Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/14/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Ich möchte Sie zu Beginn unserer Plenarsitzung darauf aufmerksam machen, dass unser Kollege HansUlrich Klose heute seinen 75. Geburtstag feiert. ({0}) Lieber Kollege Klose, mit diesem Beifall des ganzen Hauses kommen nicht nur die guten Wünsche für die nächsten Jahre zum Ausdruck, sondern zweifellos auch die große Sympathie und die große Wertschätzung, derer Sie sich im ganzen Hause erfreuen. Ich weiß, dass heute Abend auch aus diesem Anlass die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft zu einer besonderen Veranstaltung zusammentritt, die sicherlich Gelegenheit bieten wird, dieses besondere Ereignis auch in einer besonderen Weise zu würdigen. Noch einmal alle guten Wünsche! ({1}) Am 22. Mai hat der Kollege Bernhard Brinkmann, den wir heute nach längerer Krankheit wieder unter uns begrüßen können, seinen 60. Geburtstag gefeiert. Auch ihm möchte ich auf diesem Wege herzlich gratulieren. ({2}) Wir freuen uns, dass Sie wieder dabei sind, und wünschen Ihnen für das neue Lebensjahr alles Gute und eine stabile Gesundheit. Wir haben in den zurückliegenden Tagen immer mal wieder weitere Geburtstage von Kollegen gefeiert. Ich darf nur die etwas auffälligeren erwähnen: Der Kollege Hans-Christian Ströbele hat seinen 73., die Kollegin Helga Daub ihren 70. und der Kollege Wolfgang Bosbach seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ihnen allen gelten unsere guten Wünsche. ({3}) Bedauerlicherweise hat die Kollegin Nicolette Kressl mit Wirkung vom 1. Juni 2012 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für sie ist die Kollegin Annette Sawade nachgerückt. Im Namen des Hauses darf ich sie herzlich begrüßen. ({4}) Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit. Schließlich müssen wir vor Eintritt in die Tagesordnung noch eine Schriftführerwahl durchführen. Die SPD-Fraktion schlägt vor, für die Kollegin Aydan Özoğuz die gerade begrüßte Kollegin Annette Sawade als Schriftführerin zu wählen. Das ist eine der schnellsten parlamentarischen Karrieren, an die ich mich erinnern kann. Wir wollen einmal sehen, ob das auch die notwendige Mehrheit findet. Ist jemand gegen diesen Vorschlag? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? Dann sind Sie gleich am ersten Tag Ihrer Mitgliedschaft in diesem Hause in dieses wichtige Amt gewählt. Ich darf die allgemeine Freude auf die Zusammenarbeit um die besondere Freude auf die Zusammenarbeit hier oben ergänzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Umstrittene Nutzung des Auslandsnachrichtendienstes für den Transport eines von BM Niebel privat gekauften Teppichs ({5}) ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren Ergänzung zu TOP 52 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lieferung von U-Booten an Israel stoppen - Drucksache 17/9738 21860 Präsident Dr. Norbert Lammert Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger Ausschuss ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache Ergänzung zu TOP 53 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ - Drucksache 17/9939 ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der Energiewende ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Tobias Lindner, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im Wettbewerbsrecht verankern - Drucksache 17/9956 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia Schmidt ({8}), Anette Kramme, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen - Drucksache 17/9931 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 29 und 53 e abgesetzt. Darüber hinaus kommt es in der Zusatzpunktliste zu Änderungen im Ablauf, die dargestellt sind. Darf ich von Ihrem Einvernehmen ausgehen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum G-20-Gipfel am 18./19. Juni 2012 in Los Cabos ({10}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel. ({11})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Nächste Woche wird in Los Cabos in Mexiko der diesjährige G-20-Gipfel stattfinden. Seit Beginn der Finanzkrise 2008/2009 hat sich die G 20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs als zentrales Forum für die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit etabliert. Geboren ist dieses Forum aus der Erfahrung der wechselseitigen Abhängigkeit, in der wir auf der Welt zusammenleben, insbesondere nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Seither ist die Agenda der G 20 von der allein akuten Krisenbewältigung hin zu einer wirklich breiten globalen Zusammenarbeit erweitert worden. Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit ist deshalb heute umfassend zu verstehen. Alle Themen, die auf der Tagesordnung stehen, ordnen sich dieser gemeinsamen internationalen Zusammenarbeit unter. Erstens wird es um das sogenannte Green Growth gehen. Es steht auf der G-20-Agenda der diesjährigen mexikanischen Präsidentschaft ganz oben. Ich begrüße, dass Mexiko hier einen Schwerpunkt setzt, auch mit Blick auf den danach stattfindenden Gipfel Rio+20 in Brasilien. Grünes Wachstum ist ein Thema für alle G-20Staaten, egal ob sie Schwellen- oder Industrieländer sind; denn nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit gilt das Prinzip der gemeinsamen, wenn auch im Einzelfall unterschiedlichen Verantwortung. Es müssen Wege gefunden werden, mit denen Wirtschaftswachstum, Klimaund Umweltschutz weltweit in Einklang gebracht werden können. Das kann nur geschehen, wenn wir die Wachstumsdynamik so gestalten, dass sie von Innovationen und grünen Technologien, Verfahren und Produkten getragen wird. Es geht also darum, ökonomische, ökologische und soziale Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen. Das Ganze wird dann Inclusive Green Growth genannt. Das Ergebnis, wenn dieser Grundsatz beherzigt wird, ist das, was unter dem Stichwort Nachhaltigkeit diskutiert wird. Es geht hier allerdings um sehr konkrete Dinge. Wir dürfen nicht vergessen, dass von den 7 Milliarden Menschen, die auf der Welt leben, 1 Milliarde akut von Hunger bedroht ist. Das heißt, es geht darum, Hunger zu bekämpfen, die Biodiversität zu erhalten, dem Klimawandel zu begegnen. Wir wissen, dass Fortschritte, wenn es um verbindliche internationale Abkommen geht, in diesem Bereich eher im Schneckentempo erzielt werden. Es ist ein gutes Signal, dass es in Durban gelungen ist, wenigstens die Absicht zu verfestigen, dass wir ein weltweit bindendes Klimaabkommen brauchen. Aber der Weg ist mühsam. Doch genau das liegt im Interesse des gesamten Deutschen Bundestages bzw. der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb wird sich die deutsche Delegation, geführt von Umweltministerium und Entwicklungsministerium, bei Rio+20 genau dafür einsetzen. In Los Cabos werden wir darüber beraten, welchen Beitrag die grüne Ökonomie für eine nachhaltige Entwicklung leisten kann, auch und gerade im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung und der Sicherung der Ernährung. Es geht um nachhaltige Produktion und Produktivität im Agrarsektor. Es geht darum, die Situation der Kleinbauern zu verbessern. Wir werden insbesondere über spezielle Finanzierungsmechanismen für Kleinbauern beraten. Es ist deshalb sehr wichtig, dass es vor kurzem gelungen ist, eine Einigung über die freiwilligen Leitlinien zu den Landnutzungsrechten zu erzielen. Das mag uns aus unserer Perspektive hier heute Morgen sehr fern vorkommen. Für Millionen von Menschen kann es aber eine Zukunft bedeuten. Wir haben über die entsprechende Agenda schon beim G-8-Gipfel in Camp David diskutiert und dort eine neue Allianz zur Ernährungssicherung geschaffen. Dies soll im Rahmen der G 20 fortgesetzt werden. Ziel ist es, in den nächsten zehn Jahren 50 Millionen Afrikanern aus der Armut zu helfen ich glaube, ein zutiefst menschliches Anliegen. ({0}) Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit leistet die G 20 auch bei einem zweiten Thema, nämlich der Beschäftigung. Gerade dieses Ziel wird im Rahmen der G 20 von der Gruppe der Gewerkschaftsvertreter und der Internationalen Arbeitsorganisation sehr intensiv verfolgt. Es geht hier vor allen Dingen um den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Das ist nicht nur ein Problem in Europa, sondern ein weltweites Problem. Es wird deshalb auch in Los Cabos diskutiert. Es gibt eine Vielzahl von Vorschlägen zur Förderung der Jugendbeschäftigung. Da geht es um den reibungslosen Übergang von der Schule in den Beruf, praxisorientierte Ausbildung, die Förderung von beruflicher Ausbildung. Ich glaube, Deutschland kann und wird hier seinen Erfahrungsschatz aus dem dualen Berufsausbildungssystem sehr gut einbringen. ({1}) Die Erfahrung zeigt, dass, wenn wir das schaffen wollen, wir es nur gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften schaffen werden. Wir in Deutschland haben gerade in der Krise 2008/2009 gute Erfahrungen mit der sozialen Marktwirtschaft gemacht. Dieses Beispiel kann, glaube ich, weltweit Schule machen. Drittens gehört zu dem Thema der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit der freie Handel. Hier ist ein deutliches Wort notwendig, und ich werde dort auch entsprechend auftreten. Das Bekenntnis zum freien Handel ist zu oft nur ein Lippenbekenntnis. Die Monitoringberichte der internationalen Organisationen zeigen, dass die G 20 ihre Selbstverpflichtung in Sachen Protektionismus bislang nicht immer ernst genug genommen hat. WTO, OECD und UNCTAD haben zuletzt Ende Mai mit Sorge darauf hingewiesen, dass mittlerweile fast 4 Prozent des Handels der G-20-Staaten von solchen handelsbeschränkenden Maßnahmen betroffen sind. Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, wirksame Instrumente zu schaffen, um dieser Entwicklung entschieden zu begegnen. Protektionismus verhindert Wachstum. Wir brauchen nicht tagelang über Wachstum zu sprechen, wenn wir anschließend nicht bereit sind, im Sinne von freiem Handel alles zu tun, um Wachstum zu fördern. ({2}) Das Thema wird in Los Cabos sehr konkret werden; denn wir haben bei der G 20 ein sogenanntes Stillhalteabkommen zur Begrenzung des Protektionismus, das Ende 2013 ausläuft. Wir müssen es in Los Cabos verlängern, und zwar möglichst weit in die Zukunft hinein, weil internationaler Handel Impulse für Innovation, Wachstum und Beschäftigung schafft. Wir wissen, dass die Doha-Runde stockt. Deshalb müssen wir vor allen Dingen regionale und bilaterale Ansätze voranbringen. Die Europäische Union führt hierzu strategische Gespräche mit wichtigen Partnern in Asien und Lateinamerika. Deutschland ist bei diesen Verhandlungen immer ein konstruktiver Partner. Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit verlangt viertens und nicht zuletzt die Stärkung der Institutionen. Wir haben seit 2009 eine erstaunliche, auch sehr schnelle Entwicklung gehabt, bei der internationale Organisationen gestärkt wurden. Das gilt insbesondere für den Internationalen Währungsfonds. Der Internationale Währungsfonds muss zu jedem Zeitpunkt in der Lage sein, seine überaus wichtige Aufgabe zugunsten aller Mitgliedsländer wahrzunehmen. Deshalb war es wichtig, dass es auf der Frühjahrstagung des IWF gelungen ist, die Ressourcen aufzustocken. Wir erinnern uns: Zusätzliche finanzielle Mittel in Höhe von 430 Milliarden USDollar, davon allein rund 150 Milliarden Dollar aus der Euro-Zone, sprechen hier eine eigene Sprache. Jetzt geht es aber auch um die Umsetzung der 2010 beschlossenen IWF-Quotenreform. Hier geht es um die neue Machtbalance, die letztlich widerspiegelt, wie sich die ökonomischen Verhältnisse weltweit verändert haben. Das heißt, die Schwellenländer werden einen größeren Einfluss im IWF bekommen. Deutschland hat diese Quotenreform national fristgerecht umgesetzt, aber das haben noch nicht alle gemacht. Ich meine, es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit auch für die internationale Zusammenarbeit, dass alle Mitgliedstaaten dieser Quotenreform gerecht werden, damit der IWF auch arbeiten kann. ({3}) Der IWF hat nicht nur die Rolle, finanzielle Mittel in Notfällen bereitzustellen, sondern er entwickelt sich auch immer mehr zu einem Überwachungs- und Beratungsgremium. Er hat ja bei der Bekämpfung der europäischen Schuldenkrise eine ganz wichtige Aufgabe im Rahmen der Troika. Ich will an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, meine Damen und Herren, dass es die Troika war - der IWF an vorderster Stelle mit dabei -, die die Programme für Griechenland, für Portugal und für Irland ebenso wie Programme für andere europäische Länder, die wie zum Beispiel Lettland nicht im EuroRaum sind, entwickelt hat, und dass deshalb diese Programme auf internationalem Fundament ruhen und aus diesem Grunde auch umgesetzt werden müssen. Die Themen grünes Wachstum, Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, freier Handel, Stärkung der Institutionen sind von größter Bedeutung. Aber machen wir uns nichts vor: So wichtig all diese Themen sind, so sehr werden sie in Los Cabos alle im Schatten eines Themas stehen, das seit gut zwei Jahren auch uns, Deutschland, Europa und die Welt nahezu unablässig beschäftigt, nämlich die Staatsschuldenkrise in Europa. Sie wird zentrales Thema in Los Cabos sein. Sie wird die Beratungen - so sehe ich voraus - auch dominieren. ({4}) Damit - daran gibt es nicht den geringsten Zweifel wird gerade auch unser Land, wird Deutschland einmal mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. ({5}) Es ist so: Alle Augen richten sich auf Deutschland, weil wir die größte Volkswirtschaft im europäischen Raum und weil wir eine große Exportnation sind. Deshalb möchte ich noch einmal daran erinnern: Es ist zwar viel passiert seit dem letzten Gipfel in Cannes - Aufstockung des Rettungsschirms, strukturelle Reformen in vielen Ländern, Verhandlungen um den Fiskalvertrag; wir sind auf dem Weg, uns in Europa intensiver als jemals zuvor abzustimmen und die Union weiter zu vertiefen -, aber das wird nichts daran ändern, dass die aktuelle Situation dort auf der Tagesordnung steht. Wir beachten immer, dass die Stärkung des Wachstums und die Haushaltskonsolidierung Hand in Hand gehen müssen. Im Übrigen sind alle Programme, die von der Troika verabschiedet wurden, genau diesem Ziel geschuldet. Diese beiden Säulen gehören in der Krise in Europa zusammen. Beide Säulen sind unverzichtbar. Beiden Säulen liegt die Überzeugung zugrunde, dass wir die Krise nur nachhaltig überwinden können, wenn wir an ihren Wurzeln ansetzen: an der massiven Verschuldung und vor allem an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten wie auch an der mangelnden Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit Europas, die entsteht, wenn es seine eigenen Regeln nicht einhält. ({6}) Ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur eine schonungslose Analyse unserer eigenen Erfahrungen in Europa weist uns den Weg aus der Krise. ({7}) Immer wieder haben wir in Europa unsere Ziele nicht eingehalten. Im Jahre 2000 wurde von den Staats- und Regierungschefs beschlossen, dass man 2010 der dynamischste Kontinent der Welt sein wolle. Wir haben dies erkennbar nicht erreicht. Ich sage auch: Angefangen hat diese Entwicklung bei der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion vor 20 Jahren. Eigentlich sollte sie auf dem Fundament einer politischen Union aufgebaut werden. ({8}) Es gab damals zwei große Konvente bzw. Gruppen, die zwei Aufgaben hatten: Die eine hatte die Aufgabe, die Währungsunion zu schaffen, die andere die Aufgabe, die politische Union zu schaffen. Anschließend hat man die Währungsunion beschlossen, die politische Union aber nie realisiert. Deshalb ist es unsere Aufgabe, heute das nachzuholen, was damals versäumt wurde, und den Teufelskreis von immer neuen Schulden, von nicht eingehaltenen Regeln zu durchbrechen. Ich weiß, dass das mühsam ist, dass das schmerzhaft ist, dass das langwierig ist. Es ist eine Herkulesaufgabe, aber sie ist unvermeidlich. Alles andere wäre Augenwischerei und würde uns in noch schwierigere Probleme führen - vielleicht nicht morgen, aber mit aller Sicherheit in ziemlich kurzer Zeit, meine Damen und Herren. ({9}) Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal die Frage stellen, die uns beschäftigen muss, mit der man sich ja auch weltweit beschäftigt: Wie konnte eigentlich die internationale Finanzkrise 2008/2009 entstehen? ({10}) Sie konnte entstehen und fatale Wirkungen entfachen, weil immer wieder Fakten ignoriert wurden, Wechsel auf die Zukunft gezogen wurden, Kräfte überschätzt wurden und riskante Instrumente finanzieller Art angewandt wurden. So ist die Immobilienkrise entstanden, so wurde zu viel Liquidität bereitgestellt, so konnten neue Finanzprodukte entwickelt werden - ein Teufelskreis, den wir für die Zukunft durchbrechen müssen. Wir müssen verstehen: Erfolgreich werden wir nur sein, wenn alle - ich betone: wirklich alle -, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die europäischen und internationalen Institutionen genauso wie die Gesellschaften unserer Länder, bereit und in der Lage sind, die Fakten anzuerkennen und die Kräfte jeweils realistisch einzuschätzen und sie zum Wohle des Ganzen auch wirklich einzusetzen. All denen, die in diesen Tagen in Los Cabos wieder auf Deutschland schauen, die von Deutschland den Paukenschlag und die Lösung erwarten, die Deutschland von Euro-Bonds, Stabilitätsfonds, europäischen Einlagensicherungsfonds, noch mehr Milliarden und vielem mehr überzeugen wollen, sage ich deshalb: Ja, Deutschland ist stark, Deutschland ist Wirtschaftsmotor, und Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa. Und ich sage: Deutschland setzt diese Stärke und diese Kraft auch ein, und zwar zum Wohle der Menschen nicht nur in Deutschland, sondern auch im Dienste der europäischen Einigung und auch im Dienste der Weltwirtschaft. ({11}) Warum tun wir das? Weil wir überzeugt sind: Europa ist unser Schicksal und unsere Zukunft. Und weil wir überzeugt sind: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Aber wir wissen ebenfalls: Auch Deutschlands Stärke ist nicht unendlich; auch Deutschlands Kräfte sind nicht unbegrenzt. Deshalb besteht unsere besondere Verantwortung als größte Volkswirtschaft in Europa darin, unsere Kräfte glaubwürdig einzuschätzen, damit wir sie für Deutschland und Europa mit voller Wirkung einsetzen können. Das gelingt nur, wenn wir unsere Kräfte nicht überschätzen, sondern wenn wir glaubwürdig Schritt für Schritt unseren Weg zu einer politischen Union gehen. Alle Mittel, alle Maßnahmen, alle Pakete wären am Ende Schall und Rauch, wenn sich herausstellen sollte, dass sie über Deutschlands Kräfte gehen, dass sie Deutschland überfordern. In dem Moment würden alle Maßnahmen, die jetzt gefordert werden, ihre Wirkung sofort verlieren, und wir würden von den Märkten wieder abgestraft. Deshalb sage ich: Wir sind verpflichtet, zum Wohle unseres Landes, aber auch zum Wohle Europas zu arbeiten. Das heißt, wir dürfen uns nicht nach dem Mittelmaß richten, nach der schnellen Lösung suchen, sondern wir müssen das Beste für unser Handeln versuchen. ({12}) Diese scheinbar einfachen Vergemeinschaftungsüberlegungen, ganz abgesehen davon, dass sie verfassungsrechtlich gar nicht machbar sind, sind somit völlig kontraproduktiv. Sie würden das Mittelmaß für Europa zum Maßstab erklären. Wir würden damit unseren Anspruch aufgeben, unseren Wohlstand im weltweiten Wettbewerb zu halten. Wir würden die Fehler der Anfangszeit des Euro, als die Märkte uns mit fast einheitlichem Zins beurteilt haben, jetzt politisch wiederholen. Damit würden wir eben nicht an der Wurzel unseres Problems ansetzen, sondern die Probleme allenfalls kurzfristig verschleiern. ({13}) Manchen Marktteilnehmern mag das recht sein - das kann ich verstehen -; aber wir machen Politik doch nicht im Auftrag der Märkte, sondern wir machen sie für die Zukunft der Menschen in unserem Lande. ({14}) Wir haben unverändert das Ziel, dass Europa stärker aus dieser Krise hervorgeht, als es in sie hineingegangen ist. Deshalb müssen wir umfassend unsere Strukturen reformieren. Es gibt ganz einfache Ausarbeitungen, zum Beispiel der Weltbank, wo beschrieben steht, wie Europa seinen Glanz wiederherstellen kann: „Restoring the lustre of the European economic model“. Allein schon in diesem Titel drückt sich aus, dass bei uns etwas nicht richtig gelaufen ist. Wir müssen mehr Innovationen haben. Wir brauchen mehr neue Technologien. Wir müssen den Binnenmarkt vervollständigen. Wir müssen einen Arbeitsmarkt in Europa schaffen, auf dem mehr Mobilität herrscht. Wir müssen unsere Mittel, die Strukturfondsmittel, die Kohäsionsfondsmittel, besser einsetzen. Wir müssen Bürokratie abbauen. Über alles das sprechen wir jetzt auch im Zusammenhang der Vorbereitung des Rates mit den Vertretern der Oppositionsfraktionen. Ich glaube, das sind gute Gespräche. Dass wir all das nicht ausreichend getan haben, dass wir die Regeln immer wieder nicht eingehalten haben, hat Europa Vertrauen gekostet - Vertrauen auf den Märkten und bei den Investoren. Dieses Vertrauen muss schnellstmöglich wiederhergestellt werden. Meine Damen und Herren, nehmen wir Spanien. Spanien macht - nach langer Zeit - die richtigen Reformen. Der spanische Ministerpräsident tut dies mit großem Mut und großem Engagement. ({15}) Aber Spanien sitzt auf den Folgen einer Immobilienblase, die durch unverantwortliches Handeln in den letzten zehn Jahren entstanden ist. Deshalb war es auch richtig, dass Spanien sich anschickt, einen Antrag zu stellen, um die Solidarität Europas in Anspruch zu nehmen, damit die Folgen dieser Vergangenheit bewältigt werden können. Denn wir wissen: Banken müssen vernünftig kapitalisiert sein, um den Wirtschaftskreislauf am Laufen zu halten. Das ist die Lehre von 2008/2009. Natürlich wird dies auch eine Konditionalität für die Zukunft des spanischen Bankensektors beinhalten. In diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass wir in Deutschland ebenfalls relativ leidvolle Erfahrungen mit der Umstrukturierung einiger Banken sammeln mussten. Je schneller der Antrag von Spanien gestellt werden kann, umso besser ist es. Am Fall Spanien können wir aber auch noch ein Weiteres sehen. Vor einem halben Jahr hat die neu geschaffene europäische Bankenaufsicht einen Stresstest für alle Banken in Europa durchgeführt. Bei diesem Stresstest damals haben die nationalen Bankenaufseher sehr viel mitgesprochen. Meine Damen und Herren, das Ergebnis können wir heute besichtigen: Die spanischen Banken befinden sich in einer anderen Lage, als es der Stresstest erscheinen ließ. ({16}) Deshalb geht es - das kann man an diesem Beispiel exemplarisch sehen - in Europa um unabhängige Aufsicht, zum Beispiel im Bankensektor. Ich hätte nichts dagegen, wenn die Europäische Zentralbank hier künftig eine stärkere Rolle einnimmt, damit sie auch Aufsichtsbefugnisse bekommt, die uns davor schützen, dass nationale Einflüsse uns Probleme verschleppen lassen. ({17}) Wir brauchen eine glaubwürdige Bankenaufsicht. Wir brauchen auf der Ebene der EU eine klarere Beurteilung, wie wir Strukturfondsmittel besser in Maßnahmen und Investitionen lenken, um Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu stärken. Die Tatsache - das ist bereits ein Schritt dessen, was wir im sogenannten SixPack miteinander beschlossen haben -, dass die Europäische Kommission heute Länderberichte für jedes Land vorlegt ({18}) und darin die Wettbewerbsschwächen schonungslos analysiert, ermöglicht es uns natürlich auch, die Strukturfondsmittel in Zukunft sehr viel zielgerichteter einzusetzen. Es ist vollkommen richtig: Auch Deutschland werden Hausaufgaben aufgegeben. Herr Trittin, wenn wir dann über die bessere Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie sprechen, werden wir sicher ganz schnell zusammenkommen; denn gerade im Dienstleistungsbereich wird Deutschland immer mangelnde Wettbewerbsfähigkeit vorgeworfen. ({19}) Ich weiß, dass das uns allen schwerfällt. Ich sage aber auch: Wenn wir ein glaubwürdiger Partner in Europa sein wollen, müssen auch wir unsere Hausaufgaben machen und können nicht immer sagen, dass uns das gerade nicht passt. ({20}) Meine Damen und Herren, der Fiskalpakt ist auch deshalb von so großer Bedeutung, weil er ein erster Schritt ist, mehr Gemeinsamkeit mit mehr Kontrolle auf europäischer Ebene zu verbinden. Es wird ganz wichtig sein, zu berücksichtigen, dass nationale Kompetenzen nur dann abgegeben werden können, wenn klar ist, dass Vergemeinschaftung auch immer mit unabhängiger Kontrolle der europäischen Institutionen verbunden ist. Haftungen und Kontrollen gehören zusammen. Alle anderen Diskussionen führen nur zu einer Scheinlösung unserer Probleme. ({21}) Europa hat sich aufgemacht, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vollenden. Wir sind hier mit Sicherheit in einem Wettlauf mit den Märkten. Das spüren wir jeden Tag. Ich kann uns aber nur dringend raten - und ich werde in Los Cabos dafür eintreten -, dass wir diesen Weg Schritt für Schritt weitergehen, damit das Fundament, auf dem wir unsere Zukunft aufbauen, ein ehrliches und ein vernünftiges Fundament ist. Es ist unsere gemeinsame politische Verantwortung vor den Bürgerinnen und Bürgern Europas und vor der Geschichte unseres Kontinents, diesen Weg erfolgreich zu gehen. Das Ergebnis wird darüber befinden, wie die zukünftigen Generationen leben können, ob weiter in Wohlstand oder ob Europa als Ganzes zurückfällt. Deshalb ist dies eine wahrhaft historische Aufgabe, meine Damen und Herren. ({22}) Diese Aufgabe können wir nicht mit weniger Europa lösen - darum geht es in diesem Parlament bei den allermeisten glücklicherweise auch nicht -, sondern nur mit mehr Europa, aber mit Europa auf einem guten Fundament. Wenn die G 20 als G 20 überzeugend agieren wollen, dann muss in Los Cabos auch klar werden, dass nicht die Euro-Zone allein die Voraussetzung für ein starkes und nachhaltiges Wachstum weltweit schaffen kann. Die G 20 insgesamt haben eine Verantwortung. Dann muss klar werden, dass alle Partner in der G 20 alle Anstrengungen unternehmen müssen, um zu einem stabileren, stärkeren und nachhaltigeren Wachstum zu kommen. Alle müssen wir der Versuchung widerstehen, Wachstum erneut mit mehr Schulden zu finanzieren. Wenn wir in Los Cabos einen Aktionsplan verabschieden, der aufbauend auf den Ergebnissen der G-20-Gipfel in Seoul und Cannes kurz- und mittelfristige Maßnahmen einzelner Länder zur Stärkung und Stabilisierung auflisten wird, muss genau das unser Credo sein. Es ist unverzichtbar, dass die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wesentliches Element dieses Los-Cabos-ActionPlans sein wird. Ich werde das sehr deutlich machen. Deutschland hat sich eindeutig zum Schuldenabbau und zu einer nachhaltigen Wirtschaft bekannt. Deutschland geht mit Blick auf die Einhaltung der sogenannten Toronto-Ziele - auch ein G-20-Beschluss, nämlich die Halbierung des Defizits bis 2013 zu erreichen - mit gutem Beispiel voran. Wenn der Los-Cabos-Aktionsplan dazu beitragen soll, dass wir als G 20 das Vertrauen in eine stabile weltwirtschaftliche Entwicklung tatsächlich stärken, dann müssen alle Staaten daran mitwirken. Alle müssen bereit sein, ihre spezifischen Schwachpunkte zu überwinden: die Europäische Union - ich habe darüber gesprochen durch die Überwindung der Konstruktionsmängel der Wirtschafts- und Währungsunion; die USA, indem sie ihr Haushaltsdefizit reduzieren; China und die anderen Schwellenländer müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, indem sie eine höhere Wechselkursflexibilität zulassen. Die Ursachen der schwächelnden Weltwirtschaft liegen wahrlich nicht nur in der Euro-Zone. Ausgangspunkt der Krise waren die weltweiten Turbulenzen an den Finanzmärkten vor gut vier Jahren, die deutliche Regulierungslücken offenbarten. Das Vertrauen der Menschen in das weltweite Finanzsystem ist dadurch erheblich erschüttert worden. Seitdem haben wir in der G 20 eine Reihe von wichtigen Maßnahmen beschlossen und auch umgesetzt: stärkere Kapitalausstattung für Banken, Regulierung der Derivatemärkte, Regeln für Ratingagenturen, eine Beaufsichtigung aller Fondsmanager und die Neuordnung und Stärkung der Finanzmarktaufsicht. Dass es nicht gelungen ist, global den Schwung zu nutzen und zu sagen: „Wir müssen auch die Akteure der Finanzmärkte einheitlich und global besteuern“ als Lehre aus der Finanzmarktkrise, gehört zu dem, was ich als negativ sehe. ({23}) Deshalb werde ich auch weiter darauf drängen, dass die Agenda zur Regulierung der Finanzmärkte nicht aus den Augen verloren wird. Wir haben noch wichtige Aufgaben, zum Beispiel bei der Beaufsichtigung und Regulierung der Schattenbanken, zu erledigen. Wir müssen sicherstellen, dass überall auch die Hedgefonds erfasst werden. In Europa haben wir sie einer Aufsicht unterworfen, aber nicht weltweit. Auch die konsequente Umsetzung der Konkretisierung der G-20-Beschlüsse zur Regulierung der systemisch wichtigen Finanzinstitute, der sogenannten SIFIs, ist unerlässlich. Meine Damen und Herren, es ist gut und es ist wichtig, dass wir uns in der G 20 zu allen Fragen austauschen, die unsere Welt bewegen. Wir haben in diesem Gremium entschieden, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Nur mit einem solchen kooperativen Ansatz wird es gelingen, Lösungen für die vielen Herausforderungen unserer Zeit zu finden: von der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und dem Schuldenabbau über die Strategien zum Schutz der Umwelt und des Klimas bis hin zur Bekämpfung des Hungers und der Armut. Wir sind eine Welt. Los Cabos wird das in diesen Tagen einmal mehr unter Beweis stellen. Ich füge hinzu: Los Cabos wird es unter Beweis stellen müssen, wenn wir den Menschen weltweit dienen wollen. Deutschland nimmt seinen Teil dieser gemeinsamen Verantwortung wahr. Herzlichen Dank. ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Sitzungswochen haben wir eine Regierungserklärung zum G-8-Gipfel gehört. Heute gibt es eine zum G-20-Gipfel. Beide Regierungserklärungen wurden mitten in der tiefsten europäischen Krise gehalten: Rezession in weiten Teilen Europas, Einbrüche im globalen Wachstum. Vielleicht hat vor zwei Wochen der eine oder andere im Hause gedacht: Das alles hat mit uns nichts zu tun. - Das war ein großer Irrtum. Wenn ich das sage, ist es kein Schlechtreden der gegenwärtigen Lage, aber wir müssen auf die eigenen Wachstumszahlen dieses Jahres und insbesondere des vierten Quartals im letzten Jahr schauen. Meine Damen und Herren, die Krise kommt bei uns an. Sie bedroht uns. Die Menschen haben Angst, sogar Wut, weil zum x-ten Mal Milliarden in die Hand genommen werden, um Banken zu retten. Sie haben Zweifel, ob die höchsten Erwartungen, die sie an die Politik haben, erfüllt werden. Ich frage Sie, Frau Merkel: Welche Bedrohungen und welche Ängste der Menschen spiegeln sich in Ihrer Regierungserklärung wider? Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie nicht von vornherein mit allen G-20-Partnern einer Meinung sind. Aber wo sind die deutschen Vorschläge, wo sind die deutschen Initiativen, wo ist die deutsche Vorreiterrolle bei der Regulierung von Finanzmärkten? ({0}) Ich sage Ihnen: Wer soll die Verantwortung für mutige Wege nach vorn übernehmen, wenn nicht ein Land mit über 80 Millionen Einwohnern und der stärksten Volkswirtschaft in Europa? Sie legen sich in die Furche und warten ab. Das ist nicht genug. Genau das werfen wir Ihnen vor, Frau Merkel. ({1}) Ginge es allein um Wachstumsraten und Arbeitsplätze, wäre das in der Tat dramatisch genug. Aber die Menschen - das sage ich Ihnen - verzweifeln an der schieren Ungerechtigkeit. Machtlos haben sie mit ansehen müssen, wie Verantwortungslosigkeit und grenzenlose Bereicherung eine Finanzwelt zum Einsturz gebracht haben. Millionen von Träumen, zum Beispiel vom eigenen Haus und von der Altersversorgung, sind dabei untergegangen. Die Menschen haben mit Empörung gesehen, dass für die Milliardenkatastrophen, die angerichtet worden sind, nicht die dafür Verantwortlichen, sondern die Steuerzahler in Anspruch genommen worden sind. Ein Jahr nachdem Staaten mit Milliardenhilfen die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahrt haben, gibt es plötzlich keinen Schuldigen mehr. Jetzt sollen wir alle über unsere Verhältnisse gelebt haben. Die Krise ist plötzlich eine Staatsschuldenkrise, obwohl alle wissen könnten, dass gerade die Staatsschulden unmittelbar vor der Pleite von Lehman Brothers in fast allen europäischen Staaten historisch niedrig waren. Wer heute unterschiedslos von Staatsschuldenkrise redet, der verhilft den Akteuren auf den Finanzenmärkten zur Flucht aus der Verantwortung. ({2}) Noch schlimmer für unser Land und die Situation in Europa ist: Wer angesichts einer so unzureichenden und deshalb notwendigerweise falschen Diagnose handelt, kann nur zu einer falschen Therapie kommen. Deshalb, Frau Merkel, greifen Ihre Erklärungen hier im Deutschen Bundestag zu kurz. ({3}) Was die Menschen jenseits von Empörung schlicht und einfach zur Verzweiflung treibt, ist, dass das Desaster in der Finanzwelt alles verändert hat: zum Beispiel die Hoffnung, dass die Reformrendite bei uns ankommt und sie endlich dazu führt, dass nach Jahren des Verzichts wieder etwas zu verteilen ist, und anderswo - vielleicht nicht in Deutschland - die Hoffnung auf Arbeit und Ausbildung. Für alle in Europa steht in dieser Krise wieder fast alles auf dem Spiel, nur auf den Finanzmärkten geht es weiter wie gehabt. Da wird nicht nur wieder kräftig verdient, sondern so, als sei nichts geschehen, spielen diejenigen, die über Jahre hinweg Geldschöpfung mit immer windigeren Produkten und völlig verantwortungslosen Bewertungen betrieben haben, jetzt Schicksal für die Volkswirtschaften, und zwar ausgerechnet mit denen, die das Schlimmste zu verhindern versuchen. Wenn wir das alles so weiterlaufen lassen, dann reden wir sehr bald nicht mehr über verloren gegangenes Vertrauen der Märkte, sondern dann werden wir über das verloren gegangene Vertrauen der Menschen in die Demokratie reden müssen. Die Zweifel sind doch schon jetzt übergroß, ob die Politik gegen die globalen Finanzmärkte etwas ausrichten kann. Wie soll das erst werden, wenn wir den Menschen vermitteln, dass wir nicht einmal mehr den Ehrgeiz, den Anspruch dazu haben? Frau Merkel, ich unterstelle nichts. Ich zitiere nur einen Satz aus dem aktuellen Pressebriefing der Bundesregierung zum G-20-Gipfel. Dort heißt es ganz lapidar: Bei der Finanzmarktregulierung sind keine neuen Initiativen zu erwarten. - Frau Bundeskanzlerin, vor knapp drei Jahren beim Gipfel in Pittsburgh, als alle noch unter dem Schock der Lehman-Brothers-Pleite standen, haben sich die G-20-Staaten ein sehr ambitioniertes Versprechen gegeben. Das haben Sie alle hier in guter Erinnerung: kein Markt, kein Akteur, kein Produkt auf den internationalen Finanzmärkten ohne Regulierung und ohne Aufsicht. Verkehrsregeln sollten dort geschaffen werden, wo sie nicht bestehen oder wo sie in der Vergangenheit beiseitegeräumt worden sind. Das war damals in Pittsburgh nicht nur ein hoher Anspruch, sondern das war das, was die Menschen von der Politik erwartet hatten und was Sie den Menschen in Deutschland - als Lehre aus der Krise - versprochen haben. Und jetzt, meine Damen und Herren, heißt es: Es sind keine neuen Initiativen zu erwarten. - Ich hoffe inständig, dass das nicht wahr ist. Deutschland war einmal Taktgeber auf der Ebene der G 20. Wir können und wir dürfen diesen Teil der Krisenaufarbeitung nicht einfach links liegen lassen. Es gibt dort noch riesige Baustellen. Wir brauchen mehr Transparenz und Stabilität auf den Finanzmärkten. Wir haben noch weitgehend unregulierte Bereiche wie den Schattenbankensektor. Wir haben die Gefahr nicht gebannt, dass die Pleite einzelner Institute zur Krise der gesamten Weltwirtschaft führt. Noch immer gibt es jede Menge hochspekulativer Finanzinstrumente, die keinen vernünftigen Zweck erfüllen und allenfalls als Brandbeschleuniger in der jetzigen Krise wirken. Frau Merkel, es mag sein, dass in Ihrem Pressebriefing durchaus zu Recht formuliert ist, dass Initiativen von anderen nicht zu erwarten sind. Aber genau das muss doch hier im Deutschen Bundestag unser Thema sein. Weil solche Initiativen von anderen nicht zu erwarten sind, müssen wir da ran. Nicht andere, sondern wir in Deutschland sind in der Verantwortung. Genau das erwarten wir von Ihnen. ({4}) Nicht nur wir haben etwas anderes erwartet, zum Beispiel von dieser Regierungserklärung, sondern auch diejenigen, die uns beim Kampf gegen die Zügellosigkeit auf den Märkten unterstützen und die wir an unserer Seite wissen, haben etwas anderes erwartet von einer Kanzlerin, die noch vor zwei Jahren nichts dagegen hatte, sich überall in der Welt als Klimakanzlerin zu präsentieren. Aber die medialen Meriten in diesem Bereich sind zurzeit - das wissen wir alle - eher rückläufig. Wir haben verstanden: Nach Rio fahren Sie nicht. Aber das ist nicht das Einzige, was auffällt: Das Klima spielt auch beim G-20-Gipfel eine Rolle; Green Growth ist das Stichwort dort, Sie haben es eben selbst erwähnt. Wir waren auch deshalb auf diese Regierungserklärung gespannt, weil wir wissen wollten, wie die deutschen Vorschläge zu diesem Thema aussehen. Wir haben gehört: Sie „begrüßen“ die Überlegungen der G-20-Partner. Aber was heißt das? Auch hier: Passivität statt Ehrgeiz. Wir Deutsche hätten zu diesem Thema doch wirklich etwas zu sagen gehabt. Wo können Investitionen zu mehr Energieeffizienz führen, wenn Energie in den kommenden Jahren stetig teurer und knapper wird? Von wem erwarten wir denn solche Vorschläge dazu? Etwa von den Amerikanern, die sich gerade mit billigem Shell-Gas von dieser Debatte abkoppeln? Oder von Brasilien, Russland oder Mexiko - den Förderländern, die ein Interesse an der Knappheit und an den hohen Preisen haben? Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundeskanzler, hier sind wir gefragt und niemand anders; hier müssen unsere Vorschläge kommen. ({5}) Ich vermute, am Ende mangelt es gar nicht an Vorschlägen aus Ihren Fachministerien. Ich glaube, Sie selbst hadern mit solchen Überlegungen zur Wachstumspolitik. Sie haben sich in einer Vorstellung von der Gesundschrumpfung der Wirtschaft so eingegraben, dass Ihnen die Umkehr im Augenblick besonders schwer fällt. Ich weiß, Sie bestreiten das, und Sie sagen, dass wir seit zwei Jahren in Europa, auch auf den europäischen Räten, über Wachstum reden. Es wundert mich nicht, dass dort darüber geredet wird. Aber genau in diesen zwei Jahren sind wir hier im Deutschen Bundestag nicht vorangekommen. Ich darf doch daran erinnern, dass die Versuche von Opposition und Regierung, gemeinsame Entschließungsanträge zu formulieren, genau an diesen Unterschieden gescheitert sind. ({6}) In der Vergangenheit habe ich versucht, das zu verstehen: Es hat Ihnen sogar in den Kram gepasst, die Opposition als diejenigen darzustellen, die als Verletze eines rigorosen Sparkurses in der Öffentlichkeit zu brandmarken sind. Aber das, Frau Merkel, ist Ihnen weder gelungen, noch hatten Sie recht. Dass die Merkel-SarkozyArznei nicht wirkt, sagen Ihnen inzwischen auch die Experten, die Sie lange auf Ihrer Seite hatten. Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn eine Lehre aus der Krise ist, dass wir uns langfristig unabhängiger von den Finanzmärkten machen müssen, dass wir die Neuverschuldung zurückfahren müssen, dann ist Konsolidierung in der Tat Pflicht. Ich habe es hier beim letzten Mal gesagt: Wir streiten nicht über die Notwendigkeit von Konsolidierung; aber wir streiten sehr wohl und sehr grundsätzlich darüber, wie Konsolidierung zu erreichen ist. Da bleibt mein Credo, was ich seit zwei Jahren von dieser Stelle aus vertrete: Haushaltsdisziplin und Ausgabenkontrolle sind unverzichtbar. Aber genauso wahr ist: Wenn das die ganze Antwort auf die europäische Krise ist, wenn 27 europäische Staaten gleichzeitig nichts anderes tun, als ihre Haushalte zusammenzustreichen, dann ist das eben kein Weg aus der Krise, sondern der direkte Weg in die Rezession; das ist der falsche Weg. ({7}) Sparen, Haushaltsdisziplin: Das ist eine ganz wichtige Säule eines richtigen Ansatzes, um aus der Krise zu kommen; aber es ist eben nur eine Säule. Strukturreformen gehören dazu, aber eben auch Maßnahmen und Instrumente zum Erhalt von Wachstum. Das ist kein Teufelswerk. Vielmehr können wir - das empfehle ich Anleihe bei unseren eigenen Erfahrungen nehmen: Zweimal im vergangenen Jahrzehnt haben wir eine tiefe Krise durchschreiten müssen; wir haben das erfolgreich getan, weil wir einen klugen Mix aus Einsparen, Strukturreformen, aber auch Maßnahmen zum Erhalt des Wachstums gefunden haben. Das haben wir nicht zufällig getan, sondern deshalb, weil wir die Erfahrung hatten, dass das, was in der Krise an Arbeitsplätzen und industriellen Kapazitäten wegbricht, nach der Krise eben nicht automatisch wiederkommt. Die zweite Erfahrung ist: Wir haben über Jahre versucht, erfolglos gegen eine Krise anzusparen. Ohne Wachstum steigen die Schulden, und ohne Wachstum gelingt der Weg aus der Krise nicht. ({8}) Ich unterschreibe alle Alltagssätze, die in solchen Fällen gesagt werden. Dass jeder Staat innerhalb des gemeinsamen Währungsraums seine Aufgaben zu erfüllen hat: ja, natürlich. Ich unterschreibe den Satz, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist; auch das stimmt. Aber zur ganzen Erfahrung gehört doch, meine Damen und Herren: Immer neue Rettungsschirme helfen nicht, wenn wir das Wachstum in Europa komplett abwürgen. Diese Politik ist jedenfalls gescheitert; wir stehen gerade vor deren Ruinen. ({9}) Nun sind wir vielleicht auf dem Weg, in den Verhandlungen, die wir gerade führen, zu Annäherungen zu kommen. Wir haben uns gestern auf die Besteuerung der Finanzmärkte geeinigt. Damit nehmen wir eine Hürde - ich betone: eine wichtige Hürde -, die einer Ratifizierungsentscheidung jedenfalls für uns im Wege stand. Wir wissen auch - Frau Merkel, Sie haben das angedeutet -: Noch nicht alle Hürden sind überwunden. Lassen Sie uns deshalb mit einigem Ehrgeiz und auch mit einigem Anspruch in den nächsten Tagen an dem Thema Wachstumsinstrumente arbeiten. Das sage ich deshalb, weil wir wissen und ahnen können, dass unsere Gespräche in den nächsten Tagen wieder unmittelbar überlagert werden durch Nachrichten aus Griechenland und vielleicht aus Spanien, die sich auf die Titelseiten drängen. Gerade dann, wenn andere Themen unsere Verhandlungen überlagern, könnte ein kluges Signal aus Deutschland zeigen, dass Konsolidierung und Wachstum nicht getrennt zu sehen sind, dass wir sie nicht als Gegensatz behandeln dürfen, sondern dass sie zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Das könnte ein gelungener Beitrag zur europäischen Krisenstrategie sein. Wir sind jedenfalls bereit, daran mitzuwirken. ({10}) Ein Letztes. Wenn die Krise so dramatisch ist, wie wir sie in unseren öffentlichen Reden, auch hier im Deutschen Bundestag, beschreiben, dann ist meine Bitte: Hören Sie auf mit der Strategie der roten Linien! Diese Strategie hat uns nach meiner Überzeugung in den letzten zwei Jahren viel Glaubwürdigkeit geraubt. Es gibt keine rote Linie, die Sie - das zeigen die Geschehnisse der zurückliegenden zwei Jahre - nicht innerhalb von sechs Monaten überschritten und scheinbar eherne Grundsätze dabei über Bord geworfen hätten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin gleich fertig. Wir müssen uns nicht heute über das weitere Vorgehen einigen, aber klar ist: Die europäische Krisenstrategie wird auf zwei Säulen ruhen müssen, nämlich kurzfristige Krisenintervention und langfristiger Wiederaufbau des Vertrauens. Dazu wird ein Vorschlag gehören, mit dem wir zeigen, wie wir mit den Altschulden umgehen müssen. Deshalb ist der europäische Schuldentilgungsfonds ein Thema, das wir auf der Tagesordnung halten müssen, ({0}) auch wenn wir kurzfristig nicht zu gemeinsamen Vereinbarungen kommen wollen. Wir werden darüber sprechen müssen, in Europa, im Europäischen Parlament, auch hier im Deutschen Bundestag. Auch ich habe vor zwei Jahren nicht geahnt, über was wir alles in diesem Parlament mit Blick auf die europäische Krise nachdenken und entscheiden müssen. Ich weiß nur: Wir sind noch lange nicht am Ende, und Sie werden dieses Parlament in seiner Gesamtheit noch mehr brauchen, als Sie heute ahnen. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für die FDP-Fraktion. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der G-20Gipfel wird viele Themen auf der Tagesordnung haben. Die wichtigsten werden die Währungsfragen sein. Währungsfragen sind immer auch Machtfragen. China schließt fast im Monatsrhythmus neue Währungsabkommen ab, vor allem mit den anderen BRICS-Staaten und mit Japan, dem Konkurrenten in Asien. Das Ziel ist klar: mehr Unabhängigkeit vom Dollar. China stellt den Leitwährungsstatus der Amerikaner schon seit langem infrage. Russland favorisiert eine Kunstwährung über den IWF. Europa ist einen anderen Weg gegangen. Wir haben den Dollarstatus mit unserer Gemeinschaftswährung infrage gestellt. Europa spürt jetzt den rauen Wind der internationalen Finanzmärkte. ({0}) - Ach, Herr Trittin. - Wir müssen nun unsere hausgemachten Probleme lösen; denn sie waren Ursache der Schwierigkeiten, in denen wir uns befinden: hohe Staatsverschuldung und fehlende Strukturreformen in einer Reihe von Mitgliedstaaten. Aber es gibt auch interessierte Kräfte von außerhalb, etwa Ratingagenturen, die manchmal einen sehr patriotischen Knick in ihrer Optik haben. Die Angelsachsen diesseits und jenseits des Atlantiks raten uns: Macht mehr Schulden und lockert die Geldpolitik, das rettet eure Währung! Die angelsächsische Finanzlobby und ihre Verbündeten bei den Linken in Europa und in Deutschland - das ist eine unheilige Allianz der Inflation. ({1}) Banklizenz für Rettungsschirme und Euro-Bonds sind die Vermögensvernichtungswaffen dieser Inflationsallianz aus Wall Street und europäischen Sozialisten. ({2}) Wir machen das anders. Die christlich-liberale Koalition mit Bundeskanzlerin Frau Merkel an der Spitze steht für Stabilität. ({3}) Die christlich-liberale Koalition steht für gutes Geld. Sie steht für Wachstum und Beschäftigung. Deutschland ist so gut wie kein anderes Land der westlichen Welt durch die Krise gekommen. Das hat Gründe. ({4}) Wir sind den Stabilitätsweg gegangen. Wären wir den Ratschlägen der weniger Erfolgreichen gefolgt, würde die Inflation schon galoppieren. Seit Samstag ist klar: Spanien wird wegen seiner Bankenkrise unter den Rettungsschirm gehen. Anders als Griechenland hat Spanien seine sonstigen Strukturprobleme ernsthaft angepackt. Deshalb ist es derzeit sinnvoll, von einer umfassenden Troika-Mission abzusehen. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich unserem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble danken. Er hat durchgesetzt, dass die spanischen Banken keine Direktzahlung erhalten, sondern das Land unter den Schirm muss. Das hat er mit viel Geschick gemacht. ({5}) Europa wird harte Auflagen machen, was die Restrukturierung der Institute angeht. Die Euro-Zone ist noch nicht über den Berg. Vom kleinen Zypern und vom großen Italien kommen in dieser Woche sehr gemischte Signale. Deshalb ist es so wichtig, dass wir zügig den ESM und den Fiskalpakt auf den Weg bringen. Die Welt wartet auf ein starkes Signal von Europa. Wir wollen nicht, dass es mit der Unsicherheit so weitergeht. Deutschland muss eine Führungsrolle übernehmen. Die Zeiten des Kalten Krieges und des Sonderstatus von Deutschland sind vorbei. ({6}) Russland übernimmt nächstes Jahr die G-20-Präsidentschaft. Es will besonders eng mit Deutschland zusammenarbeiten und eine Strukturreform auf den Weg bringen. Uns wird die Führungsrolle in Europa zugetraut. Wir müssen sie annehmen. Wir stehen als christlich-liberale Koalition für eine Politik von Maß und Mitte. Maß und Mitte haben andere verloren. Ich fand das, was der frühere Außenminister von den Grünen letzte Woche zur Schuldenkrise erklärt hat, wirklich unsäglich. Er ruft: Es brennt! Es brennt! Das ist an Schäbigkeit und Selbstgefälligkeit nicht zu überbieten. ({7}) Joschka Fischer hat die währungspolitischen Brandsätze selbst gelegt. Der 5-Millionen-Arbeitslose-JoschkaFischer, ({8}): Oh!) der Nullwachstum-Joschka-Fischer, der Stabilitätsvertragsbrecher Joschka Fischer erzählt uns großzügig, wie die Welt funktioniert. Er hat die damalige Aufnahme von Griechenland in die Euro-Zone zu verantworten, obwohl Griechenland die Voraussetzungen nicht erfüllt hatte. Wir löschen jetzt das Feuer, das die Wachstumsfeinde von den Grünen gelegt haben. ({9}) Das Schlimme ist: Die Kassandra aus dem Grunewald gibt bei den Grünen immer noch die Richtlinien vor. ({10}) Er fordert schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme. Herr Trittin widerspricht nicht. Herr Trittin kuscht. Dafür war Herr Kollege Trittin kürzlich auf einer Konferenz der Hochfinanz. Ihren Parteifreunden haben Sie das verschwiegen. Sie haben offenbar Angst vor der Kritik aus dem eigenen Verein. Links unten anfangen und rechts oben ankommen - das ist das Motto von Herrn Trittin. ({11}) Es ist offenbar ein langer Weg vom Kommunistischen Bund Westdeutschland zur Bilderberg-Konferenz der Hochfinanz. ({12}) Ihre neuen Freunde von der Hochfinanz haben mir etwas ins Ohr geflüstert: Herr Trittin fordert jetzt die Bankenunion für Europa. Die Einlagensicherung soll nach seinem Willen europäisiert werden. Herr Trittin will, dass die deutsche Oma mit ihrem Sparbuch für ausländische Investmentbanker haftet. Das ist Ihre Politik. ({13}) Das ist grüne Politik der sozialen Kälte, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das steht in einer Linie mit Ihrer armutsfördernden Energiepolitik. 5 Mark für einen Liter Benzin, Dauersubventionen in Milliardenhöhe für Solardächer, die in China produziert werden, Dosenpfand, Handypfand, Plastiktütenverbot - Sie sind die Partei der Bioschickeria in Deutschland. ({14}) Bisher zeigen Sie auch einen wenig verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema Fiskalpakt. Herr Trittin will vielleicht noch mitmachen, aber Ihre linksgrüne Basis sieht das wohl anders. Für die Grünen kommt der Strom aus der Steckdose und das Geld aus dem Automaten. ({15}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lassen Sie sich von dieser grünlackierten Schickimicki-Partei nicht in Geiselhaft nehmen. ({16}) Wir haben Verantwortung für Deutschland und für Europa. Ich bin dem Kollegen Müntefering sehr dankbar; denn er hat zur rechten Zeit die Augenbrauen mahnend hochgezogen. Herr Gabriel hatte etwa ein Jahr lang für die Euro-Bonds die Trommel gerührt. Ich habe eine Liste mit vielen Zitaten von Herrn Gabriel dabei, in denen er sich mit Vehemenz für die Einführung von EuroBonds ausspricht. Seit neuestem findet er die Idee skurril, weil es dabei um eine Vergemeinschaftung der Schulden geht. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis! ({17}) „Erst grübeln, dann dübeln“, hätte ich früher gesagt. Jetzt sage ich im Gabriel-Format: Erst Münte fragen, dann twittern. ({18}) Der Weg in den Zinssozialismus ist nun also zu. Wir sollten jetzt auch nicht den Weg in den Schuldensozialismus gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD den Facharbeitern bei Volkswagen und bei Daimler erklären will, dass sie mit ihren Steuern die Altschulden von Italien, Spanien und Griechenland tilgen sollen. Das wäre nämlich der Weg in den Schuldensozialismus. ({19}) Aber ich habe wahrgenommen, dass die Leidenschaft für diese Schuldenvergemeinschaftungsstrategie bei den Sozialdemokraten nicht sehr ausgeprägt ist. Ihnen geht es jetzt um die Beteiligung der Hochfinanz an den Krisenkosten. Das wollen auch wir. ({20}) Wir sind uns einig: Die Riester-Vorsorge, die Kleinanleger und die Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand dürfen nicht negativ betroffen sein. Verlagerungswirkungen wollen wir ausschließen. ({21}) Sie als Opposition wollen das Wünschbare, wir als Regierungskoalition bieten Ihnen das Machbare. Machen Sie mit, und verknoten Sie sich nicht in kleinlicher Parteipolitik. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung für Deutschland und für Europa. Es ist wahr, was Herr Steinmeier sagt: Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, leidet auch die Demokratie. - Deshalb: Schluss mit den Illusionen, wir könnten durch Zinssozialismus und Schuldensozialismus die Probleme Europas lösen! Hier ist jetzt die Stunde der Wahrheit. Zwei plus zwei bleibt vier, auch für Sozialisten. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss Ihnen sagen, Herr Brüderle: Ihr Internationalismus ist wirklich unter Stammtischniveau. Das, was Sie hier geboten haben, geht einfach nicht. ({0}) Ich sage Ihnen auch: Ich verstehe Ihren Versuch, die FDP zu retten, aber Sie retten die FDP nicht mit Pöbeleien gegen die Grünen. Das ist so nicht zu erreichen. Machen Sie eine eigenständige Politik! ({1}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Anfang Ihrer Rede über Armut und über Hunger auf der Erde gesprochen. Sie haben auch wichtige ökologische Projekte genannt, über die auf dem G-20-Gipfel gesprochen werden soll. Das alles sind wichtige Themen. Ich würde gerne zu all diesen Themen etwas sagen. Aber ich habe nur elf Minuten Redezeit. Deshalb konzentriere ich mich auf das, was Sie zur Krise, zur Finanzkrise, zur EuroKrise und zum diesbezüglichen Verhalten der Bundesregierung gesagt haben. Sie haben den schönen Satz gesagt - er ist wirklich einmalig -, Sie machen keine Politik für die Märkte. Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin: Die Finanzmärkte ziehen Sie und Ihre gesamte Regierung am Nasenring durch Europa. Das ist die Wahrheit. Sie machen exakt das, was die wollen. ({2}) Aus Italien hören wir Horrormeldungen. Es gibt die Bankenkrise in Spanien. Sie fürchten die Wahlen in Griechenland. Was kommt denn dabei heraus? Wie auch immer die Wahlen in Griechenland ausgehen: Die Linken werden dort gestärkt. Was haben wir in Frankreich erlebt? Dass Präsident Sarkozy, der Ihre Politik betrieb, abgewählt und Präsident Hollande gewählt wurde. Merken Sie denn nicht, was passiert, Frau Bundeskanzlerin? Ihre Europapolitik wird in Europa abgewählt. Sie nehmen das aber nicht zur Kenntnis. ({3}) Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerungen, und Sie korrigieren sich auch nicht, obwohl es dafür höchste Zeit wäre. Ich sage Ihnen: Diese Art der Ignoranz halte ich für nicht hinnehmbar. Kommen wir zur Bankenkrise in Spanien. Der Ministerpräsident von Spanien hat zunächst gesagt, er wolle auf gar keinen Fall Geld vom Rettungsschirm. Warum hat er das gesagt? Weil er die Troika fürchtet und weiß: In dem Moment, in dem der Internationale Währungsfonds, die Europäische Zentralbank und die EU-Kommission bei ihm das Sagen bekommen, schränkt dies die Souveränität Spaniens unheimlich ein. Aber er hat dies nicht durchgehalten und musste sich dann doch an den Rettungsschirm wenden. Gerade erst hörten wir, dass auch Herr Monti, der Ministerpräsident von Italien, sagte, er werde sich nicht an den Rettungsschirm wenden. Ich sage Ihnen: Auch er wird umfallen, und wir werden dasselbe erleben. Immerhin macht die Bankenkrise in Spanien eines deutlich: dass der von Ihnen verwendete Begriff „Schuldenkrise“ falsch ist. „Schuldenkrise“ heißt nämlich, dass die Staaten zu viel Geld ausgeben. Durch die Verwendung dieses Begriffs wollen Sie erreichen, dass die Leute in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und auch in Deutschland sagen: Ja, wahrscheinlich haben wir zu hohe Löhne. Wahrscheinlich haben wir zu hohe Renten. Wahrscheinlich haben wir in den verschiedenen Bereichen zu hohe Ausgaben. ({4}) - Sie sagen ja sogar, dass es so ist. - Genau das ist aber falsch. Denn was zeigt die Bankenkrise in Spanien? Die Banken und Hedgefonds sorgen dafür, dass die Staatsschulden der Länder immer weiter steigen. ({5}) Deshalb muss man diese Krise „Finanzkrise“ nennen und darf nicht von einer „Schuldenkrise“ sprechen. Alles andere ist eine Vernebelung. Diese Krise beweist noch etwas. Sie beweist ganz klar: Nicht zu hohe Renten, zu hohe Löhne, zu hohe Sozialleistungen oder zu hohe Investitionen in anderen Ländern sind die Ursachen der hohen Schulden, sondern das vollständige Versagen der Banken und Hedgefonds. ({6}) Jetzt passiert Folgendes: Spanien werden aus dem Rettungsschirm etwa 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Spanien gibt dieses Geld dann den Banken, damit sie wieder liquide sind und wirtschaften können. An dieser Stelle möchte ich jedoch auf zwei Aspekte hinweisen: Erstens. Wenn diese 100 Milliarden Euro nicht zurückgezahlt werden, dann haften - Herr Schäuble, da müssen Sie mir zustimmen - auch die deutschen SteuerDr. Gregor Gysi zahlerinnen und Steuerzahler, und zwar für 27 Prozent dieses Geldes. ({7}) Sie nehmen die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler also in Haftung. - Das ist das eine. Zweitens. Die spanischen Banken bekommen diese 100 Milliarden Euro, weil sie nicht mehr liquide sind. Erklären Sie doch einmal dem Inhaber einer kleinen GmbH in Deutschland, an wen er sich wenden soll, wenn er nicht mehr liquide ist. Er hat keine Chance. Die Banken und Hedgefonds hingegen bekommen so viel Geld, wie sie brauchen. Die Großaktionäre haben es besonders bequem; denn für Schulden haften sie nicht. Das übernehmen ja immer die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Wenn die Unternehmen aber Gewinn machen, dann verteilen die Großaktionäre diesen unter sich. Deshalb sage ich: Wenn 100 Milliarden Euro an die privaten Banken fließen, dann müssen sie vergesellschaftet werden, damit die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht nur haften, sondern endlich auch am Gewinn beteiligt werden. ({8}) Im Übrigen: Die Linken in Griechenland haben doch recht. Sie wollen das Spardiktat beenden. Es wird dafür auch höchste Zeit. Schauen Sie sich doch einmal an, wie die Situation der Rentnerinnen und Rentner und der Facharbeiterinnen und Facharbeiter in Griechenland ist. Das geht so nicht! Ich frage Sie: Was wollen Sie dagegen unternehmen? Die Aussage, die Sie in diesem Zusammenhang immer wieder verbreitet haben, stimmt nicht. Sie sagen, Tsipras wolle die Schulden nicht zurückzahlen. Das ist völlig falsch. Er will nur einen anderen Weg gehen. Er will Steuergerechtigkeit herstellen. Er will die Steuerhinterziehung bekämpfen. Dafür ist es wirklich höchste Zeit, übrigens nicht nur in Griechenland - dort allerdings in besonderem Maße -, sondern auch in Deutschland. ({9}) Er will investieren. Wenn er investiert, dann hat er höhere Steuereinnahmen, und wenn er höhere Steuereinnahmen hat, dann kann er auch die Schulden zurückzahlen. So wie Sie es den Griechen vorgeben, indem Sie sagen: „Löhne runter, Renten runter, Sozialleistungen runter, immer weniger investieren“, geht es nicht. Wo sollen denn dann die Steuern herkommen? Sie ruinieren das Land. Das ist der völlig falsche Weg, wenn wir den Euro retten wollen. ({10}) Interessant ist auch, dass Sie sagen, mit den Linken dort wollen Sie gar nicht verhandeln. Zum Glück hat die EU-Kommission gesagt, sie wolle doch mit denen verhandeln. Sie ist einen Schritt weiter als unsere Bundeskanzlerin. ({11}) - Na ja, mit mir schon. ({12}) Das liegt aber nur daran, dass Sie dazu gezwungen sind. Sonst würden Sie das ja nicht machen, Herr Kauder. Den anderen, Herrn Tsipras, wollten Sie ja nicht empfangen. Abgesehen davon könnten wir Griechenland doch folgenden Vorschlag machen: Die Rüstungsausgaben, die bei den Griechen über 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung und bei uns nur über 1 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen, in einem ersten Schritt halbieren! Dann müssten allerdings auch die Kieler Werke auf ihre Einnahmen aus dem Verkauf von U-Booten, die sie nach Griechenland liefern wollen, verzichten. Das ist auch vertretbar, meine ich. ({13}) Es gibt noch etwas, was mich in ganz Europa - in Griechenland genauso wie in Deutschland - ärgert. Deshalb schlage ich Ihnen hier einmal US-Recht vor. Das ist doch auch selten! Dieses US-Recht galt sogar unter Bush, der wirklich vieles, aber kein Linker war. Welche Situation haben wir? Die Reichen in Europa entziehen sich all ihrer Steuerpflichten. In Griechenland gibt es zum Beispiel 2 000 reiche Familien, denen 80 Prozent des Vermögens gehören. Aber sie bezahlen natürlich keine Steuern, weil sie das Vermögen nach außen verlagert, ihren Wohnsitz woanders haben usw. Wir kennen das aus Deutschland. Die reichen Deutschen haben ihren Wohnsitz in Österreich, in der Schweiz, in Liechtenstein, in Monaco oder auf den Seychellen etc., nur um hier keine Steuern zu bezahlen. ({14}) Ich sage Ihnen: Hier müssen wir US-Recht einführen. Wir müssen die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft binden. Das brauchen wir in ganz Europa. ({15}) Das heißt Folgendes: Sie können hinziehen, wohin sie wollen. Aber sie müssen ihren Einkommensteuerbescheid und, wenn es die Vermögensteuer endlich wieder gibt, ihren Vermögensteuerbescheid an ein einziges in Deutschland zuständiges Finanzamt schicken. Die griechischen Familien müssen dies an ein einziges in Griechenland zuständiges Finanzamt schicken. Dort rechnet man aus, ob sie in dem jeweiligen Land mehr bezahlen müssten. Hinsichtlich der Differenz erhalten sie dann einen Steuerbescheid. So machen das die USA. Dadurch haben sie beachtliche Einnahmen. Wer diese Bescheide nicht einreicht, der begeht eine Straftat. Das müssen wir endlich in ganz Europa und auch hier in Deutschland durchsetzen. ({16}) Vor kurzem hat Joschka Fischer - das ist von Herrn Brüderle ja aufgegriffen worden - die gesamte Politik kritisiert. Er hat zu Recht gesagt: Mit der drastischen Sparpolitik wird die Euro-Zone gegen die Wand gefah21872 ren. Die Brände werden nicht mit Wasser, sondern mit Kerosin gelöscht. - Er kritisiert damit die Bundesregierung, aber nicht nur die Bundesregierung, sondern auch SPD und Grüne. Sie haben bisher jedem Schritt der Bundesregierung zugestimmt. Sie halten hier immer kritische Reden und machen dann bei allem mit. Das ist doch das Problem, das auch von Joschka Fischer kritisiert wird. ({17}) Ich sage Ihnen noch etwas: Der Fiskalpakt ist nicht nur - ich habe das hier schon einmal begründet - grundgesetzwidrig, sondern er zementiert auch Sozialkürzungen, einen Wettbewerb nach unten und Hartz IV für Europa und zerstört den europäischen Sozialstaat. Meine Damen und Herren von der SPD, Sie fahren heute ja zu Hollande. ({18}) - Sie sind schon wieder zurück. Umso besser! - Ich sage Ihnen nur Folgendes: Die französische Sozialdemokratie will nachverhandeln. Wenn Sie der Ratifizierung des Vertrages zustimmen, dann zerstören Sie den Plan des französischen Präsidenten, nachzuverhandeln. ({19}) Sie haben anfangs von einem Wachstumspakt geredet. Dann ging es nur noch um ein Wachstumspaket, jetzt geht es nur noch um Wachstumsimpulse. Mein Gott, lassen Sie sich doch nicht so durch Europa ziehen, sondern machen Sie diesbezüglich endlich einmal eine eigenständige Politik! ({20}) Ich komme jetzt noch einmal zu Hollande, weil Sie mir nicht glauben. Er hat gesagt: Die französischen Truppen müssen bis Ende 2012 aus Afghanistan abgezogen werden. - So einen Satz habe ich von der deutschen Sozialdemokratie noch nie gehört. ({21}) Er hat gesagt, er nehme den späteren Renteneintritt zurück, man solle in Frankreich wieder Rente ab 60 Jahre beziehen. ({22}) Ich darf Ihnen dazu sagen: Die Durchschnittsrente bei voller Erwerbstätigkeit beträgt in Deutschland 1 100 Euro und in Frankreich 1 700 Euro. Sie haben dafür gesorgt, dass wir eine so niedrige Rente haben und dass wir die Rente erst ab 67 beziehen können. Mein Gott, wären Sie doch wenigstens so wie die französische Sozialdemokratie! Dann hätten wir in Deutschland endlich wieder eine Sozialdemokratie. ({23}) Was müssen wir in Europa wirklich machen? Erstens. Wir brauchen ein Ende der Spardiktate. Die Spardiktate sind falsch, ungerecht und gescheitert. Zweitens. Wir brauchen stattdessen ein Programm für Investitionen und Wachstum; denn nur mit Wachstum lassen sich die Haushaltsdefizite abbauen. Wir sorgen auf diese Art und Weise auch für mehr Beschäftigung. Dadurch haben wir dann mehr Steuereinnahmen. Dadurch können auch die Schulden getilgt werden. Das gilt für alle Länder, auch für Deutschland. Der Teufelskreis aus Banken- und Staatsschuldenkrise muss beendet werden. Warum kann denn nicht eine staatliche europäische Bank bei der EZB Geld aufnehmen und zum gleichen niedrigen Zinssatz direkt an Spanien oder andere Länder weitergeben? Dann hätten wir endlich ein Ende der Spekulation um den Euro. Warum müssen wir zwischendurch immer wieder private Banken reichmachen, wie Sie das ständig betreiben? Ich sage ganz klar: 1 Billion Euro hat die Europäische Zentralbank den großen privaten Banken in Europa zur Verfügung gestellt: 1 Billion Euro für drei Jahre für 1 Prozent Zinsen! Was machen die Banken mit dem Geld? Sie geben es Italien, Spanien und anderen Ländern für 5 Prozent Zinsen. Zwischendurch machen sie die Großaktionäre reich. Erklären Sie doch einmal dem Facharbeiter oder dem Bäckermeister in Deutschland, wieso er letztlich für dieses Geld haftet. ({24}) Ich sage Ihnen: Wir brauchen außerdem Steuergerechtigkeit; das wird höchste Zeit. Wir brauchen eine Millionärssteuer. Die Zahl der Millionäre nimmt zu. Diese könnten sich eine solche Steuer leisten. Mit welcher Begründung bleiben die eigentlich verschont? Was haben denn die Hartz-IV-Empfängerin, der Facharbeiter oder der Bäckermeister falsch gemacht, sodass es zu dieser Krise gekommen ist? Nichts!

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Großaktionäre haben etwas falsch gemacht. Sie haben die falschen Geschäfte gemacht und verdienen daran. Sie werden nicht zur Kasse gebeten. Das müssen Sie endlich beenden. ({0}) Ich weiß, Herr Präsident. Ich komme zum letzten Satz.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie wissen, dass ich Ihnen fast immer länger zuhören könnte, als Ihre Fraktion überhaupt Redezeit hat. Aber in einem gewissen Umfang bin ich an die Einhaltung unserer Geschäftsordnung gebunden. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Das zeigt, dass die Linke schon deswegen ein besseres Wahlergebnis braucht, damit wir hier längere Redezeiten bekommen. ({0}) Aber abgesehen davon, sage ich Ihnen noch eines, Frau Bundeskanzlerin: Sie wollen jetzt eine politische Union in Europa. Das kommt sehr spät. Das war schon bei der Einführung des Euro dringend erforderlich. Aber was für eine politische Union wollen Sie? Eine der Spaltung! Wir kämpfen weiter gegen ein Europa der Knebelung, der zerstörerischen Sparpolitik, ({1}) gegen ein Europa der Banken und für ein friedliches, demokratisches und soziales Europa. Anders wird es nicht gehen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gysi, nur eine Anmerkung zu Ihnen: Ich glaube, Sie brauchen nicht mehr Redezeit hier im Deutschen Bundestag, sondern Sie bräuchten mehr Redezeit auf den Parteitagen der Linken, um noch einmal deutlich zu machen, worum es bei Ihnen wirklich geht. Sich hier hinzustellen und zu behaupten, man sei handlungsfähig, in der eigenen Truppe aber Hass festzustellen, das passt einfach nicht zusammen. ({0}) Aber jetzt zur Sache. Dieses G-20-Treffen findet in einer außergewöhnlich schwierigen Zeit statt, in der viele Menschen aufgewühlt sind und sich die Frage stellen: Wie soll es weitergehen, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt? Sie hören dann zwei Strategien, die grundsätzlich richtig sind und die auch von der SPD und von Frank Steinmeier als richtig dargestellt worden sind: auf der einen Seite Konsolidierung, weniger Schulden, also Solidität, und auf der anderen Seite Wachstum, Solidarität mit denen, die in Schwierigkeiten sind. Dies ist zunächst unbestritten. Darum wird es jetzt in Mexiko gehen. Aber da die Volkswirtschaft keine mathematische Formel ist, bei der eins plus eins gleich zwei ist, sondern zu der auch Einschätzungen gehören, zu der es gehört, Menschen davon zu überzeugen, dass man einen bestimmten Weg gehen muss, versucht eine ganze Reihe von Politikern wieder einmal, den schweren Teil des Weges, nämlich die Solidität, nicht so ernst zu nehmen und stattdessen etwas Leichteres vorzuschlagen, nämlich Wachstumsperspektiven zu formulieren. Wir haben aber in den Krisensituationen 2008 und 2009 gesehen, wie schwer es ist, eine Krise zu bewältigen, Solidität herzustellen und Wachstumsimpulse zu geben. Natürlich haben wir in der Krise 2008, 2009 und 2010 auch Wachstumsimpulse gegeben. Aber wir haben dafür auch einen Preis bezahlen müssen. Der letzte Haushalt in dieser Krisensituation wies bei der Neuverschuldung einen Ansatz von über 80 Milliarden Euro aus. Danach war eine wirklich sparende Politik notwendig. Wenn wir auf dem Weg weitergemacht hätten, von dem Sie, Herr Steinmeier, jetzt sprechen - immer weiter neue Schulden, um das Wachstum zu fördern -, ({1}) dann müssten Sie mehr Zinsen zahlen, als Sie Einnahmen an Steuern haben. Das kann nicht funktionieren. ({2}) Das ist an Ihrem Weg grottenfalsch. Deswegen müssen wir sagen: Ja, zwei Dinge gehören zusammen. Erstens geht es um die Perspektive: Es muss konsolidiert werden. Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, wie die Weltwirtschaftskrise 2008 entstanden ist. Aus dieser Weltwirtschaftskrise ist all das gekommen, womit auch wir uns jetzt auseinanderzusetzen haben. Es war damals die Entscheidung der amerikanischen Politik, dass jeder, unabhängig davon, ob er es sich leisten kann oder nicht, eine Immobilie haben soll. Dafür wurde Geld in den Markt gegeben. Wachstum - auf Pump - wurde vorgetäuscht. Das geht eine Zeit lang gut, aber dann kommt der Tag, an dem zurückgezahlt werden muss. Wenn das dann nicht geht, dann bricht das Ganze so zusammen, wie es in Amerika und Spanien der Fall war. Deswegen kann ich nur vor dem warnen, was jetzt andiskutiert wird. Wachstum auf Pump löst kein einziges Problem und ist ungerecht gegenüber den nachwachsenden Generationen. Deswegen kann das so nicht sein. ({3}) Die Botschaft daraus heißt also zweitens: Wir dürfen bei der Lösung der Probleme kein einziges Signal geben, das in Richtung Wachstum auf Pump weist. Das Signal, das Sie immer wieder geben wollen, heißt: Schwamm drüber, was in der Vergangenheit war, Vergemeinschaftung der Schulden! - Diejenigen, die etwas besser gewirtschaftet haben, zahlen dann die ganze Veranstaltung. Diese Botschaft ist falsch, weil daraus die Konsequenz gezogen wird: Wir brauchen gar nicht wirklich zu konsolidieren; am Schluss wird immer eine Lösung gefunden, bei der diejenigen zahlen, die sich angestrengt haben, und die anderen, die sich nicht angestrengt haben, davonkommen. Das ist keine Lösung. Deswegen war der Weg immer richtig, zu sagen: Wir wollen Konsolidierungsmaßnahmen, und wir unterstützen durch Rettungsschirme, aber das alles muss auch Konsequenzen haben. Jetzt erwarte ich natürlich, dass diese Konsequenzen dann auch eingehalten werden. Es gibt den einen oder anderen Hinweis aus Europa, noch einmal mit Griechenland zu reden. Ja, von mir aus können wir mit Griechenland reden. Aber was einmal als Bedingung dafür, dass geholfen wird, vereinbart worden ist, muss eingehalten werden; sonst hält sich niemand mehr daran. ({4}) Das erwarte ich auch. Deshalb dürfen keine anderen Signale gegeben werden. Auf dem Gipfel in Mexiko werden große Themen angesprochen, beispielsweise die Nachhaltigkeit in der Umweltpolitik. Wir in Deutschland und in Europa haben gravierende Entscheidungen in der Energiepolitik und darüber hinaus getroffen, damit der Klimawandel bekämpft wird und der CO2-Ausstoß reduziert wird. Aber einige derjenigen, die uns tagtäglich große Ratschläge erteilen, was gemacht werden muss, weigern sich, sich auch an diese Verpflichtungen zu halten. Das geht nicht. Es kann unmöglich sein, dass große Wachstumszentren in der Welt den Umweltschutz nicht so ernst nehmen wie diejenigen, die nicht so groß sind. Dabei hilft es nichts, zu sagen: Wir haben über viele Jahre hinweg gar nicht so hohe CO2-Ausstöße gehabt. Es geht doch um die Beurteilung der jetzigen Situation. Deswegen kann ich die Vereinigten Staaten von Amerika nur auffordern, für Nachhaltigkeit nicht nur in der Finanzpolitik, sondern auch im Umweltschutz zu sorgen. Da haben die Amerikaner noch einiges zu leisten. Ich bitte die Bundeskanzlerin daher, dies ernsthaft einzufordern. ({5}) Ein Thema, das sich gerade auf dem bevorstehenden Gipfel in Mexiko anbieten würde, steht nicht auf der Tagesordnung. Wenn es um Wachstum und Armutsbekämpfung geht, dürfen wir nicht vergessen, dass ein Grund, warum Armut nicht in ausreichendem Maße bekämpft werden kann, das internationale Verbrechen ist. Gerade mit Blick auf Mexiko müssen wir überlegen, wie wir international agierende Drogen- und Verbrecherbanden bekämpfen können. Vieles in Afrika ist nicht möglich, weil Bürgerkrieg herrscht. Vieles in Südamerika ist nicht möglich, weil Banden Kriege führen. Daher bitte ich herzlich, dass wir uns beim nächsten internationalen Gipfel damit befassen. Ein Teil der Armutsproblematik sind Bürgerkriege und Kriege, die von Banden angezettelt werden, um sich persönlich zu bereichern. Auch das gehört auf die Agenda. ({6}) Ich glaube, dass wir in Europa auf dem richtigen Weg sind. Aus Europa muss nun ein starkes Signal kommen. Herr Steinmeier und Herr Trittin, wir können in Gesprächen durchaus eine gute Lösung finden. Wir sollten Ihre Vorstellungen und das, was wir verantworten können, zusammenbringen, um ein gemeinsames Ergebnis im Zusammenhang mit dem ESM und dem Fiskalpakt hinzubekommen. Ich bitte allerdings darum, sich auf das zu konzentrieren, was jetzt machbar ist. In Europa haben wir nämlich das Problem: Kaum ist ein Problem richtig gelöst, kommt schon wieder ein ganzer Wust an neuen Vorschlägen. Ich sage Ihnen daher: Ein Altschuldenfonds ist zurzeit überhaupt kein Thema. Wenn Sie ständig über neue Themen diskutieren und dann sagen: „Das machen wir aber nicht“, dann tragen Sie nicht zur Beruhigung der Märkte bei, sondern sorgen für Irritationen. Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns das, was jetzt auf der Tagesordnung steht, verabschieden und so den Märkten ein gutes Signal geben. Erst dann sollten wir darüber reden, wie wir Europa weiterentwickeln können. Aber den Märkten ständig etwas hinzuhalten und dann zu sagen: „Das machen wir aber nicht“, macht den Appetit der Märkte immer größer und die Handlungsfähigkeit immer kleiner. Deswegen: Beschränken wir uns jetzt auf die Entscheidungen zu ESM und Fiskalpakt; denn diese sind notwendig, um voranzukommen. ({7}) Ich habe die Bitte, die entsprechenden Entscheidungen rasch zu treffen. Ich weiß, Herr Kollege Trittin, dass es auch Überlegungen gibt, die Vorlagen zu ESM und Fiskalpakt erst zu verabschieden, nachdem der europäische Gipfel zu Ende gegangen ist, also nicht Ende Juni, sondern erst, wenn die Bundeskanzlerin vom Gipfel zurückgekommen ist. Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt und sage es hier noch einmal: Eine solche Position stellt einen schlimmen Rückfall in die Zeit vor den Regelungen dar, die wir für die Parlamentsbeteiligung beschlossen haben. Herr Trittin, Sie fordern doch vor jedem großen Gipfel eine Regierungserklärung, damit wir hier im Deutschen Bundestag unsere Wünsche und Vorstellungen formulieren können, die die Bundesregierung bei solchen Gipfeln vertreten soll. Dazu kann ich nur sagen: Ja, genau richtig. Deswegen wollen wir, bevor die Bundeskanzlerin zu dem entscheidenden Gipfel nach Brüssel fährt, hier im Deutschen Bundestag unsere Bedingungen für ESM, Fiskalpakt und ein Wachstumsprogramm formulieren und nicht erst, wenn in Europa bereits einstimmig beschlossen worden ist. Parlamentsbeteiligung kann nicht nur bedeuten, dem, was auf europäischer Ebene beschlossen wurde, einfach zuzustimmen. Deswegen sage ich: Wer sich den anstehenden Entscheidungen im Juni verweigert, nimmt die Parlamentsbeteiligung in diesem Hohen Haus nicht ernst. Ich bitte Sie daher, dies zu berücksichtigen und gemeinsam mit uns ein starkes Signal zu geben. ({8}) Der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung wünschen wir viel Erfolg und eine glückliche Hand bei dem, was in Mexiko zur Entscheidung ansteht. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, jetzt ist doch wohl die Stunde der Wahrheit und der Verantwortung, auch für diesen Deutschen Bundestag, was die weiteren Entscheidungen in Europa betrifft. Jetzt ist der Sommer gekommen, in dem es auch darum geht, Europa und den Euro zu verteidigen. Es ist die Stunde der Wahrheit. Ich muss an dieser Stelle einmal auf die Karnevalsrede von Herrn Brüderle eingehen. Sie halten hier eine Veräppelungsrede, während woanders in Europa, in Griechenland zum Beispiel, sich die Leute fragen, was mit ihrem eigenen Geld geschieht. Dass Sie diese Stunde für eine Karnevalsrede nutzen, finde ich ehrlich gesagt nicht angemessen. ({0}) Sie haben uns zugerufen, die Stunde der Wahrheit sei jetzt gekommen. Dazu sage ich: Für die FDP ist die Stunde der Wahrheit schon 2008 gekommen. Wir haben angesichts der Bankenkrise eine Finanztransaktionsteuer gefordert, damit auf dem Finanzmarkt das passiert, was auch in der realen Wirtschaft üblich ist, nämlich dass bei Transaktionen Steuern anfallen. Seit dieser Zeit wehren Sie sich wie die Zicke am Strick. Das ist die Wahrheit. Wir hätten schon vor vier Jahren weiter sein können. ({1}) Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit und der Verantwortung für diesen Deutschen Bundestag. Ich sage Ihnen und auch der Bundeskanzlerin: Das heißt aber nicht, dass wir einfach irgendeiner Vorlage der schwarz-gelben Bundesregierung zustimmen; denn zur Wahrheit gehört die Verantwortung. Dieser Bundestag hat die Verantwortung, mit der Austeritätspolitik, mit dem Kaputtsparen endlich Schluss zu machen; er muss sich für Investitionen einsetzen und Solidarität in Europa organisieren. Darin liegt unsere Verantwortung. ({2}) Es geht nicht darum, über irgendetwas abzustimmen, sondern in dem Paket, das unter der Überschrift „Solidarität“ verabschiedet werden soll und bei dem es darum geht, Europa und den Euro zu retten, muss auch tatsächlich Solidarität und Zukunft drin sein. Ihre Rede, Frau Merkel, bestand aus vielen warmen Worten. Sie reden über die neue Agenda der G 20. Man müsse Wege finden, das Soziale, das Ökologische und das Ökonomische miteinander zu verbinden. Tun Sie es doch einfach! Entscheiden Sie doch endlich über Programme, die dies inhaltlich umsetzen! Wir wollen mehr als Worte wie die, dass das Wachstum von Innovation und grüner Ökonomie getragen werden müsse. Ich bin davon überzeugt, dass von Innovationen und grünen Technologien die größten Wachstumsimpulse ausgehen. Effizienz, Einsparung, neue Energien sind die Stichworte, und zwar nicht nur für Europa, sondern auch zum Beispiel für Afrika. Frau Merkel hat darüber geredet, dass im Rahmen der G-20-Programme zur Förderung der Kleinbauern beschlossen werden sollen. Es gehe darum, 50 Millionen Afrikaner aus der Armut zu befreien. Das ist eine große Zahl. Jeder Einzelne dieser 50 Millionen Afrikaner wird sagen, dass ihm dies wichtig ist. Ich muss Ihnen aber ehrlich sagen: Es reicht nicht, nur Investitionen von außen für 50 Millionen Afrikaner zu tätigen. Das Problem des Hungers auf der Welt hat sich doch verschärft. Vor zehn Jahren wollten wir die Zahl von 500 Millionen hungernden Menschen halbieren. Was ist geschehen? Nach zehn Jahren hat sich die Zahl verdoppelt. Wir haben heute 1 Milliarde hungernde Menschen. Jetzt kommen Sie mit einem Programm zur Förderung von Kleinbauern. ({3}) Ich sage Ihnen: Wer wirklich nicht auf Kosten anderer leben will, wer wirklich Green Growth will und im Rahmen der G 20 und auf europäischer Ebene Verantwortung trägt, der muss auch einmal an das Eingemachte gehen. Das haben Sie an keiner Stelle getan, selbst an dieser nicht. Sie müssten sich in diesem Zusammenhang einmal zur europäischen Agrarreform und zu den Exportsubventionen äußern. ({4}) Sie können in die G 20 einbringen, dass der Norden nicht mehr auf Kosten des Südens leben sollte, auch was die Ernährung und die Landwirtschaft betrifft. Sie haben keine konkreten Maßnahmen an dieser Stelle genannt. Sie reden über Protektionismus; ja, den gibt es. Aber dann reden Sie doch mal über den Protektionismus, den Europa selbst und Deutschland an der Stelle auf Kosten anderer auslösen. ({5}) Sie haben gesagt - Frank-Walter Steinmeier hat das schon angesprochen -, wir bräuchten Initiativen zur Regulierung der Finanzmärkte, auch für Los Cabos. Aber da ist nichts gekommen. Wo ist denn eigentlich Ihre Initiative zur Regulierung der Finanzmärkte? Sie haben mal gesagt, es sollten kein Markt und kein Instrument unreguliert bleiben. Aber dann muss man das Thema doch sowohl in der EU als auch international jedes Mal wieder auf die politische Agenda bzw. auf die Tagesordnung setzen. Dazu habe ich von Ihnen an dieser Stelle kein Wort gehört. Als Sie davon redeten, wir bräuchten jetzt eine schonungslose Analyse, bin ich zunächst zusammengezuckt, jedoch bezog sich Ihre „schonungslose Analyse“ fast nur auf die Staatsschuldenkrise. Aber ich sage Ihnen: Es geht auch um eine Bankenkrise; es geht um das Verhalten der Finanzmärkte. An der Stelle müssen Sie auch Angebote machen, und zwar auf europäischer und auch auf internationaler Ebene. Das hat gefehlt. ({6}) Meine Frage bzw. unsere Frage an Sie ist: Wann wollen Sie eigentlich angesichts der Situation in Spanien, in Italien und in Griechenland, die man kaum zu beschreiben braucht, sowie angesichts der Jugendarbeitslosigkeit dort endlich aktiv werden? In bestimmten Jugendaltersgruppen sind 50 Prozent arbeitslos. Die jungen Leute kommen gut ausgebildet von den Unis und gehen quasi über lange Zeit ins Nichts. Diese Jugendlichen sind Europas Zukunft. Was bieten wir diesen Jugendlichen an? Ich meine, dass jetzt die Verantwortung des Bundestages und der Bundesregierung darin liegt, Europa in dieser Stunde der Wahrheit und Verantwortung zu sagen: Ja, jetzt strengen wir uns an. Jetzt hören wir endlich auf, immer nur auf Sicht zu fahren. Jetzt hört Deutschland endlich auf, die Handtasche und das Portemonnaie darin geschlossen zu halten sowie hier nur eine Rede über die begrenzten deutschen Fähigkeiten zu halten. Für meine Begriffe ist hier eines entscheidend, nämlich die Sorge. Ich finde, dass wir und auch Sie, Frau Merkel, die Aufgabe haben, angesichts der Sorge der Menschen, wie viel sie noch zahlen können - diese Sorge verstehen wir -, nicht nur das Portemonnaie zuzuhalten, sondern in diesem Land wirklich offen zu erklären: Wir dürfen Europa nicht kaputtsparen. Deutschland hat ein Interesse an einem prosperierenden Europa und an der Hilfe für die Krisenländer jetzt, weil es auch um unsere eigene Zukunft geht, die in Europa liegt. So müssen wir handeln! - Diese Sätze habe ich von Ihnen vermisst. ({7}) Treten wir doch einmal für eine Europäische Union ein! Frau Merkel, es reicht nicht, nur hin und wieder mal davon zu sprechen, wenn die Kritik an Ihnen zu scharf wird. Ich meine, dass man jetzt klar sagen muss: Schluss mit der einseitigen Fokussierung lediglich auf Konsolidierung! - Das ist nicht die einzige Antwort. Wir wollen die Konsolidierung nicht aufgeben, aber wir müssen ein zweites Standbein haben, wenn wir nicht im Laufe dieses Sommers den Euro endgültig gefährden wollen. Ich will zu meinem Kollegen, Herrn Kauder, sagen: Sie führen an der Stelle aus, es ginge uns nur um Wachstum auf Pump. Das ist - ehrlich gesagt - Quatsch. ({8}) Es geht uns nicht darum, die Konsolidierungsbemühungen aufzugeben. Es geht uns auch nicht darum, dass Haushalte nicht konsolidiert werden, sondern dass wir wirklich am Kern der Probleme anfangen und dass wir zum Beispiel die Themen der europäischen Bankenaufsicht und der Kontrolle der Eigenkapitalsicherung anpacken. Es geht uns darum, zu sehen - das weiß auch jeder Privathaushalt -: Du kannst nicht nur sparen, sondern du musst dich auch um die Einnahmeseite der Zukunft kümmern. ({9}) Man muss ermöglichen, dass etwas wächst. Hier nenne ich nur etwa grüne Technologien, moderne Automobile sowie die chemische Industrie. Man muss ermöglichen, dass der Anlagenbau modern wird, meine Damen und Herren. ({10}) Dann dürfen wir uns nicht getrennt betrachten, sondern wir sind Deutschland in Europa. Wenn es Europa schlechtgeht, geht es Deutschland nicht sofort schlecht, aber der Tag kommt, an dem es sich tatsächlich auch in den Auftragsbüchern Deutschlands zeigt. Deshalb haben wir das Interesse, gemeinsam vorzugehen. Und deshalb haben wir das Interesse, nicht nur Sparpakete aufzulegen, sondern - das sage ich ganz klar - Spanien, Italien und anderen Ländern den enormen Zinsdruck zu nehmen. Wir brauchen einen Schuldentilgungsfonds, wie Ihr Sachverständigenrat ihn vorgeschlagen hat. ({11}) Das hat im Übrigen auch das Europäische Parlament mit den Stimmen Ihrer Kolleginnen und Kollegen von der FDP gestern beschlossen. Denn nur bei reduziertem Zinsdruck gibt es auch in diesen Staaten einige Möglichkeiten mehr, nach vorne zu gehen, zu investieren und etwas Neues zu entwickeln. Wir brauchen als zweites Standbein einen Investitionspakt für Europa. Die Eigenkapitalmittel der EIB müssen erhöht werden, und darüber hinaus müssen immer mehr Mittel gebunden werden für die Modernisierung der Wirtschaft, für ökologisch sinnvolle Investitionen - in Schiene, Stromnetz, Breitbandausbau -, weil dort die Jobs der Zukunft - auch für andere Wirtschaftszweige - geschaffen werden. Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer. Wir müssen weitere Schritte hin zu einer Bankenunion vollziehen. Das alles gehört dazu, dass wir tatsächlich zu einer politischen Union kommen und die Defizite aufarbeiten. Lassen Sie mich einen letzten Satz zu Rio sagen. Ich finde es schon bedauerlich, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie nicht zur Rio-Folgekonferenz fahren. Wer über Nachhaltigkeit redet, darf nämlich nicht nur grüne Luftblasen produzieren, sondern sollte in Rio zeigen, dass es mit einer anderen Wirtschaft wirklich ernst gemeint ist. Herr Kauder redete so schön über Fortschritt und Nachhaltigkeit. ({12}) Wissen Sie: Dann muss man auch Taten folgen lassen. Hollande fährt nach Rio. Auch wenn Sie dahin nur kurz fahren würden, wäre es ein politisches Zeichen, dass man auf dieser Ebene ernsthaft weitermachen will. ({13}) Es wäre im Übrigen längst richtig, wenn auch Ihre Koalition die Blockaden aufgäbe. Fangen Sie nicht bei Rio an, sondern fangen Sie damit an, einzusehen, dass es ein Elend war und die deutsche Wirtschaft zurückwirft

