischen Union auf steigende Ölpreise und eine
Positionierung im Wettbewerb mit China und den USA,
Es geht um die Führerschaft bei den Technologieleitmärkten von morgen.
Bereits in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie hat die Bundesregierung 2011 die ambitionierten nationalen Minderungsziele für die Treibhausgase fixiert. Sie sollen bis
2020 um 40 Prozent, bis 2030 um 55 Prozent, bis 2040
um 70 Prozent und bis 2050 um 80 bis 95 Prozent - jeweils gegenüber 1990 - sinken. Diesen Weg geht die
Bundesregierung mit der Unterstützung des Bundestages konsequent weiter. So konnte Deutschland im Jahr
2010 seine Verpflichtungen aus dem Kioto-Protokoll
erfüllen, Gegenüber dem Basisjahr 1990 sind die Treibhausgasemissionen Deutschlands 2010 um fast 25 Prozent zurückgegangen. Das entspricht einer Verminderung von mehr als 295 Millionen Tonnen Kohlendioxid
pro Jahr und zeigt: Ein großes Stück des Wegs haben wir
bereits geschafft. Wir können feststellen, dass von unserer Klimaschutzpolitik gleichzeitig kräftige Impulse für
Wirtschaftswachstum, Innovation und Beschäftigung
ausgehen.
Europa muss nach meinem Dafürhalten den positiven
Nachweis erbringen, dass Klimaschutzpolitik eine leistbare Zukunftsvorsorge darstellt, dass sie kein Gegensatz
zu wirtschaftlicher Entwicklung ist, sondern dass die
Integration von modernen Technologien natürliche
Ressourcen schonen und klimaschädliche Emissionen
nachhaltig reduzieren kann. Denn eine technologische
Modernisierung ist es, die uns wettbewerbsfähiger, produktiver, wirtschaftlich erfolgreicher macht und darum
auch ökonomisch zu empfehlen ist. Dafür reicht es nicht,
dass die Europäische Union bei ihrem 20-Prozent-Reduzierungsziel bleibt. Wenn wir uns nur das vornehmen,
was wir ohne zusätzliche Maßnahmen erreichen, dann
ist das definitiv zu wenig und würgt Innovationen für die
Zukunft ab. Dann ist es auch kein Anreiz für Technologieentwicklung, dann senden wir keine positiven Signale
an andere Länder, die es ungleich schwerer haben, ihren
CO2-Ausstoß zu reduzieren. Vorreiter heißt, immer einen
Schritt voraus zu gehen, um gangbares Terrain aufzuzeigen.
Die vom Umweltausschuss am 23. Mai 2012 abgehaltene Anhörung der Sachverständigen zur Erhöhung des
EU-Klimaziels auf 30 Prozent hat unmissverständlich
klargemacht, dass dieser Schritt jetzt gemacht werden
muss. Die entwickelten europäischen Industriestaaten
müssen ihrer Vorreiterrolle, aber auch den Erwartungshaltungen gerecht werden, um andere zum Mitmachen
zu bewegen. Wer kein Zeichen setzt, kann keine mutigen
Schritte von anderen erwarten. Wollen wir an der internationalen Spitze bei den erneuerbaren Energien und
den dafür nötigen Technologien bleiben, dann müssen
wir jetzt handeln.
Eine Initiative der dänischen Ratspräsidentschaft,
das EU-Klimaschutzziel auf 30 Prozent bis 2020 zu erhöhen, wurde auf der Sitzung des Umweltministerrats
vom 9. März 2012 von Deutschland und 25 anderen Mitgliedstaaten unterstützt. Am 11. Juni 2012 stand es erneut auf der Tagesordnung des Umweltministerrats.
Auch bei dieser Sitzung unterstützte Deutschland die Erhöhung des Klimaziels. Gescheitert ist eine Erhöhung
bislang an dem Widerstand von Polen. Die Bundesregierung ist mit Polen in intensiven Gesprächen und Verhandlungen, um es von der Erhöhung zu überzeugen.
Die Position der Bundesregierung, die als Grundlage
für diese Verhandlungen dient, ist auch schwarz auf
weiss nachzulesen. Auf Seite 144 des Fortschrittberichts
zur Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung wird
ausgeführt: „Eine Anhebung des EU-Klimaziels auf
30 Prozent trägt die Bundesregierung auf Basis des nationalen 40-Prozent-Ziels dann mit, wenn keine darüber
hinausgehenden Emissionsminderungen von Deutschland verlangt werden und alle Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag leisten.“ Damit macht die Bundesregierung
die Erhöhung des Klimaziels nicht vom - weiter mit
Nachdruck angestrebten - Zustandekommens eines
internationalen Klimaschutzabkommens und von vergleichbaren Anstrengungen aller Industriestaaten
abhängig. Die Betonung des Festhaltens am deutschen
40-Prozent-Ziel und der Notwendigkeit, dass alle Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag leisten, sind logisch
und notwendig.
Die Arbeitsgruppe Umwelt der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt diesen Ansatz nachhaltig. Wir
müssen heute die Bundesregierung nicht erst dazu auffordern, sich auf europäischer Ebene für die Erhöhung
des Klimaziels einzusetzen, wir können dieses Bemühen
begrüßen und das Signal geben, dass wir dieses Engagement ausdrücklich unterstützen.
Ich persönlich halte die Erhöhung des Klimaziels für
dringend geboten und werde in meiner Funktion als BeZu Protokoll gegebene Reden
Andreas Jung ({1})
richterstatter für Klimaschutz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion weiterhin für eine ambitionierte Klimapolitik eintreten.
Die Anhörung zum europäischen Klimaziel, die wir in
der letzten Sitzungswoche hatten, hat eindeutig gezeigt:
Es gibt keine vernünftigen Argumente gegen eine Verschärfung des europäischen Klimaziels. Unternehmen
sprechen sich offen für diese Erhöhung aus. Die Sachverständigen, die die Union benannt hat, haben sich
sehr deutlich und mit guten Argumenten für das 30-Prozent-Ziel ausgesprochen. Nur eine politische Mehrheit
hier im Bundestag für dieses Ziel zu finden, das scheint
unmöglich, was ich für ein ziemliches Trauerspiel halte,
denn neben dem Umweltminister spricht sich nun die gesamte Bundesregierung für ein 30-Prozent-Ziel aus,
wenn auch nicht laut und klar, sondern versteckt auf
Seite 144 des Fortschrittsberichts zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Kennt eigentlich in Brüssel jemand
die Haltung der Bundesregierung? Oder denken dort
noch alle, dass sich BMU und BMWi immer noch nicht
geeinigt haben? Hier wäre eine klare Stellungnahme des
Bundestages oder eine Zustimmung zu unserem Antrag
hilfreich gewesen.
Zustimmen alleine reicht jedoch nicht. Die anderen
Staaten Europas warten auf ein starkes Signal aus
Deutschland für mehr Klimaschutz. Nach jahrelangem
Herumlavieren muss die Bundesregierung anderen Staaten erklären, dass für sie ein höheres Klimaziel von vitalem Interesse ist. Wenn sie weiterhin nur stumm am
Rande steht, macht sie sich mitschuldig, den Klimaschutz zu verhindern. Angesichts der Opfer, die der Klimaschutz heute schon fordert, kann das niemand wollen.
Wenn wir das 2-Grad-Ziel erreichen wollen, müssen
wir die Treibhausgasemissionen um 80 bis 95 Prozent
bis 2050 reduzieren. Wir dürfen in der Debatte um das
30-Prozent-Ziel dieses Langfristziel nicht unbeachtet
lassen. Auf dem Weg zu diesem Langfristziel brauchen
wir sinnvolle Zwischenschritte. In den nächsten acht
Jahren praktisch keinen Klimaschutz zu machen - das
würde das Festhalten am 20-Prozent-Ziel bedeuten aber ab dem Jahr 2020 plötzlich sehr große Anstrengungen von Industrie und Bevölkerung zu verlangen, ist kein
sinnvolles Zwischenziel. In diesen acht Jahren würden
wir den Vorsprung, den wir in vielen Bereichen haben,
verlieren. Welcher Investor würde unter solch unsicheren Bedingungen investieren? Wir sollten heute schon
unsere Anstrengungen erhöhen und das Langfristziel auf
einem gleichbleibenden und verlässlichen Pfad erreichen. Für das Jahr 2020 ist das 30-Prozent-Ziel konsistent mit dem Langfristziel. Wichtig ist daneben die Debatte um das Klimaziel für das Jahr 2030 und eine
schnelle Festlegung dieses Ziels.
Auch um das nationale Klimaziel von 40 Prozent zu
erreichen, brauchen wir das europäische 30-ProzentZiel. Ansonsten müssten die Bereiche, die nicht im Emissionshandel sind, eine Minderungsleistung erbringen,
die jenseits des praktisch Machbaren ist. Somit gilt:
Ohne höheres Klimaziel der EU kein Erreichen des deutschen Klimaziels.
Die Diskussionen um die Klimaziele sind jedoch äußerst zäh und schwierig. Bereits zweimal war die Klimaroadmap und damit das Klimaziel auf der Tagesordnung
des Umweltrates der EU gewesen. Zweimal gab es keinen Konsens. Nachdem die Minister sich nicht einigen
konnten, kommt es nun auf die Staats- und Regierungschefs an. Diese treffen sich am 28. und 29. Juni in Brüssel zum Europäischen Rat. Auf diesem Ratstreffen muss
der gordische Knoten gelöst werden und endlich eine Einigung auf ein höheres Klimaziel erreicht werden. Die
Sorgen von Ländern wie Polen, die sehr von Kohle abhängig sind, müssen angehört werden. Wie kein anderes
Land behindert Polen gerade die europäische Klimapolitik. Deutschland muss die polnische Regierung mehr
bei Vorhaben unterstützen, die in Polen einen Übergang
hin zu erneuerbaren Energien und Energieeffizienz attraktiver machen. Polen wird verschärfte Klimaziele nur
akzeptieren, wenn es Klimapolitik nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance wahrnehmen kann.
Auch muss die Abhängigkeit Polens von Energieimporten diskutiert werden. Diese Abhängigkeit von Energieimporten nimmt zu, trotz der gegenwärtigen polnischen Kohlepolitik. Die Einfuhren von Kohle sind
zwischen 2006 und 2010 nach Angaben von Eurostat um
169 Prozent gestiegen. 2008 wurde Polen Nettoimporteur von Kohle. 2009 machten Kohleimporte aus Russland rund 70 Prozent der polnischen Kohleimporte aus.
Unabhängigkeit ist mit erneuerbaren Energien zu erreichen, nicht mit weiteren Kohlekraftwerken. Sonne und
Wind kann niemand abschalten. Aber nicht nur ein stärkeres Werben für erneuerbare Energien ist wichtig. Im
Mittelpunkt muss auch die Energieeffizienz stehen.
Polen verbraucht doppelt so viel Energie, um eine Einheit seines Bruttosozialprodukts zu erzeugen, wie der
europäische Durchschnitt. Nach der gegenwärtigen polnischen Energiestrategie will Polen das Energieniveau,
das die EU-15-Staaten im Jahr 2005 erreicht hatten, erst
im Jahr 2030 erreichen, 25 Jahre später. Hier können
wir Wege zeigen, wie man Energie und Geld sparen kann
und dabei auch noch neue Arbeitsplätze schaffen kann.
Nachdem nun auch der Umweltrat am Montag gescheitert ist, ist nun der Europäische Rat Ende Juni entscheidend. Aber hat die Bundesregierung die Zeit seit
dem letzten polnischen Veto im März mit Hochdruck genutzt? Hat die Bundesregierung alles getan, damit Polen
nicht auch beim nächsten Treffen eine Einigung blockiert? Jetzt kommt es auf die Staats- und Regierungschefs an. Zu diesem Thema habe ich in meiner letzten
Rede der Bundesregierung einige Fragen gestellt. Antworten habe ich leider nicht erhalten. Deswegen möchte
ich diese Fragen erneut stellen:
Wie möchte die Bundesregierung die polnische Blockade bis Ende Juni auflösen? Wie zeigt die Bundesregierung, dass sie die polnischen Sorgen ernst nimmt?
Welche Angebote möchte die Bundesregierung Polen
machen? Kann sich die Bundesregierung zum Beispiel
vorstellen, die bilateralen Umweltprojekte zwischen
Deutschland und Polen auszubauen? Sind vor dem JuniZu Protokoll gegebene Reden
Rat Gespräche zwischen Merkel und Tusk geplant? Umweltverbände fordern die Schaffung eines Sonderbotschafters, der Pendeldiplomatie zwischen den Hauptstädten der EU betreibt. Unterstützt die Bundesregierung
diese Forderung nach einem Sonderbotschafter? Gibt es
in der deutschen Botschaft in Warschau überhaupt jemanden, der zu Klimapolitik arbeitet? Wenn nein, warum
nicht?
Ich habe meine Zweifel, dass mir die Bundesregierung ausreichend auf diese Fragen antworten kann.
Aber wenigstens war der Minister höchstpersönlich auf
dem Treffen der Umweltminister und hat sich nicht vertreten lassen, wie sein Vorgänger. Herr Altmaier sagte,
dass Klimaschutz für ihn ein Herzensthema sei. Nun
kann er zeigen, ob er dies auch ernst meint, und sich dafür einsetzen, dass die Bundesregierung eine klare Position vertritt. Allerdings kann man dann nicht mit dem
Wirtschaftsminister kuscheln; denn dieser verhindert
Klimaschutz, wo er nur kann. Ich hoffe, dass der neue
Minister nicht nur ein Mann der schönen Worte, sondern
ein Mann der Durchsetzungskraft ist; denn ohne Durchsetzungskraft ist Klimaschutz nicht möglich.
Die Opposition stellt heute erneut Schaufensteranträge zur Abstimmung. Man suggeriert, nur mit einem
Beschluss des Parlaments werde eine Verhandlungsstrategie der Bundesregierung in Richtung des 30-ProzentKlimaziels in der EU möglich. Offenkundig sind Sie aber
nicht mehr auf der Höhe der Entwicklungen. Denn die
Bundesregierung hat bereits eine gemeinsame Strategie
zum EU-Klimaziel beschlossen. Das Bundeskabinett hat
im Fortschrittsbericht 2012 zur Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie folgende Verhandlungsposition in Europa
beschlossen:
„Eine Anhebung des EU-Klimaziels auf 30 Prozent
im Jahre 2020 gegenüber 1990 trägt die Bundesregierung auf Basis des nationalen 40-Prozent-Ziels dann
mit, wenn keine darüber hinausgehenden Emissionsminderungen von Deutschland verlangt werden und alle
EU-Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag leisten.“
Dies ist die Position der Bundesregierung, die das
Wirtschaftsministerium und das Umweltministerium gemeinsam tragen. Ein Entschließungsantrag ist deshalb
nicht notwendig. Die Erhöhung auf 30 Prozent wird bereits als Verhandlungslinie der Bundesrepublik Deutschland vertreten. Allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung, die die Opposition weglässt: Was immer
auf europäischer Ebene passiert, das deutsche 40-Prozent-Ziel darf im Rahmen der Lastenverteilung nicht
noch weiter erhöht werden. Denn die deutschen 40 Prozent sind bereits äußerst ambitioniert. Die Formulierung
der Bundesregierung ist daher besser als alle Anträge
der Opposition, die wir deshalb ablehnen.
Zudem sollten wir bei der Diskussion über das EUKlimaziel immer mit diskutieren, wie Produktionsverlagerungen bei energieintensiven Branchen vermieden
werden können. Es ist wichtig, hier einen für alle gangbaren Weg zu finden. Denn Produktionsverlagerungen
in Länder, die es mit Klimaschutz nicht ernst meinen,
helfen niemandem: der Umwelt nicht und schon gar
nicht den Arbeitsplätzen in Deutschland. Deshalb sind
bei ambitionierteren Klimaschutzzielen im Emissionshandel Kompensationen im Rahmen der begrenzten finanziellen Möglichkeiten für diejenigen energieintensiven Unternehmen zu prüfen, die im internationalen
Wettbewerb stehen.
Peinlich ist es im Übrigen, dass die Oppositionsfraktionen von SPD und Grünen sich ständig überbieten,
mehr Engagement für den Klimaschutz auf Bundesebene
und in Europa zu fordern; denn dort, wo sie gemeinsam
regieren, geht es mit den Klimaschutzzielen bergab. Sowohl Grün-Rot in Baden-Württemberg als auch RotGrün in NRW haben die Klimaschutzziele gegenüber ihren schwarz-gelben Vorgängern abgesenkt. Gerade erst
wurde im rot-grünen Koalitionsvertrag in NRW bestätigt, dass trotz einer gewünschten Anhebung des EUZiels auf 30 Prozent und trotz des deutschen Ziels von
40 Prozent das Land NRW nur 25 Prozent Einsparung
erbringen soll. Wer die Grundrechenarten beherrscht,
der sieht, dass bei 25 Prozent im größten Bundesland
national 40 Prozent kaum zu erreichen sein dürften. Das
einzige, was der grüne Umweltminister in NRW mit seinem sogenannten Klimaschutzgesetz erreicht, ist ein
Ausufern von Bürokratie und Ordnungsrecht. Das macht
Klimaschutz teurer, aber nicht besser.
Die Krönung des Ganzen ist die Begründung für das
Versagen in Baden-Württemberg. Der grüne Umweltminister erklärt, man müsse die Klimaschutzziele senken,
da Baden-Württemberg vom Atomausstieg besonders
betroffen sei. Weniger Klimaschutz wegen Atomausstieg,
das hatten die Grünen den Wählern vor der Landtagswahl nicht erklärt. Das aber ist offenbar die bittere Realität rot-grüner Umweltpolitik.
Die Opposition ist sich einig, und auch große Teile
der Koalition, jedenfalls im Umweltausschuss, sind für
eine Anhebung des bedingungslosen EU-Klimaschutzziels auf 30 Prozent Minderung bis 2020 gegenüber
1990.
Ich hoffe, die Bundesregierung wird sich im EU-Rat
so positionieren, wie sie sich im Fortschrittsbericht zur
Nachhaltigkeitsstrategie festgelegt hat, und zwar dass
Deutschland minus 30 Prozent EU-weit mitträgt, wenn
auf die Bundesrepublik keine zusätzlichen Emissionsminderungen über die Selbstverpflichtung von national
minus 40 Prozent hinzukommen und alle EU-Staaten einen fairen Beitrag leisten. Sie werden verstehen, dass
wir etwas misstrauisch sind, ob die Bundesregierung
das Bekenntnis zu 30 Prozent in Brüssel auch wirklich
klar kommuniziert. Denn die Koalitionsfraktionen waren im Ausschuss nicht bereit, bei einem entsprechenden
fraktionsübergreifenden Antrag mitzumachen.
Ich darf allerdings einschränken, dass die Position
der Bundesregierung, selbst wenn sie denn ehrlich gemeint ist, klimapolitisch kein allzu großer Wurf ist.
Schließlich sind minus 25 bis minus 40 Prozent bei den
Industriestaaten das Mindeste, was aus Sicht der Wissenschaft erforderlich ist, um den Klimawandel - mit
Zu Protokoll gegebene Reden
nur Zweidrittel Wahrscheinlichkeit - auf zwei Grad Erwärmung begrenzen zu können.
In dem Zusammenhang wundert mich übrigens die
Enthaltung der Grünen und der SPD im Ausschuss zu
unserem Antrag. Dem Vernehmen nach war zumindest
bei den Grünen das Argument gegen eine Zustimmung,
dass die LINKE die Bundesregierung auffordert, in
Brüssel für eine weiter Verschärfung des EU-Klimaschutzziels bis 2020 über 30 Prozent hinaus einzutreten.
Ich frage mich, was wäre denn so furchtbar schlimm daran? Was ist das politische Problem für die Grünen,
wenn sich die EU zu minus 40 Prozent bis 2020 verpflichten würde? Darf man so etwas als Oppositionspartei nicht mehr fordern angesichts der Dramatik des Klimawandels? Werden wir nicht sogar gezwungen sein,
noch eine Schippe drauf zu packen, weil Schwellenländer und USA viel mehr Treibhausgase ausstoßen, als in
der Zeit vorauszusehen war, in der der Minderungspfad
von den Wissenschaftlern des IPCC errechnet wurde?
In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, dass
das Klimaschutzgesetz von SPD und Grünen in NRW
eher wenig ambitioniert ist. Die Treibhausgasemissionen des Bundeslandes sollen bis zum Jahr 2020 um nur
25 Prozent im Vergleich zu den Gesamtemissionen des
Jahres 1990 verringert werden. Die 25 Prozent sind für
das Braunkohleland NRW aber viel zu niedrig. Damit
wird das 40-Prozent-Minderungsziel der Bundesregierung für Deutschland praktisch unerfüllbar: Da Bayern
oder Baden-Württemberg historisch bedingt einen
Brennstoffwechsel von Atom zu erneuerbaren Energien
und Gas zu bewältigen hat, können diese ehemaligen
Atom-Länder realistisch bis 2020 nur CO2-Minderungsziele deutlich unter 40 Prozent erreichen. In der Verantwortung stehen hier darum am stärksten die Bundesländer mit einem hohen Anteil an Braunkohleverstromung.
Schließlich bringt hier der Wechsel zu erneuerbaren
Energien und Gas automatisch enorme CO2-Einsparungen mit sich. An der Spitze - weil auch mit 72 Prozent
mit dem höchsten Anteil Braunkohlestrom am Erzeugungsstrommix - müsste hier NRW stehen. Gefragt wäre
also ein signifikant schärferes Klimaschutzziel von deutlich über minus 40 Prozent Minderung, anstatt deutlich
darunter. Brandenburg hat hier immerhin minus 40 Prozent abgeliefert, was auch noch zu schlapp ist. Rot-Grün
in NRW entzieht sich mit 25 Prozent jedoch weitgehend
der Verantwortung.
Aber zurück zu Europa. Schärfere Klimaschutzziele
sind in der EU natürlich sehr schwer umzusetzen. Wir
sehen beispielsweise die Probleme Polens, eines Landes, welches 89 Prozent seiner Stromerzeugung mit
Braun- oder Steinkohle realisiert. Doch genau darum
fordern wir in unserem Antrag, ähnlich wie die Grünen,
entsprechende Hilfestellungen für unseren kohlegeplagten Nachbarstaat.
Was die Stillegung von Emissionsrechten angeht, die
wir als Einzige in unserem Antrag fordern, so decken
sich unsere Vorstellungen hier weitgehend mit jenen
Forderungen, die das Ökoinstitut diese Woche in einer
Studie aufgemacht hat, die im Auftrag von WWF und
Greenpeace erstellt wurde. Gemäß der Studie sollten angesichts des Überschusses von 2 Milliarden Euro durch
den Verkauf von Verschmutzungsrechten 1,4 Milliarden
Zertifikate für mindestens zehn Jahre stillgelegt werden.
Zudem seien die Anrechenbarkeit von CDM-Gutschriften für die Unternehmen aus Klimaprojekten in der Dritten Welt zu begrenzen. Schließlich müsse die jährliche
Emissions-Minderungsvorgabe der EU und damit das zu
schwache europäische Klimaziel „deutlich verschärft“
werden. Unsere Worte, kann ich da nur sagen, natürlich
wissenschaftlich besser unterfüttert.
Ich denke, unter dem Strich hat die Linke einen runden Antrag hingelegt, die Zustimmung sollte diesem
Haus - auch nach den eindeutigen Ergebnissen der Anhörung am 23. Mai - nicht schwerfallen. Die Linke
stimmt im Übrigen den Anträgen der SPD und der Grünen zum Thema zu.
Wir hätten heute etwas grundlegend Richtiges tun
können: Wir hätten einen gemeinsamen Beschluss aller
Fraktionen im Bundestag fassen können, der die Anhebung des europäischen Klimaziels unterstreicht. Wir
hätten es tun können - und sogar gemusst! Doch obwohl
der Umweltausschuss sich prinzipiell einig darin war,
dass die Bundesregierung in Brüssel weiterhin ein 30prozentiges CO2-Reduktionsziel für die EU verfolgen
soll, konnten wir keinen gemeinsamen Antrag hier einbringen. Die Blockade innerhalb der Koalition beschädigt aber nicht nur weiter ihr eigenes Ansehen, sondern
den Klimaschutz weltweit und die Pläne zur Energiewende der Kanzlerin. Unsere gemeinsame Anhörung in
der vergangenen Sitzungswoche hat eindrucksvoll bewiesen, wie breit der Konsens für eine Erhöhung der
Klimaziele ist, nicht aus ideologischem Kalkül, sondern
aus wirtschaftlichen und diplomatischen Gründen. Das
haben uns übrigens auch die von der Union geladenen
Experten bestätigt.
Wenn die EU jetzt nicht ihre Ziele ohne Wenn und
Aber von 20 Prozent auf 30 Prozent erhöht, dann droht
über kurz oder lang ein Stillstand im Klimaschutz. Denn
Europaweit wurden bereits 17 Prozent eingespart. Was
wollen wir alle gemeinsam in den nächsten acht Jahren
tun? Uns zurücklehnen, während die globalen Emissionen immer weiter steigen? Nein. Wir müssen die Ambition beim Klimaschutz konstant und gemeinschaftlich
erhöhen. Wir dürfen uns nicht auf bisher Erreichtem
ausruhen.
Wenn jetzt Angst und Mutlosigkeit gewinnen, dann hat
das verheerende Auswirkungen. Wer gegen das 30-Prozent-Ziel ist, der verzichtet auf zusätzliche 0,6 Prozent
Wirtschaftswachstum, der verzichtet auf Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze, der verzichtet auf einen Anstieg
der EU-weiten BIPs um über 600 Milliarden Euro und
auf einen erheblichen Anstieg der europäischen Investitionsrate. All das hatte die Kanzlerin doch auch schon
erkannt, als sie das 40-Prozent-Ziel, also minus 40-Prozent CO2-Emissionen in Deutschland bis 2020, ausgegeben hat. Das wird nun von den Blockierern in der Union
untergraben. Denn wenn es keine EU-weite Deckelung
von 30 Prozent im Emissonshandel gibt, dann müssen
Zu Protokoll gegebene Reden
die anderen Sektoren - Verkehr und Gebäude - umso
mehr Reduktionen erbringen. Haben Sie für die einen
Masterplan? Nein, Sie haben hier nichts als Aufschub
vorzuweisen. Statt einer Steigerung der Sanierungsrate
gibt es einen Sanierungsstau. In Brüssel verhindern Sie
eine ohnehin halbwegs wirksame Energieeffizienzrichtlinie, und im Verkehr haben Sie bis auf altbackene Vorschläge für eine Pkw-Maut auch nichts zustande gebracht.
Deutschland muss international mehr Gewicht auf
das 30-Prozent-Ziel legen. Nur dann ist es möglich, unseren Nachbarn Polen noch rechtzeitig von den Chancen ambitionierter Klimapolitik zu überzeugen. Denn
wer heute weniger für den Klimaschutz tut, der zahlt
morgen mehr für importiertes Öl und Gas. Konkret: Bis
zu 14 Milliarden Euro mehr kostet diese Blockade die
ohnehin von teuren Energieimporten gebeutelten europäischen Staaten.
Anstatt mehr zu zahlen, können wir sogar mehr einnehmen. Der Emissionshandel hat das Potenzial, viel
Geld für den Klimaschutz und die Energiewende abzuwerfen. Denn die Einnahmen daraus fließen in den von
der Regierung eingerichteten Energie- und Klimafonds.
So ist es jedenfalls gedacht. Doch der Zertifikatspreis
dümpelt bei 6,50 Euro herum, statt bei den vom Finanzminister anvisierten 17 Euro. Während die Ansprüche
an die Energiewende steigen, werden die Mittel dafür
also immer geringer. Das liegt an einem Überangebot
an Zertifikaten. Ich hätte den Kolleginnen und Kollegen
der FDP-Fraktion ein besseres Verständnis von Angebot
und Nachfrage zugetraut. Wir Grüne fordern ein höheres EU-Klimaziel auch deswegen, weil dadurch die
Menge der Zertifikate verknappt wird. Das führt zu einem höheren CO2-Preis und bringt auch mehr Planungssicherheit für die Unternehmen. Außerdem bringt
es den EU-Staaten auch Mehreinnahmen, die sie für den
Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz nehmen können, und sorgt damit für ein grünes
Wachstum mit Tausenden von Arbeitsplätzen.
Sie fahren die Energiewende gerade an die Wand und
entziehen ihr dann noch das Geld, indem Sie die einzige
Einnahmequelle abwürgen. Diese Politik passt zu den
Äußerungen von Minister Rösler, der die Solarbranche
in Deutschland plattmachen will. Sie meinen es eben
nicht ernst mit der Energiewende, und das wird jetzt immer deutlicher.
Nächste Woche beginnt in Rio de Janeiro die UNNachhaltigkeitskonferenz. Wir alle wissen, dass den Zeiten von großen Worten nun große Taten folgen müssen.
Unsere nationale Energiewende wäre, wenn sie richtig
angegangen worden wäre, solch eine Großtat. Denn sie
hat Strahlkraft; die ganze Welt schaut auf uns. Aber
Misstrauen zwischen Norden, Süden und den Schwellenländern droht gerade die Klimaverhandlungen zu zerstören. Jetzt endlich den Worten von Kopenhagen Taten
folgen zu lassen und als EU auf minus 30 Prozent zu gehen, das wäre ein Signal. Die von Ex-Minister Röttgen
in Durban gebaute Allianz mit einigen Entwicklungsländern kann nur tragfähig sein, wenn die EU sich selbst an
ihre hohen Ansprüche hält.
Unsere CO2-Emissionen müssen bis 2050 fast vollständig reduziert sein. Wenn wir uns nicht kurz vor der
Jahrhundertwende auf dem Scherbenhaufen der Geschichte wiederfinden wollen, dann müssen wir uns an
einen konsequenten und sinnvollen Reduktionspfad halten. Dieser sieht 2020 für Europa eine Emissionsminderung von sogar über 30 Prozent vor.
Je später wir anfangen, uns diesem Pfad anzunähern,
desto teurer wird es für uns. Wir Grüne wollen ein starkes Signal initiieren; aus Gründen der Kosteneffizienz,
der Glaubwürdigkeit Deutschlands und des Klimaschutzes.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9993. Unter Buchstabe a
wird die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/9561 mit dem Titel „Klimaziel der
EU auf 30 Prozent anheben“ vorgeschlagen. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalition und Ablehnung durch die Opposition.
Buchstabe b. Hier wird die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9562 mit dem
Titel „Europäisches Klimaschutzziel für 2020 auf
30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen - Überschüssige Emissionsrechte stilllegen“ empfohlen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen bei Enthaltungen von Bündnis 90/Die
Grünen und SPD, bei Gegenstimmen durch die Linke.
Die Koalitionsfraktionen waren dafür.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9175 mit dem Titel „EU-Klimaziel anheben 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. CDU/CSU und FDP waren dafür, SPD, Linke
und Bündnis 90/Die Grünen dagegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz- und Sicherheitskonzepte für den Bau
und Betrieb von Offshore-Windparkanlagen
weiterentwickeln
- Drucksache 17/9928 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Laut Tagesordnung werden die Reden zu Protokoll
genommen.
Die Offshorebranche ist ein relativ junger Wirtschaftszweig, der insbesondere im Zusammenhang mit
der deutschen Energiewende eine große Rolle spielt.
Erst im Juni letzten Jahres haben wir deshalb ein 5 Milliarden Euro schweres Kfw-Sonderprogramm aufgelegt,
um die Potenziale der Offshoreenergie voranzutreiben.
Während das Programm erste Erfolge zeitigt und immer
mehr Windparks in Nord- und Ostsee genehmigt und
gebaut werden, kristallisiert sich sehr deutlich heraus,
wie bedeutend die Windindustrie ist. Wir haben den Ausstieg aus der Atomenergie bis Ende 2020 beschlossen
und benötigen zum Gelingen dieser Energiewende zweifelsohne einen großen Anteil Offshoreenergie. Für dieses ehrgeizige Vorhaben benötigt der Offshoresektor
politische Unterstützung, die er durch uns erhält. Doch
neben der Betrachtung der Windkraftindustrie als signifikanten Zweig der maritimen Wirtschaft müssen wir uns
ebenso mit den begleitenden Problemen und Risiken
befassen.
Mit der grundsätzlichen Thematik der Sicherheitsvorkehrungen im Offshorebereich befasst sich auch der vorliegende Antrag der SPD-Bundestagsfraktion. Leider
könnte man beim Lesen des Antrags schnell den Eindruck gewinnen, dass die Arbeits- und Sicherheitsbedingungen bei den Offshorebetreibern katastrophale Ausmaße hätten und wir keinerlei Regelung für Seenotfälle
in der Bundesrepublik hätten. Aber dem ist nicht so. Wir
haben bei der Reglementierung dieser jungen Technik
im Seebereich einiges getan, um schwere Seenotfälle zu
verhindern oder im schlimmsten Fall dementsprechend
reagieren zu können.
Vorkommnisse mit tödlichem Ausgang und die besonderen Bedingungen bei der Montage und Wartung der
Parks auf hoher See erfordern ein besonderes Management. Daher gibt es bereits viele vereinzelte Projekte,
die zusammen mit den Offshorebetreibern - und diese
sehe ich hier zwingend in der Pflicht - versuchen, Rettungs- und Sicherheitskonzepte an diese hohen Anforderungen anzupassen. So wurde - um nur ein Beispiel zu
nennen - am 19. April 2012 im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Hamburg, BUKH, das Forschungsprojekt „Rettungskette Offshore Wind“ gestartet. Dessen Zielsetzung ist es, über die nächsten drei
Jahre Erkenntnisse dahin gehend zu erhalten, wie die
Rettungslogistik und die Rettungsmedizin ausgestaltet
werden müssen.
Doch was gibt es aktuell für Vorkehrungen zur Sicherheit in diesem Bereich? Im Notfall sieht die derzeit
festgeschriebene Meldekette vor, dass die Betreuung von
Seenotfällen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung
Schiffsbrüchiger, DGzRS, obliegt. Je nach Sachlage erfolgt von dort aus die weitere Koordination an staatliche
Stellen oder an das Havariekommando. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat
dieses Havariekommando gemeinsam mit den Ländern
in Cuxhaven eingerichtet. Während früher Schadensfälle vom örtlich zuständigen WSA erledigt werden
mussten, fällt die Bewältigung komplexer Aufgaben seit
dem 1. Januar 2003 - seit der Havarie des Holzfrachters „Pallas“ - in die Zuständigkeit des Havariekommandos. Diese Stelle ermöglicht das gemeinsame Vorgehen auf See von Bund und Küstenländern. Derzeit
arbeitet das Havariekommando außerdem an einem zusätzlichen Strategiekonzept zur Verletztenversorgung
und -rettung bei Offshoreunfällen. Wie Sie sehen, läuft
hier also im Falle des Falles alles nach Plan.
Sicherlich wird es zukünftig noch vereinzelte Punkte
im Sicherheitsbereich geben, derer man sich annehmen
werden muss. Da die Offshorebranche in Deutschland
zu den jüngeren Wirtschaftszweigen zählt, werden noch
viele dynamische Entwicklungen folgen. Und dies meine
ich angefangen von der Ausbildung der Fachkräfte, der
Sicherheit auf See bis hin zur Zusammenarbeit von Bund
und Bundesländern.
Fachkräfte im Offshorebereich werden immer gefragter. Hier bietet sich sehr viel Potenzial für den Arbeitsmarkt im Norden der Bundesrepublik. Die Gewinnung
von Arbeitskräften sowie die Stärkung der Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen haben wir deshalb schon im Nationalen Masterplan Maritime Technologien anberaumt.
Insbesondere die Stiftung der Offshorewindenergie und
die dort eingerichtete Fachgruppe „Aus- und Weiterbildung“ sowie der ständige Arbeitskreis „Vernetzung der
maritimen Wirtschaft mit der Offshore-Windenergie“
sind mit diesen Themengebieten intensiv befasst. Da die
Offshoretechnik zu den neuen Technologiebereichen
zählt, gibt es derzeit aber noch keine einheitlichen Ausund Fortbildungen. Hier liegt es allerdings auch an den
Unternehmen für ihre Fachkräfte und deren Aus- und
Weiterbildung zu sorgen. Auf diesem Gebiet planen bereits etliche Ausbilder und Institutionen, wie die Universität Rostock, spezielle Bildungsprogramme. Und diese
Entwicklung begrüßen wir, denn mit dem verstärkten
und durch uns geförderten Zubau an Offshoreenergie
wird die Nachfrage in den nächsten Jahren ansteigen.
Sie sehen, dass wir nicht tatenlos zusehen, sondern
schon vieles auf den Weg gebracht haben. Die Offshorebranche verfügt über dynamische Potenziale. Es ist
auch an uns, zukünftig konkrete Bedarfe und Defizite zu
definieren und diese Entwicklung konstruktiv zu begleiten. Aber, meine liebe Kollegen und Kolleginnen der
SPD-Bundestagfraktion, dazu benötigen wir Ihren Antrag nicht. Er ist überflüssig und das Thema längst auf
unserer Agenda! Den vorliegenden Antrag lehne ich
daher ab.
Die deutsche Sozialdemokratie kümmert sich mit
Hingabe um die Offshorewindenergie. Das ist auch verständlich: Die Offshorewindenergie ist nämlich ein so
neuer Wirtschaftszweig, dass er bisher noch nicht von
sozialdemokratischer Regulierungswut erstickt werden
konnte. Das will die SPD jetzt ändern. Aber nicht mit
uns! Als ich diesen Antrag zum ersten Mal las, musste
ich immer an Ilse Aigner und ihren Kampf für gute Lebensmittel denken. So wie zwielichtige Gestalten verdorbene Lebensmittel in attraktiven Verpackungen anbieten, so servieren die Sozialdemokraten in diesem Antrag
angefaulte Politikreste unter einer zugegebenermaßen
Zu Protokoll gegebene Reden
chicen Überschrift als Delikatesse. Doch das ändert natürlich nichts: ungenießbar bleibt ungenießbar.
Es ist schon erstaunlich, dass der Glaube an staatliche Intervention, die seligmachend sein soll, noch immer so verbreitet ist. Die Kollegen von der SPD glauben
zu sehen, dass ein angeblich bereits heute erkennbarer
Engpass an Fachkräften die Wachstumsdynamik dieser
Branche zu bremsen droht. Einerseits vermag ich dies
nicht zu glauben, andererseits frage ich mich, was der
Staat dagegen tun sollte. Sollen wir die Unternehmen
dazu zwingen, nach Maßgabe sozialdemokratischer Vorstellungen Leute auszubilden? Was sollen die armen Unternehmen mit den ganzen Mitarbeitern machen, die sie
nach Ansicht von praxisfernen Sozialpädagogen in der
SPD brauchen? Sollen die den ganzen Tag aus alten Zeitungen Papierschiffchen bauen?
Es ist klar, dass ein Unternehmen nur dann wachsen
und gedeihen kann, wenn es qualifizierte und motivierte
Mitarbeiter hat. Gute Unternehmer wissen das. Schlechte
Unternehmer sollten sowieso vom Markt verschwinden.
Warum soll sich da der Staat einmischen? Sollen wir Unternehmen, die nicht dazu in der Lage sind, Personal zu
gewinnen, qualifizierte Leute zuteilen? Nein, meine Damen und Herren, das muss und wird der Markt schon regeln. Unternehmen, die eine Zukunft haben wollen, bilden aus, Unternehmen, die keine Zukunft haben wollen,
bilden nicht aus. Das ist so ähnlich wie mit den Dinosauriern - wer sich nicht weiterentwickelt, muss dem Neuen
weichen.
Als nächste Zutat taucht der unvermeidliche Leiharbeiter auf. Da unsere sozialdemokratischen Kollegen
keine Zahlen für die Offshorewindenergie haben, ziehen
Sie Ergebnisse irgendeiner fünf Jahre alten Studie für
den gesamten Bereich der erneuerbaren Energien heran. Vor fünf Jahren, meine Damen und Herren, befand
sich die Offshorewindenergie noch in einem embryonalen Stadium. Doch das interessiert keinen aufrechten Sozialdemokraten, wenn es um den Kampf gegen die böse
Zeitarbeit geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, warum haben Sie eigentlich die Zeitarbeit eingeführt, wenn diese Form der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes angeblich die Mutter alles Bösen sein soll?
Da heute Abend auch Parteifreunde und geschätzte
Koalitionspartner, die ich nicht mit schon lange und immer wieder gescheiterten sozialdemokratischen Rezepten langweilen möchte, anwesend sind, lassen Sie mich
bitte noch einige Gedanken zu dem eigentlichen Thema
ausführen. Im Bereich Sicherheit ist es Aufgabe der öffentlichen Hand, Such- und Rettungsdienste, SAR, bereitzustellen, Notfallpläne und Bereitschaftsdienste zum
Schutz vor Umweltverschmutzung vorzuhalten sowie die
Einhaltung der Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen am Arbeitsplatz zu kontrollieren. Wer sich
schon einmal ernster mit den Aufgaben des Havariekommandos, das im Gebäude des Wasser- und Schifffahrtamtes in Cuxhaven untergebracht ist, auseinandergesetzt hat, muss zu dem Schluss kommen, dass es bei
Unfällen im Bereich der Nord- und Ostsee ein koordiniertes und gemeinsames Unfallmanagement gewährleistet.
Das gilt selbstverständlich auch für Offshorewindenergieanlagen. Das kann und soll aber nicht alles sein. Die
Bundesregierung hat hier schon lange einen Optimierungsbedarf identifiziert und arbeitet daran, dass die
Unternehmen der Offshorewindenergiebranche ergänzend zur staatlichen Daseinsvorsorge ausreichende
Schutz- und Sicherheitskonzepte sowie Notfallpläne entwickeln und fortschreiben. Sicherheit ist nämlich nicht
allein Sache des Bundes. Schon auf der Offshorekonferenz „Partner der Energiewende - Maritime Wirtschaft
und Offshore-Windenergie“ hat Verkehrsstaatssekretär
Enak Ferlemann konkrete Ziele formuliert. Er sah unter
anderem verschiedene Möglichkeiten zur Optimierung:
intensive Schulung und Fortentwicklung der Notfallpläne der Betreiber, Standardisierung und Zertifizierung
der Aus- und Weiterbildung der Beschäftigten, Aufbau
eines Ausbildungszentrums an der Küste.
Sie sehen, diese Koalition handelt schon, bevor die
Opposition einen Antrag geschrieben hat! Sie müssen
uns nicht zum Jagen tragen. Schauen Sie genau hin, Kolleginnen und Kollegen von der SPD - so sieht nämlich
gute Regierungsführung aus.
Offshore ist mehr als Onshore auf dem Wasser. Denn
ob kirchturmhohe Anlagen im stürmischen Meer, kilometerlange Unterwasserkabel oder ein „wetterfestes“
Umspannwerk - Wind, Wetter und Gezeiten machen jede
Offshoreaktivität zur echten Herausforderung für
Mensch und Maschine. Die Arbeit auf hoher See und in
großen Höhen ist nicht ungefährlich, und sie erfordert
gut trainierte Spezialisten.
Rund 600 bis 1 000 Menschen werden nach bisherigen Schätzungen künftig direkt auf den Offshorewindanlagen tätig sein, in Spitzenzeiten sogar vier- bis fünfmal
so viele. Mit der Größe der Bauvorhaben auf See und zunehmenden Beschäftigtenzahlen steigt auch das Unfallrisiko.
Der Offshorebereich erfordert eine komplett neue Herangehensweise an die Windenergie: technologisch, logistisch und vor allem mit Blick auf Arbeitsschutz und
Sicherheit für die Beschäftigten.
Doch weil die Offshorewindkraft eine sehr junge
Branche ist, fehlen bisher Standards für Aus- und Fortbildung sowie umfassende Qualifizierungsangebote.
Derzeit obliegt die Verantwortung für Schutz- und Sicherheitskonzepte ausschließlich den Betreibern der
Offshorewindenergieanlagen. Angesichts der dynamischen Entwicklung des Offshorebereiches besteht hier
ein dringender Handlungsbedarf. Die Bundesregierung
muss dafür Sorge tragen, dass ein klarer Rahmen für die
Offshoreaktivitäten geschaffen wird. Notwendig ist eine
Ausbildung, die technisch auf dem neuesten Stand ist
und die Arbeitsrealität auf den Windparkanlagen möglichst genau abbildet. Ein hohes Qualifikationsniveau
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kann dazu beitragen, die Gefahren bei den Arbeiten auf See deutlich zu
senken. Dabei sind auch die besonderen Bedingungen
der Zeitarbeitskräfte in den Blick zu nehmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wichtig sind aber auch klare Handlungsempfehlungen für die Offshorewindenergieunternehmen, um einheitliche Standards sicherzustellen. Dies betrifft Arbeitsschutz und Notfallvorsorge, aber auch Meldeketten
und Rettungsverfahren der im Bereich der Offshoresicherheit beteiligten Institutionen. Hier ist eine enge
Abstimmung etwa mit dem Havariekommando, der gemeinsamen Einrichtung von Bund und Küstenländern,
aber auch mit der DGzRS, der Deutschen Gesellschaft
zur Rettung Schiffbrüchiger, erforderlich.
Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, ein umfassendes Konzept vorzulegen, mit dem das vorhandene
Instrumentarium der Rettung auf See für Einsätze in Offshorewindparks gezielt erweitert wird. Bei den meisten
Offshoreunfällen dürfte es sich nicht um Seenotfälle im
klassischen Sinne handeln. Notwendig ist daher ein allgemeiner Rettungsdienst, der über eine entsprechende
technische Ausrüstung verfügt und speziell geschult ist etwa mit Hubschraubern für den Einsatz auf See, mit denen Verletzte geborgen werden können.
Zu berücksichtigen ist aber auch der Fall, dass
Schiffe havarieren und in Windparkanlagen zu geraten
drohen. Bisher ist nicht eindeutig geregelt, welche
Sicherheitsbehörde im Notfall für die Bergung von Unfallopfern zuständig ist. Es ist zu klären, ob dem Havariekommando die Gesamtkoordination für die Offshorerettung übertragen werden sollte. Insbesondere die
geplante neue Rettungsleitstelle ist in das bestehende
„Sicherheitskonzept Deutsche Küste“ einzupassen.
Was wir brauchen, ist ein verantwortungsvoller Umgang mit dem jungen Segment Offshore - damit die Zukunftsbranche auch dort die richtige Richtung weist, wo
es um die wichtigen Themen Arbeitsschutz und Sicherheit geht.
Der Antrag der SPD spricht zwei für die Offshorebranche wichtige Themen an: Ausbildung und Sicherheit. Offshoreanlagen werden in Zukunft einen Großteil
unserer Energie bereitstellen. Damit die Energiewende
gelingt, müssen nicht nur das Stromnetz und die Häfen
ausgebaut werden. Wir brauchen auch gut ausgebildetes
Fachpersonal. In punkto Aus- und Weiterbildung gibt es
noch viel zu tun. Ganz so schwarz wie die SPD die Situation darstellt, ist sie aber nicht.
Die Windenergieagentur WAB und das Zentrum für
Windenergieforschung ForWind, an dem auch die Universität Bremen beteiligt ist, bieten ein weiterbildendes
Studium „Offshore-Windenergie“ an, an der Universität
Rostock wurde eine Stiftungsprofessur Windenergie eingerichtet, und in Bremerhaven gibt es das Offshoretrainingszentrum für Monteure - um nur ein paar Beispiele
zu nennen. Es tut sich also etwas. Die norddeutschen
Küstenländer haben erkannt, dass ihre Zukunft auf dem
Meer und im Offshorebereich liegt.
Aber es kann und muss noch mehr getan werden. Ein
unkoordinierter Flickenteppich an Einzelmaßnahmen
nützt uns wenig. Die Sozialdemokraten fordern daher
eine Bestandsaufnahme der Istsituation. Diese ist bereits in Arbeit. Die Stiftung Offshore-Windenergie wird
bis Ende des Jahres 2012 den Qualifikationsbedarf und
die Ausbildungsangebote im Bereich Offshore für Norddeutschland analysieren. Darauf aufbauend können und
müssen umfassende Aus- und Weiterbildungskonzepte
erarbeitet werden.
Beim Thema Schutz- und Sicherheitskonzepte ist die
Rechtslage eindeutig. Der Gesetzgeber hat festgelegt,
dass das deutsche Arbeitsschutzgesetz auch in der Ausschließlichen Wirtschaftszone, AWZ, Anwendung findet.
Die Betreiber von Offshorewindanlagen sind verpflichtet, Sicherheitskonzepte für ihre Anlagen zu erstellen
und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dazu gehört auch
die Unfallnachsorge. Es steht ihnen frei, diese Aufgaben
selbst zu übernehmen oder sie an Dienstleister zu übertragen.
Die Bundesregierung steht ihrerseits in der Pflicht,
einen Rahmen für ein Schutz- und Sicherheitskonzept
der Offshorewindparkbetreiber zu schaffen. Das hat der
Bundestag im letzten Jahr mit dem Koalitionsantrag zur
Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirtschaft beschlossen.
Das Bundesverkehrsministerium wird diese Forderung
erfüllen.
Nachdem uns die SPD kurzfristig einen Antrag zu
Problemen der Offshorewindenergie bei der Hafeninfrastruktur vorlegte, hat sie gestern einen zweiten eingereicht, weil sie entscheidende Punkte vergessen hat.
Aber Sie liefern keine eigenen Ideen, sondern rezitieren
bekannte Herausforderungen und Fragen, von denen Sie
selber sagen, dass diese hinlänglich bekannt seien und
auch bereits bearbeitet würden. Selbstverständlich muss
zum Beispiel die Zuständigkeit zwischen Bund und
Ländern für das Rettungswesen in Offshorewindparks
geklärt werden. Ja, auch wir sehen dies als Teil der
staatlichen Daseinsvorsorge an. Dennoch müssen die
Konzernmultis an den Kosten für die schwierige Versorgung mitten in der Nord- und Ostsee beteiligt werden.
Auf Schiffen unter deutscher Flagge - so es denn noch
welche gibt - stellt die öffentliche Hand ja auch keine
Schiffsärzte und Sicherheitskräfte, obwohl es sich um
deutsches Hoheitsgebiet handelt. Wir legen Wert darauf,
dass die Energiekonzerne diese Kosten nicht der Allgemeinheit überlassen.
Warum jetzt ausgerechnet die SPD eine Lockerung
der Offshorearbeitszeitregelungen fordert, um der „dynamischen“ Branchenentwicklung Rechnung zu tragen,
leuchtet mir allerdings nicht ein. In Ihrem Antrag finden
sich viele kleinteilige Forderungen, die Selbstverständlichkeiten des Betriebsablaufs und zur Ausbildung und
regelmäßigen Schulung der dort Beschäftigten beinhalten. Dass Sie zum Beispiel einen umfassenden Branchenaustausch fordern, ist ja nett, doch ich bin mir sicher, dass es den auch ohne Forderungen des Deutschen
Bundestages geben wird.
Es ist vernünftig, konkrete Konzepte für Ausbildung,
Arbeitsschutz, Unfall- und Notfallkonzepte einzufordern, insbesondere zum Schutz der Beschäftigten, wenn
noch niemand daran gedacht hätte. Aber es gibt doch
Zu Protokoll gegebene Reden
schon die guten Empfehlungen aus der 7. Nationalen
Maritimen Konferenz 2010 zu dem Thema. Es gibt weitere vom Deutschen Verkehrsgerichtstag und ein „Strategiekonzept zur Verletztenversorgung und -rettung auf
Offshore Windkraftanlagen“ vom Havariekommando.
Sie kennen sicher die Tätigkeit des Arbeitskreises „Vernetzung der Maritimen Wirtschaft mit der OffshoreWindenergiebranche“ und „Aus- und Weiterbildung“
der Stiftung „Offshore-Windenergie“ sowie den Arbeitskreis der Gesellschaft für Maritime Technik, die Arbeit
des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie
und der Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger. Wozu
also Ihr Antrag?
Er würde mehr Sinn ergeben, wenn Sie in Ihrem Antrag neben den Sicherheitsfragen auch die Grenzen der
Offshorewindparks aufgreifen würden. Sie machen den
gleichen Fehler wie die Bundesregierung, die sich allein
auf die heilsbringende Wirkung der Offshoreanlagen
konzentriert. Wir haben bereits in der letzten Sitzungswoche darüber gesprochen, dass es sich bei dem Offshoreboom im Wesentlichen um einen Planungsboom handelt.
Von 6 500 beantragten und über 2 000 genehmigten Anlagen befinden sich gerade einmal 160 Anlagen im Bau.
2004 hieß es noch in einer Studie von drei der vier großen
Netzbetreiber in Deutschland, dass 2010 insgesamt
5,4 Gigawatt Offshoreenergie produziert werden würde,
tatsächlich haben wir dort heute 0,2 Gigawatt installierte Leistung. Offshorewindparks leisten einen wichtigen Beitrag zur Energiewende. Aber an Land wird heute
bereits die 135-fache Menge Windenergie erzeugt 27 Gigawatt. Sie lässt sich leichter ans Stromnetz anbinden, und die Probleme des schwierigen Notfallmanagements entfallen hier ebenfalls.
Wir setzen zur Umsetzung der Energiewende nicht auf
die Energiekonzerne, die lediglich von der Atomkraft auf
Windkraft umstellen und bei Großprojekten bleiben. Wir
wollen einen Mix aller regenerativen Energieformen
und dezentrale Strukturen. Die Kommunen müssen bei
der Rekommunalisierung ihrer Stadtwerke unterstützt
und Genossenschaftsmodelle geschaffen werden. Milliardeninvestitionen zum Ausbau großer Übertragungsnetze quer durch die Republik lassen sich reduzieren,
wenn mehr Strom dort erzeugt wird, wo er auch verbraucht wird. Auch im Süden der Republik entstehen
neue und mehr Windparks, Biogas- oder Photovoltaikanlagen. Mittelfristig ist der geplante gigantische Ausbau der Übertragungsnetze also überdimensioniert und
allenfalls in der Offshoreplanung begründet.