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Künast.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- mein letzter Satz -, dass Sie zum Beispiel bei der EU-Effizienzrichtlinie so lange blockieren, wie Sie es getan haben. Da hätte man für Privathaushalte jede Menge Energie einsparen können. ({0}) Lassen Sie uns endlich die Bremsen lösen und losgehen. Was wir brauchen, sind ein Deutschland in Europa und ein Europa, das wirklich an sich selber glaubt, das eine Vision hat, dass wir in Europa zusammenleben wollen, das solidarisch Schulden miteinander trägt

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- und das dafür sorgt, dass es wirklich eine wirtschaftliche Entwicklung gibt, aus der Jobs entstehen und in der nicht nur die alten Industrien gepampert werden. Sie haben eine lange Rede gehalten, Frau Bundeskanzlerin. Aber Sie haben nicht die Zeichen für den Weg nach vorne gesetzt. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Künast, Sie haben bereits vor längerer Zeit Ihren letzten Satz angekündigt. ({0}) - Na ja, es kann sich bislang keine Fraktion über mangelnde Großzügigkeit in der Bewirtschaftung der Redezeit beklagen. ({1}) Nächster Redner ist der Kollege Volker Wissing für die FDP-Fraktion. ({2})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Künast, was Sie uns mit dem Bild der „Zicke am Strick“ sagen wollten, weiß ich nicht. ({0}) Was ich aber weiß, ist, welchen Titel eine Ausgabe des Spiegels im Frühjahr 2010 hatte: „Grüne kämpfen gegen die Wunderwaffe Wachstum“. Dabei hat er sich auf ein Papier von Ihnen, Frau Künast, und von Herrn Trittin bezogen. Darin haben Sie Folgendes gesagt: „Wir halten den Abbau des Wachstumszwangs … für erforderlich“. Das war Ihre Politik. Damit lagen Sie zu 100 Prozent falsch. ({1}) Das haben Sie damals gesagt, und Sie haben damit den Eindruck geschaffen, eine schicke Truppe zu sein. Sie haben der Welt eingeredet, mit Wachstum müsse Schluss sein und es gebe mittlerweile einen ganz anderen Weg, wie man den Wohlstand in Europa in Zukunft sichern könne. Als der Bundeswirtschaftsminister im Frühjahr dieses Jahres an alle Vernünftigen in Europa appelliert hat: „Wir brauchen wieder Wachstum, um aus dieser Krise herauswachsen und gleichzeitig unseren Sozialstaat stabilisieren zu können“, da hat Herr Trittin in der ihm eigenen Art bescheiden gelächelt. Inzwischen haben Sie erkannt, dass in ganz Europa das Thema Wachstum als zentraler Bestandteil der Hoffnung erkannt worden ist. ({2}) Sie fahren durch Europa - auch die Sozialdemokraten und reden plötzlich von Wachstum, nachdem wir dieses Thema vorgegeben haben. ({3}) Nur: Weil Sie von grüner Seite sich jahrelang den Kopf darüber zerbrochen haben, wie man Wachstum am besten abbauen sollte, und nicht darüber, wie man Wachstum schaffen kann, ({4}) fällt Ihnen heute nichts dazu ein, wie man ein Wachstumskonzept für Europa entwickeln kann. Als Herr Trittin letzte Woche gefragt worden ist, ob denn ein neues Wachstumskonzept mit neuen Schulden einhergehen solle, hat er geantwortet, das sei für ihn keine dogmatische Frage. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns ist das eine Frage der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes. Selbstverständlich können Wachstumsprogramme nicht durch neue Schulden in Europa finanziert werden. ({5}) Dass ein solcher Unsinn von den Grünen immer noch in der Öffentlichkeit vertreten wird, zeigt doch, dass sie sich in Wahrheit nicht dem Kern des Problems in Europa zugewandt haben. ({6}) Auch die Sozialdemokraten müssen in dieser Frage Ehrlichkeit an den Tag legen. Sich hinzustellen und zu fordern, Europa dürfe nicht so viel sparen, aber gleichzeitig zu sagen, Deutschland spare nicht genug, passt irgendwie nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Deswegen laden wir Sie ein, unseren Kurs des Fiskalpakts und der Stabilisierungspolitik in Europa zu unterstützen. Diese Politik hat aber immer zur Voraussetzung, dass Schuldenbremsen so, wie wir sie in der deutschen Verfassung implementiert haben, für ganz Europa gelten müssen. Der Ausstieg aus dem Schuldenstaat muss für ganz Europa eine Selbstverständlichkeit werden ({8}) und darf nicht von Ihnen durch Hintertüren immer wieder infrage gestellt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Zur Wachstumsfrage: Wir können mit einer Besteuerung der Realwirtschaft, sei es durch eine Finanzmarktbesteuerung oder durch höhere Ertragsteuern, keinen Beitrag für Wachstum in Europa leisten. ({10}) Deswegen haben wir gemeinsam gesagt - ich bin auch sehr froh, dass die Sozialdemokraten sich auf diesen Kompromiss der Vernunft verständigen konnten -: ({11}) Wer Wachstum schaffen will, darf nicht die Realwirtschaft zusätzlich belasten. Bleikugeln am Bein der Wirtschaft und des Mittelstandes in Europa schwächen Europa und stärken Europa nicht. ({12}) Deswegen sagen wir gemeinsam: Wir wollen einen Weg zu einer solchen Steuer gehen. Wir wollen diesen Weg aber nicht zulasten von Wachstumschancen in Europa gehen, weil wir wissen, dass das uns alle schwächen würde. Deswegen stehen wir zu diesem Kompromiss.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube, es ist ein Kompromiss der Vernunft. Er wird gemeinsam auszufüllen sein. Wir werden darüber auch noch im Konkreten zu diskutieren haben. Wir sollten uns aber nicht auseinanderdividieren lassen. Wachstum schafft man nicht durch Belastung der Wirtschaft, sondern Wachstum schafft man, indem man neue Kräfte der Freiheit in Europa mobilisiert. ({0}) Dazu laden wir Sie ein; dafür stehen wir zur Verfügung und nichts anderes. Wir sollten dankbar sein, dass die Bundeskanzlerin mit Härte einen Konsolidierungskurs in Europa einfordert. Das muss der erste Schritt sein. Deswegen appelliere ich an Sie: Sagen Sie Ja zum Fiskalpakt. Sagen Sie Ja zum Europäischen Stabilitätsmechanismus. Wir haben es in der Hand, die gemeinsame Währung schon im nächsten Monat mit einem klaren Signal zu stabilisieren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, jetzt müssen Sie wirklich zum Abschluss kommen.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Wir sollten uns nicht auf die Ebene von politischem Klein-Klein begeben und damit die Märkte zusätzlich verunsichern. Die Lösung liegt auf dem Tisch. Greifen wir zu. Gemeinsam schaffen wir das. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist unbestritten, dass die weltwirtschaftliche Entwicklung die Dynamik der vergangenen Jahre noch nicht erGerda Hasselfeldt reicht hat. Genauso unbestritten ist, dass die Konsequenzen der internationalen Finanzkrise immer noch in der Konjunktur-, in der Wachstumsentwicklung spürbar sind. Darum ist es auch richtig, dies alles jetzt beim G-20-Gipfel gemeinsam zu diskutieren. Schließlich erleben wir als Folge dieser Finanzkrise, dass nicht nur in den europäischen, sondern auch in vielen anderen Industriestaaten die Staatsverschuldung zu hoch ist. In manchen europäischen Ländern haben wir zusätzlich mit den Gefahren der Rezession zu kämpfen. Meine Damen und Herren, das alles macht deutlich: In dieser Zeit ist es nicht angebracht, irgendwelche Schuldzuweisungen von einem Staat zum anderen Staat vorzunehmen. Was wir jetzt brauchen, ist vielmehr, dass jeder Staat seine Hausaufgaben auch selber macht und sich der Probleme bewusst ist, die im eigenen Land bestehen, diese auch angeht und gemeinsam mit anderen verantwortungsvoll diskutiert. ({0}) In Deutschland stehen wir noch vergleichsweise gut da. Deutlich wird das an den Arbeitslosenzahlen, an der Erwerbstätigenentwicklung insgesamt. Wir sind wieder Konjunkturlokomotive in Europa. Meine Damen und Herren, das kommt nicht von allein. Das ist immer noch zurückzuführen auf die Politik der letzten Jahre, auf die Politik, die schon in der letzten Legislaturperiode Markenzeichen unter Bundeskanzlerin Angela Merkel war, nämlich den Dreiklang „Konsolidieren, Reformieren und Investieren“. Alles drei war gleichermaßen wichtig. Keines der drei Ziele darf allein stehen. ({1}) Daran ist auch deutlich geworden, dass Haushaltskonsolidierung, solides Wirtschaften, sparsames Wirtschaften kein Gegensatz zu Wachstumsimpulsen ist. Das haben wir in Deutschland bewiesen, und das ist auch der Kurs in Europa. Dieser Kurs muss uns in Europa und darüber hinaus weiter tragen. Deshalb ist auch der Fiskalvertrag so bedeutend und wichtig für uns. Damit wird der Grundstock für eine Stabilitätsunion in Europa gelegt mit einer rechtlichen Fixierung, die wesentlich weiter geht als das, was bisher auf europäischer Ebene vereinbart wurde. Mit dieser rechtlichen Fixierung eines soliden Haushaltens in den einzelnen europäischen Staaten kann auch wieder Vertrauen geweckt werden, was notwendig ist: Vertrauen der Finanzmärkte in die Politik der einzelnen europäischen Staaten. Deshalb ist es ein Akt der staatspolitischen Vernunft und nichts anderes, diesem Fiskalvertrag nicht nur zuzustimmen, sondern ihn auch schnell zu verabschieden. ({2}) Natürlich ist es dabei nicht nur legitim, sondern auch geboten, über notwendige Wachstumsimpulse zu reden. Das tun wir übrigens nicht erst seit wenigen Tagen und Wochen, sondern schon seit langem. In dem ganzen Prozess der Entscheidungen über die Stabilisierung der europäischen Währung, bei jedem Gipfel war das ein Thema. Nun sind wir in einer Phase, in der wir diese Gespräche konkretisieren, in einer Phase, in der konkret nachgedacht wird beispielsweise über höheres Kapital bei der Europäischen Investitionsbank, über Projektanleihen, über Änderungen und Verschiebungen beim EUHaushalt, bei den Kohäsionsfonds und bei vielem anderen mehr. Das alles ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig. Das, was bei der Wachstumsdiskussion aber auf keinen Fall zielführend ist, ist die Diskussion über Programme - Wachstumsprogramme oder wie auch immer sie genannt werden -, die durch zusätzliche Schulden finanziert werden. Es muss uns immer klar sein: Konsolidierung und Wachstum gehören zusammen. Zu Wachstum kommt es nicht, wenn nicht die erste Stufe, nämlich die Haushaltskonsolidierung, stattfindet. ({3}) Zu Wachstum kommt es auch nicht, wenn nicht die notwendigen Strukturreformen im Arbeitsmarktbereich und im sozialpolitischen Bereich getätigt werden. Wenn jetzt in einigen europäischen Ländern die Diskussion darüber aufkommt, schon vorgenommene Strukturreformen im Arbeitsmarktbereich und im sozialpolitischen Bereich wieder zurückzunehmen ({4}) oder auch notwendige Reformen gar nicht anzugehen, dann, meine Damen und Herren, versündigt man sich an dem Ziel der Wachstumsimpulse, an dem Ziel, die Staaten voranzubringen und für eine solide wirtschaftliche Entwicklung zu sorgen. ({5}) Wenn es so kommt, dann wird man auch die Zeche dafür bezahlen müssen, nämlich in Form fehlender oder schlechterer Bonität, höherer Zinsen für die Staaten und nicht zuletzt sinkenden Vertrauens in die Finanzpolitik und in die Politik dieser Staaten. Das, meine Damen und Herren, ist das Allerschlimmste; ({6}) denn Vertrauen in die Politik, Vertrauen in ein solides Wirtschaften, das ist die Grundlage dafür, dass sich die Wirtschaft gesund entwickeln kann. Zur Finanztransaktionsteuer ist schon vieles gesagt worden; ich brauche das nicht zu vertiefen. Ich darf für die CSU nur sagen: Bei uns rennen all diejenigen, die eine Besteuerung der Finanzmärkte auf europäischer Ebene wollen, offene Türen ein. Wir werden den Bundesfinanzminister bei seinen Bemühungen, hier europaweit voranzukommen, mit aller Tatkraft unterstützen. ({7}) Nun hat sich in den Oppositionsparteien mittlerweile erfreulicherweise eine doch etwas skeptische Haltung gegenüber Euro-Bonds, die früher immer gleich als Erstes thematisiert wurden, eingestellt. Ich begrüße das sehr. Es zeigt, dass durchaus Lernbereitschaft vorhanden ist. Der Vorschlag eines Schuldentilgungsfonds ist letztlich jedoch nichts anderes als die Einführung von EuroBonds durch die Hintertür. ({8}) Wenn man meint, damit die Probleme zu lösen, dann ist man auf einem völlig falschen Weg. Mit einer Vergemeinschaftung der Schulden nehmen wir den einzelnen Ländern jeden Druck, selbst etwas dagegen zu tun. Es ist volkswirtschaftlich sinnlos. Es ist rechtlich nicht möglich. Es ist ein Verrat an den deutschen Interessen. Deshalb werden wir dieses nicht zulassen. ({9}) Wir brauchen ein hohes Maß an Verantwortung in unserem politischen Handeln: Verantwortung bei den Krisenländern, Verantwortung bei allen Industrieländern, nicht nur bei den europäischen, Verantwortung in besonderer Weise auch von Deutschland. Die Erwartungen Europas in unser Land sind groß. Diese Erwartungen sind nicht nur von der Regierung und den Koalitionsfraktionen zufriedenzustellen, sondern sie gehen das ganze Haus an. Ich stelle mit Zufriedenheit fest - das möchte ich ausdrücklich anerkennen -, dass wir bei der Vorbereitung der Entscheidung über ESM und Fiskalvertrag in guten Gesprächen sind. Bei dieser Gelegenheit betone ich vor allem: Das, was die Bundeskanzlerin in den vergangenen Monaten und Jahren an Verantwortung unter Beweis gestellt hat, war und ist eine großartige Leistung. ({10}) Sie hat mit Durchsetzungskraft und Hartnäckigkeit nicht nur deutsche Interessen immer vertreten, sondern sie hat auch dazu beigetragen, dass wir auf einem guten Weg zu einer nachhaltigen und dauerhaften Stabilitätsunion in Europa sind. Deshalb werden wir sie auf diesem Weg weiterhin unterstützen. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Poß erhält nun das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Hasselfeldt, ich gebe gerne zu, dass die Frau Bundeskanzlerin in einem Fach eine Meisterin ist: Sie ist eine Meisterin in der Feindbildpflege. Das hat sie heute Morgen wieder bewiesen, indem Sie einen Popanz über die schuldenhungrigen Sozis und Grünen an die Wand gemalt und nichts Sachliches zu dem Thema berichtet hat. ({0}) Damit wird ein Thema tabuisiert, das uns alle - auch Sie - einholen wird. Im Bericht der sogenannten Viererbande zum Europäischen Rat Ende des Monats wird dieses Thema auftauchen. Und Sie sollten sich ganz grundsätzlich wegen der Schulden hier nicht so aufblasen, egal ob Herr Kauder oder Herr Brüderle - Sie und alle anderen Fraktionsvorsitzenden treffen sich jetzt mit der Kanzlerin; das ist in Ordnung -; denn dazu haben Sie doch keinen Anlass. Schließlich beschließen Sie heute Nachmittag eine Neuverschuldung, die fast doppelt so hoch ist wie in diesem Jahr. ({1}) Was reden Sie da von Verschuldung? Reden und Handeln fallen auch hier wieder total auseinander. Das ist sozusagen Ihr Markenzeichen. Daran ändert sich nichts. ({2}) Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung, und wir setzen sie auch durch. Offenkundig hat sich die Bundeskanzlerin dazu entschlossen, den gelben Koalitionspartner - Herr Wissing, ein besonders berüchtigter Protagonist, will die Steuer verhindern - zu domestizieren, um das Vernünftige durchzusetzen. ({3}) Frau Merkel hat zweieinhalb Jahre gebraucht, um ein Stück Vernunft in der Koalition durchzusetzen. Es ist doch kein Grund, auf diese überfällige Leistung stolz zu sein. ({4}) Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung durchsetzen, alleine schon deshalb, um nicht mehr Schulden machen zu müssen. Wir brauchen sie für die Konsolidierung wie auch für Wachstumsinitiativen; auch das ist der Sinn dieser Finanzmarktbesteuerung. Also: Sie haben keinen Anlass zu irgendeinem Stolz. Das, was Frank-Walter Steinmeier hier festgestellt hat, nämlich dass von Ihnen null Initiative im Hinblick auf den nächsten G-20-Gipfel kommt - es wären viele Initiativen zu ergreifen; diese wurden thematisiert -, ist vollkommen richtig. Ihnen ist die Initiative abhandengekommen. Und warum? Weil Sie in Ihrer eigenen Koalition in wichtigen zentralen Fragen wie der Finanzmarktbesteuerung eben nicht einer Meinung waren. Welche Position sollte die Bundeskanzlerin denn dann auf internationalen Gipfeln nachhaltig vertreten? Ein nachhaltiges Auftreten war ja gar nicht möglich. Es ist schon beschämend, dass in diesem Parlament von der Koalition bei der Frage der Finanzmarktbesteuerung bis in den heutigen Morgen hinein taktiert, verweiJoachim Poß gert und blockiert worden ist. Es ist beschämend, dass es Frau Merkel zweieinhalb Jahre lang nicht gelungen ist, in dieser Frage eine klare Linie in ihrer Koalition durchzusetzen, und dass sie sich vom kleinen Koalitionspartner FDP hat auf der Nase herumtanzen lassen. Damit ist jetzt Schluss! ({5}) Auf unseren Druck und weil es anders einfach nicht geht, ({6}) musste die FDP jetzt klein beigeben. Das ist Fakt. Die FDP musste klein beigeben und nichts anderes. Das hätte man viel eher haben können. ({7}) Deswegen ist die aktuelle Entwicklung gut. Sie ist auch noch aus einem anderen Grunde gut: Für die Menschen in unserem Lande ist mit den krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre einiges gehörig in Schieflage geraten. Die Menschen empfinden es als zutiefst ungerecht, wie die Lasten der Krise verteilt worden sind und dass die Krisenverursacher in der Finanzbranche viel zu gut davongekommen sind. Das muss korrigiert werden. ({8}) Das meinen im Übrigen nicht nur die Anhänger der Oppositionsparteien, das meinen auch Ihre eigenen Anhänger. Das erfährt man, wenn man einmal mit ihnen spricht. Diejenigen, die normalerweise FDP oder CDU bzw. CSU wählen, sagen: So kann das nicht weitergehen. In diesen Tagen erleben wir, dass die Lobbyisten wieder mobil machen, auch in den Medien. Davon darf man sich nicht beeindrucken lassen. Die Finanztransaktionsteuer kann so konstruiert werden, dass schlimme Effekte auf Altersversorgung usw. eingedämmt und in Grenzen gehalten werden können. Es ist das alte Spiel: Die vermeintlichen Interessen der Kleinen werden vorgeschoben, damit diejenigen, die bisher kassiert haben, auch weiterhin gehörig kassieren können. Dieses Spiel läuft hier ab, meine Damen und Herren! ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir machen dieses Spiel nicht mit. Wir hoffen, dass wir gemeinsam - auch wenn Sie dabei Bauch- oder andere Schmerzen haben - zu einer vernünftigen Lösung in der Bundesrepublik Deutschland, ({0}) in Europa, möglichst in der Euro-Zone kommen werden und zusammen mit anderen Partnern zu einer verstärkten Zusammenarbeit finden werden. ({1}) Mal sehen, wie Sie sich weiter verhalten werden. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Frank Steffel für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Frank Steffel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe, wie auch Sie, zwei Stunden lang dieser abwechslungsreichen Debatte gelauscht. Am Ende einer Debatte frage ich mich immer: Was sind denn die Erkenntnisse für die hoffentlich zahlreichen Zuschauer an den Fernsehgeräten und für die Damen und Herren, die unsere Debatte hier mit hoffentlich großem Interesse unmittelbar verfolgen? Nach meiner Einschätzung gibt es drei wesentliche Erkenntnisse. Erstens spüren die Menschen, dass auch wir Politiker nicht auf alle Fragen, nicht auf alle Herausforderungen der weltweiten Zukunft perfekte, allumfassende Antworten haben. Sie merken, dass auch die Politik um den richtigen Weg ringt. Ich hoffe aber, die Menschen spüren auch, dass es einen wesentlichen Fortschritt in unserer politischen Generation gibt. Ich will einmal 25 Jahre zurückblicken: Vor 25 Jahren herrschten der Kalte Krieg, Sprachlosigkeit und Feindschaft. Auf dieser Welt standen sich Blöcke gegenüber. Heute sprechen wir über den G-20-Gipfel, auf dem die führenden 20 Nationen dieser Erde vertreten sind - sie generieren 90 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts -: Australien, natürlich die Vereinigten Staaten von Amerika, Russland, China, Indien, Brasilien, Argentinien, die Türkei, Saudi-Arabien, Südafrika. Ich will das bewusst auch einmal den jungen Zuhörern sagen. Man könnte sagen, dass die ganze Welt miteinander spricht. Die Nationen sprechen miteinander über drei Ziele - ich habe das einmal herausgesucht; auch das sollten wir deutlich machen -: Sie sprechen über das Ziel, ökonomische Stabilität und nachhaltiges Wachstum für unseren Planeten zu organisieren. Sie sprechen gemeinsam über das Ziel, Risiken zu reduzieren und zukünftige finanzielle Krisen zu vermeiden. Sie sprechen gemeinsam über das Ziel, eine neue internationale Finanzarchitektur zu errichten. Meine Damen und Herren, da hat sich auf diesem Planeten doch Gott sei Dank etwas geändert. John F. Kennedy hat gesagt: Unsere Probleme sind von Menschen gemacht. Deshalb können sie von Menschen gelöst werden. Wenn er mit diesen Sätzen recht hatte, dann sollte eine wesentliche Erkenntnis des heutigen Tages sein: Es wäre doch gelacht, wenn die 20 bedeutendsten Staats- und Regierungschefs, die 20 unterschiedlichen, aber größten Nationen dieser Erde es nicht gemeinsam schaffen, die Probleme dieses Planeten auch in der Zukunft für kommende Generationen gemeinsam zu lösen. ({0}) Ich glaube, die Menschen spüren ein Zweites: Ja, Sparen und Konsolidieren sind unpopulär und schwierig. Es fordert Opfer, und wir reden über Verteilung: Wen belastet das mehr? Wen belastet das weniger? Was ist gerecht? - Aber, meine Damen und Herren, die Menschen spüren auch, dass Wachstum nur wenige Voraussetzungen haben kann: Eine Voraussetzung ist relativ einfach - einige Länder dieser Erde verzeichnen es -: Bevölkerungszuwachs. Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen: In Europa, insbesondere in Deutschland, ist das nicht der Fall. Eine zweite Möglichkeit, für nationales Wachstum zu sorgen, ist Verschuldung, also Wachstum auf Pump. Wir stellen wahrscheinlich gemeinsam fest: Das ist ein Teil - wahrscheinlich die wesentliche Ursache - der Probleme, über die wir heute reden. Dann bleibt nur ein dritter Weg für Wachstum übrig. Ich will ihn in dieser Debatte deutlich herausarbeiten, weil er eine Stärke der Bundesrepublik Deutschland ist: Es bleibt der Weg übrig, Wachstum durch Innovation, Ideen, Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns da einmal zufrieden und stolz sein: Was der deutsche Mittelstand und deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten Jahren bewiesen haben, sind Innovationsfähigkeit, Ideenreichtum, Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Das ist weltweit ein Statussymbol dieser Bundesrepublik Deutschland. Also lassen Sie uns bei anderen stolz und zufrieden für unseren Weg werben. Im Übrigen will ich an dieser Stelle eines ausdrücklich sagen: Auch die Qualifikation und die Einsatzbereitschaft unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind Standortvorteil dieser Bundesrepublik Deutschland, auf den wir stolz sein sollten. Denn das ist die Grundlage unseres Wachstums; momentan sind wir Stabilitätsanker in Europa. Wer glaubt, fehlende Wettbewerbsfähigkeit mit der Reduzierung des Renteneintrittsalters bekämpfen zu können, der ist noch nicht wirklich in diesem Jahrhundert mit seinen demokratischen, medizinischen und anderen Entwicklungen angekommen. Wer glaubt, durch die Vergemeinschaftung von Schulden die richtigen Anreize für einen verantwortungsvollen Umgang mit Geld zu setzen, der schätzt die Motive der Menschen wieder einmal falsch ein. Darüber ist übrigens Ihr Sozialismus, lieber Herr Gysi, schon einmal gestolpert: Er hat schlicht und ergreifend die Motive von Menschen falsch eingeschätzt. Wenn wir ehrlich über die Motive von Menschen reden, dann müssen wir feststellen, dass es natürlich Anreize zum Sparen, zum verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen geben muss. Insofern ist die Vergemeinschaftung von Schulden genau der falsche Weg. ({1}) Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass gestern die Troika der SPD im Élysée-Palast Vorwahlkampf veranstaltet hat. ({2}) - Ja, das habt ihr gut organisiert. - Ich hätte mir nur eines gewünscht: Zur Ehrlichkeit hätte es auch gehört, dem neuen französischen Präsidenten zu sagen, dass seine Rücknahme der Anhebung des Renteneintrittsalters genau das falsche Signal der zweitwichtigsten Volkswirtschaft der Euro-Zone an die Märkte ist. Auch hier müsste die SPD sich ehrlich machen und nicht parteitaktisch argumentieren. ({3}) Die dritte Erkenntnis ist, dass gerade in krisenhaften Zeiten die Menschen ihrer politischen Führung vertrauen möchten - auch wenn sie wissen, dass es nicht auf alles eine perfekte Antwort gibt - und dass sie Ehrlichkeit und Verlässlichkeit erwarten. Es wundert mich deshalb nicht, dass alle Umfragen unter der Bevölkerung ergeben, dass die Bundeskanzlerin gerade in Bezug auf diese Werte hohes Ansehen genießt. Man spürt, dass Angela Merkel mit Sachkunde, Ehrlichkeit und Berechenbarkeit auf internationaler Ebene versucht, für Deutschland und für Europa den richtigen Weg auch in das kommende Jahrzehnt zu organisieren. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass auch die Opposition bereit ist, den Fiskalpakt und die notwendigen Schritte in Europa zu unterstützen; denn wenn es um historische Fragen geht, dann sollte es in Deutschland keinen Unterschied zwischen Opposition und Regierung geben. Ich wünsche mir nicht nur, dass die Bundesregierung uns auf dem G-20-Gipfel gut vertritt, sondern ich wünsche mir auch, dass insbesondere die Sozialdemokraten der europäischen Rettung, dem Fiskalpakt zustimmen und von Deutschland das klare Signal an die internationale Staatengemeinschaft ausgeht: Wir stehen zu unserer Verantwortung, wir wollen konsolidieren und trotzdem wachsen, und wir denken dabei insbesondere an die Menschen, die jeden Tag fleißig für unseren gemeinsamen Wohlstand arbeiten. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist solidarisch. Deutschland ist solidarisch, wenn es darum geht, den freien Handel weltweit zu fördern, weil er allen hilft. Deutschland ist solidarisch bei der wirtschaftlichen und technologischen ZusammenarDr. Joachim Pfeiffer beit. Deutschland ist auch beim Klimaschutz solidarisch; denn hier gehen wir voran. Deutschland ist auch in Europa solidarisch. Deutschland kann aber nur so lange solidarisch sein, solange es selbst stark ist, und wir sind stark, weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben. ({0}) - Wir in Deutschland. Auch die rot-grüne Bundesregierung hat mit der Agenda 2010 unsere Bemühungen auf dem Arbeitsmarkt unterstützt, indem sie Rahmenbedingungen geschaffen hat, die dazu beigetragen haben, dass unser Arbeitsmarkt so stark ist wie nie zuvor. Während andere Staaten in Europa mit der höchsten Arbeitslosigkeit aller Zeiten zu kämpfen haben, verzeichnet Deutschland die höchste Beschäftigungsquote der Nachkriegszeit. Das ist das Ergebnis einer Politik, die auf Konsolidierung und Wachstum setzt. Wir haben uns nicht nur auf einen der beiden Aspekte konzentriert, sondern wir haben sie in Übereinstimmung gebracht, ({1}) und zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch auf den Gütermärkten. Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen, deutscher Produkte und deutscher Dienstleistungen ist so gut wie nie. Wir sind gut aufgestellt. Wir haben auch in den Bereichen Finanzmarkt und Haushaltskonsolidierung gehandelt. Wir haben sowohl für die Häuslebauer als auch für die deutsche Wirtschaft, vor allem für den Mittelstand, Kredite bereitgestellt, damit er seine Investitionen weiter vorantreiben kann. In Europa sieht es anders aus. In Europa brennt es zum Teil offen, zumindest schwelt es. Deutschland ist bereit zur Solidarität. Deutschland ist bereit, sich an dem Feuerwehreinsatz zu beteiligen und zu löschen. Aber auch beim Löschen gilt es, den alten Feuerwehrgrundsatz des Selbstschutzes zu beachten. Wachstum darf nicht auf Pump finanziert werden. Um für Wachstum zu sorgen, braucht man die richtigen Instrumente. Ich gebe Herrn Steinmeier zwar recht, wenn er sagt, dass Deutschland mutig vorangehen soll. Aber wir dürfen nicht kopflos handeln; denn das wäre der direkte Weg in den Abgrund. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Euro-Bonds verweisen. Sie sind - wie es der Kollege Brüderle sehr treffend ausdrückt - Zinssozialismus, sie sind süßes Gift. Durch sie wird kein einziges Problem gelöst; vielmehr werden notwendige Maßnahmen zur Restrukturierung verzögert. Sie verhindern, dass notwendige Strukturreformen auf den Weg gebracht werden. Das haben mittlerweile offensichtlich selbst die Sozialdemokraten erfreulicherweise eingesehen. Euro-Bonds sind nicht das, wofür sie manche halten. Der EU-Kommissionspräsident sagt immer, dass wir Euro-Bonds brauchen, weil die Anleger sich dann am Stärksten orientieren würden. Genau das ist aber nicht der Fall. Das wissen wir spätestens, seitdem der Chef des chinesischen Investitionsfonds CIC in der letzten Woche gesagt hat, dass China nicht in Euro-Bonds investieren würde, weil man sich dann nicht am stärksten, sondern am schwächsten Glied der Kette orientieren würde. ({2}) Das sollten wir uns einmal vergegenwärtigen: EuroBonds hätten nicht nur zur Folge, dass Strukturreformen nicht durchgeführt würden, sie würden uns auch nicht hinsichtlich der Finanzierung während der Krise helfen. ({3}) Ernst Hinsken und ich waren in der letzten Woche mit dem Wirtschaftsminister in Saudi-Arabien. Auch der saudi-arabische Finanzminister hat uns in aller Deutlichkeit gesagt, dass man in deutsche Anleihen investiert, weil man Vertrauen in Deutschland hat. Man würde nicht in Euro-Bonds investieren, weil man im Moment nicht sehe, dass die Probleme in Europa in der Form gelöst werden, wie das notwendig ist. Das sollte ein Alarmsignal für uns sein. Wir sollten das Thema Euro-Bonds nicht weiterverfolgen, weil Euro-Bonds das Problem nicht lösen. Sie sind das Gegenteil: Sie sind Brandbeschleuniger und nicht zum Löschen der Krise in Europa geeignet. ({4}) Das Gleiche gilt für den Altschuldentilgungsfonds. Die Kollegin Hasselfeldt hat das Thema vorhin angesprochen. Das wäre die Einführung von Euro-Bonds durch die Hintertür. Ich glaube, jeder sollte seine Hausaufgaben machen. Auch wir haben noch genug Hausaufgaben zu machen. Wir haben 2 Billionen Euro Schulden, 2 000 Milliarden Euro Schulden, die wir selber abzutragen haben. Das entspricht nach wie vor 80 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Wir sind auf dem richtigen Weg, weil die Wirtschaft bei uns schneller wächst, als die Verschuldung ansteigt. Deshalb konnten wir die Verschuldungsquote im letzten Jahr um 1 bis 2 Prozentpunkte nach unten fahren. Das wird erfreulicherweise auch in diesem Jahr der Fall sein. Insofern stimmt die Richtung. Wir können und wollen auch keine Bankenunion einführen, die im Augenblick von manchen vorgeschlagen wird. Wir wollen eine europäische Bankenaufsicht. Insofern wollen wir eine Bankenunion, und diesbezüglich gibt es in der Tat noch einiges zu tun. Es kann nicht sein, dass die nationale Bankenaufsicht nur für national tätige Banken zuständig ist und die europäische Bankenaufsicht nur für grenzüberschreitende Tätigkeiten. Hinsichtlich der Finanzmarktregulierung gibt es da noch das eine oder andere zu verbessern. Genauso wenig sinnvoll wie die Vergemeinschaftung von Schulden ist es, durch eine europäische Einlagensicherung das europäische Vermögen zu vergemeinschaften. Weder eine Vergemeinschaftung von Schulden noch eine Vergemeinschaftung von Vermögen ist die Lösung. Im Moment versucht man an allen Ecken und Kanten in Europa, uns in die Transferunion zu locken oder zu zwingen. Dass dieser nicht erfolgversprechende Weg nicht eingeschlagen wird, das garantieren die CDU/ CSU- und die FDP-Fraktion in diesem Haus sowie die Bundesregierung, die die notwendigen Schritte bisher immer durchgesetzt hat. ({5}) Wir freuen uns über jede Unterstützung. Die Grünen fordern aber leider zum Großteil das Gegenteil und sagen, dass sie Euro-Bonds wollen. Ich bin mir noch nicht so richtig sicher, was die SPD will. Ich weiß nicht, was am Ende herauskommt, wenn das Trio Infernale öfter nach Paris fährt. Ich bin mir nicht sicher, ob man dann am Ende nicht doch wieder umfällt und Euro-Bonds fordert, in welcher Form auch immer. Für meine Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit auch: Wir wollen, dass der ESM und der Fiskalpakt zusammen verabschiedet werden, weil sie zusammengehören. ({6}) Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf der einen Seite steht ein dauerhaftes Rettungsinstrumentarium für schwierige Situationen, und auf der anderen Seite stehen klare Regeln, was Haushalt, Wachstum und Konsolidierung in Europa anbelangt. Beides gehört untrennbar zusammen. Wir werden nie und nimmer das eine ohne das andere verabschieden. Beide Dinge gehören untrennbar zusammen. ({7}) Bei aller Freude über die deutsche Situation: Wer nicht immer besser wird, hört auf, gut zu sein. Wir sollten aufhören, ({8}) die Agenda 2010 schlechtzureden. Die SPD und andere ihrer Kameradinnen distanzieren sich davon oder wollen sie rückgängig machen. Die Agenda 2010 war notwendig. Wir brauchen jetzt aber keine Agenda 2010, sondern eine Agenda 2020 oder eine Agenda 2030, die Wachstumsfesseln löst, die Technologieoffenheit, Technologiebegeisterung schafft, die den Arbeitsmarktmotor in Fahrt hält, ({9}) die die Rahmenbedingungen für Gründungen verbessert, die bei Innovationstätigkeit, bei steuerlicher Förderung von Forschungsfinanzierung und anderem entsprechend positiv wirkt. Nur dann haben wir die Chance, dass Deutschland weiterhin so stark bleibt, wie es ist, und seine Solidarität in Europa und weltweit leisten kann. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von den Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Josip Juratovic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebotes für Frauen und Männer ({0}) - Drucksache 17/9781 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Andrea Nahles für die SPD-Fraktion das Wort. ({3})

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einem Blick in die Zukunft beginnen. Anlässlich des Equal Pay Day am 10. März 2015 gibt das Statistische Bundesamt eine Pressemitteilung heraus. Die Überschrift lautet: Verdienstunterschiede von Frauen und Männern gehen erstmals zurück. Weiter heißt es in der Pressemitteilung: Wiesbaden - Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen war in Deutschland im Jahr 2014 um 15 Prozent niedriger als der von Männern. Damit hat sich der unbereinigte Gender Pay Gap erstmals seit Jahren verringert. Dies ist das messbare Ergebnis des Entgeltgleichheitsgesetzes, das am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist. - Das ist doch einmal eine schöne Nachricht. ({0}) Sie haben es hier heute in der Hand. Sie können dafür sorgen, dass diese schöne Nachricht tatsächlich den Weg in die deutschen Zeitungen findet, indem Sie heute dem Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zustimmen. Wir müssen in Deutschland endlich mit dem Skandal aufräumen, dass es einen Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen gibt. Diesen Lohnunterschied gibt es aus einem einzigen Grund: weil die Frauen Frauen sind. Das ist Entgeltdiskriminierung. Das muss man so benennen, und das muss man beseitigen. ({1}) Wir erleben in dieser Frage vonseiten der Bundesregierung vor allem Appelle. Im Hintergrund wird dieses Thema auch noch wie eine heiße Kartoffel von einem Ministerium zum anderen geschoben. ({2}) Es im Grunde genommen egal, ob sich Frau von der Leyen der Sache mal wieder wildernd im Ressort ihrer Kollegin annimmt oder ob Frau Schröder es selbst macht, unter dem Strich bleibt leider folgende Botschaft für die Frauen in Deutschland: Eine schlechtere Interessenvertretung für Frauen in dieser Frage hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. ({3}) Ich sage Ihnen: Frau von der Leyen ist wirklich sehr gut darin - ich muss das loben -, alle zentralen Probleme des Arbeitsmarktes anzusprechen. Konkrete Lösungen werden aber nicht angeboten, geschweige denn umgesetzt. ({4}) Einer der zentralen Gründe für schlechte Löhne von Frauen in Deutschland ist schlicht und ergreifend - das ist ganz simpel -, dass es zu viele Frauen gibt, die in prekären Teilzeitbeschäftigungen festhängen und keinen Weg finden, dort herauszukommen. Das ist eines der Probleme. Das zweite Problem ist, dass einige Tätigkeiten - meist sind es Dienstleistungen - insgesamt schlechter bewertet bzw. entlohnt werden. Dies geschieht nicht zufällig; denn zu 70 oder 80 Prozent werden diese Tätigkeiten von Frauen ausgeführt. Viele Tätigkeiten von Frauen werden also schlichtweg weniger hoch bewertet. Das sind zentrale Gründe für die Entgeltungleichheit. Wir legen hier und heute einen Gesetzentwurf vor, der einen gesetzlichen Rahmen schafft. Dieser gesetzliche Rahmen verpflichtet die Tarifpartner und die Verantwortlichen in den Betrieben, sich um dieses Problem zu kümmern. Wir, die Politik, können dieses Problem in den Betrieben vor Ort nicht selbst lösen. Aber wir können wenigstens einen gesetzlichen Rahmen schaffen, der sie dazu verpflichtet, dieses Thema regelmäßig auf die Tagesordnung zu setzen, damit die vorhandenen Probleme gelöst werden können. Das ist mehr als die warmen Worte und die Appelle seitens dieser Bundesregierung. Das ist der große Vorteil unseres Gesetzentwurfs. ({5}) Frau Schröder hat Lohnmessmethoden ausprobieren lassen. Ich sage Ihnen klipp und klar: Darüber freuen wir uns. Es handelt sich dabei allerdings um Lohnmessmethoden, die immer wieder zu einer „überraschenden“ Erkenntnis führen. Viele Firmen, die diese Lohnmessmethoden anwenden, stellen doch tatsächlich fest: Ups, bei uns gibt es eine Lohndiskriminierung. ({6}) Jetzt kommt der spannende Punkt: Danach passiert nichts mehr. Genau das ist das Problem, das wir mit unserem Gesetzentwurf anpacken. Dass nichts getan wird, haben wir nämlich lange genug erlebt. Jetzt komme ich zu einem Punkt, an dem diese Regierung etwas tun will; das ist wirklich wunderbar und großartig. Einer der Hauptgründe für die schlechtere Entlohnung von Frauen sind bekanntlich familienbedingte Erwerbsunterbrechungen. Was macht diese Bundesregierung? ({7}) Sie legt ein Programm zur Förderung familienbedingter Erwerbsunterbrechungen vor. ({8}) Es nennt sich Betreuungsgeld. ({9}) Da, wo diese Bundesregierung endlich einmal konkret wird und etwas tut, geht es voll in die Hose. ({10}) Das Betreuungsgeld wird nämlich weitere Lohndiskriminierung und -ungleichheit in Deutschland zur Folge haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Es gab seit Jahrzehnten keine Regierung in Deutschland, die die Interessen der Frauen schlechter vertreten hat als die jetzige. Auch dass diese Regierung von einer Frau angeführt wird, bringt den Frauen in Deutschland unter dem Strich nichts. ({11}) Ich kann Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein echtes Problem. Sie ist nicht nur ein Problem der Gleichstellung, sondern betrifft auch die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, die dadurch empfindlich gestört wird. ({12}) Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie, liebe Bundesregierung, herzlich darum bitten, endlich Butter bei die Fische zu tun. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich geht: Wenn ich von einer Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern in Deutschland in Höhe von 23 Prozent spreche und zu diesem Thema Pressemitteilungen verfasse, dann stoße ich bei vielen Menschen auf Unverständnis. Viele sagen: 23 Prozent? Das kann doch gar nicht sein. Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Mann 23 Prozent mehr verdient als die Frau, die zum Beispiel neben Nadine Schön ({0}) ihm am Fließband steht. - Tatsächlich: Diesen Fall wird man selten antreffen. ({1}) Denn bei der Lohnlücke von 23 Prozent handelt es sich nicht um einen individuellen Lohnunterschied, sondern um den Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Bruttostundenverdienst aller Männer und dem durchschnittlichen Bruttostundenverdienst aller Frauen. ({2}) Der Unterschied ist deshalb so groß, weil Männer viel öfter als Frauen Vollzeit arbeiten und weniger oft familienbedingt auf Berufstätigkeit verzichten, weil also mehr Männer als Frauen erwerbstätig sind. ({3}) Man kann sich fragen: Ist die Lohndifferenz die Konsequenz individueller Entscheidungen? Ist sie also unproblematisch? Müssen wir uns mit diesem Thema also nicht beschäftigen? Nein, wer so argumentiert, der macht es sich zu einfach. ({4}) Es gibt tatsächlich bestimmte Diskriminierungstatbestände. Ein Beispiel ist der Fall einer Berufseinsteigerin, die trotz des gleichen Studienabschlusses schlechter bezahlt wird als ihr männlicher Kollege. Man kann vermuten, dass eine mögliche Schwangerschaft und eine potenzielle Familienzeit schon eingepreist werden. Hier hat die junge Frau ganz individuell ein Problem. Besonders problematisch wird diese Lohnlücke von 23 Prozent im Alter. Dann nämlich entwickelt sich die Lohndifferenz zu einer Rentendifferenz von über 59 Prozent. Das ist logisch, weil Frauen, die weniger verdient haben, später geringere Rentenansprüche haben. Genau das, die fehlenden eigenen Rentenansprüche, sind der Grund für die drohende Altersarmut von Frauen. Vor diesem Hintergrund sind das Fehlen von Entgeltgleichheit und vor allem die Ungleichheit der Renten große Probleme, sowohl auf individueller Ebene als auch deshalb, weil wir alle davon betroffen sind. ({5}) Über die Ursachen haben wir in diesem Haus oft diskutiert. ({6}) Für den größten Teil der Lohnlücke gibt es objektive Gründe, nämlich die horizontale und die vertikale Segregation des Arbeitsmarktes. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie müssen nicht so überrascht tun. Ich denke, diese Fakten sind Ihnen bekannt: Frauen sind in den besser bezahlten Berufen und auf den höheren Stufen der Karriereleiter schlechter vertreten. ({7}) Das führt zu schlechterer Bezahlung. Hinzu kommt, dass Frauen mehr und längere Erwerbsunterbrechungen haben. Sie arbeiten meist Teilzeit mit wenigen Stunden. Das erklärt 15 Prozent der Entgeltlücke. Die anderen 8 Prozent ergeben sich tatsächlich durch Diskriminierung und eine ungerechte Bewertung von Frauenarbeit. Ansatzpunkte dafür, wie man diese Lohnlücke schließen kann, gibt es zahlreiche. ({8}) Bei vielen ist auch die Politik gefragt, ({9}) und vieles wird auch bereits getan. Das fängt bei dem Bemühen an, Mädchen und Frauen auch für die besser bezahlten technischen Berufe zu gewinnen, und geht bis zu den Initiativen gegen die langen Erwerbsunterbrechungen und die hohe Teilzeitquote, ({10}) etwa durch den Ausbau der Krippenplätze, durch den Ausbau von Ganztagsschulen und durch den Ausbau der nachschulischen Betreuung. Das ermöglicht nämlich eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und führt dazu, dass es weniger Erwerbsunterbrechungen und weniger Teilzeitarbeit, also auch bessere Einkommen gibt. Hier ist jetzt das Stichwort Betreuungsgeld gefallen. ({11}) Liebe Kollegin Frau Nahles, Sie haben das gesagt. Ich bin, wie Sie wissen, nicht der größte Verfechter des Betreuungsgeldes, ({12}) aber wie Sie sich in den letzten Wochen über junge Familien geäußert haben, ({13}) die im ersten und zweiten Lebensjahr ihres Kindes gerne mehr Zeit mit ihm verbringen und nicht nach wenigen Wochen wieder Vollzeit ins Berufsleben einsteigen wollen, ({14}) Nadine Schön ({15}) ist wirklich empörend und schlimm. Das kritisiere ich hier wirklich deutlich. ({16}) Es muss doch, wenn man ein einjähriges Kind hat, möglich sein, die Arbeitszeit etwas zu reduzieren, um mehr Zeit mit dem Kind verbringen zu können. Für Sie ist jede Person, die nicht gleich wieder Vollzeit einsteigt, eine schlechte Mutter bzw. ein schlechter Vater. ({17}) Ich bin die Letzte, die sagt, dass Kitabetreuung schlecht für ein Kind ist, aber das, was Sie fordern, nämlich Frauen und Männer direkt wieder in den Arbeitsmarkt, ist nicht das, was sich die meisten jungen Familien wünschen. ({18}) Es muss doch möglich sein, auch einmal stundenweise auf die Berufstätigkeit zu verzichten, und zwar für Männer und für Frauen. Wenn wir das den Männern und Frauen ermöglichen, ({19}) dann haben wir an diesem Punkt auch kein Problem mehr mit Entgeltungleichheit. Das wünschen sich junge Familien. Hier tun wir wirklich aktiv etwas gegen Entgeltungleichheit. ({20}) Das beste Erfolgsmodell ist das Elterngeld. Mit dem Elterngeld und den Partnermonaten ermöglichen wir jungen Familien nämlich genau das.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kollegin, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass es sachlich falsch ist, wenn Sie - wie wiederholt getan - der SPD-Fraktion unterstellen, dass sie Familien unterschiedlich behandeln will und dass sie vorschreibt, wo ein Kind besser betreut wird, und dass dies eine bösartige Unterstellung in Bezug auf unsere Position ist?

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stelle fest, dass es eine bösartige Unterstellung in Bezug auf unsere Position ist, zu behaupten, die CDU/ CSU-Fraktion wolle junge Familien vom Arbeitsmarkt fernhalten. ({0}) Diese bösartige Unterstellung wiederholen Sie regelmäßig. Sie vermitteln den Eindruck, dass nur die Person eine gute Mutter oder ein guter Vater ist, die Betreuungseinrichtungen in Anspruch nimmt. ({1}) Wer das nicht tut, ist ein Heimchen am Herd und nimmt die „Fernhalteprämie“ in Anspruch. Das ist nicht das, was junge Familien heute wollen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie noch eine weitere Nachfrage, liebe Kollegin?

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gerne zum Thema Entgeltgleichheit zurückkommen, weil ich glaube, dass wir über das andere Thema in den nächsten Wochen noch ausgiebig diskutieren werden. Wir reden heute über Entgeltgleichheit, und ich glaube, auch an diesem Punkt gibt es vieles zu tun. Ein maßgeblicher Punkt ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, über die wir gerade diskutieren. ({0}) Auch hier gibt es viele Initiativen der Bundesregierung, etwa die Initiative familienbewusste Arbeitszeiten, das „audit berufundfamilie“, die Familienpflegezeit. ({1}) All das führt dazu, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie möglich ist. Jetzt sind aber die Politiker nicht die Einzigen, die Verantwortung tragen. ({2}) Wie es in Ihrem Gesetzentwurf richtig anklingt, haben auch die Tarifparteien und die Unternehmen eine Verantwortung; denn die Lohnlücke von 23 Prozent setzt sich eben aus vielen kleinen Lohnlücken zusammen, aus ein bisschen Entgeltungleichheit in vielen Betrieben. Deshalb gilt es, Unternehmen für das Thema Entgeltungleichheit zu sensibilisieren. Das Bundesfamilienministerium hat das aus der Schweiz kommende Tool Logib-D weiterentwickelt und bietet es den Unternehmen an. Hiermit kann man erkennen, wo im Betrieb Entgelt21888 Nadine Schön ({3}) unterschiede bestehen, und diese Probleme gemeinsam angehen. Die SPD greift dieses Thema in ihrem Gesetzentwurf auf - was ich grundsätzlich begrüße -, dass sich viele Unternehmen mit diesem Thema beschäftigen. Was Sie aber vorschreiben wollen, ist, dass jedes einzelne Unternehmen mit mehr als 15 Mitarbeitern ein Lohnfeststellungsverfahren durchführt. ({4}) Das sind über 300 000 Unternehmen in Deutschland. All diese 300 000 Unternehmen sollen ein Lohnfeststellungsverfahren durchführen und dann das Ergebnis der Antidiskriminierungsstelle melden. 300 000 Berichte an die Antidiskriminierungsstelle - ich frage mich, ehrlich gesagt, was das bringen soll. ({5}) Mit 300 000 Datensätzen wird die Antidiskriminierungsstelle schlecht arbeiten können. Deshalb bin ich sehr skeptisch, ob dies der geeignete Weg ist. Ich erkenne an, dass Sie von dem Willen getragen sind, dafür zu sorgen, dass sich mehr Unternehmen mit diesem Thema beschäftigen. Ich erkenne auch an, dass Sie die Tarifpartner in die Pflicht nehmen wollen. ({6}) Ich finde allerdings, man muss früher ansetzen. Die Tarifpartner haben nämlich schon bei den Verhandlungen über Gehälter bzw. über Tarifverträge die Verantwortung, sich zu fragen: Was ist eine angemessene Bezahlung für eine gewisse Qualifikation? Wie bewerten wir frauenspezifische Tätigkeiten? Legen wir hier überhaupt gute und vergleichbare Kriterien an? Diese Verantwortung haben die Tarifparteien schon bei den Verhandlungen über Tarifverträge und Löhne. ({7}) An diesem Punkt haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer wirklich eine Verantwortung, der sie gerecht werden müssen. Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss; denn ich finde, das Thema Entgeltgleichheit in Deutschland ist für unser Land ein wirklich wichtiges Thema. ({8}) Ich erkenne in diesem Gesetzentwurf Ihren guten Willen an. Aber zustimmungsfähig ist er aus den genannten Gründen nicht. Sie sind etwas über das Ziel hinausgeschossen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam zu konstruktiven, besseren Lösungen kommen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Cornelia Möhring für die Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch aus Sicht der Linken ist es natürlich unbedingt erforderlich, dass wir endlich gesetzliche Regelungen treffen, um die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern zu beseitigen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit Ihrem Gesetzentwurf machen Sie zwar durchaus einen Schritt in die richtige Richtung, aber er ist, wie ich finde, nicht ausreichend. ({0}) Sie können mit Ihrem Vorschlag zwar Ungleichheiten in den Betrieben aufzeigen, aber konsequent beseitigen können Sie damit die Ungleichheit nicht. Problematisch finde ich, dass Sie damit die Forderung nach einem Verbandsklagerecht, zum Beispiel für die Antidiskriminierungsstelle, faktisch aufgeben. Betroffene müssen auch nach Ihrem Vorschlag weiterhin in mühseligen Einzelklagen gegen Diskriminierungen dieser Art vorgehen. Das dauert viele Jahre, verschlingt viel Geld der Betroffenen und ist kein wirksamer Ersatz für die Möglichkeit, als Verband im Rahmen eines Bußgeldverfahrens - was Sie vorhaben - zu klagen. Es wäre aber bitter nötig, hier wirkliche Schritte konsequent zu gehen. Wir haben hier schon gehört: Frauen erhalten auch im Jahre 2012 durchschnittlich immer noch ein Viertel weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen, obwohl sie exakt das Gleiche tun, die gleiche Ausbildung und den gleichen Verantwortungsbereich haben. Das ist ungeheuerlich und gehört genau wie die ungleiche Bezahlung gleichwertiger Tätigkeiten endlich auf den Müllhaufen der Geschichte. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen an dieser Stelle Lilly Ledbetter vorstellen bzw. diejenigen, die sie kennen, an sie erinnern. Auf ihre Geschichte geht der Equal Pay Day zurück, mit dem seit 2008 auf die ungleiche Bezahlung aufmerksam gemacht wird. Wir wissen, dass auch in diesem Jahr Frauen 84 Tage länger arbeiten müssen, bis sie auf den gleichen Lohn wie die Männer kommen. Lilly Ledbetter war Angestellte einer Reifenfirma in den USA und stellte kurz vor ihrer Pensionierung fest, dass sie während der 19 Arbeitsjahre für dieselbe Arbeit rund 200 000 Dollar weniger Gehalt bekommen hat. Sie zog mit ihrer Klage bis zum obersten Gericht. Präsident Obama unterzeichnete wenige Tage nach seinem Amtsantritt ein Gesetz, den Lilly Ledbetter Fair Pay Act, mit dem Entgeltdiskriminierung aufgrund von Geschlecht, Herkunft und Hautfarbe unterbunden werden soll. Das brauchen wir auch, ({2}) und zwar ohne Schlupflöcher und zusätzlich mit dem Recht auf einen Diskriminierungsausgleich versehen. Denn auf ähnliche Differenzen kommen wir auch hierzulande. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen, wie viel weniger eine Frau über 35 bis 40 Berufsjahre mit gleicher Ausbildung und bei gleicher Arbeit bekommt als ein Mann. Eine Großhandelskauffrau erhält circa 564 Euro weniger Monatsgehalt. In 40 Jahren kommen wir auf eine Summe von knapp 271 000 Euro. Bei einer Köchin beträgt die monatliche Differenz 210 Euro. Das sind nach 40 Jahren immerhin stattliche 100 000 Euro. Einer Ärztin entgehen in 35 Jahren 441 000 Euro, nur weil sie eine Frau ist. Wenn wir gleichwertige Arbeiten vergleichen, nämlich die einer Erzieherin und die eines Maschinenschlossers, muss die Kollegin, die sich um unser aller Nachwuchs kümmert, für 231 000 Euro weniger Gehalt arbeiten als der Mann. 100 000, 231 000, 270 000, 440 000 Euro: Ich meine, das sind schon stattliche Summen. Dabei sind die entgangene Altersvorsorge und die geringere Lebensqualität noch nicht einmal mit eingerechnet. Das ist schlicht Lohnraub. ({3}) Liebe Frauen im ganzen Land, wenn wir überlegen, was uns durch diesen Lohnraub entgangen ist und noch entgeht, muss ich sagen: Es ist viel zu viel, um nett „Bitte, bitte macht das nicht wieder!“ zu sagen. ({4}) Für Raub müssen Räuber eigentlich lange in den Knast, für Diebstahl und Betrug übrigens auch. Wir könnten doch in diesem Falle von so einer schweren Strafe absehen und den vorenthaltenen Lohn in ein zinsloses Darlehen verwandeln. Wenn Frauen in Rente gehen, gibt es die Rückzahlung cash oder auf die schwäbische Art: als Häuschen. Bis wir das erkämpft haben, streiten wir auch weiterhin für ein Gesetz, das Entgeltungleichheit gar nicht erst entstehen lässt. Damit es eine echte Durchsetzungschance gibt und nicht die Einzelnen den mühseligen Klageweg beschreiten müssen, brauchen wir zusätzlich das Recht der Verbände, zu klagen. Dem Antrag der Linken dazu dürfen Sie dann im Oktober gerne zustimmen, wenn Sie es ernst meinen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDPFraktion. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Grundgesetz bestimmt in Art. 3 Abs. 2 und 3, dass niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden darf. Trotzdem wissen Sie und ich, dass Frauen in Deutschland außerhalb des öffentlichen Dienstes im Durchschnitt 23 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen. Das wollen wir nicht nur ändern; das müssen wir ändern. ({0}) - Wartet mal ab! Dass die SPD-Fraktion zu ihrer Allzweckwaffe greift und sagt: „Ein Gesetz muss her“, ist nichts Neues. ({1}) Zudem ist der Gesetzentwurf widersprüchlich. In der Begründung heißt es, der Staat als Handelnder solle sich so weit wie möglich zurückhalten. So weit, so gut: Diesen Satz können wir Liberalen mittragen. Dagegen heißt es aber schon im nächsten Absatz der Begründung wörtlich: Die Verpflichtung zur Untersuchung betrieblicher Entgeltsysteme kann allerdings nicht ohne staatliche Einwirkung durchgesetzt werden. Denn die SPD-Fraktion glaubt, ohne Gesetz funktioniert in unserem Lande nichts. Das ist der elementare Unterschied zwischen uns und Ihnen. ({2}) Gerade die Tarifautonomie ist ein wichtiger Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft und ein Grund, warum unser Land wirtschaftlich erfolgreich ist. Ein Gesetz, das die Tarifhoheit der Tarifpartner untergräbt, kommt für die FDP-Fraktion nicht infrage. ({3}) Außerdem käme auf die Unternehmen ein neues Bürokratiemonster zu. Das steht im krassen Gegensatz zu den Bemühungen der christlich-liberalen Koalition um den Bürokratieabbau. Anstatt die Tarifautonomie auszuhebeln, sollte die SPD-Fraktion mit den Gewerkschaften reden. ({4}) Typische Frauenberufe werden trotz individueller Lohnverhandlungen ja bekanntlich häufig schlechter bewertet und vergütet als klassische Männerberufe. Hier können die Gewerkschaften gegensteuern. Wir haben schon in den vorausgegangenen Debatten festgestellt: Um Entgeltgleichheit herzustellen, müssen wir die Ursachen für die Unterschiede aufdecken und entsprechend handeln. Wir sind dabei, dies zu ändern; das wissen Sie. Stichwort Logib-D: Hinter diesem sperrigen Begriff steckt ein sehr wichtiges Instrument. Es geht um Transparenz. Offenlegung der Gehälter ist der beste Weg zu fairen Gehaltsstrukturen. ({5}) Ich bin sicher: Wenn klar ist, in welchen Bereichen und auf welcher Ebene Differenzen bei den Gehältern bestehen, schafft dies nicht nur für das Unternehmen Klarheit. ({6}) Unter Bewerbern wird sich schnell herumsprechen, welches Unternehmen Männer besser bezahlt als Frauen. Um die Lohnlücke zu schließen, müssen wir drei Ursachen im Blick behalten. Erstens. Frauen sind in Berufszweigen, in denen es nur wenige Aufstiegsmöglichkeiten gibt, überrepräsentiert. Zweitens. Frauen entscheiden sich häufig für Berufe im unteren Einkommensniveau. Eine Diplompädagogin verdient heute durchschnittlich 2 500 Euro, während ein Absolvent eines Studiengangs für Umwelttechnik schon beim Einstiegsgehalt mit 1 000 Euro darüber liegt. Die Berufswahl ist noch immer eines der entscheidenden Kriterien für die Gehaltsentwicklung. Die dritte Ursache ist hinlänglich bekannt. Je länger die Familienphase, in der die Frau aus dem Beruf aussteigt, desto schwieriger wird auch der Wiedereinstieg. Junge Frauen müssen sich die Konsequenzen klarmachen; darauf müssen wir hinwirken. Die Lohnlücke, die während der Familienphase entsteht, wird häufig nicht mehr geschlossen; darauf wurde schon mehrmals hingewiesen. Abgesehen davon bedeutet weniger Gehalt automatisch weniger Rente. Nach Berechnungen des DIW klafft die Einkommensschere in höheren Positionen am meisten auseinander. Das ist ein Skandal. Hier sind die Unternehmen und auch die Frauen in der Pflicht. Am Dienstag veröffentlichte das Forsa-Institut das Ergebnis einer Umfrage, das die Situation widerspiegelt. „Der Frauenanteil bei Weiterbildungen ist hoch“, ist das Ergebnis. Schön! Aber die Männer ziehen aus ihrem Weiterbildungsengagement einen größeren Nutzen. Während über die Hälfte von ihnen aufgrund ihrer Fortbildung mehr Verantwortung oder eine Beförderung erhalten hat, sind es bei den Frauen deutlich weniger. Der Auftraggeber der Studie, die Fernschule ILS, kommt zu dem Schluss - ich zitiere -: Daher sollten insbesondere Frauen Initiative zeigen und ihr persönliches Engagement stärker in den Vordergrund stellen … Dass Frauen selbstbewusster ihre Rechte einfordern und ihre Karriere verfolgen, ist nicht das einzige Ziel, das wir gemeinsam verfolgen müssen, wohl aber ein wichtiges. Die Politik der Liberalen folgt dem Grundsatz: Frauen und Männer arbeiten auf Augenhöhe. Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit muss deshalb selbstverständlich sein. Politik, Unternehmen und Frauen müssen gemeinsam an einem Strang ziehen. ({7}) Ein weiteres Gesetz ist aus Sicht der FDP-Fraktion nicht der richtige Weg; da sind wir wieder einmal anderer Meinung als Sie. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf der SPD nicht zustimmen. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen hat nun das Wort.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen und Fakten sind bekannt. Wir müssen nicht mehr beweisen, dass Frauen weniger verdienen als Männer. Auch die Ursachenforschung liegt bereits hinter uns. Wir wissen: Es geht hier um Entgeltdiskriminierung. Das ist auch kein neues Phänomen. Seit Jahren diskutieren wir über die Ungerechtigkeit der mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Wir Grüne haben Lösungen und Konzepte entwickelt sowie einen entsprechenden Antrag eingebracht. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf der SPD vor, den wir sehr begrüßen. Trotzdem müssen wir in den Debatten hier im Bundestag immer und immer wieder bei Adam und Eva beginnen. Die Beharrlichkeit, das Thema auszusitzen, nervt einfach und wird diesem Thema wahrlich nicht gerecht. ({0}) An die Regierungsfraktionen gerichtet kann ich nur sagen: Wenn Sie weiterhin meinen, dass der Verweis auf mehr Kinderbetreuung und auf die Tarifautonomie ausreicht, Frau Schön, oder wenn Ministerin Schröder vorschlägt, Frauen sollten einfach mehr technische Berufe erlernen, damit sie mehr verdienen, haben Sie das Problem in seiner Reichweite einfach nicht verstanden. ({1}) Es geht nicht allein darum, dass Arbeit gleich bezahlt wird, sondern auch darum, gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit durchzusetzen. Es geht darum, die Kriterien, nach denen Arbeit bewertet wird, geschlechtsneutral auszugestalten. Anders ausgedrückt: Es geht um den gesellschaftlichen Wert von Arbeit von Frauen, also auch um Wertschätzung. Realität in Deutschland ist aber: Die schlecht bezahlten Berufe sind noch immer Frauensache. So werden beispielsweise in den typischen Frauenberufen im sozialen Bereich die dort unentbehrlichen Fähigkeiten wie soziale Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Teamgeist ganz selbstverständlich erwartet. Die Anforderungen sind hoch, und die Frauen tragen viel Verantwortung für Menschen. Dennoch wird ihre Arbeit nicht ausreichend wertgeschätzt. Das ist nicht fair und schon gar nicht gerecht. ({2}) Aber die Entgeltdiskriminierung ist nicht allein ein Nischenproblem der klassischen Frauenberufe; sie zieht sich vielmehr quer durch alle Beschäftigungsfelder. Wieder an die Adresse der Ministerin Schröder: Natürlich verdient eine studierte Bauingenieurin mehr als eine Altenpflegerin, aber - und hier liegt das Problem - sie verdient dennoch weniger als ihr männlicher Kollege. Das soll die Ministerin erst einmal den vielen gut ausgebildeten und motivierten jungen Frauen erklären. „Augen zu und durch“ ist einfach zu wenig. ({3}) Um den Dornröschenschlaf, in dem Sie sich offenbar befinden, noch ein wenig mehr zu stören, hier ein paar Zahlen: In Baukonstruktionsberufen verdienen Frauen rund 30 Prozent weniger als Männer, Physikerinnen erhalten 24 Prozent weniger und Grafikerinnen in der Regel 33 Prozent. Die Lohnlücke in der Gebäudereinigung liegt bei 26 Prozent und selbst für Callcenter ist eine weibliche Beratung 22 Prozent günstiger. Zudem bekommen Frauen weniger Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und Gewinnbeteiligung, und sie werden seltener befördert als Männer. Diese traurige Realität gilt es endlich zu ändern. ({4}) Wem diese Aufzählung immer noch nicht reicht, für den habe ich noch folgende Zahlen: Frauen mit Hochschuldiplom verdienen durchschnittlich 3 534 Euro, Männer hingegen 4 590 Euro. Das ist eine unvorstellbare Differenz von satten 1 056 Euro. Je älter die Akademikerin ist, desto größer ist der Gehaltsunterschied. Sollten diese Zahlen den Regierungsfraktionen bislang nicht geläufig sein, so kann ich diese zur Horizonterweiterung gerne zur Verfügung stellen. ({5}) Mittlerweile müsste also klar sein, dass freiwillige Regelungen zu nichts geführt haben. Die Strategie ist gescheitert; ({6}) denn die alten Strukturen sind beharrlich. Notwendig ist eine faire Bewertung von Arbeitsanforderungen und Tätigkeiten, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um typische Frauen- oder Männerberufe handelt. Wir brauchen endlich gesetzliche Regelungen. ({7}) Ein Gesetzentwurf und ein Antrag liegen jetzt vor. Ich freue mich auf die weiteren Beratungen in den Ausschüssen und auf die Anhörung. Natürlich werde ich auch einige Fragen an die SPD haben: Wie soll beispielsweise die kursorische Prüfung aussehen? Können damit wirklich ausreichend Verdachtsmomente aufgedeckt werden? Warum sollen die Prüfungen der Tarifverträge nicht mehr im Mittelpunkt stehen? Sind die sogenannten sachverständigen Personen wirklich überall notwendig? Kurzum: Wir werden eine interessante Diskussion haben. Ganz wichtig: Wir werden endlich inhaltlich über Konzepte diskutieren können. ({8}) Mit Blick auf die Regierungsfraktionen möchte ich diese Diskussion heute mit einem Satz Goethes beschließen. Ich zitiere: Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss auch tun. Liefern Sie also nicht nur Lippenbekenntnisse! Beschäftigen Sie sich endlich ernsthaft mit der Entgeltdiskriminierung und vor allem mit Lösungen! Vorschläge, wie das gehen kann, liegen ja auf dem Tisch. Damit die Arbeit von Frauen nicht länger zum Schnäppchenpreis zu haben ist. Es muss Schluss sein mit dem Dauerrabatt von 23 Prozent. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun ist Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion an der Reihe. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Müller-Gemmeke hat Goethe zitiert. Dem will ich nicht nachstehen. ({0}) Es gibt ein sehr schönes Zitat von Goethe, das für Ihre Rede genauso zutrifft wie vermutlich für den Gesetzentwurf. Es lautet: Wo viel Licht ist, ist starker Schatten. ({1}) Meine Damen und Herren, ich bin kein Jurist. ({2}) Aber wenn ich so einen Gesetzentwurf zu beurteilen habe, schaue ich mir zunächst das Recht, die Gesetze, an, um eine gewisse Grundorientierung zu bekommen. Dann stößt man natürlich - die Kollegin Bracht-Bendt hat das schon erwähnt - auf Art. 3 des Grundgesetzes. ({3}) Weiterhin stößt man auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, in dem es ganz deutlich heißt: Benachteiligungen sind unzulässig, auch mit Bezug auf das Arbeitsentgelt. ({4}) Hinzu kommen eine Reihe von europäischen Regelungen, die deutlich sagen: Bei gleicher Arbeit ist gleiches Entgelt für Männer und Frauen eine Selbstverständlichkeit. ({5}) Die Rechtslage ist zunächst einmal eindeutig. Verehrte Frau Ferner, das hat die rot-grüne Bundesregierung im Jahre 2002 offensichtlich auch so gesehen. Sie zitieren den Bericht zur Berufs- und Einkommenssituation aus dem Jahr 2002. Sie malen die tarifliche Entgeltdiskriminierung dort in relativ drastischen Farben. Ich habe mir diesen Bericht angeschaut und mich gefragt: Was hat denn die rot-grüne Bundesregierung damals gemacht? ({6}) Hat sie mutig Initiativen ergriffen? Hat sie Gesetzgebungsverfahren eingeleitet? Nein, das hat sie nicht gemacht. ({7}) Die rot-grüne Bundesregierung hat gesagt: Wir machen mal eine Konferenz darüber und schauen dann weiter. ({8}) Dann habe ich mich gefragt: Woher kommt denn das? Das kommt nicht zuletzt daher, Frau Ferner, dass im Bericht steht - ich zitiere jetzt -: Nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen Rechtslage sind unmittelbare Lohndiskriminierungen heute so gut wie nicht mehr festzustellen. ({9}) Meine Damen und Herren, natürlich gibt es ein geschlechtsspezifisches Lohngefälle; das ist doch ganz klar. Frauen sind in besser bezahlten Positionen unterrepräsentiert und überrepräsentiert in Berufen, in denen weniger bezahlt wird. Sie unterbrechen aufgrund familiärer Verpflichtungen ihre Berufstätigkeit häufiger und arbeiten öfters in geringfügiger Teilzeit mit langfristig negativen Folgen für die Einkommensentwicklung. ({10}) Rund zwei Drittel der geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede, also der Großteil, gehen auf diese strukturell unterschiedlichen arbeitsplatzrelevanten Merkmale von Männern und Frauen zurück. ({11}) Ein Drittel der Lohnlücke lässt sich nicht auf diese sozialstrukturellen Ursachen zurückführen. Hier ist von geschlechtsspezifischer Entgeltdiskriminierung auszugehen. Auf dieses Drittel fokussiert im Grunde genommen der Gesetzentwurf der SPD. Was wollen Sie? Vereinfacht: mehr Staat. ({12}) Da ist die Rede von Antidiskriminierungsverbänden und von der Antidiskriminierungsstelle, die sowohl Antidiskriminierungsverfahren als auch sachverständige Personen nach etwas unklaren und wenig eindeutigen Kategorien zertifizieren soll. An dieser Stelle fühle ich förmlich schon bei den Arbeitgebern eine gewisse Unruhe, was die Folgekosten und bürokratischen Auflagen angeht. ({13}) Aber auch die Gewerkschaften bekommen etwas ab: Tarifverträge sollen einer Überprüfung unterzogen werden können - beinahe mit einem Generalverdacht gegen die Sozialpartner. ({14}) Dabei sind die Tarifvertragsparteien zu diskriminierungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohnfindungsverfahren verpflichtet. - Glauben Sie ernsthaft, dass es in Deutschland eine einzige Gewerkschaft gibt, die eine Diskriminierung beim Entgelt in ihren Tarifverträgen zulässt? Ich glaube das nicht. Als überzeugter Gewerkschafter kann ich nur sagen: Wir brauchen keinen Staatskommissar für Tarifverträge. ({15}) Das alles soll dann auch kaum Folgekosten verursachen. Für die Betriebe ab 15 Personen könnten - das schreiben Sie verschämt in Ihrem Gesetzentwurf - Kosten nicht beziffert werden. Die Bürokratiekosten setzen Sie mit 2 Millionen Euro an, was grotesk niedrig ist. Die Kosten für die Sachverständigen werden komplett unterschlagen. Dann wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die betrieblichen Interessenvertretungen gesetzlich verpflichten, sich um die Herstellung von Entgeltgleichheit zu kümmern. Ein Blick ins Gesetz hilft ja bisweilen bei der Klärung der Rechtslage; denn genau diese Verpflichtung ist bereits im Betriebsverfassungsgesetz festgeschrieben: Der Betriebsrat hat die Einhaltung des Diskriminierungsverbotes zu überwachen und sich aktiv für eine tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern einzusetzen. An dieser Stelle bringt es also nichts, wenn Sie mit Ihrem Gesetzentwurf alten Wein in neue Schläuche fließen lassen. Es wird vielmehr ein ganz anderes Problem deutlich: Immer weniger Beschäftigte in unserem Land werden von einem Betriebsrat vertreten. In der Privatwirtschaft waren dies im Jahr 2009 nur noch 44 Prozent der Beschäftigten. Dabei wurde in mehreren Studien nachgewiesen, dass in Betrieben mit Betriebsrat die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern über das gesamte Einkommensspektrum hinweg geringer sind als in Betrieben ohne Betriebsrat. Daher mein Petitum: Lassen Sie uns die betriebliche Mitbestimmung weiter befördern! ({16}) Lassen Sie uns vor allem dort aufklären, wo Belegschaften aus Angst vor Repressalien keinen Betriebsrat gründen! Ihr Gesetzentwurf dagegen führt für die Betriebe und für die öffentliche Hand zu mehr Verwaltung und Kosten und gefährdet Arbeitsplätze. Das ist angesichts der Bedeutung des Themas bedauerlich. Der Gesetzentwurf enthält auch eine Überlegung, die ich sinnvoll finde, nämlich die Stärkung der Individualrechte. ({17}) Wichtig ist gerade ein Recht auf Auskunft darüber, welche Kriterien für die Bemessung des Entgelts bzw. die Entgeltfindung herangezogen worden sind. Eine solche Transparenz erhöht den Druck zur Schaffung von mehr Gerechtigkeit beim Arbeitsentgelt für Männer und Frauen beinahe natürlich. Ich denke aber auch, dass dies in Betriebsvereinbarungen durchaus festgeschrieben werden kann. Dazu bedarf es keiner gesetzlichen Regelung. Meine Damen und Herren, die gesetzlichen Regelungen sind weitgehend vorhanden. In der Bildung dient die Wiederholung der Stofffestigung, in der Gesetzgebung nicht. Wir brauchen kein neues Gesetz, das mehr Bürokratie hervorbringt. Wir müssen die bestehenden Regelungen besser umsetzen. ({18}) Deswegen brauchen wir auch diesen Gesetzentwurf der SPD nicht, der zwar die Denkungsart der SPD trefflich illustriert, zur Problemlösung aber kein wirklich konstruktiver Beitrag ist. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon seltsam: Immer wenn es darum geht, die grundgesetzlich verankerten Rechte von Frauen Realität werden zu lassen, ist das Geschrei auf der rechten Seite des Hauses wirklich groß. Eingriff in die unternehmerische Freiheit, zu viel Bürokratie - das hören wir immer an dieser Stelle. Aber was ist das denn für ein Freiheitsverständnis, insbesondere liebe Kollegen von der FDP? Unternehmerische Freiheit bedeutet doch nicht, dass es dem Unternehmer überlassen ist, Frauen schlechter zu bezahlen als Männer, wenn sie dieselbe oder eine gleichwertige Arbeit machen. ({0}) Wir leben hier in einem Rechtsstaat und nicht in einer Bananenrepublik. Weil wir in einem Rechtsstaat leben, haben wir als Gesetzgeber die Pflicht, das Gleichheitsgebot und das Diskriminierungsverbot, beide verankert in Art. 3 Grundgesetz, durchzusetzen. Es reicht eben nicht aus, liebe Frau Schön, am Equal Pay Day zu beklagen, dass der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen bei uns 23 Prozent beträgt. Wir müssen am Tag danach auch etwas dagegen tun, zuallererst Frau Schröder und Frau von der Leyen. Aber auch da kommt leider im Moment überhaupt nichts. Frau Schröder macht das Angebot, das völlig untaugliche Logib-D-Verfahren gerade einmal 200 Unternehmen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Das reicht bei weitem nicht aus. Wie ich höre, rennen die Unternehmen Frau Schröder auch nicht gerade die Tür ein, um in den Genuss dieses Verfahrens zu kommen. Es lohnt sich nämlich für die Unternehmen, Frauen schlechter zu bezahlen als Männer. Solange Unternehmen mit Lohndiskriminierung Geld verdienen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden sie auch nicht von selber damit aufhören. ({1}) Eine der ersten Forderungen der Frauenbewegung Ende des vorletzten Jahrhunderts war „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. ({2}) Es ist ein Armutszeugnis, dass wir weit über 100 Jahre später immer noch so gewaltige Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern haben. Nach Estland und der Slowakei liegen wir in der EU an drittletzter Stelle. ({3}) Ich finde, dass man die Frauen in unserem Land mit dieser Ungerechtigkeit nicht alleinlassen darf. Wir wollen ihnen helfen, zu ihrem Recht zu kommen. Wer eine gesetzliche Regelung wie die, die wir hier vorschlagen, ablehnt, muss auch sagen, wie er oder sie die Entgeltgleichheit auf anderem Weg durchsetzen will. ({4}) Das habe ich von Ihnen bisher aber nicht gehört - weder von einem Mitglied der Regierungsfraktionen noch von der Arbeitsministerin noch von der sogenannten Frauenministerin. Frau Merkel empfiehlt den Frauen schon einmal, einfach besser zu verhandeln, wenn es um ihr Geld geht. Ich kann dazu nur sagen: Was für ein Zynismus! Solange Frauen ihr gutes Recht vor Gericht gegenüber ihrem Arbeitgeber einklagen müssen, wird sich nichts ändern. Eine Frau, die ihren Job behalten will, wird auch wohl kaum gegen ihren Arbeitgeber vor Gericht ziehen. Deshalb ist das Erste, was geleistet werden muss, Transparenz in die Lohn- und Gehaltsstrukturen in den Betrieben zu bringen. In Österreich gibt es dazu bereits ein Gesetz. Das EU-Parlament hat am 24. Mai in einer Entgeltinitiative mehr Transparenz und vor allen Dingen auch die Möglichkeit von Sammelklagen gefordert. Nur die Bundesregierung und CDU/CSU und FDP weigern sich bisher, die Lohndiskriminierung von Frauen zu beseitigen. Sie werden nächstes Jahr mit Sicherheit bitter zu spüren bekommen, dass das so nicht geht. ({5}) Die Lohndiskriminierung - das haben wir eben gehört steigt mit dem Lebensalter. Trotz des Diskriminierungsverbots werden viele Teilzeitbeschäftigte und insbesondere Minijobberinnen schlechter bezahlt als Vollzeitkräfte. Die Lohndiskriminierung findet auch bei akademischen Berufen statt, genauso wie bei Fachkräften oder bei ungelernten Kräften. Manchmal ist sie auch in Tarifverträgen angelegt, wie man aus dem Tarifvertragsregister ersehen kann. Eines ist klar: Das regelt sich nicht von alleine. Wir legen diesen Gesetzentwurf heute vor, damit wir mehr Transparenz bekommen. Vor allen Dingen legen wir diesen Gesetzentwurf vor, damit sich etwas ändert. ({6}) Wir sagen ganz klar: Es muss geprüft werden. Wie soll man Entgeltdiskriminierung denn anders feststellen, als dass man einmal schaut, wie die Gehaltsstrukturen sind? Wir geben Regelungen vor, die zunächst einmal auf innerbetriebliche Maßnahmen setzen. Wir vertrauen da auch sehr auf die Betriebsräte und die Gewerkschaften. Natürlich bleibt dabei am Ende auch das Individualrecht erhalten, Frau Kollegin. Frauen können es sich nicht mehr leisten, während ihres Erwerbslebens mehrere Hunderttausend Euro - das wurde angesprochen - liegen zu lassen. Wir können es uns nicht mehr leisten, so viel Geld liegen zu lassen und im Alter eine schlechtere Rente zu haben, im Fall der Arbeitslosigkeit weniger Lohnersatzleistungen zu bekommen oder eine Grundsicherung beziehen zu müssen, obwohl wir unser Leben lang genauso hart gearbeitet haben wie die männlichen Kollegen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, nehmen Sie sich dieses Themas endlich an. Hören Sie endlich auf, auf Analysen zu verweisen, die wir alle kennen, und nichts zu tun. Wir müssen das Problem angehen. Weit über 100 Jahre nach der erstmaligen Erhebung dieser Forderung ist jetzt die Zeit gekommen, etwas zu verändern, damit Frauen endlich denselben Lohn für dieselbe Arbeit bekommen wie Männer. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jörg von Polheim für die FDP-Fraktion.