Ja, wir brauchen ein Konzept, mit dem das vorhandene Instrumentarium zur Rettung auf See für Einsätze
in Offshorewindparks erweitert wird. Aber viel dringender brauchen wir eine sichere und umweltfreundliche
Energieerzeugung, die nicht ausschließlich auf Großtechnologie setzt. Nur so gelingt uns die Energiewende.
Welchen großen Stellenwert die Offshorewindenergie
weltweit haben wird, habe ich schon letzte Sitzungswoche betont, als wir den Ausbau der Infrastruktur für die
Offshorewindenergie debattiert haben. Besonders die
Bewohner von Küsten und an Küsten gelegene
Megacitys können durch die Offshorewindenergie und
andere Meerestechnologien mit sauberem Strom versorgt werden.
Es ist nicht nur der Strom, der diesen Menschen zugutekommt. Das große Potenzial der Energiegewinnung im
Meer und durch das Meer ermöglicht einen rascheren
Ausstieg aus der atomaren und fossilen Energiegewinnung. So können genau diese Bewohner der Küsten auch
vor dem Klimawandel und den daraus resultierenden
katastrophalen Folgen des Anstiegs des Meeresspiegels
geschützt werden.
In Deutschland sollen nach den Plänen der Bundesregierung bis zum Jahr 2020 Offshorewindenergieanlagen
mit 10 Gigawatt Leistung installiert sein. Wir sind schon
heute im Verzug mit dem Ausbau. Damit der Ausbau
zügig vorangehen kann, muss aber nicht nur endlich die
schnelle Netzanbindung gewährleistet und die Hafeninfrastruktur ausgebaut werden. Auch weitere Faktoren
sind für den reibungslosen Ablauf des Ausbaus der Offshorewindenergie unabdingbar.
Der Bau von Windenergieanlagen auf See ist eine
technisch anspruchsvolle Aufgabe. Natürlich kann es
dabei zu gefährlichen Situationen und Unfällen kommen. In solchen Fällen müssen klare Strukturen und
Konzepte greifen. Rettungskräfte müssen personell gut
ausgestattet und auf ihre Aufgaben vorbereitet sein. Natürlich muss auch das passende Rettungsgerät zur Verfügung stehen. Aber es geht nicht nur um Rettungsmaßnahmen nach Unfällen. Es muss vor allem auch um
vorsorgende Unfall- und Arbeitsschutzmaßnahmen gehen. Schließlich ist die Offshorewindenergie eine noch
junge Technologie, weshalb Erfahrungen noch gesammelt werden müssen. Diese sollten dann möglichst zeitnah in die Konzepte eingearbeitet werden. Der Antrag
der SPD-Fraktion enthält viele wichtige Vorschläge zur
Sicherheit für Offshorewindparks.
Worauf die SPD in ihrem Antrag jedoch nicht eingegangen ist, sind Schutzkonzepte für das Meer und seine
Bewohner. Der Ausbau der Offshorewindenergie muss
natürlich auch den Schutz von Meereslebewesen berücksichtigen und darf nicht einseitig zulasten der Fauna gehen. Insbesondere die Lärmvermeidung zum Schutz von
zum Beispiel Delphinen und Schweinswalen muss hier
eine Rolle spielen, aber auch die Vermeidung von Leckagen, um etwa Chemikalien- oder Ölverschmutzungen
des Meeres zu vermeiden.
Der zügige Ausbau der Offshorewindenergie ist ein
wichtiger Pfeiler der Energiewende in Deutschland, hinter dem wir Grünen stehen. Auch international können
die Technologien zur Energiegewinnung im Meer einen
sehr wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Dabei
dürfen Sicherheitsaspekte und der Meeresschutz nicht
zurückstehen. Nur wenn wir in Zukunft gute Schutz- und
Sicherheitskonzepte sowie einen Interessenausgleich
zwischen Energiegewinnung und Naturschutz, ein gutes
Risikomanagement und ein gutes Küstenzonenmanagement haben, wird sich der Ausbau der Offshorewindenergie nicht noch weiter verzögern. So können wir
nicht nur technologischer Vorreiter, sondern auch ein
Zu Protokoll gegebene Reden
weltweites Vorbild bei den Sicherheitsstandards für die
Offshorewindenergie werden.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9928 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Sie sind einverstanden. Das ist so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 43 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben
- Drucksache 17/9930 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Federführung strittig
Die Reden wurden ebenfalls zu Protokoll genommen.
Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben hat die
ihr gesetzlich zugewiesene Aufgabe, Immobilien des
Bundes wirtschaftlich zu verwalten und für die Bundeszwecke entbehrliche Liegenschaften nach dem geltenden
Haushaltsrecht zum vollen Verkehrswert zu veräußern.
Die Verkaufserlöse fließen nach Abzug der Verwaltungskosten in den Bundeshaushalt - die Einnahmen kommen
also allen Bürgerinnen und Bürgern im gesamten Bundesgebiet zugute.
Bei einem Grundstücksverkauf geht die Bundesanstalt aber nicht mit der Holzhammermethode vor, sondern wendet vielmehr die Salamitaktik an, Stück für
Stück zum Erfolg - ein Gewinn für beide Seiten: den
Bürger und den Staat.
Liegen zum Beispiel vergleichbare Kaufangebote für
ein zu veräußerndes Grundstück vor, so berücksichtigt
die Bundesanstalt im Rahmen der Käuferauswahl die
strukturpolitischen Ziele der Länder und Kommunen ohne dass es hierzu einer ausdrücklichen gesetzlichen
Regelung bedarf.
Mit Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen
der SPD, wollen sie also gesetzlich etwas regeln, was
von der Bundesanstalt bereits praktisch so gehandhabt
wird. Wie Sie sehen, gibt es hierfür keine Notwendigkeit.
Oder versteckt die Bundes-SPD in ihrem Antrag ein
anderes Ziel? Ja, das tut sie! Mit ihrer Forderung, eine
gesetzliche Öffnungsklausel zur Berücksichtigung städtebaulicher und regionalpolitischer Belange der Länder
und Kommunen einzuführen, verfolgt die SPD vielmehr
und primär das Ziel, die verbilligte Abgabe von Grundstücken des Bundes wieder einzuführen. Die BundesSPD verschleiert dies noch in ihrem Antrag, während
die SPD im Bundesland Nordrhein-Westfalen mit ihrem
Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben „das Kind beim Namen nennt“. In der Gesetzesbegründung zur Einführung
einer Öffnungsklausel wird aufgeführt, dass die Bundesanstalt eine den kommunalen und regionalen Zielvorstellungen entsprechende Nachnutzung auch dann ermöglichen muss, wenn der volle Wert nicht realisiert
werden kann, das heißt also: „Gebt uns das Grundstück
verbilligt.“
Die Verschleierungsspielchen der Bundes-SPD sind
mit uns nicht zu machen. Eine Partei, die sich für Transparenz einsetzt, sollte dies nicht nur fordern, sondern
auch und vor allem selbst umsetzen.
Dann legt die Bundes-SPD in ihrem Antrag noch einen Zacken drauf. Ihr eigentliches Ziel ist nicht nur, wie
die SPD im Land NRW fordert, die verbilligte Abgabe
von ehemals militärischen Liegenschaften, sondern die
verbilligte Abgabe von allen nicht mehr benötigten Bundesliegenschaften. Wenn wir dies zuließen, wäre das
Nächste, was wir von der SPD zu hören bekämen: Die
christlich-liberale Koalition verschleudert Haushaltsmittel, veräußert Grundstücke zu Dumpingpreisen und
schadet somit allen Bürgerinnen und Bürgern in der gesamten Bundesrepublik.
Es geht nicht, auf der einen Seite der Regierung vorzuwerfen, man mache zu viele Schulden und spare zu
wenig, und auf der anderen Seite zu fordern, das Tafelsilber als Plastikbesteck in die Regale zu legen.
So etwas ist mit uns nicht zu machen - wir haben unseren Haushalt im Blick, und wir haben Verantwortung
gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in der gesamten Bundesrepublik. Man sollte sich auch hier die Frage
stellen: Würden die Kommunen ihre nicht mehr benötigten Grundstück auch verbilligt abgeben? Wohl kaum!
Die federführende Arbeitsgruppe Haushalt der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion lehnt gemeinsam mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben und dem Bundesministerium der Finanzen eine - vor 2005 praktizierte Wiedereinführung einer verbilligten Abgabe von Grundstücken ab.
Abgesehen von Präjudizwirkungen und Abgrenzungsschwierigkeiten käme es als Folge einer Öffnung des
Bundesimmobilienanstaltsgesetzes unter Annahme einer
derzeit geschätzten Flächengröße von circa 80 000 Hektar Konversionsflächen zu erheblichen Einnahmeverlusten für den Bund. Zählt man die Flächen noch dazu, die
nicht als Konversionsflächen verbilligt veräußert werden sollen, so wären die Einnahmeausfälle noch viel
größer. Somit würde Geld im Haushalt des Bundes fehlen, welches an anderer Stelle, zum Beispiel für Ausgaben im Sozialbereich - Rente, Arbeitslosengeld - dringend gebraucht würde. Verschleuderung von Grundstücken zu billigen Preisen wäre dann keine Wohltat,
sondern eine Schandtat.
Darüber hinaus würde „armen“ Kommunen eine
Verbilligung nicht helfen, da sich auch einen verbilligten
Ankauf lediglich finanziell gesunde Kommunen leisten
könnten. Zudem hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben die Erfahrungen gemacht, dass in der Regel
nicht die Kommunen als Körperschaft selbst ein Erwerbsinteresse haben, sondern deren Primärinteresse
auf die Anwerbung von Investoren gerichtet ist. Die Verwertungs- und Investitionschancen setzen voraus, dass
die Kommunen als Planungsträger attraktives Planungsrecht schaffen. Hierfür ist jedoch ein Eigentumserwerb
durch die Kommunen nicht erforderlich, es sei denn die
Kommune hat neben der Förderung der städtebaulichen
Entwicklung mit Blick auf den Grundstückserwerb auch
ein eigenes „Gewinnerzielungsinteresse“, welches durch
einen verbilligten Kaufpreis entsprechend erhöht würde.
Die Bundesanstalt hat verschiedene Verwertungsmodelle, die sowohl eine Beteiligung an den Entwicklungskosten, den Abschluss von städtebaulichen Verträgen
wie auch Erleichterungen der Zahlungsmodalitäten für
den Grundstückserwerber vorsehen. Diese stellen eine
ergänzende wirksame und effektive Hilfestellung für die
Entwicklung in den betroffenen Kommunen dar.
Eine verbilligte Abgabe wäre zudem auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des europäischen Beihilferechts zu überprüfen. Nach ersten Einschätzungen wäre
zumindest eine Notifizierung erforderlich.
Gemeinsames Ziel ist und bleibt es im Konversionsprozess, die strukturpolitischen und städtebaulichen
Entwicklungsziele der Kommune einerseits und die wirtschaftlichen Verwertungsinteressen der Bundesanstalt
andererseits zu einem für beide Seiten annehmbaren Interessenausgleich zu führen.
Das vom Haushaltsauschuss am 21. März 2012 beschlossene Erstzugriffsrecht der Kommunen ist der geeignete Weg, um diese Ziele zu erreichen. Kaufangebote
Dritter bleiben in diesem Fall unberücksichtigt. Damit
erhalten die Kommunen zusätzlich zu ihrer Planungshoheit ein weiteres wichtiges Instrument, weil sie den kompletten Konversionsprozess von der Planung bis zur Vermarktung in einer Hand gestalten können.
Man kann es nicht oft genug betonen: Die Flankierung des durch die Schließung von Bundeswehrstandorten eintretenden Strukturwandels ist vorrangig Aufgabe
der Länder. Der Bund wirkt im Rahmen bestehender
Förderprogramme daran mit. Das ist ausreichend, das
ist sinnvoll und das ist haushalterisch vertretbar.
So unterstützen wir Haushälter den Weg der Bundesregierung, in den Eckwerten zum Bundeshaushalt 2013
eine Anhebung der Ausgabemittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in Höhe von jährlich 33 Millionen Euro
vorzusehen, die gerade für Konversionsprojekte eingesetzt werden können.
Die Fraktion der Sozialdemokraten will mit ihrem
Antrag „Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“ neue Akzente setzen.
Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ist in ihren Zielen klar definiert: Eine unendliche Vielzahl von
Liegenschaften, Grundstücken, Gewerbeflächen und
Wohneinheiten sollen nicht nach althergebrachter, gutbürgerlicher Art von verschiedensten Behörden verwaltet werden; vielmehr hatte die damalige rot-grüne Bunderegierung eine andere Intention: Sie begründete die
neue Bundesanstalt zum 1. Januar 2005 und hat ihr als
Hauptaufgabe maßgeblich ins Stammbuch geschrieben,
dass die mehr als 28 000 bundeseigenen Immobilien,
Grundstücke, Staatsforsten usw. möglichst wirtschaftlich verwaltet werden sollen. Gerade durch die Zusammenführung in eine Bundesanstalt statt Aufsplitterung in
Bundesvermögensämter, Bundesforstämter oder Bundesvermögensabteilungen in den Oberforstdirektionen
wollte der Bund wirtschaftlich an die Verwaltung seiner
Grundstücke herangehen.
Dies ist in den vergangenen Jahren durchaus mit großem Einsatz geschehen. Die Mitarbeiter der BImA bis
hin zu ihrem jetzigen Präsidenten Dr. Jürgen Gehb haben außerordentlich gute Arbeit geleistet. Sie müssen die
Grundsätze der Wirtschaftlichkeit, insbesondere die des
Sparsamkeitsprinzips, einhalten. Gerade in einer Zeit, in
der wir an oberster Stelle die Haushaltskonsolidierung
als Staatsziel haben, sind diese Oberziele, die Wirtschaftlichkeit genauso wie die Sparsamkeit, auch von
der BImA zu verlangen.
Der Antrag der Sozialdemokraten läuft diesen
Grundprinzipien geradezu diametral entgegen. Der
Antrag möchte, dass entgegen Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit andere Belange ins Feld geführt werden.
Insbesondere soll die BImA städtebauliche und regionalpolitische Belange stärker als bisher berücksichtigen.
Zwar nicht ausgesprochen, aber dennoch als Hintergrund des Antrages ist für jeden erkennbar: Die BImA
soll durch verbilligten Verkauf, durch „Unterwertverkauf“, teilweise klamme und teilweise marode Kommunen subventionieren. Dies widerspricht den Grundsätzen, die seinerzeit die rot-grüne Regierung der BImA mit
auf den Weg gegeben hat.
Unsere Zustimmung wird solch ein Antrag aus diesem
Grunde in gar keiner Weise finden können. Gerade im
Augenblick, wo viele Bundeswehrliegenschaften frei
werden, wo die Bundeswehr aufgrund ihrer Strukturreform mit viel weniger Kasernen, viel weniger Übungsplätzen usw. auskommen wird, hat die BImA die Möglichkeit, das nicht betriebsnotwendige Bundesvermögen
verantwortlich zu veräußern und sich wirtschaftlich zu
gerieren. Die BImA macht das mit Augenmaß und mit
großem Geschick, insbesondere aber - und das müssen
wir von ihr verlangen - unter Einhaltung der gesetzlichen Regeln, unter Einhaltung der ihr vorgegebenen
Grundlinien.
Die BImA hat sich zwar wirtschaftlich und sparsam
zu verhalten; sie hat aber nicht die Notwendigkeit, den
letzten Cent herauszuschlagen. Die BImA hat durchaus
ein kommunalfreundliches Verhalten. Das zeigt sich
schon darin, dass wir als Koalitionsfraktionen der
CDU/CSU und der FDP einen anderen Weg gegangen
sind. Wir haben beschlossen, dass die interessierten
Städte und Gemeinden ein Erstzugriffsrecht haben. Dies
bedeutet, dass Gebietskörperschaften, aber auch Stiftungen und Anstalten, an denen die Kommunen mehrheitZu Protokoll gegebene Reden
lich beteiligt sind, billige Grundstücke des Bundes zu
günstigen Preisen erlangen können. Sie kennen doch unseren Beschluss! Interessierte Gemeinden können zu einem gutachterlich ermittelten Verkehrswert Konversionsflächen ohne Bieterverfahren erwerben. Dies ist
ein großer Vorteil. Die Gemeinden müssen nur ihr Interesse bekunden. Der Verkehrswert der interessierenden
Grundstücke wird ermittelt, und die Gemeinden können
im Erstzugriffsverfahren diese Grundstücke erwerben,
ohne dass sie sich auf Konkurrenten einlassen müssten.
In diesem Fall gibt es kein sich gegenseitiges Hochschaukeln von sich überbietenden Angeboten. Die interessierte Gemeinde gelangt in ein außerordentlich komfortables „Alleinstellungskriterium“. Die Gemeinden
können von vornherein mit gutachterlich festgesetzten
Werten kalkulieren und brauchen sich nicht auf ein oft
monatelanges Bieterverfahren einzulassen. Dies nenne
ich kommunalfreundlich. Solch ein Verfahren ist nicht
nur überschaubar und berechenbar, es schützt Gemeinden auch vor Spekulantentum.
Der SPD-Antrag dagegen geht in die Irre. Sie möchten Verbilligungen für Gemeinden erreichen, würden
aber gerade das Gegenteil erzielen. Gerade finanzstarke
Kommunen würden viel stärker profitieren als finanzschwache Gemeinden. Bedenken Sie nur, dass sich der
Bereich von Übungsplätzen usw. über verschiedene Gemeinden erstreckt, dass bei Bundeswehrübungsgeländen
mehrere Gemeinden Anlieger sind. Nicht diejenige Gemeinde, die das beste Konzept vorzulegen hat, nicht die
Gemeinde, die am dringendsten Erweiterungsflächen
braucht, nicht die Gemeinde, die Gewerbe- und Industrieausweitung am sinnvollsten darstellen kann, wäre
nach Ihrem Konzept zum Schluss Eigentümer der jetzt
zur Konversion anstehenden Grundstücke, sondern die
wirtschaftlich stärkste Gemeinde.
Gerade unser System vom Erstzugriff vermeidet das.
Unter Einschränkung des Prinzips der Wirtschaftlichkeit wird der betroffenen Gemeinde das von der BImA
verwaltete Grundstück zugesprochen.
Die Sozialdemokraten verwechseln in ihrem Antrag
grundlegende Dinge. Es geht ihnen eigentlich um ein
kommunalfreundliches Verfahren; dieses aber wird gerade durch die Mittel der Strukturförderung bei uns befördert. Strukturförderung geschieht durch andere Instrumente. Die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung
der regionalen Wirtschaftsstruktur, GRW, die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und
des Küstenschutzes ({0}), die Instrumente der Städtebauförderung, die Möglichkeiten der Kreditanstalt für
Wiederaufbau usw., aber auch die entsprechenden EUProgramme, das sind bei uns die Möglichkeiten, die die
Strukturförderung im Fokus haben.
Die Aufgaben der BImA sind anders beschrieben; die
BImA kann nicht die Strukturförderung betreiben. Wir
verhalten uns auf der einen Seite sparsam und wirtschaftlich; wir haben auf der anderen Seite aber gerade
durch das Erstzugriffsrecht das Interesse der Gemeinden
sehr wohl im Auge. Gerade aus diesem Grunde ist eine
Ergänzung oder Neufassung der Ziele und Regelungen
des Gesetzes über die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben nicht notwendig.
Aus diesem Grunde lehnen wir den Antrag der SPD
ab.
Nach wie vor verfügt der Bund als Eigentümer über
erhebliche Immobilienwerte. Nicht alle Immobilien des
Bundes müssen dauerhaft im Bundesbesitz bleiben. Am
Ende muss über den Fortbestand des Bundeseigentums
die Frage entscheiden, ob und wie eine effektive Nutzung dieser Liegenschaften im gesamtgesellschaftlichen
Sinne erfolgen kann.
Die SPD-Bundestagsfraktion greift mit ihrem Antrag
„Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“, über den wir heute diskutieren, ein Problem
auf, bei dem aus Sicht der Sozialdemokraten dringender
Handlungsbedarf besteht - Handlungsbedarf in mehrfacher Hinsicht und in mehreren Bereichen. Zentrales Ziel
ist es hierbei, dass die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, BImA, nicht mehr reiner Immobilienmakler des
Bundesfinanzministers sein soll, sondern in ihr Aufgabenspektrum städtebauliche und regionalpolitische Belange einfließen müssen und dass dementsprechend der
Aufbau und die Organisation der BImA strukturell und
personell optimiert wird. Daraus ergibt sich im Übrigen
auch die Notwendigkeit einer stärkeren Zusammenarbeit der BImA mit dem Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung sowie mit weiteren fachlich
zuständigen Bundesbehörden.
Vor wenigen Wochen haben wir im Deutschen Bundestag über den Stopp beim Verkauf von TLG-Wohnungen
diskutiert. Die BImA hat den Auftrag, circa 11 500 Wohnungen zu privatisieren. Bisher hat die schwarz-gelbe
Koalition keine Einsicht gezeigt, dass, wie im SPD-Antrag gefordert, diese Wohnungen vorrangig kommunalen Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften zum
Kauf angeboten werden. Die SPD-Bundestagsfraktion
sieht hier ein dringendes Handlungserfordernis, damit
der Einfluss der öffentlichen Hand auf den angespannten Wohnungsmarkt in Deutschland erhalten bleibt.
Warum verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, sollte der Erwerb von TLG-Wohnungen durch
Genossenschaften nicht gefördert werden? Auf der kürzlich durchgeführten Veranstaltung zum Internationalen
Jahr der Genossenschaften ist die gesellschaftspolitische
Rolle der Genossenschaften ausdrücklich positiv bewertet worden. Ich zitiere einige Aussagen: „Der Gedanke
der Genossenschaft überzeugt zum Beispiel in Singapur
genauso wie in Finnland“, „Genossenschaften sind Vorbilder, wie man ökonomische, soziale und ökologische
Ziele verbindet“. Noch ein weiteres Zitat: „Ich denke
zum Beispiel an den Bereich des Wohnungsbaus. Viele
Wohnungsbaugenossenschaften haben ja die Frage ‚Wie
sieht der Mieter, der Wohnungsbesitzer der Zukunft
aus?‘ im Blick …“ „Ich glaube, hier können wir auch
politisch von interessanten Beispielen aus Ihrem Bereich
lernen und aus dem Reservoir Ihrer Erfahrungen schöpfen.“ Recht hat die Gastrednerin mit ihren Ausführungen. Den Appell von Frau Bundeskanzlerin Merkel bei
der Festveranstaltung der Genossenschaften sollten Sie,
meine Damen und Herren in der Koalition, ernst nehmen.
Mit dem am 26. Oktober 2011 von der Bundesregierung verkündeten Stationierungskonzept der Bundeswehr werden 31 Standorte komplett geschlossen und
90 Standorte zum Teil drastisch reduziert. Hieraus erwachsen nicht nur für die Soldatinnen und Soldaten,
sondern auch für die betroffenen Standortkommunen erhebliche Konsequenzen. Mit dem Antrag „Konversion
gestalten - Kommunen stärken“ hat die SPD-Bundestagsfraktion diese Problematik aufgegriffen und konkrete Vorschläge vorgelegt, wie der Bund diesen Prozess
mit den Ländern und den betroffenen Kommunen gestalten soll.
In beiden Fällen, sowohl bei der Problematik TLGWohnungen als auch im Rahmen der Standortveränderungen der Bundeswehr, ist offensichtlich, dass es einer
gestaltenden Hand des Bundes bedarf, damit nicht kurzzeitige Geldnahmen des Bundesfinanzministers das Kriterium sind, sondern eine weitreichende gestaltende
Planung die Grundlage für das staatliche Handeln darstellt. Die derzeitige Rechtslage, auf der die BImA als
zuständige Bundesbehörde für die Verwertung der vom
Bund nicht mehr benötigten Bundesliegenschaften
agiert, wird diesen Erfordernissen nicht gerecht. Bei der
Verwaltung und Verwertung der Liegenschaften spielt
bislang lediglich die Orientierung an kaufmännischen
Grundsätzen eine Rolle, nach denen nicht betriebsnotwendiges Vermögen wirtschaftlich zu veräußern ist. Die
Aspekte aus kommunalen und regionalen Zielvorstellungen finden hierbei nicht die notwendige Beachtung. Die
Bereiche Landschafts- und Naturschutz und regenerative Energiegewinnung bzw. Ausgleichsmaßnahmen stehen nicht im Fokus der Betrachtung und des Handelns
der BImA.
Diese kritische Bewertung der derzeitigen Rechtslage
bezüglich der Aufgabenstellung der BImA bei Vermögensveräußerungen des Bundes wird auch vom Bundesrat geteilt. Ich verweise darauf, dass das Land Nordrhein-Westfalen einen Gesetzentwurf zur Änderung des
BImA-Gesetzes vorgelegt hat, dem mittlerweile die
Länder Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz beigetreten sind. Dieser Antrag ist am 31. Mai 2012 im
Ausschuss für Städtebau, Wohnungswesen und Raumordnung behandelt worden und wurde mit 14 Ja-Stimmen bei 2 Enthaltungen angenommen. Das ist doch eine
ganz klare Botschaft an den Deutschen Bundestag, eine
Präzisierung des Auftrags der BImA vorzunehmen. Der
Gesetzentwurf des Landes Nordrhein-Westfalen beinhaltet eine Ergänzung des § 1 Abs. 1 BImA-Gesetz. Danach
soll nach dem Satz 5 ein weiterer Satz eingefügt werden,
mit dem klar definiert wird, dass die BImA bei der Verwaltung und Verwertung ehemals militärisch genutzter
Liegenschaften sicherzustellen hat, dass die strukturpolitischen Ziele des Bundes, der Länder und der Kommunen im Sinne einer nachhaltigen Regionalentwicklung zu berücksichtigen hat. Der SPD-Antrag, über den
wir heute diskutieren, geht über diese Forderung hinaus
und beinhaltet auch eine Berücksichtigung städtebaulicher Belange, und zwar nicht nur bei Konversionsmaßnahmen. Wir stimmen hierbei mit der Forderung der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder
überein, die auf ihrer Sitzung am 15. Dezember 2011 gefordert haben, dass strukturpolitische Ziele des Bundes,
der Länder und der Kommunen ausdrücklich berücksichtigt werden sollen und hierzu eine Öffnungsklausel
ins BImA-Gesetz eingefügt werden soll. Da sind wir wieder beim Thema TLG-Wohnungen. Wir sehen - das
kommt in Ziffer 2 unseres Antrages zum Ausdruck - darüber hinaus das Erfordernis, dass die Regelung im § 4
des BImA-Gesetzes zum Aufbau und zur Organisation
der BImA präzisiert werden muss. Eine stärkere fachliche Gewichtung städtebaulicher und regionalpolitischer
Aspekte bei Veräußerungs- und Verwaltungsprozessen
muss strukturelle und personelle Folgen nach sich ziehen. Nochmals, die BImA muss mehr sein als nur der Immobilienmakler für den Bundesfinanzminister.
Die Ergänzung des Handlungsauftrags für die BImA
ist offenkundig notwendig. Das zeigen die dargestellten
Beispiele, und darüber gibt es einen Konsens mit dem
Bundesrat. Die Diskussion über die künftige Verwertung
der TLG-Wohnungen und die Herausforderungen beim
Konversionsprozess belegen, dass hier der Bund seiner
strukturpolitischen Verantwortung gerecht werden muss.
Darauf zielt der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion ab,
für dessen Unterstützung ich um Ihre Zustimmung
werbe.
Der Antrag fordert, das Gesetz über die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, BImAG, in zwei wesentlichen Punkten zu ändern. Erstens sollen die in § 1 formulierten Ziele um die Aspekte der städtebaulichen und
regionalpolitischen Belange ergänzt werden, und zweitens sollen die in § 4 enthaltenen Regelungen betreffend
den Aufbau und die Organisation der BImA strukturell
und personell optimiert werden. Begründet werden diese
Forderungen unter anderem damit, dass es zu „Konflikten zwischen städtebaulich gebotenen und haushaltsrechtlich erforderlichen Überlegungen kommen kann“.
Als Lösung wird vorgeschlagen, „dass die Tätigkeit der
BImA stärker als bislang an strukturpolitischen Zielen
ausgerichtet werden muss“. Dazu ist „eine bessere Verzahnung der unter der Rechts- und Fachaufsicht des
Bundesministeriums der Finanzen stehenden BImA mit
den städtebaulichen und strukturpolitischen Zielvorstellungen der Länder, der Kommunen und des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erforderlich“.
Die Richtung ist eindeutig: Die geltende Rechtslage,
dass die BImA sich unter haushaltsrechtlichen Verpflichtungen an kaufmännischen Grundsätzen orientieren muss, soll einseitig zulasten des Bundes aufgegeben
werden. Gleichzeitig sollen die Entscheidungsgremien
der BImA durch Beteiligung der Länder und Kommunen
erweitert werden. Beide Forderungen haben, würden sie
umgesetzt, weitreichende Konsequenzen. Denn sollten
zukünftig Länderinteressen oder kommunale Interessen
höher als die Verpflichtung zur Wirtschaftlichkeit bewertet werden, dann ist jede Haushaltskonsolidierungspolitik beliebig: andere Interessen - andere Wertigkeit.
Zu Protokoll gegebene Reden
Und die Erweiterung des Entscheiderkreises um interessengeleitete Betroffene erinnert fatal an die vielen
Runden Tische, korporatistische Bündnisse, die es in
Deutschland gab und gibt. Wer so etwas fordert, fördert
ein parternalistisches Demokratieverständnis: Wir setzen uns alle zusammen, und dann verkünde ich, was die
Mehrheit für gut befunden hat. Orientierung an übergeordneten Grundsätzen, Haushaltsrecht wird dann
ebenso zur Farce wie persönliche Verantwortungsübernahme. Wir Liberale lehnen diese sozialdemokratische
Betroffenheitspolitik entschieden ab.
Interessant ist, dass die Gesetzesnovellierung 2009
vorsah, den Konversionsprozess ohne ein gesondertes
Konversionsprogramm des Bundes weiter durchzuführen. Ziel war und ist weiterhin die effiziente Verwaltung
der Liegenschaften nach kaufmännischen Grundsätzen
und nicht, betriebsnotwendiges Vermögen wirtschaftlich
zu veräußern. Und das ist nach wie vor der richtige Weg.
Städtebauliche und regionalpolitische Belange sind
im wahrsten Sinne des Wortes zuerst regionalpolitische
Aufgaben. Dazu benötigen die Kommunen nicht weniger, sondern eher mehr Autonomie und stehen in der
Verantwortung, als Planungsträger ein attraktives, wettbewerbsfähiges Planungsrecht zu schaffen. Auf dieser
Grundlage können die Kommunen dann entscheiden, ob
sie überhaupt Eigentumserwerb an die durch die Konversion freiwerdenden Gebäuden und Flächen favorisieren oder Private zum Zuge kommen lassen wollen. In jedem Fall legen die Kommunen aber fest, was mit den
durch die Konversion freiwerdenden Gebäuden und Flächen geschehen soll: zusätzliche Gewerbestandorte ausweisen, neue Wohngebiete erschließen oder Grünflächen anlegen. Das alles sind kommunalpolitische und
keine bundespolitischen Aufgaben. Die FDP fördert den
Gedanken des kommunalen Wettbewerbs, um durch Entwicklung regionaler Besonderheiten den Menschen in
den unterschiedlichsten Regionen immer wieder neue
Perspektiven zu eröffnen.
Städtebauliche oder regionalpolitische Belange auf
Bundesebene mit entscheiden zu wollen, widerspricht
zudem dem Subsidiaritätsprinzip, dem sich selbst die EU
verpflichtet hat: Nur dann, wenn eine Entscheidungsebene nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen,
kann die nächsthöhere Ebene Entscheidungshilfen anbieten. Das Primat der Entscheidungsfindung bleibt auf
der lokalen Ebene. Der Bund hat nicht das Recht, die
städtebauliche oder regionale Entwicklung zu bestimmen. Das war und bleibt originäres Planungsrecht der
Kommunen.
Die BImA durch eine strukturelle und personelle Veränderung optimieren zu wollen, um städtebauliche und
regionalpolitische Aspekte stärker zu gewichten, heißt
zum einen, mit der geleisteten Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zufrieden zu sein, und zum
anderen, ihnen nicht zuzutrauen, weitere Aspekte zusätzlich berücksichtigen zu können. Übersetzt bedeutet
das, zusätzliche Stellen in der BImA - im öffentlichen
Dienst - schaffen zu wollen. Die schwarz-gelbe Koalition stellt sich hinter die Leistung der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der BImA und lehnt strukturelle wie
personelle Veränderungen im Sinne der Antragsteller
klar ab.
Die Ablehnung der Umsetzungsforderungen dieser
Vorschläge heißt aber nicht, dass die schwarz-gelbe
Koalition jegliche Mitverantwortung bei der Konversion
zur städtebaulichen und regionalen Entwicklung ablehnt. Im Gegenteil: Bereits im Februar 2012 hatte auf
Vorschlag der schwarz-gelben Koalition die BImA für
ein kooperatives Zusammenwirken aller Beteiligten zu
einer Konversionskonferenz eingeladen. Diese neue
Form einer kooperativen Zusammenarbeit aller Beteiligten gilt es zu intensivieren und fortzusetzen.
Am 21. März 2012 hat der Haushaltsausschuss mit
Mehrheit der schwarz-gelben Koalition beschlossen,
dass bei Veräußerungen von Konversionsliegenschaften
an Gebietskörperschaft bzw. juristischen Personen des
Privatrechts, die im Mehrheitsbesitz einer Gebietskörperschaft sind, eine Veräußerung einer Liegenschaft mit
einem durch ein Sachverständigengutachten ermittelten
Verkehrswert ohne Bieterverfahren möglich ist. Den
Kommunen wurde dadurch ein Erstzugriffsrecht eingeräumt. Weitergehende Preiszugeständnisse kämen tendenziell finanzstarken Kommunen zugute und würden
diese ohne Bedarf subventionieren. Finanzschwache
Kommunen hätten einen eklatanten Wettbewerbsnachteil. Ob durch weitere Preisnachlässe überhaupt positive
kommunale Effekte erzielt werden könnten, ist anzuzweifeln. Denn die unter Wert durchgeführte Abgabe von
Bundesliegenschaften in den 90er-Jahren hat den Bund
zwar 2,27 Milliarden Euro gekostet; deren Wirksamkeit
konnte nicht nachgewiesen werden. Deshalb und aus
Gründen der Haushaltskonsolidierung lehnt die
schwarz-gelbe Koalition solche effekthascherischen
Forderungen strikt ab.
Des Weiteren fördert die schwarz-gelbe Koalition den
Strukturwandel durch die Zurverfügungstellung von
Mitteln im Rahmen der bestehenden Förderprogramme,
wie zum Beispiel der Städteförderung und der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, GRW. Daneben kommen zur Flankierung auch Fördermittel des Europäischen Fonds für
regionale Entwicklung, EFRE, oder des Europäischen
Sozialfonds, EFS, in Betracht.
Ziele der Konversion sind nach wie vor, in einem fairen Umgang miteinander den Kommunen neue Chancen
für ihre weitere Entwicklung zu bieten und den berechtigten Interessen des Bundes durch einen klaren Gesetzesauftrag für die BImA nachzukommen. Der Antrag
entspricht nicht diesen Zielintentionen und wird deshalb
von der FDP abgelehnt.
Der Abzug der Bundeswehr ist kein Grund für Weltuntergangsstimmung. Es ist im Gegenteil begrüßenswert, dass nun ehemals militärisch genutzte Gebäude
und Flächen für eine zivile Nutzung zur Verfügung stehen. Am 12. Juni hat die Bundeswehr ihre Realisierungsplanung für den Abzug und leider auch den Ausbau einiger Standorte bekannt geben. Aus 32 Standorten
wird die Bundeswehr komplett abziehen und etwa 90
Zu Protokoll gegebene Reden
werden deutlich verkleinert. Für die betroffenen Regionen wird dies teils grundlegende Veränderungen in
Gang setzen. Da in den letzten 20 Jahren im Osten und
Westen des Landes bereits Hunderte von ehemaligen Militärstandorten aufgelöst wurden, existiert zwischenzeitlich ein großer Erfahrungsschatz über Chancen und Risiken der zivilen Konversion. Insgesamt waren jedoch
die bisherigen Erfahrungen sowohl in städtischen Ballungsräumen als auch in strukturschwachen ländlichen
Gebieten so gut, dass auch die nächste Welle der Konversion mit Optimismus in Angriff genommen werden
kann. Mittelfristig und teils sogar bereits kurzfristig entstanden mehr und besser qualifizierte Arbeitsplätze in
der Region und die Steuereinnahmen stiegen. Dieser
Prozess des zivilen Neuanfangs lief dort besonders gut,
wo er unter Beteiligung der Bevölkerung und nicht
durch einzelne Investoren durchgeführt wurde.
Der positive Effekt der Bundeswehr auf die regionale
Ökonomie wird regelmäßig überschätzt, denn die Bundeswehr zahlt im Gegensatz zu Gewerbebetrieben keine
Steuern und ist im Gegensatz zu früher kaum noch mit
der regionalen Wirtschaft verflochten. Die Verpflegung
der Soldatinnen und Soldaten wird größtenteils zentral
über das Verpflegungsamt in Oldenburg organisiert, und
größere Infrastrukturarbeiten und Reparaturen werden
ebenfalls seit einigen Jahren zentral durch die „Territoriale Wehrverwaltung“ organisiert, sodass für das lokale Handwerk kaum positive Impulse gesetzt werden.
Für die Linke ist es klar, dass wir die Motivation der
Bundeswehr für diese Neuordnung ihrer Liegenschaften
ablehnen. Der Bundeswehr geht es allein darum, ihre
gesamte Struktur an kriegerischen Auslandseinsätzen
auszurichten. Deswegen baut die Bundeswehr jetzt das
Personal und die Infrastruktur ab, die für weltweite
Kriege und Besatzungen nicht mehr nötig sind. Doch
auch wenn wir diese Ziele klar ablehnen, sehen wir doch
eine Chance darin, frühere Militärliegenschaften zukünftig zivil zu nutzen und so zu zeigen, dass eine zivile
Zukunft definitiv attraktiver ist als Militär. Besonders
wichtig wird es sein, dass über die bisher bekannten
Orte hinaus, militärische Übungs- und Schießplätze in
großem Umfang dem Militär entzogen werden. Die
Linke setzt sich dafür ein, dass die Gewinne aus dem
Verkauf der Liegenschaften zukünftig nicht mehr in den
Militärhaushalt fließen. Stattdessen brauchen Kommunen auch aus Bundesmitteln Startkapital, um solide und
demokratische Planungsprozesse durchführen zu können und gegebenenfalls dringend benötigte öffentliche
Infrastruktur, wie Sportstätten oder Pflegeeinrichtungen, finanzieren oder auch die Renaturierung von Flächen in Angriff nehmen zu können.
Die Linke unterstützt deswegen die Forderung des
Deutschen Städte- und Gemeindebunds nach Einrichtung beziehungsweise Aufstockung von Förderprogrammen für die Kommunen. Der Bund darf sich dabei nicht
aus der Verantwortung stehlen. Zudem teilen wir die
Auffassung der kommunalen Spitzenverbände, dass es
volkswirtschaftlich sinnvoll sein kann, bei dem Verkauf
der Bundeswehrliegenschaften nicht auf kurzfristige Gewinnmaximierung zu setzen. Schließlich handelt es sich
bei den Bundeswehrstandorten um öffentliches Eigentum. Die zukünftige Nutzung darf, so sie sich an den Bedürfnissen der Menschen in der Region orientiert, nicht
daran scheitern, dass sich die Kommunen den Kauf dieser Flächen nicht leisten können.
Wir haben bereits am 26. April 2012 über die Konver-
sion militärisch genutzter Liegenschaften in Deutsch-
land debattiert. Der Auslöser für die Anträge und
Debatte war, dass am 26. Oktober 2011 das Bundes-
ministerium für Verteidigung die Schließung von
31 Standorten der Bundeswehr angekündigt hatte. Auf-
grund der vorherigen Stationierungsentscheidung ste-
hen immer noch 13 weitere Standorte zur Schließung an.
Hinzu kommen der Abzug und die Verkleinerung von bri-
tischen und US-amerikanischen Streitkräften und deren
Standorten in Deutschland. Die britischen Streitkräfte
sind derzeit noch an circa 17 und die der USA an
23 Standorten in Deutschland vertreten.
Nun hat die SPD erneut einen Antrag zu dem The-
menkomplex Konversion und Bundesanstalt für Immobi-
lienaufgaben mit dem Titel „Neuausrichtung der Bun-
desanstalt für Immobilienaufgaben“ eingebracht.
Gefordert werden richtigerweise Änderungen in den
§§ 1 und 4 des BImA-Gesetzes.
Richtig ist diese Forderung, da die Konversion dieser
Liegenschaften die betroffenen Kommunen in den
nächsten 10 bis 15 Jahren vor große Zukunftsaufgaben
stellt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Veräußerung
dieser Liegenschaften durch die Bundesanstalt für Im-
mobilienaufgaben als Eigentümerin ausschließlich zum
vollen Wert erfolgt und die Gewinne folglich in Form
von Verwaltungseinnahmen in den Bundeshaushalt flie-
ßen. Seit 2008 lagen diese Einnahmen bei 600 000 Euro
in 2008, 1,3 Milliarden Euro in 2011, und für 2012 wird
mit Einnahmen in Höhe von 2,2 Milliarden Euro gerech-
net.
Obwohl die Zuführung einer neuen Nutzung der Lie-
genschaften die betroffenen Bundesländer und Kommu-
nen vor sehr unterschiedliche Herausforderungen stellt,
hat der Bund bis heute kein zukunftsweisendes Konzept
zur Nachnutzung der militärischen Liegenschaften von
Bundeswehr und alliierten Streitkräften vorgelegt. Aus
mehr und mehr betroffenen Bundesländern wird - par-
teiübergreifend - die Forderung laut, der BImA mehr
Freiräume bei der Preisgestaltung zu geben.
Die BImA verfügt über eine große Bandbreite und
eine große Anzahl von Bundesliegenschaften. Die Art ih-
rer Nutzung ist schon wegen ihres Umfangs und der Zu-
griffsmöglichkeit der öffentlichen Hand von erheblicher
Bedeutung für Städtebau und Regionalentwicklung, ins-
besondere in vom Strukturwandel stark betroffenen Ge-
bieten.
Wir haben bereits in unserem Antrag gefordert, dass
die öffentliche Hand bezüglich ihrer Liegenschaftspoli-
tik, der Verwertung ihrer Grundstücke und Gebäude
eine Vorbildfunktion einnehmen sollte. Besonders die
Zielsetzungen des Städtebaus, der Regionalentwicklung,
des Umwelt- und Klimaschutzes sollten hier stärker be-
Zu Protokoll gegebene Reden
rücksichtigt werden. Wir waren daher von Anfang der
Debatte der Auffassung, dass § 1 des BImA-Gesetzes
durch eine Öffnungsklausel ergänzt werden muss. Dies
sollte dahin gehend erfolgen, dass eine Berücksichti-
gung strukturpolitischer, darunter auch städtebaulicher
und wohnungspolitischer Ziele des Bundes, der Länder
und der Kommunen möglich sein muss.
Weiterhin haben wir in unserem Antrag gefordert, das
Know-how in den Bereichen energetische Gebäudesa-
nierung, warmmietenneutrale Sanierung, Einsatz ökolo-
gischer Baustoffe, Energieeffizienz und erneuerbare
Energien innerhalb der Abteilung Facility Management
der BImA auszubauen und eine bessere Vernetzung mit
den Bundesämtern wie dem Bundesinstitut für Bau-,
Stadt- und Raumforschung und dem Umweltbundesamt
zu prüfen. In ihrem Antrag greift die SPD-Bundestags-
fraktion nun unsere Forderungen auf. Dies begrüßen
meine Fraktion und ich ausdrücklich, besonders da alle
Oppositionsfraktionen unserem Antrag im Ausschuss für
Verkehr, Bau, Stadtentwicklung gefolgt sind.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9930 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist allerdings
strittig. CDU/CSU und FDP wünschen Federführung
beim Haushaltsausschuss, die Fraktion der SPD beim
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich lasse zunächst über den SPD-Vorschlag abstim-
men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag:
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung? - Wer stimmt dage-
gen? - Die Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag
ist abgelehnt bei Zustimmung durch SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Die übrigen Fraktionen waren dage-
gen.
Ich lasse abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der CDU/CSU und FDP: Haushaltsausschuss.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthal-
tungen? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und
Linke. SPD und Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Volker Beck
({1}), Tom Koenigs, Josef Philip Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Tom
Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Situation von Roma in der Europäischen
Union und in den ({3}) EU-Beitrittskandidatenstaaten
- Drucksachen 17/8868, 17/5536, 17/7131,
17/9915 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Angelika Graf ({4})
Annette Groth
Volker Beck ({5})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu
dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Tom Koenigs, Volker Beck ({7}), Josef Philip
Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung
der Antwort der Bundesregierung auf die Große
Anfrage der Abgeordneten Volker Beck ({8}),
Tom Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Zur Situation von Roma in der Europäischen
Union und in den ({9}) EU-Beitrittskandidatenstaaten
- Drucksachen 17/8869, 17/5536, 17/7131,
17/9723 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Gabriele Fograscher
Serkan Tören
Josef Philip Winkler
Die Reden werden zu Protokoll gegeben.
Die Situation der Roma in der Europäischen Union
wurde ausführlich in der Beantwortung auch der Großen Anfrage, Bundestagsdrucksache 17/5536, beleuchtet. Um Wiederholungen zu vermeiden, werde ich daher
nicht auf alle aufgeworfenen Punkte nochmals eingehen.
Die Entschließungsanträge sollen zu einer Verbesserung
der Lebensbedingungen für Roma, Ashkali und Kosovoägypter in Deutschland und in der Europäischen Union
führen.
I. Um dies zu erreichen, soll die Bundesregierung
aufgefordert werden, sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebung von Roma,
Ashkali und Kosovoägyptern aus dem Kosovo einzusetzen, und die Regierungen anderer EU-Mitgliedstaaten
auffordern, ebenso zu verfahren und Roma, Ashkali und
Kosovoägyptern eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu gewähren. Argumentiert wird, dass
Kindeswohl und humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung sprächen. Diese Forderungen sind abzulehnen. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen der
Roma würde nicht durch eine Aussetzung der Abschiebung erreicht. Im Gegenteil würden Menschen weiter in
einem Schwebezustand in einem Land gehalten, das
nicht ihre Heimat ist, während der Aufbau ihrer Heimat
ohne sie vollzogen werden soll.
Erstens. Situation der Rückkehrer. Ich unterschätze
nicht, dass eine Rückkehr in den Kosovo schwer ist. Es
ist jedoch zu beachten, dass die Herausforderungen, die
der Wiederaufbau des Kosovo mit sich bringt, nicht nur
die Roma, sondern alle Flüchtlinge aus dem Kosovo
betreffen. Es wurden daher bereits Bemühungen unternommen, um allen Rückkehrern gleichermaßen zu helfen. Zur Unterstützung vor Ort wurden eine Reihe von
Hilfsmaßnahmen wie zum Beispiel das Projekt URA 2
ins Leben gerufen. URA 2 wird rein national gefördert.
Ziel des Vorhabens ist es, zurückkehrenden Personen die
Reintegration im Kosovo zu erleichtern und das Rückkehrmanagement insgesamt weiter zu verbessern. Es
bietet Maßnahmen zur Integration, Betreuung und Unterstützung für kosovarische Rückkehrer. Es nicht sinnvoll, allen Rückkehrern vor Ort Unterstützung anzubieten und zugleich die Rückkehr der Roma und damit auch
ihre Integration in ihr Heimatland auf unbestimmte Zeit
zu verzögern. Es stärkt die Position der Roma nicht,
wenn ihnen Anreize gegeben werden, zu dem Zeitpunkt
in Deutschland zu verbleiben, in dem die Rückkehr in
die Heimat durch Unterstützungsleistungen erleichtert
würde.
Eine Verzögerung des Neuanfangs in der Heimat behindert auch das Zusammenwachsen der Minderheiten
der Bevölkerung. Soll die Abschiebung so lange hinausgezögert werden, bis der Wiederaufbau des Kosovo ohne
die Minderheiten vollzogen wurde? In diesem Fall
würde den Roma, Ashkali und Kosovoägyptern die Gelegenheit genommen, einen Platz in der Gesellschaft zu
finden. Der Vorwurf, die Menschen würden ins Nichts
abgeschoben, setzt auch die Bemühungen der kosovarische Regierung Rückkehrerfamilien zu unterstützen, herab. Diese hat einen Reintegrationsfond aufgelegt und
mit 3,4 Millionen Euro ausgestattet. Die Bürgermeister
und Schuldirektoren wurden angewiesen, Rückkehrerfamilien zu unterstützen. Es ist vermessen und naiv zu
glauben, dass ein Land im Wiederaufbau sofort optimale
Verhältnisse für jeden Einwohner schaffen könne. Die
Bemühungen der kosovarischen Regierung tragen jedoch bereits Früchte und dürfen nicht negiert werden.
Das Wohl der Kinder wird auch im Kosovo geschützt.
Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes als internationales Menschenrechtsabkommen gilt gemäß
Art. 22 der Verfassung der Republik Kosovo unmittelbar
und genießt Anwendungsvorrang.
Ein Zugang zur Bildung ist auch für Roma möglich
und wird unter anderem mit kostenlosen Schulbüchern
unterstützt. Um Eltern zur Anmeldung ihrer Kinder zu
motivieren, werden Aufklärungskampagnen durchgeführt. Nach einer Untersuchung der Kosovo Foundation
for Open Society aus dem Jahr 2009 besuchen 82,1 Prozent der Kinder aus den genannten Gemeinschaften regelmäßig eine Schule.
Auch werden Anstrengungen zum Schutz von Minderheiten unternommen. Die Verfassung des Kosovo enthält
in Art. 58 die Verpflichtung, Minderheitenidentitäten
aktiv zu erhalten und zu schützen. Aus dieser Verpflichtung heraus tritt die kosovarische Regierung zum Beispiel mit der „Regierungsstrategie für die Integration
der Gemeinschaften der Roma, Ashkali und Ägypter in
die Republik Kosovo 2009 bis 2015“ aktiv für Toleranz
und Schutz dieser Minderheiten ein.
Zweitens, bereits bestehende Bleiberechte. Die Abschiebungen ohne weitere Prüfung im Einzelfall auszusetzen, ist, wie bereits ausgeführt, nicht immer im besten
Interesse der Betroffenen und somit auch nicht wie behauptet human. Für den Erlass der Abschiebungsandrohung und für die Durchführung der Abschiebung sind
grundsätzlich die Bundesländer zuständig. Diese sehen
von einer Abschiebung ab, wenn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bestünde. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verkennt, dass bereits
Einzelfallentscheidungen zur Legalisierung des Aufenthaltes in Deutschland möglich sind. Daher sind Ausnahmeregelungen für alle Roma, Ashkali und Kosovoägyptern nicht zielführend und auch nicht notwendig, da in
berechtigten Einzelfällen Handlungsspielraum durch
das Aufenthaltsgesetz eröffnet ist. In § 25 Abs. 4 Satz 1
AufenthG wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
für einen vorübergehenden Aufenthalt aus dringenden
humanitären oder persönlichen Gründen oder erheblichen öffentlichen Interessen ermöglicht. Mit der Einfügung von § 25 a in das Aufenthaltsgesetz wurde eine
stichtagsfreie Bleiberechtsregelung für in Deutschland
aufgewachsene und gut integrierten Jugendliche und
Heranwachsenden geschaffen. Auch die Sinti- und
Romaverbände in Deutschland sind der Ansicht, dass es
keine spezifische Regelung für Roma geben sollte.
II. Des Weiteren fordert die Fraktion Bündnis 90/Die
Grüne unter anderem die Ausarbeitung einer nationalen
Romastrategie, die Verbesserung der Bildungssituation
der Sinti und Roma, die Erhebung von Zahlen über die
in Deutschland lebenden Sinti und Roma und die Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma voranzutreiben. Auch dieser
Entschließungsantrag ist abzulehnen. Die Umsetzung
der EU-Vorgaben zur Integration der Roma wurde bereits begonnen. Es wurden integrierte Pakete mit politischen Maßnahmen im Rahmen ihrer breiter angelegten
Politik der sozialen Einbeziehung ausgearbeitet. Eine
nationale Strategie speziell für Sinti und Roma ist nicht
erforderlich, da die nach Schätzungen circa 70 000
deutschen Sinti und Roma sich selbst als gut integriert in
die Gesellschaft sehen. Dies ergibt sich auch aus dem
Ende 2011 der EU-Kommission übermittelten Bericht
der Bundesrepublik Deutschland „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 Integrierte Maßnahmenpakete zur Integration und Teilhabe der Sinti und Roma in Deutschland“. Deutschland
setzt sich bereits entschlossen für mehr Bildungsbeteiligung und Chancengleichheit insbesondere für benachteiligte Gruppen ein. Dies zeigt sich unter anderem auch
in die vermehrte Investition in frühkindliche Bildung.
Zusätzlich fördern verschiedene Maßnahmen des Bundes und der Länder den Zugang der Sinti und Roma zu
Bildung.
Der Zugang zu Beschäftigung ist eröffnet, da die Inanspruchnahme von Instrumenten zur Arbeitsförderung
in Deutschland unabhängig von Staatsangehörigkeit
und ethnischer Zugehörigkeit ist. Die speziellen FörderZu Protokoll gegebene Reden
maßnahmen der Länder sind problemorientiert und an
die regional unterschiedlichen Integrations- und Unterstützungsbedürfnisse auch von Minderheiten angepasst.