Jörg Polheim (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004220, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wie so oft bei Ihnen gilt auch hier: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. ({0}) Sie wollen - das ist bekanntlich eine Ihrer besten Übungen - mit Ihrem sogenannten Entgeltgleichheitsgesetz wieder eine neue Bürokratieebene einziehen. Damit, glauben Sie, ist das Problem gelöst. ({1}) Als Familienunternehmer kann ich Ihnen aus der Praxis berichten, dass der Mittelstand als Rückgrat unserer Gesellschaft in seiner Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden muss. ({2}) Ihre komplizierten und überflüssigen Regeln erreichen das Gegenteil. Die unternehmerische Handlungsfreiheit muss erhalten bleiben. ({3}) Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD zur Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebots widerspricht dem Gedanken der unternehmerischen Freiheit grundlegend und ist auch ordnungspolitisch völlig verfehlt. ({4}) Vertragsfreiheit und Tarifautonomie sind unabdingbare Grundlagen einer funktionierenden Marktwirtschaft. ({5}) Typisch für Sie ist der Reflex, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in die Pflicht zu nehmen. Sie sprechen von sogenannten sachverständigen Personen, denen eine wesentliche Rolle bei der Behebung von Informationsdefiziten zukäme. Aber Sachverständige sollten in erster Linie von den Tarifparteien kommen, auch von den Unternehmen. Damit sind wir wieder beim alten Hut der SPD: Sie fordern eine staatliche Bevormundung der Tarifparteien. ({6}) Hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen auf die Haushalte machen Sie sich einen schlanken Fuß. Außerdem bemühen Sie sich noch nicht einmal, eine seriöse Gegenfinanzierung vorzulegen. Der Etat der Antidiskriminierungsstelle soll einfach belastet werden. ({7}) - Wenn Ihnen sonst nichts mehr einfällt, dann fällt Ihnen noch Mövenpick ein. Das ist typisch. ({8}) An dieser Stelle will ich noch einmal bekräftigen, dass wir Liberale die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie als absolut schützenswert erachten. Wir sind bewusst gegen einen gesetzlichen Eingriff. Wir treten für Chancengleichheit und transparente Gehaltsstrukturen von Männern und Frauen ein, ({9}) für welche vor allem die Qualifikation entscheidend ist. ({10}) Es mangelt auch nicht an einer Rechtsgrundlage zur Entgeltgleichheit. ({11}) - Wer brüllt, hat nicht unbedingt recht; das wissen Sie. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz legt bereits umfassend und eindeutig fest, dass für gleiche Arbeit gleicher Lohn zu zahlen ist. Woran es mangelt, ist die Umsetzung dieser gesetzlichen Regelung. Die wollen wir allerdings ohne staatlichen Zwang erreichen. Recht gibt uns auch die gestern in den Medien veröffentlichte Erhebung der Wirtschaftsberatungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers. Darin wird festgestellt, dass der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der Dax-30Unternehmen seit Anfang 2011 um mehr als ein Drittel gestiegen ist ({12}) und das alles ohne staatlich verordnete Frauenquote, nur durch freiwillige Vereinbarung. Sie sehen, meine Damen und Herren: Nicht alles muss Vater Staat regeln. ({13}) Der erste Gleichstellungsbericht hat das auch gezeigt. Darin wird insbesondere auf die strukturellen Unterschiede im Lebensverlauf von Frauen und Männern hingewiesen. Zentraler Punkt, der Frauen im Wettbewerb mit Männern in der Karriereplanung noch immer benachteiligt, ist die nicht ausreichende Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Frauen nehmen noch immer den weitaus größeren Teil der Elternzeit. ({14}) Wer über Jahre nicht im Betrieb ist, verpasst Karrierechancen, die später im Lebensverlauf nicht wiederkommen und schließlich zu Entgeltungleichheit führen. Unsere Antwort darauf ist nicht die Zwangsquote, sondern der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten ({15}) und die Einrichtung familienfreundlicher Unternehmen. ({16}) So hat die Bundesregierung unter anderem dafür gesorgt, dass 4 Milliarden Euro in die U-3-Betreuung fließen. Modellprojekte wie die „Kommunale Familienzeitpolitik“ führen zu einer besseren Verzahnung der regionalen Kinderbetreuungsangebote und damit letztlich zu einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung. ({17}) Ich wiederhole: Entgeltgleichheit ist kein rechtliches Problem, sondern eines der Umsetzung der vorhandenen Möglichkeiten. Der Staat kann nicht die Aufgaben der Wirtschaft und der Gesellschaft übernehmen. Sie sorgen mit Ihrer Vorlage nur dafür, dass der deutsche Amtsschimmel immer besser im Futter steht und immer lauter wiehert. Wir Liberalen jedenfalls werden dazu nicht die Hand reichen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Yvonne Ploetz für die Fraktion Die Linke. ({0})

Yvonne Ploetz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004197, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum verdient eigentlich eine Grafikdesignerin rund ein Drittel weniger als ein Grafikdesigner? Warum verdient eigentlich eine Buchhalterin rund ein Viertel weniger als ein Buchhalter? Das sind nicht die Ausnahmen; das ist die Regel. Arbeitnehmerinnen wird in Deutschland rund ein Viertel ihres Lohns vorenthalten, und das ist einfach völlig inakzeptabel. Jeder und jede hat das Recht auf eine faire Bezahlung. ({0}) Nirgendwo in Europa geht die Lohnschere derart weit auseinander wie in Deutschland: nicht in Frankreich, nicht in Griechenland, nicht in Bulgarien. Sie wird sich auch nicht schließen lassen, wenn wir nicht endlich Unternehmen gesetzlich dazu verpflichten, gleiche Löhne für gleiche Arbeit zu zahlen. ({1}) Das kann mit einem Entgeltgleichheitsgesetz passieren, wie es von der SPD im Entwurf vorgelegt wurde. Unsere Diskussionspunkte hat meine Kollegin schon genannt. Ich möchte etwas weiter gehen, weil die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau nur die Spitze des Eisbergs ist. Im Laufe eines Arbeitslebens kommen bei Frauen sehr viele Diskriminierungen am Arbeitsmarkt zusammen. Bekäme man nach dem gesamten Erwerbsleben, also für die Zeit vom Schulabschluss bis zur Rente, einen Lohnzettel, dann stünde bei den Frauen unter dem Strich im Vergleich zu den Männern nicht ein Minus von 23 Prozent, sondern ein Minus von 50 Prozent. Das liegt an der unfairen Bezahlung. Das liegt daran, dass meist immer noch Frauen die Erziehung von Kindern und die Pflege der Eltern übernehmen. Das liegt daran, dass Frauen viel zu oft in Minijobs ohne soziale Absicherung arbeiten. Das liegt daran, dass Frauen mit Dumpinglöhnen abgespeist werden. Vor zwei Tagen wurde bekannt, dass in Kitas immer mehr Erzieherinnen als Leiharbeitnehmerinnen zu 1 000 Euro brutto beschäftigt werden. ({2}) Diese Frauen bringen eine unglaublich hohe Qualifikation mit. Sie tragen eine große Verantwortung bei der Erziehung unserer Kinder. Sie müssen Vertrauen aufbauen. Diese Frauen kann man nicht beliebig ausleihen und mit Hungerlöhnen unterhalb des Existenzminimums abspeisen. ({3}) Das Mindeste, was ich von Ihnen als Regierende erwarte, ist ein Verbot der Leiharbeit in diesem sensiblen Bereich. Für die Frauen steigt übrigens auch das Risiko, im Alter arm zu werden. Arbeitet eine Frau ein Leben lang in einem 400-Euro-Job - das sind in Deutschland derzeit 5 Millionen Frauen -, dann hat sie einen Rentenanspruch von 139,95 Euro monatlich. Es kann nicht Ihr Ernst sein, dass Sie die 5 Millionen Frauen, die heute nicht wissen, wie sie über die Runden kommen sollen, morgen sehenden Auges in die Altersarmut schicken wollen. ({4}) Mit welchem politischen Konzept wollen Sie diese Frauen auffangen? Ich kann keines erkennen. Wir haben eines: Wir wollen eine Mindestrente von 1 050 Euro und gute Arbeit für jeden und jede. ({5}) Streiten Sie doch endlich mit uns gegen Hungerlöhne! Jede Frau und jeder Mann muss für eine Stunde Erwerbstätigkeit mindestens 10 Euro erhalten. Diese Verrohung und diese Entsicherung am Arbeitsmarkt müssen endlich ein Ende haben. ({6}) Nun kommt die Sommerzeit. Dies ist eigentlich die Urlaubszeit. Haben Sie sich einmal auf der Straße umgehört, wie viele Menschen sich noch einen Urlaub leisten können? Welche Familie mit Kindern, welche Frau, die weniger Urlaubsgeld erhält als ein Mann, oder welche Alleinerziehende mit zwei Kindern kann sich einen Urlaub leisten? Es ist doch so: Die, die einen Urlaub am dringendsten nötig haben, um endlich eine Woche der Existenznot und der Armut zu entfliehen, können von einem Urlaub nur träumen. Das ist wirklich eine Schande. ({7}) Stellen Sie sich endlich auf die Seite von Alleinerziehenden! In Deutschland gibt es eine unglaubliche Armut bei Kindern und Jugendlichen. Das hängt in vielen Fällen mit der Existenznot der Mütter zusammen. Um Kindern und Jugendlichen eine Perspektive für ihr Leben zu bieten, müssen Sie die finanzielle Existenz ihrer Mütter sichern. Sie müssen dafür sorgen, dass aus Überlebensstrategien, die wir häufig beobachten, endlich wieder Strategien des Lebens werden. ({8}) Dabei ist das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ immer aktuell. Nur wenn die Kinderbetreuung wirklich stimmt, müssen die Frauen keine prekäre Beschäftigung annehmen, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. In Deutschland werden aber nur 20 Prozent der Kinder unter drei Jahren ganztags betreut. In Dänemark sind es 64 Prozent. Dort geht die Gleichung „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ auf. Trotz dieser ernüchternden Zahlen veranstalten Sie ein selbstherrliches Theater um das Betreuungsgeld. Ich sage Ihnen: Unser Widerstand ist Ihnen sicher, wenn Sie Milliarden verschwenden, statt Kitaplätze auszubauen. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen Sie, was ich denke? Wenn wir die Diätenerhöhung aller Abgeordneten im Bundestag einmal an die Erhöhung der Löhne von Frauen in der Gesellschaft koppeln würden, dann hätten wir bald die Entgeltgleichheit. Darauf wette ich. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir uns Deutschland im europäischen Vergleich anschauen, werden wir feststellen, dass wir in bestimmten Punkten weit zurückliegen: Wir liegen zurück bei der Kinderbetreuung. Wir liegen zurück bei der Vollerwerbstätigkeit von Frauen. Wir liegen zurück bei Frauen in Führungspositionen. - Nur in einem Punkt sind wir Europameister: bei der Entgeltungleichheit von Frauen und Männern. ({0}) Dass eine Frau im Schnitt ein Vierteljahr länger arbeiten muss, um dasselbe Jahresgehalt wie ein Mann zu erhalten, ist ein politischer Skandal in diesem Land. ({1}) Die Zahlen sind genannt worden. Ich will sie nicht wiederholen. Die Position der Familienministerin ist ein weiterer Skandal. ({2}) Sie sagt: Die Frauen sind selber schuld. Entweder verhandeln sie nicht richtig oder arbeiten Teilzeit. Demzufolge sind sie die Urheber der Lohnungleichheit. - Das ist die Antwort der Familienministerin. Sie kämpft jetzt dafür, dass sie die Federführung bei diesem Thema bekommt; aber sie hält es ja noch nicht einmal für notwendig, an der Debatte teilzunehmen. Das ist die Wertschätzung, die sie diesem Thema zukommen lässt: Sie bezieht noch nicht einmal Position dazu. ({3}) Schlimmer noch: Sie macht die Lohnungleichheit zu einem Privatproblem der Frauen; demnach sind die Frauen anscheinend selber schuld daran. Sie privatisiert ein gesellschaftliches, ein politisches Problem. Deswegen wollen wir nicht, dass sie hier die Federführung erhält; dann wäre wirklich Hopfen und Malz verloren. ({4}) Herr Kollege, ja, wir wollen die Aufwertung der typischen Frauenberufe. Wir wollen nicht, dass Frauen massenweise Männerberufe ergreifen, um auf ein gleiches Entgelt zu kommen, sondern wir wollen die Aufwertung der Frauenberufe, weil unsere Gesellschaft diese Berufe braucht. Wir brauchen auch mehr Männer in diesen Berufen. ({5}) Ich nenne Ihnen ein aktuelles Beispiel: den Erzieherinnenmangel. In Deutschland fehlt es uns nicht nur an Betreuungsplätzen, sondern auch an Personal, auch an männlichem Personal. Wenn wir es nicht schaffen, den Beruf der Erzieherin qualitativ aufzuwerten und besser zu entlohnen, dann werden Sie keinen einzigen Mann für diesen Beruf gewinnen, und schon jetzt ist die Suche nach qualifizierten Frauen extrem schwierig. Vermutlich wird in Zukunft überhaupt keine Frau mehr diese Ausbildung machen. Wozu drei und mehr Jahre lernen, wenn man dafür den schlechtesten Lohn erhält? Das ist der Grund, warum wir Entgeltgleichheit in diesem Land wollen. Wir benötigen diese Berufe, und dort wird überaus anspruchsvolle Arbeit geleistet. Darum müssen wir sie aufwerten und besser anerkennen. ({6}) Es geht - das hat meine Kollegin Beate MüllerGemmeke bereits gesagt - um die Wertschätzung der Arbeit, die die Frauen gerade in diesen Dienstleistungsberufen erbringen. Wenn wir über Lohnungleichheit reden, dann beschränkt sich das nicht auf das aktuell bezogene Gehalt, sondern es geht auch um die Konsequenzen. So führt die Lohnlücke zu einer durchschnittlichen Rentenlücke von 59 Prozent. Das können Sie doch nicht ignorieren! Sie ignorieren den Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Sie wollen noch nicht einmal darüber reden. ({7}) Warum? Weil Ihnen die Ergebnisse nicht passen. Heutige Lohnungleichheit führt zu späterer Altersarmut. Auch diesem Problem müssen wir uns stellen, und zwar heute und nicht erst in der Zukunft. ({8}) Was wollen wir Grüne? Wir wollen gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit. Wir wollen die Quote und ein Gleichstellungsgesetz; denn flexibel waren wir in diesem Land schon lange genug. Jetzt wollen wir kon21898 krete Taten und verbindliche Regelungen sehen. Dafür stehen die Grünen ein. ({9}) Ich will noch ein letztes Argument bringen. Wir reden über Wertschätzung, über Anerkennung der Arbeit, über die Anerkennung der Erziehungsleistungen von Eltern, die ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte bringen. Wer in diesem Land redet aber über die Anerkennung und Wertschätzung der Arbeit von Müttern, die arbeiten, um ihre Existenz zu sichern, und gleichzeitig Kinder erziehen? ({10}) Wer redet über die Anerkennung der Arbeitnehmerinnen, die das Ganze deshalb auf sich nehmen, weil sie nicht von Hartz IV leben wollen? Wer redet über diese Doppelbelastung von Frauen? Sie definitiv nicht. Diese Belastung ist jedoch ein Problem in unserer Gesellschaft. Darum müssen wir uns kümmern. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Katharina Landgraf für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Katharina Landgraf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001278, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frauen werden in Deutschland durchschnittlich schlechter bezahlt und seltener befördert als Männer. Das ist eine Tatsache, die leider nicht zu leugnen ist. Frauen erhalten auch seltener Sonderzahlungen wie Urlaubsund Weihnachtsgeld oder Gewinnbeteiligungen. Das zeigt die neueste Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung. Bei den Frauen spielt auch der Freizeitausgleich für Überstunden eine deutlich größere Rolle, sicher familienbedingt; denn eine Barauszahlung erhalten eher die Männer. Die Summe der Ergebnisse dieser Umfrage lässt vermuten, dass weibliche Beschäftigte auch in naher Zukunft den Lohnabstand kaum aufholen werden. 31 Prozent der Männer, aber nur 21 Prozent der Frauen gaben an, dass sie in ihrem gegenwärtigen Betrieb schon einmal befördert worden sind. Lassen Sie mich kurz die Gründe für dieses Dilemma erläutern. Meiner Ansicht nach gibt es drei wesentliche Ursachen für die Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern: Erstens. Frauen fehlen in bestimmten Berufen, Branchen und auf den höheren Stufen der Karriereleiter. Zweitens. Frauen haben häufigere und längere familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und -reduzierungen als Männer. Drittens. Typische Frauentätigkeiten werden trotz individueller und kollektiver Lohnverhandlungen immer noch schlechter bewertet und bezahlt. In einigen Fällen werden Frauen aber auch schlechter bezahlt, weil sie einfach Frauen sind. Ein Teil des Lohnunterschieds lässt sich nicht mit den eben genannten Ursachen erklären; das ist eben einfach Diskriminierung. ({0}) Beispielsweise werden Frauen im Hinblick auf eine potenzielle Schwangerschaft oft schon zu geringeren Einstiegsgehältern angestellt. Das ist ein unhaltbarer Zustand, nicht nur, weil es ungerecht ist, sondern auch aus wirtschaftspolitischer Sicht. ({1}) - Beschweren Sie sich doch nicht, wenn Sie mit mir einig sind. ({2}) Wir versuchen zusammen mit Akteuren aus der Wirtschaft, die Ursachen der Entgeltungleichheit mit konkreten Maßnahmen zu bekämpfen. Durch bessere Rahmenbedingungen wollen wir die Karrierechancen von Frauen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern. ({3}) Hier einige Beispiele: die Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“, das Programm „Perspektive Wiedereinstieg“, ({4}) der Girls’ Day, die MINT-Initiativen, der stetige Ausbau der Kinderbetreuung und die Partnermonate beim Elterngeld. Wir müssen über die Konsequenzen des Berufswahlverhaltens der Mädchen informieren und helfen, Erwerbsunterbrechungen zu vermindern. Weil Frauen besonders häufig für Dumpinglöhne arbeiten müssen, ist die Forderung nach einem Mindestlohn als Lohnuntergrenze in diesem Zusammenhang ein wichtiges Thema. ({5}) Da sind wir seit unserer letzten Debatte im März zum Equal Pay Day ein gutes Stück vorangekommen: Ende April hat die Unionsfraktion ein Konzept für die Einführung einer Lohnuntergrenze vorgestellt. Das Eckpunktepapier sieht vor, eine tarifoffene, allgemeine Lohnuntergrenze einzuführen. Über deren Höhe entscheidet nicht der Staat, sondern entscheiden die Tarifpartner. Somit bleibt die Tarifautonomie gewahrt. ({6}) Die Kanzlerin wird das Thema in den Koalitionsausschuss einbringen, und ich bin zuversichtlich, dass wir uns noch in dieser Legislaturperiode einigen werden. ({7}) Das wird ein guter Schritt auf dem Weg zu einer gerechteren Entlohnung für Frauen sein. Ein weiteres Problem ist der schon erwähnte geringe Anteil von Frauen auf höheren Leitungsebenen. Frauen liegen derzeit bei der Besetzung von gut dotierten Führungspositionen in der Wirtschaft weit zurück; das ist schon gesagt worden. Es ist zwar zu begrüßen, dass die 30 Dax-Unternehmen den Frauenanteil in Spitzenpositionen erhöhen wollen; doch die Wirklichkeit sieht anders aus. ({8}) Um tatsächliche Erfolge verzeichnen zu können, ist ein Gesetz ({9}) - dieses Mal wirklich ein Gesetz - mit verbindlichen und messbaren Vorgaben nötig. ({10}) Die entsprechenden Diskussionen und Beratungen laufen derzeit. - Die Diskussionen laufen doch! ({11}) Beim Abbau der Lohnunterschiede sind alle gefordert, nicht nur wir in der Politik. Vor allem Arbeitgeber müssen dazu beitragen, und zwar rasch, damit nicht wieder etliche Jahre ins Land ziehen, in denen nichts passiert. Ein wichtiger Helfer für die Unternehmen ist dabei das Analyseprogramm Logib-D. Damit kann die Höhe des durchschnittlichen Unterschieds der Monatsgehälter von Frauen und Männern in Unternehmen ermittelt werden, ({12}) außerdem auch die Ursache des Unterschiedes. Die Teilnahme ist freiwillig und kostenlos. ({13}) Deshalb appelliere ich heute an dieser Stelle wieder an die Unternehmen, sich möglichst alle an der Selbstkontrolle zu beteiligen. ({14}) Im Rahmen der Gesamtstrategie müssen wir die Frauen stark und selbstbewusst machen, damit sie die Lohnverhandlungen für sich nutzen können. Es wird zwar von Ihnen immer wieder abgestritten, aber das ist ein ganz persönlicher Fakt. Starke und selbstbewusste Frauen werden angesichts des Fachkräftemangels gerade jetzt ihre Qualifikationen nutzen. ({15}) - Von Schuld rede ich hier gar nicht, Frau Ferner. Die Frauen sollen ihre Qualifikationen nutzen. - Dazu gibt es Hilfestellungen und Programme aus dem Familienministerium. Denn Männer haben weniger Probleme damit, sich gut zu präsentieren und für eine angemessene Vergütung zu streiten. ({16}) Besonders vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und, wie erwähnt, des Fachkräftemangels können und dürfen wir auf qualifizierte und hochmotivierte Frauen nicht verzichten. ({17}) Weil diese entsprechend entlohnt werden müssen, brauchen wir gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. ({18}) Das ist nicht nur im Sinne der Gleichberechtigung, sondern auch im Interesse der Wirtschaft. ({19}) Ich teile also das Anliegen der SPD, aber nicht den Lösungsansatz. Der Einsatz von sachverständigen Personen, die aufklären und das bestehende Entgeltsysteme in den Betrieben prüfen sollen, führt zu einem bürokratischen Monster. Im Streitfall müssen dann trotzdem wieder die Gerichte entscheiden. Damit haben wir nichts gewonnen und nur eine weitere Instanz dazwischengeschaltet. Der bessere Weg ist die kreative Einsicht, prinzipiell alle leistungsbezogen zu bezahlen. Das ist der beste Weg für die gewünschte Entgeltgleichheit. ({20}) Daher rate ich von einem solchen Gesetz, wie es die SPD-Fraktion hier vorgelegt hat, ab. Vielen Dank. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Willy Brandt hat einmal sehr gut auf den Punkt gebracht, wie es um Gleichberechtigung in unserem Land steht: Emanzipation komme voran wie eine Schnecke auf Glatteis. Recht hat er, vor allem, wenn ich mir diese schlappe Regierung und die Regierungsfraktionen anschaue. ({0}) Wir werden dieser Schnecke mit unserem Gesetzentwurf Flügel verleihen, damit sich endlich was bewegt. Wir haben es nämlich satt, weitere Jahrzehnte auf die Durchsetzung von gleichen Löhnen für gleiche und gleichwertige Arbeit zu warten. ({1}) Meine Damen und Herren, schauen Sie mich an! Frauen meiner Generation erhalten fast 60 Prozent weniger Lebenserwerbseinkommen als Männer. Sie verdienen weniger, sie haben im Alter deshalb nur halb so viel Rente. ({2}) Lohndiskriminierung zieht sich durch das ganze Leben. Diese Ungerechtigkeit dürfen wir nicht länger zulassen. ({3}) Mit unserem Gesetzentwurf können wir Entgeltdiskriminierung aufdecken und diesen Rechtsbruch wirksam bekämpfen. Worauf warten wir also noch? Wir wollen Taten sehen! ({4}) Frauen haben in Bezug auf ihre Bildungsabschlüsse die jungen Männer längst überholt. Beruflicher Erfolg ist ihnen wichtig. Trotzdem werden sie auch heute noch auf alte Rollenbilder zurückgeworfen. Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, machen genau das: mit Ihrem Betreuungsgeld, ({5}) mit der Flexiquote und mit den unwirksamen Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Sie bekämpfen die Lohnlücke nicht und nageln Frauen so in überholten Mustern fest. ({6}) - Natürlich stimmt das! - Frauen sind aber schon lange keine Zuverdienerinnen mehr. Sie sind auf eigene existenzsichernde Löhne angewiesen, und sie haben ein Recht darauf. ({7}) Traurige Tatsache ist: Frauen haben in Deutschland nach wie vor ein Viertel weniger Lohn als Männer, und sie haben auch immer noch deutlich schlechtere Karrierechancen. In Führungspositionen muss man Frauen mit der Lupe suchen. Klar ist doch: Die Freiwilligkeitsvereinbarungen mit der Wirtschaft sind gescheitert. Wir haben daraus gelernt. Schon in der Großen Koalition haben wir Ihnen gemeinsam mit unserem damaligen SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz ein Entgeltgleichheitsgesetz vorgelegt. Sie haben das blockiert und bis heute keinen wirksamen Weg zur Lösung des Problems aufgezeigt. ({8}) Wir machen jetzt wieder Nägel mit Köpfen. Erstens. Wir schaffen mit unserem Gesetz Transparenz. Solange Frauen nicht wissen, was ihre Kollegen verdienen, wie sollen sie da erkennen, dass sie benachteiligt werden? Das ändern wir. Zweitens. Wir lassen Frauen nicht länger im Regen stehen. Natürlich können Frauen schon heute gegen Lohndiskriminierung klagen. Aber wer macht denn das, immer mit dem Risiko im Nacken, zu verlieren und möglicherweise nie wieder einen guten Arbeitsplatz zu finden? Wir lösen dieses Problem. ({9}) Drittens. Wir stärken Unternehmensverantwortung. Wir schaffen den gesetzlichen Rahmen und überlassen es den Unternehmen und Tarifparteien, Entgeltdiskriminierung aufzudecken und zu beheben. Besser geht es doch nicht. Viertens. Wir legen das Bürokratiemonster an die Kette. Wir brauchen keine neuen staatlichen Stellen, um Lohngerechtigkeit durchzusetzen. Unser Gesetzentwurf sieht ein Minimum an Bürokratie vor. Unternehmen, die gerechte Löhne zahlen, müssen dies nur offenlegen, und fertig sind sie. ({10}) Verstoßen Unternehmen allerdings gegen das Lohngleichheitsgebot, hat das Konsequenzen. Wir haben in unserem Gesetzentwurf Bußgelder bis zu 500 000 Euro festgeschrieben. Das ist richtig so; denn ansonsten wäre das Gesetz ein zahnloser Tiger. ({11}) Und wie sieht es mit der finanziellen Belastung der Unternehmen aus? ({12}) Keine Frage, durch unser Gesetz werden Kosten anfallen für die Berichte und möglicherweise für Sachverständige und natürlich auch durch die Zahlung gerechter Löhne, wenn vorher diskriminiert wurde. Das Tolle an unserem Vorschlag ist aber, dass nur die tief in die Tasche greifen müssen, denen unsere Grundrechte egal sind, und das ist auch richtig so. ({13}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, mit unserem Gesetzentwurf ist uns ein guter Wurf gelungen. Wir schaffen Gerechtigkeit, und wir machen Schluss mit der beschämenden 23-Prozent-Lücke zwischen Männer- und Frauenlöhnen. Unterstützen Sie deshalb unseren Gesetzentwurf! ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie werden nicht überrascht sein: Wir tun uns schwer, Ihren Gesetzentwurf zu unterstützen. ({0}) Ich will Ihnen auch sagen, warum: Es ist Tatsache, dass Frauen in ganz Europa weniger verdienen als Männer - da brauchen wir gar nicht um den heißen Brei herumzureden -, ({1}) und in Deutschland ist die Quote höher als im europäischen Durchschnitt. Dass Frauen im Schnitt 23 Prozent weniger verdienen als Männer - bereinigt sind es 8 Prozent -, wurde von den Kollegen bereits angesprochen. ({2}) Aber Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. ({3}) Wir haben gemeinsam das Ziel, die Entgeltungleichheit abzuschaffen. ({4}) - Doch, Frau Kollegin. - Aber der Weg dahin unterscheidet uns ganz gewaltig. Statt ein bürokratisches Monster zu schaffen, das allenfalls geeignet ist, dem von den Grünen vorgelegten Entwurf eines WhistleblowerSchutzgesetzes, über den wir heute Nachmittag diskutieren werden, eine Grundlage zu geben, halten wir es für sinnvoller, uns erst einmal die Ursachen anzuschauen: Woran liegt die Entgeltungleichheit, ({5}) und wie schaffen wir es, diese abzubauen? Die Ursachen sind vielfältig. Es ist nicht damit getan, festzustellen, dass der böse Arbeitgeber sagt: Das ist eine Frau; die bekommt deshalb weniger Geld. - Ursache ist, dass die Qualifikation und das Berufsverhalten bei vielen jungen Frauen anders ausgeprägt sind. ({6}) In diesen Tagen fand die 50-Jahr-Feier der Bundes der technischen Beamten statt. Dort wurde ausgeführt: Wir tun uns schwer, Frauen für sogenannte MINT-Berufe Mathematik, IT, Naturwissenschaften, Technik - zu begeistern. Wenn sie ein entsprechendes Studium oder eine entsprechende Lehre absolviert haben, sind die weiblichen Bewerber aber vielfach besser, wenn sie sich um einen Arbeitsplatz bewerben. Das heißt, die Frauen können das. ({7}) Warum stellen Arbeitgeber sie trotzdem nicht ein bzw. zahlen ihnen etwas weniger? ({8}) Das liegt schlichtweg daran - die Kollegin hat das bereits ausgeführt -, dass die Möglichkeit der Familienplanung eingepreist wird. Da wird gesagt: Ja, es kann sein, dass sie ausfällt. ({9}) - Frau Kollegin Ferner, Sie brauchen sich gar nicht so aufzublasen. ({10}) Wir haben vor vier Jahren in der Großen Koalition mit dem Ausbau der Kinderkrippenangebote und mit dem Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der im nächsten Jahr in Kraft tritt, Möglichkeiten zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf den Weg gebracht. All das ist Ihnen doch bekannt. Die Qualität bzw. der Wert der weiblichen Arbeit - die mangelnde Wertschätzung haben Sie, Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zu Recht moniert - wird dadurch gewaltig erhöht werden, dass die Frauen sagen können: Wenn ich schwanger werde, muss ich nicht drei Jahre zu Hause bleiben, sondern ich kann, wenn ich will, bereits nach einem Jahr wieder meinem Beruf nachgehen. - All dies haben wir gemeinsam mit Ihnen von der SPD auf den Weg gebracht. ({11}) Das sollten Sie doch noch wissen. Um den Unterschieden wirksam begegnen zu können, ({12}) müssen wir uns die Ursachen genau anschauen. Wir haben derzeit - auch das wird zur Herstellung von Entgeltgleichheit beitragen - etwa 1 Million Arbeitsplätze in Deutschland, die nicht besetzt werden können. Das hat Kollege Brauksiepe erst gestern im Ausschuss ausgeführt. Das heißt, wir werden die qualitativ hochwertige Arbeit der Frauen in Zukunft noch viel stärker brauchen als vor fünf oder zehn Jahren. ({13}) Auf dem Markt hat sich einiges getan, Frau Ferner; da sind wir ganz gut dabei. Wir müssen auch in Deutschland aufpassen, dass wir die Frauenerwerbsquote erhöhen, dass wir die Möglichkeiten für Frauen, berufstätig zu sein, verbessern. Das werden wir tun. ({14}) Die Arbeitgeber werden merken, dass wir hier qualifizierte, gut ausgebildete Frauen haben, und sie werden sich bemühen, diese verstärkt einzustellen. Darum sollten wir uns kümmern, bevor wir über Zuwanderung und andere Maßnahmen nachdenken. ({15}) Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursachenorientierter Lösungsansätze. Es gilt - ich habe bereits darauf hingewiesen -, das Berufswahlverhalten zu beeinflussen, aber natürlich auch die Erwerbsunterbrechungen zu vermindern. ({16}) - Nein, das Betreuungsgeld ist - das wissen Sie so gut wie ich, Frau Kollegin - keine Fernhalteprämie, wie Sie es stigmatisieren. ({17}) Natürlich kann das Betreuungsgeld auch dann gezahlt werden, wenn eine junge Frau berufstätig ist. Sie sollten der Bevölkerung keine Unwahrheiten erzählen; denn so kommen wir nicht weiter. ({18}) Individuelle und kollektive Lohnverhandlungen haben die traditionell schlechtere Bewertung der typischen Frauenberufe bislang noch nicht nachhaltig überwinden können. Schließlich unterbrechen und reduzieren Frauen ihre Erwerbstätigkeit familienbedingt häufiger und länger als Männer. Nach längeren familienbedingten Erwerbsunterbrechungen und damit verbundenen Einbußen beim Gehalt können Frauen den Einkommensvorsprung ihrer männlichen Kollegen oft nicht mehr aufholen; darauf wurde bereits hingewiesen. ({19}) Ob die Garantie auf ein Familienhäuschen am Ende des Berufslebens der richtige Weg ist, Frau Kollegin Ploetz, wage ich zu bezweifeln. Das wird die Einstellungsquote von Frauen wohl nicht merklich erhöhen. Ich halte das eher für problematisch. Lange Familienphasen und eine hohe Teilzeitquote sind daher typisch für Frauenerwerbsverläufe. ({20}) Die Entgeltungleichheit ist ein Kernindikator der Gleichstellung. Ihre Überwindung ist unser zentrales gleichstellungspolitisches Anliegen. Wie bereits dargelegt, sind die Ursachen komplex und vielfältig und eng miteinander verbunden. ({21}) - Wir haben schon etwas gemacht. - Daher liegen die Möglichkeiten der Überwindung der verschiedenen Ursachen bei unterschiedlichen Akteuren. Um hier etwas zu erreichen, reicht es nicht aus, diesem Problem mit der gesetzgeberischen Keule, noch dazu - dies hat Frau Kollegin Landgraf völlig zu Recht ausgeführt - mit einem bürokratischen Monster in Form von Überwachung und Entgeltberichten zu begegnen. Wichtiger ist vielmehr, die Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen, angefangen bei der Ausbildung bis hin zur Vermittlung, entsprechend zu verbessern. Das ist das geeignetere Mittel. Ich habe mir Ihren Antrag angeschaut, liebe Frau Kollegin Nahles. ({22}) - Gesetzentwurf, Entschuldigung. - Dort steht unter „B. Lösung“: Der Staat als Handelnder soll sich hier hingegen so weit als möglich zurückhalten. Das Handeln derjenigen, die für die Entgeltsysteme zuständig sind, soll durch behördliches Eingreifen nicht ersetzt werden. Das klingt gut. Wenige Seiten weiter, in § 12 Ihres Gesetzentwurfes, lese ich: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unterzieht auf Veranlassung Tarifverträge, die Entgelte betreffen, einer kursorischen Prüfung … ({23}) - Ja, dazu komme ich gerade. - Veranlassung besteht insbesondere a) bei Abschluss eines neuen Tarifvertrages, der Entgelte betrifft. … Die meisten Tarifverträge betreffen Entgelte. ({24}) b) auf Verlangen von Beschäftigten aus einem Betrieb ohne Betriebs- oder Personalrat, deren Entgelt durch die Anwendung dieses Tarifvertrages bestimmt wird; ({25}) Die meisten Entgelte werden durch die Anwendung ei- nes Tarifvertrages bestimmt. c) auf Verlangen einer zuständigen Tarifvertragspartei oder eines Antidiskriminierungsverbandes. ({26}) Ich kann Sie nur bitten, sich einmal das Grundgesetz aus der Schublade vor Ihnen zu holen. In Art. 9 Abs. 3 Satz 2 steht zur Koalitionsfreiheit: Abreden, die dieses Recht einschränken …, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. ({27}) Ich glaube, es ist allemal richtiger und wichtiger, dass sich die Tarifvertragsparteien tatsächlich um die Aushandlung von gleichen Lohnbedingungen kümmern. Dies sollte nicht durch ein Gesetz geschehen, das durch die Überprüfung ein bürokratisches und sicher nicht mit 2 Millionen Euro bezahlbares Monster aufbauen würde. Im Übrigen - auch dazu bedarf es eines ausdrücklichen Hinweises - sind die Tarifvertragsparteien bereits heute ({28}) - Frau Ferner, hören Sie zu, dann können Sie noch etwas lernen ({29}) zu diskriminierungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohnfindungsverfahren verpflichtet. Die Bundesregierung, das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bietet umfangreiche Arbeitshilfen für Tarif- und Betriebspartner zur Überprüfung bestehender Regelungen an. Soweit Betriebsräte und Tarifvertragsparteien in den Gesetzentwurf einbezogen werden, werden nach meiner Auffassung die verfassungsrechtlichen Grenzen der kollektiv- und individualvertraglichen Regelungsebenen nicht beachtet. Insofern halte ich verfassungsrechtliche Bedenken an Ihrem Gesetzentwurf durchaus für gegeben. ({30}) Lassen Sie einmal Ihre Juristinnen - Kollegen Kramme ist leider nicht mehr anwesend - einen Blick darauf werfen; diese können Ihnen sagen, ob der Gesetzentwurf verfassungsrechtlich korrekt ist. Meine Damen und Herren, Ihr Lösungsansatz ist falsch. Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursachenorientierter Lösungsansätze. Es gilt, wie ich bereits ausgeführt habe, das Berufswahlverfahren zu beeinflussen und die Attraktivität der MINT-Berufe mit entsprechender Bezahlung zu steigern. Dass wir in der christlich-liberalen Koalition erst vor eineinhalb Jahren im Bereich der Pflege einen Mindestlohn eingeführt haben - in der Pflege arbeiten ja sehr viele Frauen -, gehört im Übrigen auch zur politischen Korrektheit und zur Ehrlichkeit. ({31}) Die Vorschläge Ihres Gesetzentwurfs - die Verpflichtung zur Prüfung der Entgeltsysteme, die Erstellung von Entgeltberichten, der massive Stellenausbau bei der Antidiskriminierungsstelle und die Einführung und Qualifizierung sogenannter sachverständiger Personen - tragen nach meiner Auffassung dazu bei, eine überbordende Bürokratie aufzubauen. Außerdem weisen Sie der Antidiskriminierungsstelle mit Ihren Vorschlägen zu weitreichende Befugnisse zu. Darüber hinaus - das hatte ich bereits ausgeführt halte ich einen Verstoß gegen die Tarifvertragsfreiheit für gegeben. Ich glaube, Sie geben den Frauen in puncto Entgeltgleichheit mit diesem Gesetzentwurf Steine statt Brot. Wir sollten daran arbeiten, die Qualifizierung, die Vermittlung und natürlich auch den Wert der Arbeit der Frauen für die Arbeitgeber - da bin ich bei Ihnen, Frau Müller-Gemmeke - gerade angesichts des in Zukunft drohenden Fachkräftemangels stärker herauszustellen. Dadurch werden wir mehr erreichen, als wenn wir mit einem bürokratischen Monster versuchen, die unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen gesetzlich zu unterbinden. Herzlichen Dank. ({32})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wer diese Debatte bis jetzt verfolgt hat, stellt eines fest: Wir sind uns im Parlament alle einig, dass bei der Entlohnung von Männern und Frauen schreiende Ungerechtigkeit herrscht. Aber es gibt hier eine Fraktion und eine Regierung, die kein Konzept haben, daran etwas zu ändern. ({0}) Insofern bin ich sehr stolz, Ihnen mit unserem heute vorliegenden Gesetzentwurf eine Lösung anbieten zu dürfen. Ich glaube, wir können die bestehende Ungerechtigkeit nur durch gesetzliche Regelungen beseitigen. ({1}) Die Vertreter der Regierungsfraktionen sagen: Die unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen hat viele Ursachen. Zum Beispiel fehlen Frauen in technischen Berufen. - Ich sage Ihnen: Auch die Frauen, die so mutig sind, Maschinenbauingenieurinnen zu werden, verdienen im Monat 750 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen. Das ist eine Ungerechtigkeit. Wenn Sie sagen: „Je älter die Frauen sind, desto größer ist ihr Karriereknick“ - ich glaube, Herr Lehrieder hat das gesagt -, dann muss ich Ihnen entgegnen: Das ist falsch. Sehen wir uns doch einmal die Zahlen zu den Berufsanfängern und Berufsanfängerinnen an: Der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen, die drei Jahre Berufserfahrung haben, beträgt 19 Prozent. Das heißt, in Deutschland besteht für Frauen immer noch das Risiko, schlechter bezahlt zu werden als Männer. ({2}) Das ist die traurige Realität, die wir zur Kenntnis nehmen müssen. Herr Zimmer - Sie dürfen mir ruhig zuhören -, Sie haben gesagt, es gebe genug Gesetze. Ja, ich gebe Ihnen recht. Das Grundgesetz gibt es seit über 60 Jahren. Seit 1994 ist der Staat verpflichtet, die Gleichstellung durchzusetzen und für gleiche Entlohnung zu sorgen. Trotzdem tut sich nichts. Die Entgeltgleichheit ist bei uns in Deutschland ein Prinzip ohne Praxis. ({3}) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich habe mich gefreut, als das Europäische Parlament vor drei Wochen, am 24. Mai dieses Jahres, beschlossen hat, dass Unternehmen mit mehr als 30 Mitarbeitern in Zukunft ihre Gehaltsstrukturen offenlegen sollen. Wir sind gespannt, was daraus wird. In unserem Gesetzentwurf haben auch wir den Ansatz gewählt, zuerst einmal Transparenz herzustellen. Wie sieht die Arbeitswirklichkeit denn aus? Frauen können nicht für bessere Löhne streiten, weil sie nicht wissen, wie viel ihre männlichen Kollegen verdienen. Viele Männer nennen die Höhe ihres Gehaltes nicht. Sie verstecken sich hinter der Aussage: Das darf ich nicht. Wir brauchen, wie in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, Transparenz. Darum verpflichten wir private und öffentliche Unternehmen, Entgeltberichte zu erstellen und ihre Entgeltstrukturen offenzulegen. Mir haben viele Frauen, die einem Betriebsrat angehören, beispielsweise bei Thyssen, aber auch in anderen Unternehmen, gesagt: Bitte macht ein Gesetz, das Transparenz herstellt. Wenn Transparenz herrscht, sind wir nämlich in der Lage, vieles im Interesse der Frauen schon früher zu verbessern. - Unser Gesetzentwurf sieht nicht nur vor, Transparenz herzustellen. Vielmehr wollen wir auch für den Fall, dass es zu Ungerechtigkeiten kommt, ein Verfahren vorsehen, mit dem eine Lösung gefunden werden kann. Die Ministerin Schröder sagt: Ich stelle die LogibD-Software im Internet zur Verfügung. Die Unternehmen können sie freiwillig herunterladen. 200 Unternehmen erhalten eine kostenlose Beratung. ({4}) Glauben Sie denn wirklich, dass das zu einer Veränderung führen wird? Ich glaube das nicht. Darum ist es richtig, die Unternehmen mit unserem Gesetzentwurf zu verpflichten, ein Lohnmessverfahren anzuwenden, damit sich gleicher Lohn einstellt. ({5}) Last, not least müssen wir natürlich für die Durchsetzung sorgen. Hier gibt es die Möglichkeit eines Bußgelds. Wir brauchen durch diesen Gesetzentwurf einen kleinen, sanften Druck; das ist ganz wichtig. Wir haben aber gesagt - das ist vollkommen richtig, Herr Lehrieder -: Der Staat soll sich so weit wie möglich heraushalten. So wenig Staat wie möglich, aber so viel Staat wie unvermeidlich! Darum sehen wir auch ein Bußgeld vor. Herr Lehrieder, Sie sagen, das sei zu bürokratisch. Ich sage Ihnen: Das Tabu, über Löhne zu sprechen, nützt in erster Linie dem Arbeitgeber. Er kann, wenn es keine Transparenz gibt, mit einzelnen Personen Löhne aushandeln, die unter dem durchschnittlichen Lohnniveau liegen. Ich frage mich: Warum nennen Sie es Bürokratie, wenn wir die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die selbstverständlichen Grundrechte stärken wollen? Ich sehe das nicht als Bürokratie, sondern als Selbstverständlichkeit an. ({6}) Genauso ist es keine Bürokratie, wenn wir Unternehmen auffordern, endlich das zu tun, was schon in den Gesetzen steht. Im Gegenteil: Die Unternehmen müssten eigentlich schon heute Entgeltberichte erstellen, damit sie keine Ungerechtigkeit bei der Entlohnung zulassen können. Dies müsste selbstverständlich sein. Sie tun es aber nicht. Darum, glaube ich, müssen wir sie per Gesetz dazu verpflichten. Frau Schön, Sie haben natürlich recht: Dieses Gesetz alleine wird die Welt nicht verändern. Weil es bei uns in Deutschland so viele strukturelle Diskriminierungen gibt, brauchen wir zusätzliche, flankierende Maßnahmen. Dazu gehören natürlich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die partnerschaftliche Aufteilung von Elternzeit, der Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit und der gesetzliche Mindestlohn. Ich sage Ihnen aber: Auf keinen Fall gehört das Betreuungsgeld dazu. Schönen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/9781 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe- derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/ CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Ar- beit und Soziales. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für die- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse sen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe- derführung beim Familienausschuss. Wer stimmt für die- sen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom- men. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte nun um ein wenig Geduld und Aufmerksamkeit. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 52 a bis g sowie Zusatzpunkt 2 auf: 52 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 8. April 1959 zur Errichtung der Interamerikanischen Entwicklungsbank - Drucksache 17/9697 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Finanzausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 18. Oktober 1969 zur Errichtung der Karibischen Entwicklungsbank - Drucksache 17/9698 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Finanzausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 19. November 1984 zur Errichtung der Interamerikanischen Investitionsgesellschaft - Drucksache 17/9699 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Finanzausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungsund -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/2013 ({3}) - Drucksache 17/9875 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten - Drucksache 17/9932 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck ({6}), Memet Kilic, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Visapolitik liberalisieren - Drucksache 17/9951 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({7}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Ulrich Schneider, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zweckgebundene und steuerfreie Übungsleiterpauschalen und Aufwandsentschädigungen für bürgerschaftliches Engagement nicht auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch anrechnen - Drucksache 17/9950 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8}) Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Lieferung von U-Booten an Israel stoppen - Drucksache 17/9738 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger Ausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 53 a bis d und 53 f bis m sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Tagesordnungspunkt 53 a: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Oktober 2010 zur Änderung des Übereinkommens vom 9. Februar 1994 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen - Drucksache 17/9343 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10}) - Drucksache 17/9843 Berichterstattung: Abgeordneter Uwe Beckmeyer Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9843, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9343 anzunehmen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 53 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Markenrechtsvertrag von Singapur vom 27. März 2006 - Drucksache 17/9691 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({11}) - Drucksache 17/9991 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Silberhorn Stephan Thomae Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9991, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9691 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 53 c: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/9692 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({12}) - Drucksache 17/9953 Berichterstattung: Abg. Martin Burkert - Bericht des Haushaltsausschusses ({13}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/9995 Berichterstattung: Abgeordnete Alois Karl Johannes Kahrs Dr. Claudia Winterstein Roland Claus Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt auf Drucksache 17/9953, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9692 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 53 d: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 4. Oktober 2003 zur Gründung des Globalen Treuhandfonds für Nutzpflanzenvielfalt - Drucksache 17/9696 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({14}) - Drucksache 17/9955 Berichterstattung: Abgeordnete Johannes Röring Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Harald Ebner Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt auf Drucksache 17/9955, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9696 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 53 f bis m: Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 53 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 437 zu Petitionen - Drucksache 17/9760 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 437 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 53 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 438 zu Petitionen - Drucksache 17/9761 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 438 ist bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 53 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 439 zu Petitionen - Drucksache 17/9762 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 439 ist bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 53 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 440 zu Petitionen - Drucksache 17/9763 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 440 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 53 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 441 zu Petitionen - Drucksache 17/9764 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 441 ist bei Enthaltung der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 53 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 442 zu Petitionen - Drucksache 17/9765 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 442 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 53 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 443 zu Petitionen - Drucksache 17/9766 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 443 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 53 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 444 zu Petitionen - Drucksache 17/9767 - Dazu liegt eine Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1) Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Die Sammelübersicht 444 ist mit den Stim- men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 3: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kom- mission „Internet und digitale Gesellschaft“ - Drucksache 17/9939 - Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt da- gegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig an- genommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des Grundgesetzes - Drucksache 17/9918 - 1) Anlage 4 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Bei dieser Gelegenheit können wir hier vorne wechseln. Viel Glück bei der Abstimmung, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tagesordnungspunkt 6 ist eben gerade vom Präsidentenkollegen Thierse aufgerufen worden. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksache 17/9918 den Kollegen Michael Grosse-Brömer vor. ({0}) - So viel Zeit muss sein, die Ovation zu geben. Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren: Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint. Die Wahl erfolgt mit rosa Stimmkarte und rosa Wahlausweis. Den Wahlausweis können Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der Wahlausweis auch wirklich Ihren eigenen Namen trägt. Die Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sie noch keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten zu erhalten. Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei „ja“, „nein“ oder „enthalte mich“. Ungültig sind demzufolge Stimmkarten, die kein Kreuz oder mehr als ein Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten. Diese Wahl findet offen statt. Sie können Ihre Stimmkarte also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte den Schriftführern an den Wahlurnen Ihren rosa Wahlausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze an den Urnen besetzt? ({1}) - Nein, noch nicht. Ein Schriftführer der Koalition fehlt hier vorne, oben rechts fehlt ein Schriftführer der Oppo- sition. Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer bitten, ihr Ehrenamt einzunehmen. Ich weise noch einmal darauf hin, dass das Amt des Schriftführers ein Ehrenamt ist, das alle immer sehr gerne wahrnehmen. Insofern bitte ich nun, die Pflicht zu erfüllen. Sind jetzt alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Ich eröffne somit die Wahl. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe so- mit die Wahl. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem Eintritt in den nächsten Tagesordnungspunkt müssen wir die Sitzung kurz unterbrechen, bis die Vorbereitungen zu der gleich stattfindenden Wahl abgeschlossen sind. Die Sitzung ist unterbrochen. ({2})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Ihrer Planung darf ich Ihnen mitteilen, dass die Sitzungsunterbrechung noch etwas länger dauern wird. Ich bitte um Ihr Verständnis. Die Sitzung wird noch für etwa 15 weitere Minuten unterbrochen. Dann geht es mit der Wahl der Mitglieder des Sondergremiums weiter. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen die unterbrochene Sitzung wieder auf. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 7 auf: Wahl der Mitglieder des Sondergremiums ge- mäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanis- musgesetzes - Drucksache 17/9919 - Hierzu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf Drucksache 17/9919 vor. Dieses Gremium ersetzt das am 26. Oktober 2011 nach früherem Recht gewählte Gremium gleichen Namens, das sich jedoch nie konstituiert hatte. Ich darf Sie erneut um Ihre Aufmerksamkeit für ei- nige erforderliche Hinweise zum Wahlverfahren bitten, das von dem der soeben durchgeführten Wahl abweicht. Wir wählen jetzt gleich neun ordentliche Mitglieder sowie neun Stellvertreter. Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Für diese Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlaus- weis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, den Stimm- kartenfächern in der Lobby entnehmen können. Weiterhin benötigen Sie zwei Stimmkarten sowie einen Wahlum- schlag. Diese Unterlagen erhalten Sie von den Schrift- führerinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen vor den Wahlkabinen. Zeigen Sie dort bitte Ihren Wahl- ausweis vor. Die blaue Stimmkarte ist für die Wahl der neun or- dentlichen Mitglieder; die gelbe Stimmkarte ist für die Wahl der neun stellvertretenden Mitglieder. Auf jeder der beiden Stimmkarten können Sie jeweils neun Kreuze machen. Für jeden Kandidaten, also in jeder Zeile, dür- 1) Ergebnis Seite 21936 D Vizepräsident Eduard Oswald fen Sie nur ein Kreuz bei „ja“, „nein“ oder „Enthaltung“ anbringen. Eine Stimmabgabe ist ungültig, wenn neben dem Kandidatennamen mehr als ein Kreuz oder kein Kreuz markiert wurde oder der Name durchgestrichen wurde. Ungültig sind Stimmkarten, die Zusätze enthalten. Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihre beiden Stimmkarten nur in der Wahlkabine ankreuzen und müssen beide Stimmkarten ebenfalls noch in der Wahlkabine in den Umschlag legen. Anderenfalls wäre die Stimmabgabe ungültig. Die Wahl kann in diesem Fall vorschriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführerinnen und Schriftführer werden darauf achten. Bevor Sie den Wahlumschlag in die Wahlurne werfen, müssen Sie dem Schriftführer an der Wahlurne Ihren Wahlausweis übergeben. Die Abgabe des Wahlausweises dient als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl. Kontrollieren Sie daher bitte, ob der Wahlausweis Ihren Namen trägt. Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ist das geschehen? - Nein, das ist noch nicht geschehen. Es fehlen noch Schriftführerinnen und Schriftführer. Ich darf noch einmal darum bitten, dass alle Schriftführerinnen und Schriftführer ihr Amt wahrnehmen. ({0}) - Am Ausgabetisch fehlt noch ein Schriftführer aus der Koalition. Ich darf die Parlamentarischen Geschäftsfüh- rer um Hilfestellung bitten. - Kollege Paul Lehrieder übernimmt das. Ich bedanke mich sehr herzlich. Jetzt sind alle Plätze besetzt. Ich eröffne nun die Wahl. Haben alle Mitglieder des Hauses - jetzt frage ich vorsichtshalber auch die von mir heute schon humorvoll erwähnten Schriftführerinnen und Schriftführer - ihre Stimmkarten abgegeben? - Das ist der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse der Wahlen werden Ihnen später bekannt ge- geben1). Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der Energiewende Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Joachim Pfeiffer. Bitte schön, Kollege Dr. Joachim Pfeiffer. ({1})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Umbau der Energieversorgung, den wir uns vorgenommen und wozu wir im letzten Jahr große politische Pakete beschlossen haben, ist bekanntlich kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. ({0}) Mancher hat vielleicht gedacht, mit dem Verabschieden der Gesetze sei schon alles getan. Das Gegenteil ist aber der Fall. Es geht jetzt erst richtig los, und die Mühen der Ebene kommen jetzt auf uns zu. Aus meiner Sicht gibt es bei diesem Thema drei große Herausforderungen: Die erste ist, die notwendigen Erzeugungskapazitäten zur Verfügung zu stellen, und zwar sowohl Kapazitäten aus erneuerbaren Energieträgern als auch Back-up-Ka- pazitäten aus klassischen, konventionellen Kraftwerken. Das soll heute nicht unser Thema sein. Die zweite Herausforderung ist die Speicherung, da die erneuerbaren Energien ja bekanntlich fluktuierend sind, weil die Sonne auch bei fortschreitendem Klima- wandel nachts nicht scheinen wird und der Wind auch nicht immer bläst. Die dritte ganz zentrale Herausforderung sind die Netze. Die Netze bilden das Nervensystem des Umbaus der Energieversorgung. Diese Netze sind intelligent zu gestalten, das heißt, die Fluktuation muss zukünftig im Rahmen der Netze berücksichtigt werden können. Vor allem müssen wir die Netze nachfrageorientiert steuern können, damit die Energieverbraucher intelligent mit dem erzeugten Strom beliefert werden können. Das klas- sische Thema ist selbstverständlich der Transport, der dort ansteht. Last, but not least leisten die Netze auch ei- nen entscheidenden Beitrag zur Vollendung des Binnen- marktes im Energiebereich; denn solange wir, ökono- misch ausgedrückt, die Elastizität der Nachfragekurve nicht erhöhen, wir die Nachfrage also nicht flexibler ma- chen und Wettbewerb nur auf der Angebotsseite besteht, wird der Wettbewerb nicht so funktionieren, wie wir alle uns das gemeinsam wünschen. Der Netzentwicklungsplan, der jetzt vorgestellt wird, ist quasi die Generalanleitung für den Umbau der Netze, so wie wir ihn uns vorstellen. Es ist nicht so, dass bisher nichts passiert ist. Mit Stand von heute wurden immerhin 214 Kilometer der wichtigsten Vorhaben umgesetzt. Das bedeutet erfreuli- cherweise eine gewisse Beschleunigung gegenüber dem, was wir noch im letzten Jahr zum Teil befürchtet haben. Die Lage ist aber komplex. Es gibt nämlich verschiedene Planungsebenen. Die klassische Planung obliegt den Ländern. Wir ha- ben schon vor Jahren die Herausforderungen gesehen. In 1) Ergebnis Seite 21936 D der letzten Legislaturperiode haben wir mit dem Energieleitungsausbaugesetz festgelegt, dass die Verfahren im Hinblick auf 24 prioritäre Maßnahmen beschleunigt werden. Im letzten Jahr haben wir mit dem NABEG die Möglichkeit zu einer weiteren Beschleunigung der jetzt neuen Projekte geschaffen. Der Netzentwicklungsplan ist also nicht nur die Anleitung, sondern er soll vor allem auch Transparenz bei dem schaffen, was dort vorgesehen ist, sodass die Bürger das auch nachvollziehen können. Es soll Transparenz geschaffen werden, um dann hoffentlich auch bezüglich der Planungen Akzeptanz zu erreichen, die zwingend notwendig ist, weil wir bekanntlich Schwierigkeiten haben, diese Planungen so schnell umzusetzen, wie es nötig ist. Wir brauchen Transparenz aber auch bezüglich der Kosten, weil das, was wir dort unternehmen, keine billige Veranstaltung werden wird. Ich möchte die Herausforderungen nur einmal von der Größenordnung her skizzieren, um zu verdeutlichen, worüber wir reden und was wir vor uns haben: Nach dem Netzentwicklungsplan brauchen wir allein für das Übertragungsnetz einen Neubau in einer Größenordnung von rund 3 800 Kilometern. 4 000 Kilometer müssen modernisiert werden. Das verursacht Kosten von 20 Milliarden Euro. Das Verteilnetz, das den Strom in der Fläche verteilen soll, muss um 195 000 Kilometer erweitert werden. Das verursacht Kosten in einer Größenordnung von 27 Milliarden Euro. Die Einführung sogenannter Smart Meterings, womit die Netze intelligent gemacht werden sollen, verursacht 5 Milliarden Euro. Ein anderes Projekt ist die bis 2020 geplante Offshoreanbindung. Wenn wir hier eine Leistung von 13 Gigawatt realisieren wollen, brauchen wir dafür mindestens noch einmal 13 Milliarden Euro. Zur Erzeugung einer Leistung von 1 Gigawatt benötigen wir etwa 1 Milliarde Euro. Zum Bau der Interkonnektoren nach Norwegen fällt demnächst die Entscheidung. Wir hoffen, dass wir den Zuschlag für den Bau des ersten Interkonnektors bekommen, also nicht die Briten, sondern wir Deutsche. Insgesamt reden wir also über eine Größenordnung von mindestens 70 Milliarden Euro, die bis 2020 allein in den Netzausbau zu investieren sind. Das ist eine gigantische Herausforderung. Dafür brauchen wir alle. Dafür brauchen wir auch die Länder, die sich zwar bisher verbal vor Begeisterung überschlagen haben. Aber sie müssen parteiübergreifend auch in dem Sinne Gas geben, dass sie bei der Planung vor Ort Ressourcen, und zwar Personal und Geld, zur Verfügung stellen. Sie müssen vor allem auch mithelfen, dass das NABEG so ausgefüllt wird, dass es tatsächlich zu einer Planungsbeschleunigung kommt, sodass die Projekte, die ich gerade genannt habe, auch umgesetzt werden können. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Kollege Pfeiffer, Sie wissen, was das rote Licht vor Ihnen bedeutet?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese Aufgabe ist noch ambitionierter als all die Aufgaben, die ich versucht habe in fünf Minuten darzustellen.

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Es waren fast sechs Minuten.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das war fast nicht möglich. Aber es wird morgen bei einer ähnlichen Debatte die Gelegenheit zur Fortsetzung bestehen. ({0}) Vielen Dank, Herr Präsident. ({1})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Pfeiffer. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt Duin. Bitte schön, Herr Kollege Garrelt Duin. ({0})

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir von dem Titel dieser Aktuellen Stunde erfahren haben, ({0}) waren wir schon ein bisschen erstaunt - das ist wohl wahr -, ({1}) besonders aber nach der ersten Rede in dieser Aktuellen Stunde, die von Ihnen beantragt worden ist. Den ersten Schritt zur Netzentwicklung haben wir gemeinsam getan. Die hier anwesenden Minister werden gleich an der Ministerpräsidentenkonferenz teilnehmen, die zwar ein ganz wichtiger Termin - heute ist diesbezüglich ein ganz wichtiger Tag - für unser Vorhaben ist. Aber das Wort „Meilenstein der Energiewende“ ({2}) ist einfach eine Nummer zu groß für das, was Sie in den letzten 13 Monaten für Deutschland getan haben. Das passt überhaupt nicht zusammen. ({3}) Lieber Herr Minister Rösler, ich habe heute Ihr Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen. Ich zitiere daraus drei kurze Sätze: Erster Satz: Wir brauchen „Markt, Wettbewerb und Transparenz“. Zweiter Satz: Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbedingungen … festzulegen … Dritter Satz: Das ist ein Ausgangspunkt mehrerer Optionen. Wir stehen erst am Anfang unserer Überlegungen. Das ist vollkommen nichtssagend. Wir befinden uns seit einem Jahr in diesen Diskussionen. Wir könnten schon viel weiter sein, wenn Sie nicht diese doppelte Ausstiegsnummer hingelegt hätten. Das, was Sie heute, im Juni 2012, zu diesem Thema zu sagen haben, ist verdammt dünn und zu wenig, um der Herausforderung in diesem Bereich gerecht zu werden. ({4}) Ich möchte ganz kurz ein paar Punkte nennen, von denen ich überzeugt bin, dass wir sie gemeinsam mit den Ländern über eine möglichst breite Mehrheit hier im Hause hinbekommen müssen. Das Erste ist in der Tat die Verabschiedung eines Bundesbedarfsplangesetzes im Jahre 2012 auf der Grundlage der vorliegenden Szenarien. Das Zweite, das wir miteinander klären müssen, ist, dass wir ein ganz intensives Monitoring des Netzausbaus brauchen, aber nicht nur bezogen auf die Übertragungsnetze, sondern auch unter Einbeziehung der Verteilnetze. Hierüber wird oft sehr einfach diskutiert. Wir müssen eine Anpassung der Anreizregulierungsverordnung vornehmen, um gerade auch im Bereich der Verteilnetze - Stichwort „Smart Grids“ - voranzukommen. ({5}) Wenn das in Ihren Überlegungen nicht enthalten ist, springen Sie zu kurz. Das Dritte ist die Deckung des Kapitalbedarfs zur Finanzierung des Netzausbaus. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. In einer Fragestunde habe ich den Parlamentarischen Staatssekretär Otto gefragt, wie er denn zum Thema „deutsche Netz AG“ stehe. Darauf hat er, wie ich finde, sehr vernünftig geantwortet, auch das könne man nicht ausschließen. Es geht in dieser Zeit aber nicht mehr darum, was man nicht ausschließen kann, sondern es geht darum, dass man klare Bekenntnisse abgibt. Die aktuellen Probleme sind doch offensichtlich. Deswegen brauchen wir parteiübergreifend das klare Bekenntnis und auch das Signal an die Marktteilnehmer: Wir wollen eine deutsche Netz AG. Wir beteiligen uns daran. Wir gehen mit in diese Verantwortung. Aber wir wollen nicht nur Geld geben, sondern wir wollen auch etwas zu sagen haben. Das ist der entscheidende Punkt, über den wir uns noch verständigen müssen. ({6}) Ein reiner Renditewettlauf nach dem Motto „Wer kann das meiste Geld mit welchem Netz verdienen?“ wird nicht zum Ziel führen. Der Markt allein, wie Sie es heute noch einmal zum Ausdruck gebracht haben, wird es nicht bringen. ({7}) Im Übrigen brauchen wir zwingend eine Intensivierung der Aktivitäten zur Erforschung und Entwicklung innovativer Netztechnologien. Denn es geht auch im Sinne der Akzeptanz, um die wir gemeinsam in ganz Deutschland an den verschiedenen Orten ringen, darum, nicht einfach nur zu übernehmen, was dort an Vorschlägen vorliegt, sondern durch kluge Politik dafür zu sorgen, eine Überdimensionierung des Ausbaus zu vermeiden. Es muss nicht jeder Kilometer, der bisher zur Diskussion steht, am Ende gebaut werden, wenn man bei der Speichertechnologie und bei intelligenten Netzstrukturen vorankommt und sehr viel stärker auf Dezentralität setzt, als es in vielen Überlegungen zurzeit der Fall ist. ({8}) Lassen Sie mich - weil Sie gleich zur Ministerpräsidentenkonferenz fahren - abschließend sagen: Wir alle im Bundestag sind mit unseren Parteien mehr oder weniger stark in den Landesregierungen vertreten. Wir haben dort alle miteinander Verantwortung. Aber aus diesem Hause muss als Rückendeckung an Sie das Signal ausgehen, dass wir uns auch in dem Sinne dessen, was unser Kommissar in Brüssel, Herr Oettinger, sagt, nicht 16 völlig verschiedene Pläne für den Ausbau der Netze leisten können. Das muss gebündelt werden. Die Skepsis in den Ländern ist dadurch verursacht, dass die beiden Häuser, deren Vertreter hier sitzen - Herrn Altmaier will ich dafür noch nicht in Verantwortung nehmen -, diese Bündelungsfunktion und das stringente Vorgehen bisher nicht dargestellt haben. Es ist viel Zeit ins Land gegangen, ohne die notwendigen Erfolge zu erzielen. Nehmen Sie deswegen auch aus dieser Aktuellen Stunde die Botschaft mit: Wir brauchen ein einheitliches Vorgehen über die Grenzen hinweg, vor allen Dingen über die 16 Ländergrenzen hinweg. Sonst werden wir uns hier wiedertreffen, ohne die Ziele beim Netzausbau erreicht zu haben, die für den Industriestandort, aber auch für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland dringend notwendig sind. Vielen Dank. ({9})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Garrelt Duin. - Nächster Redner ist für die Bundesregierung Herr Bundesminister Philipp Rösler. Bitte schön, Herr Bundesminister Rösler. ({0})

Philipp Rösler (Minister:in)

Politiker ID: 11005311

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Vor einem Jahr haben wir hier gemeinsam die Gesetze zur Umsetzung der Energiewende in Deutschland verabschiedet. Wir wollen den Ausstieg aus der Kernenergie. Wir wollen als Ersatz einen starken Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber wir unterscheiden uns, ({0}) die Opposition auf der einen Seite und die Regierungskoalition auf der anderen Seite. Sie wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien, koste es, was es wolle. Ihnen ist es vollkommen egal, wer am Ende die Zeche zu zahlen hat. ({1}) Sie denken nicht eine Sekunde an die 80 Millionen Menschen, die 40 Millionen Haushalte und die 4 Millionen kleine und mittelständische Unternehmen, die all das bezahlen müssen. Wir denken auch an die Bezahlbarkeit von Energie in Deutschland. ({2}) Es geht nicht nur um die umweltfreundliche Produktion durch erneuerbare Energien, sondern auch um Versorgungssicherheit. Es geht um das Thema Netzstabilität. Deswegen brauchen wir große, neue Netzstrukturen in unserem Land. Wir haben das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das Energiewirtschaftsgesetz und auch die Anreizregulierungsverordnung auf den Weg gebracht. Wir haben für Investitionssicherheit gesorgt, die wirtschaftliche Effizienz auch beim Ausbau der Netze weiter gesteigert und Planungen beschleunigt. Entgegen Ihrer Unterstellung ist der Bund in Bezug auf den Netzausbau in Deutschland absolut im Zeitplan. Ende Mai haben wir den Netzentwicklungsplan vorgelegt bekommen. ({3}) Alle beteiligten Akteure - der Bund, die Übertragungsnetzbetreiber, die zivilgesellschaftlichen Gruppen und die Bundesländer - haben innerhalb von zwölf Monaten aus dem Nichts heraus einen völlig neuen Plan auf den Weg gebracht: 3 700 Kilometer Fernübertragungstrassen in Deutschland. ({4}) Jetzt kennen wir den Bedarf, um den Strom aus dem Norden in den Süden zu transportieren. Jetzt haben die Menschen einen sichtbaren und greifbaren Erfolg in den Händen, der beweist: Wir sind beim Umsetzen der Energiewende in Deutschland absolut im Zeitplan. ({5}) - Die Menschen brauchen auch Ehrlichkeit, Frau Höhn. ({6}) Denn angesichts einer Gesamtstrecke von 3 700 Kilometern müssen wir mit den Menschen vor Ort intensiv sprechen, wenn es darum geht, die Trassen durch die Regionen zu führen. ({7}) Wir brauchen daher Ehrlichkeit. Die legen Sie schon längst nicht mehr an den Tag. Sie verleugnen die Notwendigkeit neuer Netze. Überall da, wo es konkret wird, stellen Sie sich auf die Seite der Demonstranten, die gegen neue Netze protestieren. Das ist doch die Wahrheit. Das ist unehrlich und unseriös. ({8}) Wir brauchen nicht nur Ehrlichkeit, sondern auch die Zwillingsschwester der Ehrlichkeit, die Transparenz, gerade wenn es um die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger geht. Schon sehr frühzeitig, im ersten Entwicklungsstadium, sind die Menschen eingeladen, wenn es darum geht, gemeinsam über die konkreten Trassenführungen zu diskutieren. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn die Trassen feststehen, wenn die Entscheidungen gefallen sind, dann müssen wir auch alles dafür tun, dass die Entscheidungen umgesetzt werden können. Wir können uns nicht mehr leisten, dass Klagewelle auf Klagewelle gegen Netzentscheidungen läuft. ({9}) Deswegen fordere ich hier genauso wie bei anderen Infrastrukturgroßprojekten: Es reicht eine gerichtliche Instanz aus, um neue Netze in Deutschland auf den Weg zu bringen. Deswegen habe ich vorgeschlagen, beim Netzausbau künftig nur noch das Bundesverwaltungsgericht als Entscheidungsinstanz gelten zu lassen. ({10}) Dass das funktionieren kann, haben die Großprojekte im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung gezeigt. Das zeigt auch das Energieleitungsausbaugesetz; Sie haben es eben selber angesprochen. ({11}) - Es stimmt, es geht nicht voran. 1 800 Kilometer neue Leitungen sind geplant gewesen. Nur 200 Kilometer Leitungen sind bislang gebaut worden. Aber vergessen wir einmal nicht die Verantwortlichkeit! ({12}) - Fachlich liegen Sie total daneben, Herr Kollege. - Die Zuständigkeit für das EnLAG liegt ausschließlich und alleine bei den Bundesländern. ({13}) Überall da, wo Trassen über Ländergrenzen hinweg geführt werden sollen, geraten diese Projekte ins Stocken. Ich sage Ihnen: Wir müssen mit der Kleinstaaterei Schluss machen. Keine 16 eigenständigen Energiekonzepte! ({14}) Wir können es nur gemeinsam schaffen - Bund, Länder und Kommunen -, und zwar nur unter Einbeziehung der europäischen Ebene. Wir brauchen Grenzkuppelstellen an der Grenze zu Frankreich genauso wie an der Grenze zu Polen. Deswegen muss man die Energiewende auch europäisch denken, übrigens nicht nur, wenn es um den konkreten Netzausbau, sondern auch, wenn es um die Regulierung geht. ({15}) - Herr Duin, ich verstehe Ihren Einwurf so, dass Sie fest an unserer Seite stehen, wenn es darum geht, erneut über Umweltschutzvorgaben nachzudenken. ({16}) Wir müssen darüber reden, wie wir Planung und Bau beschleunigen können, genauso wie damals bei der Realisierung von Autobahnen im Zuge der deutschen Einheit. Viele Maßnahmen konnten wir damals umsetzen, weil Regeln zeitweilig außer Kraft gesetzt wurden. Dies brauchen wir heute wieder. Die Zuständigkeit liegt nicht mehr alleine auf Bundesebene, sondern auch auf europäischer Ebene. Deswegen ist es richtig, dass wir mit der Europäischen Kommission darüber reden, wie es ermöglicht werden kann, Umweltstandards für einen bestimmten Zeitraum außer Kraft zu setzen, damit Netzplanung und Netzausbau schneller vorangetrieben werden können. Wir brauchen nämlich beides: Naturschutz und neue Netze, sowohl in Deutschland als auch in Europa. ({17}) - Ganz konkret können Sie sich künftig den Netzentwicklungsplan ansehen, Herr Kollege. Entsprechend den Vorgaben des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes, das wir gemeinsam verabschiedet haben, werden wir weiter vorangehen. Jetzt liegt der Plan vor. Wir werden gemeinsam auf seiner Grundlage ein Bundesbedarfsplangesetz und eine Verordnung entwickeln, um künftig erstmalig bundesweit Netze planen und bauen lassen zu können. Wir werden mit den Menschen vor Ort sprechen. Wir werden auch mit unseren europäischen Partnern reden, um Planungserleichterungen auf europäischer Ebene um- und durchzusetzen. Anders wird die Energiewende nicht zu machen sein. Aber der Netzentwicklungsplan, den Sie jetzt in Händen halten, ist in der Tat - ob es Ihnen nun gefällt oder nicht - ein Meilenstein, wenn es darum geht, die Energiewende gleichermaßen für die Menschen und die Unternehmen in Deutschland umzusetzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Johanna Voß. Bitte schön, Frau Kollegin Johanna Voß. ({0})

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Sehr geehrte Damen und Herren! Nach dieser Rede fange ich erst einmal damit an, zu sagen, was diesem Netzentwicklungsplan ganz entscheidend fehlt: Er steht unter ganz falschen Vorgaben. Das, sehr geehrter Herr Rösler, ist sehr transparent. Bei der zugrunde liegenden Marktsimulation gab es ein Ziel, nämlich die Minimierung der Erzeugungskosten. Der Fokus dieses Plans liegt also auf dem rein betriebswirtschaftlichen Aspekt. Man will folglich nicht das bestmögliche Netz bauen, sondern das kostengünstigste. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Selbst die Netzbetreiber sagen: Dieser Plan bildet nicht das einzig mögliche Netz ab; er bildet vielmehr das Netz ab, das unter diesen gesetzten Prämissen nötig ist. - Natürlich müssen die Kosten betrachtet werden; sie dürfen jedoch nicht das einzige Kriterium für alle Planungen sein. ({0}) Außerdem steht nirgends im Netzentwicklungsplan, was denn nun „kostengünstig“ ist. Das Wirtschaftlichkeitskriterium wird im ganzen Netzentwicklungsplan nirgends definiert, obwohl es Grundlage aller Berechnungen ist. Damit sind die Berechnungen nicht nachvollziehbar. Wir stellen fest: Unter dieser Prämisse bleibt die Sinnhaftigkeit auf der Strecke. ({1}) Reden wir über ein weiteres Problem: Es fehlt eine Koordination von Stromerzeugung und Stromverbrauch. Die Strombörse versagt hier. Die Koordination ist aber ein zentraler Faktor für den Stromnetzausbau. Dieses Problem kann der Netzentwicklungsplan allein auch nicht lösen. So treibt dann die Planlosigkeit den Stromnetzausbaubedarf in schwindelerregende Höhen. Weiterer Treiber des Ausbaubedarfs im Plan ist, dass das Anfahren und Abregeln von Kraftwerken durch die Netzbetreiber, der sogenannte Redispatch, und das Einspeise- und Lastmanagement nicht einbezogen werden. Diese Maßnahmen können aber einen ganz entscheidenden Einfluss auf das Einsparen von Stromtrassen haben. Dieses Einsparpotenzial gilt es zu nutzen. ({2}) Kommen wir damit zum Kernpunkt. Der Netzausbaubedarf hängt davon ab, wo welche erneuerbaren Energien geplant werden und welche Strategie der Erzeugung und des Verbrauchs von Energie überhaupt gefördert werden soll. Ein sinnvoller Bundesfachplan „Stromnetze“ muss daher konsequent vom Endpunkt her, von 100 Prozent Versorgung mit erneuerbaren Energien, gedacht und geplant werden. Der Auf- und Ausbau zukünftiger Stromspeicher muss berücksichtigt und einbezogen werden. Das alles leistet dieser Netzentwicklungsplan nicht. Ein weiterer Punkt: Die Großverbraucher - Alu-, Stahl-, Auto- und Chemieindustrie - müssen ihren Beitrag zur Netzstabilität leisten. Dazu braucht es gezielt Anreize für mehr Energieeffizienz. ({3}) Die wichtigste Forderung bleibt aber: Stromnetze zurück in die öffentliche Hand. Nur so überlässt man den Bau der großen Stromautobahnen und der kommunalen Verteilnetze nicht der Willkür und den alleinigen Interessen privater Unternehmen. Das hätte schon längst erkannt werden müssen. Eine öffentliche Netzgesellschaft, wie auch Garrelt Duin sie gefordert hat, kann leisten, was die vier Netzbetreiber auch bei noch höheren Renditen nicht leisten können. Strom gehört zu unserer Grundversorgung, und der Zugang dazu muss demokratisch organisiert sein. ({4}) Eine öffentliche Netzgesellschaft mit Vertreterinnen und Vertretern von Umweltverbänden, Gewerkschaften und weiteren relevanten Gruppen kann das leisten. Nur wenn die Netze wirklich wieder in öffentlicher Hand und demokratisch organisiert sind, muss nicht mehr lange über die Offenlegung von Daten gestritten werden. Dann werden die Netze wirklich nur dort gebaut, wo sie volkswirtschaftlich und ökologisch nötig sind. Dann wird eine sinnvolle Gesamtplanung zur Integration der erneuerbaren Energien möglich. Die fehlende Koordination des Ausbaus erneuerbarer Energien führt sonst unwiderruflich zu unwirtschaftlichen Netzstrukturen. Selbst die Netzbetreiber bemängeln immer wieder, dass ein Masterplan für den Ausbau der erneuerbaren Energien fehlt. Das sind also noch nicht einmal linke Spinnereien. Es geht hier also um eine wichtige politische Weichenstellung. Die Frage ist: Für welche Art der Stromerzeugung sollen die Netze geplant werden? Der Aufschwung dezentraler, erneuerbarer Stromerzeugung muss fortgesetzt werden. Orientiert sich die Politik aber weiter an den alten, ineffizienten und gesellschaftlich teuren Interessen privater Konzerne, fördert sie vor allem zentrale Offshoreparks und andere fossile Großprojekte, so wird die Energiewende verhindert. Eine Versorgung mit Strom aus zu 100 Prozent erneuerbaren Energien rückt dann in weite Ferne. Genau diese Entscheidungen stehen an. Der Netzentwicklungsplan krankt an falschen und fehlenden Voraussetzungen. Solange kein Masterplan vorliegt, solange Wirtschaftlichkeit oberstes, vages Kriterium bleibt, solange Redispatch, Last- und Einspeisemanagement nicht berücksichtigt werden, so lange werden wir Netze bekommen und bezahlen, die wir eigentlich nicht brauchen. Umweltverbände und Bürgerinitiativen haben allen Grund, weiter zu kämpfen. Die Linke wird dabei an ihrer Seite stehen. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Frau Kollegin Voß. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Oliver Krischer. Bitte schön, Kollege Oliver Krischer.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wirtschaftsminister Rösler, ich habe von Ihnen jetzt neun Minuten lang Phrasen und Plattitüden zum Thema Energiepolitik gehört. Sie sind sich nicht zu billig, hier noch die Plattitüde zu verbreiten, die Opposition würde im Land herumlaufen und den Netzausbau verhindern. ({0}) Wenn ich vor Ort in Sachen Konfliktfälle unterwegs bin, stoße ich auf schwarze Bürgermeister und Ihre gelben Parteikollegen, die sich in Populismus ergehen und Netzausbau verhindern. ({1}) Das ist die Realität. ({2}) Ich will hier mit einem Gerücht aufräumen. Es entsteht immer der Eindruck, als ob Bürgerinitiativen und Bürgerengagement den Netzausbau in Deutschland verhindern würden. - Ja, es gibt Diskussionen, es gibt Kritik, es gibt auch Auseinandersetzungen. Doch die wahren Probleme beim Netzausbau liegen darin, dass es Intransparenz und fehlende Steuerung gibt. Weiterhin ist das alles bisher als „Geheime Kommandosache“ der Übertragungsnetzbetreiber gelaufen. Dagegen hätten Sie schon lange etwas tun können. Da waren Sie in der Verantwortung. Beim EnLAG hätten Sie etwas tun können. Da ist von Ihnen nichts gekommen. Sie haben es eben selbst gesagt: Sie haben diesen Netzentwicklungsplan aus dem Nichts gemacht. Das zeigt doch, dass Sie drei Jahre lang hier überhaupt nichts zustande gebracht haben. ({3}) Dann sage ich Ihnen: Sie verbreiten Horrorzahlen im Zusammenhang mit dem Netzausbau und argumentieren dann, deshalb sei die Energiewende nicht finanzierbar. Das ist Ihre Botschaft, die Sie als Minister streuen. ({4}) Dazu sage ich Ihnen: Netzausbau müsste in Deutschland auch ohne Energiewende stattfinden. Bis in die 70er-Jahre hinein sind große Investitionen getätigt worden. Aber danach ist in Übertragungsnetze im Wesentlichen nicht mehr investiert worden. In Deutschland stehen Masten, die noch aus Kaisers Zeiten stammen und die irgendwann einmal erneuert werden müssen, Energiewende hin oder her. Ich glaube, so manche Horrorzahl, die verbreitet worden ist, würde sich relativieren, wenn man betrachten würde, was auch ohne Energiewende investiert werden müsste. ({5}) Aber es ist völlig richtig: Wir brauchen den Ausbau und die Optimierung der Netze im Rahmen der Energiewende. Denn wir müssen natürlich von der zentralen zur dezentralen Erzeugung kommen. Dabei ist das Verteilnetz ein ganz entscheidender Punkt. Herr Rösler, auch dazu habe ich von Ihnen keine einzige Silbe gehört. Das einzige, was Sie im Kopf haben, sind große Übertragungsnetze, die zwar ein wichtiger Teil, aber eben nur ein Teil sind. Die Verteilnetze haben Sie überhaupt nicht auf dem Schirm. ({6}) Dann haben Sie uns jetzt einen Plan vorgelegt, den Sie „Meilenstein“ nennen. Das ist aber bestenfalls ein erster Schritt, den Sie ein Jahr, nachdem Sie das Gesetz verabschiedet haben, gehen. Ich finde: schnell ist anders. Auch finde ich es hochinteressant, welche verschiedenen Szenarien mit den entsprechenden Berechnungen und welchen Erzeugungsmix Sie beim Ausbau der erneuerbaren Energien zugrunde gelegt haben. Aber interessanterweise berücksichtigen Sie zum Beispiel Ihre eigenen Effizienzziele und Einsparungen nicht. Das kommt in Ihrem Plan nicht vor. ({7}) Auch der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung fehlt, den Sie immer propagieren und über den Sie in der letzten Sitzungswoche erzählt haben, dass Sie dazu jetzt ein ganz tolles Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz gemacht haben. ({8}) Es fehlen die Aspekte Speichertechnologie und Lastmanagement. All das taucht in diesem Netzentwicklungsplan überhaupt nicht auf. Das kann in der Konsequenz doch nur bedeuten: Entweder glaubt Ihre eigene Bundesnetzagentur nicht daran, dass Sie die Ziele umsetzen, oder Sie verfolgen sie überhaupt nicht. Das ist doch eine Bankrotterklärung sondergleichen. ({9}) Dann zum Thema Öffentlichkeitsbeteiligung: Wir alle wissen und es ist völlig klar, dass man den Netzausbau in Deutschland auf allen Verteilungsebenen nur mit den Menschen machen kann, indem man mit ihnen redet. Sie haben nun den Plan vorgelegt. Danach sagen Sie per Pressekonferenz aus Bonn: Liebe Bürgerinnen und Bürger, ihr habt jetzt sechs Wochen Zeit, eine Stellungnahme zu einem Konvolut von 300 Seiten abzugeben. - Das ist keine Bürgerbeteiligung, das ist ein Witz. Das sage ich Ihnen ganz klar. ({10}) - An dieser Stelle, Herr Kollege, wäre es richtig, vor Ort, also dezentral, Veranstaltungen durchzuführen und zu kommunizieren, was Sie zu tun gedenken, und nicht von oben herab zu verkünden, was jetzt stattfinden soll. Aber das finde ich in Ihren Planungen nicht. Es wird am Ende so sein, dass Sie das Ganze hier schnell durchpeitschen. Aber dann haben Sie tatsächlich an vielen Stellen Menschen gegen sich, dann wird es schwierig mit der Umsetzung, und dann jammern Sie wieder über die Bürgerinitiativen und wahrscheinlich über die Opposition, die das Ganze angeblich weltverschwörungsmäßig zu verhindern versucht. Das ist Ihre Politik, und die wird am Ende, glaube ich, scheitern. ({11}) Zum Schluss will ich nur eines sagen: Dieser Netzentwicklungsplan beinhaltet etwas Positives, etwas, was vor zwei Jahren noch unvorstellbar war. Da haben wir HGÜTrassen durch Deutschland gefordert, um den Strom schnell transportieren zu können. Damals haben uns die Netzbetreiber und die Regierung gesagt: Das geht gar nicht. Jetzt auf einmal ist das machbar. Das ist ein Erfolg, und das ist vor allen Dingen ein Tiefschlag für die Verantwortlichen der dena-Netzstudie II, mit der Sie uns hier im Zusammenhang mit dem Netzausbau immer wieder traktiert haben. Dies zeigt, dass das, worauf Sie sich bisher berufen haben, nicht das Papier wert ist, auf dem es steht. Wenn wir den Netzausbau voranbringen wollen, dann werden wir hier klare Prioritäten setzen und uns vor allen Dingen für HGÜ-Trassen entscheiden müssen. Sie haben diese Trassen bisher immer bekämpft, während wir sie mit vorangebracht haben. Mit der Politik, die Sie hier begonnen haben, wird es, fürchte ich, im Endeffekt nichts werden. Danke schön. ({12})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Krischer. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/ CSU unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege Dr. Georg Nüßlein. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Man muss sich schon einmal die Frage stellen, wem es hier eigentlich um die Sache und wem es um die Frage der parteipolitischen Profilierung geht. ({0}) Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, ein so wichtiges Thema wie dieses, bei dem es wirklich um den Flaschenhals unserer Energiewende geht - bisher habe ich gemeint, wir alle miteinander wollen sie -, einen derart scheinheiligen Parteienstreit vom Zaun zu brechen und so zu tun, als ob man dem politischen Gegner Zeitverzug und Ähnliches vorhalten könnte, und das auch noch, Kollege Krischer, in einer so offenkundig platten Art. Ich kann doch nicht auf der einen Seite sagen: „Sie sind zu spät; das geht zu langsam“, und mich auf der anderen Seite hinstellen und sagen: „Ja, wir wissen schon; Sie wollen es am Ende durchpeitschen.“ - Was wollen wir denn jetzt? Es wäre schön, wenn Sie einmal sagen würden, was Sie sich an dieser Stelle vorstellen. Ich glaube, wir sind an dieser Stelle auf einem sehr guten, sehr soliden Weg. Wir haben einen Netzentwicklungsplan. Dem ging keine staatliche Planwirtschaft voraus, kein Oktroi von oben; vielmehr wurde miteinander etwas entwickelt. Es wurden drei Szenarien aufgezeigt; man hat verschiedene Ausbaualternativen skizziert. Auf dieser Basis ist man im Rahmen einer Konsultation mit der Bundesnetzagentur zu dem Punkt gekommen, dass man gesagt hat: So wollen wir das Ganze ausbauen. ({1}) Ich habe nicht vernommen, dass uns das im Raum stehende Maximum an Investitionskosten, 27 Milliarden Euro, irgendwie verleiten könnte, zu sagen „Das wird zu teuer“ oder: „Das geht nicht.“ Es handelt sich um eine Planung; da sind Schlussfolgerungen unangemessen. Das, was der Kollege Krischer vorhin abgeleitet hat, ist ganz seltsam. Er sagte, der Bundeswirtschaftsminister sei aufgrund der Kosten dagegen, die Energiewende fortzuführen. Das ist eine unglaubliche Unterstellung, und er wird der Sache so nicht gerecht. Man wird in diesem Rahmen deutlich die Notwendigkeiten ausloten und feststellen müssen, wie viel Geld man braucht. Ja, in der Tat gibt es Maßnahmen, um die Strecken, die jetzt in Planung sind, zu reduzieren, um dafür Sorge zu tragen, dass das Ganze kostengünstiger wird. Warum denn auch nicht? Herr Kollege Duin, wir werden die Frage klären: Wer wird das am Schluss machen? Ich als Ökonom sage Ihnen ganz offen: Ich halte sehr viel davon, die deutschen Übertragungsnetze in einer unabhängigen Netzgesellschaft zusammenzuführen. So steht es übrigens auch in unserem Koalitionsvertrag. ({2}) Ich halte sehr viel davon, zumindest die neuen Netze, mit denen wir in der Tat Probleme bekommen könnten, im Rahmen einer solchen Gesellschaft aufzubauen. Es spricht gar nichts dagegen, in diesem Rahmen beispielsweise die HGÜ auszubauen und die Frage zu klären, wer was macht. Nun sind da aber mehr Akteure als nur die Netzbetreiber betroffen. Ich habe die Bundesnetzagentur schon angesprochen und möchte betonen, dass wir auch da, Herr Wirtschaftsminister, noch einmal über die Frage der investitionsorientierten Regulierung diskutieren müssen. Die Bundesnetzagentur braucht natürlich noch eine klarere Definition von unserer Seite, was wir damit meinen. Das heißt, dass wir andere Voraussetzungen insbesondere für den Ausbau der Verteilnetze schaffen müssen, sodass dieser letztendlich auch geschieht. Ich möchte abschließend noch einmal ganz klar an die Politik appellieren. Der Appell an die Bundesländer, den ich hier gehört habe, war richtig. Man kann hier aber nicht einseitig nach Farben aufteilen, sondern ({3}) - da gebe ich Ihnen recht - da sitzen alle in einem Boot. ({4}) Alle müssen sich überlegen, wie sie mit dieser Frage umgehen und wie sie die Energiewende beschleunigen können. ({5}) Da gehören natürlich die rot-grün regierten Länder genauso dazu. Ich bitte Sie noch einmal ganz deutlich: Hören Sie auf, Zeithorizonte auszumalen, von denen Sie genau wissen, dass sie nicht realistisch sind. Man kann hier doch nicht auf der einen Seite sagen, alles müsse noch schneller gehen, es gehe nicht schnell genug, und auf der anderen Seite noch mehr Bürgerbeteiligung und weiß Gott noch was fordern. ({6}) Sie müssten vielmehr über Ihren Schatten springen und sagen, was Sie tun wollen, um die Verfahren zu beschleunigen. Ich glaube nicht, dass das mit mehr Instanzen und noch mehr Bürgerbeteiligung, als in Deutschland ohnehin schon institutionalisiert ist, geht, sondern ich bin der Überzeugung, dass dieselben Maßstäbe gelten müssen, die damals bei dem Infrastrukturausbau im Zusammenhang mit der deutschen Einheit zu Recht galten. ({7}) Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum diese nicht auch die Maßstäbe bei diesem für diese Republik wirtschaftspolitisch so wichtigen Projekt sein sollten. Ich bitte da um ein bisschen Unterstützung und Großmut vonseiten der Opposition. Vielen Dank. ({8})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. - Nächster Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Rolf Hempelmann. Bitte schön, Kollege Rolf Hempelmann. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der Energiewende“ - das klingt so, als müsste jemand sich selbst loben, weil er von niemand anderem mehr gelobt wird. Dafür, muss ich ganz ehrlich sagen, habe ich eine Menge Verständnis. Wir hatten in dieser Woche den EU-Kommissar Oettinger - übrigens immer noch eingeschriebenes Mitglied der CDU - im Wirtschaftsausschuss zu Gast. Sein Zeugnis über das, was Sie Energiewende nennen, klang doch ein bisschen anders als das, was aus dem Titel dieser heutigen Veranstaltung herausklingt. ({0}) Er sprach sehr deutlich von einer komplett fehlenden Koordination der Energiepolitik sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch zwischen Bund und Ländern. Er beklagte ganz ausdrücklich das energiepolitische Chaos von 16 Bundesländern, das eben nicht bundespolitisch koordiniert wird. Er beklagte den deutschen Alleingang in Europa und die Verstimmung, die Sie bei den europäischen Nachbarn ausgelöst haben. Er beklagte das ambitionslose Vorgehen der Koalition und dieser Bundesregierung beim Thema Energieeffizienz und Energieeinsparung; das sind mit Sicherheit gerade im Rahmen einer Energiewende zentrale Herausforderungen. Außerdem beklagte er die fehlende Abstimmung Ihrer Einzelmaßnahmen, das fehlende Gesamtkonzept. Wenn Sie heute einen Netzentwicklungsplan vorstellen, dann ist das im Grundsatz ein richtiger Schritt. Aber wir - und nicht nur wir, sondern offenbar auch der Energiekommissar in Brüssel - erkennen nicht, dass dieser Netzentwicklungsplan in ein Gesamtkonzept eingebettet ist. Sie haben ja auch keines. Wie sollte er dann darin eingebettet sein? In einem Gesamtkonzept würde sehr deutlich werden, wie viel Netzausbau wir brauchen, wie viel wir auf der Verteilnetzebene und auf der Übertragungsnetzebene machen können, was wir mit dem intelligenten Ausbau der Netze erreichen können und was wir erreichen können, indem wir bei dem Speicherausbau oder auch bei dem Lastmanagement vorankommen, also bei dem Abrufen von Flexibilitäten auf der Nachfrageseite, sowohl privat als auch in der Industrie. In einem solchen abgestimmten Gesamtkonzept hat dann ein Netzentwicklungsplan einen Platz. Sie liefern einen isolierten, von diesen Fragen völlig losgelösten Plan, der wahrscheinlich schon deswegen zukünftig immer wieder einer Überarbeitung bedarf. ({1}) Die beiden Herren haben offenbar privaten Diskursbedarf. ({2}) Das muss ja nicht schlecht sein; das kann uns vielleicht auch weiterhelfen. Sie haben gesagt, dass Sie das alles so wunderbar mit den Ländern abgestimmt haben. Dazu muss man heute nur einmal in die Zeitungen schauen. Da stellt man fest, dass Herr Rösler beispielsweise Vorgaben für den Naturund Vogelschutz außer Kraft setzen will, an die FloraFauna-Habitat-Richtlinie heranwill. Gleichzeitig äußert sich der energiepolitische Sprecher der CDU im Landtag Thüringen wie folgt: Schutzgüter wie Fauna und Flora und das Landschaftsbild dürfen bei der Abwägung nicht permanent ins Hintertreffen geraten. So viel zu Ihrer Abstimmung zwischen Bund und Ländern, so viel auch zur Einigkeit in der Koalition. Sie werfen anderen vor, Projekte zu behindern. In Wirklichkeit ist es so, wie Kollege Krischer gerade schon gesagt hat, dass Sie nicht in der Lage sind, bei Ihrem Projekt Ihre eigenen Leute mitzunehmen. ({3}) Das, was wir vor uns haben, meine Damen und Herren, ist hochkomplex. Wir haben zehn Jahre verloren, ({4}) weil Sie der Fantasie einer Laufzeitverlängerung nachgehangen haben. Wir müssen jetzt alles gleichzeitig und in sehr viel kürzerer Zeit schaffen. Denken Sie daran: Der NEP, der Netzentwicklungsplan, ist ein Plan. Denken Sie daran: Es gibt im Energieleitungsausbaugesetz Trassen, die einer Vollendung bedürfen. Wenn wir uns die Realität und nicht nur Ihren Plan anschauen, dann stellen wir fest: Von den 900 Kilometern sind 200 Kilometer realisiert. Wir brauchen aber die Pilotprojekte, weil wir von denen lernen wollen, weil wir für die weiteren Trassen die Erfahrungen brauchen, zum Beispiel dazu, wie es sich mit den unterirdischen Kabellösungen auf längeren Strecken verhält und welche technologischen Vorkehrungen wir dort zu treffen haben. Es ist einiges zu den Herausforderungen im Bereich der Regulierung und der Finanzierung der Netze gesagt worden; ich will das nicht wiederholen, sondern nur deutlich machen: Viele Fragen haben Sie heute unbeantwortet gelassen, so wie wir das von Ihnen gewöhnt sind. Vielen Dank. ({5})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Rolf Hempelmann. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Klaus Breil. Bitte schön, Kollege Klaus Breil. ({0})

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Ende Mai ist der Netzentwicklungsplan unter www.netzentwicklungsplan.de veröffentlicht. ({0}) Dieser Netzentwicklungsplan ist ein bedeutender Schritt für die Energiewende. ({1}) Herr Kollege Hempelmann, ich weiß nicht, ob Sie auch mit der Industrie reden; ich jedenfalls tue das sehr intensiv ({2}) und erfahre da sehr viel Zustimmung. ({3}) Ich möchte Sie alle noch einmal daran erinnern, dass es sich hier um eine gigantische Aufgabe handelt. Bis 2022 werden wir alle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet haben. ({4}) Bis dahin werden wir 35 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien produzieren. 2050 soll dieser Anteil bei 80 Prozent sein. Alle diese neuen Anlagen entstehen keineswegs nur an ehemaligen Kraftwerksstandorten. Viele neue Einspeisepunkte verändern die Anforderungen an unsere Energieinfrastruktur. Das Stromnetz war ursprünglich für wenige große Stromerzeugungsanlagen konzipiert. Jetzt muss ein flexibles und leistungsfähigeres Stromnetz her, und zwar mit Hochdruck. Ich glaube und hoffe, dass Sie erkennen, dass es sich hier um eine gigantische Aufgabe handelt. Im letzten Jahr haben wir den Übertragungsnetzbetreibern deshalb mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes einen Auftrag erteilt. Bereits jetzt haben die Übertragungsnetzbetreiber geliefert. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Mit dem Entwurf des Netzentwicklungsplans legen sie den für die nächsten zehn Jahre benötigten Netzausbaubedarf dar. Vier Szenarien geben uns einen Überblick über das, was auf uns zukommt, wohin wir wollen, und wofür wir uns einsetzen. Ein funktionierendes Stromnetz ist Garant für Versorgungssicherheit und Netzstabilität sowie für das Funktionieren des Industriestandorts Deutschland. Wie beim Kraftwerksbau oder den Kosten für Energie ist auch beim Netzausbau eines besonders wichtig: Wir dürfen die Akzeptanz nicht aus den Augen verlieren. Daher gilt bei der Arbeit am Netzentwicklungsplan: Optimierung und Verstärkung des Netzes geht vor Neubau von Leitungen. Das spart Geld und verringert die Reibungsverluste vor Ort durch Widerstände von Bürgerinnen und Bürgern. Auch damit müssen wir bei dieser Mammutaufgabe rechnen. Deshalb müssen wir die Bürger mitnehmen und sie einladen, mitzumachen. Auf der genannten Internetseite können sich Bürgerinnen und Bürger, Kommunen und Verbände unter dem Titel „Neue Netze für neue Energien“ bis zum 10. Juli zu den veröffentlichten Eckpunkten der Stromnetzausbauplanung äußern. Bis gestern sind 120 Stellungnahmen eingegangen. Das ist für den Anfang ein respektabler Zwischenstand. ({5}) - Kollege Krischer, welchen Vorschlag hätten Sie zu machen? Sie bemängeln Dinge, aber Sie machen keinen Vorschlag. Sie nennen keine Zahlen. Wir haben Sie mehrfach gefragt. Sie kritisieren nur, machen aber keine konkreten Vorschläge. ({6}) Wir ermuntern die Bürgerinnen und Bürger, diese Chance noch mehr zu nutzen. Auch an dieser Stelle möchte ich das betonen. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, diese Idee der christlich-liberalen Regierung ist bisher einmalig in der Energiepolitik. Der Netzentwicklungsplan ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen und nachhaltigen Energieinfrastruktur. ({7}) In ähnlicher Form kennen wir das aus der Verkehrspolitik: Der erste Bundesverkehrswegeplan stammt bereits aus dem Jahr 1973. ({8}) In der Energiewirtschaft hat sich bisher noch niemand da herangetraut. Doch jetzt endlich, im Jahr 2012, zieht Schwarz-Gelb beim Stromnetzausbau nach. ({9}) Ende Oktober erhalten wir nach Überprüfung durch Wissenschaft und Bundesnetzagentur eine Empfehlung für einen Bundesbedarfsplan. Das heißt: Noch in diesem Jahr werden wir uns in diesem Haus sehr konkret mit dem Verlauf der Stromtrassen beschäftigen. Im Winter werden wir den notwendigen Netzausbau in einem Gesetz festlegen. Damit werden konkrete Trassen justiziabel, also auch gerichtlich durchsetzbar. Umso wichtiger ist es daher, sich jetzt einzubringen, Herr Krischer. Die Übertragungsnetzbetreiber laden jetzt dazu ein; die Bundesnetzagentur in ein paar Wochen. Dafür werden wir dann beschlossene Leitungsneubauprojekte besser und schneller umsetzen. Das ist vorbildliche Bürgerbeteiligung. Vielen Dank. ({10})

Eduard Oswald (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001663

Vielen Dank, Kollege Klaus Breil. - Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Thomas Bareiß. Bitte schön, Kollege Thomas Bareiß. ({0})