Bereits in der Beantwortung der Großen Anfrage wurde
erschöpfend erläutert, dass in der Bundesrepublik
Deutschland statistische Angaben nicht auf ethnischer
Basis erhoben werden, weswegen auch die geforderten
validen Zahlen über die in Deutschland lebenden Sinti
und Roma nicht zu erheben sind. Zwar können statistische Daten dazu beitragen, Diskriminierungen zu belegen, allerdings besteht dabei die Gefahr, bereits in der
Datenerhebung durch die Kategorienbildung zu einer
Homogenisierung oder gar einer Stigmatisierung von
Menschengruppen beizutragen. Aus den historischen
Erfahrungen in Deutschland im Zusammenhang mit der
Verfolgung von Minderheiten und dem systematischen
Datenmissbrauch wird deshalb zu Recht auf Erhebungen auf ethnischer Basis verzichtet.
Abschließend kann ich Ihnen mitteilen, dass die feierliche Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma für den 25. Oktober
geplant ist, sodass auch hier keine Notwendigkeit der in
dem Entschließungsantrag geforderten Maßnahmen ist.
Die Entschließungsanträge sind abzulehnen.
Eine Mitteilung der Europäischen Kommission vor
drei Wochen über die Umsetzung der Forderung nach einem nationalen Aktionsplan zur Integration der Sinti
und Roma hat mich mit Bitterkeit erfüllt, wenn auch
nicht wirklich überrascht. Der Bericht hat deutlich gemacht: Die Bundesregierung zeigt noch nicht einmal
den politischen Willen, die Situation der Roma in
Deutschland gezielt zu verbessern, ganz zu schweigen
von politischen Aktionen. Die Romabevölkerung ist die
größte ethnische Minderheit in Europa. Und sie lebt bei
uns und in anderen EU-Ländern unter zum Teil sehr problematischen Umständen. Die Kommission hat das Ziel
vorgegeben, „das Leben der Romabevölkerung spürbar
zu verändern“. Sie erkennt auch an, dass Gesetze allein
nicht ausreichen. Jeder Mitgliedstaat sollte deshalb nationale Ansätze ergänzend einsetzen.
Was passiert bei uns? Die Bundesregierung hat die
von der EU geforderte „Strategie“ zur Integration der
Roma vorgelegt. „Allgemeine Hilfen“ in den Kernbereichen Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Wohnen
bietet sie den Roma in Deutschland an. Damit trifft sie
jedoch im Durchschnitt gerade einmal ein Viertel der
von der EU-Kommission empfohlenen Maßnahmen.
Zum Beispiel im Bereich Bildung - unumstritten derjenige Bereich, der allgemein als Schlüssel für eine nachhaltige Integration angesehen wird. Eine breit angelegte
Studie Ende 2011 zur Bildungssituation deutscher Sinti
und Roma fand heraus, dass 9,4 Prozent der heute 14bis 25-Jährigen noch nie eine Grundschule besucht haben, mehr als 40 Prozent der Erwachsenen keinen Abschluss besitzen und lediglich 18,8 Prozent eine Ausbildung haben. Nennt man das eine erfolgreiche
Integration? Ich denke nicht.
Und was unternimmt die Bundesregierung? Sie
möchte das allgemeine Ziel - nämlich ganz einfach die
Verbesserung des Bildungsstandards - unterstützen.
Doch von sieben zusätzlich vorgeschlagenen Maßnahmen hat die Bundesregierung vor, lediglich eine umzusetzen. Eine Steigerung der Zahl von Hochschulstudenten unter der Romabevölkerung oder Maßnahmen, um
Segregation im Schulalltag zu verhindern, hält sie zum
Beispiel nicht für nötig. Ganz anders zum Beispiel Spanien. Trotz Krise plant die Regierung, zusätzlich zu allen
sowieso schon geforderten Maßnahmen ein ergänzendes
Mediationsprogramm einzuführen. Es soll Schulabbrüche und Fehlzeiten verringern.
Bei dem Maßnahmenkatalog, der die Erwerbsbeteiligung der Roma steigern soll, zeichnet sich in Deutschland ein ähnliches Bild wie bei der Bildung: Die Bundesregierung unterstützt das allgemeine Ziel und noch
eine weitere Maßnahme. Die vier weiteren fallen unter
den Tisch.
Gleiches Szenario bei der Gesundheitsfürsorge: Das
allgemeine Ziel, die Gesundheitsfürsorge zu verbessern
wird - natürlich - unterstützt. Eine von fünf weiteren geforderten Maßnahmen wird darüber hinaus avisiert.
Kein Wort darüber, dass besonders für Romafrauen und
-kinder ein hochwertiger Zugang zu Gesundheit sichergestellt werden muss, oder darüber, das Gesundheitspersonal für den Umgang mit Menschen mit anderem
soziokulturellem Hintergrund zu schulen. Gerade von
Letzterem würde nicht nur die Romabevölkerung profitieren.
Das gleiche Bild im vierten Kernbereich - Verbesserung der Wohnsituation. Hier sieht die Bundesregierung
vor, drei von fünf speziellen Maßnahmen zu implementieren. Doch diejenigen Maßnahmen, die im Besonderen
für die Romabevölkerung zugeschnitten sind - zum Beispiel die Berücksichtigung der Bedürfnisse der nichtsesshaften Bevölkerung oder einen integrierten Ansatz
zu verfolgen - schließt sie aus. Auch hier: Gerade letztere Maßnahme käme nicht nur der Romabevölkerung
zugute, sondern würde eine Integration aller Minderheiten und marginalisierten Gruppen in Deutschland fördern. Dies ist gerade bei der Verteilung und Nutzung des
Wohnraums in Städten - ich denke hier zum Beispiel an
die Harzer Straße in Berlin-Neukölln - entscheidend,
um die Bildung von Problemvierteln zu vermeiden.
Andere Länder machen das anders: Viele andere
Staaten der EU wie Frankreich, Österreich oder Slowenien bieten spezielle Hilfsangebote an. Peinlich, dass
unsere Bundesregierung die Notwendigkeit nicht erkennt. Vielleicht haben ja die anderen einfach erkannt,
dass letztlich präventive Maßnahmen immer billiger
sind als Hilfe, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Bei der Twiggy-haften Magerkeit der Strategie
wundert es auch nicht, dass die Bundesregierung weder
eine Evaluierung ihrer nationalen Strategie noch die Zuweisung von Haushaltsmitteln plant.
Nun sollte es, glaube ich, jeder verstanden haben:
Die Bundesregierung hat kein Interesse an der Romabevölkerung und ihrer Lebenssituation bei uns in Deutschland. Das lässt nur zwei mögliche Schlüsse zu: Entweder
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
will sie sich mit dem Thema nicht beschäftigen und hofft,
dass die ungeliebte Bevölkerungsgruppe nicht hier
bleibt bzw. bald abgeschoben werden kann. Oder sie ist
der Meinung, die Romabevölkerung lebe glücklich, superintegriert und völlig diskriminierungsfrei in Deutschland. Und weil Nichtwissen für beide der oben angeführten Alternativen eine gute Ausrede ist, hat die
Bundesregierung es nicht für nötig befunden, Daten zu
erheben, um die Lage der Roma in Deutschland zu erfassen. Dies geht aus den Antworten der Bundesregierung
auf die Große Anfrage, die die Grundlage für den heutigen Antrag der Grünen war, sehr klar hervor. Es gibt
keinerlei statistische Angaben über die Lebenssituation
der Roma. Ohne diese grundlegende Basis ist es natürlich schwer, zum Beispiel die Schwerpunkte der nötigen
Fördermaßnahmen festzulegen. Das muss man schon
verstehen.
Dabei gibt es Probleme zuhauf. Da geht es nicht nur
um materielle Not der Romabevölkerung, sondern auch
um den um sich greifenden Antiziganismus. Die SPDFraktion hat in ihrem Antrag im letzten Jahr deutlich auf
die Hauptprobleme der Romabevölkerung in Deutschland und Europa hingewiesen und die Bundesregierung
schon damals dazu aufgefordert, die Romabevölkerung
zu schützen, zu unterstützen und zu stärken. Die Probleme sind offensichtlich. Aber anscheinend ist die Bundesregierung auf diesem Auge blind. Dabei muss man
nur einmal in die Presse oder auf die Geschehnisse der
vergangenen Monate blicken. Rufen wir uns die Ermittlungen im Fall der ermordeten Heilbronner Polizistin in
Erinnerung. Die Polizei hatte Sinti und Roma unter Verdacht, weil Angehörige dieser Volksgruppe in der Nähe
des Tatorts gesehen worden waren. Dass aber die Medien den falschen Verdacht sozusagen eigenverantwortlich in die Welt gesetzt haben, wie zunächst behauptet
wurde, stimmt nicht. „Die heißeste Spur führe ins Zigeunermilieu“, so zitierte etwa der „Stern“ damals einen
anonymen Ermittler. Auch eine Heilbronner Staatsanwältin äußerte sich ähnlich. Zahlreiche Sinti und Roma
wurden im Rahmen der Ermittlungen befragt. In einzelnen Fällen wurden sogar Telefone überwacht, Mikrofone in Autos eingebaut und Handyfunkzellen ausgewertet. Wir wissen heute: Für den Mord ist die NSU
verantwortlich. Ein deutlicher Fall von Antiziganismus.
Den gibt es aber nicht nur in dieser eher subtilen Form.
Er existiert auch in einer aggressiven Variante wie beim
Cover der Schweizer Zeitung „Die Weltwoche“ Anfang
April: „Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz“
titelte das Blatt. Abgebildet war ein kleiner Junge mit
dunkler Haut, dunklen Augen, dunklen Haaren und einer
Pistole in der Hand, gerichtet auf den Betrachter. Der
Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland hat Anzeige gegen die Zeitung erstattet. Aber seine Wirkung
hat das Cover bereits gezeigt und ein Ressentiment weiter angetrieben, das auch in der deutschen Bevölkerung
immer noch vorhanden ist. Das Allensbacher-Institut
analysierte, dass 68 Prozent aller Deutschen es ablehnen, neben einer Zigeunerfamilie zu wohnen. Trotz Zigeunerbraten, Zigeunersoße und Zigeunerbaron! Und
wird irgendwo ein Fahrrad geklaut, war’s bestimmt die
Romafamilie im Hinterhaus.
Abschließend möchte ich noch einige Worte zum
Denkmal verlieren. Der hier diskutierte Antrag fordert
die Bundesregierung dazu auf, sich dafür einzusetzen,
den Bau zügig abzuschließen. Dies unterstützen wir
nachhaltig. Der heutige Antiziganismus hat seine Wurzeln auch in der deutschen Geschichte des vergangenen
Jahrhunderts. Das Schicksal der Sinti und Roma ist untrennbar mit den Erfahrungen im Dritten Reich verbunden. Lange hat die Bundesrepublik gebraucht, bis sie
den Sinti und Roma das zugestand, was für die Juden
von Anfang an galt: nämlich, dass sie während der NSZeit aufgrund ihrer Rasse verfolgt wurden. Erst 1982
sprach Helmut Schmidt ihnen den Opferstatus zu. Im
Herbst nun soll das daran erinnernde Denkmal endlich
fertiggestellt werden. Hoffentlich - fast 60 Jahre nach
Kriegsende.
Viele der rund 10 bis 12 Millionen in Europa lebenden Roma sind tagtäglich mit Vorurteilen, Intoleranz,
Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung konfrontiert.
Sie leben häufig als Randgruppe unter äußerst prekären
sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Dies ist in
der Europäischen Union nicht hinnehmbar. Ein besonderes Augenmerk müssen wir dabei auf die Situation der
Roma in Südosteuropa legen, wo sie vor allem in Rumänien, Ungarn und Bulgarien leben. Die Lebenssituation
der Angehörigen dieser ethnischen Minderheit stellt sich
auch in manchen Regionen des westlichen Balkans problematisch dar. Aber auch in Deutschland werden Roma
diskriminiert. Nach einer Umfrage des Zentralrats
Deutscher Sinti und Roma haben 76 Prozent der Roma
in Deutschland Diskriminierung erfahren, beispielsweise bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der
Schule und bei der Ausbildung. Dabei findet Diskriminierung nicht auf Grundlage staatlicher Rechtsordnungen statt, sondern geschieht im gesellschaftlichen Alltag. Sie führt zu sozialer, kultureller und wirtschaftlicher
Ausgrenzung und Stigmatisierung. Roma sind europaweit in öffentlichen oder politischen Ämtern unterrepräsentiert. Zum Teil sind sie mit offener, fremdenfeindlicher Gewalt konfrontiert.
Der FDP-Fraktion ist außerdem daran gelegen, auf
ein Problem hinzuweisen, mit dem Angehörige der Roma
besonders konfrontiert werden: Überdurchschnittlich
häufig werden sie Opfer von Menschenhandel. So sind in
einigen EU-Staaten bis zu 80 Prozent der Opfer von
Menschenhandel Roma. Besonders betroffen sind sie dabei von verschiedenen Formen sexueller Ausbeutung
und Zwangsarbeit. Die Ursache hierfür ist häufig in der
Armut dieser Bevölkerungsgruppe zu finden, gepaart
mit Perspektivlosigkeit und einem eingeschränkten Zugang zu rechtsstaatlichen Mitteln. In unserem Koalitionsantrag zur Situation der Roma in der EU haben wir
daher die Bundesregierung aufgefordert, auch in Zukunft bei der Bekämpfung des Menschenhandels verstärkt auf die Situation der Roma zu achten.
Die FDP-Fraktion begrüßt, dass die christlich-liberale Bundesregierung die EU-Vorgaben zur Integration
der Roma in Deutschland bereits umsetzt und dabei
auch die besondere historische Verantwortung gegenZu Protokoll gegebene Reden
über den Roma berücksichtigt. Auch europaweit engagiert sich die Bundesregierung für die Verbesserung ihrer Situation. Dabei setzt die Bundesregierung den
Schwerpunkt ihres Engagements bewusst auf einen multilateralen Ansatz im Rahmen der europäischen Institutionen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass nur
mittels gemeinsamer Anstrengungen der europäischen
Länder eine effektive Integrationsförderung für die
Roma gelingen kann. An dieser Stelle möchte ich die
Bundesregierung auffordern, weiter an diesem vielversprechenden Ansatz festzuhalten.
In den Ländern des westlichen Balkans fördert
Deutschland aktiv sowohl in internationalen Foren wie
der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa und des Europarates als auch durch verschiedene bilaterale Projekte die Integration der Roma. So
förderte das Auswärtige Amt in den letzten Jahren zahlreiche Projekte zur Unterstützung der Roma im Rahmen
des Stabilitätspaktes sowie im Rahmen seiner Menschenrechtsprojektfinanzierung. Das Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
unterstützt seit 2007 den Roma Education Fund, REF,
der von der Weltbank gemanagt wird und dessen Aufgabe die Verbesserung des Bildungsniveaus der Sinti
und Roma auf dem gesamten Balkan ist. Deutschland ist
einer der größten bilateralen Geber des Fonds.
Im Hinblick auf Ihren Entschließungsantrag, liebe
Kolleginnen und Kollegen der Grünen, möchte ich Ihnen
in einem speziellen Punkt vehement wiedersprechen. Auf
Seite 2 unterstellen Sie der Bundesregierung, die Tatsache, dass die ethnische Zugehörigkeit kein statistisches
Erhebungskriterium sei, diene nur dem Bestreiten der
offensichtlichen Missstände, was die Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Gesundheits- und Wohnraumsituation der Roma
in Deutschland angeht. Allerdings ist zu betonen, dass
die Bundesregierung bei ihren Maßnahmen zur Förderung der sozialen und gesellschaftlichen Integration
grundsätzlich nicht nach ethnischen Abstammungen unterscheidet. Fördermaßnahmen stehen allen Zuwanderergruppen offen, sofern diese sich rechtmäßig und auf
Dauer in Deutschland aufhalten. Es steht zu befürchten,
dass die Erhebung der ethnischen Zugehörigkeit eine
Diskriminierung anhand dieses Merkmals fördern
würde. Daher halte ich diesen Grundsatz für richtig und
möchte diesen Vorwurf zurückweisen.
Im Europäischen Parlament wie im Europarat findet
eine intensive Diskussion über die Diskriminierung von
Roma statt. Leider haben diese Diskussionen zu kaum
einer Veränderung der sozialen und ökonomischen Situation der Roma geführt.
In Europa leben 10 bis 12 Millionen Sinti und Roma.
Viele von ihnen sind von Armut und sozialer Ausgrenzung
betroffen. In seiner Erklärung von 20. Oktober 2010 hat
der Europarat eine grundsätzliche Verbesserung der Lebensbedingungen für die Roma gefordert und einen Prioritätenkatalog zur Bekämpfung der Diskriminierung von
Roma aufgestellt. Mit dem Sonderbeauftragten des Europarates zu Fragen der Roma wird auch institutionell versucht, der alltäglichen Diskriminierung der Roma entgegenzutreten.
In der nächsten Sitzungswoche wird der Europarat
voraussichtlich einen Bericht über Roma in Europa verabschieden. Ich bin die zuständige Berichterstatterin
und bemühe mich, einen möglichst breiten Konsens für
eine klare Positionierung des Europarats gegen Antiziganismus zu erreichen.
Von der Antwort der Bundesregierung auf die große
Anfrage zur Situation von Roma bin ich enttäuscht. Sie
zeigt, dass die Bundesregierung keine kohärente Strategie zur Verbesserung der Lage der Roma für Deutschland und die Länder der EU hat.
Roma werden in allen Ländern der EU diskriminiert.
Auch in Deutschland stellt sich die Lage der Roma problematisch dar. Die Umfrage des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma zeigt, dass in Deutschland 76 Prozent der Sinti und Roma Diskriminierung erfahren und
bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der Schule
oder in der Ausbildung Benachteiligungen gegenüber
der Mehrheitsgesellschaft hinnehmen müssen. In der
Studie des Europäischen Parlaments „Measures to promote the situation of Roma EU citizens in the European
Union“ wird darauf hingewiesen, dass in Deutschland
die Lage für Roma in Bezug auf Schul- und Ausbildungsabschlüsse äußerst problematisch ist.
Beispiel Duisburg-Hochfeld: Hier leben Menschen
aus 100 Nationen, davon 1 700 Bulgaren, die zum größten Teil Roma sind. In den regionalen Medien werden
die Roma vor allem als Problem dargestellt. Mit Überschriften wie „Ein Stadtteil bekämpft den Absturz“ oder
„Stadt Duisburg scheint Roma-Problem in Hochfeld nicht
in den Griff zu bekommen“ werden soziale Probleme einseitig auf die Bevölkerungsgruppe der Roma übertragen.
Dabei wird in den Artikeln von Schwarzarbeit, Prostitution, Kriminalität und unwürdigen Wohnverhältnissen
berichtet, jedoch die Ursachen für diese Phänomene
nicht benannt. Vielmehr werden die Roma mit diesen
Verhältnissen als Verursacher in Verbindung gebracht.
Die Roma leben häufig unter schwierigen Bedingungen. Wohnungen sind verschimmelt, die Heizung funktioniert nicht oder es gibt kein Bad. Trotzdem werden diese
Wohnungen für völlig überteuerte Mieten an Roma vermietet, die diese Wohnungen annehmen müssen, da sie
keine anderen Wohnungen bekommen. Hier muss die
Politik endlich handeln. Die Fraktion Die Linke erwartet, dass eine nationale Romastrategie erarbeitet wird,
die konkrete Wege zur Beseitigung der Diskriminierungen aufzeigt.
Beispiel Italien: Nach Schätzung des italienischen Innenministeriums leben etwa 170 000 Roma in Italien.
Das sind 0,2 Prozent der Bevölkerung. In einen Teil der
italienischen Medien werden die Roma als Problem für
Italien diffamiert. Von den Roma in Italien besitzen mehr
als 50 Prozent die italienische Staatsbürgerschaft. Die
anderen Roma kommen überwiegend aus Rumänien,
Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien.
Roma haben auch in Italien keinen Status als anerkannte nationale Minderheit. Meinungsumfragen in ItaZu Protokoll gegebene Reden
lien zeigen, dass Roma bei vielen mit einer negativen Assoziation verbunden werden. In fast allen italienischen
Städten werden Roma an den Rand gedrängt. Nach Aussagen des Menschenrechtsausschusses des italienischen
Senats wohnen sie überwiegend in Camps und müssen
dort unter unmenschlichen Bedingungen leben. Über
40 Prozent der Roma in den Camps haben keinerlei
Schulausbildung. Viele dieser Lager sind ohne Müllentsorgung, Strom- oder Wasserversorgung. Die Lager sind
häufig ohne Genehmigung entstanden und liegen an den
Rändern der großen italienischen Städte, werden aber
von den kommunalen Behörden zum Teil seit 20 Jahren
geduldet.
Seit 2011 werden in Rom die Lager geschlossen und
die dort lebenden Roma umgesiedelt. Amnesty International kritisiert, dass auch die neuen Unterkünfte nicht akzeptabel sind, da sie zum Teil überbelegt sind und
gleichzeitig die Bewohnerinnen und Bewohner überwacht werden. Amnesty fordert, dass Menschen aus der
Romagemeinschaft durch eine solche Maßnahme nicht
stigmatisiert und generell als Kriminelle dargestellt
werden dürfen.
Beispiel Tschechische Republik: In der Tschechischen
Republik wird offen Hetze gegen Roma betrieben. Im
„Schluckenauer Zipfel“ finden seit mehr als einem Jahr
antiziganistische Demonstrationen gegen die dort lebenden Roma statt. Mit Sprechchören wie „Zigeuner ins
Gas“ werden die Roma offen beleidigt und rassistisch
beschimpft.
Die bestehende Bildungssegregation, bei der Romakinder in Lernbehindertenschulen abgeschoben werden,
wurde bereits 2006 vom Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte gerügt und die Tschechische Republik
aufgefordert, diese Ausgrenzung der Romakinder zu beenden.
In einer Untersuchung behauptete das tschechische
Bildungsministerium, dass 75 Prozent aller Romakinder,
die in eine solche Schule gehen, eine Lernbehinderung
aufweisen. Diese Untersuchung wurde von Menschenrechtsorganisationen scharf gerügt, da diese Behauptung falsch ist. Vielmehr brauchen viele der Kinder nur
eine zusätzliche Förderung zur Verbesserung ihrer
Sprach- oder Lesekompetenz, die eine Folge der gesellschaftlichen Ausgrenzung ist. Durch den Einsatz von
speziell geschulten Lehrkräften wäre die Integration der
Romakinder sofort möglich. Der tschechische Staat hat
jedoch bisher lediglich 250 solcher Lehrerstellen geschaffen. Auch die bestehenden Vorurteile in der tschechischen Mehrheitsbevölkerung, die keinen gemeinsamen Unterricht mit Romakindern wollen, führt dazu,
dass sich das Bildungsministerium hier zurückhaltend
verhält.
Einige Anmerkungen zu den beiden Anträgen von
Bündnis 90/Die Grünen: Kritisch anzumerken ist, dass
pauschal eine „Verbesserung der Bildungssituation“
verlangt wird und „Integrationsmaßnahmen“ gefordert
werden. Sinti- und Romaorganisationen legen aber großen Wert darauf, dass Sinti und Roma in Deutschland
und den anderen europäischen Ländern nicht integriert
werden müssen, da sie bereits seit Jahrhunderten Teil
dieser Gesellschaften sind. Staatliche Bemühungen
müssten sich vielmehr auf eine Beendigung der vielfältigen Diskriminierungen konzentrieren und nicht die Integration von Roma fordern.
Positiv ist die Forderung nach einem sofortigen Stopp
der Abschiebungen von Roma in den Kosovo. Die Linke
setzt sich seit langem für einen Stopp der Abschiebungen
und ein großzügiges Bleiberecht für Roma aus dem Kosovo ein. Die Betroffenen brauchen einen sicheren und
dauerhaften Aufenthaltsstatus und keine weiteren Kettenduldungen bis auf Widerruf.
Den Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen können
wir zustimmen, auch wenn wir uns noch klarere Forderungen gewünscht hätten.
Die Lebensbedingungen der Sinti und Roma sind in
vielen Ländern Europas nach wie vor von Diskriminierung, sozialer Benachteiligung und Antiziganismus gekennzeichnet. Sie sind auch in Deutschland eine an den
Rand gedrängte Minderheit. Die Bundesregierung und
andere Akteure zeigen aber gerne mit dem Finger auf
andere Staaten - auf Rumänien, Ungarn oder Bulgarien anstatt erst einmal vor der eigenen Haustür zu kehren.
Sinti und Roma sind in Deutschland von Diskriminierungen nicht ausgenommen. Nach einer Umfrage des
Zentralrates Deutscher Sinti und Roma haben 76 Prozent dieser Minderheit in Deutschland Diskriminierung
erfahren. Die am 24. Mai 2011 veröffentlichte Studie von
Daniel Strauß weist auf die besorgniserregende Bildungssituation von Roma und Sinti in Deutschland hin.
Nur 2,3 Prozent der Befragten haben in Deutschland ein
Gymnasium besucht. In der Gesamtbevölkerung sind es
24,4 Prozent. Es ist schockierend, dass 44 Prozent der
Befragten keinerlei Schulabschluss besitzen. Das Menschenrecht auf Bildung für Sinti und Roma wird in
Deutschland verletzt.
Gesellschaftliche Ausgrenzung besteht auch in den
Bereichen Beschäftigung, Gesundheitsfürsorge und
Wohnraum. Dennoch finden die Menschenrechte der
Roma und Sinti, insbesondere das Diskriminierungsverbot, nicht die notwendige Aufmerksamkeit - weder auf
politischer noch auf wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Ebene. Ein positives Beispiel ist die erst
kürzlich eröffnete Beratungsstelle in Berlin-Neukölln.
Hier werden überwiegend aus Rumänien stammenden
Mietern Sprachkurse angeboten und beim Kontakt mit
Behörden geholfen. Leider ist es ein in Deutschland einmaliges Projekt. Dabei bräuchten wir in Deutschland
viel mehr solcher Initiativen.
Die Bundesregierung beabsichtig zwar, integrierte
Pakete mit politischen Maßnahmen auszuarbeiten, sie
sieht jedoch keinen Bedarf für besondere Integrationsmaßnahmen. Diese Position steht im krassen Widerspruch zu den bestehenden Defiziten und Diskriminierungen in Deutschland und den Empfehlungen des
Europäischen Rates. Die Bundesregierung ist auch aufgrund ihrer besonderen historischen Verantwortung gegenüber dieser Minderheit aufgefordert, eine nationale
Zu Protokoll gegebene Reden
Romastrategie mit zugeschnittenen Integrationsmaßnahmen für Roma und Sinti auszuarbeiten.
Gleichzeitig darf die Bundesregierung keine Roma
mehr in den Kosovo abschieben. Rückführungen in den
Kosovo sind unverantwortlich, da Roma dort keinerlei
Lebensperspektiven und Lebensgrundlagen finden. Dennoch hat die Bundesregierung am 12. April 2010 ein
Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo abgeschlossen.