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lieber Kollege Duin, Sie haben Ihre Rede mit der Verwunderung über die jetzige Debatte, unsere Aktuelle Stunde, eingeleitet. Mich erstaunt es nicht, dass Sie verwundert sind. Sie haben in den letzten Monaten eine Debatte über das Ausstiegsszenario geführt. ({0}) Wir aber sprechen nicht über den Ausstieg, sondern über den Einstieg. ({1}) Wir müssen über den Einstieg sprechen, damit wir eine Energiewende vollziehen können. Deshalb ist diese Debatte auch so wichtig. ({2}) Ich bin dankbar dafür, dass wir diese Debatte führen und zeigen können, welche Konzepte Schwarz-Gelb hat. ({3}) Wir haben in den letzten Monaten die Energiewende Schritt für Schritt vorangetrieben. Wir haben die Projekte, die notwendig sind, vorangebracht. Wir haben schon vor drei Jahren mit dem EnLAG gezeigt, dass wir das Thema Leitungsausbau für wichtig erachten. ({4}) Wir haben 24 konkrete Projekte genannt und gehen mit diesen Projekten Schritt für Schritt voran. Wir haben vor einem Jahr das Energiewirtschaftsgesetz mit einer großen Novelle vorangebracht. Wir haben dafür gesorgt, dass wir trotz schnellen Zubaus von erneuerbaren Energien eine gewisse Netzstabilität erhalten und garantieren können. Wir haben vor einem Jahr das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das NABEG, auf den Weg gebracht; der Minister hat es vorhin ausgeführt. Jetzt wiederum bringen wir auf seiner Basis den Netzentwicklungsplan voran und setzen damit einen weiteren Meilenstein im Rahmen unserer Energiewende. Wir schaffen es damit auch, einen Fehler von Rot-Grün beim damaligen Kernenergieausstieg auszubügeln. Mit dem jetzigen Gesetz versuchen wir, ein Stück weit den Zubau von erneuerbaren Energien mit der Infrastruktur und mit dem Netzausbau zu synchronisieren. Das gilt in einem nächsten Schritt auch für den Speicherausbau, der ebenfalls dazugehört. Das ist nur eine von zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen beides im Auge behalten, und mit dem jetzigen Netzentwicklungsplan wird uns das gelingen. ({5}) Damit können wir in den nächsten Jahren verhindern, dass wir Windstrom, den wir teilweise schon jetzt abregeln müssen, nicht nutzen können, weil es nicht genügend Infrastruktur gibt und weil die Netze nicht vorhanden sind. Wir benötigen Stromautobahnen, um den Strom abfließen zu lassen; nur so schaffen wir es, die Windströme aufzufangen und im Netz zu integrieren. Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass der Strom in Deutschland nach wie vor bezahlbar bleibt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Energiewende wird nur dann gelingen, wenn wir den Menschen zeigen, dass wir das Ganze richtig angehen und dass Strom bezahlbar bleibt. Auch deshalb ist der Ansatz, den wir heute diskutieren, so wichtig. Daran müssen wir weiter festhalten. Wir müssen es schaffen, dort in erneuerbare Energien zu investieren, wo sie am sinnvollsten und am wirtschaftlichsten sind. Herr Krischer, Sie sagen, die Energieversorgung der Zukunft werde komplett dezentral sein. Sie irren sich. Die Energieversorgung wird teilweise dezentral sein, aber in vielen Bereichen wird sie auch sehr zentral sein. Denn in der Zukunft müssen wir die Windräder dort aufbauen, wo am meisten Wind vorhanden ist und wo der Windstrom am kostengünstigsten produziert werden kann. ({6}) Deshalb wird die Gewinnung des Windstroms in den nächsten Jahren im Norden unseres Landes dramatisch aufgebaut werden, und deshalb brauchen wir die Stromautobahnen vom Norden in den Süden. Sie irren in Ihrer Annahme; denn wir brauchen diese Leitungen dringend. In den nächsten Jahren werden wir erleben, dass der Abstand zwischen Produzent und Verbraucher im Bereich der Infrastruktur in vielen Bereichen nicht abnehmen, sondern eher zunehmen wird. Daher ist es dringend notwendig, diese Stromautobahnen zu bauen. In den nächsten zehn Jahren benötigen wir 3 800 Kilometer Leitungen. Darüber hinaus haben wir noch EnLAG-Projekte fertigzustellen; das betrifft 900 Kilometer Leitungen. Das heißt: In den nächsten zehn Jahren benötigen wir 4 700 Kilometer Stromautobahn; wir müssten also jeden Werktag 2 Kilometer Leitungen bauen. Wenn man sich die bisherige Geschwindigkeit - inklusive der Altlasten von Rot-Grün - von bis zu 14 Tagen Bauzeit für 2 Kilometer Leitungen vergegenwärtigt, dann erkennt man: Wir haben noch ein ordentliches Stück Wegstrecke vor uns, um unser Ziel tatsächlich zu erreichen. Mein letzter Punkt. Wir können viel über Rahmenbedingungen oder technische Stellschrauben diskutieren. Ob die Leitungen dann tatsächlich gebaut werden können, hängt damit zusammen, ob wir vor Ort die notwendige Akzeptanz erhalten. Für unsere politische Führung bedeutet es eine Mammutaufgabe, vor Ort dafür zu sorgen, dass die Kommunen in dieser Frage mitziehen. Die zu bauenden 4 700 Kilometer Leitungen müssen vor Ort entsprechende Akzeptanz finden. In dem Zusammenhang habe ich, wie meine Vorredner, oft die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die hier die großen Sprüche bezüglich des Ausbaus der Erneuerbaren klopfen, vor Ort wiederum die Durchsetzung der Projekte verhindern. ({7}) Deshalb kann ich Sie nur immer wieder auffordern: Machen Sie von Rot-Grün mit bei unserer Energiewende. Sorgen Sie mit dafür, dass in Deutschland die entsprechende Infrastruktur gebaut und so in unsere Zukunft investiert wird. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Praktisch alle Vorrednerinnen und Vorredner haben zu Recht auf den hohen Zeitdruck bei der Netzmodernisierung hingewiesen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, zu überlegen, wodurch der Zeitdruck entstanden ist. Es ist ziemlich genau sechs Jahre her, da haben in einem Raum gut 50 Meter von hier, auf der gleichen Ebene des Reichstagsgebäudes, die Koalitionäre von CDU/CSU und SPD zusammengesessen. Herr Pfeiffer, ich weiß nicht, ob Sie damals ebenfalls in diesem Raum waren. Bundesumweltminister Gabriel schlug vor, dass wir in Deutschland Leitungen zur HochspannungsGleichstrom-Übertragung, gerade von den meisten mit HGÜ abgekürzt, also Stromautobahnen bauen sollten. Daraufhin lachte der Koalitionspartner der CDU/CSU: Ihm sei von den Energiekonzernen gesagt worden, so etwas bräuchte man in Deutschland nicht; ({0}) man wolle das nicht in die Arbeit der Koalition aufnehmen. Was, glauben Sie, habe ich gedacht, als ich den neuen Netzentwicklungsplan bekommen habe, dessen Kern der Bau von vier Stromautobahnen ist? ({1}) Man sollte auch darüber sprechen, was da passiert ist. Ich habe zu diesem Netzentwicklungsplan auch Fragen. Erstens: Wir brauchen Kostentransparenz. Wir haben jetzt gelesen, dass über einen Zeitraum von zehn Jahren Kosten in Höhe von 20 Milliarden Euro anfallen. Ich frage auch die Übertragungsnetzbetreiber: Wie viele dieser Investitionen sind denn ohnehin notwendige Ersatzinvestitionen bei einem 35 Jahre alten Netz? Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, dass man jede Ersatzinvestition, die man in den 90er-Jahren und den frühen Jahren des vergangenen Jahrzehnts unterlassen hat, jetzt den erneuerbaren Energien zuschiebt, nachdem man damals die großen Gewinne gemacht hat. ({2}) Auch dazu gehört Ehrlichkeit. Wer gestern beim Frühstück der Übertragungsnetzbetreiber dabei war, hat mitbekommen, dass auf meine Nachfrage hin zugestanden wurde, dass man nicht zwischen solchen notwendigen Ersatzinvestitionen und dem Zubau, den die Erneuerbaren notwendig machen, differenziert hat. Es bleibt dabei: Nach 1999, nach der Liberalisierung, sind die Netzinvestitionen halbiert worden. Was wir jetzt benötigen, ist in etwa die Investition, wie sie die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland in den 70er-Jahren bereits einmal gestemmt hat, für eine sichere Energieversorgung. Nehmen wir die Ersatzinvestitionen heraus und verwenden wir die Zahlen, die laut Netzentwicklungsplan ohne das sogenannte Startnetz entstehen, unterhalten wir uns in Deutschland über eine jährliche Abschreibungsrate - es sind ja immerhin Investitionen, die für 40 Jahre getätigt werden - von 250 bis 375 Millionen Euro. 50 Hertz, einer der vier Übertragungsnetzbetreiber, hat gesagt: Durch diese Investition werden allein in Thüringen Kosten für den Netzbetrieb in Höhe von 130 Millionen Euro im Jahr eingespart. Es gibt weitere Regionen in Deutschland, in denen damit Kosten eingespart werden. Auch diese Nettorechnung sollten wir aufmachen. Ich erwarte eine differenzierte Betrachtung auch der Bundesnetzagentur dazu, ob wir mit einem dezentraleren Ausbau an bestimmten Stellen auch noch Kosten einsparen können. Es geht am Ende darum, die Systemkosten zu optimieren, und es wäre Aufgabe der Ministerien, nicht immer nur Einzelbetrachtungen vorzunehmen, nicht nur zu sagen: Jetzt versuchen wir, bei den Netzkosten herunterzukommen; jetzt versuchen wir es mit dieser Fördergeschichte; jetzt geben wir hier einen Zuschuss. - Am Ende müssen die Systemkosten auf dem Weg zu 100 Prozent erneuerbaren Energien optimal sein. ({3}) Ich habe in den letzten Wochen die geschätzten Kollegen von der FDP- und der CDU/CSU-Fraktion - Breil, Pfeiffer, Bareiß - genauso wie den Minister Rösler gehört, die gesagt haben: Man muss den Ausbau der Erneuerbaren an die Netzentwicklung anpassen. Was ich vermisst habe, ist die Frage: Muss man nicht die gesamte Energieversorgung und die Netzentwicklung einander anpassen? Da hat keiner davon gesprochen, dass man den Neubau von fossilen Kraftwerken an der Küste, der dort stattfindet, weil die Gasanlandung und die Kohleanlandung etwas preisgünstiger als im Südwesten der Republik sind, verbieten sollte. Die Kraftwerke nutzen aber die gleichen Netze, Herr Kollege Breil. Sie wollen also die Netze mit fossiler Energie verstopfen und dann sagen: Für die Erneuerbaren brauchen wir jetzt noch mehr, und das ist viel zu teuer. ({4}) Das sind die Fragen zum Netzentwicklungsplan, die man auch stellen kann. Aber wer die Äußerungen der Übertragungsnetzbetreiber verfolgt hat, wer weiß, dass es um 250 bis 375 Millionen Euro pro Jahr geht, der weiß eines: Dieser Netzentwicklungsplan liefert kein Argument gegen 100 Prozent erneuerbare Energien. Wir wissen, dass es auch mit fossilen Energien immer teurer würde: Ersatzinvestitionen in Kraftwerke, Ersatzinvestitionen in Netze müssten auch dann stattfinden, weil alles veraltet ist. Dieser Netzentwicklungsplan zeigt: 100 Prozent Erneuerbare dezentral sind machbar, bezahlbar und ökonomisch sinnvoll. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Ulrich Kelber [SPD], an den Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU] gewandt: Kollege Pfeiffer, Sie erinnern sich noch genau an die Besprechung mit der HGÜ! - Gegenruf des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ach, schwätzt doch keinen Scheiß aus! Wirklich! Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber ({0})

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kelber, wenn Sie sich einmal kurz zu mir richten könnten: Das Problem ist doch vielmehr, dass wir insgesamt ein Problem mit den verschiedenen Ländern haben. Das ist das Entscheidende. Das sage ich auch Herrn Krischer und all den anderen, die jetzt erklären: Ihr habt doch mit eurer schwarz-gelben Bundesregierung - - Das spielt keine Rolle. Die verschiedenen Landesregierungen haben immer etwas andere Interessen, als wir sie auf Bundesebene haben. Deswegen sollten wir doch gemeinsam so ehrlich sein, festzustellen, dass eine gemeinsame Entwicklung der Netze und eine gemeinsame Energiepolitik unser gemeinsames Ziel sein sollten und wir deswegen in der Opposition genauso wie in der Koalition dafür sorgen müssen, dass wir unsere Länder dazu bewegen, es gemeinsam hinzubekommen. Da hilft es nicht, zu erklären: Ihr habt die gleichen Probleme. Ich würde gerne darauf verzichten, dass wir uns in Bezug auf die Vergangenheit gegenseitig den Schwarzen Peter zuschieben. Vielmehr sollten wir uns endlich um die Zukunft kümmern und darum, dass es vorangeht. ({0}) - Herr Kelber, schauen wir uns doch einmal an, was Sie gemacht haben. Solange Sie an der Regierung waren, ist doch gar nichts passiert. ({1}) Sich zu beschweren, dass es so langsam geht, und herumzumeckern, ist wirklich lächerlich. Bleiben wir doch bei den Fakten, das gilt auch für Sie. Sie haben kein Netzausbaubeschleunigungsgesetz vorgelegt. Auch in anderen Bereichen waren Sie untätig. ({2}) Ich bin der Meinung, dass es jetzt vorwärtsgehen muss. Wir müssen das gemeinsam schaffen. Ich glaube auch, dass es gelingen kann. Die Hochspannungsleitungen, also die 380-kV-Leitungen, werden wir auf jeden Fall brauchen. Es nützt nichts, darüber nachzudenken, ob wir dezentral produzieren sollten, weil klar ist, dass gerade der Offshoreund der Onshorewindbereich im Nordosten in den nächsten Jahren zunehmen wird. Das ist doch unser gemeinsames politisches Ziel. Gleichzeitig wissen wir, dass wir im Süden und im Südwesten an der Rheinschiene den meisten Strom brauchen. Darum müssen wir uns kümmern. Die Maßnahmen hätten von Anbeginn parallel laufen müssen. Es ging von vornherein nicht um die Frage, ob man erneuerbare Energie fördern soll, sondern darum, zu klären, ob man die gesamte Stromversorgung statt auf zentralen auf dezentralen Kraftwerken aufbauen will; denn wenn ich eine dezentrale Versorgung will, dann muss ich dafür sorgen, dass die Infrastruktur rechtzeitig zur Verfügung steht. In der Vergangenheit wurde für manche Netze bis zu 20 Jahre gebraucht. Eine Photovoltaikanlage kann innerhalb weniger Stunden auf dem Dach installiert werden, falls die nächste Kürzung ins Haus stehen sollte. All das zeigt, dass man frühzeitig mit dem Ausbau der Netze beginnen muss; ({3}) hier hinken wir hinterher. Leider wurde das von allen Vorgängerregierungen versäumt. Inzwischen sind wir uns alle einig, dass es jetzt schneller gehen muss. Wir müssen den Netzausbau beschleunigen. Natürlich wissen wir, dass die Menschen vor Ort Probleme haben, wenn hinter ihrem Grundstück eine Großleitung verlegt werden soll, die den Wert des Grundstücks reduzieren wird. Ihnen ist dann auch egal, wer welches Parteibuch hat. Die Probleme sind grundsätzlicher Art. Deswegen wird es wichtig sein, dass wir die Menschen frühzeitig einbeziehen. Stuttgart 21 beispielsweise hat bewiesen, dass es nicht unbedingt ein Vorteil ist, wenn man lange über ein Thema debattiert, sondern dass es sogar kontraproduktiv sein kann. Wenn ich 10 oder 15 Jahre über die gleiche Infrastrukturmaßnahme debattiere, dann hat das zur Folge, dass irgendwann einmal die Akzeptanz in der Bevölkerung sinkt. Darum bin ich der Meinung, dass wir die Menschen sehr viel früher als in der Vergangenheit einbeziehen müssen, wir müssen allerdings auch schneller Entscheidungen treffen. Das wird dazu führen, dass wir schneller handeln können als in der Vergangenheit. Das bedeutet natürlich auch, dass man den Instanzenweg nicht ausweitet, sondern verkürzt. Das ist die andere Seite der Medaille. Wenn man das will, dann muss man offen damit umgehen und die Probleme benennen. Will man das nicht, dann muss man eine Alternative aufzeigen, wie man den Netzausbau sonst noch beschleunigen kann. Dazu habe ich von Ihnen leider noch keine Antwort gehört. Ich würde mich freuen, etwas darüber zu hören. Wir müssen uns nicht nur über die Hochspannungsnetze Gedanken machen, sondern auch über Niederspannungs- und Verteilnetze vor Ort. In diesem Zusammenhang gehört es zur Wahrheit dazu, zuzugeben, dass wir grundsätzlich die Debatte über die Einspeisung von erneuerbaren, volatilen Energien anders führen müssen. Das heißt für mich nicht, dass wir das EEG abschaffen müssen, sondern das heißt, dass wir das EEG schneller beenden als in der Vergangenheit vorgesehen, und zwar ohne dass wir das System durch ein anderes ersetzen, sondern indem man sagt: Die Menschen müssen weniger einspeisen - übrigens nicht weniger produzieren - und gleichzeitig mehr selber verbrauchen. Wenn uns das gelingt, dann sparen wir zumindest im Verteilungsbereich an den Netzausbaukosten, und zwar riesige Summen. Wenn man bedenkt, was wir in den letzten Jahren für die erneuerbaren Energien ausgegeben haben, dann sieht man, dass wir so nicht weitermachen können. Hier im Bundestag sollte es Common Sense sein, dass wir die Summe von 150 Milliarden Euro - wir haben uns 2011 verpflichtet, im Bereich erneuerbare Energien so viel zu investieren - nicht einfach so fortlaufend erhöhen können. ({4}) - Oder sogar bis 185 Milliarden Euro, Hans-Josef Fell. Das hängt davon ab, wie es weitergeht. Mittlerweile sind wir vielleicht auch schon bei 200 Milliarden Euro. Es spielt keine Rolle. ({5}) Wir müssen dafür sorgen, dass diese Summe in Zukunft deutlich weniger wird. Das wird uns gelingen, wenn die Menschen weniger Einspeisevergütung erhalten, als sie selber für Strom bezahlen; denn dann lohnt es sich natürlich, den Strom selbst zu verbrauchen. Da müssen wir hinkommen. Hier brauchen wir Unterstützung. Für die Menschen soll der Anreiz geschaffen werden, den Anteil am Eigenverbrauch zu erhöhen, nicht 0 bis 20 Prozent, sondern vielleicht auf bis zu 50 Prozent. Wenn sie einen höheren Eigenverbrauch haben, erhalten sie einen höheren Einspeisesatz. Wenn sie mehr als 50 Prozent einspeisen wollen, könnten wir die Vergütung senken. All das schafft Anreize, das Netz zu entlasten und den Strom dezentral zu verbrauchen. Es müssen Anreize dafür geschaffen werden, dass die Leute, die Strom produzieren, ihn endlich auch verbrauchen und ihn nicht nur zur Verfügung stellen. ({6}) - Hören Sie doch einmal zu. Dann kommen wir vielleicht endlich mal vorwärts. Dieser ständige Protest - nein, nein, nein! - und die Forderung, die Förderung nicht so stark zu kürzen, wird uns keinen Zentimeter weiterbringen. ({7}) Deswegen sinkt doch die Akzeptanz in der Bevölkerung. Der Grund, warum wir Geld zum Fenster hinausschmeißen, ist doch, dass keiner von Ihnen bereit ist, nach links und rechts zu schauen, solange die Lobbyisten aus der Photovoltaikindustrie Nein sagen. ({8}) Das ist genau das Problem. Ihr müsst innovativer werden. Ihr müsst euch zum Beispiel überlegen, wie man es schafft, dass diejenigen, die volatilen Strom produzieren, sich jemanden für das Back-up suchen, zum Beispiel einen Biogaskraftwerks-, einen Wasserkraftwerks- oder einen Gaskraftwerksbetreiber. Nichts dergleichen kommt von Ihrer Seite. Wenn es die richtigen Innovationen gibt, dann geht es, glaube ich, voran.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, liebe Kollegen, herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich merke, es gibt auch hier noch Investitionsbedarf. Sie sollten ein bisschen Herzblut und Hirnschmalz investieren. ({0}) Wenn wir das gemeinsam aufbringen, dann können wir, glaube ich, das Problem lösen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Letzter Redner in der Debatte ist Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion.

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heutzutage kein Problem mehr, Strom aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Die Herausforderung besteht darin, ihn an die richtige Stelle zu bekommen bzw. ihn dort zu produzieren, wo man ihn braucht. Deswegen ist eine gute Netzinfrastruktur selbstverständlich notwendig. Ich erinnere an die Ethik-Kommission, die wir vor rund einem Jahr gemeinsam gelobt haben. In dem Schlussbericht heißt es, dass die Stromnetze und ihr Ausbau der wichtigste Prüfstein für das Gemeinschaftswerk sind. Dort steht auch, dass entscheidend ist, dass der erzielte Konsens auf Dauer angelegt ist. Das will ich unterstreichen. Ich muss sagen, dass Ihre heutigen Attacken gegen den Netzausbau nicht zu dem Lob von damals passen. Diese Debatte erinnert mich eher an das Verhalten der brandenburgischen Landesregierung, die den Konsens hinsichtlich des Atomausstiegs bereits wenig später infrage gestellt hat, weil einige brandenburgische Kommunen aufgrund des Atomausstiegs geringere Steuereinnahmen von Vattenfall bekommen. Kann man mit einem solchen Politikverständnis in der Energiepolitik vorankommen? Ich bin da skeptisch. ({0}) - Herr Kelber, Fakt ist doch, dass wir mehr Netze brauchen. Wir müssen erkennen, dass die Netze Lebensadern der Energiewende sind. Für den Netzausbau ist nicht die Anzahl der Kilometer entscheidend. Herr Krischer, diesbezüglich können wir einen Konsens herstellen. Wir brauchen uns gar nicht darüber zu streiten, ob das 4 600, 3 800 oder 2 500 Kilometer sind. Das ist aus meiner Sicht nicht relevant. Relevant ist die Qualität des Ausbaus: Wie schaffen wir es, technologieoffen und innovationsfreudig Kapazitätserweiterungen zu organisieren, die sich zum Beispiel aus der Verwendung von Hochtemperaturseilen, einer dezentralen Stromeinspeisung oder Speichermöglichkeiten für die fluktuierenden Energien ergeben? ({1}) Erkenntnisse hinsichtlich der Machbarkeit laufen komplett unter dem Radar. Wir müssen feststellen, dass einige, statt Netze zu errichten, Energiekapazitäten nur am Ort erzeugen wollen. Das wird nicht funktionieren. Das ist eine Vision, die wir haben sollten und haben; für die zügige Umsetzung der Energiewende brauchen wir aber gute Netze. Stellen Sie sich einmal vor, Berlin wäre gekrönt mit Windrädern. Ich denke, das ist eine städtebaulich relativ abscheuliche Vorstellung. Solche Experimente können wir uns wahrlich nicht leisten. Die Idee, sich autark zu versorgen, ist schön. Kollege Meierhofer hat das bereits gesagt. Ich selbst habe eine Photovoltaikanlage auf meinem Dach. Laut installierter Leistung könnte ich mich selbst versorgen. Das ist gar keine Frage. Wenn es aber um Leistung mal Zeit geht, also um die elektrische Arbeit, dann sieht das schon anders aus. ({2}) Selbst wenn ich mich zu 80 oder sogar 90 Prozent selbst versorgen könnte, brauchte ich für die restlichen 20 oder 10 Prozent ein Netz, das sicherstellt, dass die Energie zu jeder Zeit zu mir kommt. Das gilt nicht nur für mich, sondern für die ganze Wirtschaft. Wir brauchen eine gute Netzinfrastruktur, und zwar auch dann, wenn man sich vor Ort bzw. in einem Bundesland durch die installierte Leistung selbst versorgen könnte. Der Netzausbau ist nicht zum Nulltarif zu haben. Deswegen müssen wir den Leuten sagen, dass Eingriffe in die Natur und das Landschaftsbild stattfinden werden. Aber im Gegenzug werden wir auch etwas bekommen: Wir bekommen den von einem Großteil der Bevölkerung geforderten Umbau der Energieversorgung, also den Atomausstieg. Wir bekommen dafür, dass ein Großteil der Energie aus regenerativen Energiequellen stammt. Wir bekommen dafür, dass wir die gefährliche Energieabhängigkeit von unsicheren Drittstaaten reduzieren können. Wir bekommen dafür auch, dass unsere Energieversorgung wesentlich klimafreundlicher und umweltverträglicher wird. Das sollte uns die Investitionen in die Netzinfrastruktur wert sein. ({3}) Deshalb ist für mich der Netzentwicklungsplan ein Meilenstein. Ich unterstütze die Aussage von Umweltminister Altmaier, der gesagt hat: Nicht der einzelne Kilometer ist für den Erfolg der Energiewende relevant, sondern dass das System funktioniert. In diesem Sinne müssen die am Erfolg interessierten Bundesländer mit uns gemeinsam an einem Strang ziehen, und zwar in die richtige Richtung. Das pure Festhalten an und das Pflegen von Landesegoismen wie zum Beispiel bei CCS, bei der PV-Vergütung und der Gebäudesanierung helfen uns nicht weiter. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir aufgrund der Detailprobleme beim Netzausbau, die es natürlich gibt, nicht den gesamten Netzausbau infrage stellen sollten. Von Deutschland geht eine Signalwirkung aus. Ein solches Megaprojekt gab es noch nicht in einem Industrieland mit solch einem hohen Energiebedarf. Wir können die Energiewende in Deutschland nur mit der notwendigen Infrastruktur meistern. Wir sehen den Netzentwicklungsplan daher wirklich als Meilenstein der Energiewende an. Viele in Europa und in der Welt warten ab und schauen auf uns. Ich bin ganz sicher: Deutschland wird es packen. Wenn es einer packen kann, dann Deutschland. Wenn wir es dann geschafft haben, werden viele unserem Beispiel folgen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages- ordnungspunkt 9 a und b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung - Drucksache 17/9874 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten - Drucksache 17/9389 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 17/9990 Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Stephan Thomae Jens Petermann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Max Stadler. ({2})

Dr. Max Stadler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002805

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es war eine der bleibenden Leistungen des großen Liberalen Thomas Dehler in seiner Amtszeit als erster Bundesminister der Justiz, dass er 1953 das Jugendgerichtsgesetz in der Tradition des großen Gustav Radbruch gestaltet hat. Der damals formulierte Vorrang des Erziehungsgedankens hat das deutsche Jugendstrafrecht zu einem der modernsten der Welt gemacht. Dieses Jugendstrafrecht hat sich über die Jahrzehnte hinweg sehr gut bewährt. Bei der Grundkonzeption bleibt es selbstverständlich, auch wenn wir heute die jugendrichterlichen Handlungsmöglichkeiten punktuell erweitern. Seit langem wird darüber diskutiert, ob das Höchstmaß der Jugendstrafe von zehn Jahren bei Mord ausreichend definiert ist. Ich bin überzeugt: Es gibt Einzelfälle, bei denen dieses Höchstmaß nicht angemessen ist. Ich nenne ein Beispiel: Zwei Täter im Alter von 20 und 22 Jahren begehen gemeinschaftlich einen Mord. Wenn nun der 20-jährige Haupttäter, auf den noch Jugendstrafrecht anwendbar ist, zu einer Jugendstrafe von maximal zehn Jahren verurteilt werden kann, für den 22-jährigen Mittäter hingegen zwingend lebenslange Freiheitsstrafe vorgeschrieben ist, dann besteht offenkundig eine Diskrepanz. ({0}) Deshalb ist die Anhebung des Höchstmaßes der Jugendstrafe für Heranwachsende bei Mord auf 15 Jahre richtig, wobei wir als einschränkende Voraussetzung vorsehen, dass dies nur bei besonderer Schwere der Schuld gilt. Diese Änderung betrifft nicht die jugendlichen Täter, also die Altersgruppe der 14- bis 17-jährigen Täter, sondern ausdrücklich nur die Heranwachsenden, also die Gruppe der 18- bis 20-jährigen Täter, falls auf diese noch Jugendstrafrecht angewendet wird. Strittiger war in den Ausschussberatungen ein weiteres Dauerthema aus der jugendrechtlichen Diskussion der letzten 20 Jahre: die Ermöglichung des Jugendarrestes neben einer auf Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe. Entgegen bekannten Bedenken im Schrifttum halten viele Praktiker diese zusätzliche Reaktionsmöglichkeit für erforderlich, um zu vermeiden, dass ein zu einer Bewährungsstrafe verurteilter Täter den falschen Eindruck aus der Gerichtsverhandlung mitnimmt, seine Straftat sei quasi sanktionslos geblieben. Ich sage noch einmal, Herr Kollege Montag: Das ist ein falscher Eindruck. Aber viele Praktiker meinen aufgrund ihrer Erfahrung, dass das bei den Verurteilten manchmal so ankommt. Wir entsprechen heute diesem Wunsch aus der Praxis, in der Erwartung, dass von der neuen Sanktionsmöglichkeit zielgenau, in den richtigen Fällen und damit wirksam Gebrauch gemacht wird. ({1}) Meine eigene persönliche Erfahrung als Jugendrichter hat mich gelehrt, dass der erstrebte pädagogische Erfolg eines kurzzeitigen Freiheitsentzugs sehr stark von der praktischen Durchführung abhängt. Insbesondere muss der Jugendliche die Verbindung zwischen der Ahndung und seiner Tat erkennen können. Dies setzt einen raschen Vollzug des Arrestes und dessen sinnvolle Ausgestaltung voraus. Davon wird der Erfolg dieses neuen Instruments abhängen. Hierfür tragen die Länder die Verantwortung. Auch unser zweites heutiges Thema berührt sehr stark die Bundesländer, die für den Vollzug der Sicherungsverwahrung zuständig sind. Bei der grundlegenden Reform dieses schwierigen Bereichs zum 1. Januar 2011 haben wir diese Kompetenzzuweisung beachtet. Wir haben damals als Bundesgesetzgeber bewusst keine Vorgaben gemacht, wie sich der Vollzug der Sicherungsverwahrung von der Strafhaft unterscheiden muss. In seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch gerade die Verletzung des sogenannten Abstandsgebotes zwischen dem Vollzug von Sicherungsverwahrung und Strafhaft gerügt. Vor allem aus diesem Grund beschäftigt uns diese Thematik heute erneut, während die Grundgedanken der von diesem Hohen Hause im Dezember 2010 mit breiter Mehrheit gebilligten Reform in Karlsruhe unangetastet geblieben sind. Vor allem das Ultima-Ratio-Prinzip, dem wir mit der damaligen Reform zu einer stärkeren Geltung verholfen haben, wurde von den Karlsruher Richtern ausdrücklich hervorgehoben. Das Bundesverfassungsgericht hat den Bund in dieser Entscheidung beauftragt, bundesrechtlich die wesentlichen Leitlinien zum Abstandsgebot zu formulieren, die dann konkret in Vollzugsgesetzen der Länder münden und durch die Vollzugspraxis ausgefüllt werden müssen. Die Bundesregierung hat nach intensiven Beratungen mit den Ländern einen Gesetzentwurf hierzu vorgelegt, der vom Bundesrat schon im ersten Durchgang behandelt worden ist. Die Länderkammer ist offenbar der Auffassung, dass der Regierungsentwurf seine Aufgabe sehr gut erfüllt. Nennenswerte Änderungswünsche im Hinblick auf die Regelungen zum Abstandsgebot gibt es vom Bundesrat nämlich praktisch nicht. Allerdings möchte der Bundesrat die Neubezeichnung „Sicherungsunterbringung“ einführen. ({2}) Das ist meiner Meinung nach nicht notwendig. Entscheidend ist nicht ein neues Etikett, sondern entscheidend ist, dass der Vollzug der Sicherungsverwahrung verfassungs- und menschenrechtskonform ausgestaltet wird. Genau dies leistet unser Gesetzentwurf. ({3}) Meine Damen und Herren, bedeutsamer ist ein inhaltlicher Änderungswunsch des Bundesrates. Wir haben - mit den Stimmen der SPD und mit Unterstützung der Grünen - zum 1. Januar 2011 ein neues Konzept der Sicherungsverwahrung beschlossen. Es sah vor, die im Urteil vorbehaltene Sicherungsverwahrung auszubauen, und zwar zulasten der aus verschiedenen Gründen nicht die Anforderungen erfüllenden sogenannten nachträglichen Sicherungsverwahrung. In Abweichung von diesem unserem Konzept hat der Bundesrat nun erneut eine nachträgliche Unterbringungsmöglichkeit vorgeschlagen, die sogenannte nachträgliche Therapieunterbringung. Ich sage ganz deutlich: Im Regierungsentwurf bleiben wir bei der Konzeption von 2011, die die Koalition von CDU/CSU und FDP mit den Stimmen der SPD und mit Unterstützung der Grünen beschlossen hat, ({4}) und zwar aus wohlerwogenen fachlichen Gründen. Unser Konzept - ich betone das noch einmal - ist vom Bundesverfassungsgericht in seiner wirklich wegweisenden Entscheidung vom 4. Mai 2011 gerade nicht beanstandet worden. Gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung bestehen dagegen offenkundig sowohl beim Bundesverfassungsgericht als auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhebliche Bedenken. ({5}) Der Regierungsentwurf sieht daher pro futuro keine nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nachträgliche Unterbringung vor. In der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates hat die Bundesregierung lediglich ausgeführt, diesen Vorschlag des Bundesrates im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu vermuten, dass dieser Komplex in den Ausschussberatungen ein Schwerpunkt der Diskussionen sein wird. Für heute möchte ich mit der Feststellung schließen: Bei einem so komplexen und derart grundrechtssensiblen Thema wie dem weiteren Freiheitsentzug, obwohl die verhängte Freiheitsstrafe schon vollstreckt ist, führt der Entwurf der Bundesregierung das Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit auf der einen Seite und die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Anordnung von Sicherungsverwahrung und zu einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung in überzeugender Weise zusammen. Daher bitte ich Sie um breite Unterstützung für unseren Entwurf, wie Sie sie auch im Dezember 2010 gezeigt haben. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPDFraktion. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich liegt zu diesem rechtspolitisch wichtigen Thema ein Entwurf der Bundesregierung vor. Wir mussten lange darauf warten und freuen uns darauf, jetzt endlich darüber diskutieren zu können. Das müssen wir zügig, aber auch mit der gebotenen Intensität tun; denn die Sicherungsverwahrung - Sie haben es gerade am Ende noch einmal beschrieben, Herr Stadler - muss wegen des tiefen Eingriffs in das Leben eines Verurteilten, der seine Strafe ja bereits verbüßt hat, streng rechtsstaatlich ausgestaltet sein und das letzte Mittel der Kriminalpolitik, also die Ultima Ratio, bleiben. Auch das nehmen wir sehr ernst. Aber das berechtigte Anliegen der Bevölkerung, vor höchstgefährlichen Straftätern geschützt zu werden, nehmen wir genauso ernst. In diesem Zusammenhang gilt es, streng rechtsstaatliche Regelungen zu treffen. Sie haben es angesprochen: Die SPD hat in diesem Zusammenhang immer eine konstruktive Zusammenarbeit angeboten. Das galt beim Therapieunterbringungsgesetz, und das gilt auch beim vorliegenden Entwurf. Aber zu einer konstruktiven Zusammenarbeit gehört eben auch, dass wir den einen oder anderen Punkt benennen, den wir in dem vorliegenden Entwurf für kritisch halten. Dazu gehört zum Beispiel der Katalog der Anlasstaten; denn wir waren uns einig, dass wir die Verhängung einer Sicherungsverwahrung aufgrund der Tiefe des Eingriffs auf Taten gegen Leib und Leben, gegen körperliche Unversehrtheit und gegen die sexuelle Selbstbestimmung beschränken wollen. Es geht also wirklich um schwerste Straftaten, vor denen die Bevölkerung zu Recht geschützt werden muss, Straftaten, die begangen werden könnten, wenn solche Täter rückfällig würden. Deswegen kann ich es nicht nachvollziehen, dass in Ihrem vorliegenden Entwurf, der § 66 Abs. 1 StGB noch immer unangetastet lässt, darauf nicht Rücksicht genommen wurde. Wenn man das jetzt einmal zu Ende spinnt, dann sieht man: Die Sicherungsverwahrung ist weiterhin bei einem schweren Fall von Landfriedensbruch, unter bestimmten Umständen beim gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr und bei Vollrausch möglich. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, und Sie können doch auch nicht glauben, dass das einer Überprüfung beim Bundesverfassungsgericht standhalten würde. ({0}) Deswegen haben wir schon vor einigen Monaten einen entsprechenden Antrag eingebracht, der fordert, dass der Anlasskatalog für die Sicherungsverwahrung tatsächlich auf die von mir genannten schwersten Delikte beschränkt wird. Der Antrag liegt vor, und ich gehe davon aus, dass wir in den anstehenden Beratungen darüber auch noch zu sprechen haben. In diesem Antrag haben wir auch gefordert, eine Lücke zu schließen, die, wie wir finden, ein großes Gefahrenpotenzial in sich birgt, in dem Entwurf aber - Sie haben es ausgeführt - keine Rolle spielt: Es geht um die nachträgliche Therapieunterbringung. Der Herr Kollege Heveling - er ist ja anwesend - hat hierzu in der Debatte zu unserem Antrag im März ehrlich bejaht, dass es in diesem Bereich eine Schutzlücke gibt. Da frage ich mich, warum Sie diese Lücke mit Ihrem Entwurf nicht schließen. ({1}) - Aber Sie sind doch in den Beratungen dabei. Ich habe Herrn Stadler so verstanden, dass es hier wenig Änderungsmöglichkeiten gibt. Wir sind gespannt, ob Sie bereit sind, etwas gegen diese Schutzlücke, deren Vorhandensein Sie bejaht haben, zu tun. ({2}) Sie können doch nicht sehenden Auges das Risiko eingehen wollen, dass dann, wenn sich die psychische Störung eines Gewalttäters erst im Strafvollzug ergibt, dieser trotzdem nach Ablauf der Strafhaft entlassen werden muss, obwohl von ihm die Gefahr ausgeht, dass er erneut schwerste Straftaten begehen wird. Dieses Risiko akzeptieren Sie sehenden Auges, wir als SPD-Fraktion nicht. ({3}) Deswegen fordern wir mit unserem Antrag die nachträgliche Therapieunterbringung. ({4}) Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zum zweiten Thema sagen, das heute ja auch in dieser Debatte behandelt wird, nämlich der Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten, hier insbesondere zum sogenannten Warnschussarrest für jugendliche Straftäter. Diese Erweiterungen werden immer damit begründet, dass Jugendkriminalität angeblich immer brutaler wird und zunimmt. Das mag vom Bauchgefühl her so sein, aber die Zahlen der Kriminalitätsstatistik sprechen eine völlig andere Sprache. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 2011 ist bei Jugendlichen ein Rückgang der Gewaltdelikte um 10,7 Prozent, bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung sogar ein Rückgang um 11,4 Prozent zu verzeichnen. Lassen Sie sich also bei solchen rechtspolitischen Vorhaben besser von Zahlen und Fakten, aber nicht von Gefühlen leiten. Dass ein solcher Warnschussarrest sogar schädlich ist, schreiben Ihnen wirklich fast alle Fachleute ins Stammbuch. Sie haben zwar gesagt, dass die meisten Fachleute dieses Instrument begrüßen. Wenn ich die Ergebnisse aus der Anhörung zusammentrage, habe ich aber einen anderen Eindruck. ({5}) Es mag ein paar wenige Befürworter geben, die Sie hervorgeholt haben, aber ich hatte von den meisten Stellungnahmen her einen anderen Eindruck. Gerade Jugendliche, die eigentlich für eine Bewährung geeignet wären - das ist ja das Kriterium -, lernen durch die Verhängung eines Warnschussarrests im Gefängnis erst das, was man alles für eine kriminelle Karriere braucht. Herr Professor Dr. Pfeiffer hat Ihnen das noch einmal mehr als deutlich bestätigt, als er von einer „Fortbildung in der Anwendung krimineller Methoden“ sprach. Es verwundert schon sehr, dass ausgerechnet aus dem Hause der Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger ein solcher Entwurf vorgelegt wird. ({6}) Diese Ideen sind ja nicht neu, sondern werden ständig wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt, das letzte Mal 2008 vom damaligen Ministerpräsidenten Koch, der meinte, im Wahlkampf ganz schnell etwas auf den Tisch legen zu müssen. Damals hat Frau LeutheusserSchnarrenberger, allerdings noch in der Opposition, die Vorschläge, über die wir heute abstimmen, wie folgt bewertet: Der „erzieherische Nutzen“ des Warnschussarrests sei zu bezweifeln. Ich zitiere: Sie hält auch eine angestrebte Verlängerung der maximalen Haftdauer von 10 auf 15 Jahre für überflüssig, weil schon heute der Strafrahmen so gut wie nie voll ausgeschöpft werde. 2006 wurden gerade einmal 17 Jugendliche und Heranwachsende zu 10 Jahren Jugendstrafe verurteilt. Das entspricht einem Anteil von 0,1 Prozent der Verurteilten. LeutheusserSchnarrenberger: „Es besteht kein Bedarf, das Jugendstrafrecht zu ändern.“ ({7}) Ich weiß nicht, in welch wesentlicher Weise sich die Situation von damals zu heute geändert hat. Aber vielleicht bestimmt einfach das Sein das Bewusstsein; das kann in diesem Fall sein. Es wird einem aber angesichts der Pirouetten, die die Ministerin in dieser Frage gedreht hat, schwindlig. Wir werden sie nicht drehen. Wir bleiben bei unserer ursprünglichen Position und werden diesen Möglichkeiten nicht zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Andrea Voßhoff für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Lambrecht, das, was Sie gesagt haben - ich glaube, in einer Debatte hat Ihr Kollege Lischka die Ministerin in dieser Frage zitiert -, macht doch keinen Sinn. ({0}) Auch Sie sind doch koalitionserfahren und wissen, dass Koalitionspartner durchaus unterschiedliche Positionen haben dürfen, sich aber im Ergebnis zu einem Beschluss durchringen können. ({1}) Das ist so. Daran wird sich auch nichts ändern. Es ist schon von den Vorrednern gesagt worden, dass wir heute nicht nur den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung in erster Lesung debattieren, sondern auch abschließend den Gesetzentwurf zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. Das sind zwei sicherlich sehr unterschiedlich zu gewichtende und auch in Teilen kontroverse kriminalpolitische Vorhaben. Beide haben eine lange Vorgeschichte. Ich will zur Sicherungsverwahrung nur einige Anmerkungen machen. Sie hat uns - viele, die schon länger im Bundestag sind, wissen das - in diesem Hohen Hause schon in nahezu konstanter Regelmäßigkeit beschäftigt. Immer wieder sahen wir uns gezwungen, mit der Sicherungsverwahrung den Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern, die ihre schuldangemessene Strafe bereits verbüßt hatten, gegen das Freiheitsrecht der Betroffenen auszutarieren. Der Staatssekretär hat es erwähnt: Zuletzt im Dezember 2011 haben wir mit einer durchaus überzeugenden Mehrheit in diesem Hause die Sicherungsverwahrung neu ausgerichtet und, wie ich finde, im Grundsatz eine gute Reform der Sicherungsverwahrung auf den Weg gebracht. Warum steht das Thema heute auf der Tagesordnung? Wir reagieren mit dem Gesetzentwurf, wie Sie wissen, auf das bekannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem sämtliche Vorschriften der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt wurden, aber nicht in ihrem materiellen Inhalt, sondern weil das Abstandsgebot, das heißt der Abstand zwischen dem Vollzug der Strafe und der anschließenden Sicherungsverwahrung, nach Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht eingehalten worden ist. Es war also allein die Verletzung des sogenannten Abstandsgebots, weshalb die Normen für verfassungswidrig erklärt wurden. Um diesem Anspruch des Bundesverfassungsgerichts und der Pflicht zur Umsetzung gerecht zu werden, hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur ersten Beratung vorgelegt. Wir werden ihn intensivst beraten. Es ist sowohl vom Staatssekretär als auch von der Kollegin Lambrecht angesprochen worden: Im Rahmen der anstehenden Beratungen müssen wir tatsächlich über die Frage der Notwendigkeit einer nachträglichen Therapieunterbringung reden und sie intensivst prüfen. Ich begrüße es, dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme einen entsprechenden Formulierungsvorschlag dazu vorgelegt hat. Der Bundesrat initiiert damit, dass psychisch gestörte Täter, deren hochgradige Gefährlichkeit erst nach dem Strafurteil erkennbar wird, zum Schutz der Allgemeinheit unterzubringen sind. Ich weiß, das ist eine sehr kritische Frage. Aber ich finde sie notwendig und geboten, auch im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das nach unserer Auffassung für eine solche Regelung eine Tür offengelassen hat, und dies sicherlich aus guten Gründen. Wir wissen alle: Es wird ganz, ganz wenige Fälle geben. Aber die Anzahl der Fälle spricht nicht dafür, zu sagen: Das ist nicht notwendig. Vielmehr ist jeder Einzelfall umso gravierender. Wir wissen von einigen Beispielen aus Bayern, um welche Fälle es sich handelt. ({2}) Es ist umstritten und fraglich, in welcher Weise wir das umsetzen können und wollen. Die Bundesregierung hat Prüfungen vor dem Hintergrund des Entwurfs des Bundesrates zugesagt. Diese Prüfungen werden wir in den anschließenden Beratungen auch vornehmen, Frau Kollegin Lambrecht. Es wird auch eine kritische und kontroverse Prüfung geben, völlig klar. Dieser Entwurf ist aber ein Entwurf der Bundesregierung. Das Parlament hat jetzt das Wort und wird dazu beraten, und natürlich - das haben Sie gemerkt - gibt es auch in der Koalition unterschiedliche Positionen dazu. Wir werden sehen, welches Ergebnis die Beratungen ergeben werden. Lassen Sie mich noch auf den zweiten Punkt eingehen, den wir heute beschließen wollen und der bereits diskutiert worden ist, nämlich den Warnschussarrest. Ja, es ist richtig - das hat auch die Anhörung gezeigt -, dass vonseiten der Wissenschaft und von Verbänden der Warnschussarrest abgelehnt wird. Die Anhörung hat aber auch gezeigt, dass viele Praktiker ({3}) - nein, es waren vier - diese Regelung begrüßen. ({4}) - Vier von acht. - Dann müssen Sie das auch zur Kenntnis nehmen. Ich respektiere das und weiß auch um die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Analysen. Das ist völlig unstreitig. Ich habe aber ebenso auch großes Vertrauen in die Auffassung der Praktiker und Jugendrichter. Ich kann nicht einsehen, warum deren Haltung nicht auch gefolgt werden sollte, und wir tun dies ja auch. Mit dem Gesetzentwurf zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten wollen wir die Möglichkeit eröffnen, neben der Jugendstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt ist, einen Warnschussarrest von maximal vier Wochen Dauer verhängen zu können. Wir meinen, das Jugendkriminalrecht wird damit flexibler. Der Kollege van Essen - er ist heute leider nicht anwesend - hat das, finde ich, sehr prägnant beschrieben: Mit dem Instrument des Warnschussarrests fügen wir sozusagen der Klaviatur des Jugendrichters eine weitere Taste hinzu. ({5}) Das halten wir auch vom Ergebnis der Anhörung her für durchaus vertretbar. Die Praktiker haben uns Fälle geschildert, in denen es durchaus sinnvoll und geboten ist, den Warnschussarrest einzusetzen. Der Staatssekretär hat es bereits gesagt: Wichtig ist, dass der Warnschussarrest zeitnah erfolgt. - Wir hoffen und wünschen, dass die Länder dazu den notwendigen Beitrag leisten. Da hier immer die Statistiken bemüht werden: Ja, es ist richtig, dass die Jugendkriminalität zurückgeht. Aber ausweislich der bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik 2010 bewegt sich die Jugendkriminalität nach wie vor auf hohem Niveau. Über alle kurz- und langfristigen Veränderungen hinweg bleiben zwei Faktoren konstant mit erhöhter Kriminalitätsbelastung verbunden: das Geschlecht und das jugendliche Alter. Das heißt, der Anteil junger männlicher Straftäter ist im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung dauerhaft überproportional hoch. ({6}) Das Jugendstrafrecht weiterzuentwickeln und den aktuellen Lebenswirklichkeiten anzupassen, bleibt daher eine Daueraufgabe. Der Erziehungsgedanke und Prävention müssen dabei natürlich an erster Stelle stehen. Der Ausbau von Erziehungsangeboten kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die Erfolge, die damit erzielt werden, sprechen natürlich für sich. Das stellt hier keiner in Abrede. Wir können aber die Augen nicht davor verschließen, dass es junge Straftäter gibt, die mit ambulanten Maßnahmen nicht oder jedenfalls nicht mehr zu erreichen sind, und dass es Taten gibt, die nun einmal einer nachdrücklichen und repressiven Reaktion bedürfen. ({7}) Hier wollen wir den Warnschussarrest als zusätzliches Instrument unterhalb einer zu vollstreckenden Jugendstrafe in das Jugendgerichtsgesetz einbauen, dem Jugendrichter ein weiteres Instrument an die Hand geben. Nach den Gesprächen, die ich dazu geführt habe, kann ich nur sagen: Die Jugendrichter werden damit sehr verantwortungsvoll umgehen. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass die Länder weiterhin dem Anspruch an den Jugendarrest gerecht werden. Der Jugendarrest als soziales Training muss - ich glaube, Herr Professor Kreuzer hat das in der Anhörung erwähnt - weiter ausgebaut werden, um mit dem Warnschussarrest den gewünschten Effekt zu erzielen. Über die Vorbewährung will ich nicht reden; das werden sicherlich meine Kollegen noch tun. Mich erfreut es auf jeden Fall, dass Sie mitmachen. Ich stimme dem Staatssekretär zu, der die Anhebung des Höchstmaßes der Jugendstrafe auf 15 Jahre bei Heranwachsenden als ein gutes Beispiel genannt hat. Es ist vertretbar, die Höchststrafe in diesem Bereich anzuheben. Ich würde mich freuen, wenn Sie unserem Gesetzentwurf zum Warnschussarrest zustimmen könnten. Ansonsten gehe ich davon aus, dass wir im Rechtsausschuss intensive Debatten im Zusammenhang mit der Sicherungsverwahrung führen und über die Problemfelder gemeinsam diskutieren werden. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren in der Debatte über diesen Tagesordnungspunkt über die Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung auf der einen Seite und abschließend über die Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten auf der anderen Seite. Da fragt man sich: Was hat das eine mit dem anderen zu tun, dass beides im Rahmen eines Tagesordnungspunkts behandelt werden muss? ({0}) Das ist ganz einfach: Beide Gesetze sind ein Beleg für eine repressive, populistische und an den Stammtischen orientierte Rechtspolitik. Das kann man dann auch im Rahmen eines Tagesordnungspunkts behandeln. Ich will mit der Erweiterung jugendgerichtlicher Handlungsmöglichkeiten mit dem Schwerpunkt Warnschussarrest beginnen. Mein Kollege Wunderlich hat dazu bereits alles Richtige gesagt. Natürlich muss man dem Kollegen Wunderlich nicht folgen. Aber was man machen könnte, ist, Schlussfolgerungen aus der Anhörung zu ziehen. In der Anhörung gab es - darauf wurde schon hingewiesen - nicht ein einziges wissenschaftlich fundiertes Argument für die Einführung eines Warnschussarrests. Es gab lediglich Praktiker, die gesagt haben: Aus unserer Praxis heraus wünschen wir uns, dass es einmal einen Warnschussarrest gibt, Punkt. Den hätten wir jetzt gerne mal. ({1}) Das war es schon. Aber es gab kein wissenschaftliches Argument. In der Anhörung haben sich alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegen eine Anhebung der Höchststrafe und gegen die Einführung eines Warnschussarrests ausgesprochen. ({2}) Das Gesetz zeigt: Sie ignorieren die Ergebnisse der Anhörung und die Aussagen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Wenn Ihnen das nicht genügt, verweise ich an diese Stelle auf Christian Pfeiffer - eine Koryphäe in diesem Bereich -, der von einer Rückfallwahrscheinlichkeit von bis zu 70 Prozent beim Warnschussarrest spricht. 70 Prozent derjenigen, die Sie in den Warnschussarrest stecken wollen, werden also wieder zu Straftätern. Das heißt, Sie produzieren weiter Straftäterinnen und Straftäter, anstatt etwas gegen Straftaten zu tun. Kommen wir zum Gesetz zur Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung. Vielleicht muss man noch einmal sagen, worum es bei der Sicherungsverwahrung eigentlich geht. Bei der Sicherungsverwahrung geht es darum, dass Straftäterinnen und Straftäter, die für ihre Tat bereits eine Freiheitsstrafe verbüßt und damit auch für die Tat gebüßt haben, aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose präventiv weiter im Knast einsitzen. ({3}) - Ich sage bewusst „im Knast“, weil Sicherungsverwahrung letztendlich Freiheitsentzug ist. Demjenigen, der einsitzt, ist es egal, ob das eine Therapieunterbringungsanstalt oder ein Knast ist. ({4}) Deswegen wiederhole ich: Die Linke lehnt das Institut der Sicherungsverwahrung ab. ({5}) Deswegen haben wir die Einsetzung einer Expertenkommission aus Praktikerinnen und Praktikern, aus Gesellschaftswissenschaftlern, aus Straf-, Polizei- und Verfassungsrechtlern, aus Kriminologen, Psychiatern, Psychologen und natürlich auch Vertretern von Opferverbänden vorgeschlagen, die sachlich und im Rahmen dieses Expertenstatus darüber diskutieren sollen, ob wir das Institut der Sicherungsverwahrung überhaupt brauchen. Dass eine Versachlichung der Debatte zum Thema Sicherungsverwahrung notwendig ist, zeigen doch aktuelle Vorgänge. Ich möchte Sie daran erinnern, dass der gesamte Landtag von Sachsen-Anhalt - das ist sehr zu begrüßen - letztes Wochenende nach Insel gefahren ist. Insel ist ein Ort in Sachsen-Anhalt, wo entlassene Sicherungsverwahrte versuchen, ein neues Leben anzufangen. Es gibt massive Ängste in der Bevölkerung und Versuche, die Entlassenen wieder zu vertreiben. Man muss die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen, man darf sie aber nicht übernehmen. Man muss sich vielmehr mit ihnen auseinandersetzen. ({6}) Ich will im Rahmen der Debatte über die Sicherungsverwahrung auf zwei Dinge sehr deutlich hinweisen. Erstens. Sie alle wissen - Herr Heveling hat es in der letzten Debatte gesagt -, dass es in einer offenen Gesellschaft keine absolute Sicherheit gibt. Wir wissen: Jede Straftat ist eine zu viel, und jedes Opfer ist eines zu viel. Aber wir dürfen nicht suggerieren, es gäbe ein Mittel, das verhindert, dass Straftaten überhaupt begangen werden. Das ist eine Grundtatsache, und das müssen wir immer wieder betonen. Zweitens. Die Ursachen für die Entstehung von Kriminalität sind so vielfältig und umfassend, dass eine sichere Prognose - auf das Wort „sicher“ kommt es in diesem Zusammenhang an - darüber, ob weitere Straftaten begangen werden, einfach nicht möglich ist. Deswegen bleibt es dabei, dass die Sicherungsverwahrung eine präventive Sicherungshaft ist, die nichts mehr mit der Schuld des Täters zu tun hat. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird - das will ich zugestehen - ein Spagat zwischen der Versachlichung der Debatte und der Beibehaltung des Populismus versucht. Es ist richtig und zu begrüßen, dass der Anspruch besteht, dass die Unterbringung einer individuellen und intensiven Betreuung bedarf. Es ist richtig und unterstützenswert, dass ein Rechtsanspruch auf Therapie zumindest angedeutet wird. Und es ist richtig, dass eine Entlassung durch die Gerichte dann ansteht, wenn keine angemessene Betreuung stattfindet. Das ist zu begrüßen. Aus unserer Sicht aber völlig absurd ist, dass die Sicherungsverwahrung auf das Jugendstrafrecht ausgedehnt wird. Man muss sich einmal fragen, ob es überhaupt noch ein Verständnis dafür gibt, was der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht bedeutet und dass dem Entwicklungsstand entsprechende Reaktionen erfolgen sollen. Zudem ist es völlig absurd, den ganzen Katalog der Anlassstraftaten beizubehalten. Die Kollegin Lambrecht hat darauf hingewiesen, was in diesem Zusammenhang alles möglich ist. Es ist ausdrücklich zu unterstützen, was sie gesagt hat. Ich will aber eine kleine Fußnote nicht unerwähnt lassen: dass nämlich auch die SPD dem Gesetzentwurf mit dem riesigen Katalog von Anlassstraftaten damals zugestimmt hat. ({7}) Kurz und gut: Das Gesetz bleibt trotz weniger guter Ansätze schlecht. Es kann auch nur schlecht sein, weil es sich um die Umsetzung eines noch schlechteren Gesetzes kümmert. Was wir statt solcher Gesetze brauchen, ist eine Offensive für eine rationale Kriminalpolitik, die sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht an Stammtischparolen orientiert. Dazu leistet der Gesetzentwurf alles in allem keinen Beitrag. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Stadler, Ihren Ausführungen zu den Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes habe ich bei jedem Wort Ihr Unbehagen entnommen, das Sie bei der Formulierung dieses Teils Ihrer Rede hatten. Ich kann das ehrlich gesagt auch nachvollziehen. Einige Zahlen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die wir in der Sachverständigenanhörung erfahren haben: Wir haben in Deutschland seit 1995 den niedrigsten Stand der Jugendkriminalität - und zwar nicht deswegen, weil die Anzahl der Jugendlichen abnimmt, sondern gemessen pro 100 000 Jugendliche. Dieser Rückgang beträgt 20 Prozent. Auf dem besonderen Feld der Jugendgewalt beträgt der Rückgang zwischen 2007 und 2011 sogar 22 Prozent. Bei von Jugendlichen begangenen Tötungsdelikten haben wir von 1993 bis 2011 einen Rückgang von 31 Prozent. Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen, die besonders valide ist, weil sie praktisch kein Dunkelfeld hat, weil fast alle Fälle von der Versicherung erfasst werden: Bei Körperverletzungen unter Jugendlichen auf dem Schulhof haben wir zwischen 1997 und 2012 einen Rückgang der Kriminalität um über 50 Prozent. Was ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich der Grund für diesen, über einen langen Zeitraum nicht nur marginalen, sondern ganz erheblichen Rückgang der Jugendkriminalität? Man könnte denken, ein scharfes und hartes Jugendstrafrecht hätte dazu beigetragen. Das Gegenteil ist aber richtig. Wir haben in den letzten zehn Jahren, zwischen 2000 und 2010, 25 Prozent weniger verhängte Jugendhaftstrafen pro 100 000 Jugendliche. Wir haben zwischen 2003 und 2010 bei Freiheitsstrafen gegen Jugendliche von über fünf Jahren, also bei höchster Jugendkriminalität, einen Rückgang von rund 50 Prozent von 102 auf 53 Fälle. Der Einsatz des Jugendarrestes ist signifikant rückläufig. Das alles sind Erfahrungen aus unserem Fachgespräch; ich fand das phänomenal gut, was wir da gemacht haben. Aus einem europäischen Forschungsprojekt über die Entstehung von Jugendgewalt, das im Übrigen vom damaligen Bundesinnenminister Schäuble bezahlt wurde, wissen wir, dass ein Jugendlicher mit fünf und mehr kriminellen Kontakten ein 20- bis 30-faches Risiko hat, selbst Gewalttäter zu werden. Es gibt also bei Jugendlichen eine kriminologische „Ansteckungsgefahr“ in Cliquen, in Gangs, aber eben auch im Straf- und im Arrestvollzug - trotz bester Sozialprogramme. Die Rückfallquoten sind umso höher, je intensiver die Inhaftierung ist. Schon beim Arrest ist diese Quote hoch; beim Jugendstrafvollzug ist sie noch höher. Deshalb, meine Damen und Herren: Präventionspolitik, Jugendhilfe und ein mildes Jugendstrafrecht senken die Kriminalität. Diese wissenschaftliche Erfahrung konnten wir aus der Anhörung gewinnen. ({0}) Wie sollen wir vor diesem Hintergrund den Gesetzentwurf einschätzen, der uns jetzt vorliegt? Was sagen eigentlich die in Ihren Reihen noch vorhandenen vernünftigen Jugend- und Rechtspolitiker dazu, dass Sie völlig populistisch gegen wissenschaftliche Vernunft das Gegenteil dessen vorschlagen, was richtig wäre? ({1}) Der Vorsitzende des Rechtsausschuss, Siegfried Kauder, CDU, hat uns während der Sachverständigenanhörung Folgendes gesagt - im Protokoll nachlesbar -: Seien Sie froh über dieses Gesetz. Es hätte noch viel schlimmer kommen können mit einer Heraufsetzung der Mindeststrafen und mit Erwachsenenstrafrecht für alle 18-Jährigen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir lassen uns aber nicht erschrecken. Wir bleiben bei unserem Nein zu Ihrem Gesetzentwurf zur Verschärfung des Jugendstrafrechts. ({2}) Nun noch einige Worte zu dem Gesetzentwurf zur Sicherungsverwahrung. Der heute vorliegende Entwurf wahrt den Dreiklang der Reform - mit der Kritik, die Sie völlig zu Recht angebracht haben und die wir auch teilen -: Beschränkung auf schwerste Kriminalität im Gewalt- und Sexualbereich, Ausbau des Vorbehalts und Wegfall der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Wir haben im Grundsatz der Reform von 2010 zugestimmt. Wir sagen auch heute Ja zu diesem Reformansatz. Sie, Kollegen von der SPD, haben der damaligen Reform ebenfalls zugestimmt und somit auch der ersatzlosen Streichung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, ({3}) ohne den Bedarf nach alternativen Formen nachträglichen Wegsperrens angemeldet zu haben. ({4}) Zu Ihren heutigen Ausführungen sage ich Ihnen: Sie haben von Schutzlücken gesprochen, Frau Kollegin Lambrecht. Das ist in hohem Maße gefährlich, und Sie wissen das auch. ({5}) Wer von Schutzlücken spricht, der insinuiert, dass man alle Lücken schließen könnte. ({6}) In Wirklichkeit behaupten Sie damit, Sie wollten absolute Sicherheit. ({7}) Wenn Sie unsere Auffassung teilen - das haben Sie jahrelang gemacht -, dass es eine absolute Sicherheit nicht gibt, dann müssen Sie Schutzlücken in Kauf nehmen. ({8}) Die Fragestellung ist nicht, ob man Schutzlücken zulässt oder nicht, sondern ob es mit rechtsstaatlichen Mitteln möglich ist, Schutzlücken zu schließen. ({9}) Frau Lambrecht, Sie haben beim Thema Arrest die Fachwelt bemüht. Sie haben gesagt: Alle Fachleute sind dagegen. - Auch das ist ein gefährliches Argument. Die Fachwelt, die Psychiatrieverbände, alle erfahrenen Psychologen und Psychiater warnen uns eindringlich vor der Einführung des Begriffs der psychischen Störung ins Strafrecht. ({10}) Das wissen Sie ganz genau.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. - Wir werden über diese Frage sehr kontrovers und sehr ernsthaft in der Anhörung und auch weiterhin zu diskutieren haben. Auch wir sichern Ihnen von der Koalition eine konstruktive Debatte über den Gesetzentwurf zu, weil wir die Reform des Vollzugs begrüßen. Wir werden uns mit diesem ganz schwierigen Punkt, der durch den Bundesrat nachträglich in den Gesetzentwurf eingebracht werden soll, kritisch auseinandersetzen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion. - Entschuldigung, wir sollten die Reihenfolge Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse einhalten. Zunächst spricht Ansgar Heveling für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Herr Kollege Lischka, in einem Punkt werden wir durchaus etwas Ähnliches zu sagen haben, und zwar im Kontext der Sicherungsverwahrung. Die heutige Debatte ist zugleich Auftakt und Schlusspunkt zweier kriminalpolitischer Gesetzgebungsvorhaben. Der Gesetzentwurf zum sogenannten Warnschussarrest wird heute in zweiter und dritter Lesung beraten und beschlossen. Für die Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung nehmen wir heute die parlamentarischen Beratungen auf. Ohne Frage ist die Regelung des Rechts der Sicherungsverwahrung das rechtspolitisch bedeutsamere Vorhaben, weshalb ich mir erlaube, darauf zuerst einzugehen. Mit seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 und dem damit verbundenen Verdikt, alle Bestimmungen zur Sicherungsverwahrung seien verfassungswidrig, hat das Bundesverfassungsgericht seinerzeit zunächst einmal für einen Paukenschlag gesorgt. Mit der Verpflichtung, bis Mai 2013 für eine Neuregelung zu sorgen, hat es den Gesetzgeber unter möglicherweise heilsamen Zugzwang gesetzt. Gleichzeitig hat Karlsruhe durch die weitreichende Entscheidung aber auch die Möglichkeit eröffnet, die Materie tatsächlich grundlegend neu zu regeln. Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich das Recht der Sicherungsverwahrung durch die zahlreichen Änderungen in den Jahren 1998, 2002, 2003, 2004, 2007 und 2008 zu einem nur noch schwer zu durchschauenden Konglomerat von Regelungen entwickelt hatte. Ich will nicht verhehlen, dass es eine Reihe von Aspekten gibt, die man sowohl in den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kritisch betrachten kann. So findet die verfassungsrechtlich gebotene Verpflichtung des Staates zum Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger in der Karlsruher Entscheidung mit keinem Wort Erwähnung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte führt demgegenüber diesen auch im Regime der Menschenrechtscharta zu berücksichtigenden Aspekt zwar an, wägt ihn aber nicht erkennbar ab. Gleichzeitig aber muss man anerkennen, dass es dem Bundesverfassungsgericht gelungen ist, einerseits eine dogmatisch stimmige Integration der Vorgaben des EGMR in das deutsche Rechtssystem vorzunehmen, ohne andererseits grundlegende Prinzipien der deutschen Strafrechtssystematik im Hinblick auf die Sicherungsverwahrung gänzlich aufzugeben. Das beginnt damit, dass das Bundesverfassungsgericht - wie im Übrigen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch - das Instrument der Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich infrage stellt. Des Weiteren - und hier hat sich Karlsruhe eindeutig anders positioniert als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - sieht das Bundesverfassungsgericht die Sicherungsverwahrung nach wie vor nicht als Strafe an. Es hält damit an der Zweispurigkeit unseres deutschen Strafrechtssystems fest. Summa summarum haben EGMR und Bundesverfassungsgericht aber die Spielräume des Gesetzgebers sehr eingegrenzt. Zu Beginn der Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung lässt sich allerdings bereits festhalten, dass im vorliegenden Entwurf viele dieser Spielräume tatsächlich genutzt und alle wesentlichen durch das Bundesverfassungsgericht aufgegebenen Handlungsaufträge abgedeckt werden. ({0}) Da ist vonseiten der Bundesregierung, vonseiten des Bundesjustizministeriums zunächst einmal in einem politisch wie justiziell nicht einfach zu beackernden Feld gute, strukturierte und stimmige Arbeit geleistet worden. Auch wenn der Zeitplan im Hinblick auf die Regelungsfrist bis Mai 2013 straff ist, lässt die jetzige Beratung auch den Ländern noch ausreichend Zeit, ihren Teil der Umsetzung eines freiheitsorientierten und therapiegerechten Gesamtkonzepts zu regeln. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bund und den Ländern die Regelung gemeinschaftlich aufgegeben. Das mag verfassungsrechtliche Bedenken herausfordern; diese sind aber praktisch zunächst einmal unbeachtlich. Damit ist zwingend ein kooperatives Vorgehen von Bund und Ländern erforderlich. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in den nächsten Wochen erwartet uns sicher viel Arbeit mit und an dem Gesetzentwurf. Die Sachverständigenanhörung ist schon für die nächste Woche terminiert. Trotz des ambitionierten Zeitplans möchte auch ich bereits an dieser Stelle ausdrücklich anbieten: Wir sind zur Diskussion und zum Austausch über die Fraktionsgrenzen hinaus bereit, ({1}) und wir sollten das, was beispielgebend bereits beim Therapie- und Unterbringungsgesetz praktiziert wurde, auch hier fortführen. Wir haben seinerzeit ja auch schon sehr intensiv über die Frage der Anlasstaten beraten. Frau Kollegin Lambrecht, Sie haben das eben angesprochen. Ihre Sorge im Hinblick auf das Bundesverfassungsgericht teilen wir an dieser Stelle allerdings nicht, weil es sich in seinen bisherigen Entscheidungen nicht weiter zu den Anlasstaten geäußert hat. ({2}) Dass wir über die Fraktionsgrenzen hinweg zu Gesprächen bereit sind, hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung für die gesamte Gesellschaft so wichtig und bedeutsam ist. Auch wenn der Gesetzentwurf bereits viele Aspekte abdeckt, gibt es noch einige Punkte, über die wir uns sehr ernsthaft und intensiv austauschen, die wir beraten und klären müssen. Oberstes Ziel muss es natürlich sein, eine verfassungsfeste Neuregelung zu beschließen; denn - ohne Frage - auch das zu beschließende Gesetz wird sicherlich den Weg zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe finden. Unser Ziel ist daher, ein sauberes und ordentliches Fundament für die Sicherungsverwahrung zu finden. Dies ist aufgrund des gebotenen Abstands zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung nicht einfach. Die Kriterien der europäischen Menschenrechtscharta sind dabei der taugliche Anknüpfungspunkt. Die Berührung juristischer und medizinischer Begrifflichkeiten, wie es bei der „psychischen Störung“ zum Ausdruck kommt, ist dabei ganz besonders in den Blick zu nehmen. Schließlich gibt es aber auch noch einen aus unserer Sicht gänzlich offenen Punkt: die nachträgliche Sicherungsanordnung. Hierzu werden in dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf überhaupt keine Aussagen getroffen. Das Bundesverfassungsgericht hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich infrage gestellt, skizziert aber, dass es hierfür strengerer Anforderungen als bisher bedarf. Das macht eine gesetzliche Regelung zwar nicht einfacher, schließt sie aber eben auch nicht aus. Die Bundesregierung hat zugesagt, die Regelung der nachträglichen Sicherungsanordnung im weiteren Verfahren zu prüfen. Zahlreiche Bundesländer sprechen sich ebenfalls dafür aus, ({3}) auch in Zukunft die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung vorzusehen. Dementsprechend hat sich der Bundesrat bereits für eine nachträgliche Therapieunterbringung ausgesprochen. Auch wir als CDU/ CSU sind nach wie vor der Auffassung - das wiederhole ich gern, Frau Kollegin Lambrecht -, dass wir auf dieses Instrument nicht verzichten sollten. Wir müssen uns daher mit dieser Frage in der weiteren Beratung sehr ernsthaft und intensiv auseinandersetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung von Mai 2011 ganz besonders die Rechte der in der Sicherungsverwahrung befindlichen Personen in den Blick genommen und vor diesem Hintergrund ein freiheitsorientiertes und therapiegerechtes Gesamtkonzept eingefordert. Dieser Therapieoptimismus wird zwar auch in der Fachwelt durchaus kritisch gesehen, aber er wird aufgrund der Verfassungsgerichtsentscheidung ohne Frage die Neuregelung prägen. Aber bei alledem dürfen wir als Gesetzgeber einen zweiten Auftrag nicht vernachlässigen: Wir stehen in der Pflicht, für Regelungen zu sorgen, die helfen, die Menschen, die Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern zu schützen. Diesen Schutzanspruch haben wir im Blick, und wir werden ihn mit in die weiteren Beratungen tragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für das zweite Vorhaben, den sogenannten Warnschussarrest, bleibt mir nun nicht mehr viel Zeit, eigentlich überhaupt keine. Wir haben darüber aber auch schon sehr ausführlich und kontrovers debattiert. Gerade aus den Reihen der Praktiker wurde die Einführung des Warnschussarrests durchaus positiv bewertet; das hat aus unserer Sicht die Sachverständigenanhörung ergeben. Ohne Frage: Das Instrument ist weder Allheilmittel noch für alle jugendlichen Straftäter geeignet. Das hat aber auch von unserer Seite niemand behauptet. Wir sehen den Warnschussarrest als Ergänzung zu den bereits bestehenden vielfältigen und differenzierten Sanktionsmöglichkeiten des Jugendstrafrechts, mit denen verantwortungsvolle Jugendrichter schon jetzt im Einzelfall die individuell richtigen Maßnahmen anordnen können.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bislang war es den Jugendgerichten dabei versperrt, neben der Bewährungsstrafe weitere Weisungen zu erteilen. Das wird in Zukunft möglich sein. Dafür öffnen wir, wenn wir das Gesetz gleich beschließen, die Tür. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion. ({0})

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, zunächst einmal das Positive vorweg: Sie von Schwarz-Gelb haben zur Abwechslung zwei Gesetzentwürfe zur Rechtspolitik auf einmal auf den Weg gebracht. Das ist nicht ganz selbstverständlich. Ansonsten herrscht ja gerade in der Rechts- und Innenpolitik zwischen Ihnen viel Streit. ({0}) Sie glänzen durch Nichtstun, siehe Vorratsdatenspeicherung. Den Hinweis will ich mir jetzt doch nicht verkneifen: Das kostet den deutschen Steuerzahler demnächst eine Menge Geld, ({1}) voraussichtlich 315 000 Euro pro Tag, 120 Millionen Euro im Jahr. ({2}) Sie verpulvern durch Nichtstun und Streit das Geld der Steuerzahler. Das hat in der Größenordnung noch keine Bundesregierung hinbekommen; das will ich Ihnen einmal deutlich sagen. ({3}) In der Politik - den Vorteil haben Sie - gibt es für ein solches Versagen keinen Warnschuss; aber auf die richtige Bahn müssen Sie eigentlich auch einmal gebracht werden. ({4}) Das gilt übrigens auch für die beiden Gesetzentwürfe, die wir heute hier debattieren. Die sind auch noch nicht auf der richtigen Bahn. Frau Voßhoff hat das angedeutet; Herr Heveling hat das im Bereich der Sicherungsverwahrung angedeutet. ({5}) Herr Krings von der Unionsfraktion hat vor ein paar Wochen sehr deutliche Worte gefunden. Er hat am 7. März 2012 eine Presseerklärung herausgegeben, aus der ich zitieren darf: Das Bundesjustizministerium hat es leider versäumt, den geringen Spielraum - des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichtes komplett auszuschöpfen. Daher bleibt eine Schutzlücke bestehen. Derjenige, dessen besondere Gefährlichkeit sich erst während der Haft zeigt, kann nach dem Entwurf nicht untergebracht werden. Jetzt kommt es: Die Union wird die Länder bei der Durchsetzung einer nachträglichen Unterbringungsmöglichkeit für hochgradig gefährliche und psychisch gestörte Straftäter unterstützen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich kann nur sagen: Nur zu, machen Sie das! In diesem Gesetzentwurf befindet sich bisher überhaupt nichts, was eine nachträgliche Therapieunterbringung ermöglichen würde. Im Klartext bedeutet das: Wird dieser Gesetzentwurf so verabschiedet, müssten in Zukunft höchstgefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter mit extremem Rückfallrisiko in die Freiheit entlassen werden, wenn sich die Gefährlichkeit erst nach der Verurteilung zeigt. Das ist unverantwortlich und inakzeptabel. Das werden wir als SPD auch nicht mitmachen; denn für uns hat der Schutz unserer Bevölkerung oberste Priorität. ({6}) Deswegen sage ich an die Adresse der Union: Wenn Sie es wirklich ernst damit meinen, diese eklatante Schutzlücke schließen zu wollen, dann lassen Sie uns den Gesetzentwurf der Länder verabschieden. Der liegt doch vor. An den Stimmen der SPD wird es jedenfalls nicht scheitern; denn die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger, so finden wir, eignet sich nicht für parteitaktische Spielchen. Lassen Sie Ihren Worten endlich auch einmal Taten folgen! Die Vorschläge, die Sie uns mit dem zweiten Gesetzentwurf präsentieren - Warnschussarrest und Heraufsetzung der Höchststrafe für Heranwachsende -, sind Vorschläge aus der strafrechtlichen Mottenkiste. Richterbund, Strafrichter, Strafverteidiger, Jugendrichter, Jugendanstaltsleiter, Bewährungshelfer, Polizeigewerkschaft sie alle schütteln bei diesen Vorschlägen nur noch mit dem Kopf. Es hört sich ganz toll an, einen Jugendlichen mit einem Warnschuss auf die richtige Bahn bringen zu wollen. Aber ein Jugendlicher, der zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden ist - und um die geht es doch hier -, hat Kriminalitätserfahrung. Er hatte auch schon mehrere Warnschüsse; er hat sie nur überhört. Es ist geradezu naiv, zu glauben: Dem gebe ich ein paar Tage oder zwei, drei Wochen Stubenarrest, und alles wird gut. Den stecke ich mit einem Haufen anderer krimineller Jugendlicher zusammen, und sie denken dann gemeinsam darüber nach, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist, und kommen als geläuterte Menschen aus dem Knast und begehen fortan keine Straftaten mehr. - Das ist doch die reinste Voodookriminalpolitik, die Sie hier betreiben. ({7}) Wir alle wissen, dass bei diesen Jugendlichen meistens nur eines hilft: eine schnelle Verfolgung und eine schnelle Verurteilung. Zudem brauchen sie häufig eine Schadenswiedergutmachung - gemeinnützige Arbeit, Interventionsmaßnahmen -, zur Not auch einen Bewährungshelfer, der ihnen auf die Füße tritt. Das senkt die Rückfallquote. Das zeigen alle Erfahrungen und Statistiken. Jugendliche in einen Arrest zu stecken, der eine Kontaktbörse für Kriminelle ist, von denen fast 70 Prozent wieder rückfällig werden, das hat mit einer erfolgreichen Bekämpfung der Jugendkriminalität überhaupt nichts zu tun Genauso unsinnig ist die von Ihnen geplante Heraufsetzung der Höchststrafe für Heranwachsende von 10 auf 15 Jahre. Wäre die Bundesjustizministerin hier, würde sie sich schütteln, dass sie diesen Unsinn mitmachen muss. Ganze sechs bis sieben Jugendliche und Heranwachsende erhalten in Deutschland jedes Jahr die Höchststrafe von 10 Jahren. Für diese Handvoll Straftäter machen Sie ein Gesetz, und das verkaufen Sie als erfolgreiche Rechtspolitik; das ist doch lächerlich. Wen Sie nach 10 Jahren im Knast nicht zur Besinnung gebracht haben, den werden Sie auch nach 15 Jahren nicht auf die vernünftige Bahn bekommen. ({8}) Sie werden diesen Gesetzentwurf gleich verabschieden, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP. Aber auch die FDP weiß: Mit einer vernünftigen und guten Rechtspolitik hat das überhaupt nichts zu tun. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute zwei Gesetzentwürfe, die eines gemeinsam haben: In beiden Fällen geht es um die Frage der Angemessenheit und der Ausgestaltung von staatlichen Sanktionen für strafbares Verhalten. Zur Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes. Gerade in diesem Bereich ist es aus meiner Sicht ganz wichtig, dass der Staat deutlich und bestimmt reagiert, wenn junge Leute gegen die Rechtsordnung und gegen die Wertegemeinschaft verstoßen. Mit der Implementierung des Warnschussarrests in das Jugendgerichtsgesetz wird eine langjährige Forderung, insbesondere der CSU, umgesetzt. ({0}) Ich kann nicht verstehen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie das als „Instrumente aus der strafrechtlichen Mottenkiste“ titulieren. Worum geht es denn ganz konkret? Es geht darum, dass jugendliche Straftäter, die eine Freiheitsstrafe erhalten haben, welche zur Bewährung ausgesetzt wird, das in der Praxis leider Gottes häufig als „Freispruch zweiter Klasse“ empfinden und vielleicht sogar sich dessen rühmend den Gerichtssaal verlassen. Ich nehme es sehr wohl ernst, wenn uns Praktiker sagen, sie sähen das konkrete Bedürfnis, derartigen Straftätern neben der zur Bewährung ausgesetzten Strafe einen temporären Warnschussarrest aufzubrummen, damit verhindert wird, dass sie rückfällig werden. ({1}) Ich bin der festen Überzeugung, dass das Instrument des Warnschussarrests in bestimmten Fällen geeignet ist, den Beginn einer strafrechtlichen Karriere von vornherein zu verhindern. ({2}) Deswegen halte ich es für richtig, dass dieser Warnschussarrest eingeführt und das bisher geltende Koppelungsverbot, normiert in § 8 Abs. 2 Satz 1 JGG, aufgehoben wird. Mit der Implementierung des Warnschussarrests in das Jugendgerichtsgesetz verknüpfe ich auch die Hoffnung, dass die Länder dafür sorgen, dass die Verfahren gegen jugendliche und heranwachsende Straftäter schneller durchgeführt werden als bisher. Auch hier gilt der Grundsatz: Schnelles Recht ist gutes Recht. Gerade für junge Menschen, die in manchen Bereichen vielleicht noch nicht über die notwendige geistige Reife verfügen, ist es wichtig, ihnen sehr schnell und unmittelbar vor Augen zu führen, welche Folgen es hat, wenn sie sich strafrechtlich signifikant verhalten und gegen unser Strafrecht verstoßen. Des Weiteren habe ich die Hoffnung, dass die Jugendrichter sehr maßvoll, in Einzelfällen aber durchaus dezidiert von der Möglichkeit des Warnschussarrests Gebrauch machen. Dieser Arrest ist eine flexible und zeitgemäße Ausweitung des Instrumentenkastens im Jugendgerichtsgesetz. Gleiches gilt für die Erhöhung des Strafrahmens von 10 auf 15 Jahre, zumindest in einigen Ausnahmefällen. Solche Fälle gibt es leider auch bei jugendlichen oder heranwachsenden Straftätern. Manche von ihnen lassen sich derart gravierende, hochkriminelle Straftaten zuschulden kommen, dass die Möglichkeit der Verhängung einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren erforderlich wird, um ein gerechtes Unwerturteil bezüglich dieser Strafe zu fällen. Ich möchte auch einige durchaus positive Beispiele aus der Praxis erwähnen, zum Beispiel das Neuköllner Modell hier in Berlin oder das Bamberger Modell in Bayern. Bei diesen Modellen werden den jugendlichen Straftätern die Folgen ihres strafbaren Verhaltens sehr schnell und konsequent vor Augen geführt. ({3}) Ich komme zum zweiten Gesetzentwurf, der heute in erster Lesung beraten wird, nämlich zur Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung. Wir setzen konsequent und meines Erachtens sehr schnell, Frau Kollegin Lambrecht - wir hätten sogar noch ein Jahr mehr vom Bundesverfassungsgericht eingeräumt bekommen -, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai letzten Jahres um. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Forderung und der Wunsch des Bundesrates, das Instrument der nachträglichen Therapieunterbringung noch in das Gesetz aufzunehmen, ernsthaft und ausführlich geprüft werden sollte. Mit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wird man sicherlich nicht allen Fällen gerecht. Es gibt durchaus Fälle, in denen es erforderlich ist, daneben auch die nachträgliche Therapieunterbringung verhängen zu können. Im Freistaat Bayern ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung in den Jahren 2005 bis 2010 in genau vier Fällen verhängt worden. Man sieht: Von dieser Möglichkeit wird sehr maßvoll und sehr dezidiert Gebrauch gemacht. Wenn man sich das Ganze an einem konkreten Fall verdeutlicht, wird jeder sehr schnell Verständnis dafür haben, dass es dieses zusätzlichen Instruments im Strafgesetzbuch auch weiterhin bedarf. Ich möchte Ihnen einen Fall nennen: Ein männlicher Straftäter hat verschiedene weibliche Familienangehörige in vielen Fällen - insgesamt über 1 000; das ist wirklich unvorstellbar - sexuell belangt; er hat sich des sexuellen Übergriffs strafbar gemacht, teilweise auch der Vergewaltigung. Er ist zu Recht zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im Laufe des Strafvollzugs und Stephan Mayer ({4}) der dabei unternommenen Therapieversuche ist dann erkannt worden, dass er eine Schizophrenie aufweist, dass also durchaus die Gefahr besteht, dass er nach Beendigung seines Strafvollzugs neben Familienangehörigen auch Dritte belangen wird. In dem Fall ist - meines Erachtens richtigerweise - die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet worden. Es gibt immer wieder einmal Fälle, in denen im Rahmen des Strafvollzugs und entsprechender Therapieunterbringungen Fälle von Schizophrenie, aber auch multipler sexueller Übergriffe auftreten, weshalb aus meiner Sicht die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunterbringung aufrechterhalten werden muss und ins Gesetz aufgenommen werden sollte. Wir haben am 27. Juni eine Sachverständigenanhörung. Ich hoffe, dass dieser Punkt im Rahmen der Sachverständigenanhörung vonseiten der Experten intensiv beleuchtet wird. Ich möchte einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen, den der Bundesrat ebenfalls in seine Stellungnahme aufgenommen hat. Hier geht es um die Neufassung des § 67 a Abs. 2 Satz 2 StGB. Wenn der Satz so bliebe, wie er jetzt im Entwurf steht, bestünde die konkrete Gefahr, dass es zu einer Erhöhung der nicht unerheblichen Zahl an Überweisungen von höchstgefährlichen, nicht therapiefähigen und teilweise nicht therapiewilligen Straftätern in den psychiatrischen Maßregelvollzug kommt. Das bedeutet ganz konkret, dass zum Beispiel in Bezirkskrankenhäusern einerseits Menschen, die nicht oder nur teilweise schuldfähig sind, therapiert werden, andererseits ein paar Türen weiter voll schuldfähige Straftäter, die überhaupt nicht therapiewillig und auch gar nicht therapiefähig sind. Dies ist aus meiner Sicht schon aus Sicherheitserwägungen nicht hinnehmbar. Ich sage aber ganz offen: Ich glaube, dass mit dieser Regelung der Intention des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht entsprochen wird. Es kann nicht sein, dass Personen, die gar keine psychische Erkrankung aufweisen, in psychiatrisch-forensischen Kliniken untergebracht werden. Ich glaube, dass dringender Änderungsbedarf gegeben ist, was § 67 a Abs. 2 Satz 2 im Entwurf anbelangt. Insoweit steht uns insbesondere im Rahmen der jetzt anstehenden Sachverständigenanhörung durchaus noch einiges an Arbeit bevor. Zum einen hoffe ich, dass unser Gesetzentwurf zur Aufnahme des Warnschussarrests und zur Erhöhung der Höchststrafe für Jugendliche von 10 auf 15 Jahre in diesem Haus eine möglichst große Mehrheit findet. Zum anderen freue ich mich auf intensive und konstruktive Verhandlungen und Gespräche zu unserem zweiten Gesetzentwurf, was die Novellierung der Sicherungsverwahrung anbelangt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9874 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9990, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9389 in der Ausschussfassung anzunehmen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, über Art. 1 Nr. 9 einerseits und über den Gesetzentwurf im Übrigen andererseits getrennt abzustimmen. Ich rufe also zunächst Art. 1 Nr. 9 in der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Art. 1 Nr. 9 ist einstimmig angenommen. Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Alle Teile des Gesetzentwurfs sind damit in zweiter Beratung mit der Mehrheit der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, möchte ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen, die wir vorhin vorgenommen haben, übermitteln. Zunächst zur Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums gemäß Art. 45 d des Grundgesetzes: abgegebene Stimmen 576, ungültige Stimmen 3, gültige Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 516, mit Nein haben gestimmt 19, Enthaltungen 38. Der Abgeordnete Michael Grosse-Brömer hat 516 Stimmen erhalten. Die erforderliche Mehrheit wurde erreicht. Er ist damit gewählt. Wir kommen zum Ergebnis der Wahl der ordentlichen Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmkarten 580, davon gültig 579, ungültige Stimmen 1. Nun kommen wir zu den einzelnen Personen. Von den gültigen Stimmen entfielen wie folgt auf die Abgeordneten Norbert Barthle: Ja 492, Nein 38, Enthaltungen 33, Bartholomäus Kalb: Ja 500, Nein 33, Enthaltungen 36, Eckhardt Rehberg: Ja 489, Nein 42, Enthaltungen 36, Michael Stübgen: Ja 479, Nein 45, Enthaltungen 43, Lothar Binding: Ja 514, Nein 27, Enthaltungen 23, Petra Merkel: Ja 510, Nein 33, Enthaltungen 19, Florian Toncar: Ja 483, Nein 49, Enthaltungen 30, Dietmar Bartsch: Ja 434, Nein 70, Enthaltungen 35, Priska Hinz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Ja 488, Nein 35, Enthaltungen 30. Diese neun Abgeordneten haben also die erforderliche Mehrheit erreicht. Sie sind damit als ordentliche Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes gewählt. Wir kommen zum Ergebnis der Wahl der stellvertretenden Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmen 580, davon gültig 579, ungültige Stimmen 1. Die gültigen Stimmen entfielen wie folgt auf die Abgeordneten Norbert Brackmann: Ja 506, Nein 25, Enthaltungen 36, Klaus-Peter Flosbach: Ja 498, Nein 30, Enthaltungen 39, Alois Karl: Ja 493, Nein 30, Enthaltungen 43, Bernhard Schulte-Drüggelte: Ja 496, Nein 27, Enthaltungen 42, Michael Roth: Ja 496, Nein 35, Enthaltungen 25, Rolf Schwanitz: Ja 478, Nein 49, Enthaltungen 24, Joachim Spatz: Ja 486, Nein 43, Enthaltungen 37, Roland Claus: Ja 403, Nein 86, Enthaltungen 39, Manuel Sarrazin: Ja 471, Nein 42, Enthaltungen 40. Diese neun Abgeordnete haben also auch die erforderliche Mehrheit erreicht, und sie sind damit als stellvertretende Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes gewählt. Das war noch nachzutragen. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Risiken der Riester-Rente offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln - Drucksache 17/9194 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Matthias W. Birkwald für die Fraktion Die Linke das Wort. ({2})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor mehr als elf Jahren haben SPD und Grüne eine einschneidende Rentenreform auf den Weg gebracht. Am 16. November 2000 sagte der damalige Bundessozialminister Walter Riester hier im Plenum - ich zitiere -: Wir haben das Ziel, das Versorgungsniveau im Alter insgesamt zu erhöhen. Und er behauptete - Zitat -: Wir ergänzen die gesetzliche Rente mit einer zusätzlichen kapitalgedeckten Rente und werden damit das Rentenniveau insgesamt dauerhaft anheben. Heute ist klar: Dieses Versprechen war heiße Luft. Es hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun, heute nicht, morgen nicht und übermorgen auch nicht. Das ist die traurige Wahrheit. ({0}) Um die Beiträge im Interesse der Arbeitgeber niedrig und stabil zu halten, wurden das Rentenniveau gesenkt und die Riester-Rente eingeführt. Das bedeutet eine dramatische Kürzung der gesetzlichen Renten. Wer im Jahr 2001 eine Rente von 1 000 Euro hatte, wird sich im Jahr 2030 mit 765 Euro bescheiden müssen. Um den einmal erreichten Lebensstandard auch im Alter halten zu können, sollten die Menschen fortan privat vorsorgen, beschloss Rot-Grün. Heute wissen wir, wer die Gewinnerin ist. Es ist die Versicherungswirtschaft. Sie kann sich über Mehreinnahmen in Milliardenhöhe freuen. Ebenfalls freuen können sich die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen. Sie müssen nämlich weniger in die Rentenkasse zahlen, weil sie sich nicht an der privaten Riester-Vorsorge beteiligen müssen. Wir wissen aber auch, wer die Verliererinnen und Verlierer sind. Es sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie sollen einen Teil der Altersvorsorge ganz allein tragen. Das ist sozial höchst ungerecht und durch nichts zu rechtfertigen. ({1}) Aber es kommt noch schlimmer. Derzeit spricht nämlich alles dagegen, dass mit der privaten Vorsorge die politisch willkürlich gerissene Altersvorsorgelücke tatsächlich geschlossen werden könnte. Das heißt, die Versiche-rungswirtschaft und die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber profitieren garantiert, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden bestenfalls mit ungedeckten Versprechen entlassen. Hier liegt der sozialpolitische Skandal. Da müssen wir heran. Da will die Linke heran, als einzige bisher. ({2}) Die Riester-Rente steht seit langem völlig zu Recht in der Kritik. Sie ist intransparent; denn die hohen Kosten und die schmalen Renditen sind durch die Sparerinnen und Sparer kaum zu erkennen. Sie ist unwirtschaftlich; denn die Verwaltungskosten sind viel zu hoch. Das ist ein Grund dafür, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung klar und deutlich sagt - ich zitiere -: Riestern ist oft nicht besser, als das Geld in den Sparstrumpf zu stecken. Nicht zuletzt versagt die Riester-Rente in sozialpolitischer Hinsicht auf ganzer Linie; denn die Riester-Reformen sorgen weder für eine Lebensstandardsicherung und schon gar nicht für ein Leben im Alter frei von Armut. Das heißt: Die Riester-Rente löst die Probleme nicht. Sie ist ein Irrweg. ({3}) Die staatlichen Subventionen in Milliardenhöhe fließen ganz zuverlässig in die Taschen der Versicherungsunternehmen. Aber was kommt davon bei den Sparerinnen und Sparern an? Was trägt die Riester-Rente dazu bei, den Lebensstandard zu sichern? Was trägt die Riester-Rente dazu bei, im Alter ein Leben frei von Armut führen zu können? Auf diese wichtigen Fragen gibt es von der Bundesregierung bisher kaum brauchbare Antworten. Das muss sich ändern. Darum fordern wir Linken die Bundesregierung auf, einmal im Jahr einen umfangreichen Riester-Bericht vorzulegen. ({4}) Nach Auskunft der Bundesregierung sind seit 2001 15,5 Millionen Riester-Verträge abgeschlossen worden. Doch das ist keine Erfolgsstory. Diese absolute Zahl hat nur dann Aussagekraft, wenn die Gesamtzahl der potenziellen Riester-Sparerinnen und -Sparer bekannt ist. Aber diese Zahl kann die Bundesregierung nicht nennen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt die Zahl der Riester-Berechtigten auf ungefähr 37,5 bis 42 Millionen. Das heißt, dass nur etwa 37 bis 41 Prozent von denen, die eigentlich riestern dürften, dies überhaupt tun. Aber Vorsicht! Die Anzahl der Verträge sagt nichts aus über die tatsächliche Zahl der Menschen, die riestern, da einzelne Personen mehrere Verträge haben, und es ist zu bedenken, dass nur diejenigen eine theoretische Chance haben, ihre Versorgungslücke zu schließen, die eine volle Zulagenförderung erhalten. Die bekamen 2010 aber gerade einmal 5,4 Millionen oder 13 bis 14 Prozent der möglichen Riester-Sparerinnen und -Sparer. Noch nicht einmal diese kleine Gruppe hat von den staatlichen Zulagen etwas; denn laut Zeitschrift Öko-Test fressen die Vertragskosten fast die gesamten Zulagen auf. So sieht es aus! Hinschauen statt Schönreden ist hier gefragt. Deshalb müssen solche Daten regelmäßig auf den Tisch gelegt werden. ({5}) Das, was wir aus dem Rentenversicherungsbericht 2011 über die Riester-Rente erfahren können, reicht für eine Bewertung nicht aus. Nicht von ungefähr kritisiert das DIW, dass die ganze Riesterei eine „Politik ohne Marktbeobachtung“ sei, dass es sich bei den Jubelmeldungen der Bundesregierung um „Erfolgsmeldungen ohne Fundament“ handele. Nur aus der unabhängigen Forschung gibt es immer wieder Studien, die nachweisen: „Die Riester-Reform ist ein Flop“, und das gilt insbesondere für Menschen mit wenig Geld. Das Mindeste, das alle Bürgerinnen und Bürger von der Regierung erwarten können, ist, dass sie regelmäßig die Folgen ihrer Rentenpolitik überprüft und transparent macht. In Sachen Riester gehört aus unserer Sicht zum Beispiel Folgendes dazu: Wie wirken sich die Rentenkürzungen und die Riesterei auf Menschen mit geringem Einkommen aus? Warum glaubt die Versicherungswirtschaft, dass die Menschen so viel länger leben, als es das Statistische Bundesamt annimmt? Wie entwickelt sich das Rentenniveau nach Steuern und Abgaben aus der gesetzlichen Rente und aus der Riester-Rente? Die Linke will, dass in Sachen Riester endlich Klarheit und Wahrheit herrschen. ({6}) Das, was bisher bekannt ist, kann nur zu einer Forderung führen: Die Riester-Subventionen für die Versicherungswirtschaft müssen endlich in die Kassen der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden. Dorthin gehören sie. Dort helfen sie, den Lebensstandard zu sichern. Dort tragen sie dazu bei, im Alter frei von Armut leben zu können. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Mathias Middelberg für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Birkwald, das Bild, das Sie hier eben gezeichnet haben, war aus unserer Sicht - ich glaube, da spreche ich für einen Großteil dieses Hauses ein Zerrbild. Wir haben Defizite bei Riester; darüber darf man nicht hinwegreden. Diese Defizite betreffen die Effizienz, die Rendite dieser Verträge. Auch wir sehen, dass der Verwaltungskostenanteil, die Vermittlergebühren und andere Posten zu hoch sind. Wir sehen auch, dass wir da zu deutlich mehr Transparenz kommen müssen. Wir brauchen auch mehr Transparenz für die Verbraucher, um Verträge vergleichbarer zu machen, um mehr Wettbewerb in diesem Markt zu erzeugen und um es für die Verbraucher einfacher zu machen. Aber wir ziehen daraus eine andere Schlussfolgerung als Sie. Wir sagen deshalb nicht, die private Zusatzvorsorge, Riester oder Rürup, ist Mist und muss weg, ({0}) sondern wir sagen: Das ist ein wichtiges zusätzliches Standbein der Altersvorsorge. Uns kommt es darauf an, diesen grundlegenden Schritt weiterzugehen, nämlich das Bewusstsein dafür zu wecken, für die eigene Altersversorgung zusätzlich privat vorzusorgen und auch zusätzlich private Mittel zu mobilisieren. Es wäre nicht damit getan, wenn wir die Zulagen, wie Sie es fordern, einfach in die normale Rentenkasse geben würden. Wir hätten dann eine noch wesentlich größere Rentenlücke; denn all die zusätzliche private Sparleistung, all das, was wir zusätzlich mobilisiert haben, würde dann von heute auf morgen wegfallen. Das würde die Probleme mitnichten lösen. ({1}) Es kommt also darauf an, das System effizienter zu gestalten. Ich will alle drei Säulen ansprechen; denn man muss die Altersvorsorge insgesamt betrachten. Zum System insgesamt hat ein bekannter und erfahrener Politiker in diesem Haus gesagt: „Wenn man sich die Rentenversicherungssystematik insgesamt anschaut, weiß man: Das Wichtigste, das man tun kann, ist, für Bildung, Qualifizierung und Arbeit zu sorgen.“ Die spätere Entwicklung hänge davon ab, wie sich Arbeitslosigkeit in diesem Lande entwickele. Das sagte Franz Müntefering 2006. Ich finde, er hatte recht. Damals, im März 2006, als Franz Müntefering das sagte, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose. Heute haben wir - das ist Ergebnis der Politik dieser Bundesregierung, aber durchaus auch Ergebnis der Politik der Großen Koalition - nur noch 2,7 Millionen Arbeitslose. Wir haben die gesetzliche Rentenversicherung deutlich stabilisiert, weil wir deutlich mehr Beitragszahler und wesentlich weniger Arbeitslose haben. Auch die Lohnsumme insgesamt und die durch Beiträge zur Verfügung stehende Summe sind erheblich gestiegen. 2006 hatten wir 26 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Im März 2012 hatten wir 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und damit mehr Einzahler in das gesetzliche System. Damit haben wir einen entscheidenden Beitrag für eine stabilere Altersvorsorge geleistet. ({2}) Es ist mir wichtig, dieses Grundlegende vorweg festzustellen. Ich möchte die zweite Säule, die betriebliche Altersvorsorge, ansprechen. Auch da, glaube ich, haben wir das sage ich für die Große Koalition - einen Schritt zur Stabilisierung getan; denn wir haben die steuerliche Begünstigung, die wir dort ursprünglich befristet eingerichtet hatten, 2008 entfristet und verlängert, sodass die betriebliche Altersvorsorge jetzt auf wesentlich stabileren und verlässlicheren Füßen steht als vorher. Die dritte Säule ist die private Zusatzvorsorge, also Riester und Rürup. Insofern begrüße ich den Antrag, den Sie gestellt haben, weil er uns die Gelegenheit gibt, über das System der privaten Zusatzversicherungen zu sprechen. Man sollte allerdings sachlich und vernünftig darüber diskutieren, was man an diesen Systemen optimieren kann. ({3}) Aus unserer Sicht sollten die Fördergrenzen angepasst werden, und man sollte sie mit der wirtschaftlichen Entwicklung mitlaufen lassen. Außerdem sollte man ein einheitliches Produktinformationsblatt zur Verfügung stellen, um endlich - davon haben auch Sie gesprochen Transparenz und Klarheit herzustellen; in diesem Punkt sind wir uns sehr einig. Wir brauchen Vergleichbarkeit; die jeweiligen Produkte müssen für den Normalverbraucher also leicht vergleichbar sein. Forderungen wie „Weg mit Riester!“ oder „Weg mit Rürup!“ helfen uns nicht. Was wir brauchen, sind Klarheit und Transparenz beim Vergleich der jeweiligen Produkte. ({4}) Erforderlich ist außerdem eine Deckelung der Wechselkosten, also der Kosten, die bei einem Anbieterwechsel anfallen. Ich halte es für sinnvoll, dass wir darüber hinaus eine Produktkontrolle durch die BaFin einrichten. Notwendig sind ferner Verbesserungen beim Erwerbsminderungsschutz; diesen Aspekt haben Sie gerade zwar nicht angesprochen, aber in Ihrem Antrag ist er erwähnt. Auch dieses Thema muss bei Rürup und Riester eine größere Rolle spielen. Uns, den Koalitionsfraktionen, schwebt außerdem vor, den altersgerechten Umbau in die Riester-Förderung einzubeziehen und damit den Wohn-Riester zu ertüchtigen. Ich glaube, wenn wir bei diesem Thema konstruktiv zusammenarbeiten - das sollten wir -, dann können wir Riester deutlich effizienter gestalten. Zugegeben - um das klar festzustellen -: Die Renditen bei Riester sind aus unserer Sicht nicht zufriedenstellend. Hier muss es zu Verbesserungen kommen. Das heißt aber nicht, dass man, wie es das DIW andeutet, das ganze System zurückschrauben und umbauen sollte. ({5}) Vielmehr geht es darum, Riester und Rürup effizienter zu gestalten. Ich glaube auch nicht, dass wir einen gesonderten Bericht über die private Altersvorsorge brauchen. Ich meine, dass wir dieses Thema in den Altersvorsorgebericht, den die Bundesregierung ohnehin abgibt, integrieren können. Auch über die zusätzlichen Daten, die im Bereich der privaten Altersvorsorge von Bedeutung sind, kann dort berichtet werden. Das erspart uns, denke ich, zusätzliche Bürokratie. Ich komme zum Schluss und weise auf das hin, was die OECD in der letzten Woche festgestellt hat. Sie hat die Rentenpolitik dieser Regierung und die Festlegungen, die die Große Koalition getroffen hat, durchaus gelobt. Die OECD hat zwei zentrale Feststellungen getroffen. Erstens hat sie festgestellt, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sei ein sinnvoller Schritt gewesen, um das Rentensystem tragfähiger zu machen. Die OECD geht sogar noch einen Schritt weiter und fordert die Schaffung eines Automatismus - in Dänemark beispielsweise gibt es einen solchen Automatismus schon -, und zwar dahin gehend, dass das Renteneintrittsalter im Zuge der steigenden Lebenserwartung automatisch steigt. Hier gab es für unsere politische Richtung also durchaus Lob. Zweitens macht die OECD deutlich, dass man die private Altersvorsorge nicht verdammen soll. Vielmehr sollte die private Altersvorsorge noch stärker und zielgerichteter gefördert werden. Ich stelle an dieser Stelle fest: Es gibt Verbesserungsbedarf. Aber der Kurs ist richtig. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion. ({0})

Petra Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über den vorliegenden Antrag freue ich mich sehr. Im Rahmen meiner Vorbereitungen auf die heutige Debatte bin ich das gesamte Gesetz zur Einführung der Riester-Rente aus dem Jahre 2002 durchgegangen. Ich habe jeden Antrag - auch jeden Antrag der Linken - und jede Kleine Anfrage zu diesem Thema gelesen. Außerdem habe ich mir Gutachten und zusätzliche Informationen beschafft, zum Beispiel von Finanztest, von Ökotest und vielen anderen, die sich mit diesem Thema befassen. Insbesondere Finanztest hat im Jahr 2005, im Jahr 2008 und im Jahr 2012 bescheinigt, dass sich das Riestern und eine entsprechende Zusatzversicherung lohnen; im letzten Heft vom Mai 2012 kam dies erneut sehr deutlich zum Ausdruck. Ich muss dazusagen - das ist dann die andere Seite der Medaille -, dass es, wie die Kollegen hier gerade auch beschrieben haben, einen Nachbesserungsbedarf gibt. Das Gesetz wurde vor über zehn Jahren verabschiedet. Es wurde immer wieder nachgefragt, und es wurden Erfahrungswerte festgestellt. Ich möchte den hier im Plenum erleben, der nicht sagt, dass es noch einen Nachbesserungsbedarf gibt. Das stelle ich hier und heute anhand des Antrages auch fest. Insofern freue ich mich sehr, dass sich die Finanzer nach der Überweisung an den Finanzausschuss mit diesem Thema beschäftigen sollen. Überall da, wo Probleme auftauchen oder wo es einen Verbesserungsbedarf gibt, müssen wir entsprechend vorgehen. Ich gehe einmal gedanklich in die Zeit um das Jahr 2000 zurück. Damals haben wir zum ersten Mal erlebt, dass 15 Millionen Menschen darüber geredet und sich Gedanken darüber gemacht haben, wie ihr Leben nach dem Erwerbsleben aussehen wird. Wer hätte damit gerechnet, dass sich junge Erwachsene, die sich gerade in einer Ausbildung befinden oder nach dem Studium ihren ersten Job erhalten haben, damit beschäftigen, wie es nach dem Erwerbsleben sein wird, wo sie dann stehen werden und wie sie ihren Standard halten können? Dazu kam es damals zum ersten Mal, und zwar auch durch die Diskussion über Riester und Rürup, und diese Diskussion ist auch richtig. Ich möchte ein Beispiel nennen. Vielleicht hinkt das Beispiel, wie das mit Beispielen nun einmal so ist, aber vielleicht trifft es doch zu: Jede Patentante und jeder Patenonkel schließt zur Taufe des Patenkindes einen Bausparvertrag ab oder eröffnet ein klassisches Sparbuch. Das ist selbstverständlich und normal. Niemand redet darüber und stellt das infrage. Warum wird es demgegenüber als fraglich angesehen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir das Zeitfenster nach unserem Erwerbsleben gestalten? Warum ist das ein Problem? Warum stellen Sie die drei Säulen infrage? Warum sagen Sie, dass die drei Säulen nicht richtig sind? Der Antrag Ihrer Fraktion wird heute überwiesen. Ich sage es vorweg: Würde heute darüber abgestimmt, dann würden wir uns sehr gerne enthalten, weil zwar einige kritische Elemente darin richtig sind, wir den Grundtenor, die drei Säulen abzulehnen, allerdings nicht teilen. Diesen Grundtenor Ihres Antrags bedauere ich. Wir möchten gerne mit Ihnen gemeinsam konstruktiv und nach vorne gerichtet für die Menschen an Verbesserungsvorschlägen arbeiten. Insofern wäre der Diskussionsprozess in den Fachausschüssen sehr wichtig. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie es tatsächlich ernst meinen würden, wenn Sie vom Zuhören, Mitgestalten und Gestalten sprechen, und wenn Sie dies auch tatsächlich tun würden. Wenn wir von Standards reden, dann müssen wir natürlich sagen, dass gerade die staatlich geförderte Altersvorsorge höheren Standards und strengeren Kriterien entsprechen muss. Deswegen müssen gerade diese Anlagen konservativ sein und stärker kontrolliert werden. Ich möchte nicht, dass sie spekulativ sind, was möglicherweise zu einer höheren Ausschüttung führen kann, sondern sie sollen lieber konservativ gehalten werden; denn es ist ja gerade der Sinn und der Reiz von Riester, dass man zumindest das herausbekommt, was man tatsächlich einbezahlt hat. ({0}) Dies ist auch eine ganz eindeutige Feststellung von Finanztest. Die gesetzliche Garantie sorgt dafür, dass am Ende zumindest das Eingezahlte gesichert ist. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt nicht die weiteren Vorzüge ansprechen. Ich glaube, wer sich intensiv damit beschäftigt, der weiß, wie notwendig es war, dass wir 2002 in dieser Form vorangegangen sind. Ich möchte jetzt gerne auch über die Nachbarländer sprechen, die ebenfalls Erfahrungen damit haben, und darüber, wie sie damit umgehen. Schauen Sie sich die Niederlande, Schweden oder die anderen Nachbarländer an, die sich intensiv damit beschäftigt haben. Diese Länder haben genau das getan, was Sie vorhin angesprochen haben: Sie haben die Höhe der Gebühren gedeckelt und für ein konservatives Portfolio gesorgt. Durch die Aufsichtsgremien wird immer wieder kontrolliert, sodass dort keine Spekulation stattfinden kann. Es gibt dort eine große Transparenz, und sie haben ein einfaches Informationsblatt erstellt, das für jeden nachvollziehbar und transparent sein muss. Eine Altersvorsorge bedeutet nämlich nicht, dass man das Geld, das man nicht konsumieren, sondern anlegen möchte, spekulativ anlegt; denn diese Anlage dient der Altersvorsorge. ({2}) Das, was unsere Nachbarländer gemacht haben, sollten wir im Rahmen der weiteren Beratungen auf jeden Fall aufgreifen. Ich begrüße die Überweisung an den zuständigen Ausschuss. Ich hoffe, der Antrag wird an den Finanzausschuss überwiesen, weil die Überschrift „Risiken der Riester-Rente offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln“ eindeutig für eine Überweisung an den Finanzausschuss spricht. Wir müssen stärker dafür werben, dass nicht nur junge Menschen, sondern alle Petra Hinz ({3}) Menschen für ihr Leben im Alter entsprechend Vorsorge treffen. Zum Schluss: Ja, es ist nicht alles richtig, aber es ist auch nicht alles verkehrt. Wir sollten zukünftig im Rahmen der Beratungen über mehr Transparenz und über niedrigere und gedeckelte Gebühren sprechen; denn es kann in der Tat nicht sein, dass beim Abschluss einer Riester-Rente zum Teil über 16 Prozent Gebühren ({4}) - ich beziehe mich auf Finanztest - anfallen. Es ist egal, ob es nun 16 oder 20 Prozent sind: Diese Gebühren sind auf jeden Fall zu hoch und dürfen nicht sein. Es sollte beim Abschluss einer Versicherung generell nicht der Fall sein, dass man erst eine gewisse Zeitspanne einzahlt, bevor man eigentlich anspart. Darüber können wir uns gern unterhalten. Regelungen zu niedrigeren Gebühren und besseren, einfacheren und einheitlichen Informationen sollten sich in jedem Fall in diesem Gesetz wiederfinden und es weiterentwickeln. Wenn wir gemeinsam an diesen Zielen arbeiten, dann kommen wir zusammen. Ich wünsche mir das. Meine Fraktion hat in diesem Fall schon eine Enthaltung in der Abstimmung signalisiert. In diesem Sinne wünsche ich uns eine gute Beratung. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und, wie wir im Ruhrgebiet sagen, ein herzliches Glückauf! ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Frank Schäffler für die FDP-Fraktion. ({0})

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier geht es eigentlich nicht so sehr um diesen Antrag, sondern hier geht es um eine grundsätzlich unterschiedliche Auffassung zur Rolle des Staates und zur Rolle von privaten Sparern. Sie sind der Auffassung, dass die Altersvorsorge über eine gesetzliche Umlageversicherung unter Berücksichtigung des demografischen Wandels geregelt und weiter vorangebracht werden muss, die aber am Ende vor die Wand fährt. Das ist nicht unsere Auffassung. Wir wollen die Sparkultur in Deutschland fördern. Ich will den rot-grünen Entwurf der Riester-Rente durchaus loben. Das war ein großer Schritt zur Steigerung der Sparkultur in diesem Land. Am Ende hat die Riester-Rente dazu geführt, dass es beim Sparen nicht nur gerecht zugeht, sondern auch sozial gerecht. Sie ist deshalb gerecht, weil derjenige, der spart, zumindest wenn er in Riester-Verträge spart, steuerlich genauso behandelt wird wie jemand, der heute konsumiert. Letztendlich ist der Riester-Vertrag nur eine Verlagerung der Steuerlast in die Rentenphase, zumindest für diejenigen, die normal Einkommensteuer zahlen. Gleichzeitig ist sie sozial gerecht, weil man ebenfalls diejenigen fördert, die keine Steuern zahlen. Das geschieht über die Zulagen. Das heißt, es handelt sich um ein sozial gerechtes Vorsorgesparen. Deshalb ist es schlecht, wenn man das jetzt schlechtredet. Das machen Sie. ({0}) Sie schüren Unsicherheit beim Sparer. Das sorgt am Ende dafür, dass weniger Menschen vorsorgen. ({1}) Aber die Vorsorge ist genau das, was wir wollen. Wir wollen, dass die Menschen im Alter unabhängig vom Staat sind. Wir wollen, dass sie selbst vorsorgen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das ermöglicht eben ein Riester-Vertrag. Angesichts der aktuellen Finanzkrise ist das Positive in Deutschland, dass wir eine hohe Sparquote haben, dass die Menschen vorsorgen. Die Sparquote im ersten Quartal beträgt 14,4 Prozent. Das ist im internationalen Vergleich eine sehr hohe Sparquote. Die Voraussetzung dafür, dass es wirtschaftliches Wachstum gibt, ist, dass gespart wird. Das ist die Voraussetzung dafür, dass investiert wird. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass Wachstum entstehen kann. Das ist die Voraussetzung, dass Arbeitsplätze in diesem Land entstehen. Das ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass der Staat Einnahmen über Steuern und über Sozialversicherungsbeiträge generieren kann. Diesen Zusammenhang setzen Sie außer Kraft, indem Sie quasi diese Produkte und diesen Weg diskreditieren und schlechtreden. ({2}) Sie wollen am Ende - da müssen Sie ganz ehrlich sein - das alte sozialistische Motto durchsetzen: Allen soll es gleich schlechtgehen. Das ist nicht unsere Vorstellung von Politik. ({3}) Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde den Antrag der Linken auch nicht wahnsinnig toll, aber ich glaube, die Kritik von Herrn Schäffler geht ein bisschen an der Sache vorbei. ({0}) Mit Argumenten aus der Mottenkiste braucht man, glaube ich, nicht zu kommen. Ich fand den Antrag der Linken in seiner Gesamtheit eher lustig. Am Anfang wird auf die Riester-Rente draufgehauen, teilweise mit richtigen Argumenten, teilweise überzogen und teilweise mit aus unserer Sicht falschen Argumenten. Dann folgt die Schlussfolgerung; ich dachte, jetzt kommt: Weg mit Riester! Hau weg den Mist! - Was aber kam? Sie fordern einen Bericht. Das ist großartig. Wenn das so weitergeht, kann ich nur sagen: Die Linken sind mittlerweile ziemlich harmlos. ({1}) Zum Inhaltlichen: Es ist völlig richtig, dass man die Alterssicherung im Ganzen sehen muss. Ich habe dabei ein etwas anderes Bild vor Augen. Ich finde, die Alterssicherung ähnelt der Akropolis. Sie ist inzwischen alt, war aber einst ein schönes Modell. Es wäre falsch, sie abzureißen; man muss sie vielmehr stabilisieren bzw. neu aufbauen. Sie ist durch die Umweltbedingungen ein bisschen angegriffen und muss entsprechend angepasst werden. Wichtig ist bei der Akropolis wie bei der Alterssicherung, dass es ein stabiles Fundament gibt. Als Fundament ist die Riester-Rente nicht geeignet, weil sie zu unsicher ist. Das Fundament muss stabil sein und aus der umlagefinanzierten Rente finanziert werden; gegebenenfalls muss steuerfinanziert etwas zur Absicherung vor Armut getan werden. Wir sagen: Die umlagefinanzierte Rente muss der Kern unseres Rentensystems bleiben, und das Fundament muss solidarisch finanziert werden. Nur dann wirken nämlich die Säulen, die darauf aufgebaut werden und den Lebensstandard sichern: die gesetzliche Säule, die private Säule und die betriebliche Säule. Die private Säule ist - das ist eben schon richtig gesagt worden - noch nicht so stabil und stark, wie wir uns das eigentlich damals erhofft haben. Es gibt offensichtliche Mängel, die wir angehen müssen. Einer dieser Mängel ist, dass wir nicht genau wissen, was es alles an Mängeln gibt. Einer der Fehler, den wir damals gemacht haben, ist, dass wir nicht wie bei den Hartz-Gesetzen gleich eine Evaluation mitbeschlossen haben. Wir wissen relativ wenig über die Wirkung der Riester-Rente. Ich glaube, dass an dieser Stelle unbedingt nachgebessert werden muss. Vor diesem Hintergrund, finde ich, ist die Forderung nach einem Bericht durchaus berechtigt. Darüber kann man diskutieren. Insofern korrigiere ich das „harmlos“ bezogen auf die Linken zu „überwiegend harmlos“. ({2}) Folgende Baustellen gibt es aus unserer Sicht: Erstens. Die Riester-Rente sollte die durch das abgesenkte Rentenniveau entstandene Lücke schließen, und zwar bei allen Einkommensgruppen. Das ist leider bisher nicht erreicht. Die entsprechende Zahl ist schon genannt worden: Nach aktuellem Stand gibt es insgesamt 15,5 Millionen Verträge. Da eine kleine Anzahl von Personen mehrere Verträge haben, haben wahrscheinlich 13 Millionen bis 15 Millionen Menschen einen RiesterVertrag. Die genaue Zahl kennen wir in der Tat nicht. Aber es ist weniger als die Hälfte der Berechtigten. Da muss also nachgebessert werden. Hinzu kommt: Insbesondere im unteren Einkommensbereich gibt es noch sehr viel weniger Menschen, die einen Riester-Vertrag haben. Wir wollen aber, dass auch in diesem Bereich die Menschen durch die gesetzliche Rente plus RiesterRente ihren Lebensstandard sichern können. Auch da müssen wir definitiv nachbessern. Die zweite Baustelle ist ein verbesserter Verbraucherinnen- und Verbraucherschutz. Wer hat wirklich einen Überblick über die mittlerweile 5 000 Produkte? Ich jedenfalls nicht. Auch für einen funktionierenden Wettbewerb ist es wichtig, eine übersichtliche Zahl von Produkten zu haben. 5 000 sind eigentlich zu viel. Dann ist es so, dass die Produkte nicht wirklich vergleichbar sind. So etwas wie ein Produktinformationsblatt ist sicherlich wichtig, wobei zu fragen ist, was genau darin enthalten sein soll. Es muss klar sein, wann sich eine Riester-Rente tatsächlich lohnt. Da gehen die Meinungen ja sehr auseinander. Die Berechnungen des DIW bzw. des Bundes der Versicherten zeigen, dass nicht eindeutig klar ist, dass sie sich für alle lohnt. Wir haben den Anspruch, dass sich die Riester-Rente auch ohne Zuschüsse und Zulagen lohnt. Auch das muss aus einem Produktinformationsblatt hervorgehen. Darüber hinaus brauchen wir eine Gesamtübersicht über die gesetzliche, private und betriebliche Alterssicherung. Auch hier herrscht nicht genügend Transparenz. Wir brauchen eine verbesserte und unabhängige Beratung des Einzelnen. Es gibt gute Projekte wie das PROSA-Projekt der Rentenversicherung in Baden-Württemberg, bei dem die Betreffenden in einem 90-Minuten-Gespräch über Sicherungslücken und Nachbesserungsbedarf aufgeklärt werden. Auch das wäre für uns ein wichtiger Punkt. ({3}) Dritte Baustelle ist, zu klären, was denn mit dem Geld eigentlich gemacht wird. Durch die Finanzmarktkrise ist uns ja bewusst geworden, dass es im Hinblick auf alle Finanzmarktprodukte eine wichtige Frage ist, in welcher Form die Gelder auf den Finanzmärkten angelegt werden. Fragen Sie einmal bei Ihrer Bank nach, was mit Ihrem Geld gemacht wird. Bei meiner Bank würde ich eine Antwort bekommen. Manche Banken werden darauf eine Antwort geben, die meisten aber nicht. Aber auch im Rahmen der Riester-Rente wäre es wichtig, Transparenz darüber zu schaffen, was mit dem Geld tatsächlich passiert: Ist es sicher angelegt? Ist es nach ethischen, sozialen und ökologischen Kriterien angelegt? - Wir sind der Meinung: Wenn der Staat viel Geld für die Förderung ausgibt, sollte er auch steuernd tätig werden. Das heißt, ethische, ökologische und soziale Kriterien sollten eine größere Rolle spielen, als es bisher der Fall ist. Aber auch das Kriterium Sicherheit muss berücksichtigt werden. Zudem sollte die BaFin das Ganze kontrollieren. Darin bin ich mir mit Herrn Middelberg einig. Zusammenfassend kann ich drei zentrale Baustellen feststellen: Wir brauchen eine stärkere und gezieltere Regulierung, um zu wissen, was mit dem Geld gemacht wird. Wir brauchen einen besseren Verbraucherschutz. Die Menschen dürfen nicht abgezockt werden und müssen gut informiert werden. Wir müssen die Riester-Rente so weiterentwickeln, dass sie auch Menschen mit geringem Einkommen den Lebensstandard sichert. Das sind die Baustellen, die wir anpacken müssen. ({4}) Einen Bericht vorzulegen, reicht nicht aus. Wir müssen wirklich etwas verändern. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bettina Kudla hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bettina Kudla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004084, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Als ich den Antrag der Linken gelesen habe ({0}) - ich zitiere einmal den Anfang: „Die Altersvorsorge muss von den Finanzrisiken an den Geld- und Kapitalmärkten entkoppelt werden“ - dachte ich: Schön, jetzt erfahre ich endlich, wie die Altersvorsorge sicherer gestaltet werden kann. ({1}) Aber weit gefehlt! Gar nichts war dazu in dem Antrag zu lesen. Erkennbar war nur: Sie verkennen die Finanzierungsfunktion des Geld- und Kapitalmarkts. Und an der Finanzmarktregulierung haben Sie offensichtlich nichts auszusetzen. Das zeigt: Die Bundesregierung ist bei diesen Themen auf dem richtigen Weg. ({2}) Eines zeigt der Antrag aber ganz deutlich: Sie wollen das bewährte Dreisäulenmodell der Rentenversicherung infrage stellen. Warum ist das Dreisäulenmodell so wichtig? Wir brauchen das Dreisäulenmodell, um die Zukunft zu sichern. Ein Haus mit drei tragenden Säulen ist einfach sicherer, als wenn man nur auf eine tragende Säule baut. Die drei Säulen sind die gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge ({3}) und die private Altersvorsorge. Ein paar Worte zur gesetzlichen Rentenversicherung. Entscheidend ist, dass die Rente - das gilt im Grunde für jedwede Rentenversicherung - erwirtschaftet wird. Das hängt von der Zahl der Arbeitnehmer ab. Das macht deutlich, wie wichtig die Rente mit 67 ist. Das Demografieproblem muss angepackt werden. Das Dreisäulenmodell ist notwendig. Es muss Ausgewogenheit zwischen Beitragssatzstabilität, angemessener Rentenhöhe und Eigenverantwortung vorhanden sein. Zur betrieblichen Altersvorsorge: Warum ist diese so wichtig, und warum stellt diese eine Chance für Unternehmen dar? In Zeiten des Fachkräftemangels ist die Altersvorsorge ein gutes Instrument, Fachkräfte langfristig an das Unternehmen zu binden. Im Hinblick auf die Finanzmarktregulierung ist wichtig, dass keine kontraproduktiven Regelungen wie zum Beispiel Solvency II eingeführt werden, die eventuell die betriebliche Altersvorsorge einschränken könnten. Die dritte Säule ist die private Altersvorsorge. Diese muss wirksam sein, und die Menschen müssen sie sich leisten können. ({4}) Es kann unter Umständen gerade für Menschen mit einem mittleren oder niedrigen Einkommen ein Problem sein, privat vorzusorgen. ({5}) Das war doch der Grund, warum der Staat 2002 die Riester-Rente eingeführt hat. Der Staat gibt einen Anreiz, damit die Bürger privat für die Rente vorsorgen. ({6}) Die Vermögensbildung in der Bevölkerung ist gewollt. Übrigens: Der Schutz des Eigentums und die Möglichkeit der Vermögensbildung sind Eckpfeiler der sozialen Marktwirtschaft. ({7}) Der im Antrag der Linken erhobene Vorwurf, man könne sich die Riester-Rente nicht leisten, ist einfach nicht zutreffend. Die Riester-Rente ist gerade für mittlere und kleinere Einkommen da. ({8}) Sicherlich, Geld ist für den Bürger immer knapp. Aber der Staat lässt sich die Riester-Rente auch einiges kosten. Rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr gibt der Staat den Bürgern für den Aufbau der Riester-Rente hinzu. Für einen Haushalt mit zwei Kindern und mittlerem Einkom21944 men können dies bei einem Eigenanteil von 50 Euro immerhin 800 Euro im Jahr sein. Das ist eine ganze Menge. ({9}) Die Riester-Rente steht jedem offen, der förderberechtigt ist. Über 70 Prozent der Zulagenempfänger verfügen über ein beitragspflichtiges Einkommen von weniger als 30 000 Euro. Die Riester-Rente ist für Menschen mit niedrigem Einkommen lohnend, da hier das Verhältnis zwischen staatlicher Zulage und Eigenleistung besonders günstig ist. Und: Die Anlageformen der RiesterRente - die Vorredner haben es zum Teil erwähnt - unterliegen besonderen Bestimmungen, damit das Geld auch sicher ist. Die Stärken des Dreisäulenmodells sind also: Beteiligung der Solidargemeinschaft, Beteiligung der Unternehmen, Selbstverantwortung für eigene Vorsorge und Risikostreuung wegen mehrerer Säulen. Die Bundesregierung sorgt übrigens auch für Menschen vor, die gar kein Einkommen haben und im Alter ein Problem mit der Rente hätten. Der Bund hat dieses Jahr die Grundsicherung übernommen. Das bedeutet, dass ab dem Jahr 2014 allein der Bund die deutschen Kommunen um mehr als 10 Milliarden Euro entlastet. ({10}) Bei der rot-grünen Bundesregierung waren es gerade einmal 409 Millionen Euro. ({11}) Noch ein paar Worte zu einigen Punkten in dem Antrag der Linken: Sie haben das EuGH-Urteil zu den sogenannten Unisextarifen angesprochen, das heißt, dass keine Unterscheidung zwischen Mann und Frau gemacht werden darf und man auch nicht mehr auf die unterschiedlichen Verhaltensweisen, beispielsweise das Fahrverhalten der Männer, eingehen darf. Ich erwarte von der Versicherungswirtschaft, dass man einigermaßen ausgewogene neue Verträge anbietet, die, wenn notwendig, Erhöhungen, aber natürlich auch Beitragssenkungen vorsehen. Die Linke schlägt vor, die Beitragshöhe zur Rentenversicherung zu steigern. Was ist denn das für eine Sozialpolitik? Das trifft doch gerade die Menschen mit geringem Einkommen besonders stark. ({12}) Eine Verschiebung innerhalb der drei Säulen in Richtung der betrieblichen Altersvorsorge oder der gesetzlichen Rentenversicherung bedeutet Belastungen für die Wirtschaft und für die öffentlichen Haushalte. ({13}) Nicht vergessen werden darf, dass der Bundeszuschuss an die Rentenversicherung in Höhe von 80 Milliarden Euro der größte Posten im Bundeshaushalt ist. ({14}) Daher ist die private Altersvorsorge - sprich: RiesterRente - eine wichtige Säule. Der Antrag der Linken ({15}) dient nicht den Menschen. Er ist wirtschaftlich nicht zielführend

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Bettina Kudla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004084, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- und daher abzulehnen. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren Zuhörer! Wir haben gehört: Es gab eine Vorgeschichte der Riester-Rente, die man immer vor Augen haben muss. Man kann die Riester-Rente nicht nur danach beurteilen, wie sie heute ist, sondern man muss auch überlegen, warum sie überhaupt eingeführt wurde. Wir haben in den Jahren 2001/2002 nicht nur eine zweite, sondern auch eine dritte Säule für notwendig gehalten. Neben der gesetzlichen Rentenversicherung und der betrieblichen Altersvorsorge - für viele, aber längst nicht für alle - wollten wir eine dritte Säule aufbauen. Man muss das im zeitlichen Zusammenhang sehen. Die meisten von uns haben damals auch daran geglaubt, dass es sinnvoll ist, eine kapitalgedeckte dritte Säule aufzubauen, weil die Anlagevoraussetzungen eigentlich positiv erschienen. ({0}) Wir haben die Situation, dass wir die Riester-Rente leider - ich bedaure das - nicht verpflichtend für alle gemacht haben, die sie gebraucht hätten oder noch brauchen werden. Wir alle hatten ein bisschen Angst vor Zwangs-Riester oder Riester-Pflicht und haben gedacht: Diejenigen, die sie brauchen, werden sie schon annehmen, weil sie attraktiv ist. - Das ist, wie wir gehört haben, leider noch nicht einmal bei der Hälfte der Berechtigten passiert. Das ist bedauerlich. Man sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob man hier etwas ändert. ({1}) In den letzten Jahren wurde die Riester-Rente schon ein wenig attraktiver gestaltet. Die Kinderzulage wurde angehoben. Es gab einen Berufseinsteigerbonus. Der förderfähige Personenkreis wurde auf Erwerbsgeminderte und Geringverdiener erweitert. Trotzdem ist das alles nicht ausreichend. Das will ich gern zugeben. ({2}) Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man die RiesterRente ad hoc verbessern könnte. Ich komme gleich noch auf zusätzliche Dinge zu sprechen. Erstens. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die Zulagen dynamisieren. Das heißt, der Inflationsausgleich sollte bei der Zulagenhöhe berücksichtigt werden. Wir brauchen zweitens natürlich eine Regelung für Menschen, die am Ende ihres Lebens in der Grundsicherung sind. Ich denke, wir alle finden es nicht gerecht, dass Menschen, die privat Geld zurückgelegt und eine Riester-Rente angespart haben, dann, wenn sie keine auskömmliche Rente haben und in der Grundsicherung sind, überhaupt nichts von diesen zusätzlich angesparten Mitteln bekommen. Es gibt natürlich einen Bruch mit einigen systemischen Voraussetzungen, die wir als Grundlage unserer Ordnungspolitik heranziehen, aber wir haben diese Brüche auch in anderen Bereichen akzeptiert. Ich erinnere daran, dass wir auch Hartz-IV-Empfängern eine Kindergelderhöhung haben zukommen lassen. Da haben wir gesagt, Kindergeld ist nicht nur ein Ausgleich für irgendwelche sachlichen Dinge, sondern es beinhaltet auch Betreuungsleistungen, die Hartz-IV-Empfänger auch erbringen. Hier müsste es genauso sein: Meiner Meinung nach müssten Personen, die privat vorgesorgt haben, mehr als die Grundsicherung erhalten. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Strengmann-Kuhn zulassen?

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, ich finde es richtig, zu sagen: Wer geriestert hat, der soll vom Ersparten auch etwas behalten können und nicht unbedingt gleich in die Grundsicherung fallen. Aber müsste das nicht gleichzeitig auch für die gesetzliche Rentenversicherung gelten? Auch hierbei handelt es sich ja um eine Eigenvorsorge: Man zahlt selber Beiträge ein. Müsste es nicht eine Gleichbehandlung von Riester-Rente und gesetzlicher Rente geben? Ich denke an den von der Bundesministerin vorgelegten Entwurf einer Zuschussrente. Danach wird die gesetzliche Rente voll angerechnet, und die Riester-Rente soll hinzukommen. Ist das nicht eine ungerechtfertigte Behandlung der eigentlich notwendigen Umlageversicherung?

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben das Problem, dass wir bei der Rentenversicherung mit zunehmenden Kosten rechnen müssen. Die demografische Entwicklung geht nämlich dahin, dass wir immer weniger Beitragszahler und immer mehr Rentenbezieher haben werden. Wir müssen natürlich schauen, dass das Gesamtsystem finanzierbar bleibt. Das heißt, dass wir die aktuellen Steuerzahler nicht über das Maß belasten. Wir haben nämlich zu wenig Beitragszahler, die uns solche Zugaben zur Grundsicherung finanzieren können. Wir müssen also genau abwägen, was wir machen und was wir nicht machen. Der Punkt hier ist: Es gibt Menschen, die zusätzlich zu ihren Rentenbeiträgen - sie werden von den Arbeitnehmern ja nicht infrage gestellt - Geld ansparen und davon im Alter überhaupt nichts haben. Inzwischen empfehlen Verbände: Wer Teilzeit arbeitet, sollte nicht riestern. Auch das ist aber eine falsche Empfehlung, weil man nicht weiß, ob man sein Leben lang Teilzeit arbeitet. Man weiß nicht, in welche Lebenssituationen man kommt. Man fällt aber die Entscheidung, für eine Zusatzrente zu sparen, relativ früh; jedenfalls wäre das wünschenswert. Man sollte eigentlich schon als Auszubildender anfangen, zu riestern. Man hat also keine Ahnung, in welche Lebenssituation man kommt. Das heißt, wenn man in die Situation kommt, dass man vermindert arbeitet, weswegen man später Rente in einer Höhe bekommt, die unter der Grundsicherung liegt, dann sollte einem das, was zusätzlich angelegt worden ist, in irgendeiner Form als Bonus zugutekommen. Das hat nichts damit zu tun, dass ein Arbeitnehmer vorher seine normalen Rentenzahlungen geleistet hat. ({0}) Jetzt möchte ich zum Antrag der Linken kommen. Dieser Antrag hat den Titel „Risiken der Riester-Rente offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln“. Durch diesen Antrag sind wir Finanzer darauf gekommen, dass wir hier reden sollten. Wenn Sie sagen, Sie hätten das Ganze lieber bei Arbeit und Soziales angesiedelt, dann hätten Sie, denke ich, einen anderen Titel für Ihren Antrag wählen müssen. Aber dieser Titel hat mich schon angesprochen. Ich glaube, es ist richtig, dass hier Finanzer reden. Zum Antrag selber: Ich will mit dem Positiven beginnen. Positiv an diesem Antrag ist, dass Sie mehr Berichte wollen. Das möchten wir, glaube ich, alle. Es gibt Berichte; aber die meisten von uns halten sie für unzureichend. Ob man in den bestehenden Berichten auch die gewünschte zusätzliche Information unterbringen kann, weiß ich nicht; das müsste man sich genauer anschauen. Ich denke, ein Zusatzbericht ist nicht falsch, um das Ganze plakativer zu machen und so noch mehr zu verdeutlichen. Ihr Antrag benennt einige Probleme, die wir haben: Die Grundsicherung - ich habe schon darauf hingewiesen - ist eines dieser Probleme. Ein weiteres Problem sind Mitnahmeeffekte. Mitnahmeeffekte haben wir bei vielen Gesetzen. Sie auszuschließen, halte ich für schwierig. Ich hätte gerne von Ihnen konkretere Auskünfte darüber, wie man solche Effekte verhindern kann. Hohe Verwaltungskosten sind ein Ärgernis; das ist absolut richtig. Ich glaube nicht, dass das so bleiben muss. Man kann das Ziel sicher auch anders erreichen. Dass die Sparer ein hohes Alter erreichen müssen, um in den Genuss zu kommen, all das zurückzubekommen, was sie eingezahlt haben, ist ein Problem, das sich, wie ich glaube, von selbst erledigt, denn der gesundheitliche Fortschritt wird uns helfen; es gibt ja immer mehr Ältere. Negativ an Ihrem Antrag sind ein paar grundsätzliche Aussagen. Sie sagen: Die Finanzkrise hat dazu geführt, dass diese Anlageform nicht mehr richtig trägt. - Das ist richtig. Aber die Riester-Anlagen - 750 Milliarden Euro haben sicher nicht die Finanzkrise ausgelöst. Ich glaube, dass diese Anlageform nicht dazu beigetragen hat, dass irgendwelche Banken in Schwierigkeiten geraten sind. Ansonsten ist es ja so, dass vor allem meine Partei im Moment versucht, durch Finanzmarktregulierungsvorschläge in das System etwas mehr Verlässlichkeit hineinzubekommen. Aber ich denke, dass das kein grundsätzliches Problem der Riester-Rente ist. Die Rückkehr zum alten Rentenversicherungssystem halte ich für problematisch; denn wir haben - ich habe es schon gesagt - insbesondere ein demografisches Problem. Es gibt zu wenige Nachkommen, um die vielen Rentner zu finanzieren. Das heißt, wir brauchen weitere Finanzierungsformen; ansonsten hätten wir eine hohe Belastung entweder der Beitragszahler oder der Arbeitgeber, oder, wenn wir keine höheren Beiträge wollten, müssten wir die Renten kürzen. Wenn wir mehr Steuerfinanzierung wollen, müssen wir das auch in irgendeiner Form auf die Menschen umlegen. Ich denke, wir sind im Moment aber schon an der Grenze der Belastbarkeit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in diesem Bereich angekommen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Birkwald zulassen?

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben gerade gesagt, die RiesterRente sei aus demografischen Gründen notwendig. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es Modellrechnungen der Deutschen Rentenversicherung gibt, wonach wir beispielsweise auf die Rente erst mit 67 komplett verzichten könnten, wenn der Beitragssatz um einen halben Prozentpunkt angehoben wird? Das würde bedeuten, dass Beschäftigte in heutigen Werten durchschnittlich 6,76 Euro im Monat mehr zahlen müssten. ({0}) Sind Sie außerdem bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass mit Riester die Belastungen für die Altersvorsorge ausschließlich bei den Beschäftigten abgeladen werden? Denn die Beschäftigten sollen ja die Hälfte der gedeckelten Beiträge von 20 Prozent, später von 22 Prozent zahlen, sollen dann 4 Prozent ihres Einkommens für eine Riester-Vorsorge und dann im Idealfall auch noch 3 Prozent für eine betriebliche Altersvorsorge ausgeben, die im Osten bisher übrigens nur in 35 Prozent der Betriebe existiert. Es wird also davon ausgegangen, dass die Beschäftigen bis zu 17 Prozent an Beiträgen zahlen. Das entspräche im Umlageverfahren einem Beitragssatz von 34 Prozent, aber es wird gesagt: Die Arbeitgeber dürfen nicht mehr bezahlen. Das ist also der eigentliche Grund, warum Riester eingeführt wurde. Es geht darum, den hälftigen Anteil der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber an jedem Beitragssatzpunkt - das sind jeweils 11 Milliarden Euro - zu sparen. Was sagen Sie denn dazu?

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Grundsätzlich ist es so, dass die kompletten Beiträge von den Arbeitnehmern erwirtschaftet werden. Es wird immer so getan, als erwirtschafte der Arbeitnehmer den Arbeitnehmerbeitrag und der Arbeitgeber den Arbeitgeberbeitrag. Das ist aber Quatsch. Der Arbeitnehmer erbringt eine Arbeitsleistung und erwirtschaftet im Prinzip beide Anteile. ({0}) Eigentlich wäre es gerecht, wenn man dem Arbeitnehmer alles, was er erwirtschaftet, einfach auf dem Lohnzettel ausweisen würde. Dann bräuchten wir auch nicht diese Teilung. Sie sagen nun, der Arbeitgeberbeitrag solle erhöht werden. Der fällt aber nicht vom Himmel, sondern muss erwirtschaftet werden. ({1}) Da können Sie natürlich sagen - vielleicht passt das in Ihre Ideologie -: Der Arbeitgeberbeitrag schmälert den Gewinn des Arbeitgebers. ({2}) Vielleicht ist das so. Aber vielleicht - das kann ich entgegnen - bringt das dann die Wettbewerbsfähigkeit zum Erliegen. Das wäre auch ein Argument. Wir können jedoch nicht ausprobieren, welches Argument stimmt. Wir können nicht einfach ausprobieren, wie die Betriebe, wenn wir den Arbeitgeberbeitrag erhöhen, im Wettbewerb dastehen. Wir hatten den Eindruck, dass die Arbeitgeber ausreichend belastet sind. Die Arbeitnehmer auch. Aber diejenigen, die noch etwas erübrigen können und sollten, werden mit großzügiger Förderung, vor allen Dingen wenn sie einen niedrigen Lohn beziehen und Familie haben, steuerlich gefördert. ({3}) Das war der Ansatz von Riester. Und zu der anderen Rechnung: Es hört sich immer ganz toll an, wenn man sagt, wir müssten den Beitragssatz nur um 0,5 Prozentpunkte erhöhen und bräuchten dann die Rente mit 67 nicht. ({4}) Aber das Problem verschärft sich doch. Das Problem, dass wir weniger Beitragszahler haben, verschärft sich mit jedem weiteren Jahr. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge, zu denen ich gehöre, ins Rentenalter kommen, dann ist oben im Rentenbezieherbereich eine große Blase entstanden, während unten so gut wie nichts mehr nachkommt. Wenn wir dieses Problem langfristig lösen wollen, kommen wir nicht umhin, das Renteneintrittsalter zu erhöhen und auf 67 Jahre zu gehen. ({5}) Die Riester-Rente ist - ich habe es eben schon gesagt verteilungspolitisch korrekt, weil gerade die niedrigen Einkommen maximal gefördert werden. Außerdem gibt es eine hohe Förderung pro Kind. Man muss den Leuten immer wieder sagen, dass es sinnvoll ist, mit einer Riester-Rente vorzusorgen. Die Auszahlungen aus Riester-Verträgen sind sozialabgabenfrei - es fallen keine Krankenversicherungs- und keine Pflegeversicherungsbeiträge an - und bei Hartz IV anrechnungsfrei. Auch das, finde ich, ist sehr wichtig. Wir haben eine zusätzliche Sicherheit durch die Riester-Säule. Wir alle wissen nicht, ob wir uns die Grundsicherung in 20 Jahren noch leisten können. Wir gehen immer davon aus: Alle Rentner sind in Zukunft erst einmal grundsicherungsmäßig versorgt. - Aber wer weiß, wie in 20 Jahren die Finanzkraft des Staates aussieht? Keiner weiß das! ({6}) Die kapitalgedeckte Anlageform gibt uns eine zusätzliche Sicherheit, wenn vernünftig angelegt wird. Noch ein Wort zur Rendite. Natürlich ist die RiesterRente nicht renditestark oder renditemächtig. Aber keiner von uns will doch, dass man in irgendwelchen kritischen Anlageprodukten riestert. Deswegen, denke ich, ist das so sinnvoll.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein Satz noch. - Ich finde es auch sinnvoll, wenn wir das im Finanzausschuss weiter debattieren. Ich bin sicher: Wir haben eine gute Basis. Wir könnten zu einer Einigung kommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Björn Sänger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004141, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei Ihrem Antrag versuchen Sie sich in Schwarz-Weiß-Malerei. ({0}) Sie haben sich ein Gut-Böse-Schema zurechtgelegt, in das Sie dann verfallen sind. Gut sind laut Antrag ein staatliches Rentensystem, eine staatliche Fürsorge und eine Umlagefinanzierung; schlecht ist alles, was irgendwie mit dem Kapitalmarkt zu tun haben könnte. ({1}) Aber - ich denke, das hat die Debatte jetzt ergeben - das Leben ist eben nicht ganz so einfach. ({2}) Es ist grau; es ist nicht digital und lässt sich nicht in entsprechende Schemata pressen. Wer, sehr geehrter Antragsteller, soll denn beispielsweise die Staaten und Kommunen finanzieren? Sie sägen im Prinzip den Ast ab, auf dem Sie mit Ihrer Politik sitzen, wenn Sie das, was im Antrag steht, konsequent zu Ende denken. Wenn man sich das genau überlegt, ist das möglicherweise gar keine schlechte Alternative. Aber, ich glaube, es wäre insgesamt nicht gut für unser Land. Wer, meine sehr geehrten Damen und Herren, soll denn in Unternehmen investieren und am Ende Arbeitsplätze schaffen und sichern? Da ist es doch gut, dass wir die Kapitalsammelstellen auch und gerade der privaten Altersvorsorge haben. Man muss sich natürlich auch die Frage stellen: Wie legt denn die gesetzliche Rentenversicherung ihre Mittel an? Die hat keinen Geldspeicher irgendwo in Entenhausen, sondern die geht logischerweise auch an den Kapitalmarkt. Die Mittel sind demzufolge ebenfalls gewissen Risiken ausgesetzt, wenngleich dort natürlich besonders sicher angelegt wird. Am Ende des Tages hat natürlich jedes umlagefinanzierte System - auch das klang schon an - das Risiko der Demografie und natürlich auch das Risiko der konjunkturellen Entwicklung. Man muss das Risiko für einen Anlagezeitraum von 30 Jahren betrachten. Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Finanzmärkte da entwickelt haben! Denken Sie einmal 30 Jahre weiter! Dann werden Sie bei einer Rückschau - ich bin bereit, heute darauf zu wetten - die Finanzkrise der Jahre 2008 ff. in einer insgesamt nach oben weisenden Kurve als kleine Delle sehen. Sie sagen: Die Riester-Rente lohnt sich nicht. - Das kann sein, kann aber auch nicht sein. Das kommt eben darauf an, und zwar auf die individuelle Situation desjenigen, der sich mit dem Gedanken trägt, eine RiesterVersicherung abzuschließen. Menschen sind eben unterschiedlich. Die Bedürfnisse der Menschen sind unterschiedlich. Allglückseligmachende Lösungen gibt es nur für den sozialistischen Einheitsmenschen, und auch der, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat sich gegen Sie aufgelehnt. Die Sparbeiträge und Zulagen sind garantiert. Garantien kosten immer, und demzufolge ist die Rendite bei einem Riester-Vertrag nicht ganz so hoch. Aber am Ende der Laufzeit bleibt auf jeden Fall nominell mehr übrig, als eingezahlt worden ist; denn mindestens die Beiträge und die Zulagen müssen ausgezahlt werden. Wenn wir uns darüber unterhalten, wie unter dem Aspekt der Demografie möglicherweise eine Rendite in einem umlagefinanzierten System aussieht, dann müssen wir uns fragen, ob sie am Ende so gut ist. Klar ist: Wir müssen uns über die Probleme der Riester-Versicherung unterhalten. Kollege Middelberg hat das angesprochen. Die Koalition wird das tun. Wir brauchen keine Berichte, die in der Vergangenheit schwelgen. Sie hingegen wollen Zahlen von heute vergleichen mit einem Rentenversicherungssystem aus der Zeit vor dem Jahr 2000. Eines sage ich Ihnen: Die Welt der Jahre vor 2000 werden Sie nicht zurückbekommen, genauso wenig wie Sie die Welt vor dem Jahr 1989 zurückbekommen werden, auch wenn Sie sich das möglicherweise erhoffen. ({3}) Demzufolge ist dieser Antrag nichts anderes als Klamauk. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf den ersten Blick geht es bei diesem Antrag um Riester. Wenn man den Duktus des Antrags zugrunde legt, Herr Birkwald, dann geht es nicht um Riester, sondern gegen die private Altersvorsorge, und zwar deswegen, weil die private Altersvorsorge nicht in Ihr Weltbild passt. ({0}) Aus gutem Grund haben wir die Altersvorsorge für Arbeitnehmer auf drei Säulen aufgebaut. Die erste Säule ist das umlagefinanzierte gesetzliche Rentensystem. Die zweite Säule ist die betriebliche Altersvorsorge, und die dritte Säule ist die private Altersvorsorge. Sie machen mit Ihrem Antrag Folgendes: Erstens. Sie jubeln die gesetzliche Rentenversicherung in Höhen, die sie nicht verdient hat, und ignorieren sämtliche Risiken. Zweitens. Sie ignorieren die betriebliche Altersvorsorge. Drittens. Sie versuchen, die private Vorsorge systematisch zu diskreditieren. ({1}) Lassen wir einmal die Fakten zur umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung sprechen. Wie sieht die Situation heute aus? Die gesetzliche Rentenversicherung ist gar nicht umlagefinanziert. Jedes Jahr geben wir dem Rentenversicherungssystem 80 Milliarden Euro Zuschuss aus unserem Bundeshaushalt. Das sind mehr als 25 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes. Sie reden aber davon, dass die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung funktioniert. Das ist reiner Blödsinn, Herr Birkwald. ({2}) Heute ist die gesetzliche Rentenversicherung in einem Stadium, dass sie nur noch durch Steuerzuschüsse funktioniert. Sehen Sie sich die heutige demografische Situation an. Wir haben heute 20 Millionen Rentner und 30 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Alle, die in diesem Hause sitzen, wissen, wie die Situation in 20 oder 30 Jahren aussehen wird. Dann wird das System erst recht nicht mehr funktionieren. Dann werden aus den 80 Milliarden Euro Zuschuss - das ist ein Dreisatz, den jeder durchführen kann - noch wesentlich höhere Summen werden. Das haben wir hier und heute zu verantworten. Lassen Sie mich noch eines sagen: Die gesetzliche Rentenversicherung ist - finanziert aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen und aus Steuereinnahmen höchst konjunkturanfällig. ({3}) Haben wir mehr Arbeitslose, so haben wir weniger Einnahmen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Haben wir eine konjunkturelle Delle, so sind wir in der Situation, dass wir Schwierigkeiten haben, den steuerlichen Zuschuss aufzubringen. Auch das ist eine Schwäche der gesetzlichen Rentenversicherung, die im Übrigen in dem Mix aus den drei von mir genannten Säulen durchaus gut ist. Kommen wir zur zweiten Säule, zur betrieblichen Altersvorsorge. Sie unterschlagen sie in Ihrem Antrag. ({4}) Wir hingegen setzen uns auf Brüsseler Ebene massiv dafür ein, dass genau diese Säule gestärkt wird. Wir würden uns über Ihre Unterstützung freuen. Kommen wir zur dritten Säule, zur privaten Vorsorge. Als Erstes kritisieren Sie, dass diese Art der Vorsorge von Versicherungen, also von gewerblichen Unternehmen, abgewickelt wird, die damit Geld verdienen wollen. Es ist natürlich ganz schrecklich, Herr Birkwald, wenn man mit irgendetwas Geld verdienen will. Ich frage mich nur: Warum essen Sie eigentlich Brötchen von jemandem, der damit Geld verdienen will? Warum lassen Sie Ihr Auto von jemandem reparieren, der damit Geld verdienen will? Warum steigen Sie in Flugzeuge von Fluggesellschaften, die damit Geld verdienen wollen? Das, was Sie hier vortragen, ist in höchstem Maße inkonsequent und verbohrt. ({5}) Ein weiterer Punkt. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass eine kapitalgedeckte Vorsorge mit Risiken des Kapitalmarktes verbunden ist. Ich ergänze dies noch: mit Risiken des Anbieters. Sie können nämlich an einen schlechten Anbieter geraten. Falsch ist, dass Sie sagen: Dieses System ist risikobehaftet, und die gesetzliche umlagefinanzierte Rentenversicherung ist total sicher. ({6}) Das ist zu kurz gegriffen. Richtig wäre es, die Menschen über die Risiken der kapitalgedeckten Altersvorsorge, aber auch über die Risiken der gesetzlichen Rentenversicherung zu informieren. Das machen Sie in Ihrem Antrag nicht. Im Übrigen weisen Sie in Ihrem Antrag auch nicht darauf hin, was diese Koalition und diese Bundesregierung in den letzten Monaten und Jahren dafür getan hat, um die private kapitalgedeckte Altersvorsorge sicherer und besser zu machen. Ich nenne hier nur das Anlegerschutzgesetz aus dem Bereich des Verbraucherschutzes. All die Maßnahmen, die die Solvenz und die Eigenkapitalquote von Finanzinstitutionen, die genau diese Vorsorge anbieten, erhöhen, unterschlagen Sie in Ihrem Antrag. ({7}) Zusammenfassend kritisiere ich an Ihrem Antrag nicht das Kommunistengeschwätz, dass es schlecht ist, Gewinne zu machen. Das sind Sie Ihren Wählern schuldig, ({8}) und das sind Sie vielleicht auch Ihrem Selbstverständnis schuldig. Ich kritisiere an Ihrem Antrag auch nicht, dass Sie auf die Risiken einer kapitalgedeckten Altersvorsorge hinweisen. Das ist in Ordnung. Ebenso wenig kritisiere ich - das ist auch von meinen Vorrednern schon gesagt worden -, dass Sie auf die Risiken von Riester hinweisen. Ich kritisiere jedoch, dass Sie die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung gegenüber der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge als das allein selig machende Instrument hinstellen. ({9}) Ich habe mir lange überlegt, was denn dahintersteckt. Ist es Dummheit? Nein, das wird es nicht sein. ({10}) Ist es blanker Populismus, um auf Wählerstimmenfang zu gehen? Nein, das wird es wahrscheinlich auch nicht sein. Vielmehr ist es Ihre Ideologie. Die Ideologie der Linken besagt, dass alles Private schlecht ist und dass nur der Staat in der Lage ist, zu entscheiden, wie man Altersvorsorge betreibt und was gut und schlecht für den Bürger ist. Das ist Ihr Menschenbild. Das unterscheidet uns von Ihnen. Sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite Sie stehen möchten. ({11}) Mein allerletzter Punkt in dieser Rede: Für Ihren Antrag bin ich Ihnen eigentlich sogar dankbar. Ich bin Ihnen deswegen dankbar, weil ich glaube, dass wir nicht nur über die kapitalgedeckte Altersvorsorge reden sollten, sondern ganz dringend auch über unsere gesetzlichen Sozialversicherungssysteme, und zwar sowohl über die Rentenversicherung als auch über die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung. Wenn man seriösen Berechnungen trauen kann, dann ist die Deckungslücke in diesen Systemen mindestens ebenso hoch wie unsere explizite Staatsverschuldung. Das heißt, wir schieben Billionenbeträge vor uns her, über die kein Mensch redet. Das sollte für uns Anlass genug sein, die Reform in diesem System weiter voranzutreiben. Diese Bundesregierung und die Vorgängerregierung haben eine Menge getan, aber leider noch nicht genug, um die Rentenversicherung zu reformieren. Bei der Krankenversicherung fahren wir momentan mit Anlauf gegen die Wand. Die Pflegeversicherung ist wahrscheinlich schon an die Wand gefahren. Deswegen kann ich Sie alle nur bitten und auffordern, sich dieses Themas ernsthaft anzunehmen. Insofern war Ihr heutiger Antrag vielleicht gar nicht so sinnlos. Danke schön. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9194 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Die Feder- führung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP möchten Federführung beim Finanzausschuss. Die Fraktion Die Linke wiederum wünscht Federfüh- rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs- vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer ist dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Überweisungsvorschlag mit dieser Federführung abge- lehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Die anderen Fraktionen ha- ben dagegen gestimmt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Feder- führung beim Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Federfüh- rung beim Finanzausschuss ist angenommen bei Zustim- mung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Bündnis 90/Die Grünen und Linke waren dagegen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012 ({0}) - Drucksachen 17/9040, 17/9649 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) - Drucksachen 17/9650, 17/9651 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({2}) Dr. Gesine Lötzsch Priska Hinz ({3}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sven-Christian Kindler, Priska Hinz ({5}), Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Energiewende und Klimaschutz solide finanzieren - Nachtragshaushalt nutzen - Drucksachen 17/8919, 17/9911 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({6}) Dr. Gesine Lötzsch Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, über den wir später namentlich abstimmen werden, liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, eine Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion. ({7})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Heute haben wir wieder einmal einen Tag, an dem die europäische Staatsschuldenkrise absolut im Mittelpunkt unserer Debatte und unserer politischen Arbeit steht. Heute Morgen haben wir uns in der Debatte zur Regierungserklärung unserer Bundeskanzlerin zur Vorbereitung des G-20-Gipfels mit den Diskussionspunkten auseinandergesetzt, die sie am Montag und Dienstag in Mexiko erwarten werden. Da geht es um Jugendarbeitslosigkeit, um die Liberalisierung des Handels. Im Mittelpunkt werden auch dort wieder die Staatsschuldenkrise in Europa und das Vertrauen stehen, das die G 20 und die ganze Welt in die Bundesrepublik Deutschland als Anker für Stabilität und als Wachstumsmotor in der Europäischen Union mit ganz starker weltweiter Bedeutung setzen. Wir haben uns heute Morgen intensiv mit den unterschiedlichen Positionierungen auseinandergesetzt. Wir haben Herrn Steinmeier gehört, der immer wieder davon gesprochen hat, dass die Bundesregierung an diesem oder jenem Rand rote Linien überschreite. Ich kann bezogen auf die zwei Jahre, in denen wir hier über die europäische Staatsschuldenkrise reden, nur feststellen, dass die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ganz klar einen roten Faden haben, den sie vom Anfang bis zum Ende, Schritt für Schritt, Stück für Stück verfolgen. ({0}) In ihrer Regierungserklärung Anfang des Jahres 2010, als wir uns das erste Mal intensiv mit den Herausforderungen aufgrund der griechischen Krise und der Staatsschuldenkrise in Europa beschäftigt haben, hat unsere Bundeskanzlerin deutlich gemacht, dass wir vorübergehende Rettungsmechanismen brauchen - vorübergehende Schritte, um schnell handeln zu können -, dass wir aber auch einen auf Dauer angelegten Rettungsmechanismus oder Schutzmechanismus zum Eingreifen innerhalb der Europäischen Union brauchen. An diesem dauerhaften Rettungsmechanismus ist jetzt zwei Jahre lange gearbeitet worden. Am 2. Februar dieses Jahres haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die Errichtung des Rettungsschirms beschlossen. Anfang März haben sie dann deutlich gemacht, dass sie diesen Rettungsschirm sogar ein Jahr eher dauerhaft in Kraft treten lassen wollen. Heute haben wir den Nachtragshaushalt auf der Tagesordnung. Dieser Nachtragshaushalt dient einzig und allein dem Ziel, die haushaltsmäßigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Deutschland auch in der Frage der Finanzierung des Europäischen Stabilitätsmechanismus das Vertrauen, das unserem Land entgegengebracht wird, rechtfertigen kann. Damit zeigen wir ganz klar: Das, was wir zusagen, halten wir ein; das, was wir zusagen, machen wir auch. ({1}) Wir haben die haushaltsmäßigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir den Europäischen Stabilitätsmechanismus, den wir in Europa brauchen, in fünf jährlichen Tranchen mit liquiden Mitteln bedienen können; von den 80 Milliarden Euro an liquiden Mitteln entfallen 21,7 Milliarden Euro auf die Bundesrepublik Deutschland. Dafür stellen wir jetzt im Nachtragshaushalt 8,7 Milliarden Euro bereit, damit wir die Bedienung des ESM sofort über unseren Haushalt leisten können, wenn die Regelungen zum ESM und zum Fiskalpakt in der nächsten Plenarwoche, so hoffe ich, von uns hier im Parlament ratifiziert worden sind. Ich finde, mit diesem Nachtragshaushalt im Rücken hat die Bundeskanzlerin am Montag und Dienstag in Mexiko eine noch stärkere, eine noch bessere Position, und das ist gut so. ({2}) Meine Damen und Herren, gegenüber dem Regierungsentwurf, den wir im Haushaltsausschuss in Ihrer aller Namen intensiv beraten haben, haben wir die Nettoneuverschuldung, die wegen der Zurverfügungstellung dieser Mittel notwendig wird, noch einmal gesenkt. Wir haben aktuelle Steuermehreinnahmen und Steuermindereinnahmen sowie Mehrausgaben und Minderausgaben miteinander verrechnet. Das führt zu einer Reduzierung der Nettokreditaufnahme, wie sie im Regierungsentwurf vorgesehen ist. Damit hat der Haushaltsausschuss einen positiven Beitrag dazu geleistet, dass wir die Schuldensituation unseres Landes verbessern. ({3}) Wir haben die Ausgaben im Bundeshaushalt erhöht und liegen jetzt bei Ausgaben in Höhe von 312 Milliarden Euro. Das ist ein riesiger Batzen. Aber wir werden aller Voraussicht nach nicht erst 2016, sondern schon im Jahre 2014 die zwingenden Bedingungen der Schuldenregel, die wir in die Verfassung geschrieben haben, einhalten können. Wir setzen mit dem Nachtragshaushalt das richtige Signal in Richtung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Das ist ein gewisses Maß an Stärke, die die Bundesregierung zum G-20-Treffen nach Mexiko mitnehmen kann. Im Zuge der Verhandlungen zum Nachtragshaushalt haben wir uns mit den Argumenten der Opposition auseinandersetzen müssen. Vom Anfang bis zum Ende hieß es, wir hätten nicht genug gespart, die Sparanstrengungen seien nicht rigide genug, wir müssten mehr Kürzungen vornehmen, in diesem oder jenem Bereich müssten wir Ausgaben reduzieren. Nun haben wir heute Morgen hier sozusagen auf offener Bühne von Herrn Steinmeier gehört, dass wir uns nicht nur mit Sparen, sondern auch mit Wachstumsdynamiken beschäftigen müssen. Hier komme ich wieder auf die rote Linie unserer Bundeskanzlerin zurück. Schon bei der ersten Regierungserklärung zur Griechenlandproblematik im Jahr 2010 ist deutlich geworden, dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um in den strukturschwachen Ländern der Europäischen Union alle potenziellen Wachstumskräfte freizusetzen, damit Wohlstand für alle Menschen in Europa Wirklichkeit werden kann. Zum damaligen Zeitpunkt kam von der Seite der Opposition der Vorwurf: Ihr könnt euch doch nicht immer nur mit dem Bruttoinlandsprodukt und mit Wachstum beschäftigen. Glücklich sein, das ist doch mehr als nur Wachstum. Wir brauchen eine moderne Politik, in der wir viele andere zusätzliche Aspekte berücksichtigen müssen. - Später rückte der Begriff Wachstumserfordernis in den Hintergrund, und wir wurden geradezu verdeibelt, das Bruttoinlandsprodukt, das ein wesentlicher Indikator für die soziale Sicherung in unserem Lande ist, hintanzustellen. ({4}) Heute hingegen wird von der SPD - von Herrn Steinmeier und allen, die heute Morgen geredet haben deutlich anerkannt: ({5}) Um soziale Sicherung und gesundheitliche Versorgung garantieren zu können - wir haben gestern über das marode griechische Gesundheitssystem debattiert -, brauchen wir ein hohes Bruttoinlandsprodukt in den Ländern der Europäischen Union, und dafür brauchen wir Wachstum. Sowohl der heute zu verabschiedende Nachtragshaushalt als auch der Haushaltsentwurf, den wir ursprünglich aufgestellt hatten, sind ein klares Zeichen dafür, dass wir verstanden haben, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland beide Seiten der Medaille im Blick behalten müssen: Wir müssen auf der einen Seite Wachstumsimpulse an unterschiedlichsten Stellen setzen und auf der anderen Seite die Haushaltskonsolidierung - also nicht länger Wirtschaften auf Pump - mit Blick auf die Kosten, die die künftigen Generationen zu tragen haben, im Blick behalten. Wir haben kleine Sondermaßnahmen vorgesehen. Wir haben es anders gemacht als die SPD, die früher von Anfang an geschönte Zahlen vorgelegt hat und dann billigend in Kauf genommen hat, dass man durch einen Nachtragshaushalt nachjustieren muss. Wir haben konservativ ermittelte Zahlen zugrunde gelegt, wodurch man die eine oder andere Schwerpunktsetzung noch vollziehen kann.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte noch einen kleinen Gedanken formulieren, der mir sehr wichtig ist. Im Haushalt des Staatsministers für Kultur haben wir 25 Millionen Euro Mehrausgaben angesetzt. ({0}) Wir haben 10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, damit in unserer schönen Hauptstadt ein Museum für klassische Moderne entstehen kann.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ein Sammlerpaar hat der Stadt Berlin und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine ganz tolle Ausstellung, ein wahres Juwel, geschenkt. Wir als Bund leisten unseren Beitrag und werden unserer Verantwortung für die Hauptstadt gerecht, indem wir diesen kulturpolitischen Schwerpunkt setzen. Das ist etwas, was mich neben der Staatsschuldenkrise stark bewegt hat und worüber ich mich sehr gefreut habe. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Carsten Schneider hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Kollegin Vogelsang, Ihrer letzten Äußerung zum kulturellen Erbe Berlins schließe ich mich an. Diesbezüglich haben wir auch zugestimmt. Abgesehen davon ist aber vieles von dem, was Sie gesagt haben, nicht durch das gedeckt, was Sie hier beschließen werden. ({0}) Ihre Aussagen zu einer angeblichen Neujustierung der Finanzpolitik bzw. zu einem Schuldenabbau - dieses Wort haben Sie hier tatsächlich benutzt; man kann das im Protokoll noch einmal nachlesen - sind durch die Realität überhaupt nicht gedeckt; denn mit dem Nachtragshaushalt, den Sie hier zur Abstimmung vorlegen, wird die Neuverschuldung gegenüber dem Jahr 2011 verdoppelt. ({1}) Die Neuverschuldung steigt von 17 Milliarden Euro im Jahr 2011 auf 32 Milliarden Euro. ({2}) Das ist Fakt. Ich gestehe gerne zu: 8 Milliarden Euro davon sind Mehrausgaben aufgrund des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Trotzdem - das wird auch Ihnen auffalle sind das immer noch 6 Milliarden Euro mehr, und das, obwohl Sie für 2012 ein stärkeres Wirtschaftswachstum als 2011 prognostizieren. Sie haben mehr Steuereinnahmen. Wir hatten wieder Rekordsteuereinnahmen. Die FDP hat in solchen Fällen früher immer gefordert, dass die Steuern gesenkt werden; das sagt sie jetzt nicht mehr so laut. ({3}) Außerdem sind die Kosten für die sozialen Sicherungssysteme gesunken, weil sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbessert hat. Das sind die zwei Hauptblöcke. Dann kommt noch ein dritter Block hinzu: Auch die Zinsausgaben sind gesunken. Deutschland ist der Profiteur der Euro-Krise. ({4}) So billig, wie wir uns derzeit verschulden können, kann sich kein anderes Land verschulden. Dadurch sparen Sie noch einmal 2 Milliarden Euro. Trotzdem steigt die Neuverschuldung gegenüber dem letzten Jahr um 6 Milliarden Euro. Das ist ein Offenbarungseid. ({5}) In der Finanzpolitik sind Sie kläglich gescheitert.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Barthle zulassen?

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, natürlich. Ich glaube, er möchte meinem letzten Satz zustimmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schneider, wenn Sie von einem „Offenbarungseid“ sprechen und sagen, dass die Neuverschuldung steige, dann vergleichen Sie die Sollzahlen des Jahres 2012 mit den Istzahlen des Jahres 2011. Da Sie diesen Vergleich anstellen, möchte ich Sie fragen, ob Sie auch behaupten würden, dass die Verschuldung im Jahr 2011 im Vergleich zur Verschuldung im Jahr 2010 ebenfalls gestiegen ist. Denn wenn man Soll und Ist verNorbert Barthle gleicht, kann man zu dem Schluss kommen, dass das so ist. Tatsächlich ist es aber so, dass wir für das Jahr 2010 eine Neuverschuldung von 80 Milliarden Euro als Soll geplant hatten. Im Ist lagen wir dann bei 44 Milliarden Euro. Im Jahr 2011 sind wir mit einem Soll von 48 Milliarden Euro gestartet. Gelandet sind wir bei einem Ist von 17 Milliarden Euro. Dieses Jahr starten wir mit einem Soll von 32 Milliarden Euro. Wo wir am Jahresende landen werden, wissen weder Sie noch ich. Deshalb halte ich diesen Vergleich für nicht redlich. ({0})

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Barthle, eines ist klar: Sie machen jetzt einen Haushaltsvoranschlag, eine Ermächtigung für die Regierung. ({0}) Sie wissen aber, dass die Bundeshaushaltsordnung Ihnen vorschreibt - daran sollten Sie sich halten; ich glaube, das tun Sie auch -, dass Sie exakt die Mittel einstellen, die nach Ihrer Ansicht gebraucht werden. ({1}) Dabei geht es um Haushaltswahrheit und -klarheit. Der entscheidende Punkt ist, dass wir uns schon in der Mitte des Jahres befinden. Das heißt, wir wissen schon sehr exakt, wo der Hase langläuft und wo wir in etwa landen werden. Die entscheidenden großen Posten habe ich Ihnen genannt: Steuereinnahmen und Sozialausgaben sind die beiden größten Posten. Die entsprechenden Zahlen stehen fest. In beiden Bereichen gibt es eine Entlastung. Sie haben nämlich mehr Steuereinnahmen und geringere Sozialausgaben. ({2}) Trotzdem steigt die Neuverschuldung um 6 Milliarden Euro. Das geht einfach nicht. Das zeigt, dass Sie das Geld verschludern und sich nicht wirklich darum bemühen, sauber und solide zu arbeiten. ({3}) Wenn Sie es nicht einmal in einer Hochphase der Konjunktur schaffen, den Haushalt auszugleichen, was soll denn dann passieren, wenn wir wieder einen Einbruch erleben? ({4}) Niemand weiß, wie dieses Jahr laufen wird. Wir haben hohe Unsicherheiten bezüglich der ökonomischen Lage in der Euro-Zone, in den USA, in China etc. Keiner weiß, wie es sich entwickeln wird. Umso wichtiger wäre es, heute damit zu beginnen, die Schulden des letzten Konjunkturprogramms zu tilgen, um, wenn es wieder schlechter läuft, Luft zum Investieren zu haben. Diese Luft nehmen Sie uns, weil Sie ein Geschäftsmodell fahren, wie es die Hypo Real Estate in ihren schlechtesten Zeiten getan hat. ({5}) - Woran ist die Hypo Real Estate gescheitert? Sie hat sich kurzfristig refinanziert und hatte langfristig hohe Lasten. Was tun Sie? Anstatt die langfristige günstige Refinanzierung zu nutzen, sich zum Beispiel für 30 Jahre zu verschulden und dafür 3 Prozent zu zahlen, ({6}) nutzen Sie jede Möglichkeit, sich kurzfristig, für nur ein oder zwei Jahre, bei ganz niedrigen Zinsen - diese liegen fast bei null - zu verschulden, um mithilfe dieser Zinsersparnis Ihre Klientel zu beglücken. ({7}) Das führt aber dazu, dass die Abhängigkeit des Bundeshaushalts und die Volatilität noch viel größer werden. Bei einem Wirtschaftseinbruch wären wir auch noch mit verschlechterten Zinsniveaus konfrontiert. Daran sehen Sie, dass Sie vollkommen unsolide und unverantwortlich haushalten und dass Sie der nächsten Bundesregierung, dem nächsten Bundestag kein gemachtes Nest hinterlassen. Vielmehr türmen sich schon heute die Probleme vor den Türen. Deswegen sage ich: Dieser Haushalt ist eine Bankrotterklärung des Bundesfinanzministers. In der Haushaltspolitik hat er seine Ziele bei weitem nicht erreicht. In der Anhörung, die wir dazu durchgeführt haben, haben Ihre Sachverständigen klar gesagt, dass Sie das Sparpaket, das Sie vorgelegt haben, gerade einmal zur Hälfte umgesetzt haben. Der Rest der Konsolidierung, der Rückgang der geplanten Neuverschuldung, geht einzig und allein auf konjunkturelle Sondereffekte zurück. Die Konjunktur ist mal gut und mal schlecht. ({8}) Zurzeit ist die Konjunktur gut, aber sie kann auch wieder schlecht werden. Dann steigt das strukturelle Defizit. Dann stehen wir vor der Situation, dass die Schulden, die Sie heute machen, zu Steuererhöhungen oder Minderausgaben bzw. Kürzungen führen werden. Das ist unsolide. ({9}) Das ist überhaupt kein Vorbild für die anderen Länder in Europa, denen Sie gerne vorhalten, sie würden nicht richtig sparen. Im Gegenteil: Das tun sie zum großen Teil. Deutschland hingegen ist das Land, das am meisten Carsten Schneider ({10}) prasst. Deswegen taugen Sie und die Finanzpolitik Deutschlands hier nicht als Vorbild. ({11}) - Ich kann Ihnen das klar sagen, Herr Kollege Fricke: Sie prassen. Sie machen miese Geschäfte. ({12}) Nehmen Sie den letzten Koalitionsgipfel im Kanzleramt als Beispiel. Was ist da vereinbart worden? ({13}) Da ist - entgegen dem geballten Sachverstand und dem gesunden Menschenverstand - vereinbart worden, dass in Deutschland ein Betreuungsgeld eingeführt werden soll. Dies bedeutet 1,2 Milliarden Euro Mehrausgaben. ({14}) Gegenfinanzierung? Null. Was hat die FDP als Gegenleistung dafür bekommen? Dass eine private Pflegeversicherung über Steuervergünstigungen bezuschusst wird. ({15}) Sie können sich ja nur noch einigen, wenn es darum geht, das Geld fremder Leute auszugeben oder Kredite aufzunehmen. ({16}) Dazu sind Sie noch in der Lage. Dies ist aber keine angemessene Antwort auf die Situation, in der wir uns befinden. Es ist mehr oder weniger ein Dahinsiechen. Sie können quasi nur noch existieren, weil die Konjunktur in Deutschland brummt. Müssten Sie wirklich harte Entscheidungen treffen, wären Sie bereits am Ende. Sie können nur noch über das Verteilen reden. ({17}) Wir haben dem ein klares und ehrliches Programm entgegengesetzt. Wir wollen die Risiken, die sich aus den Krediten, die wir Griechenland aufgrund Ihrer Beschlusslage gegeben haben - diese betragen insgesamt 15 Milliarden Euro -, absichern. In unserem Programm sehen wir die Tilgung des Konjunkturfonds vor. Dabei geht es um mehr als 2,3 Milliarden Euro. In guten Zeiten muss man die Schulden der Vergangenheit zurückzahlen. Bei Ihnen findet sich dazu gar nichts. Das haben Sie einfach so hingenommen. Darauf zahlen wir Zinsen, und nichts wird getilgt. Wir wollen all dies auf zwei Wegen finanzieren, und zwar über einen konsequenten Subventionsabbau und eine Verbreiterung der Steuereinnahmebasis. Wir wollen zum einen ökologisch bedenkliche Subventionen abbauen und zum anderen das von Ihnen, und zwar von der FDP, eingeführte Hotelsteuerprivileg im Mehrwertsteuerbereich abschaffen. ({18}) Sie haben sich zwar davon distanziert, aber immer noch gilt der verminderte Mehrwertsteuersatz für das Übernachtungsgewerbe. Meine Damen und Herren, in der Finanzpolitik haben Sie nichts wirklich Substanzielles geleistet. Die Steuerpolitik des Bundesfinanzministers beschränkt sich auf Nichtstun. Die Hände werden in den Schoß gelegt. Wenn ich mir vor Augen führe, wie Sie früher getönt haben - ich erinnere nur an Ihr Sparbuch -, ({19}) muss ich feststellen: Nichts davon haben Sie tatsächlich umgesetzt. Von daher ist dies ein verlorenes Jahr für Deutschland, ein Jahr, das uns später noch teuer zu stehen kommen wird. ({20})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts von dem, was Carsten Schneider eben vorgetragen hat, entspricht der Realität. ({0}) Ich will das an einem Punkt deutlich machen. Es ist schon starker Tobak, zu behaupten, dieser Nachtragshaushalt sei die Bankrotterklärung des Bundesfinanzministers. Ich halte Ihnen Folgendes vor: Vor einem Monat wurde Wolfgang Schäuble der Karlspreis der Stadt Aachen verliehen. Das ist eine sehr große Auszeichnung, zu der wir als FDP-Fraktion dem Bundesfinanzminister recht herzlich gratulieren. ({1}) Er ist damit für sein Engagement zur Stabilisierung der Währungsunion ausgezeichnet worden. Der Vorsitzende der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, bezeichnete Schäuble in seiner Laudatio ({2}) - das werden Sie sich ja wohl anhören können - als deutschen und europäischen Patrioten. Er sagte: „Er schindet sich, er bemüht sich, er kämpft.“ Das ist eine große Anerkennung, und das gilt für die gesamte Regierung. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Aussage belegt noch etwas anderes - hier sind Sie nämlich auf dem falschen Dampfer -: Man muss nicht deutsche Interessen aufgeben, um ein leidenschaftlicher Europäer zu sein. Heute steht der Nachtragshaushalt 2012 zur Abstimmung. Erneut sieht man den Unterschied zwischen dieser Koalition und Rot-Grün. Wie war die Situation denn unter Rot-Grün? Sie haben mehrfach Nachtragshaushalte vorgelegt. Sie haben sich jedes Mal bis zum Jahresende durchgewurstelt, um Ihren Nachtragshaushalt dann irgendwann im November oder Dezember, wenn es nicht mehr anders ging, vorzulegen. Das war Ihre Politik. Wir hingegen beachten die Prinzipien der Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit. Die Zahlen in den von Ihnen zu verantwortenden Bundeshaushalten waren immer geschönt. Deswegen mussten Sie immer wieder Nachtragshaushalte vorlegen. Bei uns wird nichts geschönt. ({4}) Jeder Bürger kann erkennen, dass die Grundsätze der Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit eingehalten werden. Selbstverständlich hat auch unser Nachtragshaushalt unangenehme Inhalte. Die Begeisterung ist natürlich nicht allzu groß. In diesem Nachtragshaushalt sind zum Beispiel 8,7 Milliarden Euro für die Ausstattung des ESM enthalten. Das ist notwendig, und das machen wir. Außerdem - auch das hat mit der Krise in einigen europäischen Staaten zu tun - fällt der Bundesbankgewinn leider nicht so hoch aus wie erwartet. Auch dies ist im Nachtragshaushalt berücksichtigt worden. Positiv ist, dass die Zinslast im Hinblick auf die Bundesanleihen um über 1 Milliarde Euro reduziert werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass wir von der Euro-Krise profitieren. ({5}) Das, was der Kollege Schneider hier erzählt hat, ist wirklich dummes Zeug. Das kann er doch selbst nicht glauben. Ich frage die Opposition: Warum können Sie diesem Nachtragshaushalt nicht zustimmen? Warum wollen Sie ihn ablehnen? Ich sage Ihnen, warum: weil Sie einen ganz anderen Kurs einschlagen wollen. Sie wollen, dass sich der Bund wieder stärker verschuldet, wie es Ihr Parteivorsitzender angedeutet hat. ({6}) - Ihr Parteivorsitzender hat doch von uns gefordert, über 12 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen, um die Kommunen zu entlasten. Wo würden Sie diesen Betrag im Bundeshaushalt unterbringen? Oder wollen Sie etwa Steuererhöhungen? ({7}) Sie wollen, dass sich Europa weiter verschulden darf und Deutschland dafür zahlt. ({8}) Das ist Ihre Politik. Dabei machen wir aber nicht mit. ({9}) Sie wollen Steuermehreinnahmen durch Steuererhöhungen generieren. Auch wir wollen Steuermehreinnahmen erzielen; das ist klar. Wer will das nicht? Aber wir wollen das durch gute Wirtschaftspolitik ({10}) und durch gute Rahmenbedingungen vor allem für den Mittelstand erreichen. Das bringt Geld in die Kasse, aber nicht Steuererhöhungen, wie Sie sie teilweise fordern. ({11}) Die SPD hat einen recht witzigen Entschließungsantrag eingebracht. Darin fordern Sie uns auf, die Schuldenbremse auch im Geiste und Sinn des Gesetzes einzuhalten. ({12}) Wissen Sie was? Diesen Antrag sollten Sie mal nach Nordrhein-Westfalen und nach Schleswig-Holstein schicken. ({13}) Nordrhein-Westfalen muss für die WestLB in diesen Tagen zusätzlich 1 Milliarde Euro in die Hand nehmen. Woher nehmen sie dieses Geld? Sie werden den Steuerzahler damit belasten, niemand anderen. In der Kasse des Landes ist dieses Geld jedenfalls nicht vorhanden. Ein anderes Beispiel: Schleswig-Holstein. Sie beklagen, dass die Situation der Kommunen teilweise schlecht ist. Kollegin Hagedorn - in Schleswig-Holstein gibt es ja jetzt eine Dänen-Ampel -, ich habe Ihnen ein Zitat mitgebracht. In der Zeitung war zu lesen: „Entsetzen in Lübeck: Albig streicht … 250 Millionen Euro.“ Da geht es um kommunale Finanzen. Hier machen Sie den Biedermann, und draußen machen Sie den Brandstifter und rufen nach der Feuerwehr. Das ist Ihre Politik. Das machen wir nicht mit. ({14}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr angetan von diesem Nachtragshaushalt, weil er eines dokumentiert ({15}) - das sollten Sie nicht vergessen; kein positives Wort haben Sie darüber verloren -: Die Konjunktur in Deutschland läuft gut. ({16}) Wir haben weniger Arbeitslose, und die Jugendarbeitslosigkeit ist auf einem niedrigen Niveau. Darüber sollten wir uns alle einmal freuen, statt nur zu mäkeln, wie Sie es tun. Diesem Nachtragshaushalt können Sie gerne zustimmen. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit diesem Nachtragshaushalt soll der deutsche Beitrag für den Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, bereitgestellt werden. So wurde es ja schon vorgetragen. Es geht aber um viel mehr. Es geht um die Frage, ob der Euro dieses Jahr überleben wird. Die Bundesregierung wird von Regierungen und Währungsexperten aus der ganzen Welt aufgefordert, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden, mutig zu handeln und den Euro zu retten. Doch alle Hilferufe und Ermahnungen prallen an dieser Regierung ab. Sie handelt engstirnig und verantwortungslos. Das muss endlich ein Ende haben. ({0}) Nicht nur wir als Linke halten den ESM und den Fiskalpakt für völlig ungeeignet, die Euro-Krise zu lösen; Fiskalpakt und ESM sind nun einmal zwei Seiten einer Medaille. Nein, ganz im Gegenteil: Der Fiskalpakt führt Europa noch tiefer in die Krise. Wir sehen doch in Griechenland, welche verheerenden Auswirkungen die Kürzungspolitik hat, wie die Menschen dort unter ihr leiden müssen. Das Kürzungsdiktat führt in Griechenland gerade dazu, dass die medizinische Versorgung zusammenbricht. Trotzdem - so wollen Sie es - sollen die Griechen in diesem Jahr noch 1,1 Milliarden Euro bei den Ausgaben für Medikamente kürzen. Diese unglaubliche Brutalität gegen Griechenland hat doch nur eine Funktion: Sie soll nicht den Griechen aus der Krise helfen, sondern es soll eine Drohkulisse für alle anderen Krisenländer aufgebaut werden, und das ist verantwortungslos. ({1}) Durch die Bankenkrise in Spanien wird doch nur zu deutlich, dass der ESM nicht funktionieren wird. Marode spanische Banken wollen nun 100 Milliarden Euro haben. Hat uns die Bundesregierung nicht immer erklärt, dass wir keine Bankenkrise, sondern eine Staatsschuldenkrise haben? ({2}) Mit dieser Begründung wurden drastische Kürzungsmaßnahmen in Spanien beschlossen. Seit 2011 wurden die Renten eingefroren, Löhne und Investitionen gekürzt. Ich frage Sie: Haben der Sozialabbau in Spanien und die Kürzung der öffentlichen Investitionen irgendetwas zur Gesundung der Banken dort beigetragen? Nein, natürlich nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wirtschaftskrise in Spanien verschärft sich täglich. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Die Menschen haben dort keine Zukunft. Hier können wir doch nicht länger zusehen. ({3}) In diesen Tagen verhandeln die Bundesregierung und die Opposition über den Fiskalpakt. SPD und Grüne wollen dem Fiskalpakt - so haben wir es gelesen - zustimmen, wenn die Bundesregierung einen Beschluss über die Einführung einer Finanztransaktionsteuer fasst. Wir glauben den vagen Absichtserklärungen der Bundesregierung nicht. Wir wollen Klarheit und Verbindlichkeit. Darum hat unsere Fraktion den Antrag eingebracht, die Finanztransaktionsteuer im Nachtragshaushalt aufzunehmen. Wenn Sie es mit der Umsatzsteuer auf Finanzprodukte also ernst meinen, meine Damen und Herren von Union und FDP, dann dürfte die Zustimmung zu unserem Antrag doch kein Problem sein. ({4}) SPD und Grüne haben unseren Antrag im Haushaltsausschuss unterstützt. Die Regierungskoalition hat ihn abgelehnt. Was soll man davon halten? Ist es Ihnen ernst mit der Finanztransaktionsteuer oder nicht? Meine Damen und Herren, wir als Linke fordern diese Steuer schon sehr lange. Wir wissen aber auch, dass der Fiskalpakt dadurch kein bisschen besser wird. Wir sagen Ja zur Finanztransaktionsteuer, wir sagen Ja zur Regulierung der Finanzmärkte, aber wir sagen ganz deutlich Nein zum Fiskalpakt. ({5}) Und Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, kann ich vor windigen Geschäften mit der Bundesregierung nur warnen. Lassen Sie sich nicht auf krumme Geschäfte mit dieser Teppichhändlerkoalition ein. Lehnen Sie nicht nur den Nachtragshaushalt, sondern auch den Fiskalpakt ab. ({6}) Nach Auskunft der EU-Kommission von Dienstag kann übrigens die Finanztransaktionsteuer noch im Jahr 2012 eingeführt werden, wenn im Juli mindestens neun Länder einen entsprechenden Antrag einbringen. Da sowohl die Bundeskanzlerin als auch Herr Schäuble so oft davon gesprochen haben, dass sie persönlich doch für diese Steuer seien, fordere ich Sie auf: Bringen Sie noch heute den Antrag zur Einführung der Finanztransaktionsteuer bei der EU ein. Dann wissen wir, dass Sie es ernst meinen. ({7}) 8,7 Milliarden Euro, die heute für den Rettungsschirm beschlossen werden sollen, sind nicht nur viel Geld für ein falsches Projekt, sondern sie bedeuten auch ein Weniger an Demokratie. Glaubt hier wirklich jemand im Ernst, dass der Bundestag oder irgendein anderes ParlaDr. Gesine Lötzsch ment in der Lage sein wird, den ESM so zu überwachen, wie es nötig wäre? Ich glaube es nicht. Wenn Sie diesen Beschluss fassen, werden wir alle am Ende eines Besseren belehrt werden. In Anbetracht der dramatischen Situation, in der sich die Europäische Union befindet, brauchen wir sehr mutige Entscheidungen des Deutschen Bundestages. Wir müssen endlich damit aufhören, marode Banken zu retten. Wir müssen gesunde Unternehmen und damit Millionen von Arbeitsplätzen retten. Dafür brauchen wir ein starkes europäisches Investitionsprogramm. Das wäre der richtige Weg. ({8}) Erinnern wir uns gemeinsam an das Jahr 2008. Damals wurde, übrigens auch auf Drängen der Fraktion Die Linke, ein Konjunkturprogramm, ein Investitionsprogramm, aufgelegt. Die Banken hatten damals total versagt. Eine Kreditklemme drohte gesunde Unternehmen zu zerstören. Direkte staatliche Hilfe hat damals unzählige Unternehmen und Arbeitsplätze in Deutschland gerettet. Ein solches Programm brauchen wir für ganz Europa und keine Kürzungspolitik! ({9}) Deutschland kann einen Beitrag zu einem solchen Programm leisten. Wir haben es schon gehört - diese Aussage ist völlig richtig -: Deutschland profitiert im Augenblick von der Euro-Krise. Die Financial Times Deutschland schätzt, dass wir in den nächsten fünf Jahren wegen der günstigen Zinssituation für Deutschland 100 Milliarden Euro weniger ausgeben müssen. ({10}) Damit zieht die Bundesrepublik Deutschland, gewollt oder ungewollt, aus der Notlage der anderen Länder einen Gewinn. Aber ich sage Ihnen: Es ist nicht nur die moralische Pflicht der Bundesrepublik Deutschland, dieses Geld zu nutzen, um den Krisenländern zu helfen, sondern es wäre auch eine Tat zu eigenem Nutzen; denn wenn wir den Krisenländern jetzt nicht helfen, dann werden wir eines Tages selbst ein Krisenland sein. Das will die Linke verhindern. Wir lehnen den Nachtragshaushalt ab. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sven-Christian Kindler hat das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen.