Dabei ist eine Eingliederung von Minderheiten in den
Kosovo gar nicht möglich, weil es praktisch nichts gibt,
in das die Rückkehrer eingegliedert und integriert werden können. 90 Prozent der Roma im Kosovo sind arbeitslos und können sich keine Existenz aufbauen. Die
kosovarischen Behörden haben schlichtweg nicht die
Kapazitäten 12 000 Angehörige von Minderheiten aufzunehmen und erfolgreich zu integrieren.
Besonders schwierig ist die Lage von rückgeführten
Kindern im Kosovo. Die Bundesregierung bestätigt mit
ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage erneut, dass es
menschenrechtlich nicht vertretbar ist, Roma in den
Kosovo abzuschieben. Fast 5 000 Kinder sind von den
durchgeführten oder geplanten Abschiebungen in den
Kosovo betroffen. Zwei Drittel von ihnen sind hier in
Deutschland geboren. Für sie bedeutet die Rückführung
in den Kosovo eine Abschiebung ins Elend und in die
Fremde. 37 Prozent von ihnen leben mit ihren Familien
in extremer Armut am Rande der Gesellschaft. UNICEF
hat 2010 und 2011 in Untersuchungen dokumentiert,
dass 75 Prozent der aus Deutschland abgeschobenen
Kinder im Kosovo nicht mehr zur Schule gehen. Die
Bundesregierung hat bis heute keine Konsequenzen aus
dieser unvertretbaren Situation gezogen und schiebt
weiterhin Kinder in den Kosovo ab.
Die neueste UNICEF-Studie „Stilles Leid“ von März
2012 zeigt ein erschreckendes Ausmaß psychosozialer
und gesundheitlicher Probleme, denen abgeschobene
Kinder ausgesetzt sind. Die Heranwachsenden beschreiben die Abschiebungen als traumatisches Erlebnis, dass
sie nicht loslässt. Jedes zweite Kind beschreibt seine
Rückkehr in den Kosovo als das schlimmste Erlebnis
seines Lebens. Rund 44 Prozent aller Jugendlichen haben laut der UNICEF-Studie Depressionen. Fast ein
Drittel der Minderjährigen leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Ein Fünftel empfindet sein
Leben als nicht mehr lebenswert. Diese Kinder brauchen medizinische und therapeutische Hilfe. Doch im
Kosovo kommen auf 600 000 Kinder und Jugendliche
gerade einmal sechs ausgebildete Kinderpsychiater und
ein Kinderpsychologe.
Die Verantwortung Deutschlands für diese Kinder
endet nicht an der Grenze. Kein Kind darf zurückgeführt
werden, wenn es gesundheitlich Schaden nimmt, keine
Lebensperspektiven und Entwicklungschancen hat.
Flüchtlingskinder und Kinder von Migranten sind in
erster Linie Kinder und müssen auch so behandelt werden. Die UN-Kinderrechtskonvention fordert, das Wohl
des Kindes in allen Belangen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Praxis der Bundesregierung, Kinder in den
Kosovo abzuschieben, bezeugt jedoch das Gegenteil.
Das menschenrechtliche Prinzip der vorrangigen Achtung des Kindeswohls wird mit der Abschiebung in den
Kosovo verletzt. Im Kosovo haben zurückgeführte Kinder keinerlei Chancen auf ein menschenwürdiges Leben
und eine normale Entwicklung.
Wir Grüne haben deshalb drei zentrale Forderungen,
erstens, keine minderjährigen Roma mehr in den Kosovo
abzuschieben. Zweitens sind bei allen Entscheidungen
über Abschiebungen, von denen Kinder betroffen sind,
das Wohl des Kindes und seine Gesundheit in den Mittelpunkt zu stellen. Drittens muss bei Entscheidungen über
Aufenthaltserlaubnisse für langjährig Geduldete das
Kindeswohl der ausschlaggebende Faktor sein. Kinder
und Jugendliche aus dem Kosovo, die seit Jahren in
Deutschland leben, sollten ein dauerhaftes Bleiberecht
erhalten.
Wir kommen zur Abstimmung.
Tagesordnungspunkt 42 a. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9915 die Ablehnung des Entschließungsantrags auf Drucksache
17/8868. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen.
Die Oppositionsfraktionen waren gemeinsam dagegen.
Tagesordnungspunkt 42 b. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9723 die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8869. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die SPD hat sich enthalten, Linke und Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen,
CDU/CSU und FDP dafür.
({0})
Es gibt die Bitte zu mehr Konzentration und aktivem
Abstimmungsverhalten. Diese Bitte gebe ich weiter.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 44 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({1}) zu dem
Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Ehrlicher Dialog über europäische Grundwerte und Grundrechte in Ungarn
- Drucksachen 17/9032, 17/10004 Berichterstattung:
Abgeordnete Karl Holmeier
Michael Roth ({2})
Thomas Nord
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Die ungarischen Mediengesetze haben unerwartet
große internationale Aufmerksamkeit erregt. Zahlreiche
politische Kritiken wurden in Europa und auch weltweit
veröffentlicht. Wie kommt es, dass zwei ungarische Mediengesetze so heftige Kontroversen auslösten?
Es ist fast augenscheinlich, dass diese heftigen Reaktionen nicht allein in dem ungarischen Medienrecht
begründet sein können. Es liegt geradezu auf der Hand,
dass die neuen Mediengesetze eine günstige Gelegenheit
boten, der neuen ungarischen Regierung auf internationaler Ebene ihre Grenzen zu zeigen. Das ungarische
Mediengesetz war ein sehr willkommener Anlass, Orban
als neuen ungarischen Ministerpräsidenten zu diskreditieren. Sicherlich war es mehr als ungeschickt, das Gesetz ausgerechnet zu Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft in Kraft treten zu lassen. Damit war ein
unglücklicher Start vorprogrammiert.
Warner aus dem Westen waren sich früh einig, dass
die Pressefreiheit in Ungarn mit dem neuen Mediengesetz ausgehebelt worden sei. Dabei kannte kaum einer
von ihnen die ungarischen Medienerzeugnisse einschließlich Internet in deren unsäglicher Bandbreite von
Antisemitismus bis Pornografie. Über Jahre haben sich
angesehene ungarische Intellektuelle wie der Nobelpreisträger Imre Kertesz im Lande wie im Westen darüber beklagt, welche Ungeheuerlichkeiten in Ungarn
publiziert werden konnten. Und nun sollte es von vornherein verwerflich sein, dagegen gesetzliche Mittel aufzubauen?
Darüber hinaus war die Reformbedürftigkeit beispielsweise des ungarischen Rundfunkgesetzes von 1996
unbestritten. Dieses Gesetz konnte den technischen und
wirtschaftlichen Entwicklungen nicht folgen. Im Gegenteil, es wurde zum größten Hindernis für diejenigen, die
von den neuen Möglichkeiten Gebrauch machen wollten.
Die Mediengesetze wurden unter Beschuss genommen, bevor sie überhaupt in einem zitierfähigen Entwurf
vorlagen. Ich will Ihnen an dieser Stelle in Erinnerung
rufen, dass die erste Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum ungarischen
Mediengesetz am 20. Januar 2011 hier im Plenum des
Deutschen Bundestages erfolgte. Es ist schon unüblich
und irritierend, wenn andere nationale Parlamente die
Gesetze eines Mitgliedstaates der Europäischen Union
diskutieren und bewerten, bevor eine zertifizierte Übersetzung des Gesetzes vorlag und bevor die Europäische
Kommission eine Stellungnahme abgegeben hat.
Bereits Ende März 2011 wurden dann die von der zuständigen EU-Kommissarin Neelie Kroes kritisierten
Regelungen von der ungarischen Regierung umgesetzt.
Das Mediengesetz wurde nach ganz wenigen, überwiegend technischen Korrekturwünschen seitens der EUKommission angepasst. Viele kritisierte Bestandteile des
Gesetzes haben sich übrigens in der Praxis als unproblematisch entpuppt. Erlauben Sie mir hier, nur ein Beispiel zu nennen: Das Gebot der Ausgewogenheit der Berichterstattung schlägt gelegentlich auch auf die Regierungspartei zurück. So wurde das öffentlich-rechtliche
Fernsehen im Juni 2011 von der Medienaufsicht mit
Geldbußen sanktioniert, weil dort die Meinung der Partei zu stark zur Geltung gekommen ist.
Meine sehr verehrten Kollegen von der SPD und den
Grünen, Sie machen in Ihrem aktuellen Antrag Ihre
Sorge um die Medienfreiheit in Ungarn auch am Beispiel des Verlusts der Sendelizenz des Klubradios fest.
Erlauben Sie mir hierzu einige klärende Worte.
Dem Radio ist keine Lizenz entzogen worden. Es hat
nach dem Auslaufen seiner früheren Lizenz am 7. Februar in einem rechtlich nicht zu beanstandenden
Verfahren nicht erneut die Lizenz erhalten können. Klubradio unterlag im Bieterverfahren, bei dem es sich bemerkenswert stark zurückhielt. Vielleicht hat es sich ja
bewusst in diese Lage gebracht, um sich als Opfer der
Medienpolitik der Regierung Orban vor allem im Ausland zu präsentieren. Es wurde dennoch nichts abgeschaltet vom viel gescholtenen Medienrat, auch wenn
die Eigner des Klubradios in Brüssel das Gegenteil verkündeten. Es gab sogar eine provisorische Verlängerung. Dennoch verkündete man über exakt diese Frequenz, man sei abgeschaltet.
Übrigens haben sich die Eigner des Klubradios gerichtlich zur Wehr gesetzt, um das Bieterverfahren, das
wegen weniger Euro zu Ihren Ungunsten verlaufen war,
zu kippen. Das ist vor einigen Wochen gelungen. Entscheidung aus formalen Gründen. Das Verfahren muss
neu entschieden werden, was selbstverständlich geschieht. Die Gerichte urteilen fair und sachgerecht und
sind offenbar keineswegs von der Regierung beauftragt,
was gerne von Kritikern unterstellt wird.
Lassen Sie mich ein weiteres, bekannteres Beispiel in
diesem Zusammenhang nennen. Am 19. Dezember 2011
hat das ungarische Verfassungsgericht das Medienrecht
in weiten Aspekten wie zum Beispiel dem Informantenschutz, für verfassungswidrig erklärt. Diese Entscheidung zeigt erneut, dass die Verfassungswirklichkeit in
Ungarn intakt ist. Es zeigt auch, dass dieses Land eigene
Institutionen zur Korrektur seiner Gesetzgebung hat.
Dazu bedarf es nicht der Einmischung und Vorverurteilung durch andere Mitgliedstaaten. Es ist nicht die Aufgabe des Deutschen Bundestages, mit erhobenem Finger
einem anderen Mitgliedstaat und dazu einem eng verbundenen Freund zu sagen, wie er mit innenpolitischen
Fragen und Gegebenheiten umzugehen hat. Wir sind
nicht dafür zuständig, die Aufgaben der ungarischen
Opposition wahrzunehmen, auch dann nicht, wenn diese
zersplittert und nicht in der Lage ist, eine wahrnehmbare Opposition im ungarischen Parlament zu formieren. Auch darf die Verantwortungsgemeinschaft der
Länder der EU keine vorgeschobene Begründung dafür
sein, sich in die Innenpolitik anderer souveräner Staaten
einzumischen. Da ist doch immer so schön die Rede von
Augenhöhe. Es bringt Europa nicht weiter zusammen,
sondern trennt, wenn nicht endlich Schluss gemacht
wird mit der Verlagerung des innerungarischen Konflikts auf die europäische oder deutsche Ebene. Die ungarischen Wähler haben bewusst diese Regierung gewählt und die MSZP-Regierung der Misswirtschaft und
Korruption, die sich zwei Legislaturperioden „beweiZu Protokoll gegebene Reden
sen“ konnte, abgewählt. Das sollte jedes europäische
Partnerland respektieren.
Sicherlich muss eine Regierung mit einer gewonnenen Mehrheit verantwortungsvoll umgehen. Ich will
auch nicht in Abrede stellen, dass das ungarische Mediengesetz Anlass zur Besorgnis gibt. Die Verpflichtung
zur Offenlegung von Quellen und die Besetzung des Medienrats stehen einer kritischen Berichterstattung klar
im Weg. Herr Löning als Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe
hat diese Kritik auch immer wieder vorgetragen. Die ungarische Regierung habe von Anfang an versprochen,
die gegen die Verfassung verstoßenden gesetzlichen Regelungen des Mediengesetzes nachzubessern, und das
ist auch vor drei Wochen geschehen. Das ungarische
Parlament hat Ende Mai das Mediengesetz nach Einwänden des Verfassungsgerichts geändert.
Sie sehen selbst: Die Gewaltenteilung in Ungarn
funktioniert gut, und das Land kann selbst eine Korrektur seiner Gesetze vornehmen. Gerade in einer krisenbehafteten und wirtschaftlich turbulenten Zeit ist Ungarn
und die ungarische Regierung auf Freunde und Unterstützer in Europa und speziell in Deutschland angewiesen. Partner und Freunde werden mehr denn je
gebraucht. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag wird ihre helfende Hand Ungarn nicht verwehren.
Ich stehe heute hier unter dem bewegenden Eindruck
des Besuchs unserer ungarischen Partner und Freunde,
mit denen wir in den vergangenen zwei Tagen einen sehr
intensiven und offenen Dialog geführt haben. Dieser
Dialog war wirklich ehrlich, meine verehrten Oppositionskollegen, und nicht nur scheinbar, wie Sie ihn mit
ihrem vorliegenden Antrag vorzuspielen versuchen. Ich
bin deshalb bewegt, weil ich in den Gesprächen gesehen
habe, welche Spuren die inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufene politische Kampagne der deutschen Opposition gegen Ungarn hinterlassen hat. Jetzt werden
Sie mir gleich wieder entgegenhalten, dass Sie keine
Kampagne gegen Ungarn führen, sondern lediglich
sachliche Kritik an der Regierung üben. Genau das tun
Sie aber eben nicht. Sie gehen weit über sachliche Kritik
hinaus. Sie klagen an und verurteilen zugleich. Sie operieren mit Falschdarstellungen, Halbwahrheiten und
Andeutungen. Sie behaupten eine schwerwiegende Verletzung von Grundwerten der EU und verweisen auf
Art. 7 des EU-Vertrages. Um das hier einmal klarzustellen: Sie behaupten damit, Ungarn missachtet Werte wie
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit,
Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Sie stellen Ungarn hier auf eine Stufe mit diktatorischen Regimen. Das ist nichts anderes als eine Kampagne.
Sie verkennen völlig, dass die ungarische Regierung
von einer großen Mehrheit der ungarischen Menschen
gewählt wurde, und viele dieser Menschen stehen nach
wie vor hinter dieser Regierung. Ihre Kampagne trifft
damit letztlich nicht nur die ungarische Regierung, sondern sehr wohl Ungarn und das ungarische Volk. Auch
scheint Ihnen die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit
nicht ganz klar zu sein. Es ist nicht die Aufgabe eines Legislativorgans, Recht zu sprechen und zu verurteilen.
Schon gar nicht hat der Deutsche Bundestag als Legislativorgan für Deutschland darüber zu befinden, ob die
Gesetze anderer Länder gegen höherrangiges Recht
verstoßen. Hierfür sind Gerichte zuständig - entweder
nationale oder aber für die EU der Europäische Gerichtshof in Luxemburg sowie für den Europarat und die
Einhaltung der Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Ich habe an dieser Stelle schon einmal auf ein Zitat
unserer Bundeskanzlerin verwiesen, die gesagt hat:
„Die Ungarn haben dem Freiheitsgedanken der Deutschen Flügel verliehen“. Ich kann das nur noch einmal
wiederholen. Ungarn war immer ein freiheitsliebendes
Volk, und wir Deutsche haben den Ungarn aufgrund dieser Freiheitsliebe sehr viel zu verdanken. Ohne das Vertrauen der ungarischen Freunde in die Freiheit wäre die
deutsche Einheit sicher nicht möglich gewesen. Deutschland ist Ungarn daher in ganz besonderer Weise verbunden. Das scheinen einige völlig vergessen zu haben,
wenn sie Ungarn vorwerfen, elementare Grundwerte einer freiheitlichen Gesellschaft zu missachten. Und damit
möchte ich gern an meinen eingangs angesprochenen
Eindruck von den gemeinsamen Gesprächen mit unseren
ungarischen Partnern anknüpfen. Die Verbundenheit mit
Ungarn hat unter den Anfeindungen der Opposition, unter dem Vorwurf einer schwerwiegenden Missachtung
elementarer Grundwerte wie Freiheit, Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, enorm gelitten.
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten mehrfach
dazu aufgerufen, den Weg zur Sachlichkeit zurückzufinden, um genau das zu vermeiden. Leider waren meine
Aufrufe vergeblich. Sie stoßen unsere ungarischen
Freunde mit Ihren Anschuldigungen und Vorverurteilungen vor den Kopf und nennen das dann konstruktive Kritik. Ich sage Ihnen, diese Form von Dialog kann nicht
funktionieren und ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Das ist auch der Grund, weshalb wir keinen einheitlichen Nenner für einen gemeinsamen Antrag gefunden haben.
Die Ungarn fühlen sich zu Recht massiv persönlich
angegriffen. In den gemeinsamen Gesprächen ist es inzwischen kaum mehr möglich, über gemeinsame Projekte oder politische Herausforderungen zu reden, die
gemeinsam angegangen werden könnten. Stattdessen
sind sie infolge der Vorwürfe der Opposition fortwährend dabei, sich zu rechtfertigen, Halbwahrheiten aufzuklären, Falschdarstellungen zu korrigieren und sich gegen die pauschalen Vorverurteilungen zu verteidigen.
Sie beklagen auch, dass ein echter Dialog mit der deutschen Opposition de facto nicht stattfindet, auch wenn
dieser öffentlich immer behauptet wird. Kurzum, es ist
ein Trauerspiel, was hier vonseiten der Opposition abgeliefert wird.
So, wie Sie mit Ungarn umgehen, wurde bislang noch
kein europäisches Land behandelt - noch nicht einmal
Österreich, als die Freiheitliche Partei von Jörg Haider
in die dortige Regierung getreten ist. Sie haben aus den
Zu Protokoll gegebene Reden
damaligen Fehlern im Umgang mit Österreich offenbar
nichts gelernt, sondern satteln vielmehr noch eins oben
drauf.
Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal die
Gelegenheit nutzen, das Bild ein wenig geradezurücken.
Ja, in Ungarn regiert nach der Wahl 2010 eine Zweidrittelmehrheit. Mit dieser Mehrheit nimmt Ministerpräsident Viktor Orban nach jahrelangem Reformstau einen
dringend notwendigen und tiefgreifenden Umbau des
Landes mit strukturellen Reformen in der Arbeitsmarkt-,
Steuer-, Sozial- und Bildungspolitik vor. Sicher stoßen
die zahlreichen Reformen und die zügige Umsetzung bei
dem ein oder anderen auf Kritik, und sicher hat Ungarn
dabei auch Fehler gemacht. Alle jene, die sich die Kritik
zueigen machen, müssen aber doch auch zur Kenntnis
nehmen und anerkennen, dass Ungarn stets umgehend
auf alle rechtlichen Bedenken reagiert hat. Das gilt für
die Kritik der EU-Kommission am Mediengesetz genauso wie die Kritik an der Justizreform, am Notenbankgesetz und beim Datenschutz. Das gilt aber auch für die
Kritik der Venedig-Kommission an der Verfassung.
Beginnen wir beim Mediengesetz: Hier gehört es zunächst zur richtigen Darstellung der Fakten, dass das
ungarische Verfassungsgericht selbst wesentliche Teile
des Gesetzes kassiert und damit gezeigt hat, dass das ungarische Verfassungsgefüge durchaus intakt ist. Die ungarische Regierung hat hierauf auch zügig reagiert, und
am 4. Juni 2012 hat das Parlament nun eine Änderung
des Gesetzes beschlossen.
Bezüglich der Justizreform, des Notenbankgesetzes
und des Datenschutzes hat die EU-Kommission Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Ungarn ist daraufhin
der Kommission im gegenseitigen Dialog entgegengekommen. Die Zusage zur Änderung des Notenbankgesetzes hat die Bedenken der Kommission sogar so weit
ausgeräumt, dass diesbezüglich keine weitere Eskalationsstufe eingeleitet wurde. Am 29. Mai 2012 hat das
ungarische Parlament seine Zusage durch den Beschluss
eines Änderungsantrages zum Notenbankgesetz in die
Tat umgesetzt und damit die Zuverlässigkeit Ungarns in
der Europäischen Union sowie die Ernsthaftigkeit seiner
Bemühungen zu EU-konformer Rechtssetzung unter Beweis gestellt.
Offen sind nach wie vor Fragen im Zusammenhang
mit der Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde sowie
der Justizreform, mit denen der Europäische Gerichtshof nun befasst ist. Gleichwohl hat Ungarn auch hier
weiterhin Gesprächsbereitschaft signalisiert. Sollte bei
diesen Fragen keine Einigung erzielt werden, wird das
Urteil des Gerichtshofes abzuwarten sein. Für diesen
Fall hat Ungarn bereits heute zugesichert, dieses Urteil
vollumfänglich zu akzeptieren und entsprechend umzusetzen.
Zu der Kritik an der ungarischen Verfassung möchte
ich gern auch noch kurz etwas sagen. Zunächst einmal
ist es an der Zeit, die grundsätzliche Ausrichtung der
neuen Verfassung zu loben. Sie weist nämlich zahlreiche
Parallelen zum deutschen Grundgesetz auf. Mit Blick
auf die vielfach angesprochenen Kardinalgesetze, muss
der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass die ungarische Verfassung solche Gesetze schon seit langem
kennt und bereits vor der Verfassungsänderung Bereiche
nur mit Zweidrittelmehrheit geregelt werden konnten,
die aus deutscher Sicht vielleicht eher einer einfachen
Mehrheit unterliegen sollten. Ungarn hat sich jedoch als
souveräner Staat schon vor 20 Jahren dafür entschieden, bestimmte Politikbereiche auf diese Weise zu regeln, und das ist zu respektieren. Sollte es dabei tatsächlich einen Widerspruch zu übergeordnetem Recht geben,
wird auch hier ein entsprechendes Urteil der zuständigen Instanzen abzuwarten und dann selbstverständlich
auch von Ungarn zu respektieren sein. Diese Instanz ist
aber mit Sicherheit nicht der Deutsche Bundestag.
Ein letzter Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist
das Defizitverfahren gegen Ungarn. Bekanntlich befindet sich Ungarn seit 2004 in diesem Verfahren und die
Vorgängerregierungen in Ungarn hatten seitdem keine
ausreichenden Maßnahmen zur Beseitigung des übermäßigen Defizits unternommen. Der Ecofin-Rat hat daher am 13. März 2012 beschlossen, einen Teil der ungarischen Kohäsionsfondsmittel des Jahres 2013 mit
Wirkung zum 1. Januar 2013 auszusetzen. Die Regierung Orban war es nun, die die entsprechenden Maßnahmen zum Abbau des Defizits eingeleitet hat. Daraufhin hat die Europäische Kommission am 30. Mai 2012
vorgeschlagen, die geplante Mittelaussetzung wieder
aufzuheben.
Zusammenfassend kann ich also feststellen, dass man
mit Ungarn durchaus offen und ehrlich reden kann, und
ein solcher ehrlicher Dialog im Ergebnis auch zum Ziel
führt. Die Art und Weise, wie die deutsche Opposition in
den vergangenen Monaten mit Ungarn umgegangen ist,
hat hingegen nichts mit einem ehrlichen Dialog und
sachlicher Kritik gemein. Diese Art des Dialogs war
verletzend, diskriminierend und hat im deutsch-ungarischen Verhältnis tiefe Spuren hinterlassen. Das hat sich
während des Besuchs der ungarischen Delegation leider
deutlich gezeigt.
Ich habe mich eigentlich von Beginn der Debatte
über Ungarn an dagegen gewehrt, als Anwalt Ungarns
aufzutreten. Denn das können die Ungarn selbst viel
besser. Aber die Kampagne, die die deutsche Opposition
betreibt, zwingt mich dazu, öffentlich klarzustellen, dass
es auch noch andere Meinungen in Deutschland gibt
und Grüne, SPD und Linke nicht für ganz Deutschland
sprechen.
Viktor Orban wurde am 29. Mai 2010 zum ungarischen Ministerpräsidenten gewählt. Doch nach zwei
Jahren im Amt fällt die Zwischenbilanz seiner nationalkonservativen Regierung mehr als mager aus: Finanziell steht Ungarn kurz vor dem Ruin. Die ungarische
Wirtschaft liegt am Boden, das Land steckt in einer
schweren Rezession mit einer hohen Arbeitslosigkeit.
Gesellschaftlich ist Ungarn tief gespalten und politisch
in der Europäischen Union weitgehend isoliert.
Neben einer Reihe von sozial- und wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen der Regierung bereitet uns
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aber insbeZu Protokoll gegebene Reden
Michael Roth ({0})
sondere der Umgang mit den Grund- und Freiheitsrechten in Ungarn große Sorgen. Seit ihrem Antritt vor zwei
Jahren hat die Fidesz-Regierung mit ihrer Zweidrittelmehrheit mehr als 360 Gesetze und eine neue Verfassung
im Eiltempo durchs Parlament gepeitscht. Nicht jedes
einzelne neue Gesetz für sich ist ein Drama, aber im Sog
dieser gewaltigen Gesetzesflut sind elementare demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien weggespült worden.
„Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne“, so lautete
bislang die Antwort der ungarischen Regierung auf die
Kritik aus dem In- und Ausland. Als Leitmotiv einer parlamentarischen Demokratie taugt dieses Motto jedoch in
keiner Weise. Politik muss sich Zeit nehmen. Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament bedeutet nicht nur legitimierte Macht, sondern auch eine besondere Verantwortung für eine Regierung. Der grundlegende Umbau der
staatlichen Strukturen in Ungarn mit dem Ziel, einer Regierungspartei langfristig den politischen Einfluss zu sichern, widerspricht unserem Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch die jüngste Initiative
der Orban-Regierung, die staatliche Parteienfinanzierung wegen der schlechten Haushaltslage für zwei Jahre
komplett zu streichen, fügt sich in dieses Bild. Dahinter
verbirgt sich nicht weniger als der Versuch, die Oppositionsparteien in der weiteren politischen Auseinandersetzung empfindlich zu schwächen.
In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
und die europäischen Institutionen auf, bei den besorgniserregenden Entwicklungen in Ungarn nicht wegzuschauen. Bei Themen wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit darf das Prinzip der Nichteinmischung in die
inneren Angelegenheiten eines Landes nicht gelten. Im
Gegenteil: Es gibt sogar die Pflicht zur Einmischung,
gerade wenn es um unsere gemeinsamen europäischen
Werte geht. Die EU-Kommission hat - nach langem
Schweigen - mittlerweile durch die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn gezeigt, dass
sie gewillt ist, ihre Rolle als Hüterin der europäischen
Verträge und Grundwerte entschlossen wahrzunehmen.
Wir hätten jedoch auch von Orbans konservativen Parteifreunden im Rat und im Europäischen Parlament,
also den Mitgliedern der Europäischen Volkspartei, erwartet, dass sie ebenfalls deutliche Kritik an den Entwicklungen in Ungarn üben. Auch die Bundeskanzlerin
und der Außenminister haben dazu bisher leider geschwiegen. Eine klare öffentliche Positionierung ist
überfällig.
Das uneinheitliche Vorgehen im Fall Ungarn zeigt
aber auch, dass die Europäische Union beim Umgang
mit Rechtspopulisten noch keine konsequente Strategie
verfolgt. Es ist verheerend, wenn der Eindruck entstanden ist, dass in Europa mit zweierlei Maß gemessen
wird. Es darf nicht sein, dass die EU-Partner bei
den großen Mitgliedstaaten - wie bei Italien unter
Berlusconi - beide Augen zudrücken, während die kleinen Mitgliedstaaten drangsaliert werden. Die Europäische Union muss kompromisslos für die Einhaltung der
europäischen Grundwerte eintreten. In dieser Frage
darf es keinerlei Rabatte geben. Für alle Mitgliedstaaten - egal ob groß oder klein, egal ob neu beigetreten
oder Gründungsmitglied - gelten die demokratischen
und rechtsstaatlichen Standards gleichermaßen.
Die Europäische Union, so wie wir sie sehen und verstanden wissen wollen, ist mehr als nur ein loser Zusammenschluss unterschiedlicher Nachbarstaaten, die sich
aus Effizienzgründen und wegen wirtschaftlicher Skaleneffekte in einer Gemeinschaft zusammenfinden. Für
uns ist die Europäische Union Ausdruck einer Wertegemeinschaft, die auf einem gemeinsamen Verständnis von
gesellschaftlichen, politischen, rechtsstaatlichen und
ökonomischen Überzeugungen fußt. Jedes Mitglied dieser Gemeinschaft, egal ob alt oder neu, klein oder groß,
muss sich an diesen Kriterien messen lassen. Der Beitritt zu dieser Gemeinschaft ist für jeden Staat eine dauerhafte Verpflichtung, gewisse Standards einzuhalten.
Gerade in einer Gemeinschaft ist es erlaubt, ja geboten,
im Falle der Nichteinhaltung dieser Standards kritische
Punkte offen anzusprechen.
Offen bleiben dabei allerdings die gewählten Kommunikationswege. SPD und Grüne haben sich dazu entschieden, hierzu einen Antrag in den Deutschen Bundestag einzubringen. Diese Herangehensweise halten wir
im Umgang mit europäischen Partnern für nicht angebracht. Als FDP haben wir uns dazu entschlossen, den
ohnehin engen Kontakt zu Ungarn noch weiter zu intensivieren. Im Rahmen unserer parlamentarischen Arbeit
stehen wir in regelmäßigem Austausch mit der ungarischen Seite, sei es mit ungarischen Parlamentariern,
Mitgliedern der Regierung oder dem ungarischen Botschafter in Berlin. Hierbei äußern wir auch unmissverständlich die notwendige Kritik an einzelnen Maßnahmen der ungarischen Regierung und der sie tragenden
Parlamentsmehrheit. Im Ergebnis stellen wir fest, dass
die Sensibilität und das Verständnis für unsere Anliegen
auf der ungarischen Seite im Zuge des intensiven Dialogs stetig wachsen. Das merkt man auch in der öffentlichen Diskussion in Ungarn. Unserer Ansicht nach kann
die tiefe politische Spaltung des Landes durch offizielle
Beschlüsse und Äußerungen von außen nicht zugeschüttet werden. Hier halten wir intensive Kontakte für sinnund wirkungsvoller.
Dabei steht fest - und das wird auch klar und deutlich
von uns kommuniziert -: Kritik an den Maßnahmen und
der Rhetorik der ungarischen Regierung ist keine Einmischung in die innerstaatlichen Angelegenheiten Ungarns oder gar eine Vorverurteilung der dort lebenden
Menschen. Es geht uns darum, Kritik nicht pauschal,
sondern in der Sache differenziert vorzubringen und
Missstände gegebenenfalls offen anzusprechen.
Genau das leistet die Europäische Kommission, indem sie potenzielle Missstände in Ungarn identifiziert,
und diese werden von uns in aller Offenheit und Freundschaft mit unseren ungarischen Partnern thematisiert.
Die Forderung der Europäischen Kommission, gemeinsam definierte Standards etwa im Medienrecht, der
Wahlgesetzgebung oder im Justizwesen einzuhalten, ist
legitim; wenn wir uns diesem Appell anschließen, heißt
das nicht, dass wir unseren ungarischen Freunden und
Zu Protokoll gegebene Reden
Bündnispartnern die demokratische Gesinnung absprechen, sondern einen offenen und sachlichen Dialog mit
ihnen führen, im Sinne unserer gemeinsamen demokratischen Zukunft in einem vereinigten Europa.
Derzeit laufen verschiedene Verfahren, deren Ausgang abzuwarten bleibt, bevor man sich ein abschließendes Urteil bilden kann. Das gilt sowohl für die Venedig-Kommission als auch die derzeit laufenden Vertragsverletzungsverfahren.
Wir unterstützen die Europäische Kommission als
Hüterin der europäischen Verträge ausdrücklich in ihrem originären Auftrag, dem gemeinsam verabschiedeten europäischen Recht zur Durchsetzung in der Europäischen Union zu verhelfen.
Seit 2010 hat die Regierung von Viktor Orban eine
Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament und
nutzt diese, um der Regierungspartei eine systematische
Vorrangstellung in Ungarn auch über die Wahlperiode
hinaus zu sichern. Dies muss man sicherlich eine undemokratische Vorgehensweise nennen. Die Parteien CDU
und CSU sind auf europäischer Ebene Mitglied in der
Europäischen Volkspartei und haben bislang zu diesen
Thema geschwiegen. Die Tatsache, dass der ungarische
Ministerpräsident stellvertretender Vorsitzender dieser
europäischen Partei ist, wird sicher dazu beitragen,
dass sich die Regierungskoalition in der Bundesrepublik
in den Mantel des Schweigens hüllt.
Die Linke begrüßt und unterstützt den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen zur politischen Lage in Ungarn.
Allerdings können wir dem Antrag in der vorliegenden
Form nicht zustimmen, da er sich an der normativen
Ebene festhält und die praktischen, realen Gegebenheiten in Ungarn ausklammert. Wenn man einen Antrag zu
europäischen Grundwerten und Grundrechten formuliert, dann gehört eben auch dazu, eine europäische Perspektive einzunehmen und eine klare Kritik an gesellschaftlichen und staatlichen Zuständen innerhalb der
EU zu formulieren, wenn diese so weit von den demokratischen und rechtlichen Standards abweichen, wie dies
in Ungarn der Fall ist. Wenn in einem Mitgliedsland der
EU rassistische und faschistoide Tendenzen sichtbar
werden, reichen diplomatische Formulierungen aus unserer Sicht nicht mehr aus.
Der Haushaltsrat wurde abgeschafft, das Verfassungsgericht in seinen Kompetenzen beschnitten. Die
Versammlungsfreiheit wurde eingeschränkt. Es wurden
menschenverachtende Maßnahmen zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit entwickelt. Arbeitslose, die länger als
90 Tage arbeitslos gemeldet sind, werden unter Polizeibewachung zu Hilfsarbeiten auf Baustellen verschickt
und vor Ort in Containern gehalten. Während Orban
versucht, mit scheinheiligen Maßnahmen wie beispielsweise der sogenannten nationalen Roma-Strategie die
EU zufriedenzustellen, werden Roma zunehmend diskriminiert und kriminalisiert. So wurden beispielsweise
Stiftungen, die sich um Arbeits-, Bildungs- und Kulturprojekte der Roma kümmerten, wegen „Ineffizienz“ aufgelöst, um sie in ein „neues System“ zu überführen bzw.
die staatliche Kontrolle zu zementieren.
Unabhängige Richter werden durch regimetreue ersetzt. Obdachlosigkeit wird verboten und mit Geld- und
Gefängnisstrafen belegt. Antisemitische Äußerungen in
der ungarischen Medienlandschaft werden unkritisch
hingenommen. Der gesamte Kulturbereich wird umstrukturiert. Während Filmförderung in Ungarn als Instrument der Zensur genutzt wird, wird der Chef der
rechtsradikalen MIEP-Partei, Istvan Csurka, in einem
völlig undemokratischen Auswahlprozess Theaterintendant des Neuen Theaters in Budapest, ein Mann, der immer wieder mit antisemitischen und radikal nationalkonservativen Äußerungen auffällt.
In Gyöngyöspata wurden Ostern 2011 die Roma
durch das Rote Kreuz evakuiert, nachdem eine neofaschistische Bürgerwehrgruppe wochenlang den Ort
belagert hatte. Die Regierung stellte dies später als
„lange geplanten Osterausflug“ dar und setzte einen
Untersuchungsausschuss ein, der klären sollte, „wer
Ungarn diffamiert“ hat. Unter dem Schutz der Jobbik
können sich die rechtsradikalen „Bürgerwehren“ organisieren und Roma bedrohen und terrorisieren. Medien
zufolge versehen heute einige „Bürgerwächter“ aus Gyöngyöspata, die zum eingeführten staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramm abkommandiert wurden, Aufsichtsarbeiten in Bezug auf Roma.
Wie „Pester Lloyd“, die Tageszeitung für Ungarn und
Osteuropa, in dieser Woche berichtet, hat sich ein Parlamentsabgeordneter der neofaschistischen Partei Jobbik vor der Kommunalwahl 2010 gegenüber seinen potenziellen Wählern besonders empfehlen wollen und in
einem medizinischen Labor sein Blut auf „genetische
Rassenreinheit“ untersuchen lassen. Dies hat ihm ein
Zertifikat ausgestellt, in dem bestätigt wird, dass er „weder Roma noch Juden als Vorfahren“ hat. Der Skandal
ist dabei nicht einmal, dass der Abgeordnete der Jobbik
auf eine solche Idee kam, sondern dass ein zertifiziertes
medizinisches Labor in Ungarn sich zu solcher „Analyse“ bereitfand - als ob es ein „Roma-“ oder ein „Juden-Gen“ gäbe.
Am 4. Juni beging Ungarn auf Anordnung der Regierung wieder den „Trianon-Gedenktag“. Dieser war
auch Hauptthema einer „Festsitzung“ im Parlament.
Der neue Staatspräsident Janos Ader, Fidesz, sprach
vom „ungerechten Frieden“ von Trianon, der eine „beschämende Situation, sogar für die Menschen der Siegermächte“ produziere. Das wäre ja in etwa so, als
würde in Deutschland ein Versailles-Gedenktag eingeführt. Aus meiner Sicht ist das unerträglicher Revanchismus. Ungarn beschädigt die nachbarschaftlichen
Beziehungen zu Rumänien und der Slowakei systematisch und produziert dadurch in hohem Maße ethnisch
motivierte politische Spannungen in Osteuropa, die auf
eine territoriale Neuordnung in Richtung „Groß-Ungarn“ ausgerichtet sind.
Warum führten die enorme Gefährdung von Freiheit,
Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die
Missachtung der Menschrechte in Ungarn bisher zu keinem einzigen Vertragsverletzungsverfahren gegen UnZu Protokoll gegebene Reden
garn? Es ist beschämend, dass erst die Bedrohung der
Unabhängigkeit der Zentralbank durch die neue ungarische Verfassung zum Handeln auf europäischer Ebene
führte. Die Linke ist der Meinung, in Europa sollten
mehr Grundwerte und mehr Grundrechte zählen als die
Kapitalfreiheiten. Weil wir das grundlegende Ansinnen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen begrüßenswert
finden, aber im Antrag selber die gesellschaftlichen
Realitäten mit keinem Wort erwähnt sind, stimmen wir
hier mit Enthaltung.
Ich habe bereits in der letzten Debatte gesagt: Es geht
hier nicht darum, Ungarn von außen Regeln aufzudrängen. Es geht um Verpflichtungen, die Ungarn sich selbst
auferlegt hat, um Verpflichtungen, die Ungarn mit dem
Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 eingegangen ist. Dazu gehören die Grundwerte und Grundrechte,
die in den Verträgen festgehalten sind. Wer behauptet,
eine solche Debatte - eine Debatte über die Grundwerte
und Grundrechte - gehöre nicht in den Deutschen
Bundestag, der liegt falsch. Auch wir sind Teil dieser
Europäischen Union. Uns darf die Einhaltung der
Grundwerte und Grundrechte in den anderen Mitgliedstaaten nicht egal sein. Die EU ist eine Gemeinschaft,
die auf gemeinsamen Werten beruht - nicht nur ein einfacher Verbund souveräner Nationalstaaten. Zu den gemeinsamen Werten gehört die Demokratie. Und zur
Funktionsfähigkeit der europäischen Demokratie gehört, dass die Demokratien in den Mitgliedstaaten funktionieren. Mit Blick auf Ungarn haben wir die Sorge,
dass diese Funktionsfähigkeit heute und vor allem in Zukunft eingeschränkt sein könnte.
Mit dieser Einschätzung stehen wir nicht alleine da.
Sie wird bekanntlich von der Bundesregierung geteilt.
Ich zitiere wörtlich den ehemaligen Staatsminister im
Auswärtigen Amt Hoyer: „Unsere im Zusammenhang
mit den Mediengesetzen aufgekommene Befürchtungen
werden mit der heute verabschiedeten Verfassung - und
in ihrem Zustandekommen - bestärkt statt bekräftigt.“
In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage hat die Bundesregierung im Februar 2012 diese Haltung bestätigt;
sie habe sich nicht grundsätzlich verändert.
Warum machen wir uns um die Funktionsfähigkeit
der Demokratie in Ungarn Sorgen? Die ungarische
Regierung unter Viktor Orban verfügt über eine Zweidrittelmehrheit. Sie trägt damit eine besondere Verantwortung. Anstatt mit ihrer Mehrheit maßvoll und verantwortungsvoll umzugehen, verfestigt sich unser
Eindruck, dass politischer Einfluss langfristig gesichert
werden soll. Wir haben in diesem Haus schon so viele
Beispiele gehört, daher will ich es bei drei weiteren belassen. Die Kardinalsgesetze, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden können. Prominentestes
Beispiel: der Einkommensteuersatz. Die Zweidrittelhürde sollte grundsätzlich nur zur Änderung der Verfassung oder ähnlich weitreichender Regelungen notwendig sein, nicht für Bereiche, die vernünftigerweise der
einfachen Mehrheitsbildung unterliegen sollten. Wenn
einer gewählten Parlamentsmehrheit die Verfügung
über das Budget nicht mehr gewährleistet ist, weil ein
wesentlicher Teil der Einnahmeseite seiner Kontrolle
entzogen ist, dann ist das ein Demokratieproblem.
Weiteres Beispiel, Nationale Justizbehörde: Der Präsident bzw. die Präsidentin dieser Behörde wird für neun
Jahre vom Parlament ernannt. Nach diesen neun Jahren
muss das Parlament einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin wählen - und das mit zwei Dritteln der Stimmen. Kommt eine Zweidrittelmehrheit nicht zustande,
bleibt die bisherige Leitung weiter im Amt. Hinzu kommt
die Fülle an Kompetenzen in einer Hand und die mangelnde Möglichkeit, den Präsidenten bzw. die Präsidentin für ihr Tun zur Rechenschaft ziehen zu können. Alles
nachzulesen im entsprechenden Bericht der VenedigKommission.
Auch über die Frage der Herabsetzung des Renteneintrittsalters für Richter unter anderem von 70 auf
62 Jahre haben wir schon gesprochen. Hier wird das
Renteneintrittsalter herabgesetzt, ohne Übergangsphase. Das hat zur Folge, dass in kürzester Zeit 274
neue Richterinnen und Richter ernannt werden können.
Auch hier spielt der Präsident der Nationalen Justizbehörde übrigens eine entscheidende Rolle. Er entscheidet
letztendlich, welcher der ersten drei Kandidaten auf der
Shortlist dem Präsidenten Ungarns zur Ernennung vorgeschlagen wird. Es ist gut und richtig, dass über die
Frage der Herabsetzung des Renteneintrittsalters der
Europäische Gerichtshof entscheidet.
Wir kennen das aus jedem Lehrbuch: Demokratie ist
Macht auf Zeit. Diese Zeit darf aber nicht dazu benutzt
werden, die Macht zu zementieren. Wir haben diesen Antrag zusammen mit der SPD gemacht, da wir uns eine
Versachlichung der Debatte wünschen. Unterschiedliche Informationen, fehlerhafte Berichterstattung und
auch Unkenntnis führen in dieser Debatte immer wieder
zu Missverständnissen. Für einen fairen Dialog über die
Vereinbarkeit der gesamten geänderten ungarischen
Rechtsordnung mit den Grundwerten der EU brauchen
wir einen umfassenden Bericht, der die geänderten Bereiche des ungarischen Rechtssystems betrachtet.
Inzwischen hat die Venedig-Kommission des Europarats bereits Berichte zu einzelnen Fragen vorgelegt.
Diese Berichte haben der Debatte gut getan. Teilweise
sind diese Berichte auf Wunsch der ungarischen Regierung erstellt worden. Diese Bereitschaft begrüßen wir.
Ich möchte hier auch noch mal ganz deutlich betonen:
Der ungarischen Regierung ist konstruktive Kritik nicht
egal. Sie hat sie sich in vielen Fällen zu Herzen genommen, Änderungen geprüft und auch mehrere Gesetze geändert. Diese Bereitschaft zu mehr Beweglichkeit nehme
ich auch in meinen zahlreichen Gesprächen wahr.
Es gibt aber nach wie vor Bereiche, zu denen keine
Berichte vorliegen. Die Opposition beklagt sich zum
Beispiel regelmäßig, dass sie nicht ausreichend Zeit bekomme, um sich mit Gesetzesvorlagen zu befassen. Die
ungarische Regierung habe ein Gesetz durchgebracht,
das es ihr 24-mal im Jahr erlaube, die Zeitspanne zwischen der Einbringung und der Verabschiedung von Gesetzen auf 24 Stunden zu verkürzen! Aus unserer Sicht ist
das eine ganz klare Beschneidung der Rechte der Opposition. Auch für diesen und andere Bereiche wünschen
Zu Protokoll gegebene Reden
wir uns eine Übersicht der Veränderungen und eine objektive Einschätzung. Daher halten wir einen umfassenden Bericht der Venedig-Kommission noch immer für
notwendig.
Vonseiten der Koalition wird uns vorgeworfen, dass
wir zu viel über Ungarn und nicht mit Ungarn reden.
Wenn sie denn stimmen würde, wäre die Kritik angebracht. Sie stimmt aber nicht. Wir stehen in regelmäßigem Dialog mit allen demokratischen Kräften und der
Zivilgesellschaft in Ungarn. Ungarn ist für uns ein guter
und verlässlicher Freund. Wir blicken inzwischen auf
eine 20-jährige Freundschaft zurück. Ich habe in den
letzten Monaten schätzen gelernt, dass die ungarische
Seite sich auch kritischen Debattenbeiträgen nicht verschließt. Wir müssen diesen offenen Dialog weiter führen. Zu dieser Offenheit gehören aber auch mitunter
Kritik und ehrliche Worte.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10004,
den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9032 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen. Die Koalitionsfraktionen waren dafür,
Bündnis 90/Die Grünen und SPD dagegen. Die Linke
hat sich enthalten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 45 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika
Krüger-Leißner, Anette Kramme, Siegmund
Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken - Rahmenfrist verlängern Regelung für kurz befristet Beschäftigte
weiterentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Lukrezia
Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Arbeitslosengeld statt Hartz IV - Zugang
zur Arbeitslosenversicherung erleichtern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Agnes Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Flexibel Beschäftigte in der Arbeitslosenversicherung besser absichern
- Drucksachen 17/8574, 17/8586, 17/8579,
17/9612 Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
Die Reden sind hier ebenfalls zu Protokoll genommen.
Es ist schon erstaunlich: In Deutschland brummt der
Arbeitsmarkt - weniger Arbeitslose, mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, mehr offene Stellen. Jobmotor in Deutschland - diese Bemerkung muss mir als
CSU-Abgeordnetem in diesem Zusammenhang erlaubt
sein - ist und bleibt Bayern: niedrigste Arbeitslosenzahl
seit 20 Jahren, Rekordwert bei der Beschäftigung seit
1974. Aber auch in den übrigen Bundesländern in
Deutschland - auch in SPD-geführten Ländern - sieht
es blendend aus: Die Zahl der Arbeitslosen ist auf 2,855
Millionen gesunken, die der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse auf 28,76 Millionen angestiegen. Der deutsche Arbeitsmarkt ist robust, auch in
Zeiten der Schuldenkrise. Die Bundesregierung ist erfolgreich.
Und was macht die Opposition? Sie überbieten sich
gegenseitig in Forderungen, wie man den Zugang zum
Arbeitslosengeld erleichtern kann. Ihre Anträge passen
in die Welt wie der Weihnachtsmann in den Sommer!
Das war auch das zentrale Ergebnis der Expertenanhörung von Ende April 2012. Die Sachverständigen haben
es Ihnen ins Stammbuch geschrieben: teuer und an der
Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei, so das ganz
überwiegende Fazit.
„Es stellt sich die Frage, ob anstelle der Diskussion
des Zugangs in die Arbeitslosenversicherung nicht viel
stärker eine Diskussion geführt werden müsste über den
Zugang zu Qualifizierung, Qualifizierungsmöglichkeiten und Ähnliches.“ Das war der Befund des Vertreters
der Bundesagentur für Arbeit. Diese Aussage kann ich
voll und ganz unterschreiben. Um es politisch zu übersetzen: Was Sie vorschlagen und was so sozial daherkommt, ist in der Wirkung eine Stillhalteprämie ganz
überwiegend für Personen ohne Berufsabschluss. Denn
circa 50 Prozent aller Zugänge in die Grundsicherung
für Arbeitsuchende sind Personen ohne Berufsabschluss. Diese Menschen müssen wir in den Blick
nehmen, keine Frage. Aber wir dürfen sie nicht mit Geld
abspeisen. Unser Ziel muss es sein, in ihre Vermittlung
zu investieren und sie wieder in Arbeit zu bringen, ihre
Beschäftigung zu verstetigen und zu stabilisieren. Wir
dürfen keine Anreize setzen, wie man nach Kurzzeitbeschäftigung auch wieder schnell zu Entgeltersatzleistungen kommen kann. Genau das tun Sie aber mit Ihren
Anträgen.
Für viele Menschen sind Ihre Forderungen auch nur
Scheinlösungen. Nehmen Sie die alleinstehende Kassiererin, die zu ihrem geringen Verdienst aufstockend Arbeitslosengeld II bezieht. Wird sie arbeitslos und hätte
künftig leichter einen Anspruch auf Arbeitslosengeld,
würde diese Leistung komplett auf ihr Arbeitslosengeld II
angerechnet. Sie hätte unter dem Strich keinen Cent
mehr in der Tasche als heute. Fazit: Diejenigen, die es
am schwersten haben und denen ich persönlich eine
finanzielle Verbesserung von Herzen gönnen würde, fallen bei Ihren Anträgen hinten herunter. Durchdacht ist
das nicht und sozial gerecht erst recht nicht.
Wer Forderungen aufstellt, die Geld kosten, muss
auch sagen, woher er das Geld nehmen will. Der Kollege Paul Lehrieder hat darauf bereits Anfang Februar
2012 in der ersten Lesung der Vorlagen völlig zu Recht
hingewiesen. In Ihren Anträgen sucht man dazu aber
vergebens nach Antworten. Was haben die Sachverständigen in der Anhörung gesagt? „Der Antrag von SPD
und Linken würde 1,4 bis 1,7 Milliarden Euro zusätzliche Leistungsausgaben kosten. Wenn man das in Beitragssatzpunkte übersetzt, wären das 0,2 Prozent.“
Ich stelle fest: Die SPD steht für höhere Sozialabgaben! Die SPD will weniger Netto vom Brutto! Herr
Gabriel hat letzte Woche eine Anhebung des Beitrags
zur Pflegeversicherung auf 2,5 Prozent in die Diskussion gebracht. Elke Ferner möchte Entlastungen beim
Rentenbeitrag nicht an die Beitragszahler weitergeben.
Und nun nehmen Sie einen Anstieg des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung billigend in Kauf. Das ist Politik
auf dem Rücken der Beitragszahler!
Es reicht nicht, soziale Gerechtigkeit nur auf Fahnen
oder Plakate zu schreiben; man muss soziale Gerechtigkeit auch inhaltlich unterfüttern. Die Kassiererin bei
Aldi oder den mittelständischen Betrieb mit steigenden
Lohnnebenkosten zu belasten, ist nicht sozial gerecht.
Dazu bekommen Sie nicht die Stimmen der Union. Wir
wollen mehr Netto vom Brutto für die Beitragszahler, die
Monat für Monat mit ihren Beiträgen die solidarische
Absicherung in Deutschland finanzieren. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
Sie wissen es doch besser. Sie waren es doch, die zusammen mit den Grünen im Jahr 2003 im Rahmen der sogenannten Hartz-Reformen die Rahmenfrist für den Anspruch auf Arbeitslosengeld von drei Jahren auf zwei
Jahre gesenkt und damit den Zugang zum Arbeitslosengeld erschwert haben. Was damals in Zeiten, in denen
Deutschland wirtschaftlich am Boden lag, richtig war,
soll heute in Zeiten, in denen unser Land trotz Schuldenkrise prima dasteht, falsch sein? Diesen Sinneswandel
müssen Sie den Menschen erklären; das versteht doch
niemand!
Richtig ist, dass die Anpassungslasten des Arbeitsmarkts in den letzten Jahren vor allem von bestimmten
Beschäftigungsgruppen getragen worden sind, zum Beispiel Zeitarbeiter, befristet Beschäftigte und Niedriglohnverdiener. Die Diagnose mag richtig sein, aber Ihre
Medizin ist falsch. Denn eher als an der Rahmenfrist für
das Arbeitslosengeld zu drehen, sollten wir für diese Beschäftigtengruppen die Brückenfunktion für höherwertige Beschäftigungen stärken und versuchen, nachhaltige Beschäftigungsverhältnisse hinzubekommen. Wir
wollen nicht die Arbeitslosigkeit der Betroffenen finanzieren, sondern sie in Beschäftigung bringen.
Auch bei der sogenannten Anwartschaftszeit sehen
wir keinen Änderungsbedarf. Heute muss innerhalb von
zwei Jahren mindestens zwölf Monate ein sogenanntes
Versicherungspflichtverhältnis bestanden haben, um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erwerben. Was
steckt hinter dieser Regelung? Bei kurzfristiger Beschäftigung soll kein Anspruch auf Arbeitslosengeld bestehen. Und was wollen die Antragsteller? Sie möchten
diese Anwartschaftszeit auf sechs bzw. vier Monate verkürzen. Künftig soll sich nach viermonatiger Beitragszahlung ein zweimonatiger Anspruch auf Arbeitslosengeld ergeben, so heißt es im Antrag der Grünen.