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Vogelsang von der Union hat vorhin davon gesprochen, Angela Merkel verfolge in der Europapolitik eine rote Linie. Ich kann mich erinnern, wie es die letzten drei Jahre hier im Bundestag war: Das, was diese Koalition gemacht hat, war immer zu spät und immer zu wenig. Das war ein Zickzackkurs. Dies und die Austeritätspolitik haben die Krise in Europa verschärft. Das war keine rote Linie, das war ein schwarz-gelber Irrweg in der Europapolitik. ({0}) Das zeigt auch dieser Nachtragshaushalt. Bestehende Chancen wurden mit diesem Nachtragshaushalt nicht genutzt. Ich stelle für die Grünen fest: Wir sind dafür, dass das Inkrafttreten des ESM vorgezogen wird. Das haben wir auch beantragt. Denn wir halten einen dauerhaften Rettungsmechanismus für sinnvoll; dies kann ein erster Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Währungsfonds sein. Deswegen unterstützen wir, dass die Gelder eingezahlt werden. Das Problem ist jetzt aber, dass die Bereitstellung dieser Mittel vollständig über eine Neuverschuldung finanziert wird, obwohl die Konjunkturlage extrem gut ist und die Zinsen historisch niedrig sind. Dieser Nachtragshaushalt zeigt eben auch: Es gibt keine Verbesserung bei den Ausgaben. Es gibt keine strukturellen Einsparungen. Es gibt keine Konsolidierung. Es gibt keine Mehreinnahmen. Auch dieser Nachtragshaushalt ist ein Irrweg. ({1}) - Ich komme gleich zu den Sparvorschlägen, Schorsch. Die Konsequenz muss sein: Wir müssen jetzt die Schulden begrenzen und sie abbauen. Die fiskalische Verschuldung müssen wir angehen. Wir müssen zum Beispiel Subventionen abbauen. Es gibt eine Reihe von klimaschädlichen Subventionen, die wir abbauen können. ({2}) Wir müssen strukturelle Einsparungen im Haushalt vornehmen und zum Beispiel die konjunkturellen Effekte nutzen. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die durch diese Krise verursachten Schulden gerecht abgebaut werden. Wir haben als Grüne dafür ein Konzept vorgelegt. Wir wollen eine Vermögensabgabe. Für die nächsten zehn Jahre wollen wir von den Millionären in diesem Land 100 Milliarden Euro einnehmen, um die durch die Bankenkrise verursachten Schulden finanzieren zu können. Wir wollen, dass es in diesem Land gerecht zugeht. Deswegen müssen die Millionäre ihren Beitrag leisten. ({3}) Wir haben gemeinsam mit der SPD eine Anhörung zum Nachtragshaushalt beantragt. Kollege Schneider hat es schon gesagt: Die Bundesbank und der Bundesrechnungshof haben Vorschläge gemacht. In den Stellungnahmen gab es vernichtende Kritik an der Koalition. ({4}) - Gucken wir uns das Sparpaket doch einmal an, Kollege Koppelin. Was ist aus dem Sparpaket geworden? Es gab die unsozialen Einschnitte beim Elterngeld für ALG-II-Empfängerinnen. Die Eingliederungshilfe für arbeitslose Menschen wurde rasiert. Was gab es noch? Es wurde fast nichts umgesetzt. ({5}) Was war denn? Einnahmen aus der Finanztransaktionsteuer sind bisher nicht geflossen. Dazu mussten wir Sie im Bundestag immer treiben. Einnahmen aus der Brennelementesteuer sind nicht so geflossen wie geplant. Was ist denn mit den Einsparungen im Rahmen der Bundeswehrreform? Da haben Sie nichts gemacht und haushaltspolitisch versagt. ({6}) Beim Nachtragshaushalt kann man auch noch einmal feststellen, wie Sie Haushaltspolitik machen. Es gab im Berichterstattergespräch eine Einigung, für das Arbeitslosengeld II 200 Millionen Euro weniger anzusetzen, weil man davon ausgeht, dass sich der Arbeitsmarkt besser entwickeln wird. Dann haben Sie sich in der Koalition noch einmal beraten. Sie haben dann im Haushaltsausschuss einen Antrag eingebracht, in dem Sie von 230 Millionen Euro ausgehen. Es ging also noch einmal um 30 Millionen Euro. Das ist aber nicht seriös. Die Arbeitsmarktdaten geben das nicht her. Sie wissen gar nicht, ob sich der Arbeitsmarkt tatsächlich besser entwickelt. Auch das zeigt, wie unseriös Ihre Finanzpolitik ist. ({7}) Des Weiteren haben wir den Energie- und Klimafonds im Verfahren zum Nachtragshaushalt beraten. Wir haben Ihnen schon damals vorgerechnet, was sich ergeben wird. Der Bundesrechnungshof hat es bestätigt. Sie haben beim Klimafonds einen Schattenhaushalt eingerichtet. Sie haben bei der Finanzierung der Energiewende den Grundsatz der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit nicht beachtet. Sie haben damals den Preis für die CO2-Zertifikate mit 17 Euro kalkuliert. Der Fonds ist von den Einnahmen abhängig. Jetzt sind es noch 7,50 Euro. Das heißt, hier musste im Bereich der Energiewende massiv gekürzt werden. Wichtige Programme der Energiepolitik und für den Klimaschutz fallen weg. Sie haben den Nachtragshaushalt nicht genutzt, um das zu korrigieren. Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, wo wir bei klimaschädlichen Subventionen, zum Beispiel bei schweren Dienstwagen, im Flugverkehr und bei Ausnahmen im Zusammenhang mit der Ökosteuer, Geld einsparen und damit die Energiewende, den Klimaschutz, zum Beispiel durch Gebäudesanierung, oder auch die Forschung zu erneuerbaren Energien finanzieren können. Das haben Sie nicht umgesetzt. Auch hier zeigt sich das klimapolitische, aber auch das haushaltspolitische Versagen dieser Koalition. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Vogelsang?

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Erinnern Sie sich eigentlich daran, dass Sie in Ihrer Rede zum Haushalt 2011 die gleichen Behauptungen aufgestellt haben wie jetzt und dass rein gar nichts von dem, was Sie gesagt haben, eingetroffen ist? ({0})

Sven Christian Kindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004070, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich verstehe die Frage nicht ganz, ({0}) weil kein konkreter Inhalt darin enthalten war. Aber ich will gerne darauf eingehen. Ich habe schon in der Haushaltsrede 2011 klar gesagt: Der Energie- und Klimafonds ist schlecht konstruiert; ({1}) es wird nicht zu dem Preis von 17 Euro kommen. Es ist nicht dazu gekommen; es waren 7,50 Euro. Jetzt mussten Sie die Mittel für den Energie- und Klimafonds fast um die Hälfte kürzen. Das ist schlecht für die Energiewende und für den Haushalt, und es zeigt, wie unseriös Ihre Politik ist. Das ist alles eingetreten. ({2}) Auch bei der Frage, wie es mit Europa weitergeht, ist diese Koalition auf dem Holzweg. Wir haben klargemacht: Man hätte schon mit dem Nachtragshaushalt Vorbereitungen treffen können. Wir brauchen für Europa ein Investitionsprogramm. Wir brauchen soziale und ökologische Investitionen, damit auch die Krisenländer eine Chance haben. Auch eine Kapitalerhöhung bei der Europäischen Investitionsbank hätte man in den Nachtragshaushalt aufnehmen können. Wir brauchen an dieser Stelle mehr Investitionen, damit Europa aus der Krise herauskommt. Die verheerende Austeritätspolitik muss beendet werden, damit es auch für die Krisenländer eine Chance gibt. Eine gerechte und ökologische Krisenpolitik wäre für Europa angebracht. ({3}) Natürlich wollen wir das auch finanzieren. Hierbei geht es um die Gerechtigkeitsfrage. Das heißt, die Finanztransaktionsteuer muss kommen, weil sie die Finanzmärkte reguliert und dafür sorgt, dass wir mehr Einnahmen haben. Wir brauchen auch höhere Steuern, zum Beispiel bei der Einkommensteuer und für Vermögende, weil es gerecht ist, dass sie ihren Anteil an der Krise tragen. So können wir auch in Deutschland und in Europa gerecht investieren. ({4}) Das haben Sie alles abgelehnt. Sie bleiben auf Ihrem Holzweg. Das ist ein schwarz-gelber Schuldennachtragshaushalt. Sie haben hier nicht konsolidiert und nicht strukturell eingespart. Sie haben diesen Haushalt im Sinne der Gerechtigkeit nicht verbessert. Deswegen lehnen wir ihn ab und werden weiter dafür streiten, dass es eine gerechte und solidarische Krisenlösung für Deutschland und Europa gibt. Danke. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter hat jetzt das Wort für die Bundesregierung. ({0})

Steffen Kampeter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001062

Danke schön, Frau Präsidentin. - Eine der Grundregeln der Opposition lautet, wie diese Debatte zeigt: Wenn du keine guten Argumente hast, dann musst du sprachlich aufrüsten. ({0}) Die sprachliche Maßlosigkeit, mit der die Redner der Opposition heute hier vorgetragen haben, steht in einem scharfen Kontrast zu dem sachlichen Gehalt und der Qualität ihrer Aussagen. ({1}) Da wird in allen Superlativen Kritik geäußert. Ich will mir hier einmal den Kollegen Schneider als den Sprecher der größten Oppositionsfraktion vornehmen, dessen Kernaussage lautet, wir machen zu viele Schulden. Herr Kollege Schneider, Sie als Sprecher der SPD stehen damit vor der Gefahr eines Ausschlussverfahrens aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, glaube ich; denn wenn ich die Medien richtig verfolge, ({2}) sind diejenigen, die wir als Troikaner kennen, gestern in Paris gewesen, um gemeinsam mit den französischen Sozialdemokraten für Frankreich, aber wohl auch für die deutsche Sozialdemokratie die Botschaft nach Europa zu senden, Deutschland solle mehr Schulden machen. ({3}) Ich bekomme nicht zusammen, wo denn da die Richtlinienkompetenz in der SPD in Deutschland liegt: Bei den Troikanern, die gemeinsam mit Frankreich nach mehr Schulden rufen, oder beim haushaltspolitischen Sprecher, der uns unter Verwendung schärfster sprachlicher Formulierungen hier geißeln will, weil wir angeblich zu viele Schulden machen? Das geht nicht. SPD in Paris und SPD in Deutschland müssen schon das Gleiche sagen. Sonst sind Sie unglaubwürdig, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4}) Herr Kollege Schneider, ich will Sie außerdem darauf hinweisen, dass wir auch noch sozialdemokratische Ministerpräsidenten haben, ({5}) die im Zusammenhang mit der Frage des Fiskalpakts Briefe schreiben. - Zu diesem Thema komme ich noch. ({6}) - Es gibt auch CDU-Ministerpräsidenten, die Briefe schreiben. Sie sind sich da ähnlich. ({7}) Jetzt sind wir aber bei Ihrem Vorwurf, wir machten zu viele Schulden. Diese Ministerpräsidenten fordern, der Bund solle Lasten in zweistelliger Milliardenhöhe von den Ländern übernehmen. Jetzt frage ich Sie, Herr Schneider: Sollen wir, um noch weniger Schulden zu machen, Ausgaben kürzen? Wenn ja, wo soll das nach Vorstellung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bitte geschehen? Und welche Steuern sollen in einer Größenordnung von 10, 20 oder 30 Milliarden Euro erhoben werden? Das müssen Sie dann aber bitte hier auch konkret sagen. Oder Sie lassen Ihre Klage fallen, bei dieser Haushaltspolitik würden zu viele Schulden gemacht. Das Gegenteil ist nämlich richtig. Das ist eine Haushaltspolitik von Maß und Mitte. Sie ist nicht nur national klug, sondern auch international gut aufgestellt. Wir machen keine Vollbremsung, sondern stehen zu unserer Verantwortung und machen das, was national wie europäisch notwendig ist. ({8}) Das ist eine wachstumsfreundliche Konsolidierung. Ich kenne kein Land in Europa, das nicht unsere Probleme und unsere Haushaltssituation gerne übernehmen würde. Wir werden mit diesem Nachtragshaushalt einen wichtigen Beitrag zur Stabilität Europas leisten, indem wir gleichzeitig deutlich machen, dass wir das Kapital für den Europäischen Stabilitätsmechanismus einzahlen. Das steht in überhaupt keinem Widerspruch zu unserer generellen Linie, im Jahre 2016 einen fast ausgeglichenen Haushalt auch für den Bund vorzulegen. Ich fordere nicht nur die SPD-Bundestagsfraktion auf, uns bei dem Anliegen, den Bundeshaushalt zu konsolidieren, zu unterstützen, sondern ich appelliere auch an alle Länderparlamente und Länderfinanzminister, nicht Ausflüchte zu suchen, sondern bei der Konsolidierungsaufgabe mitzumachen, weil ein ausgeglichener Haushalt für die nachfolgenden Generationen der beste Beitrag für Zukunftsinvestitionen und Wachstumssicherung ist. Das gilt nicht nur für Berlin, sondern auch für alle 16 Länderhaushalte. ({9}) Obwohl wir Mehrausgaben haben und obwohl wir einen niedrigen Bundesbankgewinn verkraften müssen, senken wir die Nettokreditaufnahme; denn die wirtschaftliche Situation ist in Deutschland so, dass erfreulicherweise mehr Steuern fließen, als wir gemeinsam noch vor wenigen Wochen hier in diesem Hohen Hause angenommen haben. Deutschland kann sich diese Anstrengung nur leisten, weil wir in den vergangenen Jahren - das waren im Übrigen nicht nur unionsgeführte Bundesregierungen - ein umfassendes Reformprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung durchgeführt haben. Es würde mich freuen, wenn die deutsche Sozialdemokratie, anstatt die Austeritätspolitik zu kritisieren, dazu stehen würde, dass Regierung und Opposition gemeinsam in diesem Hohen Hause in den letzten 10 bis 15 Jahren viel dazu beigetragen haben, dass die wirtschaftliche Entwicklung so positiv in Deutschland ist. Die Jugendarbeitslosigkeit ist die niedrigste in Europa, wir verzeichnen Nachkriegsrekorde bei der Beschäftigung, und wir sind ein Stabilitätsanker für ganz Europa. Darauf sollten wir gemeinsam, Regierung und Opposition, stolz sein. ({10}) Aber ich will auch warnen: nicht vor dem Kollegen Schneider - der war heute auf der Seite der Konsolidierer -, sondern vor anderen Teilen der politischen Linken in diesem Land, die fordern, dass Deutschland mehr machen soll. Die Erwartung geht dahin, dass Deutschland alles machen soll. Die Politik von Maß und Mitte weiß, dass wir in Deutschland nicht überfordert werden dürfen. Wir können nicht jedes Problem Europas mit deutscher Initiative lösen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Deswegen ist es auch wichtig, deutlich zu machen, dass nationale Verantwortung die Grundlage für europäische Solidarität ist. Die Vergemeinschaftung von Schulden, die manche in diesem Haus als Ausweg aus der Krise empfehlen, ist kein Ausweg, sondern ein Irrweg. ({11}) Dieser Haushalt zeigt: Löse deine nationalen Aufgaben in der Budgetpolitik! Er ist eine Aufforderung zu Reformen auch da, wo eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik notwendig ist. Er zeigt, dass Fiskalpolitik, also Haushaltsausgleich, kein Widerspruch zu Wirtschaftswachstum ist. Er macht aber ebenso deutlich, dass im Europa der 27 auch die übrigen 26 Länder sowohl in der Fiskalpolitik als auch in der Reformpolitik ihre Aufgaben lösen müssen. Nur so wird Europa stark. Wir müssen gemeinsam unsere jeweilige nationale Verantwortung wahrnehmen und so einen Beitrag zu einem starken Europa leisten. ({12}) Ich will zum Abschluss eines feststellen: Dieser Haushalt wird ein weiterer Schritt sein ({13}) im Hinblick auf ausgeglichene und stabile Bund-LänderFinanzbeziehungen. ({14}) Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten überall den Markstein sehen: Sind wir bereit, auch unseren Bürgerinnen und Bürgern zu erzählen, was politisch nicht mehr geht oder welche politischen Schwerpunkte wir setzen wollen, damit wir mit dem Geld, das wir haben, auch tatsächlich auskommen? ({15}) Deutschland kann von anderen nur Opfer einfordern, wenn es selbst in der Fiskalpolitik, in der Reformpolitik und in der Solidarität vorbildlich ist. Dieser Haushalt zeigt, dass Deutschland seiner Verantwortung vorbildlich gerecht werden wird. Wir werden weiter daran arbeiten, noch besser zu werden. Ich lade uns alle, die Regierung und die Opposition, dazu ein, daran mitzuwirken. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Lothar Binding hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige Worte zum Kollegen Kampeter, der gesagt hat, die Troika in Paris habe vorgeschlagen, mehr Schulden zu machen. Diese hatte richtig gute Ideen, was man tun muss, um Europa zu helfen: Sie hat etwas von Wachstum gesagt und Vorschläge zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gemacht. Sie hat von Strukturhilfen und Investitionsmaßnahmen gesprochen. Sie hat aber auch gesagt: Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer. ({0}) Wir müssen in Deutschland die Steuersparmodelle, die Sie erneut aktiviert haben, abschaffen. ({1}) Wir brauchen natürlich die EIB, die Europäische Investitionsbank, die wir mit etwas Eigenkapital motivieren können, enorme Investitionsleistungen zu tätigen. Wir haben Strukturfonds mit unverbrauchten Mitteln. Uns stehen also viele Möglichkeiten zur Verfügung, diese guten Ideen zu finanzieren; man müsste nur die Ideen aufgreifen und umsetzen. ({2}) Die Zeit hat heute den Redebeitrag von Carsten Schneider sehr schön zusammengefasst: „Deutschland fordert Haushaltsdisziplin in Europa, verletzt sie aber selbst.“ Ich will dazu ein Gleichnis nennen. ({3}) - Ja, das stimmt. Es war ein guter Mann, der die Überschrift formuliert hat. Schönen Dank für den Zwischenruf. ({4}) - Sie hat das aber zitiert. Das war ein kluges Zitat dort. ({5}) - Man merkt aber schon, dass es eine gewisse Aufregung bei der FDP gibt. Denn das wäre ungefähr so, als würde Herr Niebel in der Welt Good Governance verlangen, um dann jenen die Mittel zu streichen, bei denen es Korruption und Günstlingswirtschaft gibt. ({6}) - Ich weiß das schon. - Aber das ist nun mal so, als wenn Herr Niebel in der Welt etwas verlangt, was er zu Hause nicht zu leisten bereit ist. Mit dieser Logik lässt sich keine gute Politik machen. ({7}) Stefanie Vogelsang - das wollte ich ursprünglich als Erstes sagen, denn sie war die erste Rednerin - hat ganz nett etwa formuliert: Als wir uns vor zwei Jahren erstmals mit der Notlage in Griechenland befasst haben, dachten wir an einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus. - Ich will erinnern: kein Cent für die Griechen das war Ihr Reflex auf die Notlage in Griechenland. ({8}) Viele haben dazu beigetragen, dass dieser Stabilitätsmechanismus entwickelt werden konnte. Anders wären wir noch längst nicht da angekommen, wo wir heute sind. Aber wir sind mit den Ideen noch nicht am Ende. Jürgen Koppelin hat etwas ganz Interessantes gemacht. Er hat etwa in 90 Prozent seiner Redezeit von der SPD, von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein gesprochen. Ich vermute als Laienpsychologe: Dahinter steckt die heimliche Sehnsucht nach Opposition. Dass man sich damit so intensiv auseinandersetzt, kann nur damit zusammenhängen, dass er über den Nachtragshaushalt nicht reden wollte, sondern über etwas ganz anderes. ({9}) Wenn man sich im Zahlenraum von 1 bis 50 relativ frei bewegen kann, kann man doch sagen: Das ist ein guter Haushalt und auch ein guter Nachtragshaushalt. Wenn man sich aber klarmacht, dass zum Beispiel 32 eine größere Zahl als 17 ist, kann man diesen Schluss nicht ziehen. Dann ist es nämlich ein schlechter Nachtragshaushalt. ({10}) Warum ist das so? Das hat Carsten Schneider sehr gut erklärt: Wenn man Wachstum hat, kommt man nicht auf die Idee, die Schulden zu erhöhen. ({11}) Wenn man bei der sozialen Sicherung - gegen unseren Willen - streicht, kommt man doch nicht auf die Idee, die Kreditaufnahme zu vergrößern. ({12}) Wenn man das aber tut, muss man sich überlegen, wohin das Geld eigentlich geflossen ist. Es gibt zwei Antworten. Norbert Barthle hat eben in einem Zwischenruf gesagt, finanzielle Transaktionen seien die Antwort. Er müsste das ein bisschen erklären; denn die Bürger können nicht verstehen, was die finanzielle Transaktion im Hintergrund bedeutet, wenn das Wachstum steigt, die soziale Sicherung sinkt und die Schulden steigen. ({13}) Du hast aber noch etwas Schönes erklärt: Bei euch existiert eine gewisse Systematik in der Haushaltsaufstellung. Lothar Binding ({14}) ({15}) Danach gab es 2010 im Soll 80 - man hat 80 veranschlagt -, es waren tatsächlich aber nur 40. 2011 waren es im Soll, also veranschlagt, 48, aber es waren tatsächlich nur 17. ({16}) Aber mit dieser Erfahrung könnte man im Jahre 2012 einen vernünftigen Haushalt aufstellen, nachdem man weiß, wie das funktioniert. ({17}) Wer in der Kommunalpolitik war, kennt die Tricks der Kämmerer. Diese stellen einen Haushalt auf, ein dickes Werk. Darin sucht der kluge Kommunalpolitiker die Luftbuchungen, mit denen sich die Verwaltung überall gewisse Mittel verschafft, die sie im Bedarfsfall benutzt. Die Entscheidungskompetenz dafür nimmt sie dem Parlament weg und holt sie in die Exekutive. Man könnte sagen: Das systematische Verfahren, immer mehr Schulden zu veranschlagen, als man tatsächlich machen will, ist sozusagen der Freibrief für die Exekutive, am Parlament vorbei zu handeln. Wenn das ein transparenter und demokratischer Haushalt ist, dann sind wir im Grunde wieder bei Niebel. ({18}) Der Haushalt ist immer ein Gradmesser für das, was man in der Vergangenheit gemacht hat. Daran kann man erkennen, ob die Politik gut oder schlecht war. Man muss immer ein bisschen schauen, wie die Entwicklung war. Gehen wir einmal auf den Koalitionsvertrag zurück. Erinnern wir uns daran, was Sie mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht haben: Zumindest aus diesem Gesetz ist kein Wachstum generiert worden, sondern es ist nur Klientelpolitik betrieben worden. Schauen wir uns einmal die Ergebnisse Ihrer Kommission zur Reform der Gewerbesteuer an. Kann uns da jemand ein Ergebnis nennen? Die Antwort ist schnell gegeben: leere Menge; Fehlanzeige. Es gibt eine Kommission zur Reform der Mehrwertsteuer. Wir haben über 200 Ausnahmen vom Regeltarif. Da anzusetzen, das wäre eine Aufgabe, Herr Kampeter, um Steuermittel zu generieren. Aber Sie haben keine der 200 Ausnahmen abgeschafft, sondern Sie haben sogar noch eine zusätzliche geschaffen. Verlustverrechnung, Gruppenbesteuerung, die EAVFallbeilprobleme bei der Organschaft - Fehlanzeige! Sie merken, die Vorbereitung dieses Nachtragshaushalts und auch des nächsten ist - das kann ich Ihnen jetzt schon versprechen - so miserabel, dass sich genau daraus die deutliche Zunahme der Neuverschuldung, der exorbitanten Kreditaufnahme, die die Rahmendaten überhaupt nicht rechtfertigen, erklärt. Darum sagen wir: Dies ist weder ein sozialer noch ein ökologischer noch ein vernünftiger Nachtragshaushalt. Deshalb werden wir ihm natürlich nicht zustimmen, sondern wir werden ihn ablehnen. ({19})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke für die FDP-Fraktion. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir behandeln mit der heutigen Debatte etwas, bei dem ganz Europa auf uns schaut. Ich glaube, ganz Europa wird in dieser Woche, in der nächsten Woche - auch wenn wir da nicht im Plenum tagen - und in der übernächsten Woche auf dieses Parlament schauen. Wenn ich die Reden der Opposition höre, habe ich das Gefühl, dass sie sich gar nicht bewusst darüber ist, ({0}) was für eine Verantwortung dieses Parlament für Europa in den nächsten Wochen hat und welche Verantwortung es bereits heute mit diesem Nachtragshaushalt wahrnimmt. ({1}) Da liegt Ihre Verantwortung, und da sollten Sie genau aufpassen. Meine Damen und Herren, kein Redner der Opposition hat in seiner Rede gesagt, warum wir diesen Nachtragshaushalt verabschieden. Wir verabschieden diesen Nachtragshaushalt, weil wir Europa gesagt haben: Wir sind bereit, Europa zu stabilisieren und aus unserem Haushalt Gelder zu geben, wenn Europa auf der anderen Seite bereit ist, ebenfalls etwas zu tun. Deswegen verabschieden wir den Nachtragshaushalt, und deswegen wäre es Ihre Verpflichtung, sich diesen Punkt viel genauer anzuschauen. Herr Binding, Sie haben einen Artikel aus der Zeit zitiert - das empfand ich wirklich als einen ganz billigen Taschenspielertrick -, der die SPD beschreibt. Dieser Artikel ist von Peer Steinbrück und hat die Überschrift „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Dann sagten Sie, Herr Schneider sei zitiert worden. Billig, wirklich billig! Das war, Herr Binding, ganz schlecht. ({2}) Ich will Ihnen einmal sagen, was die eigentliche Täuschung ist. ({3}) Es ist heute wieder so gewesen: Die Opposition hat kritisiert, die Grünen, die SPD und die Linken; sie tun das sowieso immer. Hat der Zuhörer, hat der Zuschauer heute von Ihnen einen einzigen Ausgabenkürzungsvorschlag gehört? ({4}) Hat er ein einziges Mal gehört, dass Sie bereit sind, den Bürgern zu sagen, wo wir sparen müssen? ({5}) Nein! Das können Sie nämlich nicht. Das ist weiterhin kennzeichnend für den Unterschied zwischen der Opposition und der Koalition: ({6}) Wir machen beides. Wir sanieren die Haushalte; aber wir sind auch bereit, dem Bürger zu sagen: Ja, es gibt Einschnitte. - Das ist der Unterschied zu Ihnen, die Sie hier eben nicht der Dr. Jekyll sind, sondern Sie sind Mr. Hyde. ({7}) Was haben wir auch heute wieder erlebt? Schauen Sie sich doch einmal die Tagesordnung an: Es gab heute keinen einzigen Tagesordnungspunkt in diesem Plenum, wo seitens der Opposition nicht kam: Hier müssen wir mehr ausgeben; da müssen wir dem Bürger mehr Geld aus der Tasche nehmen; dort ist zu wenig Geld vorhanden. Dann diese Aussage von der SPD: Die Koalition spart nicht genug. ({8}) Gleichzeitig rennen Sie aber herum und sagen: Die Koalition spart zu viel. Jetzt können wir darüber streiten. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich will Ihnen einmal eines sagen: Ich kenne kein Land in Europa, außer vielleicht Liechtenstein, Luxemburg und die Schweiz, das nicht gern unsere Haushaltszahlen hätte. Ich kenne die Bestätigung durch die OECD, dass wir die richtigen Sparmaßnahmen durchführen. Dann hier zu sagen, wir machten es nicht richtig, ist lächerlich, wenn man auf der anderen Seite Ihre weiteren Ausgabenwünsche sieht. ({9}) Ich kann Ihnen nur eines sagen: Schauen Sie sich das schöne rot-grüne Papier „Europa stärken - Weichen für nachhaltiges Wachstum stellen“ noch einmal an. Steht darin etwas von „Ausgaben kürzen“? Nein! Da steht: Ausgaben erhöhen. Da ist von der Einrichtung eines Altschuldentilgungsfonds die Rede, also von etwas, was zu nichts anderem als zu einer Zinserhöhung führen würde. ({10}) Sie, ganz besonders die Grünen, sagen immer, man müsste den schwachen Ländern Europas doch einmal ein bisschen helfen und ihre Zinsen senken. ({11}) - Ja. Gut. Das hat aber zur Folge, liebe Grüne - weil ihr das immer noch nicht ganz kapiert -, dass woanders die Zinsen steigen. ({12}) Sagen wir einmal, die Zinsen sinken in den schwachen Ländern um 2 Prozent und steigen bei uns um 2 Prozent. Habt ihr, liebe Grüne, eigentlich einmal ausgerechnet, was ein Anstieg der Zinsen um 2 Prozentpunkte für den Bundeshaushalt bedeuten würde? - 25 Milliarden Euro Mehrausgaben. Das ist der Wunsch von Grünen und SPD, wenn sie einen Altschuldentilgungsfonds fordern, der hier die Zinsen und damit die Steuerlast erhöhen würde. ({13}) Es geht bei diesem Nachtragshaushalt um eine Sache: Es geht darum, die haushalterischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir in den nächsten Tagen, in den nächsten zwei Wochen Europa stabilisieren können. Es geht nicht darum, unterschiedliche Meinungen zu Europa zu haben. Es geht darum, das zu haben, was wir von Ihnen noch erwarten, was wir aber haben: eine Haltung zu Europa. Herzlichen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bartholomäus Kalb spricht jetzt für die CDU/CSUFraktion.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf gleich da anknüpfen, wo Kollege Otto Fricke aufgehört hat. Ich hatte manchmal den Eindruck, von der Opposition redet hier niemand über den Nachtragshaushalt und schon gar nicht über den Anlass des Nachtragshaushaltes. ({0}) Otto Fricke hat gerade deutlich gemacht, dass der eigentliche Anlass ist, dass wir als Bundesrepublik Deutschland unserer Verantwortung in und für Europa nachkommen wollen, und zwar in einem parlamentarisch sauberen Verfahren. Der ESM, der dauerhafte Europäische Stabilitätsmechanismus, soll nach den Vertragsentwürfen mit einem Grundkapital von 80 Milliarden Euro ausgestattet werden. Davon haben wir rund 22 Milliarden Euro zu erbringen. Weil wir wollen, dass der ESM möglichst schnell aktiv werden kann - und niemand kann bezweifeln, dass dies dringend notwendig ist -, sind wir bereit, bereits jetzt zwei Tranchen von insgesamt fünf Tranchen einzuzahlen. Deswegen haben wir diesen Nachtragshaushalt vorgelegt, haben ihn parlamentarisch beraten und wollen ihn heute beschließen - nicht mehr und nicht weniger. ({1}) Wenn wir entgegen den ursprünglichen Planungen bereits jetzt 8,7 Milliarden Euro einzahlen, dann ist die logische Konsequenz, dass dies in einem Nachtragshaushalt nachvollzogen werden muss. Dass die Neuverschuldung trotzdem nicht um jene 8,7 Milliarden Euro steigt, ist der guten Entwicklung und der wirtschaftlichen und sparsamen Haushaltsführung des Bundesfinanzministers zuzuschreiben. Herr Kollege Carsten Schneider, es ist unredlich, wenn Sie sagen, es würde hier wie seinerzeit bei der Refinanzierung der HRE vorgegangen werden. Sie als Vorsitzender des Finanzierungsgremiums kennen die Struktur der Bundesverschuldung und der Strategie der verschiedenen Laufzeiten sehr genau. ({2}) Das brauche ich Ihnen hier nicht zu erläutern. Wir sollten vermeiden, das Vertrauen zu beschädigen, das die Finanzanleger in die Bundesrepublik Deutschland haben. ({3}) Wir profitieren davon in hervorragender Weise. Das ist gut für uns, das muss aber - das sage ich auch ganz offen - keineswegs so bleiben. Wir haben allen Grund, darauf zu achten, dass das Vertrauen in Deutschland weiterhin aufrechterhalten bleibt. Das ist zu unserem Vorteil, das ist aber auch zum Vorteil ganz Europas, der gesamten Euro-Zone. ({4}) Ich habe schon gesagt, dass die Neuverschuldung nicht in dem Maße, in dem wir jetzt in den ESM einzahlen, erhöht werden musste, weil wir eine günstige Situation haben. Wir konnten deswegen im Rahmen des Nachtragshaushaltsverfahrens die Neuverschuldung weiter reduzieren. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass wir sparsam und wirtschaftlich mit den Steuergeldern des Bürgers umgehen. In Europa wird es darauf ankommen, dass wir anderen Solidarität zuteil werden lassen. Die Bundesrepublik Deutschland braucht ihr Licht diesbezüglich nicht unter den Scheffel zu stellen. Aber auch andere müssen ihre Aufgaben und Verpflichtungen erfüllen. Deswegen gehören für uns der Europäische Stabilitätsmechanismus einerseits und der Fiskalpakt andererseits eng zusammen. ({5}) Die Stabilisierung Europas kann nur gelingen, wenn beides gemeinsam gemacht wird, wenn auch andere ihre Aufgaben erfüllen, wenn nicht Wohltaten verteilt werden, wenn nicht mehr konsumtive Ausgaben getätigt werden, sondern wenn strukturelle Reformen durchgeführt und Zukunftsinvestitionen vorgenommen werden. ({6}) Wir sind diese Politik auch unserer nachkommenden Generation schuldig. In allen westlichen Industrieländern haben wir ein riesiges demografisches Problem, das wir nicht aus den Augen verlieren dürfen. Dann will ich noch ein Wort zu dem Katastrophenszenario sagen, das Kollege Schneider mit dem Begriff „Bankrotterklärung“ beschrieben hat.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie denken aber an die Redezeit?

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sofort am Ende. - Viele Staaten in Europa wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten, wenn sie unsere Haushaltszahlen hätten, wenn sie unsere Wirtschaftsdaten hätten, wenn sie unsere Arbeitslosenquote hätten, wenn sie unsere Beschäftigungsquote hätten, wenn sie unsere Einnahmesituation hätten und wenn sie auch die Stabilität unserer Sozialsysteme hätten. Deswegen kann ich es nicht mehr ertragen, wenn man sich nicht einmal mehr über gute Entwicklungen in Deutschland freuen darf. Es gilt, dies gemeinsam für die Zukunft zu sichern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch wir sind nicht davor gefeit, dass sich durch konjunkturelle Entwicklungen Situationen ergeben, die uns noch mehr Kopfzerbrechen machen. Schauen wir, dass wir die Dinge zusammenhalten - im Interesse unserer Währung, im Interesse unserer Stabilität. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaus- halt für das Jahr 2012. Dazu liegen uns persönliche Er- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt klärungen nach § 31 der Geschäftsordnung der Kollegen Schäffler, Willsch und Manfred Kolbe vor1). Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 17/9650 und 17/9651, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/9040 und 17/9649 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt über den Änderungsantrag auf Drucksache 17/9960 positiv ab? - Wer stimmt dagegen? ({0}) - Anscheinend ist es hier ein bisschen laut. Ich weiß auch nicht, wie das kommt. ({1}) Wir machen das noch einmal. Auf Drucksache 17/9960 finden wir einen Änderungsantrag der Fraktion Die Linke. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Die Oppositionsfraktionen haben zugestimmt, die Koali- tionsfraktionen haben dagegen gestimmt. Jetzt bitte ich diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu- stimmung durch CDU/CSU und FDP angenommen; SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Über den Gesetzentwurf stim- men wir in dritter Beratung jetzt namentlich ab. Die Schriftführerinnen und Schriftführer haben schon begon- nen, ihre Plätze einzunehmen. Sind denn alle Urnen besetzt? - Das ist noch nicht der Fall. - Sind jetzt alle Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist noch jemand anwesend, der, aus welchen Gründen auch immer, seine Stimmkarte nicht losgeworden ist? - Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben2). Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zu den Entschließungsanträgen. - Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein. Wir beginnen mit dem Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 17/9961. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Was macht die Linke? Hat die Linke den Saal verlassen? - Dieser Antrag ist insgesamt abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Abgelehnt haben den Antrag die Koalitionsfraktionen und die Linke. Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Jetzt kommen wir zum Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9962. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! Der Antrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Alle anderen Fraktionen waren dagegen. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9963. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Damit ist dieser Entschließungsantrag ebenfalls abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Dagegen haben die Koalitionsfraktionen und die Linke gestimmt. Die SPD hat sich enthalten. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Energiewende und Klimaschutz solide finanzieren - Nachtragshaushalt nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9911, den Antrag auf Drucksache 17/8919 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. SPD und Linke haben sich enthalten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Hans-Christian Ströbele, Dr. Konstantin von Notz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Transparenz und zum Diskriminierungsschutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern ({2}) - Drucksache 17/9782 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Sportausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Federführung strittig Vorgesehen ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Wider- spruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Ingrid Hönlinger hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. 1) Anlagen 5 und 6 2) Ergebnis Seite 21967 C

Ingrid Hönlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004058, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Moment findet in Polen und in der Ukraine die Fußball-EM statt. Bei jedem Spiel steht ein Mann mit einer Pfeife auf dem Platz. Wenn ein Spieler die Regeln verletzt, also ein Foul begeht, dann hat dieser Mann die Aufgabe, zu pfeifen, das Spiel zu unterbrechen und auf die Regelverletzung hinzuweisen. Von dieser Aufgabenstellung, Regelverletzungen hörbar zu machen, leitet sich der Begriff Whistleblowing ab. Regelverletzungen gibt es nicht nur auf dem Fußballfeld; Regelverletzungen und Missstände gibt es in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Die Öffentlichkeit hat von Missständen in Pflegeheimen, vom Verkauf von Gammelfleisch oder von Sicherheitsproblemen in Atomkraftwerken oft erst erfahren, nachdem mutige Menschen - teilweise anonym - darauf hingewiesen haben. Eines muss klargestellt sein: Diese Menschen sind keine Verräter - im Gegenteil; diese Menschen zeigen Mut und Zivilcourage. Sie übernehmen Verantwortung für das Gemeinwohl und damit für unsere Demokratie. ({0}) Diese Menschen müssen wir vor innerbetrieblichen Repressionen schützen. Wenn Sie Verantwortliche in Betrieben oder Einrichtungen fragen, ob es dort interne Möglichkeiten für kritische Äußerungen von Mitarbeitern gibt - ComplianceAbteilungen -, so sagen die meisten selbstverständlich Ja. Bei genauerer Nachfrage wird jedoch klar, dass es diese Möglichkeit oft nur auf dem Papier gibt. Häufig werden diese kritischen Menschen drangsaliert oder sogar entlassen. Dem müssen wir vorbeugen. Wir Grünen legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, der die Anliegen aller Beteiligten optimal miteinander verbindet und der sich gut in die bestehende Gesetzeslage im Arbeits- und Beamtenrecht einpasst. Kernstück unseres Gesetzentwurfs ist ein Anzeigerecht. Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber können sich zuerst an den Arbeitgeber bzw. an den Dienstherrn oder an eine vertrauliche interne Stelle wenden - das kann der Betriebsrat oder der Personalrat sein -, wenn diese Arbeitnehmer oder Beamte konkrete Anhaltspunkte für die Verletzung von rechtlichen Pflichten haben. Ausnahmsweise können Hinweisgeber sich auch an eine externe Stelle wenden, zum Beispiel an eine Strafverfolgungs- oder Ordnungsbehörde, wenn keine Abhilfe erfolgt. Das Gleiche gilt, wenn ein internes Abhilfeverlangen unzumutbar ist, weil Straftaten begangen werden oder weil ein wichtiges Rechtsgut gefährdet ist; also beispielsweise Leben, Körper, Gesundheit, Persönlichkeitsrecht, Freiheit der Person, Stabilität des Finanzsystems oder Umwelt. In ganz besonders extremen Fällen sollen Whistleblower auch direkt an die Öffentlichkeit gehen können. Hier muss jedoch das öffentliche Interesse am Bekanntwerden der Information das betriebliche Interesse an der Geheimhaltung erheblich überwiegen. Um es zu verdeutlichen: Wenn Menschen durch Gammelfleisch oder verdorbene Babynahrung gefährdet werden, so ist es eigentlich nicht nur ein Recht, sondern nachgerade eine Pflicht, darauf hinzuweisen. ({1}) Der Schutz von Menschen hat Vorrang. Mit diesem fein abgestuften Verfahren können wir einerseits Missstände zum Schutz der Beschäftigten und der Öffentlichkeit aufdecken, andererseits aber auch die Interessen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite angemessen berücksichtigen. Nun werden Sie auf der Regierungsseite vielleicht sagen: Das brauchen wir nicht; das ist unnötig. - Wenn Sie aber genau hinschauen, dann werden Sie feststellen, dass es Regelungen nur vereinzelt im Beamtenrecht gibt; der Rest sind Gerichtsurteile. Das bietet keine ausreichende Rechtssicherheit. Dies zeigt der Fall der Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch ganz plastisch: Ihr wurde gekündigt, weil sie Missstände in einem Pflegeheim veröffentlicht hatte. Sie musste bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen, bis festgestellt wurde, dass die Kündigung unrechtmäßig war. ({2}) Das war eine juristische Ohrfeige für die deutsche Justiz. ({3}) Wir Grünen wollen, dass sich die rechtliche Situation bessert, und zwar schnell. Jetzt wird es pikant. Diese Bundesregierung hat sich international mit dem Antikorruptionsaktionsplan der G-20-Staaten vom November 2010 zum Schutz von Hinweisgebern bekannt und angekündigt, sie werde bis Ende 2012 Regeln zum Whistleblowerschutz erlassen und umsetzen. ({4}) Meine Damen und Herren von der Regierungsbank, es passt einfach nicht zusammen, international den verbalen Vorreiter zu geben und national zu mauern. ({5}) Da müssen Sie sich schon entscheiden, entweder für eine nationale Regelung zum Schutz von Hinweisgebern oder für eine Erklärung auf internationaler Ebene, dass Sie das in Wirklichkeit gar nicht wollen. Wir Grünen machen dieses doppelte Spiel nicht mit. Wir wollen Taten sehen. ({6}) Meine Damen und Herren, wir brauchen auch zu unserer eigenen Sicherheit Menschen mit Zivilcourage und Verantwortungsgefühl, mit dem Mut, Konflikte anzusprechen und auszuhalten. Diesen Menschen müssen wir staatlichen Schutz und Rückendeckung geben. Zivilcourage ist ein Qualitätsmerkmal einer lebendigen und gelebten Demokratie. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Nachtragshaushaltsgesetz 2012 bekannt: abgegebene Stimmen 555. Mit Ja haben gestimmt 300, mit Nein haben gestimmt 254, Enthaltungen 1. Der Gesetzentwurf ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 555; davon ja: 300 nein: 254 enthalten: 1 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Norbert Barthle Günter Baumann ({0}) Manfred Behrens ({1}) Dr. Christoph Bergner Peter Beyer Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Cajus Caesar Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({3}) Axel E. Fischer ({4}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({5}) Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Norbert Geis Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Dr. Matthias Heider Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Rudolf Henke Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ernst Hinsken Peter Hintze Robert Hochbaum Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Andreas Jung ({6}) Dr. Egon Jüttner Hans-Werner Kammer Alois Karl Bernhard Kaster Dr. Stefan Kaufmann Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Axel Knoerig Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Karl A. Lamers ({7}) Dr. Norbert Lammert Ulrich Lange Dr. Max Lehmer Dr. Ursula von der Leyen Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Michael Luther Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({8}) Dr. Michael Meister Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({9}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({10}) Michaela Noll Franz Obermeier Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Christoph Poland Ruprecht Polenz Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Katherina Reiche ({11}) Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({12}) Anita Schäfer ({13}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({14}) Patrick Schnieder Dr. Andreas Schockenhoff Nadine Schön ({15}) Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({16}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Dr. Patrick Sensburg Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Jens Spahn Carola Stauche Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Stephan Stracke Karin Strenz Thomas Strobl ({17}) Lena Strothmann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Michael Stübgen Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({18}) Andrea Astrid Voßhoff Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({19}) Peter Weiß ({20}) Sabine Weiss ({21}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Peter Wichtel Annette Widmann-Mauz Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({22}) Sebastian Blumenthal Nicole Bracht-Bendt Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Miriam Gruß Dr. Christel Happach-Kasan Manuel Höferlin Birgit Homburger Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({23}) Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Lars Lindemann Dr. Martin Lindner ({24}) Michael Link ({25}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({26}) Dr. Martin Neumann ({27}) Dirk Niebel Cornelia Pieper Gisela Piltz Dr. Christiane RatjenDamerau Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Dr. Stefan Ruppert Frank Schäffler Jimmy Schulz Dr. Erik Schweickert Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Dr. Rainer Stinner Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Florian Toncar Serkan Tören ({28}) Dr. Daniel Volk Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({29}) Nein CDU/CSU Dr. Peter Gauweiler Manfred Kolbe Klaus-Peter Willsch SPD Rainer Arnold Heinz-Joachim Barchmann Dr. Hans-Peter Bartels Klaus Barthel Sören Bartol Lothar Binding ({30}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Willi Brase Bernhard Brinkmann ({31}) Edelgard Bulmahn Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Martin Dörmann Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Petra Ernstberger Elke Ferner Gabriele Fograscher Dr. Edgar Franke Dagmar Freitag Michael Gerdes Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({32}) Kerstin Griese Michael Groß Wolfgang Gunkel Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({33}) Hubertus Heil ({34}) Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Hinz ({35}) Frank Hofmann ({36}) Dr. Eva Högl Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Johannes Kahrs Dr. h. c. Susanne Kastner Lars Klingbeil Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({37}) Fritz Rudolf Körper Christine Lambrecht Christian Lange ({38}) Dr. Karl Lauterbach Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({39}) Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Dietmar Nietan Manfred Nink Thomas Oppermann Aydan Özoğuz Heinz Paula Johannes Pflug Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Stefan Rebmann Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann René Röspel Michael Roth ({40}) ({41}) Annette Sawade Axel Schäfer ({42}) Bernd Scheelen Marianne Schieder ({43}) Werner Schieder ({44}) Ulla Schmidt ({45}) Carsten Schneider ({46}) Swen Schulz ({47}) Ewald Schurer Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff ({48}) Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Christine Buchholz Dr. Martina Bunge Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Klaus Ernst Diana Golze Heike Hänsel Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Inge Höger Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Jan Korte Katrin Kunert Caren Lay Ralph Lenkert Michael Leutert Stefan Liebich Ulla Lötzer Thomas Lutze Ulrich Maurer Niema Movassat Wolfgang Nešković Petra Pau Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Paul Schäfer ({49}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Kersten Steinke Dr. Kirsten Tackmann Dr. Axel Troost Alexander Ulrich Kathrin Vogler Sahra Wagenknecht Harald Weinberg Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({50}) Volker Beck ({51}) Cornelia Behm Birgitt Bender Viola von Cramon-Taubadel Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Katrin Göring-Eckardt Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Dr. Anton Hofreiter Ingrid Hönlinger Memet Kilic Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Sylvia Kotting-Uhl Agnes Krumwiede Renate Künast Undine Kurth ({52}) Monika Lazar Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Kerstin Müller ({53}) Dr. Konstantin von Notz Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Brigitte Pothmer Claudia Roth ({54}) Elisabeth Scharfenberg Dr. Frithjof Schmidt Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Markus Tressel Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Enthalten CDU/CSU Wolfgang Bosbach Als nächster Redner hat nun der Kollege Ulrich Lange von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({55})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Obergerichtliche Entscheidungen sowohl des Bundesverfassungsgerichts als auch europäischer Gerichte, die besonders im Fokus der Öffentlichkeit stehen, führen bei uns hier in diesem Hause nahezu immer zu reflexartigen gesetzgeberischen Initiativen. Genau so kann man auch diesen Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eines Whistleblower-Schutzgesetzes werten. Vor knapp einem Jahr sorgte eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für mediale Aufmerksamkeit, unter dem Motto: Kündigung nach Whistleblowing verstößt gegen Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Sofort folgte die übliche politische Reflexhandlung auf eine Einzelfallentscheidung: Sie wird quasi zu einer Gesetzeslücke hochstilisiert und politisch instrumentalisiert. Worum ging es in diesem Fall konkret? Die Kollegin hat es schon kurz zusammengefasst: Die Klägerin, in einem Altenheim beschäftigt, hat vermeintliche Missstände festgestellt ({0}) und anwaltlich in einem internen Beschwerdeschreiben darauf hingewiesen. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung wurde eingeschaltet. Der Arbeitgeber hat diese Beschwerden zurückgewiesen. Es kam dann erst - ich sage jetzt einmal: warum auch immer - zu einer krankheitsbedingten Kündigung und später wegen eines Flugblatts zu einer fristlosen Kündigung. So stellt sich der Sachverhalt differenziert und im Detail dar. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte in seiner Entscheidung fest, dass er keine Zweifel an den guten Absichten der Klägerin habe, weshalb ihre Strafanzeige in den Geltungsbereich des Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention falle, also von der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Die Vorinstanzen, insbesondere das LAG Berlin, subsummierten - ich betone: subsummierten - diesen Sachverhalt anders. Betrachtet man die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs differenzierter, so zeigt sich nämlich eines: Die rechtlichen Kontrollmaßstäbe, die sowohl das LAG als auch das Bundesverfassungsgericht in dem Fall unter die Lupe nahmen, waren die gleichen. Die Kontrollmaßstäbe hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte also bestätigt. Er hat damit zum einen festgestellt, dass kein absoluter Schutz von Whistleblowing jeder Art besteht. ({1}) Zum anderen hat er festgestellt, dass in seiner Abwägung das öffentliche Interesse und die gute Absicht der Arbeitnehmerin und der nicht vorhandene Vorsatz einer falschen Tatsachenbehauptung höher oder anders zu werten sind, als dies das LAG Berlin gemacht hat. Wir sprechen lediglich über eine Subsumtion, nicht über eine Gesetzeslücke. ({2}) Wir sprechen darüber, wie sich die verfassungsrechtlichen Vorschriften, die wir haben - Art. 12 GG, Gewerbebetrieb und Unternehmerfreiheit, Art. 5 GG, Meinungsfreiheit -, gegenüberstehen. Allen beteiligten Gerichten war in ihrer Abwägung oder Subsumtion immer klar, dass es ein Zusammenspiel zwischen Anzeigerecht auf der einen Seite und Rücksichtnahmepflicht auf der anderen Seite gibt. Wir bewegen uns also, wie ich eben aufgezeigt habe, im Rahmen einer Grundrechtskonkordanz. Es stellt sich die Frage: Rechtfertigt dieser Einzelfall tatsächlich gesetzgeberisches Vorgehen? Wir sagen deutlich: Nein, das glauben wir nicht, ({3}) weil wir ausreichende Normen in unserem Arbeitsrecht haben. Ich verweise zum einen auf § 612 a BGB - Sie wollen einen § 612 b anfügen, in dem Sie die Kontrollmaßstäbe, die die Gerichte bei uns angewendet haben, in einen normativen Text fassen, zumindest zum Teil -, ({4}) und wir haben zum anderen § 17 Abs. 2 Arbeitsschutzgesetz. Auch hier sehen wir, dass es bereits die Möglichkeit der außerbetrieblichen Anzeige und Beschwerde gibt. Nichtsdestotrotz haben wir zunächst den Vorrang des innerbetrieblichen Abhilfeversuchs. Es bedarf auch keiner gesetzlichen Neuregelung, weil nur entscheidend ist, dass die Arbeitnehmerin, der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Anzeige von der Richtigkeit der eigenen Tatsachenbehauptung ausgehen durfte. Ähnliche Regeln müssen - Sie sprechen die Fälle an, über die verstärkt in den Medien berichtet wurde - auch für die Fälle gelten, die in den Medien besonders groß aufgezogen werden. Hier gilt ein strengerer Maßstab; denn ein mediales, öffentliches Interesse des Arbeitnehmers wird wohl schwer anzunehmen sein. Anstatt neue gesetzliche Regelungen zu suchen, halten wir interne Hinweisgebersysteme, die in den Betrieben selber geschaffen werden sollen, für sinnvoller; denn eines hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte klar festgestellt: Die interne Klärung hat grundsätzlich Vorrang vor der externen. Dies dient nicht nur der zeitnahen Aufdeckung, ({5}) sondern es dient auch dazu, Rufschädigungen und Strafanzeigen vorzubeugen. Ein positives Beispiel hatten wir in der Anhörung. Die Firma Siemens hat ein eigenes, sehr ausgefeiltes Regelwerk geschaffen. Frau Kollegin, Sie haben das Thema Korruption angesprochen. In diesem Zusammenhang wird die internationale Komplexität der Angelegenheit besonders deutlich. Der Fall der Altenpflegerin im Seniorenheim hat nichts mit dem Thema Korruption zu tun. Wir müssen also genau differenzieren. Korruptionsstraftaten, gerade in internationalen Konzernen, lassen sich mit nationaler Gesetzgebung - ich glaube, darüber sollten wir uns in diesem Hause einig sein sicherlich nicht lösen. ({6}) Meine Fraktion - das gilt auch für mich persönlich hat weiterhin großes Vertrauen in unsere Arbeitsgerichte und in die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung. Fehlerhafte oder unterschiedliche Abwägungsprozesse oder Entscheidungen auf der Subsumtionsebene allein rechtfertigen ein neues Gesetz sicherlich nicht. Sie rechtfertigen auch nicht den Reflex, in diesem Hause etwas Neues zu fordern. ({7}) Es geht um eine Einzelfallentscheidung. ({8}) Die Stärke unseres Rechtssystems besteht aber darin, Lebenssachverhalte, von denen wir wirklich ausreichend haben, unter bestehende Normen zu subsumieren, und zwar mit einer gefestigten Rechtsprechung. Dies kann man im Rahmen des deutschen Arbeitsrechts bieten. Deswegen sind wir sicher, dass wir Hinweisgebern den Schutz bieten können, den sie dringend benötigen. Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack von der SPD-Fraktion. ({0})

Kerstin Tack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, man muss sehr weit von der Realität entfernt sein, wenn man meint, wir würden hier über Einzelfälle reden wollen. Es ist doch ganz klar - das hat die Anhörung sehr deutlich bewiesen -: Wir reden hier über ein Phänomen. Es gibt viele Entlassungen bzw. Jobverluste, weil dieser Regelungsbedarf von der Bundesregierung konsequent ignoriert wird. Nicht ohne Grund hat sich die Bundesregierung im Rahmen des G-20-Treffens in Seoul vor zwei Jahren verpflichtet - darauf hat meine Kollegin schon hingewiesen -, bis zum Ende dieses Jahres eine Regelung vorzulegen. Ich weiß gar nicht, warum Sie meinen, wir hätten hier überhaupt keinen Regelungsbedarf. Schließlich hat die Bundeskanzlerin entsprechende Zusagen formuliert. ({0}) Darüber müssen Sie in Ihren Reihen vielleicht noch einmal diskutieren und erläutern, wie man damit umgehen möchte, dass man international eine Verpflichtung eingegangen ist, die man auf nationaler Ebene aber nicht sehen will. Es ist gut, dass wir heute erneut über dieses Thema reden; denn viele Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben warten darauf, dass es Rechtssicherheit gibt und die Unsicherheit, die im Moment diesbezüglich auf dem Arbeitsmarkt herrscht, beseitigt wird. Wir müssen schnellstmöglich dafür sorgen, dass man, wenn man Missstände im eigenen Betrieb offenlegt, nicht den eigenen Arbeitsplatz gefährdet. ({1}) In der Anhörung, die wir dazu im März dieses Jahres durchgeführt haben, hat kein Sachverständiger das ernsthaft bestritten, ganz im Gegenteil. Als wir im September des letzten Jahres über den Gesetzentwurf der SPD zu diesem Thema gesprochen haben, haben wir uns alle natürlich auch auf den Fall der Altenpflegerin bezogen. Aber es gibt auch andere bedeutende Fälle. Ich will dazu einmal Folgendes sagen: Herr Seehofer hat im Jahr 2007 den Fahrer des Lkw, der den größten Gammelfleischskandal in der Geschichte Deutschlands aufgedeckt hat, mit einer Medaille des Landwirtschaftsministeriums geehrt und als Konsequenz einen Gesetzentwurf zur Regelung des Informantenschutzes initiiert. Diese Initiative kam bei den eigenen Leuten aber nicht durch. Im Gegenteil, es wurde sogar gesagt, dass dadurch dem Denunziantentum Vorschub geleistet würde. Angesichts dessen muss ich sagen: Das ist beschämend. ({2}) - Das ist nicht heute von Ihnen gesagt worden, aber damals ist das gesagt worden. Sie haben das nicht gesagt. Das ist sogar im September noch gesagt worden. Ich finde das wirklich skandalös. ({3}) Ihr Innenminister Friedrich hat im Oktober des letzten Jahres den XY-Preis des ZDF an genau diesen Lkw-Fahrer verliehen, der nach Ihrem Verständnis ein Denunziant ist. Der Innenminister hat ihn als Mensch, der ganz besonders couragiert handelt, ausgezeichnet. Er sagt: Genau solche Leute braucht die Zivilbevölkerung. ({4}) Aber dieser Fahrer hat seinen Job verloren. Das zeigt doch ganz deutlich, dass hier Regelungsbedarf besteht und dass es eben nicht darum geht, Betriebsgeheimnisse nach außen zu posaunen, sondern darum, vor Gesundheitsschäden, vor Gefahren für Leib und Leben und auch vor Gefahren für die Umwelt zu schützen. Wir brauchen diese Hinweisgeber. Wir sind doch froh um jeden, der mit offenen Augen durch den Betrieb geht und bemerkt, dass es eine Situation gibt, die man nach innen gar nicht kommunizieren kann, weil das viel zu gefährlich ist. Deshalb brauchen wir Stellen, an die man sich wenden kann und bei denen man Gehör findet. Dies dient dem Schutz der Allgemeinheit, aber auch dem Schutz des eigenen Arbeitsplatzes. ({5}) Da sind wir bisher nicht richtig aufgestellt. Unser Vorschlag unterscheidet sich von dem Vorschlag der Grünen in einigen Punkten ganz erheblich. Wir halten es nicht für ausreichend, ausschließlich im BGB Regelungen vorzunehmen, die erst einmal darauf fußen, dass man nach innen in den Betrieb kommunizieren muss, bevor man sich an externe Stellen, an Aufsichtsbehörden, an die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder wen auch immer wenden darf. Ich glaube, dass nicht jeder zum Zeitpunkt des Erkennens eines Missstandes schon abschätzen kann, wie groß dessen Tragweite ist. Deswegen muss es möglich sein - in diesem Punkt unterscheiden wir uns sehr -, sich auch bei einem Verdacht an externe Stellen zu wenden, ohne eine betriebliche Erstuntersuchung vorzuschalten. Wir unterscheiden uns auch sehr deutlich in der Beurteilung der Frage, ob es nicht nur Kündigungsschutz, sondern auch Leistungsverweigerungsrechte und Schadensersatzansprüche geben sollte. All diese Fragen müssen geregelt werden, gerade weil wir nicht in jedem Fall sicherstellen können, dass Beschäftigte nicht aufgrund anderer Umstände später im Betrieb Schwierigkeiten bekommen. Deshalb muss der Schutz sehr weitreichend sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich das noch sagen darf: Es ist ein bisschen zynisch, dass vonseiten der Regierungskoalition gesagt wird, dass hier überhaupt kein Handlungsbedarf besteht, dass wir in Deutschland in dieser Hinsicht eigentlich ganz prima aufgestellt sind und dass es bestimmt gute Gründe gibt, wenn Hinweisgeber später ihren Job verlieren. Denn das Bundeskartellamt - immerhin eine Bundesbehörde; das kann man nicht ganz ignorieren - hat zum 1. Juni dieses Jahres eine Internetseite für anonyme Hinweisgeber freigeschaltet. Ich finde das interessant. Sie sehen ja keinen Handlungsbedarf, wieso hat das Bundeskartellamt dann vor zwei Wochen diese Seite freigeschaltet? Weil man der Meinung war, dass es hilfreich sein kann, dass das Bundeskartellamt anonyme Hinweise bekommt. Vielleicht ist das für Sie als Regierungskoalition eine Gelegenheit, noch einmal miteinander ins Gericht zu gehen und zu überlegen, ob es nicht doch sinnvoll wäre, entsprechende Regelungen vorzunehmen. Verdammt viele Leute in den Betrieben warten darauf. Es ist unsere Aufgabe, sie vernünftig zu schützen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Golombeck von der FDP-Fraktion. ({0})

Heinz Golombeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004042, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Anlass unserer heutigen Diskussion ist ein Gesetzentwurf der Grünen zum Schutz von Whistleblowern. Dieser Gesetzentwurf soll Transparenz fördern und Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber vor Diskriminierung schützen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir zu diesem Thema debattieren. Nachdem bereits im September letzten Jahres ein Antrag der Fraktion Die Linke zum Thema Whistleblowing auf der Tagesordnung stand, wagte auch die SPD mit einem Gesetzentwurf zum Schutz von Hinweisgebern einen neuen Vorstoß. Schon damals wurden die gesellschaftliche Anerkennung des Whistleblowings und damit verbunden ein Schutz von Whistleblowern, also Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern, gefordert. Es ist auch ein großes Anliegen dieser Regierungskoalition, den sogenannten Whistleblowern ausreichenden Schutz und eine besondere Wertschätzung einzuräumen. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass es in Deutschland zunehmend gelungen ist, die große Bedeutung von Whistleblowern in der Öffentlichkeit und in Unternehmen zu verankern - ein Thema, über das in regelmäßigen Abständen neu diskutiert wird. ({0}) Dabei geht es keineswegs um Lappalien. Das unterstreicht auch das große mediale Echo, wenn Korruptions- oder Gammelfleischskandale aufgedeckt werden. Positiv gesehen steht der Begriff Whistleblowing für Verantwortungsbewusstsein und Zivilcourage. Genau hier möchte ich ansetzen: Das Ziel verantwortungsvoller Whistleblower besteht darin, Transparenz und Publizität herzustellen, um bestehende Risiken oder Missstände zu problematisieren und sie damit letztlich zu beheben. Die Zivilcourage dieser Menschen steht im Vordergrund; sie muss ganz klar gewürdigt werden. Als Gegenzug zu ihrem Streben nach Recht und Gerechtigkeit müssen Whistleblower teilweise soziale Isolation, Anfeindungen und arbeitsrechtliche Maßnahmen bis hin zur fristlosen Kündigung hinnehmen. Dies kann zu einer erheblichen Verunsicherung potenzieller Hinweisgeber führen. Dagegen muss natürlich etwas getan werden. Wegweisend für eine positive Entwicklung des Whistleblowings ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Juli 2011, das wir sehr begrüßen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat hier eine Abwägung zwischen den Interessen des Arbeitgebers und der Notwendigkeit, den Ruf des Arbeitgebers zu schützen, dem Recht des Arbeitnehmers auf Freiheit der Meinungsäußerung und dem öffentlichen Interesse an der Information vorgenommen. Ebendieser Fall brachte in Deutschland eine gewisse Wende. Die Kritik an einer fehlenden gesetzlichen Regelung zum Whistleblowing setzt genau hier an und verdeutlicht, dass unsere Gesetzeslage zum Schutz von Whistleblowern ausreichend ist. ({1}) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner Entscheidung die bisherige Rechtsprechung und die geltende Rechtslage in Deutschland grundsätzlich gebilligt. Er hat ebenso den Grundsatz des Vorrangs eines innerbetrieblichen Klärungsversuchs bekräftigt. ({2}) Gerade aus Respekt vor den Mitarbeitern und aus Gründen der Achtung der Mitarbeiter untereinander sollte grundsätzlich eine innerbetriebliche Klärung gesucht werden. Nur bei Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne oder die Allgemeinheit kann auf eine innerbetriebliche Klärung verzichtet werden. So soll es auch bleiben. Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen will diesen Grundsatz ausweiten. So sollen zum Beispiel Strafanzeigen auch ohne vorherige interne Meldung möglich sein, wenn der Arbeitnehmer aufgrund konkreter Anhaltspunkte gutgläubig vom Vorliegen einer Straftat ausgeht, wobei er seine Gutgläubigkeit insoweit nicht mehr selbst beweisen muss. Eine Beweislastverteilung zugunsten des Arbeitnehmers zielt hier zwar auf einen möglichen Whistleblower-Schutz ab. ({3}) Fraglich ist jedoch, ob damit auch die gegenseitigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber geschützt bleiben. In ihrem Gesetzentwurf sprechen die Grünen außerdem von dringendem Handlungsbedarf nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom letzten Sommer. Diesen Handlungsbedarf sehen wir gerade nicht. Es gibt bereits eine Vielzahl von Vorschriften, die den Arbeitnehmer zur Anzeige der Verletzung gesetzlicher Pflichten durch den Arbeitgeber ermächtigen. Neben bereits existierenden Anzeigerechten und verfassungsrechtlichen Vorschriften - sie wurden schon erwähnt - gilt § 612 a des Bürgerlichen Gesetzbuchs als allgemeiner Schutz für Hinweisgeber. Von der Rechtsprechung werden die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern dabei gleichermaßen berücksichtigt. Sie schützt einerseits die Persönlichkeitsrechte und sichert andererseits die innerbetriebliche vertrauensvolle Zusammenarbeit. Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch und in anderen Gesetzen, wie hier gefordert, halten wir daher nicht für erforderlich. ({4}) Wir begrüßen die zunehmend offene Diskussionskultur im Hinblick auf Missstände in Betrieben, die dem Schutz von Whistleblowern dient. Mittlerweile können viele Unternehmen Möglichkeiten zur Meldung innerbetrieblicher Missstände vorweisen. Ebenso hat sich eine Vielzahl von Unternehmen für eine betriebliche Regelung zum Whistleblowing entschieden. Man mag diese Entwicklung begrüßen, immer wieder Lücken finden oder die Gesetzeslage kritisieren: Entscheidend ist, das Whistleblowing in Öffentlichkeit und Unternehmen weiter zu thematisieren und es nicht ins Abseits geraten zu lassen. Wichtiger als eine gesetzliche Regelung dürfte es letztlich sein, dafür zu sorgen, dass Whistleblowing als Teil einer konstruktiven Unternehmenskultur gelebt wird. Das können Gesetze ohnehin nur bedingt leisten. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin Karin Binder das Wort. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! 2004 deckte eine mutige Frau unwürdige Zustände in einem Pflegeheim auf. Hilfsbedürftige Menschen wurden wochenlang nicht geduscht, waren mangelernährt und ohne Aufsicht. Daraufhin wurde der Altenpflegerin gekündigt - fristlos. Ende Mai 2012, also acht Jahre später, erstritt sich diese mutige Frau eine Abfindung - nach einem jahrelangen, kräftezehrenden Prozess und letztendlich nach dem Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie erstritt sich eine Entschädigung für den Verlust des Arbeitsplatzes, aber ganz bestimmt keine Wiedergutmachung für die Anfeindungen und dafür, was diese Frau noch alles durchmachen musste. Aber sie erreichte doch noch einiges mehr, nämlich die Feststellung, dass Whistleblowing, das Aufdecken von Missständen in Unternehmen und Behörden, nach Auffassung der EU-Richter ein Grundrecht ist. Ob die Aufdeckung eines Gammelfleischskandals, die Veröffentlichung der ersten BSE-Fälle oder die Bekanntmachung des Versorgungsnotstandes in Krankenhäusern: Trotz der unbestrittenen Verdienste für die Gesellschaft verloren viele der Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber ihren Arbeitsplatz. Für die Linke ist das Eintreten dieser mutigen Menschen für die Gesellschaft Zivilcourage. Die Christliche Union bezeichnet diese couragierten Leute dagegen als Denunzianten. Da kann ich nur sagen: Schämt euch! Wir sagen ausdrücklich: Whistleblowerinnen und Whistleblower müssen durch das Gesetz geschützt werden. Mit unserem Antrag „Die Bedeutung von Whistleblowing in der Gesellschaft anerkennen - Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützen“ haben wir das schon im vergangenen Jahr angestoßen. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Grünen unsere Initiative nun aufgegriffen haben. Die deutsche Bundesregierung isoliert sich in dieser Frage allerdings, und zwar europaweit. International besteht längst Einigkeit: Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber brauchen Schutz. Die G-20-Staaten beschlossen Ende 2011 auf ihrem Gipfel in Cannes, dass alle Mitglieder bis Ende 2012 gesetzliche Vorschriften zum Schutz von Whistleblowern einzuführen haben. Die Linke fragt: Wo bleibt der Gesetzentwurf der schwarz-gelben Bundesregierung? Bei dem Gesetzentwurf muss es aber um einiges mehr als um den Schutz vor Herabsetzung, willkürlicher Verfolgung und Diffamierung gehen. Unser Ziel muss es sein, Anerkennung und eine positive Einstellung unserer Gesellschaft gegenüber Whistleblowerinnen und Whistleblowern aktiv zu befördern. Wir brauchen eine neue Kultur: nicht weggucken und wegducken, sondern hinsehen und sich einmischen in unserer Gesellschaft, in der Arbeitswelt, in Unternehmen und in Behörden. Leider machen die Grünen und auch die SPD hier nur einen halben Schritt. Statt einen eigenständigen Gesetzentwurf vorzulegen, sollen im Wesentlichen das Bürgerliche Gesetzbuch und die Beamtengesetze angepasst werden. ({0}) Damit bleibt aber die große und stetig wachsende Gruppe der untypisch Beschäftigten außen vor: alle sogenannten Selbstständigen - die Scheinselbstständigen und Zwangsselbstständigen, die zum Beispiel als Niedriglöhner mit Werkverträgen bei Paketdienstleistern beschäftigt werden -, Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter und Praktikantinnen und Praktikanten. All diese werden von den Regelungen, die jetzt vorgeschlagen sind, nicht erfasst. Aber diese Gruppe wächst. Wir brauchen darüber hinaus für Whistleblowerinnen und Whistleblower eine unabhängige und vertrauenswürdige Beratungsstelle. Das ist ein wesentliches Element, mit dem wir die Haltung unserer Gesellschaft verändern und Zivilcourage fördern können. Mit den Regelungen im Gesetzentwurf der Grünen wird es Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern jedoch schwergemacht, Zivilcourage zu entwickeln, wenn nämlich einfache Beschäftigte erst einmal die Pflicht haben, einen umfassenden Nachweis zu erbringen und den internen Beschwerdeweg zu gehen, bevor sie Missstände öffentlich machen dürfen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Fall des Gammelfleischskandals hätte ein betriebsinterner Beschwerdeweg nur sichergestellt, dass die Ekelware, pikant gewürzt, dann doch verzehrt worden wäre. Eine solche Pflicht widerspricht auch dem Gedanken des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Urteil zum eingangs erwähnten Fall der Altenpflegerin. Meinungsfreiheit bedeutet auch Wahlfreiheit. Als Linke wollen wir, dass Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber Mittel und Wege der Offenlegung von Missständen frei wählen können. Sie müssen das Recht haben, sich auch an die Ombudsstelle oder an die Medien wenden zu können, wenn Eile geboten ist. Die zehnjährige Erfahrung Großbritanniens mit einem Whistleblower-Schutzgesetz hat gezeigt: Die große Mehrheit der Menschen, die auf Missstände hinweisen, zeigen diese zuallererst intern an, und das, obwohl es in Großbritannien sehr einfach wäre, öffentliche Stellen oder die Presse einzubeziehen. Die allermeisten Whistleblower handeln im Interesse ihres Unternehmens, der Behörden und der Gesellschaft. Das tat auch die Altenpflegerin Brigitte Heinisch. Ihr möchte ich für ihren Mut und ihren ganz persönlichen wichtigen Beitrag für die Allgemeinheit am Schluss meiner Rede ausdrücklich danken. Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Gitta Connemann. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Brigitte Heinisch, dieser Name ist heute schon häufiger gefallen, und zwar zu Recht; denn es war ihre Beschwerde, die zu der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geführt hat. Seit dieser Entscheidung ist das Thema Hinweisgeber - oder neudeutsch Whistleblower - auch in Deutschland in der Diskussion. Die Opposition, heute übrigens Bündnis 90/Die Grünen, fordert ein Schutzgesetz für Hinweisgeber. Weil wir uns sehr ernsthaft mit den Anträgen der Opposition auseinandersetzen, gerade bei einem so virulenten Thema, fragen wir uns: Brauchen wir ein solches Schutzgesetz? Wir sind der Auffassung: Nein, wir brauchen es nicht. ({0}) Ohne Frage: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch ihre Hinweise zur Aufklärung von Straftaten beitragen, verdienen nicht nur unseren Respekt, sondern auch unseren Schutz; denn was wären wir ohne ihre Zivilcourage! ({1}) Gerade die Lebensmittelskandale und die Datenschutzaffäre der jüngsten Zeit haben gezeigt: Ohne die Hinweise von mutigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hätten die Rechtsverstöße in den Unternehmen nicht so oder nicht so schnell aufgeklärt werden können. Deshalb auch ohne Frage: Wer sich für andere einsetzt, muss vor Nachteilen geschützt werden. ({2}) Aber jetzt die Frage: Gibt es diesen Schutz in diesem Land nicht? Da kommen wir zu einer anderen Bewertung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Wir glauben, es gibt genau diesen Schutz in unserem Land. Eine Vielzahl von Gesetzen enthalten Sonderregelungen. Da sind das Arbeitsschutzgesetz, das Betriebsverfassungsgesetz, das Bundes-Immissionsschutzgesetz und, und, und zu nennen. Ich weiß, was Sie jetzt sagen werden: Wer soll bzw. kann diese ganzen Gesetze kennen? Diesen Einwand lasse ich durchaus gelten; denn auch ich sehe, dass nicht jeder Arbeitnehmer Jurist ist, der mit einem Gesetzbuch unter jedem Arm zur Arbeit geht. Das ist übrigens auch gut so; das sage selbst ich als Juristin. Das spricht für eine knappe gesetzliche Regelung an zentraler Stelle. Ja, absolut richtig. Aber, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, auch diese gibt es schon, nämlich dort, wo sich die grundsätzlichen Regelungen für das Arbeitsverhältnis finden, im Bürgerlichen Gesetzbuch, genauer gesagt: in § 612 a BGB. Der Kollege Lange hat bereits dargestellt, was diese Vorschrift mit sich bringt. Das hat er umfassend und juristisch perfekt getan. ({3}) Die Vorschrift besagt, noch einmal gesagt: Kein Arbeitnehmer darf benachteiligt werden, wenn er seine Rechte ausübt. Dazu gehört auch das Recht auf freie Meinungsäußerung. Schon heute ist ein sich daraus ergebendes Anzeigerecht von der Rechtsprechung anerkannt worden. Die Arbeitsgerichte haben wiederholt über viele Jahre hinweg entschieden: Arbeitnehmer in Deutschland dürfen einen Arbeitgeber anzeigen, der das Recht bricht. Ihnen darf nicht gekündigt werden. Allerdings sind vor einer solchen Anzeige Spielregeln zu beachten. Denn nur so kann ein Unterschied zwischen tapferem Hinweisgeben auf der einen Seite, aber auch der Gefahr des Denunziantentums auf der anderen Seite gemacht werden. Dafür hat die Rechtsprechung in vielen Jahren folgende Kriterien entwickelt: Erstens. Der Hinweisgeber muss sich vor einer Anzeige ernsthaft um eine innerbetriebliche Klärung bemüht haben. Er darf sich eben nicht sofort an die Presse oder an eine öffentliche Stelle wenden. Denn auch eine falsche Anzeige kann einen großen Schaden nicht nur für einen Betrieb, sondern auch für einen Menschen hervorrufen. Es gibt Fälle von gescheiterten Existenzen, die durch falsche Anzeigen in Probleme gekommen sind. Zweitens. Die Anzeige darf nicht leichtsinnig erfolgen. Drittens. Die Anzeige darf auch nicht mit dem Ziel erstattet werden, einem Kollegen oder einer Kollegin zu schaden. Denn ehrlich gesagt - das müssen wir auch erkennen - handelt nicht jeder immer aus altruistischen Motiven. Eine Anzeige betrifft häufig auch Kollegen, die aus Sicht des Arbeitgebers zunächst einmal genauso schutzwürdig sind wie der Hinweisgeber. Das ist übrigens ein Aspekt, der mir nicht nur in der heutigen DeGitta Connemann batte, sondern auch in Ihrem Gesetzentwurf zu kurz kommt. Sie haben eine völlig einseitige Sicht: immer nur auf den Arbeitnehmer, der den Hinweis gibt, aber niemals auf die Arbeitnehmer, die von diesem Hinweis betroffen sind. Das ist eine absolut verkürzte Sichtweise. ({4}) Ich weiß, welches Gegenargument jetzt kommen wird. Sie werden sagen: Diese Rechtsprechung führt zu Unsicherheiten. - Ja, auch das stimmt. Aber auch ein Gesetz, also auch Ihr Gesetzentwurf, würde nichts daran ändern. Denn alle Entwürfe, auch Ihrer, arbeiten mit offenen Rechtsbegriffen, zum Beispiel mit dem Rechtsbegriff „unzumutbar“. Ich frage Sie: Was ist unzumutbar? Was für mich nicht unzumutbar ist, ist es vielleicht für Sie, liebe Frau Kollegin Hönlinger, oder umgekehrt. Wer muss das im Streitfall entscheiden? Das sind doch wieder die Gerichte. Damit wären wir dann wieder bei der Rechtsprechung. Vor diesem Hintergrund sagen wir: Dann braucht es auch nicht ein solches Gesetz. ({5}) Im Übrigen hat sich das geschriebene Recht in Deutschland bewährt. Denn es ermöglicht eine unterscheidende Betrachtung sich unterscheidender Sachverhalte. So kann man Interessen des Betriebes, des Hinweisgebers und der anderen Arbeitnehmer abwägen. Zu diesem Ergebnis ist übrigens auch der Europäische Gerichtshof gekommen. Aber auch das hat der Kollege Lange so brillant ausgeführt, dass ich das in keiner Weise übertreffen könnte. ({6}) Aber gerade diese Entscheidung, die Sie zitieren, um ein Schutzgesetz zu fordern, kümmert Sie dann in der Begründung überhaupt nicht. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat gesagt: Dass die Beweislast in Deutschland bei dem Hinweisgeber liegt, ist nicht zu beanstanden. Genau das wollen Sie ändern. Zukünftig soll nach Ihrem Entwurf derjenige, der beschuldigt wird, den Gegenbeweis antreten. Das heißt, der alte Grundsatz der Unschuldsvermutung, in dubio pro reo, wird mit einem Federstrich getilgt. Damit stellen Sie nicht nur Unternehmen unter einen Generalverdacht, ({7}) sondern Sie schaden damit in besonderer Weise dem Arbeitnehmer, der gegebenenfalls Gegenstand des Hinweises ist. Das hat aus meiner Sicht auch nichts mit betrieblicher Wirklichkeit zu tun. Inzwischen sind in vielen Betrieben innerbetriebliche Regelungen getroffen worden. Auch das hat die Anhörung sehr eindrucksvoll gezeigt. Auf diese Anhörung sind Sie ja eingegangen, Frau Kollegin Tack. Dort haben auch Unternehmen die Regelungen dargestellt, die sie getroffen haben - übrigens in Form von Betriebsvereinbarungen. Solche Betriebsvereinbarungen soll es nach Ihrem Willen aber gar nicht mehr geben. Das ist etwas, was mich vollkommen empört. ({8}) - Doch. Dann sehen Sie sich den Gesetzentwurf an, liebe Frau Kollegin Tack. Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen, dass dort der Satz steht, dass keine Betriebsvereinbarungen mit Betriebsräten zulasten der Hinweisgeber getroffen werden können. Das ist für mich wirklich ein Armutszeugnis für Betriebsratsmitglieder. ({9}) Offensichtlich halten Sie die Mitglieder von Betriebsräten nicht für geeignet, passende betriebliche Regelungen zu finden. Da sage ich Ihnen ganz deutlich: Das ist mit uns nicht zu machen, meine Damen und Herren von den Grünen. Wenn ich wählen sollte, wo der gesunde Menschenverstand beheimatet ist, auf den grünen Fraktionsfluren oder im Betriebsratsbüro, würde ich mich immer für die Betriebsratsbüros in Deutschland entscheiden. ({10}) Ich persönlich glaube, dass der gesunde Menschenverstand dort beheimatet ist und dass unsere Betriebsräte sehr viel besser wissen, was für die Kolleginnen und Kollegen notwendig und angemessen ist. Sie wissen zu unterscheiden. Das ist auch erforderlich; denn es geht - ich wiederhole das - nicht nur um den Hinweisgeber selbst, sondern auch um die anderen Arbeitnehmer. Sie verdienen ebenfalls Schutz. Deshalb kommen wir zu dem Ergebnis, dass unser Rechtssystem in ausgewogener Art und Weise genau diesen Schutz für alle Beteiligten bietet. ({11}) Wir brauchen also keine neuen Regelungen. Schon Montesquieu hat gesagt: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ So ist es. Deshalb werden wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun das Wort die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Connemann, wissen Sie, was mich stutzig macht? Dass Sie den gesunden Menschenverstand auf den Fluren Ihrer Fraktion erst gar nicht gesucht haben. ({0}) Meine Damen und Herren, wir reden heute über Menschen, die gravierende Missstände entdecken und sich nicht davor scheuen, sie aufzudecken und öffentlich zu machen. „Wer auspackt, kann einpacken“, titelte eine Zeitung. Ja, das ist unsere Sorge; denn das geltende Recht reicht nicht aus. Deshalb haben alle drei Oppositionsfraktionen Anträge oder Gesetzentwürfe vorgelegt. Im Grunde ist es beschämend, dass weder die Bundesregierung noch die sie tragenden Fraktionen in dieser Richtung etwas getan haben. ({1}) Herr Lange, der ob seiner rechtlichen Exkurse so gelobt wurde, macht aus dem Einzelfall die Argumentation, deshalb müsse der Gesetzgeber nicht tätig werden. Ja, so kann ich vorgehen. Ich kann jedes Problem zu einem Einzelfall erklären und sagen: Prima, wir müssen als Gesetzgeber gar nicht handeln; hilfsweise haben wir ja unsere Rechtsprechung. Ich sehe das anders - und mit mir meine Fraktion. Deshalb freuen wir uns über den Gesetzentwurf der Grünen. Meine Kollegin Tack hat schon erklärt, dass wir mit ihnen nicht ganz einer Meinung sind. Aber wir stimmen deutlich darin überein, dass Handlungsbedarf besteht; denn wir möchten, dass wir in Deutschland zu einer Kultur kommen, in der jemand, der einen Missstand in seinem Betrieb erkennt, nicht erst überlegen muss: Würde es mir schaden, wenn ich ihn öffentlich mache? - Darum geht es. Wir wollen, dass diese Personen, die auch im Interesse der Allgemeinheit handeln, sicher sein können, dass sie persönlich keinen Schaden davontragen. Dafür müssen wir unsere Gesetzeslage ändern. ({2}) Ich bin mir sicher, dass das notwendig ist - nicht nur wegen des Falls in der Altenpflege und auch nicht nur wegen des Gammelfleischskandals, sondern in vielen Fällen. Wir dürfen die Zivilcourage von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht nur sonntags beschwören und nicht nur Orden verleihen, sondern müssen eine feste Grundlage dafür schaffen, dass jemand, der einen Missstand entdeckt, auch den Mut haben darf, diesen anzuzeigen. ({3}) Auch wir als SPD haben dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir werden ihn diskutieren und sehen, ob es möglich sein wird, entsprechende rechtliche Regelungen zu schaffen. Worum geht es uns dabei insbesondere? Auch wir, Frau Connemann, erwarten nicht, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer einen 20 Kilogramm schweren Rucksack bei sich haben, in dem sie nicht nur unsere Gesetze, sondern möglicherweise auch noch Gerichtsurteile mit sich herumtragen, um im entscheidenden Moment in eine Lesephase einzutreten und festzustellen: ({4}) Nein, ich kann mir nicht sicher sein, dass mir kein Nachteil erwächst. Ich lasse es lieber. - Genau das wollen wir nicht. Statt der Rucksäcke und Beschwernisse wollen wir ein ordentliches Gesetz. Und das muss dieses Haus vorlegen. ({5}) Ich bin im Übrigen enttäuscht, weil bei dem Antikorruptionsgipfel die Bundeskanzlerin offenbar Handlungsbedarf gesehen hat. Wollen wir hoffen, dass das, was unsere Kanzlerin auf den Gipfeln sagt, von der Regierung bzw. der rechten Seite des Hauses in Taten umgesetzt wird. ({6}) Ich wünsche das in diesem Fall, und wir haben Anlass, uns das auch in anderen Fällen zu wünschen. ({7}) Ich breche eine Lanze für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; denn bei Ihnen klingt es so an, als könnten wir nicht sicher sein, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das aus ehrenwerten Motiven tun. Bei Ihnen klingt an: Na ja, da könnten auch Denunzianten unterwegs sein. - Schauen Sie sich den Gesetzentwurf der Grünen und unseren Gesetzentwurf an! Wir differenzieren fein säuberlich. Wir wollen keine Kultur des Anschwärzens aus niederen Motiven - das wird schnell unterstellt -; wir wollen vielmehr, dass jemand, der Verantwortung übernimmt, indem er einen Missstand, den er entdeckt, offenkundig macht, Schutz genießt. Wir wollen die notwendigen Antworten liefern, die wir aufgrund der geltenden Gesetzeslage nicht haben. Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland schon Sorge haben müssen, dass sie wegen eines Brötchens, das sie mal zu sich genommen haben, oder wegen eines Pfandbons, der nicht ordentlich abgerechnet wurde, entlassen werden, dann verstehe ich jeden und jede, der bzw. die sagt: Es ist ganz bitter, was ich hier erlebe, aber ich halte meinen Mund, weil ich im Augenblick nicht weiß, ob ich persönlich Schaden davontrage. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/9782 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe- derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP wünschen Federführung beim Aus- schuss für Arbeit und Soziales, die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen wünscht Federführung beim Rechtsaus- schuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim Rechtsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen aller anderen Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungs- vorschlag ist mit den Stimmen aller anderen Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begleitung der Reform der Bundeswehr ({0}) - Drucksache 17/9340 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({1}) - Drucksache 17/9954 Berichterstattung: Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({2}) Fritz Rudolf Körper Harald Koch - Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/9994 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus-Peter Willsch Johannes Kahrs Dr. Dietmar Bartsch Dr. Tobias Lindner b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Agnes Malczak, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10 Jahre Frauen in der Bundeswehr - Drucksachen 17/7351, 17/8496 Berichterstattung: Abgeordnete Anita Schäfer ({5}) Burkhardt Müller-Sönksen Katja Keul Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Ernst-Reinhard Beck von der CDU/CSU-Fraktion. ({6})

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Bundeswehrreform-Begleitgesetz, das wir heute verabschieden, ist ein wichtiger und notwendiger Mosaikstein für die Entwicklung der Bundeswehr zur Einsatzarmee. Zusammen mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz, das wir im letzten Jahr verabschiedet haben, bildet es einen tragenden Pfeiler für die neue Bundeswehr. Diese Bundeswehr im Umfang von 170 000 Berufsund Zeitsoldaten, 15 000 freiwillig länger Dienenden sowie 55 000 zivilen Mitarbeitern ist politisch gewollt und sicherheitspolitisch vertretbar. Wir werden jetzt mit diesem Gesetzentwurf die notwendigen personellen Rahmenbedingungen schaffen. Ich möchte an dieser Stelle dem Bundesminister der Verteidigung ein herzliches Dankeschön aussprechen; denn das war ja nun kein einfacher Weg. Eine Reihe von nicht ganz populären Entscheidungen sind auf diesem schwierigen Weg der Neuausrichtung der Bundeswehr gefällt worden. Sie wurden sorgfältig abgewogen und sind in einem beeindruckenden Tempo erfolgt - ein herzliches Dankeschön an Sie, Herr Minister! ({0}) Ich darf kurz die einzelnen Stationen aufzeigen. Mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien verfügen wir über einen klaren sicherheitspolitischen Rahmen. Über das Standortkonzept wurde im Oktober 2011 entschieden. Wir haben jetzt die entsprechende Realisierungsplanung. Mit der Feinausplanung haben die Kommunen die Planungssicherheit, aber auch die Soldatinnen und Soldaten die für ihre Lebensplanung wichtige Orientierung erhalten. Ernst-Reinhard Beck ({1}) Die derzeitige Reform, die im Gegensatz zu den Reformen und Strukturreformen der Vergangenheit von oben nach unten erfolgt und im Ministerium ihren Anfang genommen hat, geht nunmehr in die Fläche. Damit sind nach notwendigen politischen Grundentscheidungen die Mühen der Ebene bzw. die Mühen der Umsetzung erreicht. Sie werden von allen Führungsebenen noch erhebliche Anstrengungen erfordern. Komplexe Prozesse des Abbaus, des Umbaus und des Aufbaus am Personalkörper der Bundeswehr sind die Aufgaben der nächsten Jahre. Der vorliegende Gesetzentwurf wendet sich vornehmlich an die Angehörigen der Bundeswehr, die sich nach Abwägung in anderen Arbeits- und Tätigkeitsbereichen außerhalb der Bundeswehr bessere Chancen ausrechnen. Für diesen Personenkreis muss der Wechsel in andere Bereiche unserer Arbeitswelt attraktiv gestaltet werden. Wir können nicht erwarten, dass Soldaten und Beamte mit Lebenszeitverträgen die Bundeswehr freiwillig verlassen und auf viel Geld verzichten. Wie wir mit Menschen umgehen, die ihre Arbeitskraft viele Jahre der Bundeswehr gewidmet haben, wirkt auch als Zeichen in die Streitkräfte hinein. Wir sollten dies bei unseren Diskussionen nicht vergessen. Die Reform darf nicht dazu führen, dass die Bundeswehr demotiviertes und desillusioniertes Personal ohne Perspektive zurücklässt. Daher muss jedem Soldaten und jedem Beamten ein individuelles Angebot zum Verbleib oder zum Verlassen der Armee unterbreitet werden. Ich glaube, dass unsere Soldatinnen und Soldaten, die sich dafür entscheiden, aus der Bundeswehr auszuscheiden, gute Chancen in der Wirtschaft haben. Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit hat kürzlich darauf hingewiesen, dass der Fachkräftemangel für die deutsche Wirtschaft bedrohlicher als die Finanzkrise ist. Ich finde, das ist ein starkes Wort, das wir durchaus bei unseren Überlegungen berücksichtigen sollten. Mit dem Reform-Begleitgesetz werden künftig gut ausgebildete Fachkräfte für den ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Wir hatten eine sehr instruktive Anhörung. Uns wurde klar, dass wir, um die Attraktivität dieses Angebots noch zu steigern, den ohnehin schon weitreichenden Gesetzentwurf der Bundesregierung in einigen Punkten verbessern müssten. ({2}) Wir haben den Kreis derjenigen Personen, die dieses Gesetz in Anspruch nehmen können, ausgeweitet. Wir können jetzt 3 100 Soldatinnen und Soldaten und bis zu 1 500 Beamtinnen und Beamte freisetzen. Des Weiteren ist die Erhöhung der Einmalprämie für Soldatinnen und Soldaten, die vor dem 50. Lebensjahr die Bundeswehr verlassen, auf 10 000 Euro pro Dienstjahr des vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand aufgestockt. Obwohl dieser Betrag steuerlich geltend gemacht werden muss, kann nun ein hinreichender Anreiz zum Verlassen der Bundeswehr gesetzt werden. Kernstück ist die Verbesserung der Hinzuverdienstgrenze. Wir haben mit gemeinsamen Anstrengungen erreicht, dass diese Grenze sowohl für Soldatinnen und Soldaten wie für Beamtinnen und Beamte aufgehoben wird. Diese Aufhebung gilt nur für diese fünf Jahre, nur für diesen besonderen Personenkreis. Ich bin sehr froh, dass es uns gemeinsam gelungen ist, Soldatinnen und Soldaten mit NVA-Vordienstzeiten einzubeziehen. ({3}) Hier zeigt sich wieder einmal die Vorreiterrolle der Bundeswehr beim Zusammenwachsen von Ost und West. Ich darf ein herzliches Dankeschön an alle richten, die dies möglich gemacht haben. Die Opposition hat hier von Gesetzgebungschaos gesprochen. Ich weise diesen Vorwurf zurück. Schließlich geht kein Gesetzentwurf aus dem Gesetzgebungsverfahren so heraus, wie er hineingegangen ist. ({4}) Manchmal ist es auch segensreich, dass wir in gemeinsamer Anstrengung die Dinge verbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir doch ehrlich: Keiner von uns hätte am Anfang des Beratungsprozesses gedacht, dass es uns gelingen würde, die Hinzuverdienstgrenze abzuschaffen. ({5}) Ich glaube, dass das ein ganz wichtiges Signal ist. Seien wir doch gemeinsam stolz auf das, was wir geleistet haben. Zu Recht wurde die Frage der Gerechtigkeit im Sinne von Ost und West gestellt. Es ist uns auch hier gelungen - man kann in Verhandlungen rechtzeitig klüger werden -, juristische Bedenken, die hochmögend begründet gewesen sein mögen, entsprechend zu entkräften. Wir können froh sein, dass wir diese Reform jetzt auf den Weg gebracht haben. Das spricht für die Qualität der Arbeit und auch der Zusammenarbeit im Verteidigungsausschuss. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können mit dem, was wir jetzt als Ausgangsposition erreicht haben, zufrieden sein. Wir dürfen uns aber nicht erschöpft zurücklehnen und sagen: Die Dinge werden automatisch laufen. Das Bundeswehrreform-Begleitgesetz ist eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille muss ein Attraktivitätsprogramm für diejenigen sein, die in der Bundeswehr bleiben und die die anspruchsvollen Aufgaben der Einsatzarmee erfüllen müssen. Da sind die Stichworte: Attraktivität des Dienstes, Vereinbarkeit von Dienst und Beruf, Wandel des Berufsbilds. Das ist im Grunde für die nächste Zeit entscheidend. Noch eines: Ich glaube, man kann uns nicht vorwerfen, dass wir uns nur auf Strukturen und auf abstrakte Zahlen konzentriert haben. Wir werden unser Augenmerk auch weiter auf das innere Gefüge der Bundeswehr, auf ihre Führungskultur richten. Dazu sind im Ernst-Reinhard Beck ({6}) Dresdner Erlass klare Feststellungen getroffen worden. Auch der Generalinspekteur hat in seiner Broschüre „Soldat heute“ sehr nachdenkenswerte und bedenkenswerte Dinge dazu geäußert.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. Einen Gedanken noch. Es geht nicht ohne Veränderungsbereitschaft und aktive Mithilfe der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr. Ich schließe daher mit dem Dank meiner Fraktion an die Betroffenen, die es möglich machen, dass die Bundeswehrreform nicht nur auf den Weg, sondern auch zum Erfolg gebracht werden konnte. Ich bedanke mich sehr herzlich. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Lars Klingbeil das Wort. ({0})

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir entscheiden heute über das Herzstück der Bundeswehrreform. Mit dem BundeswehrreformBegleitgesetz soll der erforderliche Umbau des Personals gelingen. Es geht aber auch darum, Sicherheit in Zeiten des Umbruchs zu schaffen. Jenseits aller wichtigen Fragen über Standorte, die wir diskutieren, jenseits aller wichtigen Fragen über die Struktur der Bundeswehr, die wir diskutieren, und jenseits aller Fragen über die Fähigkeiten der Truppe, die wir diskutieren, geht es heute um diejenigen, die der Bundeswehr in unserer Gesellschaft ein Gesicht geben: Es geht um die Soldatinnen und Soldaten; es geht um ziviles Personal. Es geht um diejenigen, die sich bewusst entschieden haben, ihren Dienst bei der Truppe zu leisten, und es geht um diejenigen, für die wir als Parlamentarier, als Politik eine Verantwortung tragen. Herr Minister, das Reform-Begleitgesetz ist vielleicht der wichtigste Baustein, wenn es um den Umbau der Bundeswehr geht. Aber leider müssen wir feststellen, dass das, was Sie heute vorgelegt haben, eine verpasste Chance ist. ({0}) Es ist eine verpasste Chance, den Angehörigen der Bundeswehr Gewissheit über ihre Zukunft zu geben. Es ist eine verpasste Chance, die Strukturentscheidungen in Einklang mit den Personalplanungen zu bringen, und es ist eine verpasste Chance, die Attraktivität der Bundeswehr endlich in den Mittelpunkt zu stellen. Vor mehr als zwei Jahren hat diese Bundeswehrreform begonnen. Damals neu im Parlament, hätte ich mir vorgestellt, dass eine Strukturreform so abläuft, dass man erst einmal über die sicherheitspolitischen Herausforderungen diskutiert, die die Bundeswehr zu bewältigen hat, ({1}) dass man daraus die Fähigkeiten ableitet und aus den Fähigkeiten dann Aufgaben, Struktur, Umfang und Finanzierung der Bundeswehr entwickelt. Damals war es aber so, dass Motor dieser Reform der strategische Parameter der Haushaltskonsolidierung - Zitat zu Guttenberg - und die Abschaffung der Wehrpflicht waren. Herr Minister, vor Ihnen ist viel schiefgelaufen. Aber auf Ihnen ruhten Hoffnungen, dass endlich Ordnung in die Ideen, die Versprechen und die Ankündigungen Ihres Vorgängers kommt. Niemand hier im Parlament stellt die Notwendigkeit einer weiteren Veränderung der Bundeswehr infrage. Auch in der Truppe spüre ich eine hohe Bereitschaft, sich diesen Herausforderungen zu stellen und sie zu gestalten. Auch im politischen Raum gibt es einen breiten Konsens und den Versuch, das Ganze überparteilich zu gestalten. Aber wenn wir heute ein Reform-Begleitgesetz auf den Weg bringen, von dem wir jetzt schon wissen, dass der Personalüberhang nicht so reduziert werden kann, wie er reduziert werden müsste, und wenn wir wissen, dass mit diesem Gesetz neue Beförderungsstaus, neue Verwendungsstaus geschaffen werden, dann, Herr Minister, können wir als Sozialdemokraten diesem Gesetz nicht zustimmen und diesen Weg nicht mitgehen. ({2}) Das, was vom Kabinett vorgelegt wurde, hat großen Unmut in der Truppe hervorgerufen. Es war wieder einmal das Parlament, das für Korrekturen gesorgt hat. Mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz haben wir damals ebenfalls wichtige Korrekturen vorgenommen. Wir haben einen Antrag zur Betreuungskommunikation eingebracht. Jetzt ist es wieder einmal das Parlament, das ein deutliches Signal in Richtung Truppe setzt. ({3}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Ihre Änderungen bei dem Reform-Begleitgesetz gehen uns nicht weit genug. Deswegen können wir ihnen heute hier nicht zustimmen. Es muss im Kern darum gehen, die Strukturentscheidungen mit dem Personalkörper in Einklang zu bringen. Wenn selbst das Verteidigungsministerium sagt, dass 6 200 Dienstposten bei den Soldatinnen und Soldaten und 3 000 bei den Beamten abgebaut werden müssten, wir heute aber einen Gesetzentwurf vorliegen haben, mit dem nur die Hälfte finanziert wird, dann wissen wir, dass es zu Beförderungsstaus kommen und die Attraktivität der Bundeswehr darunter leiden wird. Wir Sozialdemokraten haben immer gesagt: Wir brauchen eine massive Attraktivitätssteigerung. Wir haben im Ausschuss beantragt, die Planstellenanteile für Unteroffiziere in der Besoldungsgruppe A 9 und für Offiziere im Bereich A 13 moderat zu erhöhen, um einen Stau bei den Beförderungen abzubauen. Das haben Sie abgelehnt. Auch das wäre ein wichtiger Schritt in Richtung mehr Attraktivität gewesen. Wir Sozialdemokraten haben eingefordert, dass bei dem Umbau der Bundeswehr hin zu einer Berufsarmee ein massives Attraktivitätsprogramm auf den Weg gebracht wird. Herr Beck, Sie haben gerade davon gesprochen, das sei die zweite Seite der Medaille. Aber wir müssen feststellen, dass diese Seite der Medaille bisher sträflich vernachlässigt wurde. Es gab Ankündigungen. Aber wirklich geschehen ist hinsichtlich der Attraktivität nichts. Das fängt mit der Erhöhung der Vergütung für mehrgeleisteten Dienst an. Das hat schon Herr zu Guttenberg angekündigt. Bis heute aber ist nichts geschehen. Mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Dienst wird öffentlichkeitswirksam von ElternKind-Zimmern gesprochen. Aber eine wirkliche Vereinbarkeit ist nur möglich, wenn die Kinderbetreuung ausgebaut wird und es eine Ausweitung flexibler Arbeitsformen gibt. Das wären Antworten, die wir vom Minister erwarten und die heute notwendig wären. ({4}) Außerdem brauchen wir endlich verbindliche Planungen für die Pendlerwohnungen. Herr Minister, wir werden in den kommenden Wochen hinsichtlich der Attraktivität auch über Betreuungseinrichtungen und die Verpflegung reden müssen. Stoppen Sie sämtliche Ideen, die mit Schließungen und Privatisierungen zu tun haben! Wir alle wissen, wie wichtig Betreuungseinrichtungen für die Truppe sind. Sie haben eine wichtige soziale Funktion für die Menschen in der Truppe. Deshalb ist es sinnvoll, von den geplanten 55 000 Stellen für zivile Beschäftigte abzurücken und mehr darauf zu achten, was wir bei der Truppe eigentlich brauchen. ({5}) Rücken Sie ab von willkürlichen Zielzahlen, und stellen Sie die Aufgaben in den Mittelpunkt Ihrer Entscheidungen! Nur so kann die Bundeswehrreform wirklich gelingen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wäre gern mit Ihnen den Weg einer gemeinsamen Reform zu Ende gegangen. Wir hätten heute gern zugestimmt und ein gemeinsames Bundeswehrreform-Begleitgesetz für Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilbeschäftigte auf den Weg gebracht. ({6}) Dafür hätten Sie aber eine realistische und durchfinanzierte Planung, ein demografiefestes Konzept, vor allem ein durchdachtes und gut konzeptioniertes Attraktivitätsprogramm auf den Tisch legen müssen. Das alles haben Sie nicht getan. Deswegen können wir nicht zustimmen. Sie haben heute eine Chance vertan. ({7}) Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Elke Hoff. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der erste Teil Ihrer Rede, Kollege Klingbeil, war sehr vielversprechend. Sie haben, glaube ich, sehr gut dargestellt, dass etwas, was wir als Koalitionsfraktionen jetzt hier im Parlament auf den Weg bringen, vernünftig und gut ist. Sie hätten auch den zweiten Schritt noch machen können. Aber vielleicht schaffen wir die Gemeinsamkeit ja, wenn dieses Gesetz, das jetzt die notwendigen Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer sehr ehrgeizigen Bundeswehrstrukturreform schafft, im Jahr 2014 evaluiert wird. Auch als Koalition wissen wir, dass das, was wir jetzt machen, ein dynamischer Prozess ist. Wir werden mit aller Ruhe und Gelassenheit die notwendigen Punkte abarbeiten, um die Entwicklung unserer Streitkräfte hin zu einer attraktiven Freiwilligenarmee - nicht zu einer Berufsarmee, Herr Kollege! - auf den Weg zu bringen. ({0}) Wie Sie sich als aufmerksamer Teilnehmer an den Sitzungen des Verteidigungsausschusses sicher erinnern können, hat diese Koalition im Rahmen der Verhandlungen zum Einzelplan 14 und der Verabschiedung bereits einen gemeinsamen Antrag zur Verbesserung der Attraktivität der Streitkräfte beschlossen. Ich gehe davon aus, dass dieser jetzt mit allem Nachdruck und mit aller Vehemenz im Bundesministerium der Verteidigung abgearbeitet wird. Viele Punkte, die Sie zu Recht anmahnen, finden sich auch schon in diesem Koalitionsantrag. Wir müssen immer wieder auch daran erinnern, vor welchem Hintergrund die Streitkräftereform stattfindet. Wir haben eine Armee im Einsatz. Wir haben die demografische Entwicklung; das ist heute schon sehr zu Recht angesprochen worden. Wir als diejenigen, die für die Streitkräfte verantwortlich sind, müssen uns auch mit den Anforderungen des Haushalts auseinandersetzen. Wir können nicht alles, was wünschenswert ist und worüber in diesem Haus sicherlich auch Konsens bestehen würde, sozusagen aus dem Ärmel schütteln und finanzieren. Wir können nicht so tun, als ob der Rest der Welt nicht existieren würde. Ich glaube, dass wir in der Kürze der Zeit in einem sehr ordentlichen Verfahren für die Soldatinnen und SolElke Hoff daten, die ihren Dienst leisten, eine vernünftige Verbesserung erreicht haben. Ich fand es gut, dass gerade der Kollege der SPD die Punkte noch einmal aufgeführt hat, weil wir sie zum großen Teil gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Wir hätten uns gefreut, wenn Sie uns heute auf diesem Weg ein Stück weiter begleitet hätten, um so auch ein gemeinsames Signal in die Truppe zu senden. Ich glaube, dass viele Soldatinnen und Soldaten, wenn wir es richtig kommunizieren, verstehen, dass wir nicht alles das, was wünschenswert ist, sozusagen auf einen Streich und in einem Tag auf den Weg bringen können. Wir haben große Meilensteine erreicht. Wir haben die Wehrpflicht ausgesetzt; wir haben sie nicht abgeschafft, Herr Kollege. Wir haben die Einsatzversorgung verbessert. Wir haben die Betreuungskommunikation verbessert. Wir haben die Ausrüstung und Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten verbessert. ({1}) Wir haben jetzt nachhaltige Rahmenbedingungen geschaffen. Kollege Beck, ich kann Ihnen nur zustimmen: Es ist wirklich ein Paradigmenwechsel, dass es uns gegen erhebliche Widerstände aus vielen Bereichen gelungen ist, die Hinzuverdienstgrenze für freiwillig aus dem Dienst ausscheidende Soldaten abzuschaffen. Das sind Signale an unsere Soldatinnen und Soldaten, dass wir selbstverständlich an ihrer Seite sind. Auf der anderen Seite erwarte ich von den Betroffenen - das möchte ich an der Stelle sehr deutlich sagen -, dass sie die Zwänge anerkennen, unter denen wir als politische Entscheider stehen. Wir können nicht so tun, als wenn uns eine Haushalts- und Finanzkrise nicht in vielen Bereichen Fesseln anlegt. Alle gesellschaftlichen Gruppen müssen hier ihren Beitrag leisten und müssen aufeinander zugehen. Ich vertraue darauf, dass die notwendigen Maßnahmen im Ministerium jetzt sehr schnell umgesetzt werden. Sollten wir feststellen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es an einigen Stellen holpert, wird im Jahr 2014 im Rahmen einer Evaluation das Gesetz angepasst. Ich glaube, das Parlament ist mit an erster Stelle dabei, wenn es darum geht, das, was nicht funktioniert, zu ändern. Ich freue mich, dass es uns gemeinsam gelungen ist, in der Kürze der Zeit einen Rahmen zu setzen, sodass die Bundeswehr weiß, woran sie ist, und jeder weiß, welche Möglichkeiten er hat. Erinnern wir uns daran, was die Vertreter der Bundesagentur für Arbeit in der Anhörung gesagt haben! Sie haben gesagt, dass sie froh sind, wenn diese Leute kommen, weil sie sie dringend brauchen. Wenn diese Kooperation gelingt, bin ich relativ unbesorgt, dass Soldatinnen und Soldaten eine vernünftige und attraktive Weiterbeschäftigung im zivilen Bereich finden werden. Herr Minister, an dieser Stelle Ihnen und Ihrem Haus ein herzliches Dankeschön für die Arbeit. Sie können davon ausgehen, dass wir Sie weiterhin konstruktiv begleiten werden. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Harald Koch das Wort. ({0})

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das vorliegende Bundeswehrreform-Begleitgesetz ist wieder einmal ein Beispiel dafür, wie man mit Menschen eigentlich nicht umgehen sollte. Ihr Anspruch war es, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der einen sozialverträglichen Personalabbau in der Bundeswehr ermöglicht. Abgesehen davon, dass die gesamte Reform der Bundeswehr völlig falsch ausgerichtet und schlecht durchdacht ist, kann auch von sozialverträglichem Personalabbau keine Rede sein. Es ist beispielsweise nicht sozialverträglich, dass Sie eine Obergrenze für die Anzahl der Ausscheidewilligen festlegen, mit der Sie noch nicht einmal Ihren selbst gesteckten Rahmen erreichen können. Warum lassen Sie nicht alle gehen, die gehen wollen? ({0}) Vor allem ist es nicht sozialverträglich, Soldaten mit Vordienstzeiten in der NVA auch 22 Jahre nach dem Kalten Krieg, nach der deutschen Einheit noch immer zu benachteiligen. Da haben Sie von der CDU, im Besonderen Herr Bergner, das Possenstück aufgeführt, ein schon verabschiedetes Gesetz noch einmal in den Ausschuss zu bringen, weil Sie die Ungleichbehandlung von Ostbiografien nicht länger hinnehmen wollten. Das hat so auch in der Zeitung gestanden. ({1}) Aber das ganze Theater ändert nichts daran, dass Sie diese Ungleichbehandlung auch mit dem jetzt nachgebesserten Gesetzentwurf nicht beseitigen. ({2}) Sie heben zwar die Hinzuverdienstgrenzen auch für ehemalige NVA-Soldaten auf, schaffen aber gleichzeitig neue Ungerechtigkeiten, weil diese Regelung nur für eine kleine Gruppe von Soldaten gilt, nämlich für diejenigen, die infolge der Maßnahmen des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes aus dem Dienst ausscheiden. ({3}) Alle anderen ehemaligen NVA-Soldaten, die vielleicht bereits ausgeschieden sind, ohnehin in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden wären oder erst nach 2017 ausscheiden wollen, sind auch weiterhin benachteiligt. Das viel größere Problem ist jedoch, dass selbst der Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen nur Augenwischerei ist; denn das eigentliche Problem, die unterschiedlichen Ruhestandsbezüge zwischen Soldaten mit reiner Bundeswehrbiografie und Soldaten mit NVA-Vorzeiten, wird überhaupt nicht angegangen. Dies heißt, dass Soldaten mit NVA-Zeiten auch weiterhin viel kleinere Renten erhalten werden als die Soldaten, die nur in der Bundeswehr gedient haben. Das ist das Problem. Finden Sie das sozialverträglich und gerecht? Ich finde das skandalös. ({4}) Aus diesem Grund hat die Linke im Verteidigungsausschuss auch einen Antrag vorgelegt, ({5}) mit welchem sie die Bundesregierung auffordert, noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzesentwurf vorzulegen, mit welchem sämtliche noch verbliebenen Schlechterstellungen von ehemaligen NVA-Soldaten gegenüber Soldatinnen und Soldaten mit ausschließlicher Dienstzeit in der Bundeswehr beseitigt werden. Wir sind gespannt, ob die Aussagen von Herrn Bergner und Co. mal wieder nur medienwirksame Lippenbekenntnisse waren oder ob sie zukünftig wirklich eine Gleichbehandlung anstreben. Insgesamt zeigt sich wieder einmal das Problem, welches wir schon so oft kritisiert haben: Wenn es um Ausrüstung, Auslandseinsätze oder millionenschwere Beschaffungen geht, dann kann alles nicht schnell, effektiv und schlagkräftig genug sein. Wenn es aber um die Versorgung der Soldaten geht, fangen Sie jedes Mal sofort an, zu knausern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Koch, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Koch, darf ich Sie fragen, wie Sie dazu kommen, in abenteuerlicher Weise neue Ungerechtigkeiten zu konstruieren? Ist Ihnen bekannt, dass alle diejenigen, die bisher von Personalstrukturmaßnahmen betroffen waren - das waren zumeist Soldaten, die in der alten Bundesrepublik ihren Dienst geleistet haben -, wesentlich schlechtere Bedingungen hatten als die jetzt Betroffenen? Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass es nicht opportun ist, hier neue Gräben aufzureißen, wo wir die alten Gräben im Grunde gerade erst gemeinsam zugeschüttet haben? Bitte berücksichtigen Sie, dass dieses Gesetz lediglich für diejenigen gilt, die von dieser zeitlich und personell begrenzten Maßnahme betroffen sind.

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Beck, es sind keine neuen Gräben, die hier aufgerissen werden; es sind bestehende Gräben. Wir sind bestrebt, diese Gräben zuzuschütten. Uns geht es darum, dass die Soldatinnen und Soldaten, die mit früheren NVA-Dienstzeiten jetzt freiwillig in der Bundeswehr dienen, die gleiche Anerkennung finden und die gleiche Absicherung erhalten - insbesondere auf die Rente bezogen - wie die Soldatinnen und Soldaten, die nur in der Bundeswehr gedient haben. Das wird mit diesem Gesetzentwurf aber nicht erreicht; das wird nicht einmal angegangen. Man weigert sich, und zwar aus rein fiskalischen Gründen, wie ich vermute. ({0}) - Nein, kann ich nicht. ({1}) Ein weiterer äußerst bedenklicher Aspekt des Gesetzes ist die Absicht der Bundesregierung, die zivile Komponente aus der Bundesverwaltung herauszudrängen und zivile Dienstposten nun mit Militärs zu besetzen. Art. 87 b Grundgesetz regelt eine klare Aufgabentrennung zwischen zivilen und militärischen Strukturen, und das nicht ohne Grund. Diese Trennung ist eine Folgerung aus der deutschen Militärgeschichte. Soll diese wichtige demokratische Errungenschaft nun auf dem Altar der Remilitarisierung geopfert werden? Das ist nicht akzeptabel, da es nicht nur zu einer weiteren Militarisierung innerhalb der Bundeswehr, sondern auch zu einer schleichenden Militarisierung der Gesellschaft beiträgt. ({2}) Die Linke lehnt das strikt ab. ({3}) Ebenfalls zu einer schleichenden Militarisierung der Gesellschaft führt die vermehrte Rekrutierung von Frauen. Unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung und einer „menschlicheren“ Bundeswehr wird versucht, vermehrt Frauen für den Dienst an der Waffe zu gewinnen. Dies ist angesichts der Ausrichtung der Bundeswehr fatal und hat auch nichts mit Emanzipation zu tun. Die Bundeswehr ist eben kein Arbeitgeber wie jeder andere, und das in jeder Hinsicht. Glück auf! ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Agnieszka Brugger.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind uns einig: Die Reform der Bundeswehr ist ein notwendiAgnes Brugger ger und in weiten Teilen längst überfälliger Schritt. Vom Erfolg dieser Reform wird abhängen, wer mit welchen Fähigkeiten und mit welcher Motivation künftig zur Bundeswehr kommt. Das ist ganz entscheidend. Schließlich wollen wir alle nicht nur zahlenmäßig genug Bewerber und auch Bewerberinnen haben; wir wollen auch, dass die Bundeswehr ein Spiegel der Gesellschaft bleibt: pluralistisch und demokratisch. ({0}) Das Gesetz, das heute zur Abstimmung steht, prägt diese Reform ganz maßgeblich. Mit diesem Gesetz soll der umfassende Personalabbau sozialverträglich gestaltet werden; mit diesem Gesetz soll die Bundeswehr kleiner und attraktiver werden. Das sind wesentliche Voraussetzungen für den Erfolg der Reform, den auch wir Grüne wollen. Herr Minister, die entscheidende Frage ist doch: Haben Sie genug für die Attraktivität der Bundeswehr getan - mit diesem Gesetz, aber auch darüber hinaus? Da habe ich meine Zweifel. Nehmen wir ein Beispiel, das für die Bundeswehrangehörigen ausgesprochen wichtig ist - gerade für die jungen Menschen - und für den Dienstherrn daher nicht weniger Priorität haben sollte: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In diesem Bereich besteht erheblicher Nachholbedarf. Die Regierung hat eigentlich versprochen, hier umfassend zu liefern. Konkret haben Sie unabhängig von diesem Gesetz die Einrichtung von 300 Eltern-Kind-Zimmern angewiesen. 120 davon sind bereits eingerichtet. Das hört sich zwar nett an; aber ohne Verbesserungen der Arbeitsstrukturen, die erst die Nutzung solcher Räumlichkeiten ermöglichen, ist das eine leere Symbolmaßnahme. ({1}) Sie haben mit dem Gesetz zum Beispiel einen Anspruch auf Kinderbetreuung während der Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen geschaffen. Auch das ist gut und längst überfällig. Aber zusammengenommen ist das immer noch so, als würden Sie versuchen, mit einer Pipette den Garten zu gießen. Die Soldatinnen und Soldaten brauchen keine Symbolpolitik, sondern grundlegende und umfassende Verbesserungen. Verlässliche Planungen, längere Stehzeiten an einem Standort, flächendeckende Betreuung für Kinder - das sind nur einige Beispiele für die bestehenden Herausforderungen, die Sie nicht angehen. Ein weiteres Beispiel ist die Erhöhung des Frauenanteils. Da widerspreche ich ausdrücklich dem Kollegen Koch, für den das eine Remilitarisierung darstellt. Den Bedarf an Nachwuchs, vor allem auch an hochqualifizierten Fachkräften, werden Sie auf Dauer nur decken können, wenn auch mehr Frauen bereit sind, zur Bundeswehr zu gehen. ({2}) Dazu hören wir von Ihnen derzeit außer schönen Worten nichts. Wir haben Ihnen in einem eigenen Antrag eine Reihe von Vorschlägen gemacht und laden Sie herzlich ein, dem nachher zuzustimmen. Insgesamt untergraben aber nicht nur die fehlenden Maßnahmen zur Verbesserung der Attraktivität die Erfolgschancen der Reform; auch die Art und Weise Ihres Vorgehens ist alles andere als hilfreich. Sie bemühen sich verzweifelt, das Bild eines wohlgeordneten und durchdachten Prozesses zu beschreiben. Doch was wir auf den letzten Metern der Beratungen über diesen Gesetzentwurf erleben durften, ist bezeichnend für den gesamten bisherigen Ablauf der Reform: Über die Presseverteiler wurde da von der Unionsfraktion schon der erfolgreiche Abschluss der Beratungen verkündet. Aber noch am gleichen Tag war klar, dass in Ihrer eigenen Fraktion noch nicht alle Fragen geklärt waren, und das ganze Gesetz ging zurück an den Ausschuss. Dieses Hin und Her zieht sich durch den ganzen Reformprozess. In der Abstimmung zwischen den Ministerien wurde Ihr ursprünglicher Gesetzentwurf zum Zankapfel und in jeder Hinsicht zerrupft und zerfleddert. Wie bei vielen Fragen zeigt sich auch bei dieser Reform die tiefe Uneinigkeit der Bundesregierung. Sie verschieben Ihre Konflikte einfach ins Parlament, das dann die gröbsten Schnitzer ausbügeln soll. Für die Betroffenen bedeutet diese chaotische Vorgehensweise vor allem ein massives Auf und Ab. Eine grundlegende Verunsicherung wird zum ständigen Begleiter. Die Soldatinnen und Soldaten und auch die zivilen Mitarbeiter sind doch kein Spielball der regierungsinternen Streitereien. ({3}) So kann eine Mitnahme der betroffenen Menschen einfach nicht gelingen, und das, meine Damen und Herren, ist eine der größten Schwächen des Reformprozesses. Was das Bundeswehrreform-Begleitgesetz im Konkreten betrifft: Im Verlauf des Beratungsprozesses wurden erhebliche Schwächen angesprochen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben sich da durchaus bewegt, ein wenig zumindest, aber auch nicht weit genug. ({4}) Bei anderen Gesetzen, die die Bundeswehr betreffen, haben Koalition und Opposition in den vergangenen Jahren konstruktiv zusammengearbeitet. Hier haben Sie eine solche Zusammenarbeit nicht wirklich verfolgt. Vor wenigen Wochen haben Sie hier im Plenum vollmundig eine gemeinsame Arbeit an diesem Gesetz angekündigt. Das waren allerdings leere Versprechungen. Sie haben unsere Anträge im Ausschuss einfach niedergestimmt. Das ist angesichts der Rolle der Bundeswehr als Armee des gesamten Parlaments wirklich bedauerlich. Wir laden Sie jetzt noch einmal ein, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen, mit dem wir eine Reihe von Vor21984 schlägen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen und der Attraktivität der Bundeswehr machen. ({5}) Das Gesetz ist jedenfalls immer noch keine runde Sache, auch wenn wir das Ziel einer kleineren und attraktiveren Bundeswehr teilen. Ich will zum Abschluss noch einmal die drei wesentlichen Kritikpunkte nennen: Mit den vorgeschlagenen Instrumenten werden Sie erstens die Zielstruktur nicht erreichen. Sie werden zweitens die Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr nicht wirklich verbessern. Das Gesetz ist damit drittens ein weiterer Beitrag zur Verschleppung der Probleme statt zu ihrer Lösung. Darum können wir dem nicht zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Woche ist eine gute Woche für die Bundeswehrreform: Am Dienstag hat der Minister die Feinausplanung der Stationierung bekannt gegeben, und heute beraten und beschließen wir das Bundeswehrreform-Begleitgesetz. Beides sind zentrale Säulen dieser Reform. Seit Dienstag ist klar, wann die bereits getroffenen Standortentscheidungen umgesetzt werden, und ab heute, unter welchen auch finanziellen Rahmenbedingungen der erforderliche Personalumbau stattfindet. Ich sage bewusst „Umbau“, weil es bei dem Gesetz eben nicht nur um den Personalabbau geht, sondern auch darum, jungen Menschen ein attraktives Angebot zu machen, damit sie zur Bundeswehr kommen. Das geschieht beispielsweise durch die bessere Vereinbarkeit von Familie und Dienst, Verpflichtungsprämien oder attraktivere Fortbildungs- und Berufsförderungsmöglichkeiten. Wir beenden damit in dieser Woche eine Phase der Unsicherheit, die die Angehörigen der Bundeswehr, ihre Familien, aber auch die Kommunen, die von Standortschließungen betroffen sind, erheblich belastet hat. Ich verhehle nicht, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn wir die Phase der Unsicherheit schon früher hätten beenden können. Ich sage aber auch: Schlimmer, als nichts zu wissen, ist, etwas zu wissen, auf das man sich einstellt, das dann aber wieder geändert werden muss, weil irgendjemand irgendetwas vergessen hat. Deswegen muss bei Vorhaben wie der Bundeswehrreform der Grundsatz gelten: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Im Zuge der Beratungen über das Bundeswehrreform-Begleitgesetz haben wir im Parlament die Zeit genutzt, das Gesetz noch einmal substanziell zu verbessern. Kollege Beck hat die Änderungen im Einzelnen vorgestellt. Mir persönlich war es ein Anliegen, dass die Hinzuverdienstgrenzen wegfallen; denn die Hinzuverdienstgrenzen waren für hochqualifizierte ehemalige Soldaten im Ruhestand nichts anderes als ein Anreiz, zu Hause zu bleiben, anstatt in die freie Wirtschaft zu gehen. Das mag in Zeiten, in denen wir 5 Millionen Arbeitslosen hatten, gerechtfertigt gewesen sein, aber es passt nicht in die Zeiten des Fachkräftemangels. Es war richtig, dass wir die Chance genutzt haben, im Bereich Hinzuverdienst die Ungleichbehandlung der Soldaten mit NVA-Vergangenheit zu beenden. Es stimmt, liebe Frau Brugger, es geschah buchstäblich in letzter Minute, aber wir haben es geschafft. Es ist an der Zeit, darauf hinzuweisen, wer den Spieß in letzter Minute umgedreht hat. Das war unser kompromissbereiter CSU-Innenminister Friedrich, aber es waren auch unsere wirklich hartnäckigen Ost-CDU-Abgeordneten, ({0}) die sich über Wochen hinweg für dieses Thema eingesetzt haben. ({1}) Nur ihnen haben es die Betroffenen zu verdanken, dass diese Ungleichbehandlung beendet wird. Einer der großen Vorkämpfer dafür sitzt hier: Robert Hochbaum. ({2}) Er wird zu diesem Thema noch sprechen. Verehrte Damen und Herren von der Opposition, insbesondere der SPD und Grünen, an einem Punkt verstehe ich Sie nicht. Sie müssten dem, was wir in unserem Änderungsantrag formuliert haben - Wegfall Hinzuverdienst, Ungleichbehandlung von NVA-Soldaten -, inhaltlich eigentlich zustimmen. ({3}) Ich verstehe nicht, warum Sie gestern im Verteidigungsausschuss unseren Änderungsantrag abgelehnt haben. ({4}) Das 08/15-Standardargument der Opposition: „Ja, Ihr Antrag geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug“, ist an dieser Stelle nicht angebracht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Brandl.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich mache fertig, und dann.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Was heißt das? ({0}) Die Uhr wird angehalten, wenn Sie die Zwischenfrage zulassen.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe jetzt noch fünf Sätze, und die mache ich fertig. Dann können wir eine Kurzintervention machen. ({0}) Also gut, ich lasse die Zwischenfrage zu. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Keul, bitte schön.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege. Sie haben uns gerade gefragt, warum wir Ihrem Änderungsantrag nicht zugestimmt haben. Als es eben in der Rede der Kollegin Brugger um den Anteil von Frauen in der Bundeswehr ging, haben Sie alle applaudiert, ({0}) und auch Generalinspekteur Wieker hat sich öffentlich ähnlich geäußert, wie wir das in unserem Antrag tun. Deswegen hätte ich an Sie die Frage: Warum stimmen Sie denn unserem Antrag „10 Jahre Frauen in der Bundeswehr“ nicht zu?

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben uns mit Ihrem Antrag mindestens genauso intensiv beschäftigt wie Sie sich mit unserem Änderungsantrag. Wir sind zu dem Schluss gekommen: Mit den konkreten Maßnahmen, die wir im Bundeswehrreform-Begleitgesetz vorgesehen haben, zum Beispiel die Erstattung von zusätzlichen Kinderbetreuungskosten, die während dienstlicher Qualifizierungsmaßnahmen anfallen, sind wir auf dem richtigen Weg, andere müssen noch folgen. Verehrte Frau Kollegin Keul, Sie können sich darauf verlassen, da werden weitere kommen. ({0}) Noch einmal zu unserem Änderungsantrag im Ausschuss und zu meinem Unverständnis darüber, dass Sie ihm nicht zugestimmt haben. Sie wissen doch ganz genau, dass es für uns nicht so einfach war, all das, was wir geschafft haben, auch tatsächlich durchzusetzen. In der Opposition redet es sich leicht. Aber wir in der Regierungskoalition haben Rahmenbedingungen zu beachten, nämlich Regelungen zu schaffen, die nicht nur für unsere Soldatinnen und Soldaten und Beamtinnen und Beamten in der Bundeswehr attraktiv sind, sondern allen Bundesbediensteten vermittelt werden können. Dazu gehört auch der Bundesfinanzminister. Die Regelungen müssen auch der Bevölkerung vermittelt werden können. Aus meiner Sicht ist uns dies mit diesem Gesetzentwurf gelungen. Wir unterbreiten den Soldatinnen und Soldaten, die bleiben, den Soldatinnen und Soldaten, die gehen, und den Soldatinnen und Soldaten, die kommen wollen, ein faires Angebot. Ich bin stolz auf unseren Gesetzentwurf. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort die Kollegin Karin Evers-Meyer von der SPD-Fraktion. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Brandl, erlauben Sie mir, zunächst zu sagen: Wir können Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen, wenn Sie sich nicht mit unseren guten Anträgen beschäftigen und nicht einmal einige Anregungen aufnehmen. ({0}) Wir hätten das gerne gemeinsam gemacht. Ich glaube aber, in diesem Fall hat es einmal nicht an SPD und Grünen gelegen. ({1}) Ich möchte mich ein wenig mit der Attraktivität der Bundeswehr für Frauen beschäftigen. Wir haben seit zehn Jahren Frauen in der Bundeswehr. Die Bundeswehr hat dadurch ein ganz anderes Gesicht bekommen. Ich finde, Frauen in der Bundeswehr sind heute eine Selbstverständlichkeit. Das ist insgesamt sehr erfreulich. Die Öffnung der Bundeswehr für Frauen hat der Armee gutgetan: mehr Pluralität, mehr Offenheit, mehr Stabilität und natürlich auch mehr Transparenz. Ich denke, man muss wirklich sagen: Hier hat die Bundeswehr einen ganz tollen Job gemacht. Soldatinnen so zu integrieren, wie die Bundeswehr das gemacht hat, das ist schon ein Lob wert. Ich finde aber auch, dass man nicht auf halbem Wege stehen bleiben sollte. Es gibt immer noch zu wenige Frauen in der Bundeswehr. Ihr Anteil beträgt heute knapp 10 Prozent. In manchen Dienstbereichen, beispielsweise bei den Feldjägern, liegt die Quote noch weit unter der nach dem Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz angestrebten Quote von 15 Prozent. Da besteht ein ganz schöner Unterschied. Da haben wir noch viel zu tun. Im Sanitätsdienst hingegen haben wir einen Frauenanteil von 40 Prozent. An dieser Stelle muss ich deutlich sagen: Die Quote beim Sanitätsdienst ist nicht die weiße Salbe für die Defizite in den Dienstbereichen, in denen Frauen immer noch ganz stark unterrepräsentiert sind. ({2}) Wir müssen wirklich darauf achten, dass der Frauenanteil in den verschiedenen Dienstbereichen möglichst gleichmäßig verteilt anwächst. Blumige Erfolgsberichte ändern nichts an mangelnden Fortschritten, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP das gerne hätten. Eines steht aber auch fest: Viel zu wenige Frauen entscheiden sich für den Dienst in der Bundeswehr. Die Frage ist: Warum ist das so? In der Koalition sind Sie darüber - wie immer - ein wenig zerstritten. Für die FDP liegt der Grund in der Verbesserung der Vereinbakeit von Familie und Dienst. Unserer Ansicht nach stimmt diese Richtung. Für CDU und CSU fehlen die zeitlichen Voraussetzungen für die Erfüllung der Quote. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, wenn ich daran erinnern darf: Frauen stehen seit zehn Jahren alle Dienstbereiche offen und nicht erst seit zehn Monaten. Ein kleines Beispiel dazu: Ich bereise im Moment meinen Wahlkreis. Dabei treffe ich auf Soldatinnen und Soldaten. Zum Beispiel in der Nähe von Wittmund habe ich eine verzweifelte Soldatin getroffen, die ihr Kind erst um 8 Uhr im Kindergarten abgeben kann, aber um 7 Uhr Dienstbeginn in Wilhelmshaven hat. Der Vater ist im Einsatz. In meinem Wahlkreis treffe ich häufig auf solche Fälle. Ich denke, dass wir bisher zwar sehr viel darüber geredet haben, aber nur ganz wenig konkret getan haben. Die Bundeswehr muss viel offensiver damit umgehen und darf sich nicht darauf verlassen, dass die Kommunen und andere Einrichtungen genügend Plätze zur Verfügung stellen. Auf gar keinen Fall! ({3}) Es darf auch nicht sein, dass ein sechsmonatiger Auslandseinsatz auf dem Rücken fürsorglicher Großeltern ausgetragen wird. Daran ändern die Gesetze aus diesem Hause gar nichts. Wenn man sich, so wie hier, nicht einig ist, dann geht das immer zulasten von Eltern und Kindern, in der Regel zulasten von Frauen. Es kommt jetzt darauf an, dass die Selbstverständlichkeit der Gleichstellung an Bedeutung gewinnt. Nur dann werden Frauen und Männer gleiche Chancen haben, sich auch in militärischen Führungspositionen zu beweisen. Über dieses Thema haben wir heute im Laufe des Vormittags schon lang und breit gesprochen. Wir werden jedenfalls alles genau beobachten und die Regierung daran erinnern. Wenn Sie es mit der Gleichstellung von Frauen in der Bundeswehr tatsächlich ernst meinen, haben Sie sicherlich vorgesehen, demnächst eine Evaluierung durchzuführen. Mich würde es sehr freuen, wenn ich ab und zu lesen könnte, welche Fortschritte es gibt. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort der Kollege Burkhardt MüllerSönksen von der FDP-Fraktion. ({0})

Burkhardt Müller-Sönksen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003818, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als vor über zehn Jahren die ersten Soldatinnen ihren Dienst in der Bundeswehr aufnahmen, markierte ihr Antritt für manche der altgedienten Militärs den gefühlten Anfang vom Ende ihrer geliebten Bundeswehr. Doch schon nach kurzer Zeit wurde deutlich, welche Bereicherung engagierte Frauen für die Bundeswehr sind. Mittlerweile leisten mehr als 17 000 Frauen ihren Dienst, Tendenz steigend, und das ist auch gut so. ({0}) Aber die durchaus positiven Zahlen dürfen nicht den Blick auf die immer noch in Teilen vorherrschenden Problemlagen verstellen. Die Integration von Frauen ist noch längst nicht abgeschlossen. Sie ist ein langfristiger Prozess, der die Bundeswehr auch in den nächsten Jahren begleiten wird. Diesen Prozess müssen wir als solchen wahrnehmen. Selbstverständlich dürfen wir ungeduldig sein, aber auch nicht ungerecht gegenüber denjenigen, die sich bemühen, diesen Prozess zu fördern und zu beschleunigen. Die jährlichen Berichte des Wehrbeauftragten machen deutlich, dass im persönlichen Umgang innerhalb der Bundeswehr Soldatinnen mitunter nicht die verdiente Wertschätzung ihrer Arbeit erfahren. Wir nehmen diese Kritik ernst und sorgen dafür, dass diese Fälle - in der Vergangenheit wie auch in Zukunft - konsequent verfolgt und aufgeklärt werden. Mein Dank gilt den militärischen und zivilen Gleichstellungsbeauftragten, die dieses wichtige Thema immer wieder ansprechen und mit ihren Beratungsleistungen die Soldatinnen bei ihrer täglichen Arbeit begleiten. Im April bin ich zu einem Besuch in Afghanistan gewesen. In Masar-i-Scharif und in Kunduz habe ich das Gespräch mit Soldatinnen gesucht. Sie berichteten mir, dass sie häufig eben nicht eine Sonderstellung aufgrund ihres Geschlechts einnehmen wollen. Sie verstehen sich als einen gleichberechtigten Teil ihrer Einheit. Für sie hat manche gut gemeinte Fördermaßnahme den gegenteiligen Effekt, nämlich dass sie sich dem Anschein einer Bevorzugung ausgesetzt sehen. Das zeigt, dass die Maßnahmen zur Förderung mit Bedacht gewählt werden müssen. Gut gemeint kann eben schnell zum Gegenteil von Gut werden. Was hilft, ist keine leere Symbolpolitik, sondern konkrete Maßnahmen, die die Bundeswehr als Arbeitgeber für Frauen attraktiver machen. In vielen Studien wird als aktuell größte Herausforderung die Vereinbarkeit von Beruf und Familie genannt. An diesem Punkt setzen wir ganz konkret an. Familienfreundlichkeit wird in Zukunft einer der wichtigsten Faktoren bei der Berufswahl junger Menschen sein. Dabei ist es entscheidend, dass sich die Unterstützungsangebote an den realen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Soldatinnen und Soldaten orientieren. Wir realisieren aktuell - das ist ein ganz konkretes Beispiel - das Projekt „Zu Hause in der Bundeswehr“, bei dem neben attraktiven Wohnmöglichkeiten für die ganze Familie ein umfassendes Familienbetreuungsprogramm angeboten wird. Wir ermöglichen die Kostenübernahme für die Betreuung der Kinder von Soldatinnen und Soldaten, die an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen. All das sind Maßnahmen, die nicht nur die Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber für Frauen steigern, sondern generell allen Soldaten mit Familienpflichten helfen. Wir wollen ja ein bestimmtes gesellschaftliches Berufsmodell nicht nur auf die Soldatinnen projizieren. Ich komme zum Schluss. Wir nutzen den laufenden Reformprozess als Chance, um das Ziel eines ausgewogeneren Geschlechterverhältnisses innerhalb der Bundeswehr zu erreichen. „Zehn Jahre Frauen in der Bundeswehr“ ist ein Erfolgsmodell, ein Erfolg keineswegs nur für die Frauen selbst, sondern auch ein Erfolg für die Bundeswehr und für unsere Gesellschaft. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Robert Hochbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003557, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute - es wurde schon mehrfach angesprochen - ist ein guter Tag für die Bundeswehr. Heute ist aber auch ein guter Tag für die Soldatinnen und Soldaten sowie für die zivilen Angestellten bei unseren Streitkräften, die mit der anstehenden Reform konfrontiert wurden und werden. Mit der heutigen Beschlussfassung zum Bundeswehrreform-Begleitgesetz setzen wir einen weiteren zentralen Meilenstein für eine leistungsfähige und effiziente Bundeswehr der Zukunft. Zusammen mit der von unserem Minister de Maizière diese Woche vorgestellten Realisierungsplanung geben wir unseren Soldaten und zivilen Angestellten Entscheidungshilfen, Anreize und feste Daten an die Hand, die sie befähigen, jetzt für sich und ihre Familien eine zufriedenstellende Zukunftsplanung zu realisieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist nicht weniger als unsere Pflicht, für die Menschen, die mit den Auswirkungen unserer Entscheidungen konfrontiert werden, Planungssicherheit zu schaffen und klare Perspektiven aufzuzeigen. Der nun final vorliegende Gesetzentwurf gibt Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft, die unser Verteidigungsminister bei der Einbringung des Gesetzentwurfs treffend formuliert hat - ich zitiere -: Wir brauchen weniger Personal. … Wir müssen das richtige Personal am richtigen Platz in der Bundeswehr haben. … Wir brauchen neues Personal. Um diese Ziele zu erreichen, haben auch wir uns im parlamentarischen Raum eingebracht und einige Ergänzungen in den vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet. Wichtig waren für uns immer die Fragen: Reichen die Anreize aus? Ermutigen sie Soldaten und Beamte, die Bundeswehr freiwillig zu verlassen, einen sicheren Arbeitsplatz aufzugeben und neue, vielleicht unsichere Herausforderungen anzunehmen? Ein besonderer Punkt war dabei aus meiner Sicht vor allem die Nachbesserung beim Hinzuverdienst für vorzeitig ausscheidende Soldatinnen und Soldaten. Gerade vor dem Hintergrund der von mir eben aufgeworfenen Fragen zur Realisierung der Reform war es ein wichtiger Schritt, die Hinzuverdienstgrenze für Tätigkeiten außerhalb des öffentlichen Diensts aufzuheben. Denn: Erstens. Für den Bundeshaushalt entsteht nach der Aufhebung der Grenze so gut wie keine Belastung. Zweitens. Ganz im Gegenteil: Durch die Beschäftigungen, die dann sozialversicherungspflichtig sind, generiert man Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen. Drittens. Die vorzeitig ausgeschiedenen Soldatinnen und Soldaten werden trotz ihres Alters, wie bei der entsprechenden Anhörung - etliche Kolleginnen und Kollegen waren dabei - durch die Bundesagentur für Arbeit bestätigt wurde, gute Chancen auf eine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt haben. Sehr geehrte Damen und Herren, nun komme ich zu einem Punkt, der mir ganz persönlich - man hat es schon gehört - am Herzen liegt: der Ost-West-Angleichung. Ich danke dem Bundespräsidenten, der bei seinem Antrittsbesuch bei der Bundeswehr an der Führungsakademie in Hamburg folgenden Satz sagte - ich darf zitieren -: Ich stehe vor der Bundeswehr, zu der ich seit 22 Jahren auch „meine Armee“ sagen kann. ({0}) Ja, seit 22 Jahren gibt es kein Ost und West mehr. Seit 22 Jahren sitzen Bundeswehrsoldaten mit und ohne NVA-Vordienstzeit an einem Schreibtisch. Seit 22 Jahren kämpfen sie Seite an Seite im Auslandseinsatz. Sie kämpfen Seite an Seite für die Sicherheit unseres geeinten Deutschlands. Aus diesem Grund freue ich mich heute ganz besonders, dass es mit unserem Änderungsantrag gelungen ist, einen weiteren Schritt in Richtung Gerechtigkeit bei der Ost-West-Angleichung zu gehen, und wir nun Soldaten mit NVA-Vordienstzeiten in der Bundeswehr bei einem Ausscheiden die gleichen Chancen des Hinzuverdiensts ermöglichen wie ihren Kollegen ohne diese Vordienstzeiten. ({1}) Ich möchte mich darum bei allen bedanken, die dies ermöglicht haben, besonders natürlich bei unserem Verteidigungsminister Thomas de Maizière, aber auch bei dem Sprecher der ostdeutschen Abgeordneten der CDU, Arnold Vaatz, bei unserem Innenminister Dr. Hans-Peter Friedrich - das ist hier schon angeklungen - und natür21988 lich bei all den anderen Kollegen, die daran beteiligt waren. ({2}) Herzlichen Dank für einen kleinen, aber wichtigen Schritt zur Ost-West-Gerechtigkeit! Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Begleitung der Reform der Bundeswehr. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9954, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9340 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. ({0}) Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9986. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der SPDFraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt. Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9987. Wer stimmt dafür? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der Grünen und der SPD abgelehnt. Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „10 Jahre Frauen in der Bundeswehr“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8496, den Antrag der Fraktion der Grünen auf Drucksache 17/7351 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Roth ({1}), Marlene Rupprecht ({2}), Christoph Strässer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische Kinderarbeit durchsetzen - Drucksache 17/9920 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Marlene Rupprecht von der SPDFraktion das Wort. ({4})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich weiß, dass es spät ist, und es tut mir auch leid, dass wir jetzt noch reden müssen, aber ich denke, es ist notwendig, ab und zu ein Thema anzuschneiden, das im politischen Geschäft nicht sehr im Vordergrund steht, zumal wir vorgestern, am Dienstag, dem 12. Juni 2012, das zehnjährige Bestehen des Welttages gegen Kinderarbeit begangen haben. Diese zehn Jahre sollten wir uns noch einmal in Erinnerung rufen. Es ist also noch gar nicht so lange her, dass wir uns weltweit darauf einigen konnten, dass Kinderarbeit, und zwar ausbeuterische Kinderarbeit, in keiner Gesellschaft, egal wie sie beschaffen ist, geduldet werden kann. Für alle Jugendlichen und jungen Menschen: Es ist gesetzlich klar geregelt, unter Kinderarbeit wird nicht das Mithelfen im Haushalt verstanden; das vielleicht zur Klarstellung. Nicht dass ein Kind morgen ankommt und sagt: Ich bringe den Müll nicht mehr hinaus, weil das Kinderarbeit ist. - Nein, das ist damit nicht gemeint. Hier geht es um ausbeuterische Kinderarbeit, vor allem in Ländern der Dritten Welt. 200 Millionen Kinder werden in ihrem Leben wirklich massiv von Kinderarbeit beeinträchtigt. Sie werden ausgenutzt: in Fabriken zum Teppichknüpfen, in Steinbrüchen zum Steineschlagen, auf dem Feld zum Ernten, und zwar in einer Art und Weise, dass ihre körperliche und seelische Entwicklung massiv darunter leidet und sie von jeglicher Bildung ferngehalten werden. Darum geht es. Marlene Rupprecht ({0}) Ich will mich nicht hier hinstellen - ich glaube, das wird keiner von uns tun - und sagen: Wir sind die besseren Menschen, und wir wissen, worum es geht. - Nein, es geht darum, dass ausbeuterische Kinderarbeit eine ganz massive Menschenrechtsverletzung ist. Wir wissen auch, dass Kinder nicht deswegen ausgebeutet werden, weil ihre Eltern sie misshandeln wollen, sondern Kinder werden ausgebeutet, weil Armut und Not so groß sind. Deshalb müssen alle eingesetzten Maßnahmen dazu führen, dass Eltern ebenfalls aus ihrer Armut herauskommen, dass Kinder Bildung wahrnehmen können. Das heißt, es braucht ein ganzes Maßnahmenbündel, damit Kinderarbeit in diesen Ländern ein Ende hat. ({1}) Das ist die Grundvoraussetzung. Es geht hier nicht um Gutmenschentum und auch nicht darum, unser Gewissen zu beruhigen. Nein, es geht darum, mit diesen Ländern Verhandlungen zu führen, Projekte mitzufinanzieren, um Bildung zu ermöglichen, dass Kinder die Schule besuchen können. Doppelt ausgebeutet sind Mädchen, die sehr häufig verkauft werden, um in Haushalten als Sklavinnen zu arbeiten. Was brauchen wir? Nachdem die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland voll ratifiziert und ohne Ausnahme anerkannt ist, ist sie Gesetz. Das heißt, jeder, der sich nicht daran hält, begeht einen Gesetzesbruch. Es ist notwendig, dass bei allen Maßnahmen, die wir ergreifen, die Kinderrechte und die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation eingehalten werden. Auch das Vergaberecht muss eingehalten werden; denn dort steht eindeutig, dass all diese Belange zu berücksichtigen sind. Wenn all das gemacht wird, haben wir eine Chance, dass keine billigen Produkte auf den deutschen bzw. den europäischen Markt gelangen, die durch ausbeuterische Kinderarbeit entstanden sind, das heißt, dass Kinder dazu benutzt werden, damit es uns gut geht. Welches Problem haben wir als Verbraucher? Wir haben eine Vielfalt an Zertifikaten. Ich habe heute einmal im Internet nachgeschaut: Angesichts der vielen Zertifikate und Siegel ist der Verbraucher völlig hilflos und weiß nicht mehr, welche Zertifizierung dafür steht, dass dieses Produkt ohne Kinderarbeit gefertigt wurde. Deshalb brauchen wir einen runden Tisch oder Ähnliches; Versuche dazu sind schon unternommen worden. Die Wirtschaft, die Politik, Abgeordnete, Regierung und NGOs, Nichtregierungsorganisationen, die vor allem in den Ländern aktiv gegen Kinderarbeit tätig sind, müssen sich zusammensetzen und sich dann auf gemeinsame Label oder Zertifikate verständigen, damit das Ganze für die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich durchschaubar ist. Wir müssen die Menschen aufklären, was Kinderarbeit wirklich bedeutet, statt das Thema beiseitezuschieben. Vor nicht einmal einem Jahrhundert gab es das auch bei uns in Europa. Denken Sie nur an die Ausbeutung der Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg, die im Sommer über die Alpen zogen. Auch dem haben wir einen Riegel vorgeschoben und die Lebenssituation der Menschen so verändert, dass das nicht mehr stattfindet. Warum um Himmels willen soll es uns nicht gelingen, weltweit für Kinder solche Lebensbedingungen zu schaffen, dass es ihnen besser geht? ({2}) Dies muss die vornehmste Pflicht von Parlamenten und Regierungen sein. Es muss ein Kernthema sein statt irgendein Nebenthema. ({3}) Dazu müssen wir auch die entsprechenden Organisationen in den Zielländern unterstützen, die versuchen, massiv dagegen vorzugehen. Wir haben die Mittel zurückgefahren, statt sie auszubauen. Über 200 Millionen Kinder davor zu bewahren, halte ich für eine richtig große Aufgabe. Deshalb reden wir heute Abend über dieses Thema. Ich weiß, wie schwer es Ihnen um diese Uhrzeit fällt, ({4}) zumal noch viele Themen auf der Tagesordnung stehen und wir bis Mitternacht beraten. Ich hoffe, dass wir heute Abend einen Konsens erzielen - deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt - und alle Maßnahmen gemeinsam ergreifen und umsetzen, damit wir die Kinderarbeit künftig nicht mehr zum Thema machen müssen. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es spricht der Kollege Eckhard Pols für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Indien knüpfen Kinder bis zu 16 Stunden am Tag Teppiche. In Ägypten verätzen sich Kinder ihre Hände in Gerberlauge. In Kambodscha werden Kinder wie Waren als Prostituierte oder Farmarbeiter nach Thailand verkauft. All diese Kinderschicksale sind Beispiele für ausbeuterische Kinderarbeit. Diese Kinderarbeit hat viele Gesichter: Sie kann in Familien, in privaten Haushalten, in Form von Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft oder kommerzieller sexueller Ausbeutung stattfinden, in der Industrie und in der Landwirtschaft. Kinderarbeit raubt Kindern nicht nur ihre Kindheit, sondern auch ihre Würde und ihre Gesundheit. Als Mitglied der Kinderkommission stehen für mich bei jeder gesetzgeberischen Initiative das Wohlergehen und der Schutz von Kindern stets im Vordergrund. Maßstab unseres Handelns in der Kinderkommission sind in erster Linie die in der UN-Kinderrechtskonvention garantierten Rechte. Rechtsklarheit in Bezug auf Kinderarbeit bringt Art. 32 der Kinderrechtskonvention. Danach hat jedes Kind das Recht, vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt zu werden. Insbesondere dürfen Kinder nicht zu einer Arbeit herangezogen werden, die Gefahren mit sich bringt oder die Gesundheit des Kindes oder seine körperliche, geistige, seelische, sittliche oder soziale Entwicklung schädigen könnte. Jeder Staat, der die Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, ist deshalb verpflichtet, Maßnahmen zum Kinderarbeitsschutz zu ergreifen. Meine Damen und Herren, unter uns Familien- und Entwicklungspolitikern herrscht Einigkeit dahin gehend, dass es ein weltweites Verbot von Kinderarbeit geben muss. Das ist ein ambitioniertes politisches Ziel vor dem Hintergrund, dass es für dieses komplexe und vielschichtige Problem keine einfache und schnelle Lösung gibt. Das werden die Entwicklungspolitiker sicherlich auch zweifelsfrei bestätigen können. Es gilt vor allem, die Ursachen von Kinderarbeit zu bekämpfen statt nur die Symptome. Arme Familien schicken Kinder zur Arbeit, um kurzfristiges Überleben zu sichern. Das heißt, Armut erzeugt Kinderarbeit, welche wiederum Armut, Ungerechtigkeit und Diskriminierung hervorruft: ein wahrer Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt. Ich bin Ihnen eigentlich dankbar, Frau Rupprecht, dass Sie als Opposition die Gelegenheit genutzt haben, rechtzeitig zum Welttag gegen Kinderarbeit am 12. Juni Ihren Antrag auf die Tagesordnung zu setzen. Ich vermisse aber in Ihrem Antrag etwas inhaltlich Neues oder auch bisher nicht bekannte Forderungen. ({0}) Wenn man sich nämlich Ihren Antrag anschaut, stellt man fest, dass er weitgehend inhaltsgleich mit Anträgen aus vergangenen Jahren ist. ({1}) Wenn man dieses sehr wichtige Thema ernst nimmt, dann muss inhaltlich mehr kommen. ({2}) Die Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit ist bereits seit vielen Jahren ein Schwerpunktthema unserer Entwicklungspolitik. Ich scheue mich nicht davor, Ihr Erinnerungsvermögen an dieser Stelle etwas aufzufrischen und Ihnen aufzuzeigen, dass wir bei der Bekämpfung der Kinderarbeit schon auf einem recht guten Weg sind. In den letzten Jahren hat sich die Bundesregierung auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene verstärkt für die Verankerung der UN-Kinderrechtskonvention und der ILO-Übereinkommen 182 - Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit - und 138 - Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung - eingesetzt. Nicht unerwähnt bleiben sollte, weil Sie das auch in Ihrem Antrag fordern, dass Deutschland neben den USA und Japan drittgrößter Geber im Rahmen des IPEC-Programms der ILO ist. ({3}) Bereits seit 1999 fördert die Bundesregierung dieses Programm zur Beseitigung der Kinderarmut mit insgesamt 55 Millionen Euro. Von elementarer Bedeutung im Hinblick auf jegliche Maßnahmen ist für mich das Recht des Kindes auf Bildung, das in Art. 28 der UN-Kinderrechtskonvention festgelegt ist. Wir sprechen somit von einem fundamentalen Recht von Kindern, das durch ausbeuterische Kinderarbeit ausgehebelt wird; denn Kinderarbeit verhindert Schulbildung. Erst die Bildung von Kindern ermöglicht ein selbstbestimmtes Leben und ein Ausbrechen aus dem Teufelskreis der Armut. Frau Rupprecht, es ist richtig - Sie haben es angesprochen -: Auch vor Ort, auf kommunaler Ebene, kann gegen ausbeuterische Kinderarbeit aktiv gekämpft werden. Erfreulich ist, dass viele Länder und Kommunen in den letzten Jahren bereits Maßnahmen ergriffen haben, um die Beschaffung von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu verhindern. Auch das deutsche Vergaberecht - Sie haben es angesprochen, Frau Rupprecht - ermöglicht es, dass öffentliche Auftraggeber zusätzliche Voraussetzungen für die Ausführung des Auftrags vorschreiben. Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich in Deutschland mittlerweile über 250 Städte, Gemeinden und Landkreise der Kampagne „Aktiv gegen Kinderarbeit“ angeschlossen haben und damit eindeutig bekundet haben, dass sie Kinderarbeit ablehnen. Auch wir als Bürgerinnen und Bürger können als Verbraucher aktiv gegen Kinderarbeit werden. Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit werden in Deutschland verkauft. Wir haben es schon gehört; Beispiele sind auch angeführt worden. Ich nenne nur Textilien, Natursteine, Kaffee, Kakao und auch Fußbälle. ({4}) In allen diesen und weiteren Waren kann Kinderarbeit stecken. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Deutschland entgegen der in Ihrem Antrag vertretenen Auffassung sehr aktiv im Kampf gegen Kinderarbeit ist. Bund, Länder, Kommunen, Unternehmen und Bürger sind zunehmend sensibilisiert und ergreifen vermehrt Maßnahmen, um Produkte, die durch Kinderarbeit entstanden sind, zu ächten. Kinderarbeit zu tolerieren, ist unvereinbar mit der Investition in Kinder; denn Investitionen in unsere Kinder sind Investitionen in eine bessere Zukunft eines jeden Landes. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Katrin Werner hat für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass aktuell weltweit circa 215 Millionen Kinder arbeiten müssen. Davon werden etwa 115 Millionen unter sklavenähnlichen Bedingungen ausgebeutet. Die Linke hat vor einem Jahr hierzu einen Antrag in den Bundestag eingebracht. Nun hat die SPD einen Antrag vorgelegt. Ich finde es richtig, dass wir mit Blick auf den vorgestrigen Internationalen Tag gegen Kinderarbeit erneut dieses Thema aufgreifen. ({0}) Die Länder der Dritten Welt sind von ausbeuterischer Kinderarbeit besonders betroffen. Die wichtigste Ursache ist Massenarmut. Kinder arbeiten überall dort, wo ihre Eltern bitterarm sind. Die Kinder werden in Steinbrüchen, in der Sexindustrie, auf Plantagen oder in Privathaushalten ausgebeutet. Laut UNICEF bekommen vier von fünf Kindern für ihre Arbeit noch nicht einmal einen Lohn. Allein in Indien arbeiten circa 150 000 Kinder als Arbeitssklaven in häufig lebensgefährlichen Steinbrüchen. Die schwere körperliche Arbeit führt zu Hauterkrankungen, Atemproblemen, gebrochenen Armen und Beinen, Taubheit und Blindheit. Zahlreiche Kinder sterben an den Folgen dieser Arbeit. Ausbeuterische Kinderarbeit ist für uns moderne Sklaverei und gehört abgeschafft. ({1}) Die sozialen Ursachen für diese Kinderarbeit müssen in den betroffenen Ländern bekämpft werden. Hierbei muss die Bundesregierung die Bekämpfung der Massenarmut weitaus stärker unterstützen. Stattdessen hat Deutschland aber seit Jahren die vereinbarte Zusage, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, bis heute nicht erfüllt. Es werden nur 0,4 Prozent bereitgestellt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist wichtig, dass Deutschland im Jahr 2002 das ILO-Übereinkommen über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit ratifiziert hat. Allerdings zählt Deutschland auch zu den Absatzmärkten für Produkte aus dieser Kinderarbeit. Die Linke unterstützt deshalb den Beschluss des Bundesrates vom 9. Juli 2010, möglichst auch den Marktzugang von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu verhindern. So stammen zum Beispiel allein zwei Drittel aller Grabsteine auf deutschen Friedhöfen ursprünglich aus Indien, wo die Steine von Kindern abgeschlagen werden. Was ist mit dem von Kindern abgebauten Marmor? Was ist mit der Goldkette aus Afrika? In Burkina Faso arbeiten zwischen 60 000 und 200 000 Kinder in Goldminen. Rund 70 Prozent von ihnen sind unter 15 Jahren. Schon Fünfjährige müssen beim stundenlangen Goldwaschen im kalten, schlammigen Wasser mithelfen. Daran verdienen sich internationale Großkonzerne eine goldene Nase. Das müssen wir verhindern. Wir fordern: Wir brauchen umgehend ein gesetzliches, möglichst EU-weites Verbot für die Einfuhr, den Handel und die Verwendung von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit. ({2}) Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge durch Bund, Länder und Kommunen muss öffentlich gemacht werden, ob die ILO-Konventionen gegen Kinderarbeit im Herkunftsland und in der Lieferkette lückenlos eingehalten werden. Für die Linke gehört beides zusammen: Marktzugangssperren bei uns und Bekämpfung der sozialen Ursachen der Kinderarbeit in den Entwicklungsländern. ({3}) Nur dann haben Kinder und Eltern eine Zukunft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der weltweite Schutz der Kinderrechte muss Vorrang vor Profitinteressen von Unternehmen haben. Darüber muss über die Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit bestehen. Der Antrag der SPD spricht wichtige Punkte an, über die wir in den Ausschüssen reden müssen. Kinder sind unsere Zukunft und brauchen unseren besonderen Schutz. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Pascal Kober spricht jetzt. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, zufolge sind auch heute noch 215 Millionen Kinder weltweit gezwungen, zu arbeiten. Rund 115 Millionen dieser Kinder müssen sogar den schlimmsten, weil besonders gefährlichen Formen von Arbeit nachgehen. Sie schmuggeln Drogen, sie müssen in Steinbrüchen arbeiten, und sie werden gezwungen, sich zu prostituieren oder als Soldaten in den Krieg zu ziehen. Vergangenen Dienstag fand der Welttag gegen Kinderarbeit statt. Angesichts der geschilderten Fakten soll uns dieser Gedenktag ermahnen, in unseren Bemühungen um eine weltweite Ächtung ausbeuterischer Kinderarbeit nicht nachzulassen. ({0}) Ausbeuterische Kinderarbeit ist in den meisten Fällen eine Folge der Armut der Eltern. Viele Familien sind darauf angewiesen, dass ihre Kinder zum Einkommen beitragen; denn die allermeisten Eltern - davon bin ich überzeugt - würden ihre Kinder niemals zur Arbeit schicken, wenn sie nicht äußerste Not dazu zwingen würde. Wir haben es hier jedoch mit einem Teufelskreis aus Armut, ausbeuterischer Kinderarbeit und fehlender Schulbildung zu tun; denn nicht nur kann ausbeuterische Kinderarbeit bei diesen Kindern zu Traumatisierung und Krankheiten führen und birgt erhebliche körperliche Gefahren bis hin zum Tod; nein, darüber hinaus mangelt es diesen Kindern meist auch an Schulbildung. Denn während sie arbeiten müssen, können sie weder eine Schule besuchen noch eine Ausbildung erhalten. Dadurch verlieren sie ihre späteren Chancen auf einen höher qualifizierten Arbeitsplatz und bleiben selbst in der Armut wie ihre Eltern gefangen. In der Folge werden ihre eigenen Kinder wieder Gefahr laufen, arbeiten zu müssen; denn wenn die Not der Eltern groß genug ist, ist auch die Not groß, ihre eigenen Kinder als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. So wird dieser Teufelskreis an die nachfolgende Generation vererbt. Um dieses Problem anzugehen, müssen wir an vielen Stellen gleichzeitig ansetzen. Beispielsweise wirken die Bundesregierung und die Deutsche Botschaft in Taschkent auf vielen Ebenen auf die Regierung Usbekistans ein, wo ausbeuterische Kinderarbeit nach wie vor ein drastisches Problem darstellt. Ich möchte meine Rede auch nutzen, um auf die kläglichen und unhaltbaren Zustände bei der dortigen Baumwollernte exemplarisch aufmerksam zu machen. Zwar hat Usbekistan bereits die ILO-Konventionen zur Abschaffung von Zwangsarbeit und zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit ratifiziert, dennoch ist bisher kaum erkennbar, dass den Unterschriften auch entsprechende Maßnahmen zur Umsetzung folgen. Im Gegenteil: Die usbekische Regierung weigert sich beharrlich, eine unabhängige ILO-Untersuchungskommission einreisen zu lassen. Die FDP-Bundestagsfraktion verurteilt diese Arbeitseinsätze unter Zwang und den Einsatz von Kinderarbeit. Daher möchte ich es begrüßen, dass die Deutsche Botschaft Taschkent die jährliche Baumwollernte nicht nur genau beobachtet, sondern sich auch bilateral, im Kreise der Europäischen Union und in internationalen Gremien mit Nachdruck gegenüber den usbekischen Behörden für die Beseitigung von Kinderarbeit einsetzt, so im vergangenen Jahr bei den deutsch-usbekischen politischen Konsultationen, beim EU-Usbekistan-Kooperationsrat und bei der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO. Dieses Engagement möchte die FDP-Fraktion durch einen Appell an die usbekische Regierung unterstützen, noch in diesem Jahr eine ILO-Untersuchungskommission einreisen zu lassen. ({1}) Nicht nur das Auswärtige Amt, sondern auch das Entwicklungsministerium mit Dirk Niebel an der Spitze ist sehr aktiv bei der Bekämpfung von Kinderarbeit. ({2}) Ein besonders positives Beispiel ist das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderte Programm in Burkina Faso, das bis 2015 mit voraussichtlich 5,6 Millionen Euro unterstützt wird. Dort nutzen Kinderhändler die weitverbreitete Armut in besonderem Maße aus. Mit der Aussicht auf ein besseres Leben überzeugen sie Eltern davon, ihre Kinder wegzugeben. Mehr als 160 000 Kinder sind so zu Opfern von Kinderhandel und den schlimmsten Formen von Kinderarbeit geworden. Das Programm gegen Kinderarbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geht hiergegen vielschichtig vor. Neben Beratungstätigkeit gehören Theateraufführungen zu den Themen Kinderhandel und Kinderarbeit ebenso dazu wie die Förderung des Schulbesuchs von Mädchen. Die ersten Ergebnisse stimmen hoffnungsvoll. In den Dörfern, die in das Programm integriert sind, stieg die Anzahl der Mädchen, die eine Schule besuchen, deutlich an. Obwohl sich die Kampagne in erster Linie an Mädchen richtet, nahm zugleich auch der Schulbesuch der Jungen in beachtlichem Maße zu. Die Arbeit des Programms wird mittlerweile von der lokalen Bevölkerung anerkannt und geschätzt. Inzwischen sprechen sich 90 Prozent der Bevölkerung in den Schwerpunktregionen gegen Kinderhandel und gegen Kinderarbeit aus. Die Medien in Burkina Faso berichten regelmäßig über die Aktivitäten, was wesentlich dazu beiträgt, dass sich das Bewusstsein in der Gesellschaft nach und nach ändert. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich möchte betonen, dass die FDP Ihr Anliegen teilt, ausbeuterische Kinderarbeit weltweit zu ächten. Wie Sie an den aufgeführten Beispielen jedoch sehen, ist die Bundesregierung bei der Bekämpfung ausbeuterischer Kinderarbeit bereits äußerst aktiv. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten gemeinsam die Bundesregierung auf Ihrem Weg unterstützen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Katja Dörner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es ist absolut alle Energie wert und auch nötig, ausbeuterische Kinderarbeit zu bekämpfen. Wir sprechen hierbei über fast eine Viertelmilliarde Kinder und junger Menschen weltweit, davon rund 70 Millionen Kinder, die noch nicht einmal zehn Jahre alt sind. Wir reden gerade nicht über Zeitungsaustragen oder einen Ferienjob, sondern wir reden über ausbeuterische Verhältnisse, über Arbeitsverhältnisse, die zum Teil faktische Versklavung darstellen oder der Versklavung sehr nahekommen. Das Schlimmste ist eigentlich, dass wir registrieren müssen, dass die Zahlen wieder ansteigen. Ich muss auch sagen, dass mir persönlich die autosuggestiven Mantras, die wir vonseiten der Regierungsfraktionen nach dem Motto „Wir sind auf einem guten Weg, und wir machen doch schon alles“ hören, zu wenig sind. Ich finde, die kleinen Näherinnen, die kleinen Knüpfer, die elfjährigen Haushaltsgehilfinnen mit 70-StundenWoche, von denen ich in meiner Zeit in Afrika einige kennengelernt habe, haben mehr Engagement verdient auch und gerade von dieser Bundesregierung. ({0}) Ich finde es gut, dass der Antrag, den wir heute beraten, deutlich macht, dass man auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen muss. ({1}) Ein einheitliches Zertifizierungssystem für die gesamte Produktions- und Lieferkette wäre ein sehr wichtiger Schritt. Mehr Informationen für die Verbraucherinnen und die Verbraucher wären auch ein deutlicher Fortschritt, weil tatsächlich viele überhaupt nicht wissen, dass sie es in ihrem Alltag mit Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu tun haben. Selbstverständlich - das sollte wirklich selbstverständlich sein - muss die Bundesregierung bei ihrer eigenen Auftragsvergabe und Beschaffung eine Vorreiterrolle einnehmen. Wir müssen aber vor allem den Blick auf die Ursachen von Kinderarbeit richten. Denn nur so kann dieses Übel tatsächlich an der Wurzel gepackt werden. Die Ursache von ausbeuterischer Kinderarbeit ist Armut - das wurde heute Abend schon mehrfach gesagt -, also die wirtschaftliche Situation der Familien und der Eltern, die häufig keine andere Wahl lässt. Deshalb sind simple Boykottappelle, wie es sie immer wieder einmal gibt, oder auch Forderungen nach Einfuhrverboten sicherlich gut gemeint; ({2}) aber ohne flankierende Maßnahmen können sie fatale Folgen haben, weil sie die Situation der Kinder und ihrer Familien zum Teil verschärfen. Es ist von daher ganz wichtig, in der Entwicklungszusammenarbeit den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme viel stärker in den politischen Fokus zu rücken. Wenn die Eltern in die Lage versetzt werden, ihre Kinder selbst zu versorgen, und wenn es ein kostenloses Bildungssystem gibt, das es auch den ärmsten Kindern wirklich erlaubt, die Schule zu besuchen, dann kann der Teufelskreis aus Armut und fehlender Bildung durchbrochen werden. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Herausforderung ist groß. Nur eine kluge Kombination aus selektiven Verboten und staatlicher Unterstützung von Familien inklusive internationaler Sozialpolitik kann ausbeuterische Kinderarbeit nachhaltig bekämpfen. ({3}) Aber gerade internationale Sozialpolitik kostet Geld. Für uns Grüne ist klar - das möchte ich hier noch einmal deutlich sagen -, dass wir zum 0,7-Prozent-Ziel stehen. Wir sind bereit, die notwendigen Mittel im Bundeshaushalt umzuschichten. ({4}) Dass die schwarz-gelbe Bundesregierung hinter den finanziellen Zusagen, die Deutschland in der Entwicklungszusammenarbeit gemacht hat, weit zurückbleibt, zeigt leider, wie wenig ernst es den Regierungsfraktionen mit ihren warmen Worten in Debatten wie der, die wir heute Abend führen, ist. Die Bundesregierung ist nicht zuletzt durch die Ratifizierung der ILO-Kernarbeitsnormen verpflichtet, aktiv gegen ausbeuterische Kinderarbeit vorzugehen. Wenn Deutschland im Zusammenhang mit der UN-Kinderrechtskonvention seine Vorreiterrolle behalten möchte, dann braucht es deutlich mehr internationales Engagement. Also: weniger schöne Worte und mehr Taten. 250 Millionen Kinder heute und auch alle, die leider zukünftig wahrscheinlich von ausbeuterischer Kinderarbeit betroffen sein werden, haben mehr Engagement verdient, auch und insbesondere von dieser Bundesregierung. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Paul Lehrieder spricht jetzt für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor zwei Tagen war der Internationale Tag gegen Kinderarbeit - Frau Kollegin Rupprecht hat darauf hingewiesen -, der Jahrestag der Verabschiedung der ILO-Konvention 182, in der weitreichende Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarbeit beschlossen wurden. Geht es nach der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, dann sollen bis 2016, also in vier Jahren, weltweit die schlimmsten Folgen von Kinderarbeit ausgerottet sein - ein ambitioniertes, bei weitem noch nicht erreichtes Ziel. Wir alle setzen uns für eine Welt ohne Kinderarbeit ein; hier herrscht in diesem Haus sicherlich Konsens. Doch dieses ehrgeizige Ziel wird vor allem in der Dritten Welt schwer zu erreichen sein. Auch hierauf hat Kollegin Marlene Rupprecht bereits hingewiesen. Ausbeuterische Kinderarbeit ist in den allermeisten Fällen schlicht eine Folge von Armut. Viele Familien sind schlichtweg darauf angewiesen, dass ihre Kinder zum Einkommen beitragen. Anlässlich des Internationalen Tags gegen Kinderarbeit hat die SPD-Fraktion vorgestern einen Antrag mit dem Titel „Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische Kinderarbeit durchsetzen“ vorgelegt. Dazu möchte ich gern auf die Antwort der Bundesregierung, Drucksache 17/6662, auf Ihre Kleine Anfrage, Drucksache 17/6545, zu diesem Thema verweisen. In dieser Antwort, bereits vom 25. Juli 2011, ist ausführlich dargestellt, welche vielfältigen Maßnahmen Deutschland beim Kampf gegen Kinderarbeit bislang ergriffen hat. Die Bundesregierung unterstützt die ILO seit Jahren im Kampf gegen Kinderarbeit. So setzt sie sich für die weltweite Ratifizierung der ILO-Konvention 182 zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit ein. Darüber hinaus setzt sich die Bundesregierung auch für eine Verankerung dieser Normen in der Arbeit des Internationalen Währungsfonds und der Weltbankgruppe ein. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit fördert bereits seit Anfang der 1990er-Jahre das Internationale Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit, IPEC, der ILO. Es unterstützt die teilnehmenden Länder bei der Umsetzung von Strategien zur Bekämpfung der Kinderarbeit. Seit Gründung der für die Beseitigung der Kinderarbeit zuständigen ILO-Abteilung, IPEC, war Deutschland eine der größten Geldgeber; die Kollegen haben bereits darauf hingewiesen. Nachdem Frau Kollegin Rupprecht sehr viel Richtiges und Richtungsweisendes - ich kann das nicht zu jeder Rede sagen - zu diesem Thema bereits ausgeführt hat, beziehe ich mich auf die Worte meiner Vorredner, der Kollegin Marlene Rupprecht, des Kollegen Pols, und gönne Ihnen die zwei Minuten und 30 Sekunden, die ich noch an Redezeit hätte. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und nachher dem einen oder anderen viel Spaß bei dem Sommerfest der DPG. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Rebmann hat seine Rede netterweise zu Protokoll gegeben,1) sodass wir am Ende der Aussprache sind. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9920 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Kauder, Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Serkan Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Fortbestand des Klosters Mor Gabriel sicherstellen - Drucksachen 17/9185, 17/9914 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Angelika Graf ({1}) Katrin Werner Volker Beck ({2}) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Graf ({3}), Klaus Brandner, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kloster Mor Gabriel weiter schützen - Drucksache 17/9921 - Es wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu geben.2) - Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so und kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9914, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/9185 anzu- nehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung durch die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Die Linken haben dagegen gestimmt, die SPD hat sich ent- halten. Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9921 mit dem Titel „Kloster Mor Gabriel weiter schützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abge- lehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion und Bündnis 90/Die Grünen. Alle anderen waren dage- gen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rio 2012 - Nachhaltige Entwicklung jetzt um- setzen - Drucksache 17/9922 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, 1) Anlage 7 2) Anlage 8 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Eva Bulling-Schröter, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rio+20 - Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapitalismus - Drucksachen 17/9732, 17/9988 Berichterstattung: Abgeordnete Helmut Heiderich Dr. Bärbel Kofler Harald Leibrecht Ute Koczy Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Somit eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion. ({5})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin, Sie haben sich eben bei einem Kollegen bedankt, weil er seine Rede netterweise zu Protokoll gegeben hat. Ich will an dieser Stelle sagen, dass ich es für gerechtfertigt und angezeigt halte, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt nicht zu Protokoll zu geben und ihm einen Platz in diesem Plenum zu geben. Warum? In der nächsten Woche trifft sich die Staatengemeinschaft dieser Welt, um in Rio de Janeiro über Nachhaltigkeit zu diskutieren. 20 Jahre nach dem ersten Weltgipfel trifft sich die Staatengemeinschaft, um die großen Probleme dieser Zeit und die großen Probleme für zukünftige Generationen miteinander zu besprechen und zu diskutieren. Ich glaube, es ist ein bisschen symptomatisch, dass wir diesen Punkt heute erst zu so später Stunde diskutieren. Der Begriff der Nachhaltigkeit findet zwar in mehr oder weniger jeder Politikerrede seinen Platz. Aber Nachhaltigkeit ist inzwischen zu einem Begriff verkommen, der beliebig verwendet wird. ({0}) Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Parlament und dass die deutsche Bundesregierung diesen Begriff und diese Entwicklung, die 1992 in Rio de Janeiro begann, mit neuem Leben erfüllen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, 20 Jahre nach Rio blicken wir auf eine Bilanz, angesichts derer wir uns eingestehen müssen, dass wenig von dem erfüllt wurde, was man sich 1992 vorgenommen hat. Wir haben weiter exorbitant steigende CO2-Emissionen, noch nie lebten so viele unter der Armutsgrenze, und wir haben einen täglichen Verlust biologischer Vielfalt. All die Dinge, die wir brauchen, um auf diesem Planeten zu leben, reißen wir als lebende Generation tagtäglich nieder. Das darf so nicht weitergehen. Da müssen wir etwas verändern. ({1}) Es ist symptomatisch, dass die Bankenrettung, die Rettung des Finanzsystems ganz oben auf der Tagesordnung steht - möglicherweise zu Recht. ({2}) Ich sage Ihnen, Herr Kollege Brand: Ich bin fest davon überzeugt, dass wir miteinander ein Finanzsystem, ein Bankensystem retten können. Aber bei den Punkten, die ich eben aufgezählt habe - da geht es um Schöpfung, um Ressourcen -, haben wir ein Gegenüber, mit dem wir nicht verhandeln können. Das müssen wir Politiker, liebe Kolleginnen und Kollegen, endlich begreifen, wenn wir das Umsteuern ernst meinen. ({3}) Es kann nicht so sein, dass wir die Ressourcen, von denen wir heute wissen, dass sie endlich sind - beispielsweise das Öl; da ist der Zenit schon längst überschritten -, weiter verantwortungslos ausplündern, obwohl wir wissen, dass die Weltbevölkerung in den nächsten Jahren massiv zunehmen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer diesen Pfad nicht erkennt, der handelt verantwortungslos gegenüber allen Generationen, die nach uns kommen. ({4}) Es ist bedauerlich, dass die Kanzlerin zum G-20-Gipfel nach Mexiko reist, es aber nicht auf sich nimmt, im Anschluss ein paar Hundert Kilometer weiterzufliegen. ({5}) - Zumindest müsste sie nicht mehr über den großen Teich, Kollege Kauch; sie ist ja dann schon auf diesem Kontinent. - Die Kanzlerin bringt es nicht zustande, das zu machen, was Helmut Kohl 1992 beim ersten Weltgipfel gemacht hat, was Gerhard Schröder beim Weltgipfel in Johannesburg zehn Jahre später gemacht hat, nämlich dort im Sinne der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie für einen anderen Weg zu werben. ({6}) Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung, dass die Kanzlerin diese Kraft nicht aufbringt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Worum ginge es? Es ginge darum, Vertrauen herzustellen, Vertrauen bei den Staaten herzustellen, die augenblicklich noch festhalten am alten Denken, die festhalten am alten Energiesystem der fossilen Energieversorgung oder an einem Energiesystem, von dem gesagt wird, das sei die neue grüne Technologie, nämlich an der Atomkraft. Wir könnten in Rio aktiv und offensiv für den anderen Weg werben, den wir in diesem Haus inzwischen in großem Konsens vereinbart haben. Wir könnten für den Umstieg werben. Auf der internationalen Ebene hat das viel mit Symbolik zu tun. Wenn die Bundesrepublik Deutschland dort lediglich mit zwei Ministern vertreten ist - ich sage das nicht abwertend - und nicht mit der Staatschefin, dann zeigt das, wie ernst die Bundesregierung diese Entwicklung letztlich nimmt und wie ernst sie letztlich auch den Weg ins neue Zeitalter, ins nachhaltige Zeitalter, nimmt, liebe Kolleginnen und Kollegen - ein fatales Signal. ({7}) Ich meine, es geht darum, dass wir den Begriff der nachhaltigen Entwicklung mit dem versehen, was ihn ausmacht, nämlich mit Verbindlichkeit. Wir werden darum kämpfen müssen. Ich bin mir sicher, dass die Parlamentariergruppe und die beiden Bundesminister versuchen werden, dort in großer Einigkeit zumindest dafür zu werben. Wir werden versuchen, die Verbindlichkeit durch klare Zielsetzungen bei den unterschiedlichsten Themen - Armutsbekämpfung, Klimawandel, Erhalt der biologischen Vielfalt - zu normieren. Wir werden dafür kämpfen müssen, dass dort ein klares Zeitraster beschrieben wird, dass es möglicherweise auch länderspezifische Angebote gibt, die auf Stärken und Schwächen der jeweiligen Länder Rücksicht nehmen. Wir werden aber vor allen Dingen darum kämpfen müssen, einen institutionellen Rahmen zu schaffen. Das darf nicht darin münden, dass eine UN-Laberbude entsteht, in der man sich gegenseitig beteuert, wie wichtig Nachhaltigkeit ist, die aber kein Gremium mit Zähnen ist, das tatsächlich auch die nationale Politik beeinflussen kann. Um diese Fragen werden wir ringen. Wir wissen, dass die Rahmenbedingungen augenblicklich nicht günstig sind. Umso wichtiger wäre es, unsere Argumente dort mit großer Schlagkraft vorzubringen, und umso bedauerlicher ist die Nichtteilnahme der Bundeskanzlerin an dieser Konferenz. Von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD liegt heute ein Antrag vor, in dem wir sehr viele Punkte aufgeschrieben haben, aus denen sich deutlich ergibt, welche Handlungsfelder vor uns liegen. Diese Handlungsfelder betreffen die Existenz der Menschheit. Das muss uns klar sein. Ich wünsche mir, dass der Stellenwert der nachhaltigen Entwicklung in der UN, aber vor allen Dingen auch in diesem Haus mehr Beachtung erfährt. Ich glaube, wir sind aufgerufen, dort mit möglichst einer Stimme zu sprechen. Die Weltgemeinschaft braucht eine starke Stimme der Nachhaltigkeit. Ich verspreche mir von der Teilnahme der Parlamentarier, dass sich der Spirit, also der Geist, wie er auf der Rio-Konferenz im Jahre 1992 geherrscht hat, auf die Parlamente dieser Welt auswirkt. Es sollte nicht nur eine Regierungskonferenz sein. Es sollten nach dieser Konferenz Gesetze folgen, denen man entnehmen kann, dass Nachhaltigkeit auch im Gesetz ein Gesicht bekommt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Mir liegt sehr daran, deutlich zu machen, dass es nicht so ist, dass es mich gefreut hat, als Herr Rebmann seine Rede zu Protokoll gegeben hat. Ich hätte ihn sehr gerne gehört, und er hätte sehr gerne geredet. Für den Fortgang der Sitzung war es aber sehr wichtig, dass sich das Präsidium nicht auflöst. Insofern bitte ich, mich nicht falsch zu verstehen. Ich rufe jetzt den Kollegen Göppel für die CDU/CSUFraktion auf. ({0})