Auf den ersten Blick mag das populär klingen. Motto:
Wer in die Arbeitslosenversicherung einzahlt, möchte
auch Leistungen bekommen und seine Beiträge nicht
umsonst eingezahlt haben. Allerdings ist die Arbeitslosenversicherung keine Sparkasse. Sie ist eine Versicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit. Solche
Risikoversicherungen verlangen typischerweise eine bestimmte Vorversicherungszeit. Der Gesetzgeber hat sich
für zwölf Monate entschieden. Ich halte diese Grenze für
richtig. In keinem Fall trägt das Argument, man habe
seine Beiträge umsonst gezahlt, wenn man kürzer als ein
Jahr Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt habe. Denn was sagen wir dann umgekehrt demjenigen, der 45 Jahre durchgehend gearbeitet, Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat und nie arbeitslos geworden ist? Pech gehabt, alle Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung umsonst gezahlt? Wohl kaum.
Daran wird deutlich, dass eine Verkürzung der Anwartschaftszeit weder sozialpolitisch notwendig noch sachlich begründbar ist. Aus diesem Grunde lehnen wir Ihre
entsprechenden Forderungen ab.
Am Ende meiner Rede möchte ich dann doch noch
versöhnlich werden. Denn in einem Punkt sehe ich
durchaus Überschneidungen zwischen Ihren Forderungen und den Vorstellungen innerhalb der Koalition, und
zwar bei der Schaffung einer Sonderregelung in der Arbeitslosenversicherung zur verkürzten Anwartschaftszeit für unstetig Erwerbstätige, die wechselnde Anstellungen von bis zu zehn Wochen haben. Bisher durften
solche Kurzanstellungen nicht länger als jeweils sechs
Wochen dauern. Von dieser Änderung profitieren in erster Linie Kunst- und Kulturschaffende. Uns als CDU/
CSU-Fraktion war das Anliegen der Betroffenen schon
immer sehr wichtig. Wir haben keine Nachhilfe vonseiten der Opposition nötig. Ihre Schaufensteranträge
- Anfang Februar 2012 pünktlich zum Auftakt der
62. Berlinale gestellt - hätten Sie sich schenken können.
Die Änderung war zu diesem Zeitpunkt längst verabredet und in trockenen Tüchern. Sie waren damals zu spät
dran, genauso wie Sie jetzt der Zeit hinterherhinken.
Während wir hier heute debattieren, hat die Koalition
längst gehandelt und heute im Rahmen des sogenannten
Psych-Entgeltgesetzes die Änderung zugunsten der Beschäftigten im Künstlerbereich - zeitlich begrenzt zunächst bis Ende 2014 - verabschiedet. Das zeigt: Die
Koalition ist handlungs- und entscheidungsstark.
Noch vor wenigen Jahren war es eine Selbstverständlichkeit: Wer arbeitslos wurde, nachdem er mindestens
ein Jahr lang beschäftigt war, hatte Anspruch auf Arbeitslosengeld. Dafür hat er schließlich Beiträge abgeZu Protokoll gegebene Reden
führt. Mit dem Arbeitslosengeld soll die Zeit überbrückt
werden, bis wieder eine Anstellung gefunden ist. Das ist
die zentrale Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung. Dafür haben wir sie geschaffen. Aber heute sieht
das ganz anders aus: Jeder Vierte, der arbeitslos wird,
bekommt kein Arbeitslosengeld - und das, obwohl er regelmäßig Sozialbeiträge gezahlt hat. Stattdessen ist er
gleich auf die Grundsicherung angewiesen. Für jeden
vierten Arbeitnehmer kann die Arbeitslosenversicherung also keinen Schutz mehr bieten - und die Tendenz
ist steigend. Das ist ein alarmierender Befund für unser
Sozialversicherungssystem als Ganzes. Das können wir
nicht hinnehmen. Wir können nicht zulassen, dass immer
mehr Menschen gleich auf das Grundsicherungsniveau
absinken. Und wir können nicht zulassen, dass Beiträge
eingezogen werden, ohne dass die Beschäftigten eine
realistische Chance auf Leistungen haben. Hier ist etwas faul im System, und das muss behoben werden.
Sonst geht das Vertrauen in unsere Sozialversicherung
weiter verloren.
Betroffen sind zum einen die prekär Beschäftigten.
Bei ihren Niedriglöhnen fällt das Arbeitslosengeld so
gering aus, dass es unterhalb der Grundsicherung liegt.
Die andere Gruppe sind die immer wieder kurz befristet
Beschäftigten. Das sind die Saisonbeschäftigten, die
Leiharbeitnehmer oder diejenigen, die immer wieder
projektgebunden arbeiten. Vor allem in der Kultur- und
Kreativwirtschaft breiten sich diese Anstellungsverhältnisse aus. Aufgrund der vielen Unterbrechungen können
diese Beschäftigtengruppen die Anwartschaft innerhalb
der zweijährigen Rahmenfrist nicht erfüllen. Festzuhalten bleibt: Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Jahren rasant verändert, und unsere Sozialversicherung hat
damit nicht Schritt gehalten. Das müssen wir ändern.
Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt. Wir fordern die Verlängerung der Rahmenfrist auf drei Jahre
und den Wegfall der bisher geltenden komplizierten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der kleinen Anwartschaft. Die Experten der Anhörung im Ausschuss
haben unsere Forderungen breit unterstützt. Wir wollen
die Frist, innerhalb der die Anwartschaft nachgewiesen
werden muss, ausweiten: von jetzt zwei auf künftig drei
Jahre. In diesem Zeitraum haben die kurz befristet Beschäftigten dann die realistische Chance, dass sich ihre
einzelnen Arbeitsverhältnisse auf die erforderliche Anwartschaft addieren.
Der Antrag der Grünen geht einen anderen Weg,
kommt aber mit der weiteren Verkürzung der Anwartschaft bei gleicher Rahmenfrist zum gleichen Effekt. Alle
Sachverständigen haben bestätigt, dass die Verlängerung der Rahmenfrist mehr Versicherte in den Versicherungsschutz einbeziehen würde. Bedenken wurden hinsichtlich der damit verbundenen Kosten geäußert.
Allerdings stehen die entsprechenden Schätzungen
des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung,
IAB, auf äußerst wackeligen Füßen. Das haben einzelne
Sachverständige herausgestellt. Nicht nur, dass bisherige Schätzungen extreme Abweichungen aufweisen.
Auch wurde kritisiert, dass keine Gesamtbilanz aufgemacht wurde. Die Einsparungen bei der Grundsicherung und bei den Kosten der Unterkunft aufseiten der
Kommunen gingen nicht in die Rechnung ein. Und ich
möchte daran erinnern, dass das IAB schon einmal kräftig daneben gegriffen hat, als die Kosten für die Inanspruchnahme der Sonderregelung für die kurze Anwartschaft viel zu hoch angesetzt wurden. Prognostiziert
waren jährlich 50 Millionen Euro. Tatsächlich aber hat
die Bundesagentur einschließlich Sozialabgaben nur 1,7
Millionen Euro ausgeben müssen. Diese Milchmädchenrechnungen sollen uns immer nur davon abhalten, sinnvolle Entscheidungen für die Arbeitnehmer zu treffen.
Mit einer weiteren Maßnahme wollen wir die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken. Die seit
knapp drei Jahren geltende Sonderregelung für kurz befristet Beschäftigte hat ihr Ziel klar verfehlt. Der Grund:
Die Hürden für die Inanspruchnahme der kurzen Anwartschaft von sechs Monaten sind viel zu hoch gesetzt.
Die Anhörung hat das eindrucksvoll bestätigt. Derzeit
werden für die Klärung des Arbeitslosengeldanspruchs
aufgrund der kurzen Anwartschaft nur Beschäftigungsverhältnisse von bis zu sechs Wochen berücksichtigt. Die
Koalition will das nun auf zehn Wochen erhöhen.
Die Experten der Anhörung haben anschaulich geschildert, dass auch das an den Beschäftigungsrealitäten, zum Beispiel in der Filmbranche, vorbeigeht. Selbst
der von der Unionsfraktion benannte Sachverständige
vom Bundesverband der Film- und Fernsehschauspieler,
BFFS, hat eine Mindestdauer von drei Monaten gefordert und dem Wegfall jeder Befristung den Vorzug gegeben. Genau das entspricht unserer Forderung an die
Bundesregierung: Wegfall der Voraussetzungen für die
Inanspruchnahme der kurzen Anwartschaft.
Auch nach der Anhörung hält die Koalition wider
besseres Wissen an ihrem Vorschlag fest. Das zeugt von
erschreckender Ignoranz gegenüber dem Rat der Experten und vor allem gegenüber den Betroffenen. Aber es ist
nicht nur die Wirkungslosigkeit des Koalitionsvorschlags, auch die bürokratisch komplizierte Regelung
stand bei der Anhörung in der Kritik. Auch dem Bundesrechnungshof war das aufgefallen. Er empfiehlt der
Bundesagentur für Arbeit, besonders qualifizierte Spezialisten für die Bearbeitung der Anträge einzusetzen,
weil die Sachbearbeiter in den Jobcentern damit überfordert sind. Das kann es ja wohl nicht sein. Vielmehr
brauchen wir eine einfache und für alle nachvollziehbare Regelung. Unser Vorschlag trägt dem umfassend
Rechnung. Damit wollen wir uns nicht auf ein ungewisses Abenteuer einlassen, sondern wir befristen das
Ganze auf drei Jahre und begleiten es durch eine wissenschaftliche Evaluation. Dadurch haben wir laufend Erkenntnisse über die Auswirkungen, übrigens auch in finanzieller Hinsicht. Und wir können entsprechend
nachsteuern.
Lassen Sie mich noch einmal auf die Anhörung zurückkommen. Da wurde vonseiten der Arbeitgeberverbände als Reaktion auf den veränderten Arbeitsmarkt
doch tatsächlich gefordert, dass die Politik wieder für
mehr feste Beschäftigungsverhältnisse sorgen soll. Und
das wurde von den Kollegen der Koalitionsfraktionen
mit Zustimmung quittiert. Ich halte das für geradezu zynisch. Wollen Sie denn angesichts der faktischen EntZu Protokoll gegebene Reden
wicklungen auf dem Arbeitsmarkt den Kopf in den Sand
stecken? Gerade in der Kulturwirtschaft ist der Trend zu
projektgebundener Arbeit unumkehrbar. Hier wird kreativ, effizient und innovativ, aber eben häufig befristet im
Rahmen von Projekten gearbeitet. Sagen Sie mir bitte:
Wie wollen Sie diese Arbeit in Dauerarbeitsverhältnisse
überführen, ohne die Dynamik eines ganzen Wirtschaftssektors zu gefährden? Die Kultur- und Kreativwirtschaft
ist eine Branche, die eine gewisse Leitfunktion für den
gesamten Arbeitsmarkt hat. Vielfach wird sie als Hoffnungsträger für Wachstum und Beschäftigung präsentiert. Die Kennziffern sprechen für sich. Hier arbeiten
hochmotivierte Menschen mit großem Einsatz und persönlichem Risiko. Ideenreichtum, Innovation und Kreativität lassen sich nicht in Dauerarbeitsverhältnisse
zwängen. Wir brauchen andere Antworten. Wir müssen
die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass diese
Menschen sich auf ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit verlassen können. Und dazu gehört es ganz zentral,
dass sie wieder Schutz in der Arbeitslosenversicherung
finden. Dabei soll unser Antrag helfen. Wenn wir heute
keine Mehrheit finden, dann kann ich den betroffenen
Beschäftigten zusichern, dass unsere Forderungen Eingang in unser Wahlprogramm finden werden.
Ich freue mich, dass die Anträge der Fraktionen von
Grünen und Linken in dieselbe Richtung gehen. Der
Vorschlag der Regierungskoalition wird sich ganz
schnell als ebenso wirkungslos erweisen wie die geltende Regelung.
Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.
Also meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, weil es so viel Spaß macht, wiederhole ich erst einmal die Ergebnisse der Sachverständigenanhörung: Von
zwei eingeladenen Forschungsinstituten hielten genau
wie viele noch einmal ihre Vorschläge für gut? Richtig,
keines der beiden Forschungsinstitute konnte ihren Vorschlägen etwas abgewinnen. Dann war natürlich auch
die zuständige Behörde eingeladen. Und wie votierte die
Bundesagentur für Arbeit? Ablehnend, auch richtig. Bei
den restlichen Verbänden und Einzelsachverständigen
gingen die Meinungen dann auseinander, wobei sämtliche Arbeitgebervertreter ihre Vorstellungen ablehnten,
die Gewerkschaften ihnen hingegen folgten. Bleibt also
im Resultat, dass diejenigen, die sich wissenschaftlich
mit der Sache beschäftigen - das IW und auch den
von ihnen benannten Einzelsachverständigen, Professor
Bosch, lasse ich hier einmal außen vor, auch wenn Letzterer sicherlich durch seine ehemalige, über zehnjährige
Tätigkeit für den Deutschen Gewerkschaftsbund seine
Kompetenz gestählt haben dürfte -, und diejenigen, die
ihre Ideen praktisch umsetzen müssen, davon also schon
einmal nichts halten.
So, und jetzt sage noch einmal einer, Politiker würden
nicht nach ihren Überzeugungen handeln. Im Gegenteil,
geradezu blinde Hingabe findet man bisweilen etwa
dann, wenn die SPD glaubt, sie hätte einen guten Antrag
zur Rahmenfrist geschrieben; denn nach der Anhörung
stellen oder vielmehr setzen Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, sich im Ausschuss hin und sagen, dass die Experten ihre Vorschläge begrüßen würden. Unbeirrbar,
kann ich da nur sagen. Allerdings nicht alleine; denn
auch die Linke und die Grünen hatten ja nichts übrig für
die Ergebnisse der Anhörung. Darüber hinaus ist es natürlich etwas zweifelhaft, wenn man großzügige Versprechen - ja, wir dehnen die Rahmenfrist aus - dann vorgerechnet bekommt, wie viel das ungefähr kosten würde
- immerhin bis zu 1,7 Milliarden Euro pro Jahr - und
dann nirgendwo ein Sterbenswörtchen zur Finanzierungsfrage verliert. Wie vertragen sich etwa die Mehrkosten, die hier bei den passiven Leistungen zu erbringen wären, mit unserer Leistungsfähigkeit in der aktiven
Arbeitsmarktpolitik? Ist nicht Weiterbildung wichtiger
als eine eventuell verlängerte Bezugszeit? Und wie sähe
es eigentlich mit dem Beitragssatz aus? Warum sagen
Sie den Menschen denn nicht rundheraus, das ihre Vorschläge nicht nur dazu führen würden, dass manche länger etwas kriegen, sondern das alle vorab dafür zahlen
müssten, was bei einer Beitragssatzsteigerung ja der
Fall wäre?
Abgesehen davon, dass Sie uns Antworten auf alle
diese Fragen schuldig bleiben, sind Sie auch nicht auf
die konkreten Probleme bei der Sonderregelung für
überwiegend kurz befristet Beschäftigte eingegangen.
Die Verdienstgrenze abzuschaffen, ist und bleibt Unsinn.
Ich habe es bei der ersten Lesung getan und tue es jetzt
gerne wieder, nämlich den Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der letzten Legislaturperiode zu zitieren, den geschätzten SPD-Kollegen,
Klaus Brandner. Er schrieb am 15. Mai 2009 in einem
Brief an die Koalitionsfraktionen, also auch an Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Folgendes:
„Die Sonderregelung greift nur zugunsten von Personen, die zuletzt ein Jahresentgelt erzielt haben, das nicht
über dem Durchschnitt aller Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer liegt. Damit vermeiden wir, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die … ein überdurchschnittlich hohes Jahreseinkommen erzielen, in ihren
beschäftigungsfreien Zeiten zusätzlich Arbeitslosengeld
erhalten. Dieses müsste durch die übrigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zum Teil mit einem geringen Jahreslohn auskommen müssen, sowie durch deren Arbeitgeber finanziert werden.“
Das ist einfach korrekt. Da muss man nichts weiter zu
sagen. Gleichzeitig ist es richtig, bei der Sonderregelung für überwiegend kurz befristet Beschäftigte besonnen zu handeln. Wir haben bisher nur Sachstandsberichte, die uns die Zahlen nennen, und keine umfassende
Evaluation durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Solange diese Evaluation, die ja gerade
läuft, noch aussteht, sollte man nicht das große Rad drehen. Dass wir jetzt also die Regelung erst einmal verlängern und die zulässige Beschäftigungsdauer von sechs
auf zehn Wochen verlängern, hat den meisten Sinn. Die
sechswöchige Frist kann man durchaus als zu kurz bemessen einstufen, auch ohne Evaluation, aber alles was
drüber hinausgeht, sollte auf einer soliden empirischen
Grundlage stehen. Die ausufernden, teuren und arbeitsmarktpolitisch problematischen Änderungen an der
Rahmenfrist, die Sie vorschlagen, sind jedoch der falZu Protokoll gegebene Reden
Johannes Vogel ({0})
sche Weg. Unsere Bedenken konnten Sie leider zu keiner
Zeit ausräumen. Daher lehnen wir Ihre Anträge ab.
Seit der Einführung der Hartz-Gesetze vor knapp
zehn Jahren hat die Arbeitslosenversicherung einen großen Teil ihrer Schutzfunktion eingebüßt. Nach Angaben
der Bundesagentur für Arbeit rutscht inzwischen jeder
vierte Erwerbslose direkt in Hartz IV. Besonders betroffen sind Beschäftigte mit kurzen, befristeten Arbeitsverhältnissen.
Die Ursachen dafür liegen einerseits in der Zunahme
der Zahl von prekären Jobs. Für prekär Beschäftigte ist
es oft schwer, die erforderlichen Versicherungszeiten zu
erwerben. Oft zahlen sie so in die Arbeitslosenversicherung ein, erhalten aber im Falle des Jobverlusts kein Arbeitslosengeld.
Verschärft wird diese Problematik durch Einschnitte
in der Arbeitslosenversicherung, die ebenfalls mit den
Hartz-Gesetzen vorgenommen wurden. So wurde der
Zeitraum verringert, in dem Beschäftigte Ansprüche auf
Arbeitslosengeld I erwerben können. Die sogenannte
Rahmenfrist sank von drei auf zwei Jahre.
Zugleich schaffen es viele Beschäftigte nicht, die erforderlichen zwölf Monate sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung zusammenzubekommen, die für den Bezug des regulären Arbeitslosengelds I nötig sind.
Wegen dieses Problems wurde schon unter der Großen Koalition eine Sonderregelung für kurzzeitig Beschäftigte eingeführt. Sie sollte es den Betroffenen ermöglichen, unter bestimmten Voraussetzungen bereits
mit einer Versicherungszeit von sechs Monaten bzw. 180
Tagen Ansprüche auf das Arbeitslosengeld I zu erwerben. Diese Regelung hat sich aber als unzureichend erwiesen. Von den aufgrund dieser Sonderregelung gestellten Anträgen wurde in den zurückliegenden Jahren
nur etwa jeder dritte genehmigt. Denn die Zugangsbedingungen bei dieser Sonderregelung sind sehr restriktiv. So dürfen die Beschäftigten überwiegend nur Jobs
ausüben, die sechs Wochen oder weniger dauern. Zudem
dürfen sie nicht mehr als 2 625 Euro brutto im Monat
verdienen.
Diese restriktiven Sonderregelungen führen dazu,
dass viele Beschäftigte zu kurz beschäftigt sind, um reguläres Arbeitslosengeld I zu beziehen, aber zu lang beschäftigt sind, um das Arbeitslosengeld I nach der Sonderregelung zu beziehen. Sie fallen durch diese Lücke.
Der Verband der Film- und Fernsehregisseure machte
vor einiger Zeit darauf aufmerksam, dass es in dieser
Branche jeden dritten Beschäftigten betrifft, der seine
Anstellung verliert.
Es geht hier aber nicht um eine spezielle Berufsgruppe, sondern um ein generelles Problem, ein Problem, das durch die Zunahme prekärer Beschäftigung
insgesamt an Bedeutung gewonnen hat. Nehmen wir das
Beispiel der Leiharbeitskräfte. Die Hälfte von ihnen ist
weniger als sechs Monate beschäftigt. War zum Beispiel
ein Leiharbeiter in den zurückliegenden zwei Jahren
einmal vier Monate und einmal sechs Monate beschäftigt, fällt er im Falle der Arbeitslosigkeit sofort in
Hartz IV. Er hat insgesamt keine zwölf Monate Versicherungszeit für das reguläre Arbeitslosengeld erworben,
war aber mit mehrmonatigen Arbeitsverträgen zu lange
beschäftigt, um das Arbeitslosengeld für kurzzeitig Beschäftigte zu erhalten.
Dieser Zustand ist nicht zu akzeptieren. Die Änderungen, die die Regierung jetzt anstrebt, sind nur Flickschusterei.
Die Linke will die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung wieder stärken. Dazu ist die Rahmenfrist
zum Erwerb von Arbeitslosengeld-I-Ansprüchen wieder
auf drei Jahre zu verlängern. Für Beschäftigte mit überwiegend kurzen Beschäftigungsverhältnissen sind die
Zugangsbedingungen zum Arbeitslosengeld I darüber
hinaus in der Art zu erleichtern, dass die im § 123 SGB
III enthaltene Beschäftigungsbedingung gestrichen und
die Verdienstgrenze abgeschafft wird.
SPD und zum Teil auch Grüne haben ähnlich lautende Anträge vorgelegt. Es freut uns, dass hier die Fehler korrigiert werden sollen, die von Rot-Grün mit den
Hartz-Gesetzen begangen wurden. Leider kommt dieser
Wandel zu spät. Denn nun haben wir für diese richtigen
und notwendigen Korrekturen keine parlamentarische
Mehrheit.
Die Zukunft wird zeigen, ob es uns gelingt, dies zu ändern, und ob SPD und Grüne dann ebenfalls noch zu ihrem Wort stehen.
Die Regelungen der Arbeitslosenversicherung sind
nicht mehr zeitgemäß, denn sie grenzen immer mehr
Menschen vom Arbeitslosengeldbezug aus. Zunehmend
fallen befristet Beschäftigte, die ihren Job verlieren,
durchs Raster: Sie haben zwar Beiträge eingezahlt, aber
weil sie nicht lange genug beschäftigt waren, haben sie
im Falle von Arbeitslosigkeit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Inzwischen ist jeder vierte Erwerbstätige
beim Verlust seines Arbeitsplatzes sofort auf Hartz-IVLeistungen angewiesen, Tendenz steigend - da kann von
Gerechtigkeit keine Rede mehr sein.
Der Arbeitsmarkt wird zunehmend flexibler. Diejenigen, die die hohen Anpassungslasten dieser Entwicklung
tragen müssen, sollten gut abgesichert sein. Aber genau
das ist nicht der Fall. Für sie gibt es kein Netz und keinen doppelten Boden, denn sie schaffen es nicht, innerhalb von zwei Jahren zwölf Monate Beiträge in die
Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Das aber sind
zurzeit die Voraussetzungen, um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erwirken. Betroffen sind nicht nur Kulturschaffende und Beschäftigte in der Wissenschaft, die
schon lange mit kurzen Engagements oder befristeten
Verträgen arbeiten, sondern auch viele Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer und die meisten Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Insbesondere diejenigen, die es nach langer Zeit und mit viel Mühe geschafft
haben, aus dem Grundsicherungsbezug heraus einen
neuen Arbeitsplatz zu finden, landen bei einem Jobverlust sofort wieder im Hartz-IV-System. Denn es gelingt
Zu Protokoll gegebene Reden
bisher kaum, sie nachhaltig in Arbeit zu integrieren. Ihre
Beschäftigung bleibt oft nur ein kurzes Intermezzo ohne
langfristige berufliche Perspektive.
Für diese Menschen brauchen wir eine wirksame
Doppelstrategie: Zum einen geht es darum, ihnen über
gute Qualifizierung einen besseren Start in eine neue berufliche Zukunft zu ermöglichen; zum anderen brauchen
wir für sie einen besseren Schutz durch die Arbeitslosenversicherung, um den sofortigen Rückfall in die Grundsicherung zu vermeiden, wenn sie wieder arbeitslos werden. Beides wird es aber mit Arbeitsministerin von der
Leyen nicht geben. Sie kürzt bei der Weiterbildung und
zeigt null Engagement für eine Neuregelung der Arbeitslosenversicherung.
Dabei sind die Probleme seit langem bekannt. Schon
2009 hatte die damalige Große Koalition einen halbherzigen Versuch unternommen, über eine Sonderregelung
in der Arbeitslosenversicherung kurz befristet Beschäftigte besser abzusichern. Aber diese bürokratische, voraussetzungsvolle und bis Ende Juli 2012 befristete Regelung ist kläglich gescheitert. Lediglich 242 Personen
konnten im vergangenen Jahr von ihr profitieren. Das ist
eine beschämende und ernüchternde Bilanz. Darum
wäre es das Gebot der Stunde gewesen, das Auslaufen
dieser Sonderregelung zum Anlass zu nehmen, die Arbeitslosenversicherung zu einem echten Schutzschirm
für flexibel Beschäftigte auszubauen. Diese Chance hat
Arbeitsministerin von der Leyen vertan. Es gibt aus ihrem Haus dazu keinerlei Initiative. Stattdessen sind die
Regierungsfraktionen in die Bresche gesprungen, um zu
verhindern, dass auch noch die schmalspurige Sonderregelung ersatzlos wegfällt. Aber das, was jetzt dazu als
Änderungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und
FDP auf den letzten Drücker eingebracht wurde, ist lächerlich. Denn die alte Sonderregelung wurde lediglich
etwas aufgehübscht, ist aber im Kern unverändert geblieben. Es bleibt bei bürokratischen Einkommens- und
Beschäftigungsdauerobergrenzen, und ich prophezeie
schon jetzt, dass auch zukünftig davon nahezu niemand
profitieren wird.
Gerechtigkeit muss die oberste Messlatte für die Arbeitslosenversicherung sein. Sie muss daher auch all
denjenigen im Falle von Arbeitslosigkeit Schutz gewähren, deren Erwerbsleben durch kurzfristige, befristete
und unterbrochene Beschäftigung gekennzeichnet ist.
Auch sie zahlen Beiträge und sind somit Teil der Versichertengemeinschaft. Wir haben unsere Vorschläge dazu
vorgelegt. Wir fordern, dass zukünftig schon dann Arbeitslosengeld gezahlt wird, wenn für mindestens vier
Monate innerhalb von zwei Jahren Beiträge eingezahlt
wurden. So könnten nahezu 300 000 Menschen vor dem
Abrutschen in die Grundsicherung geschützt werden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/9612.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8574 mit dem Titel
„Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken - Rahmenfrist verlängern - Regelung für kurz befristet Beschäftigte weiterentwickeln“. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen. SPD
und Linke waren dagegen, CDU/CSU und FDP dafür.
Buchstabe b. Hier empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8586 mit dem Titel „Arbeitslosengeld statt
Hartz IV - Zugang zur Arbeitslosenversicherung erleichtern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die Linke war dagegen.
SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8579 mit dem Titel „Flexibel Beschäftigte in der Arbeitslosenversicherung besser
absichern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung durch SPD und
Linke angenommen. Dagegen waren Bündnis 90/Die
Grünen, die Koalitionsfraktionen hingegen dafür.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Sie genießen bitte den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. Juni 2012, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.