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich teile die Meinung des Kollegen Matthias Miersch, dass diese Konferenz auch von uns mehr Beachtung verdient. In einem allerdings, lieber Freund Matthias Miersch, bin ich beruhigter: Nachhaltigkeit kann man zwar zu einem beliebigen Wort machen. Als Förster sage ich aber: Die Gesetze der Natur kann der Mensch durch Nichtbeachtung nicht außer Kraft setzen. Die Natur wird sich wieder melden. Es ist nur die Frage, wie viel Leid bis dahin über Menschen in verschiedenen Erdteilen gebracht wird. Es liegt jetzt in unserer Verantwortung, zu handeln. Es macht sich allerorten Ernüchterung breit. Es wird viel über Klein-Klein geredet. Es wird gesagt, vor 20 Jahren gab es eine große Aufbruchstimmung. Das stimmt auch. Diejenigen unter uns, die dies damals in den Medien oder direkt vor Ort verfolgen konnten, wissen, dass nach der Überwindung der Ost-West-Konfrontation eine geradezu euphorische Stimmung herrschte. Aus diesem Geist heraus war bei der ersten Rio-Konferenz manches möglich. Ich erwähne die Agenda-21Gruppen, die bis in die letzte Gemeinde hinein gewirkt haben und zum Teil heute noch aktiv sind. Schaut man sich die vergangenen 20 Jahre an, so stellt man positive Entwicklungen fest: der rasante Aufwuchs der erneuerbaren Energien oder das Heranwachsen der Zivilgesellschaft zu einer mächtigen Bewegung, die über das Internet die Entwicklungen in dieser Welt beeinflussen kann. Diese Dinge können die Grundlage für eine neue Bewegung sein, die von dieser Konferenz ausgeht. Ich halte das Ziel der Rio-Konferenz, weltweit globale Nachhaltigkeitsziele festzulegen - eines von drei Zielen -, für richtig. Wenn es solche Ziele gibt, dann können Menschen in verschiedensten Ländern auch darauf Bezug nehmen und sie einfordern. Das ist so ähnlich wie bei der Agenda 21. Nehmen wir die Wissenschaft. Ich nenne hier den WBGU, den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“. Er spricht von der großen Transformation, die notwendig ist. Ins Deutsche übersetzt, heißt dies, dass wir unser Leben und Wirtschaften in Einklang mit der Natur bringen. Eine solche Entwicklung hat viele Facetten: eine Energieversorgung, die kleinteiliger ist, die auf erneuerbare Quellen baut und die auch von den Menschen in den Entwicklungsländern gehandhabt werden kann, oder auch eine Bewegung, die nicht auf das Besitzen von Dingen, sondern auf das Nutzen von Dingen abstellt. Dies bringt eine ganz andere Art des Wirtschaftens und der Nachhaltigkeit in Gang: Wenn etwa jemand Dinge vermietet, dann haben der Hersteller und der Vermieter ein Interesse daran, dass diese Sachen möglichst lange genutzt werden können. Deswegen sehe ich - ich sage es noch einmal - auch sehr positive Aspekte. Entscheidend ist aber immer, was wir in unserem eigenen Land machen. Hier steht die Energiefrage im Mittelpunkt. Es geht darum, die Energiewende entschlossen weiterzuführen, und zwar in der Weise, dass wir unsere Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen vorantreiben. Die japanische Regierung und das Parlament in Tokio haben übrigens erst jüngst das Motto ausgegeben, Japan solle die energieeffizienteste Volkswirtschaft der Welt werden. Dieses Motto will man dann auf die Märkte der Welt übertragen, das heißt Exportieren zum eigenen Nutzen. Minister Altmaier hat im Umweltausschuss betont, dass bereits im Vorfeld der Konferenz von Rio viele Anfragen an ihn gerichtet wurden, er möge doch über die deutsche Energiewende berichten. Dieses Experiment wird in der Welt aufmerksam beobachtet; viele Menschen knüpfen Hoffnungen daran. In der Tat gibt es kein anderes Land, das einen so entschlossenen Weg geht wie Deutschland. In Rio kursiert ein zweites Schlagwort: Green Economy. Manche sagen, Green Economy sei ein Wolf im Schafspelz. ({0}) Warum? Weil effizientere Autos bei zugleich immer schwereren Fahrzeugen oder immer intensiverer Nutzung letztlich doch ein Mehr an Umweltbelastungen mit sich bringen. Wir müssen sicherlich aufpassen, dass es wirklich zu Entlastungen und nicht zu neuen Belastungen kommt. Trotzdem halte ich den eingeschlagenen Weg für richtig. Die Richtung stimmt, wenn beispielsweise der Bundesverband der Deutschen Industrie gemeinsam mit dem Bundesumweltminister ein entsprechendes Memorandum unterschreibt. Ich darf noch einmal auf unsere Verantwortung zurückkommen. Wir haben den Weg der Energiewende beschritten. Diejenigen, die auf diesem Weg umkehren wollen, schaden letztlich unserem Land, weil die fossilen Energien keine dauerhafte Zukunftsperspektive für unseren Planeten bieten. ({1}) Deswegen ist die deutsche Energiewende richtig. Es liegt in unserer Verantwortung, diesen Weg erfolgreich zu gehen. Dann tun wir am meisten für den Gedanken der Nachhaltigkeit in der Welt. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Heike Hänsel hat das Wort für die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Göppel hat die Aufbruchsstimmung im Jahr 1992 angesprochen. Ich habe diese Zeit als Studentin miterlebt. Nach der Blockkonfrontation gab es in ganz Europa oder sogar weltweit die Hoffnung auf die sogenannte Friedensdividende. Man wollte die Einsparungen, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges durch die Senkung der Rüstungsausgaben ergeben hatten, für nachhaltige Entwicklung einsetzen. Damals gab es im Zuge dieser Aufbruchsstimmung die Idee der lokalen Agenden; das bedeutete, die konkrete Verantwortung in den Kommunen zu organisieren. Viele Hunderttausende Menschen und etliche Gruppen haben sich damals auf den Weg gemacht; auch ich habe mich engagiert. Heute gibt es diese Aufbruchsstimmung nicht mehr. Wenn wir nach nunmehr 20 Jahren Bilanz ziehen und prüfen, wo wir heute stehen, dann stellen wir fest, dass wir die höchsten Rüstungsausgaben zu verzeichnen haben, die weltweit jemals existierten, nämlich mehr als 1 Billion Dollar jährlich. Das ist das Zehnfache dessen, was für den Bereich der Entwicklung ausgegeben wird. Deshalb unterstützen wir zum Beispiel eine Initiative, die im Vorfeld des Rio-Gipfels von Friedensnobelpreisträgern ins Leben gerufen wurde. Sie heißt „Abrüsten für nachhaltige Entwicklung“. ({0}) Diese Initiative sieht vor, bei den Rüstungsausgaben mindestens 10 Prozent jährlich einzusparen und diese Ersparnisse in einem Fonds bei den Vereinten Nationen anzulegen, um dadurch Armut und Hunger zu bekämpfen. Das ist eine sehr gute Initiative. Sie steht natürlich im Gegensatz zu dem, was ansonsten auf dem Gipfel diskutiert wird. Es wurde schon erwähnt: Es geht nicht mehr um Nachhaltigkeit; das neue Schlagwort heißt Green Economy. Wenn wir uns das genau anschauen, erkennen wir darin eigentlich nichts anderes als grünen Kapitalismus: Weitere Bereiche des Lebens soll einer Profitlogik unterstellt werden. Mit nachhaltiger Entwicklung war etwas ganz anderes gemeint. Da ging es auch um die soziale Dimension der Entwicklung, nicht nur um eine ökologische Erweiterung und Erschließung neuer Märkte mit sogenannter grüner Technologie. Deswegen sagen wir: Wir wollen diese Form des grünen Kapitalismus nicht; wir wollen eine ernsthafte nachhaltige Entwicklung. ({1}) Das heißt eben auch, dass neue Technologien in solidarischer Zusammenarbeit zur Verfügung gestellt werden, dass sie nicht als Exportschlager genutzt werden, um neue Märkte zu erschließen, sondern dass sie weltweit allen Ländern zur Verfügung gestellt werden, damit sie sich nachhaltig entwickeln können. Das ist ein anderer Ansatz. Da geht es nicht um das Zu-Tode-Konkurrieren mit den neuesten Solarzellen, sondern darum, das Wissen untereinander zu teilen, um diesen Planeten zu retten. Da können wir viel von den Ländern des Südens lernen: In Lateinamerika wird eine solidarische Ökonomie, eine Wirtschaft des gegenseitigen Ergänzens erprobt. ({2}) Es geht um die Frage: Wo sind Stärken und Schwächen? In meinen Augen geht es hier um die zentralen Fragen des 21. Jahrhunderts. Wenn wir die ökologische Herausforderung ernsthaft annehmen wollen, dann können wir es nicht mit denselben Mitteln tun, mit denen wir überhaupt erst in die ökologische Krise geraten sind. Die große Frage wird eben sein: Wie organisieren wir den Zugang zu Ressourcen, zu Rohstoffen? Da sind wir der Meinung: Wir brauchen weltweit eine ganz neue Verteilung des Reichtums, von Nord nach Süd und innerhalb der Länder von oben nach unten. Wir müssen die Ressourcen teilen. Wir können nicht mehr so weitermachen. ({3}) Ganz konkret fordern wir deswegen auch einen Kompensationsfonds bei den Vereinten Nationen. Zum Beispiel könnte ein neuer Rat für nachhaltige Entwicklung, wie er von verschiedenen Beratern von Ban Ki-moon vorgeschlagen wird, solche neuen Instrumente entwickeln. Der Rat könnte sich mit den grundsätzlichen Fragen auseinandersetzen. Er könnte all die marktbasierten Instrumente, die wir bisher haben - Emissionshandel, REDD -, hinterfragen und überprüfen: Dienen sie wirklich einer nachhaltigen Entwicklung, oder dienen sie nur der Durchsetzung einer Profitlogik? Das sind für uns die Herausforderungen. Darüber wird in Rio vor allem auf einem Alternativgipfel diskutiert. Daran wollen wir uns beteiligen. Wir werden dort präsent sein, natürlich auch auf dem offiziellen Gipfel, und hoffen, dass wir mit neuen Antworten zurückkommen, die über die jetzigen hinausgehen. Danke. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen bei der Nachhaltigkeitspolitik nicht am Anfang; wir sind nicht in einer Situation von 1992. Deshalb ist die Situation auch nicht mit der von Helmut Kohl im Jahr 1992 vergleichbar. ({0}) Die Konferenz von Rio hat einen Geist geschaffen, der viele Prozesse hervorgebracht hat, die heute fortwirken: die lokalen Agendaprozesse in den Kommunen, der UN-Klimaprozess, die UN-Konferenz über biologische Vielfalt und die Konferenz über nachhaltige Entwicklung. Das sind die Prozesse, in denen sich unabhängig von den großen Gipfeln die eigentliche Arbeit in der Nachhaltigkeitspolitik vollzieht. Denn machen wir uns doch nichts vor: Eine Konferenz allein wird die Welt nicht retten. Es geht darum: Was passiert im Alltag des politischen Geschäfts? ({1}) Deshalb ist der Gipfel in Rio wichtig, aber er ist nicht das Einzige, was wir in der Nachhaltigkeitspolitik haben. ({2}) Meine Damen und Herren, einer der wesentlichen Punkte in Rio wird die Organisationsreform der Vereinten Nationen sein. Es geht darum, eine UN-Umweltorganisation zu schaffen, die auf Augenhöhe beispielsweise mit der Welthandelsorganisation bestehen kann. Es geht auch darum - das sage ich ein wenig ungeschützt -, die schrecklichste „Laberbude“ der Vereinten Nationen namens Konferenz für nachhaltige Entwicklung in New York durch ein sinnvolles Gremium zu ersetzen, in dem nicht nur jedes Jahr für viel Geld gesprochen wird, sondern das dafür sorgt, dass dabei am Ende etwas für die Bereiche Umwelt und nachhaltige Entwicklung herauskommt. ({3}) Das zweite große Thema ist die Green Economy. Wir haben - das macht die Diskussion auf der Konferenz schwierig - ein unterschiedliches Verständnis davon, was Green Economy ist. Mit unserem Hintergrund - führende deutsche Unternehmen in der Umwelttechnik, eine Energiewende, die Deutschland an die Spitze der Industrieländer, was die Umwelttechnologie angeht, bringt - denken wir beim Begriff Green Economy zu oft nur daran, dass wir den Ressourcenverbrauch mindern, Umwelttechnologien voranbringen und sie vielleicht auch exportieren wollen. Mit einem solchen Verständnis alleine werden wir in Rio nicht erfolgreich sein. Vielmehr geht es darum, der sozialen und der wirtschaftlichen Dimension von Entwicklung genauso ein Gewicht zu geben wie der Frage der Ressourceneffizienz von Umwelttechnologien; denn es sind die Entwicklungsländer, die am Schluss überzeugt werden müssen, dass das, was wir an neuen Technologien vorschlagen, gut für ihren Entwicklungsprozess ist. Wir müssen deutlich machen, dass Armutsbekämpfung und Befriedigung von Grundbedürfnissen in den Entwicklungsländern Teil einer Strategie für nachhaltige Entwicklung ist. ({4}) In diesem Sinne ist das, was im internationalen Kontext gerade in den Entwicklungsländern unter Green Economy verstanden wird, ganz nah an dem, was in dem Bericht „The Blue Economy“ an den Club of Rome vorgeschlagen wurde. Wir von der FDP haben das auf unserem Parteitag „blaues Wachstum“ genannt. Ob das Wachstum nun blau oder grün ist, das ist nicht entscheidend. ({5}) Das Entscheidende ist, dass es um Wachstum und nicht um Verzicht geht, dass es um Marktwirtschaft und nicht um Sozialismus geht. ({6}) Deshalb sagen wir Ihnen ganz klar: Natürlich geht es um einen grünen Kapitalismus; denn die marktwirtschaftliche Ordnung - das hat die Geschichte gezeigt - geht am effizientesten und am verantwortungsvollsten mit Ressourcen um, jedenfalls im Vergleich zu allen sozialistischen Experimenten der Vergangenheit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken. ({7}) Bei der Green Economy geht es nicht nur um Verzicht und nicht nur um Teilen, sondern es geht auch darum, Neues zu erschaffen, nämlich neues Wissen für bessere Produkte, die weniger Ressourcen verbrauchen. Das ist das Wachstum von morgen und in Wahrheit das Wachstum, das wir schon heute in großen Teilen haben. Wer sich als Vertreter der Industrieländer hinstellt und den Menschen in den Entwicklungsländern sagt, dass Wachstum schlecht ist, weil dadurch die Grenzen unseres Planeten überstrapaziert werden, der muss sich fragen lassen: Mit welcher Legitimation halten wir an unserem Wohlstand fest und wollen ihn anderen verweigern? ({8}) Es geht nicht um Verzicht und um Teilen, sondern es geht darum, mit neuen Ideen durch weniger Ressourceneinsatz mehr Bedürfnisbefriedigung zu erreichen. Das ist im Sinne von nachhaltigem Wachstum. Nur dann werden wir die Entwicklungsländer auf unseren Pfad bringen, indem sie das Zeitalter der fossilen und nuklearen Entwicklung überspringen und direkt in das Zeitalter beispielsweise der erneuerbaren Energien und der Ressourceneffizienz eintreten. ({9}) Angesichts der Aufgeregtheit der Linken bei dieser Diskussion vergisst man, dass in diesem Parlament über die genannten Fragen große Einigkeit herrscht. Vier Fraktionen - mit Ausnahme der Linken - haben im Deutschen Bundestag im Herbst letzten Jahres einen Antrag verabschiedet, der die Grundlage für die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung bildet. Ich danke insbesondere dem Bundesumweltminister - ich sage ausdrücklich: dem alten Bundesumweltminister und dem neuen Bundesumweltminister - und dem Bundesentwicklungsminister dafür, dass sie die Positionen des Parlaments sehr aktiv eingebracht haben und die Delegation des Deutschen Bundestages auf der Konferenz sehr nachdrücklich unterstützen werden; denn es ist von zentraler Bedeutung, dass die Rolle der Parlamente im internationalen Prozess beim Thema Nachhaltigkeit gestärkt wird.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende. - Gerade die Parlamente in den Schwellenländern bringen oft Innovationen ein, wenn es um die Position ihrer Länder geht. Deshalb ist es wichtig, dass wir mit unserer Parlamentarierdelegation nach Rio fahren, dort mit anderen Parlamentariern sprechen und gemeinsam neue Ideen entwickeln. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Valerie Wilms das Wort.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Rio wird 20. 20 Jahre nach dem Erdgipfel für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro lädt Brasilien erneut zum Gipfel, zur UNKonferenz für nachhaltige Entwicklung. Jubiläen werden in der Regel gefeiert. Zum Feiern bietet der Gipfel aber keinerlei Anlass. Die Agenda 21 ist vielen Menschen kaum noch ein Begriff. Die internationalen Verhandlungen zum Klimaschutz und zur Biodiversität stagnieren seit langem. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind aber größer geworden: Auf der Erde wird es deutlich enger, die Bevölkerung nimmt weiter zu, und die Erderwärmung wird uns wertvolles Land kosten. Besonders dramatisch ist, dass gerade die ärmsten Länder am meisten darunter leiden müssen, während die hochentwickelten Staaten die Probleme verursachen; denn wir haben diese Erde innerhalb kürzester Zeit an ihre Grenzen gebracht. ({0}) Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, dem ich angehöre, sind wir uns über alle Fraktions22000 grenzen hinweg einig, dass wir umdenken und vor allen Dingen umlenken müssen. Auch die besondere Verantwortung der Industrieländer erkennen wir alle. Wir Grüne sind aber der Überzeugung, dass weit mehr möglich wäre als das, was bisher gemacht wurde. Unter Green Economy als einem nachhaltigen Wirtschaften verstehe ich, dass wir unsere Umwelt nicht weiter zerstören dürfen, die Erde nicht bis an ihre Grenzen ausbeuten dürfen sowie überall auf dieser Welt humane Arbeits- und Lebensbedingungen schaffen müssen. Wer sonst als wir in der Politik ist in der Lage, einen verbindlichen Rahmen für ein nachhaltiges Wirtschaften festzulegen? Würden uns freiwillige Verpflichtungen helfen, die die Kanzlerin ständig verteidigt, wären wir schon längst weiter. Aber das funktioniert nicht, sondern dient vor allem der Blockade von Entwicklungen. Die unsägliche Verpflichtung der Autoindustrie zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes hat uns das allzu deutlich gezeigt. Die Kanzlerin fährt, anders als ihre beiden Vorgänger, nicht einmal selbst nach Rio. Hat sie der Welt nichts zu bieten? ({1}) So ist es anscheinend. 1992 hatte Helmut Kohl eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent im Gepäck. Er hatte also etwas anzubieten. 2002, in Johannesburg, versprach Gerhard Schröder den Ausbau des Bereichs der erneuerbaren Energien. Von einer deutschen Selbstverpflichtung, die das schlingernde Schiff Nachhaltigkeit voranbringt, ist mir dieses Mal nichts bekannt. Aber Überraschungen gibt es ja immer wieder. Mit dem Weg zum G-20-Gipfel nach Mexiko in der nächsten Woche legt die Kanzlerin räumlich schon die halbe Strecke nach Rio zurück. Vielleicht gibt es da ja noch Überraschungen. ({2}) Wir brauchen kommende Woche in Rio einen konkreten Auftrag, dass weltweit verbindliche Nachhaltigkeitsziele festgelegt werden. Wir müssen endlich verbindliche Ziele für ein umwelt- und sozialverträgliches Wirtschaften im Jahr 2050 festlegen, und zwar mit Zwischenzielen für die Jahrzehnte davor, also für 2030, 2040 und am besten auch für 2020. Diese Ziele müssen länderspezifisch gelten; denn viele Staaten müssen erst einmal aus ihrer Armutsfalle herauskommen und eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aufbauen. Als rohstoffarmes Land müssen wir in Deutschland mit ehrgeizigeren Zielen Vorreiter sein. Dabei müssen wir uns die gesamte Lieferkette vom Abbau der Rohstoffe in den Entwicklungs- und Schwellenländern über den Transport bis hin zur Produktion und zum Vertrieb vor Ort anschauen. Dann werden wir deutlich erkennen, wie wirksam eine weitestgehende Wiederverwertung sowie eine Verlängerung des Lebenszyklus von Produkten sind. Noch immer wird Elektronikschrott nur zu rund einem Drittel recycelt. Wir in Deutschland verfügen aber über ein großes Know-how beim Recycling. Dieses sollten wir endlich nutzen. ({3}) Vor allen Dingen sollten wir die derzeit angewandten trickreichen Umgehungsmöglichkeiten unterbinden. Ich möchte nicht mehr alte Computer auf Müllkippen in Ghana sehen. Wenn wir unseren Unternehmen einen vernünftigen Übergangszeitraum gewähren, um ihre Strategie anzupassen, wird sich das sogar als Wettbewerbsvorteil herauskristallisieren. In Rio unterstützen wir Grüne die Aufwertung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen zur UNEO, zur Umweltorganisation, und die Einrichtung eines Rats für nachhaltige Entwicklung. ({4}) Dieser könnte anstelle der UN-Laberbude - so haben es schon zwei Vorredner ausgedrückt - die Konkretisierung der weltweiten Nachhaltigkeitsziele voranbringen und vor allen Dingen ein wirksames Monitoringsystem erarbeiten. In zehn Jahren möchte ich mich nicht mehr nur über Ziele unterhalten müssen, sondern stolz auf das Erreichte blicken können. ({5}) Lassen Sie uns, Parlamentarier und Regierung, dafür in Rio arbeiten. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Helmut Heiderich hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Konferenz Rio+20 ist ganz eindeutig ein internationales Top Event. Je näher dieses rückt, umso mehr und umso häufiger bekommen wir Positionspapiere, Stellungnahmen, Forderungskataloge usw. auf den Tisch. Ich denke, das ist kein Wunder; denn von den angekündigten 50 000 Teilnehmern will jeder seine Position darstellen und seine Argumente vortragen. Das, was vonseiten der Linken jetzt kurz vor Toresschluss vorgelegt worden ist - ich beginne mit diesem Antrag -, ist aus meiner Sicht weder zutreffend noch hilfreich. Dort ist eher eine Reihe von Aussagen nach dem Motto „Wir fallen wieder einmal in die alte Klassenkampfrhetorik zurück“ zusammengeschrieben worden. Ich will ein paar Punkte herausgreifen. Dort steht zum Beispiel, eine Folge von Rio sei „die tiefste Krise des Kapitalismus“, die Vermögenden hätten ihren Reichtum in der Krise abgesichert usw. ({0}) Das ist ein Rückfall in die linke Kampfrhetorik. Bei Ihnen scheint das Motto zu gelten: Nur der sozialistische Mensch ist ein guter Mensch. Wenn Sie uns hier wirklich Hugo Chávez als Vorbild für die Zukunftspolitik nach Rio präsentieren wollen, sind Sie, glaube ich, auf dem Holzweg. ({1}) Wir haben eben gehört, dass sich der Deutsche Bundestag bereits im November vergangenen Jahres in einem fraktionsübergreifenden Antrag mit dieser Thematik beschäftigt hat. Deswegen bin ich etwas verwundert, dass die Sozialdemokraten und die Grünen jetzt noch einen Antrag nachgeschoben haben, in dem sie alles untergebracht haben, was man sich zu diesem Thema vorstellen kann. ({2}) Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal an der Vorbereitung einer solchen Konferenz beteiligt waren. Ihr Katalog enthält sozusagen eine Planung der Regierungspolitik in Deutschland für die nächsten 20 Jahre, ({3}) aber nicht das, was man zur Vorbereitung für Rio braucht. Nichtsdestotrotz haben Sie sehr umfangreich in dieses Thema eingeführt. Rio ist nicht nur ein Event, Rio ist ein Prozess. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages schon im November vergangenen Jahres mit dieser Thematik beschäftigt haben. Es geht in diesem Antrag im Wesentlichen um drei Forderungen: Erstens - das ist eben schon angesprochen worden geht es um das neue Schlagwort der Green Economy; ich werde gleich noch etwas dazu sagen. Zweitens geht es um die Verbesserung der Effizienz bei internationalen Organisationen; auch das ist, glaube ich, ein wesentliches Thema. Drittens - das ist etwas Neues - geht es um eine Initiative zur Armutsbekämpfung und zur Ernährungssicherung. Ich glaube, mit diesem neuen Thema auf der Tagesordnung von Rio haben wir einen entscheidenden Schritt nach vorne gemacht. Das sollten wir nicht zu gering schätzen. Sie haben heute Morgen die Bundeskanzlerin gehört. Sie hat zur Vorbereitung des G-20-Gipfels erklärt, dass die globale Gerechtigkeit, die Bekämpfung von Armut und Hunger und die Verbesserung der Ernährungssituation und der ländlichen Entwicklung Topthemen sind, nicht nur für die G 20, sondern auch für Rio+20. ({4}) Somit haben wir einen großen Erfolg erzielt. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koalition, aber auch die Bundesregierung hat seit Monaten daran gearbeitet, dieses Thema nach vorne zu bringen. Ich will nur daran erinnern, dass wir dazu im Laufe des letzten Jahres vier umfangreiche Anträge eingebracht haben, die von Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ausnahmslos abgelehnt worden sind. Insofern sind Ihre heutigen Einlassungen nicht gerade gut begründet. ({6}) Auch der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat vor wenigen Tagen bestätigt, dass das eben von mir erwähnte Ziel, den Ärmsten, den Unterentwickelten und den Hungernden, wie er es formuliert hat, echte Verbesserungen im täglichen Leben zu ermöglichen, eines der Hauptziele auf der Agenda von Rio+20 ist. Ich glaube, das ist in diesem Zusammenhang ein entscheidender Fortschritt. Die zweite große Aufgabe, vor der wir stehen - ich will sie ganz kurz anreißen -, ist die Frage der Green Economy. Davon ist im Moment von allen Seiten wie von einer Art Zauberformel die Rede. Wichtig wird sein - das wird in den Verhandlungen ein entscheidender Punkt sein -, dass klar und eindeutig definiert wird, was unter Green Economy zu verstehen ist. Im Moment hat man nämlich den Eindruck, dass jeder etwas anderes darunter versteht, was dazu führt, dass wir am Schluss nicht zu konkreten Ergebnissen kommen. Die Bundeskanzlerin hat heute Morgen erklärt, dass man, wenn man den Klimawandel bewältigen, gleichzeitig die Forderung nach nachhaltigem Wachstum erfüllen und die Aufgabe, 1 Milliarde Menschen vom Hunger zu befreien, erfüllen will, eine konkrete gegenseitige Abstimmung braucht und dass wir auch die Mithilfe der Privatwirtschaft benötigen, um das notwendige nachhaltige Wachstum zu erzielen. Nur mit staatlichen Vorgaben werden wir das nämlich nicht schaffen. Deswegen ist der Ansatz, die Privatwirtschaft zu bekämpfen, falsch. Wir brauchen beides: das privatwirtschaftliche Engagement - woher sollen Innovationen sonst kommen? - und die staatliche Unterstützung, Definition und Begleitung. Dann kann aus Rio+20 ein Erfolg werden. Daran arbeiten wir gemeinsam mit der Bundeskanzlerin. Dieses Bemühen sollten Sie anerkennen und unterstützen. Herzlichen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9922 mit dem Titel „Rio 2012 - Nachhaltige Entwicklung jetzt umsetzen“. Wer stimmt für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringenden Fraktionen. Die Koalitionsfraktionen waren dagegen. Die Linke hat sich enthalten. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Rio+20 - Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapi- talismus“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 17/9988, den Antrag auf Drucksache 17/9732 abzulehnen. Wer stimmt für die Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dage- gen waren Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die SPD hat sich enthalten. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Michael Grosse- Brömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub, Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tokio-Konferenz zu einem entwicklungspoliti- schen Erfolg führen - Drucksache 17/9923 - Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9923. Wer stimmt für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Linke war dagegen. Bündnis 90/Die Grünen und SPD haben sich enthalten. Tagesordnungspunkt 16: Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unseriöses Inkasso zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher stoppen - Drucksache 17/9746 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologie Auch diese Reden wurden mit Ihrem Einverständnis zu Protokoll gegeben.2) Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({1}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({2}) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 2004 ({3}) vom 30. August 2011 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksache 17/9873 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister Dr. Thomas de Maizière. ({5})

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Uns alle treibt die Sorge über die Entwicklung in Syrien und darüber hinaus im ganzen Nahen Osten um. Wir ha- ben heute gehört, dass die Wahlen in Ägypten annulliert worden sind. Wir werden sehen, was sich daraus entwi- ckelt. Unsere Gedanken gelten in besonderem Maße den unschuldigen Menschen in Syrien. Ihr Leiden hat ein schreckliches Ausmaß angenommen. Unsere Aufmerk- samkeit gilt dieser Region. Längst ist aus dem Konflikt innerhalb Syriens eine Gefahr für die Sicherheitslage auch in angrenzenden Staaten geworden. Der Nahe Osten wurde und wird oft - sicher etwas vereinfacht - als Pulverfass bezeichnet. Wenn der Nahe Osten ein Pulverfass ist, dann ist eine Lunte für dieses Pulverfass auf jeden Fall im Libanon zu suchen. Hier kommen unterschiedlichste Interessen zusammen. Hier sind Interessenkonflikte seit Jahrzehnten an der Tages- ordnung. 1) Anlage 9 2) Anlage 10 Eine militärische Eskalation zu verhindern und das angespannte Verhältnis zwischen dem Libanon und Israel zu entschärfen, ist der Auftrag der seit 2006 mit einem robusten Mandat ausgestatteten UNIFIL-Mission. Den im Rahmen von UNIFIL eingesetzten Streitkräften fällt dabei nach wie vor die wichtige Funktion zu, ausgleichendes Element zu sein und Verständigung zu ermöglichen. UNIFIL erfüllt diese Funktion. Der UNIFILFlottenverband, an dem die deutsche Marine beteiligt ist, trägt wesentlich dazu bei. Die Unterstützung der Bundesregierung für UNIFIL folgt dabei dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Damit die libanesische Regierung allmählich selbst für Sicherheit auch zur See sorgen kann, muss sie über leistungsfähige Strukturen und Sicherheitskräfte verfügen. Der vorliegende Antrag der Bundesregierung zeigt auf, wie vielseitig und umfangreich Deutschland sich am Aufbau dieser Strukturen und Kräfte beteiligt. Gemeinsam mit anderen Streitkräften sichern und kontrollieren Einheiten der deutschen Marine den Seeverkehr vor der libanesischen Küste. Gleichzeitig wird mit unserer finanziellen und organisatorischen Hilfe der Aufbau einer leistungsfähigen Küstenradarorganisation vorangetrieben, damit die libanesische Marine diese Aufgabe künftig selbst wahrnehmen kann. Noch in diesem Jahr wird die achte von insgesamt neun Stationen der landesweiten Küstenradarorganisation in Betrieb gehen, und zwar in Tripoli. Die Aktivierung der letzten Station im Süden des Libanon wird 2013 folgen. Dank der Unterstützung durch die deutsche Marine wird bis dahin auch das für den Betrieb der Station benötigte Personal ausgebildet sein. Damit verfügt die libanesische Marine ab dem kommenden Jahr über ein vollständig ausgebautes und funktionsfähiges System für die Erfassung des Schiffsverkehrs. Mit der neuen Küstenradarorganisation verfügt der Libanon gewissermaßen über Ohren und Augen, um Gefahren frühzeitig zu erkennen. Noch fehlen die Hände, um diese Gefahren auch frühzeitig abwehren zu können. Noch stellen die Einheiten von UNIFIL Schiffe mit Soldaten zur Verfügung, die Waffenlieferungen unterbinden und den Seeverkehr ordnen. Unser Ziel ist es, den Libanon so schnell und umfassend wie möglich in die Lage zu versetzen, in Zukunft auch selbst durchgreifen zu können. Zur Erfüllung ihres anspruchsvollen Auftrages werden die an UNIFIL beteiligten Kräfte der Bundeswehr auch künftig bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten benötigen. Es bleibt bei dieser Mandatsobergrenze. Die libanesische Marine muss allmählich den Schutz der seeseitigen Grenzen eigenverantwortlich übernehmen können. Die dafür notwendige personelle und materielle Ausstattung und die dazu erforderliche Ausbildung sind noch nicht vorhanden. Hier bedarf es der weiter gehenden Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft. Die Fortsetzung von UNIFIL wird nicht nur von den Vereinten Nationen begrüßt, sondern auch von libanesischer und insbesondere von israelischer Seite. Mehr noch: Sie ist erwünscht. Dies gilt in besonderem Maße für den deutschen Beitrag zu UNIFIL. Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für den Antrag der Bundesregierung, die deutsche Beteiligung bei UNIFIL für ein weiteres Jahr fortzusetzen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein Wort zu der ungewöhnlichen Uhrzeit. Ich glaube, das ist der späteste Beginn einer Mandatsdebatte im Bundestag, den wir jemals hatten. Ich hoffe, das wird ein Ausnahmefall bleiben. Diese Debatte gehört in das Zentrum des Parlaments. ({0}) Was wir heute hier praktizieren, ist die klassische Parlamentsbeteiligung, die uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat und die wir mit einem Gesetz geregelt haben, an dem wir festhalten wollen. Es gibt Diskussionen darüber, was das für die weitere europäische Vertiefung zu bedeuten hat. Ich glaube, man darf nicht am Parlamentsvorbehalt rühren, vielleicht aber an der Frage, wann sich das Parlament mit europäischen oder NATO-Fragen befassen sollte. Denn immer dann, wenn Deutschland einer Mission zustimmt - sei es eine EU-Mission oder eine NATO-Mission; es ist egal, ob wir uns daran substanziell beteiligen oder nicht -, findet mit deutscher Legitimation ein internationaler Militäreinsatz statt. Dann ist es immer ein Fall für das Parlament. Da brauchen wir keine Angst zu haben, dass dann vielleicht auch über den Einsatz von Soldaten gesprochen werden könnte, die von uns aus nötig sind, damit dieses Mandat überhaupt erfolgreich sein kann. Wer diese Diskussion im Grundsatz führen will, führt eine Scheindebatte. Wir interessieren uns für alles, was die EU und was die NATO in militärpolitischer Hinsicht international unternimmt. Auch wir wollen im Regelfall dabei sein - und nicht nur die Bundesregierung, wenn sie einer Mission zustimmt. Hier reden wir über eine UNO-Mission, und zwar über eine ganz besondere. Dass im Libanon schon über Jahrzehnte eine UN-Mission an Land existiert, hat die deutsche Öffentlichkeit erst zur Kenntnis genommen, als sich die Frage stellte, ob auch wir uns an der seeseitigen Mission beteiligen wollen. Bis dahin war das nicht auf dem Radarschirm unserer Öffentlichkeit. Dabei war das keine einfache Mission. Es hat Tote unter unseren Verbündeten gegeben, die unter dem Dach der UN den Frie22004 den im Libanon und den Frieden zwischen Libanon und Israel sichern helfen wollten. Wir interessieren uns dann, wenn es Deutsche betrifft. Hier war nun die erste UN-Mission zur See auf den Weg zu bringen. Wir können stolz darauf sein, dass dies mit substanzieller deutscher Unterstützung gelang. Der erste Offizier, der diesen UN-Verband zur See, die erste maritime UN-Mission, führte, war ein Deutscher. Wir haben operative Grundlagen mitgeprägt für das, was die UN selbst künftig vielleicht auch an anderer Stelle auf See leisten kann, ohne Rückgriff auf andere Bündnisse zu nehmen. Dies ist ein UN-geführter und nicht nur ein UN-mandatierter Einsatz. Ich bin froh, dass Deutschland dabei eine führende Rolle eingenommen hat. Der Minister hat es angesprochen: Wir tun das nicht, weil wir uns vordrängen, sondern weil Libanesen und Israelis übereinstimmend der Meinung waren, dass Deutschland dabei sein sollte. Das ist ein Zeichen des großen Vertrauens, das unser Land sowohl in dieser Region als auch anderswo genießt. Diesen Wünschen sollte man dann auch nachkommen. Wir können manches tun, was andere nicht tun, weil uns heute eine gute Rolle zugetraut wird, auch in diesem Konflikt. Es wird gelegentlich die Frage gestellt: Was hat das denn gebracht? Wie viele Waffenschmuggler sind denn gefasst worden? Wie viele Waffen sind eingesammelt worden? Kann man das wirklich genau überprüfen? Die FDP hat sich, als dieses Mandat das erste Mal beschlossen wurde, ganz anders ausgelassen - das will ich jetzt gar nicht zitieren - als heute in der Regierungsverantwortung. Damals war sie dagegen, weil sie skeptisch war, ob man diese Überprüfung tatsächlich erfolgreich vollziehen kann. Der Auftrag der UNIFIL-Mission war ein ganz anderer: Nicht das Einsammeln von Waffen war das Ziel, sondern das Bilden von Vertrauen, das Herstellen einer Situation, in der nicht mehr die israelische Marine den Libanon von der See her blockiert, sondern in der diese Blockade aufgehoben werden konnte und durch eine internationale Mission abgelöst wurde. Das war Vertrauensbildung in beide Richtungen. Das hat funktioniert. In dieser Weise ist der militärische Beitrag erfolgreich gewesen. Ich möchte sagen: Dieser Antrag ist gut formuliert. Dieser Antrag enthält mehr als nur die Frage: Mit welchen militärischen Beiträgen und mit welchem Finanzaufwand beteiligen wir uns? Vielmehr ist die Frage: Was tun wir sonst noch in dieser Region? Einige Dinge sind noch nicht erledigt. Sie werden noch länger dauern müssen als der UNIFIL-Einsatz, der vielleicht in absehbarer Zeit enden kann. Was nicht enden kann, ist unser Engagement - das kann auch ruhig bilateral sein -, ein deutsches Engagement zum Aufbau der sehr kleinen libanesischen Marine. Wer einmal dort war, wird wissen, dass sie eigentlich nicht als Marine gestartet ist, sondern als Schlauchbootabteilung des libanesischen Heeres. Das wird jetzt mit unserer Unterstützung eine Marine. Wir sollten sie so lange unterstützen, bis sie sich selbst trägt. Das kann noch eine ganze Weile dauern, aber es ist kein großer Aufwand. Für uns als großes Land ist es kein großer Aufwand, mit Material und den Ausbildungseinrichtungen, die Deutschland zur Verfügung stellt, Unterstützung zu leisten. Gestatten Sie mir eine kurze Bemerkung zu der Diskussion, die wir vorhin geführt haben: Das ist in der Bundeswehrreform übrigens auch dienstpostenrelevant. Ich finde, dass das, was die Bundeswehr hervorragend macht - nicht nur im Libanon, sondern auch an anderer Stelle -, nämlich Nationen durch Ausbildungsunterstützung in die Lage zu versetzen, für ihre eigene Verteidigung zu sorgen, ein Beitrag von uns zur Sicherheit in der Welt ist. Dies sollte sich auch hinsichtlich der Dienstposten in den Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr niederschlagen und nicht immer nur zusätzlich sein. Es geht dabei nicht um große Summen. Wir sehen, dass es hier und da Probleme gibt. Deshalb muss man ein bisschen nachsteuern und sagen: Das gehört zu der Sicherheitspolitik, die wir wollen und die wir uns in der Welt, in der wir eine positive Rolle spielen wollen, wünschen. Das Mandat bleibt richtig. Es ist vernünftig formuliert, und es ist gut, dass es uns jetzt zur Abstimmung vorgelegt wird. Es bleibt so lange notwendig, bis die Bedingungen, die das Mandat formuliert, eingetreten sind, nämlich dass der Libanon selbsttragend für die Sicherheit seiner Seegrenzen sorgen kann. Ich glaube nicht, dass wir uns mit dem Druck auf die UN, frühzeitig abzuziehen, beeilen müssen. Denn gerade in der unsicheren Situation im Nahen Osten wird vielleicht ein Stabilitätsanker gebraucht. Ein kleiner Teil des Stabilitätsankers im Nahen Osten kann die UNIFIL-Mission zur See sein, an der wir uns beteiligen wollen. Wir werden zustimmen. Schönen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Bundesregierung ergreift der Staatsminister Michael Link das Wort. ({0})

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung begründet diesen Antrag natürlich dann, wenn der Bundestag ihn auf die Tagesordnung setzt, auch zu später Stunde - und dies aus Überzeugung. Aber einen Wunsch an den Bundestag darf sie schon äußern - darin schließe ich mich dem Kollegen Bartels ausdrücklich an -, nämlich dass wir das zu einer früheren Tageszeit machen könnten. Wir denken, dass dieses Thema dort eher hingehören würde. ({0}) Keine Krise beschäftigt uns derzeit mehr als die in Syrien. Das Leid der Menschen in diesem immer blutigeren Bürgerkrieg und die unerträglichen Grausamkeiten, die das Regime von Präsident Assad Tag für Tag begeht, stellen die internationale Gemeinschaft derzeit vor extreme Herausforderungen. Doch als wäre diese Krise für sich genommen noch nicht furchtbar genug, birgt sie zusätzlich die Gefahr, sich zu einem regionalen Flächenbrand auszuweiten. Das Land, das hiervon vermutlich als Erstes betroffen wäre, ist der Libanon. Seit einigen Wochen bereits beobachten wir die Lage dort mit wachsender Sorge. Die jüngsten tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Alawiten in Tripoli und zwischen sunnitischen Gruppen in Beirut haben gezeigt, wie real die Gefahr eines Übergreifens des Konflikts in Syrien auf den Libanon ist, auch wenn die libanesische Armee die Situation wieder beruhigen konnte. Außenminister Westerwelle, der letzte Woche in Beirut mit der libanesischen Führung zusammengetroffen ist, hat dort für eine Politik des inneren Ausgleichs geworben und Deutschlands Interesse an einem stabilen Libanon bekräftigt. Dieses Ziel verfolgt die Bundesregierung auf vielfältige Weise. Eine sehr wichtige Rolle kommt dabei auch der deutschen Beteiligung an der maritimen Komponente der VN-geführten Mission UNIFIL zu. Die maritime Komponente von UNIFIL hat in den letzten Jahren einiges erreicht: Die Sicherung der libanesischen Seegrenzen verläuft effizient und zuverlässig. Die Präsenz der UNIFIL-Schiffe hat erheblich zur Stabilisierung der seeseitigen Grenzen des Libanon beigetragen. Zugleich ist der Ausbildungsstand der libanesischen Marine deutlich verbessert. Diese ist nun in der Lage, die Seegrenzen mit neuer Radartechnik zu überwachen, und hat neue Fähigkeiten auf dem Meer erworben. Dazu haben wir nicht nur entscheidende Ausbildungshilfe geleistet, sondern auch die entsprechende Ausstattungshilfe. Hier bleibt noch vieles zu tun; das ist unbestritten. Aber wir haben erhebliche Verbesserungen erzielt. Das ist besonders das Verdienst der Soldatinnen und Soldaten der deutschen Marine. Hierfür gilt ihnen Dank, Respekt und Anerkennung. ({1}) Deshalb beantragt die Bundesregierung die Verlängerung des UNIFIL-Mandats um ein weiteres Jahr. Personalobergrenze, Einsatzgebiet und Aufgabenbeschreibung bleiben unverändert. Es gilt, das bislang Erreichte zu sichern und darauf aufzubauen. Der bisherige Ansatz für die maritime Komponente ist weiterhin richtig. Die deutsche Beteiligung an UNIFIL bleibt eingebettet in das politische, wirtschaftliche und sozial-ökonomische Maßnahmen umfassende Engagement der Bundesregierung für den Libanon und die Gesamtregion. UNIFIL ist mit seiner Landkomponente und auch mit der maritimen Komponente mehr denn je ein stabilisierendes Element in einer Region, die immer mehr von Instabilität gefährdet wird. Dem Libanon, der in den 80erJahren zum traurigen Inbegriff eines von ethnisch-religiösen Konflikten zerrissenen Landes wurde, droht nun ein erschreckendes Szenario: Genau diese Art von Konflikten könnte aus dem Nachbarland Syrien wieder über den Libanon hereinbrechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verurteilen in aller Schärfe die Verbrechen, die das syrische Regime an seiner eigenen Bevölkerung begeht und geschehen lässt. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle auf die aktuellen Tickermeldungen verweisen, die uns ganz besonders beunruhigen. Darin ist davon die Rede - bei aller Vorsicht, die bei Tickermeldungen geboten ist, muss man doch zumindest die entsprechende Sorge haben -, dass die syrische Armee aktuell widerstandsfreie Gebiete in größerem Maßstab schaffen will. Das lässt Schlimmstes befürchten. Auch hier müssen wir klar und deutlich auf die Gefahren hinweisen und das Regime von Assad zum Stoppen bewegen. ({3}) Darüber hinaus dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass Syrien noch mehr droht - nämlich in einen Teufelskreis ethnisch und religiös geprägter Gewalt zu geraten. ({4}) Die Massaker in syrischen Dörfern, die uns in den letzten Wochen so erschüttert haben, fanden auch an der Trennlinie zwischen den Konfessionen statt. Der Konflikt zwischen Sunniten und Alawiten wurde erwähnt. Es ist möglich, dass hier auch untergeordnete lokale Motive eine Rolle spielen. Das entbindet die Regierung in Damaskus aber in keiner Weise von ihrer Verantwortung, zumal die reguläre syrische Armee offenkundig an den Massakern jeweils zumindest beteiligt war. ({5}) Wenn aber das, was als politisches Aufbegehren gegen diktatorische Unterdrückung begonnen hat, nun in einen Bürgerkrieg entlang konfessioneller Linien führt, dann wird dieser Konflikt noch viel schwerer zu beenden sein, als es ohnehin schon der Fall ist. Dies alles sollte bedacht werden, bevor vorschnell eine militärische Intervention in Syrien gefordert wird. ({6}) Derartige Forderungen untergraben im Übrigen den politischen Prozess. Wir brauchen keine Diskussionen um scheinbare militärische Optionen, sondern verstärkte Anstrengungen auf dem politisch-diplomatischen Weg. Er allein kann zu einer Lösung führen. Wie diese Lösung aussehen wird, lässt sich heute noch nicht abschätzen. Doch eines ist schon jetzt klar: Wie immer der Konflikt in Syrien in den nächsten Wochen konkret weitergeht, er wird sich auf die gesamte Region auswirken. Syrien grenzt unmittelbar an die Türkei, den Irak, an Jordanien, Israel und den Libanon. Allein das zeigt die Dimension des Konflikts - um von anderen schwierigen Nachbarn in der weiteren Region gar nicht zu reden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung bleibt dem politisch-diplomatischen Weg verpflichtet, auch wenn wir auf diesem Weg nicht so schnell vorankommen, wie wir uns dies wünschen. Umso wichtiger ist es, dass wir alles in unseren Möglichkeiten Stehende tun, um die Staaten der Region, der unmittelbaren Nachbarschaft zu unterstützen und zu stabilisieren. Der Außenminister hat dies in den letzten Wochen bei zahlreichen Reisen in die Region intensiv getan und dafür auch bereits sehr viel Unterstützung gerade aus der Region heraus erfahren. Die Bundesregierung wird exakt diesen Weg fortsetzen. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Not found (Gast)

Ich komme zum Schluss. - Die UNIFIL-Mission leistet einen in der jetzigen Lage nicht ersetzbaren Beitrag. Deshalb wollen wir sie fortsetzen. Die Vereinten Nationen und in seltener Einigkeit auch alle - ich betone ausdrücklich: alle - regionalen Akteure, einschließlich Israel, haben den deutschen Beitrag zur maritimen Komponente von UNIFIL immer wieder gewürdigt und uns gebeten, an diesem Weg festzuhalten. Genau das werden wir tun. Wir bitten um Ihre Unterstützung. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wolfgang Gehrcke hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich war während des Krieges in Beirut. Ich bin extra mit Kollegen von anderen europäischen Parteien dort hingefahren, um der Bevölkerung von Beirut und des Libanon ein Stück weit Solidarität entgegenzubringen und zu zeigen, dass andere Menschen kommen, um sich mit ihnen zu verbünden. Ich sehe nach wie vor die furchtbaren Bilder, die entstehen, wenn Raketen in Wohnviertel einschlagen, Häuser plötzlich zusammenbrechen und wenn Gewalt eine hohe Dimension erreicht. Es war zu beobachten, dass sich die reichen Libanesen blitzschnell über die Autobahn nach Syrien - das sind nur 50 Kilometer - absetzten. Wer nicht aus der Stadt und aus dem Land herausgekommen ist, das waren vor allen Dingen die Menschen, die in den Flüchtlingslagern gelebt haben, die Palästinenserinnen und Palästinenser und andere. Deswegen war mir klar: Dieser Krieg muss schnell zu Ende gebracht werden. Notwendig dafür war ein Waffenstillstand. Um einen Waffenstillstand zu erreichen, war es notwendig, die UNIFIL-Vereinbarung unter dem Dach der Vereinten Nationen abzuschließen. Das habe ich hier im Bundestag immer vertreten. ({0}) Das hat für mich eine innere Logik. Gleichzeitig lag in dieser Logik nicht, dass sich deutsche Militäreinheiten daran beteiligen. ({1}) Ich fand und ich finde: Es wäre gut, wenn Deutschland keine Soldaten in die Region des Nahen und Mittleren Ostens entsendet. ({2}) - Auch wenn es gewünscht wird, ist das noch lange kein Argument. - Das war meine Entscheidung. Ich finde es ganz interessant, dass die FDP bis zu dem Zeitpunkt, als sie in die Regierung eingetreten ist, ähnlich argumentiert hat. Heute ist das bei euch alles vergessen. Das zeigt, wie dünnhäutig ihr seid, und das spiegelt auch eure Außenpolitik wider. Unsere Sorge war, dass auch deutsche Soldatinnen und Soldaten aus der Lage heraus in den Konflikt geraten können, zum Beispiel auch gegen israelische Soldatinnen und Soldaten bewaffnet vorzugehen. ({3}) Diese Sorge war nicht unberechtigt. Es lag oft in der Luft, wenn israelische Einheiten die UNIFIL-Verbände zumindest kontaktiert hatten, dass ein solcher Vorfall eintritt. Deswegen haben wir Nein gesagt, und wir bleiben beim Nein. ({4}) Ich finde es recht interessant, dass beim Einbringen des Antrags durch die Bundesregierung argumentiert wurde, dass sich die Situation entlang der Grenzen auch des Libanon durch die furchtbare Entwicklung in Syrien verändert habe. Der ganze Nahe Osten ist in Gefahr, in eine große militärische Auseinandersetzung einbezogen zu werden. Darüber muss man sich doch klar werden. An der Analyse habe ich gar nicht so viel auszusetzen. Es ist ein Bürgerkrieg, und man muss schauen, dass man aus diesem Bürgerkrieg wieder herauskommt. Ich fand es aber interessant, dass keiner hier die Courage gehabt hat, zu sagen: Der Vorschlag von Kofi Annan, eine neue Kontaktgruppe einschließlich Russland, China und Iran einzusetzen, ist ein vernünftiger Vorschlag, der die Unterstützung des Bundestages finden muss. ({5}) Das wäre eine gute Politik. Warum hat hier keiner gesagt, dass man der internationalen Syrien-Konferenz in Russland eine Chance geben muss und wir Politik in diese Richtung entwickeln müssen? Wenn man sagt, dass jetzt Diplomatie gefragt ist und nicht Säbelrasseln und das Rufen nach militärischen Einsätzen, dann muss man solche Chancen nutzen und aktiv dafür eintreten. ({6}) - Nein, das hat keiner gemacht, aber keiner hat etwas dazu gesagt. Man kann solche Themen auch einfach verschweigen. Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich ganz deutlich machen: Mit militärischen Aktionen wird man keine Probleme lösen. ({7}) Man muss eine aktive und ideenreiche Nahost-Politik betreiben. Ich würde gern den alten Gedanken, ob man nicht aus der europäischen Sicherheitskonferenz Schlussfolgerungen für den Nahen Osten ziehen kann, aufgreifen. Es sollte eine politische Initiative zu einer Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten gestartet werden. Das wäre jetzt wichtig, und eine solche Initiative wäre dem Parlament angemessen. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man kann zum UNIFIL-Einsatz sagen: Das ist ein verhältnismäßig kleiner Einsatz, es handelt sich nur um 300 Soldatinnen und Soldaten. Das ist ein vergessener Einsatz. Der Debattenplatz heute Abend trägt auch nicht dazu bei, dass sich das ändert. Man kann sagen: Es gibt keine Zwischenfälle. Man kann aber auch sagen: Es gibt keine Zwischenfälle, weil es diese Präsenz vor Ort gibt. Nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch ihren Familien, die eine sehr schwere private Situation durchmachen müssen, gilt ein herzlicher Dank für das, was sie dort tun. ({0}) Man kann UNIFIL natürlich auch als Beitrag deutscher Verantwortung in einer der schwierigsten Regionen der Welt sehen. Es ist natürlich nicht unerheblich, dass die beiden Konfliktpartner, die libanesische und die israelische Seite, für diesen Einsatz waren und sind. Es ist natürlich alles andere als unerheblich, dass das ein UN-geführter Einsatz ist. Es ist natürlich alles andere als unwichtig - Kollege Gehrcke hat es völlig zu Recht gesagt -, dass dieser Einsatz den Krieg dort beendet hat. Das kann man bei der Bewertung des Mandats nicht einfach weglassen. Deshalb, meine Damen und Herren, werden wir der Fortsetzung von UNIFIL zustimmen. Jeder Einsatz von Militär ist dafür da, Zeitfenster für Politik zu schaffen. Die Frage ist, wie die Politik in diesem Zeitfenster tatsächlich tätig wird, damit der Einsatz überflüssig wird. Ich finde, in diesem Zusammenhang muss man der Bundesregierung das eine oder andere vorwerfen. Wir haben darüber bereits im letzten Jahr im Rahmen der Mandatsdebatte gesprochen. Die Bundeswehr musste ihre Leadfunktion vor Ort wegen der von der Bundesregierung beschlossenen Reduzierung aufgeben. Wenn man vor Ort nachgefragt hat, musste man feststellen, dass die deutschen Soldatinnen und Soldaten am Ende doch die Leadfunktion operativ unter deutlich widrigeren Umständen mit ausübten. Herr Minister, Sie haben gerade völlig zu Recht darauf hingewiesen, wie wichtig die libanesische Armee ist. Sie ist noch mehr; denn die libanesische Armee ist eine der wenigen Institutionen im ganzen Lande, die von allen Seiten wirklich akzeptiert wird. ({1}) Der Gedanke einer Einheit ist ohne die Armee im Libanon gar nicht denkbar. Er wird gerade vor dem Hintergrund des bestehenden Konflikts in Syrien zunehmend wichtiger. Angesichts dessen verstehe ich nicht, warum der Libanon bei der Ausbildungshilfe in der Priorität herabgestuft worden ist. Das wurde von Ihnen nicht korrigiert. Da gehen Ihre Ausführungen und die Realität, die Handlungen der Bundesregierung, ein Stückchen auseinander. Weil sich die Region so verändert, wäre es deshalb gut gewesen, wenn Sie bei diesem Mandat nicht einfach so weitergemacht hätten. Es reicht auch nicht, dass man sehr beherzt applaudiert, wenn sich der Bundespräsident zu Auslandseinsätzen äußert, sondern man muss auch etwas tun. ({2}) Das ist leider Gottes ein Glied in einer Kette, die zu außenpolitischer Bedeutungslosigkeit führt. Das ist beim Südsudan so. Das ist am Horn von Afrika so. Das ist im Falle von Libyen so gewesen. Hier geht es - das sage ich noch einmal - nicht um das Engagement der Soldatinnen und Soldaten, sondern hier geht es um die Begleitung durch die Politik. Wie es die Bundesregierung macht, reicht einfach nicht aus. ({3}) - Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen und ich noch mehr Redezeit bekomme, ({4}) gebe ich Ihnen eine ausführliche Antwort. Aber ich habe zum Beispiel zur Frage der Ausbildungshilfe und ihrer Priorität für die libanesische Armee gerade einiges gesagt. ({5}) - Selbstverständlich, Frau Kollegin. Wir waren schon einmal zusammen in einem Ausschuss. Sie wissen, dass man da natürlich die Soldatinnen und Soldaten vor Ort besucht, um zu schauen, was sie dort leisten. - Jetzt haben Sie mir viel Redezeit geklaut; das war nicht nett. Ich möchte noch einige Sätze zum Kollegen Gehrcke sagen. Ich bin bei Folgendem bei Ihnen: Die Anwendung von militärischer Gewalt ist immer von Übel. Man muss natürlich hierbei auch die Frage stellen - das war auch für meine Partei über die Jahrzehnte ein Lernprozess -, ob das nicht manchmal das kleinere Übel ist. Sie haben eben nicht kategorisch jede Beteiligung ausgeschlossen, sondern Sie haben von der deutschen Beteiligung aufgrund der Geschichte gesprochen. Aber wie Sie bei einem Einsatz, der explizit und nachweislich Schmuggel und Proliferation von Waffen in eine Konfliktregion unterbinden und Gewalt sowie weitere Gewalt verhindern soll, einfach Nein sagen können, geht mir nicht in den Kopf. ({6}) Ich habe das Gefühl, dass es um das innenpolitische Vorgärtchen und weniger um Frieden im Nahen Osten geht. ({7}) Das ist sehr bedauerlich. Ich freue mich auf Ihre Erklärung. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zu unserem gemeinsamen Bundespräsidenten. Herr Nouripour, ich finde schon, dass diese Debatte eines zeigt: dass wir das sehr ernst nehmen, was der Bundespräsident uns mit auf den Weg gegeben hat. Ich glaube, dass er einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Er hat eine gesellschaftliche Debatte, die die Union schon seit Jahren führt, aufgenommen und fortgesetzt. Es geht darum, dass wir uns bei allen Mandaten, die wir hier beschließen, hinter die Soldatinnen und Soldaten stellen sollen. ({0}) Deshalb passt das, was wir hier gemeinsam beschließen, eigentlich sehr gut zu dem von uns gemeinsam vorgeschlagenen und getragenen Bundespräsidenten. Insofern habe ich die Einlassungen vorhin nicht verstanden. ({1}) Ich möchte mich an dieser Stelle vor allem - es ist vorhin schon gesagt worden - bei den Soldatinnen und Soldaten, die einen wichtigen Dienst leisten, bedanken. Die deutsche Marine arbeitet auf ihren Schiffen effizient und zielorientiert. Deshalb mein herzlicher Dank, auch zu dieser Uhrzeit, an die Soldatinnen und Soldaten. ({2}) Drei Punkte sind mir wichtig; einige sind schon genannt worden. Erstens. Ein Grund, warum wir bei dieser Mission weiterhin unseren Dienst leisten sollten, ist: Die Region ist insgesamt in Aufruhr. Das UNIFIL-Mandat ist erwünscht. Die Soldatinnen und Soldaten werden überall in den beteiligten Ländern willkommen geheißen. Wir leisten damit einen Beitrag zur Stabilität. Gerade mit Blick auf die innenpolitische Situation des Libanon ist es sehr wichtig, dass wir diesen Beitrag auch weiterhin leisten. Zweitens. Dieser Dienst ist ein Beitrag zur Sicherheit Israels. Er steht im Einklang mit dem, was die Bundeskanzlerin in ihrer vielbeachteten Rede vor der Knesset gesagt hat. Es gehört zur deutschen Staatsräson, die Sicherheit Israels zu schützen. Dies ist ein konkreter Beitrag und damit auch eine Erfüllung unserer politischen Mission, für die wir als Union ja besonders eintreten. Drittens. Unsere Beteiligung zeigt auch innerhalb der Staatengemeinschaft, dass wir uns gemeinsam engagieren. Gerade die Teilnahme an UNIFIL, getragen von Ländern wie Belgien, Bangladesch, Italien und Indonesien, zeigt, wie wichtig es ist, gemeinsam Lasten zu teilen und gemeinsam zielorientiert einen militärischen Beitrag zu leisten, der über das rein Militärische hinaus eine große Bedeutung hat. Meine Damen und Herren, der Waffenschmuggel vor der Küste des Libanon muss eingeschränkt werden. Dazu gehört, die widerstreitenden Gruppierungen im Libanon selbst dazu zu bringen, auf eine weitere Bewaffnung zu verzichten. Dafür ist das UNIFIL-Mandat sehr wichtig. Ich darf an dieser Stelle auch den Kooperationsgedanken noch einmal hervorheben, den gerade Kapitän zur See Gerald Koch vor wenigen Wochen in einem Interview erwähnt hat. Deutschland hat durch die Ausrüstungshilfe und Ausbildungsunterstützung eine Vorreiterrolle übernommen. Auch das zeigt, dass wir mit diesem Mandat eine sehr große Akzeptanz haben. Auf einer Reise im Libanon, die Ruprecht Polenz und ich kürzlich unternommen haben, sind wir von allen widerstreitenden Gruppierungen auf diesen positiven Beitrag angesprochen worden. Ich glaube, das ist Grund genug, auf dieses erfolgreiche Mandat zurückzublicken. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Deutschen Bundestag der Verlängerung dieses Mandats zustimmen können und dass wir uns darüber hinaus dafür einsetzen sollten, weitere Aktivitäten in dieser Region zu starten. Der Übergriff der Unruhen in Syrien auf den Libanon steht unmittelbar bevor; das ist zu befürchten. Vor diesem Hintergrund ist all das, was wir diplomatisch und politisch tun können, um die Unruhen einzugrenzen, wichtig und sinnvoll. Ich sehe den UNIFIL-Einsatz in diesem Zusammenhang in einem größeren Rahmen. Ich glaube, dass es wichtig ist, an diesem Mandat festzuhalten und damit, wenn auch nur mit kleinen Mitteln, zur Stabilisierung des Libanons und der Region beizutragen. Einen Flächenbrand im Nahen Osten zu verhindern, wird ein wichtiger Punkt sein. Insofern empfiehlt unsere Fraktion, diesem Mandat zuzustimmen. Wir bitten darum, dass wir in den nächsten Wochen der Beratungen dieses Mandat gemeinsam weitertragen. Herzlichen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9873 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auskunftspflichten der Europäischen Zentralbank einfordern und für eine ausreichende Eigenkapitalbasis der Kreditwirtschaft sorgen - Drucksache 17/9585 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1) Es wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9585 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist so be- schlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen ({1}) - Drucksache 17/8986 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2}) - Drucksache 17/9992 - Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Riebsamen b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen in Krankenhäusern - zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein- Schmeink, Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einführung eines pauschalierenden psychia- trischen Entgeltsystems zur qualitativen Weiterentwicklung der Versorgung nutzen - Drucksachen 17/5119, 17/9169, 17/9992 - Berichterstattung: Abgeordneter Lothar Riebsamen Die Reden sind ebenfalls zu Protokoll gegeben.2) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einfüh- rung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychia- trische und psychosomatische Einrichtungen. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9992, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8986 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenstimmen! - Die Ent- haltungen! - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak- tionen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthal- ten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge sich erheben. - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit fast dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen, allerdings hat die SPD jetzt dagegen gestimmt. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 17/9992 fort. Unter Buchstabe b wird die Ablehnung des 1) Anlage 11 2) Anlage 12 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5119 mit dem Titel „Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen in Krankenhäusern“ empfohlen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die SPD. Die Linke war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9169 mit dem Titel „Einführung eines pauschalierenden psychiatrischen Entgeltsystems zur qualitativen Weiterentwicklung der Versorgung nutzen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, SPD und Linke. Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Übersetzungserfordernisse der nationalen Parlamente in der mehrjährigen EU-Finanzplanung 2014-2020 berücksichtigen - Übersetzungen auch im intergouvernementalen Rahmen sicherstellen - Drucksachen 17/9736, 17/10003 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Dörflinger Michael Roth ({5}) Dr. Stefan Ruppert Dr. Diether Dehm Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10003, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/9736 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen haben sich enthalten. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Gustav Herzog, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine zukunftsfähige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und ein modernes Wasserstraßenmanagement - Drucksache 17/9743 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Die Reden sind wiederum zu Protokoll gegeben.2) Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9743 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Harald Weinberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tagespflegepersonen stärken - Qualifikation steigern - Drucksache 17/9925 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2011 ({8}) - Drucksache 17/9850 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Die Reden sind zu Protokoll gegeben.3) Es wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/9925 und 17/9850 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Silvia Schmidt ({11}), 1) Anlage 13 2) Anlage 14 3) Anlage 15 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Barrierefreier Tourismus für alle - Drucksachen 17/5913, 17/9853 Berichterstattung: Abgeordnete Christian Hirte Jens Ackermann Markus Tressel Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir erstmals über den vorliegenden Antrag geredet. Damals wurde auch gerade der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskommission vorgestellt. In der Zwischenzeit haben wir im Ausschuss das Thema Barrierefreiheit in vielen Facetten diskutiert. Ich erinnere unter anderem an die Anhörung zum Thema im Februar dieses Jahres. Auch die ITB mit dem Schwerpunkttag des barrierefreien Tourismus liegt hinter uns. Das zeigt, dass nicht nur die Politik das Thema immer wieder auf die Agenda setzt, sondern auch die Branche selbst erkennt, dass das Thema wichtiger wird. Es ist ethisch wichtig, um Barrieren abzubauen und um mehr Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Es ist aber eben auch ökonomisch eine Chance für Unternehmen, für Hotels, für Reiseanbieter, kurzum: für die gesamte Leistungskette. Allerdings ist mein Eindruck, dass in der Branche im Vergleich zur Politik noch der weitaus größere Nachholbedarf zu sehen ist. Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema, und es gewinnt immer weiter an Bedeutung. Das sehen und erleben wir alle miteinander täglich. Barrierfreiheit geht uns alle an. Wir haben Kinder oder Enkel, mit denen wir die Barrieren des Alltags zu meistern haben, etwa mit einem Kinderwagen. Wir werden alle aber auch irgendwann einmal älter und sind nicht mehr so mobil, hören schlechter, sehen schlechter. All das baut Barrieren auf. Die demografische Entwicklung kommt hinzu und macht uns deutlich, dass das Thema immer mehr an Fahrt gewinnt und weiter gewinnen wird. Dem vorliegenden Antrag werden wir als Union dennoch nicht zustimmen. Uns allen ist klar, dass es immer noch viel zu tun gibt, nicht zuletzt deshalb, ich habe es erwähnt, weil die Zahl der Betroffenen größer wird. Der demografische Wandel setzt uns quasi unter Druck, nicht stillzustehen und immer wieder das Thema voranzubringen. Man muss an dieser Stelle auch noch einmal betonen: Im föderalen System ist Tourismus Ländersache. Gerade beim barrierefreien Tourismus gilt: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Akteure müssen vor Ort schauen, wie sie konkret Probleme lösen können, wie im Kleinen Hilfe geleistet werden kann und Bedingungen verbessert werden können. Das war ja durchaus auch ein Ergebnis der Anhörung. Nicht immer braucht es die große Gesetzeskeule. Viel wichtiger ist der Einsatz und das Engagement der Menschen vor Ort. Sie haben einige Forderungen bezüglich des barrierefreien Reisens aufgestellt. Die Bahn solle etwa die Angebote beim Einsteige-, Umsteige- und Ausstiegsservice ausbauen. Meine Erfahrung, und das bestätigen zum Beispiel Behindertenbeauftragte, mit denen ich regelmäßig Kontakt habe, ist die, dass die Bahn hier sehr zuverlässig Hilfsangebote bietet, den Service aber auch immer weiter ausbaut. Oder denken Sie an die Mittel, die wir auch als Bund bereitgestellt haben, um barrierefreie Bahnhöfe voranzubringen. Allein hier in Berlin haben wir die Baustellen vor Augen, an denen es vorwärts geht. Und jeder hat aus seinem Wahlkreis wahrscheinlich Beispiele, die das auch untermauern. Ich bin sehr dafür, dies immer weiter voranzutreiben. Aber ich bin skeptisch, wenn wir dies immer mit neuen Vorgaben aus Berlin tun. Wir wollen immer Bürokratieabbau, aber gleichzeitig fallen uns immer wieder tausend Dinge ein, bei denen der Staat handeln soll, bei denen neue Gesetze her müssen, deren Einhaltung dann natürlich auch wieder kontrolliert werden muss. Manchmal ist es aber vielleicht tatsächlich ausreichend, auf die Kreativität und die Intelligenz der Menschen in der Praxis zu vertrauen. Die SPD hat in der Diskussion im Ausschuss selbst darauf verwiesen, dass gerade im Tourismus viele Kleinund Kleinstbetriebe am Markt sind, oft genug mit dem entsprechend geringen Eigenkapital. Ihre Forderung nach einem KfW-Programm wird das Problem auch nicht wirklich lösen. Denn so gering wie das Eigenkapital sind auch die Margen und damit die Chancen, diese Kredite bedienen zu können. Ich glaube, beim Thema Barrierefreiheit dürfen wir nicht stillhalten. Aber uns muss auch klar sein, dass wir Geduld brauchen. Barrierefreiheit im Tourismus und in der Gesellschaft wird nicht allein im Bundestag entschieden, sondern in der Verantwortung eines jeden Einzelnen vor Ort. Als Letztes möchte ich daran erinnern, dass die Politik, dass der Bund sich dennoch engagiert. Erwähnen möchte ich das Projekt des Bundeswirtschaftsministeriums „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für alle in Deutschland“. Ich glaube, dass wir mit der Förderung konkreter Projekte, die ein Zeichen setzen, die Schule machen und die auch ein Anreiz sind, in den Wettbewerb um die besten Ideen einzusteigen, gut fahren. Seit September 2011 gibt es zudem die Möglichkeit für Schwerbeschädigte, kostenlos im Nahverkehr der Bahn zu fahren. Auch dies war eine konkrete Initiative des Bundes, die ein unglaublich wichtiger Beitrag ist. Auch bei anderen Initiativen setzen wir ja genau auf den Weg konkreter Angebote und Anreize, etwa bei den Anträgen zum Reformationsjubiläum. Das ist auch für den Bundestag der richtige Weg. Länder haben die Verantwortung beim Tourismus. Wir können immer dann, wenn wir konkrete Projekte initiieren oder begleiten, in diesen Bereichen auf das Thema einwirken. Nehmen Sie aktuell das Beispiel des Berliner Flughafens. Der Bund ist beteiligt und legt natürlich größten Wert darauf, dass Barrierefreiheit gegeben ist. Das Desaster um die Verzögerungen steht auf einem anderen Papier. Aber das Beispiel zeigt, dass der Bund mit gutem Beispiel vorangeht, um beim Bau und im Tourismus auch Akzente zu setzen. Ich glaube, dass diese Vorbildfunktion eben auch Druck auf die Akteure andernorts aufbaut und dem Thema hilft. Ich habe jedenfalls großes Vertrauen, dass wir mit diesem Weg weiter Stück für Stück Barrieren abbauen.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der barrierefreie Tourismus hat sich in der vergangenen Dekade grundsätzlich positiv entwickelt. Dennoch ist die Botschaft „Tourismus für alle“ leider noch nicht bei allen Unternehmen angekommen. Dabei sind Urlaub und Reisen für Menschen mit Behinderungen wichtige Faktoren für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Daher verfolgen alle Fraktionen des Ausschusses für Tourismus das Ziel, die Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Deutschlandtourismus zu machen. Im Ziel sind wir uns einig; wie wir das Ziel erreichen können, dazu gibt es in den Fraktionen allerdings unterschiedliche Vorstellungen. Der vorliegende Antrag ist grundsätzlich nicht falsch, aber die Vielzahl der in ihm enthaltenen Forderungen ist so nicht umsetzbar. Es ist in naher Zukunft, um ein Beispiel herauszunehmen, nicht möglich, Großveranstaltungen über die gesamte Servicekette barrierefrei zu organisieren. Auch die an die Deutsche Bahn gerichteten Forderungen lassen sich nicht von heute auf morgen umsetzen. Die Umsetzung des Programms zur Barrierefreiheit bei der Bahn wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen, auch wenn die Bundesregierung mit dem Konjunkturprogramm schon erste wichtige Schritte angestoßen hat. Die Bahn und ihr Vorstandsvorsitzender Grube sind auf einem wichtigen und richtigen Weg. Als Parlament müssen wir ihn dabei ideell, finanziell und politisch weiter unterstützen. Insgesamt ist die Realisierung der Barrierefreiheit mit sehr viel Geld verbunden. Daher müssen die Ressourcen realistisch eingeschätzt und bei der Umsetzung Prioritäten gesetzt werden. Wie bereits eingangs gesagt, sind wir uns einig, dass so viel Barrierefreiheit wie möglich realisiert werden muss. In Deutschland sind immerhin 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung mobilitätseingeschränkt. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird der Anteil der älteren und mobilitätseingeschränkten Menschen an der Gesamtbevölkerung weiter ansteigen. Aber Barrierefreiheit kommt ja nicht nur Menschen mit Handicaps zugute. Der Konzeptidee des „Designs für alle“ liegt zugrunde, dass Barrierefreiheit für 10 Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 Prozent notwendig und für 100 Prozent komfortabel ist. Viele mobilitätseingeschränkte Menschen verzichten aufgrund mangelnder Barrierefreiheit auf das Reisen oder würden bei einem besseren Angebot häufiger als bisher in Urlaub fahren. Damit auch diese Menschen reisen bzw. öfter verreisen, bedarf es einer flächendeckenden barrierefreien Infrastruktur, aber auch spezifischer Tourismusangebote für diese Zielgruppe. Für einen barrierefreien Tourismus ist eine geschlossene Servicekette mit durchgängig barrierefreien Angeboten Voraussetzung. Dazu gehört insbesondere die barrierefreie An- und Abreise sowie die Mobilität vor Ort. Wir werden auch in Zukunft nicht aufhören, immer wieder in der Tourismusbranche für Barrierefreiheit zu werben. Gelungene Beispiele sind meiner Meinung nach die besten Argumente, um noch unentschlossene Unternehmer und Anbieter zu überzeugen. So engagiert sich die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in Deutschland“ in der Entwicklung des barrierefreien Tourismus. In ihr haben sich acht Städte und Tourismusregionen zusammengefunden, und der Erfolg gibt ihnen recht. Auch meine Heimatregion, die Sächsische Schweiz, ist als Modellregion mit dabei. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe erarbeiten vor Ort barrierefreie Angebote und suchen nach Lösungsmöglichkeiten bei bestehenden Problemen; sie sind Teil eines Netzwerkes mit einer großen Zahl von Beteiligten. Die Mitglieder beziehen Behindertenverbände in ihre Arbeit mit ein, sie setzen Marketingprojekte um, und sie beraten bei Infrastrukturprojekten. Mein Wunsch ist es, dass die Bundesregierung in den nächsten Monaten die Arbeitsgemeinschaft durch eine konkrete Projektförderung unterstützt. Wir werden beim Thema barrierefreier Tourismus aber nur dann Fortschritte erreichen können, wenn wir sensibilisieren und Konflikte beseitigen bzw. vermeiden. Toleranz, Offenheit, Pragmatismus und Kreativität sind dabei von allen Seiten gefordert. Wir müssen erreichen, dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr am Rand der Gesellschaft stehen und falsches Mitleid ernten. Integration im Tourismus beginnt für mich dort, wo wir Mittel und Wege finden, Menschen mit gleichen Interessen zusammenzubringen. Konkret bedeutet das, dass Familien mit anderen Familien, Naturfreunde mit anderen Naturfreunden oder Feinschmecker mit anderen Feinschmeckern ihre Freizeit verbringen können, ungeachtet dessen, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie groß Solidarität und Zusammenhalt zwischen Menschen mit gleichen Interessen werden, wenn sie sich über ihre Erfahrungen austauschen können. Meines Erachtens hat ein gutes barrierefreies Tourismusangebot vor allem auch ein hohes sozialpsychologisches Moment, wenn behinderte Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit erfahren und nichtbehinderte Menschen das Gleiche spüren. Jeder ist anders, und trotzdem gehören alle auf eine gewisse Art zusammen und teilen die gleichen Träume und Freuden, ob groß oder klein, dick oder dünn, jung oder alt, ob hörend oder gehörlos, ob sehend oder blind. Aufgrund des demografischen Wandels wird der Anteil der altersbedingt behinderten Menschen weiter steigen. So lässt bei vielen Menschen die Hör- und Sehfähigkeit nach. Touristische Destinationen werden daher in Zukunft vermehrt in ein Design für alle investieren müssen. Im Urlaub stehen Spaß, Erlebnis und EntspanZu Protokoll gegebene Reden nung an erster Stelle, und da behinderte Menschen, wie die meisten Reisenden, nicht gerne alleine ihren Urlaub verbringen, muss bei barrierefreien Angeboten der Urlaubsgenuss für alle ({0})Reisenden im Vordergrund stehen. Hier gilt es, innovative Angebote zu schaffen.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich beginne mit einem Zitat, das uns allen bestens bekannt sein müsste: „Um die Teilhabe aller an touristischen Angeboten zu ermöglichen, soll das Ideal des barrierefreien Reisens in der gesamten touristischen Leistungskette verankert werden. Die Zugänge zu Bahnhöfen, Flughäfen, Verkehrsmitteln sowie zu Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Gaststätten und Hotels sollen barrierefrei gestaltet sein.“ Diese Forderung steht in den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung. Die SPD hat diese gemeinsam mit der CDU/CSU in der Großen Koalition Ende 2008 im Kabinett beschlossen. Wir haben dann 2009 einen Antrag auf den Weg gebracht, der viele gute Punkte für barrierefreies Reisen enthielt. Von der schwarz-gelben Bundesregierung war dann allerdings sehr lange nichts mehr zu sehen und zu hören zu diesem wichtigen Thema. Dabei ist Barrierefreiheit eine zentrale Voraussetzung, damit Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft teilhaben können. Die SPD setzt sich dafür ein, dass Urlaub und Reisen für alle Menschen möglich werden. Warme Worte, wie wir sie immer wieder in Sonntagsreden vernehmen, reichen nicht aus. Es gilt, politisch die richtigen Weichen zu stellen, um konkret Barrierefreiheit im Deutschlandtourismus voranzubringen. Deshalb haben wir bereits im Mai 2011 den heute abzuschließenden Antrag vorgelegt. Die Überschrift „Barrierefreier Tourismus für alle“ ist gleichzeitig das Motto, an dem sich unsere Maßnahmen orientieren. Wir haben damit viele gute Ideen auf den Tisch gelegt und diese auch ausführlich diskutiert, unter anderem im Rahmen einer Expertenanhörung im Februar im Tourismusausschuss. Die Anhörung hat unseren Kurs klar bestätigt: Alle Sachverständigen waren sich einig, dass mehr politische Unterstützung für Barrierefreiheit notwendig ist. In der Beschlussempfehlung kann man nachlesen, dass Sie selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU, festgestellt haben, dass der Antrag nicht grundsätzlich falsch sei. Ich frage Sie: Warum lehnen Sie ihn dann ab? Sie stellen in Bezug auf Barrierefreiheit fest, dies sei „eine Aufgabe, die die Bundesregierung nicht allein erfüllen“ könne. Genau, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, deshalb fordern wir, einen Masterplan für barrierefreien Tourismus in Zusammenarbeit mit den Ländern und den Kommunen aufzustellen. Die Verantwortung aber allein den Ländern, Kreisen, Städten und Gemeinden zuzuschieben, wie Sie das machen, bringt uns nicht voran. Wir stellen erneut fest: Regierungsverantwortung ist nicht Ihre Stärke. Wir greifen Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, gerne unter die Arme. Unser Forderungskatalog ist umfassend. Wir sagen: Für eine bundesweite Koordinierung ist professionelle Arbeit nötig. Diese kann die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, leisten - allerdings nur, wenn die Finanzierung über vereinzelte Projekte hinausgeht. Wir wollen die NatKo zu einer bundesweiten Kompetenzstelle ausbauen. Wie erfolgreich sie arbeiten kann, hat sich beim ersten Tag des barrierefreien Tourismus auf der Internationalen Tourismusbörse ITB gezeigt. Die NatKo hat ihn organisiert und zu einem großen Erfolg werden lassen. Dies ging jedoch hart an die Reserven ehrenamtlicher Arbeit. Hier wollen wir, dass der Bund sich für einen dauerhaften Barrierefreiheitstag auf dem ITB-Kongress einsetzt und die Arbeit dafür entsprechend unterstützt. Entscheidend ist, dass die gesamte Servicekette barrierefrei ist. Ansonsten scheitert der Urlaub für viele Menschen mit Behinderung bereits an der Anreise. Noch immer sind rund ein Drittel aller Bahnhöfe nicht ansatzweise barrierefrei. Die Bahn hat jetzt ihr zweites Programm für Barrierefreiheit vorgestellt. Es ist dringend nötig und muss noch deutlich weitergehen. Die sogenannte 1 000er-Regelung der Bahn führt dazu, dass Stationen, die von weniger als 1 000 Reisenden am Tag genutzt werden, beim Bau von Aufzügen oder langen Rampen hinten herunterfallen. Das sind zwei Drittel aller Bahnhöfe. Wir fordern, dass Bahnhöfe generell barrierefrei umgebaut werden, auch kleinere Stationen. Dazu verpflichtet sich Deutschland im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention. Es gibt zudem sehr unterschiedliche Anforderungen an Barrierefreiheit in den Nahverkehrsnetzen der Länder und verschiedene Bahnsteighöhen. Auf diesen Baustellen ist der Bund ganz zentral gefordert. Wir müssen endlich zu bundeseinheitlichen Standards kommen. Die Tourismuswirtschaft steht ebenfalls in der Pflicht, mehr barrierefreie Angebote zu schaffen. Immer noch gibt es viel zu wenig barrierefreie Hotels und Gaststätten. Die Sachverständigen haben in der Anhörung bestätigt, dass viele Betriebe sich nicht dafür interessieren. Fakt ist auch: Gerade kleinen Familienbetrieben fehlt oft das Geld für Umbauten. Deshalb fordern wir, notwendige Investitionen in Hotels und Gaststätten zu bezuschussen. Das Potenzial von Barrierefreiheit ist für die Tourismuswirtschaft enorm: 5 Milliarden Euro zusätzlicher Umsatz wären mit barrierefreiem Tourismus möglich, 90 000 Vollzeitarbeitsplätze könnten zusätzlich geschaffen werden. Und das Potenzial wird in unserer älter werdenden Gesellschaft immer größer. Ich bin in meinem Wahlkreis Lübeck in unserer wunderschönen Altstadt mit dem örtlichen Behindertenrat unterwegs, um hautnah zu erfahren, wo es Probleme und Barrieren für Menschen mit Behinderung gibt. Die BeZu Protokoll gegebene Reden troffenen wissen am besten, wo es hakt und wie praktische Lösungen auf der Straße, in Bahnhöfen, Restaurants oder Hotels aussehen können. Deshalb fordern wir, bei allen Maßnahmen für Barrierefreiheit Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände mit einzubeziehen. Zudem müssen sich die Betroffenen verlässlich über barrierefreie Angebote informieren können. Wir haben mit unserem Antrag den Aufbau eines bundesweiten Qualitätsgütesiegels für barrierefreien Tourismus gefordert. Ich begrüße, dass die Bundesregierung diese Idee aufgreift und das laufende Projekt des Deutschen Seminars für Tourismus, DSFT, und der NatKo unterstützt. Um ein erfolgreiches Gütesiegel daraus zu machen, brauchen wir allerdings einen „TÜV für Barrierefreiheit“. Wir fordern deshalb, unabhängig zu überprüfen, ob als barrierefrei ausgezeichnete Angebote dies tatsächlich sind. Dass sich Betriebe selbst einschätzen, reicht nicht aus. Das wird auch ein Knackpunkt des aktuellen Projekts des Wirtschaftsministeriums sein. Rund 8 Millionen Menschen mit Behinderung sind auf Barrierefreiheit angewiesen. Für mehr als 30 Millionen Menschen ist Barrierefreiheit hilfreich, gerade für Ältere oder Familien mit kleinen Kindern. Fest steht aber auch: Für 80 Millionen Menschen, also für alle, ist Barrierefreiheit komfortabel. Für barrierefreien Tourismus können und müssen wir eine Menge tun. Der Bund steht in der Pflicht, erst recht durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland bereits seit 2009 gilt. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, unterstützen Sie wie die gesamte Opposition auch unseren Antrag, wenn Sie es ernst meinen, allen Menschen barrierefreies Reisen ermöglichen zu wollen.

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In Deutschland beginnen in wenigen Tagen die Sommerferien, und damit befinden wir uns kurz vor Beginn der großen Reisewelle. Was man dabei oft übersieht, ist, dass es für circa 10 Millionen Menschen in unserem Land, die mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen leben, nicht selbstverständlich und unproblematisch ist zu verreisen. Für Menschen mit einem körperlichen oder geistigen Handicap ist es immer noch schwieriger als für gesunde Menschen zu verreisen. Das zu ändern, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Tourismusindustrie, und dementsprechend muss die gesamte touristische Servicekette barrierefrei gestaltet werden. Einfach in den Urlaub zu fahren - ohne Angst vor der Anreise, der Art der Beherbergung etc. -, sollte für behinderte Menschen zur normalen Sache werden, auf die man sich freut und die man entsprechend genießen kann. Für uns steht die Herstellung der Barrierefreiheit bei allen Projekten und Maßnahmen der Bundesregierung auf dem Gebiet der Tourismuspolitik im Vordergrund. Der Bundesregierung ist dieses Thema wichtig. Sie setzt sich dafür ein, dass barrierefreies Reisen im gesamten Spektrum der touristischen Leistungskette verankert wird. Barrierefreiheit erhöht die Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland. Gerade im Hinblick auf die Sicherung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Deutschlandtourismus stehen wir hier vor einer zentralen Aufgabe. Wir setzen dabei auf Verantwortung und Bereitschaft in der Tourismusbranche. Jedem Hotelier und Gastwirt ist doch klar, dass er sich einen Wettbewerbsvorteil verschafft, wenn er auf die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Älteren und Behinderten eingeht. Gerade angesichts der demografischen Entwicklung ist die Teilhabe aller Menschen am Tourismus von zentraler Bedeutung. Wir begrüßen deshalb jedwede Art von Initiativen und Projekten von Verbänden und Vereinen, um die Öffentlichkeit und die Tourismuswirtschaft weiter für das Thema barrierefreier Tourismus zu sensibilisieren. Zentrale Aufgabe der Bundesregierung ist es, die Rahmenbedingungen für barrierefreien Tourismus in Deutschland zu verbessern. Zu diesem Zweck hat das Bundeswirtschaftsministerium Studien zum Thema Barrierefreiheit gefördert. Die ökonomische Bedeutung des barrierefreien Tourismus in Deutschland wurde untersucht und Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zu dessen Qualitätsverbesserung herausgearbeitet. Die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in Deutschland“ hat von 2008 bis heute mehrere Modellregionen in sich vereint und setzt sich engagiert für die Entwicklung von Angeboten für behinderte Gäste in den Regionen ein. Die Bundesregierung begleitet die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention im Bereich Tourismus mit flankierenden Projekten. Sie fördert die Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Tourismusangebote und Dienstleitungen. Im November 2011 konnte der Startschuss für das Projekt „Tourismus für alle: Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen in Deutschland“ gegeben werden. Am 31. Mai 2012 hat der Tourismusbeauftragte der Bundesregierung, Herr Ernst Burgbacher, das Projekt in Berlin vorgestellt. Es läuft bis 2013 und trägt zur Erfüllung des Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention bei. Träger des Projekts ist das Deutsche Seminar für Tourismus in Kooperation mit der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo. In die Durchführung eingebunden sind die Tourismuswirtschaft, die Deutsche Zentrale für Tourismus, die Behindertenverbände, Verkehrsunternehmen, Landesmarketingorganisationen sowie eine Reihe weiterer fachlicher Einrichtungen. Die Bundesregierung unterstützt das Projekt mit knapp 500 000 Euro. Ziel ist es, eine einheitliche Kennzeichnung zu entwickeln und damit die vielen verschiedenen Kennzeichnungen durch ein einheitliches System zu ersetzen. Damit fördern wir eine Transparenz der bestehenden Angebote und Leistungen. Darüber hinaus sollen Führungspersonal und Mitarbeiter der Tourismusbranche für das Thema sensibilisiert und geschult werden. Außerdem wird eine Internetplattform erarbeitet, auf der sich Reisende über barrierefreie Angebote informieren können. Zu Protokoll gegebene Reden Eine aktuelle Umfrage des Flughafenverbandes ADV über die PRM-Leistungen an deutschen Flughäfen belegt, dass die deutschen Flughäfen bei der Unterstützung von Reisenden mit eingeschränkter Mobilität vorbildlich sind. So erhielten im vergangen Jahr mehr als 1 Million mobilitätseingeschränkter Reisender Unterstützung auf den Flughäfen, unter anderem beim Ein-, Aus- und Umsteigen. Das sind sehr positive Nachrichten und zeigt, dass die Branche auch hier auf dem richtigen Weg ist. Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Tourismus in Deutschland werden sollte und vor allem werden kann. Die Teilhabe aller Menschen am Tourismus muss ermöglicht werden. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam erreichen, in Absprache mit den Ländern, Regionen, Kommunen und den verantwortlichen Akteuren der Tourismuswirtschaft.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Berliner Fernsehturms steht: Aufgrund der im Berliner Fernsehturm bestehenden baulichen Gegebenheiten ist, um die Sicherheit der Besucher im Evakuierungsfall zu gewährleisten, Rollstuhlfahrern und Personen mit aktueller Gehbehinderung, d. h. Personen, die sich nicht ohne fremde Hilfe oder ohne Hilfsmittel, wie Krücken etc. fortbewegen können, der Zutritt nicht möglich. Was hat das mit der heutigen Debatte zu tun? Der Berliner Fernsehturm ist seit 1969 nicht nur das Wahrzeichen der Hauptstadt, sondern auch eine der bekanntesten und beliebtesten Sehenswürdigkeiten für Touristinnen und Touristen aus aller Welt. In einer kürzlich von der Deutschen Zentrale für Tourismus veröffentlichten Studie über die 100 Topreiseziele in Deutschland nimmt der Fernsehturm einen vorderen Platz ein. Aber es darf eben nicht jede oder jeder hinauf. Dabei gibt es viele Beispiele, die zeigen, dass es möglich ist, auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen den Zugang zu solchen Bauwerken zu ermöglichen. Nennen möchte ich hier stellvertretend die Fernsehtürme in Düsseldorf und Schwerin, den Euromast in Rotterdam, den Skytower in Toronto sowie seit den jeweiligen Paralympics die Akropolis in Athen und die Chinesische Mauer in Padaling. Die fehlende Barrierefreiheit beim Berliner Fernsehturm war auch Thema in einer Kleinen Anfrage der Linken, denn der Bund steht hier als Hauptaktionär bei der Deutschen Telekom bzw. ihrer Tochtergesellschaft Deutsche Funkturm GmbH direkt in der Verantwortung. Deswegen ist es aus meiner Sicht unakzeptabel, wenn die Bundesregierung auf die Frage, wie sie sich für die Schaffung der Barrierefreiheit auf dem Fernsehturm einsetzen wird, am 22. Februar 2010 - Drucksache 17/786 antwortete: „Die Bundesregierung sieht hierfür keine Veranlassung.“ Auf meine Frage, welche der 100 Topreiseziele denn barrierefrei seien und welche der 100 Topreiseziele auch mit Blick auf die Schaffung von Barrierefreiheit Fördermittel des Bundes erhielten, antwortete die Bundesregierung am 3. Mai 2012 - Drucksache 17/9518 -: Informationen, welche der 100 beliebtesten Sehenswürdigkeiten in Deutschland barrierefrei sind, liegen der Bundesregierung nicht vor. … Bei der Beantwortung der Frage nach bereitgestellten Mitteln des Bundes für bauliche Investitionen, Marketingmaßnahmen usw. für die 100 beliebtesten Sehenswürdigkeiten kann nicht nach barrierefreien und nichtbarrierefreien Sehenswürdigkeiten unterschieden werden … So viel Unkenntnis ist keine gute Grundlage, um den barrierefreien Tourismus voranzubringen und Fördermittel des Bundes gezielt und effizient einzusetzen. Vor einem Jahr, am 9. Juni 2011, hatten wir die erste Lesung zu diesem Antrag im Bundestag. Bereits damals wies ich darauf hin, dass die Linke bereits am 24. September 2008 einen Antrag mit dem Titel „Barrierefreier Tourismus für alle in Deutschland“ - Drucksache 16/10317 in den Bundestag eingebracht hatte. Unser Antrag wurde mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP abgelehnt. Der nun zur Abstimmung stehende Antrag der SPD hat mit unserem Antrag große, teilweise wörtliche Übereinstimmungen. Deswegen wird die Linke dem Antrag auch zustimmen. Was hat sich in diesem Bereich im letzten Jahr getan? In zunehmend mehr Bundesländern, in Kommunen, touristischen Regionen, in der Tourismuswirtschaft und bei Verkehrsunternehmen steht das Thema „Barrierefreier Tourismus“ auf der Tagesordnung. Es gibt zunehmend mehr barrierefreie Angebote und auch bessere Informationen darüber. Wir hatten auf der ITB 2012 erstmalig, vor allem Dank der Initiative und Beharrlichkeit der NatKo, einen Tag des barrierefreien Tourismus - wenn auch noch ohne Unterstützung der Bundesregierung. Und es gibt ein von der Bundesregierung gefördertes Projekt „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“ unter Federführung des Deutschen Seminars für Tourismus und Mitwirkung der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle e.V., NatKo. Aber es wird immer noch mehr geredet als getan. Ich verzeichne auch weiterhin Gleichgültigkeit und Ignoranz. So hat Bundesverkehrsminister Ramsauer immer noch nicht begriffen, warum Fragen der Barrierefreiheit im Bundesbaugesetz verankert werden müssen, warum Förderungen des Bundes mit der Schaffung von Barrierefreiheit verbunden werden müssen oder warum eine Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes mit der Verpflichtung zum Einsatz barrierefreier Busse im Fernlinienverkehr verbunden werden muss. Hier wird von einem Bundesminister permanent gegen Bundesgesetze verstoßen, denn seit dem 26. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in Deutschland. Mein Fazit: Die Bundesregierung nimmt nur unzureichend den Beschluss des Bundestages aus dem Jahr Zu Protokoll gegebene Reden 2009, ihre eigenen Tourismuspolitischen Leitlinien sowie ihre in der Koalitionsvereinbarung erklärten Ziele hinsichtlich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der Förderung des barrierefreien Tourismus ernst. Für die Linke hat barrierefreier Tourismus neben der wirtschaftspolitischen vor allem eine menschenrechtliche und soziale Dimension. Wir wollen die UN-Behindertenrechtskonvention - insbesondere Art. 30 - und den Ehrenkodex der Welttourismusorganisation, „Tourismus für Alle“, in die alltägliche Praxis überführen. Das nützt Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in ihren Kommunen, beim öffentlichen Personenverkehr, beim Einkaufen, bei Theater-, Sport- oder anderen Freizeitveranstaltungen, schafft neue, moderne Arbeitsplätze - auch für Menschen mit Behinderungen - und ist nachhaltig innovativ.

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine barrierefreie Infrastruktur nützt nicht nur allen Bürgerinnen und Bürgern. Sie ist auch in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz vorgeschrieben. Fehlende Barrierefreiheit ist ein Wettbewerbsnachteil. Laut der Studie „Barrierefreier Tourismus für Alle in Deutschland - Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zur Qualitätssteigerung“ des Wirtschaftsministerium aus dem Jahre 2008 ist für etwa 10 Prozent der Bevölkerung eine barrierefrei zugängliche Umwelt zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 Prozent notwendig - das entspricht etwa 25 Millionen Menschen - und für 100 Prozent komfortabel. Demografisch bedingt wird die Zahl derjenigen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind, weiter zunehmen. Das zeigt auch ein Blick auf die Zahl der Urlaubsreisenden zwischen 65 bis 75 Jahren. Hier wird bis 2020 ein Anstieg um 40 Prozent erwartet. In dieser Reisegruppe ist aber auch ein besonders hoher Anteil an Deutschlandreisen festzustellen. Er beträgt 41,2 Prozent, im Durchschnitt liegt dieser bei 30,5 Prozent. Es handelt sich dabei also keineswegs um eine vernachlässigbare Marktnische. Barrierefreiheit muss umfassend gedacht werden von allen Beteiligten. Gebäude für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer zugänglich zu machen, ist nur ein Aspekt eines barrierefreien Angebots. Es gilt, auch die Belange von Menschen mit Sinnesbehinderungen, chronisch-somatischen und psychischen Erkrankungen und Lernschwierigkeiten zu berücksichtigen. Mögliche Effekte sind laut einer Studie des FUR bis zu 5 Milliarden Euro zusätzliche Einnahmen in der Tourismusbranche sowie zusätzliche 90 000 Arbeitsplätze. Tipps für Maßnahmen und Informationen zum barrierefreien Tourismus bietet die „Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle“. Anbieter können damit ihr Angebot über Checklisten auf Barrierefreiheit überprüfen und gezielt verbessern. Derzeit steht die NatKo vor großen Finanzierungsschwierigkeiten. Sie zu erhalten, ist von großer Bedeutung. Über das Thema Barrierefreiheit wird häufig debattiert. Der Tourismusbeauftragte Ernst Burgbacher kündigte am 31. Mai 2012 an, dass Barrierefreiheit das Markenzeichen des Tourismus in Deutschland werden soll. Dann müssen aber endlich Taten den Worten folgen. Das, was die Bundesregierung liefert, ist mehr als dürftig und zeigt einmal mehr, wie es um die soziale Dimension der Nachhaltigkeit bei dieser Bundesregierung bestellt ist! Der vorliegende Antrag greift viele Punkte auf und zeigt damit wie umfassend das Thema gedacht werden muss. Genau hier hat der Antrag aber auch einige kleine Schwächen, über die wir schon in den Ausschüssen gesprochen haben. Ich möchte noch einmal betonen: Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung haben auch im Bereich Tourismus ein Recht auf Teilhabe. Darüber hinaus spricht für den Abbau von Barrieren im Tourismus auch die wirtschaftliche Sicht. Ein Ausbau des barrierefreien Tourismus ist unumgänglich. Deshalb gilt es folgende Kernfrage zu lösen: Wie kann sich unsere Tourismuswirtschaft auf diesen Anstieg älterer Reisender mit ihren Bedürfnissen vorbereiten? Hier bedarf es erstens zielgruppengerechter Ansprache und auf Senioren abgestimmte Angebote. Zweitens brauchen wir Barrierefreiheit, um den Senioren von morgen Deutschland als attraktives Reiseziel zu präsentieren. Diese Senioren werden reiseerfahren und deshalb anspruchsvoll bei der Ausstattung ihrer Wunschdestination sein. Der uneingeschränkte Zugang zu touristischer Infrastruktur darf deshalb in Zukunft nicht die Ausnahme sein, sondern muss zur Selbstverständlichkeit werden. Drittens muss die Erreichbarkeit von Destinationen mit öffentlichem Nahverkehr sichergestellt werden. Das komplette touristische Produkt muss nachhaltig und barrierefrei gestaltet werden. Dies schließt alle Teilbereiche der Reisevorbereitung und Reisedurchführung mit ein; unter anderem lesbare Reiseinformationen, Möglichkeiten des Gepäcktransports, eine adäquate Gesundheitsversorgung vor Ort und vieles mehr. Auch im internationalen Vergleich ist es für Deutschland wichtig, sich als barrierefreie Tourismusdestination zu positionieren: Der demografische Wandel findet nicht nur in Deutschland statt. Mit einem Ausbau des barrierefreien Tourismus können wir für Deutschland im europäischen Vergleich ein bedeutendes Alleinstellungsmerkmal schaffen und damit auch internationale mobilitätseingeschränkte Gäste ansprechen. Gleichzeitig kann ein barrierefreier Deutschland-Tourismus zum einen als Indikator für Innovationsbereitschaft und soziale Nachhaltigkeit stehen und ebenso als Vorbild für den Tourismus des 21. Jahrhunderts dienen. Ich fasse mich noch einmal zusammen: Auf den Ausbau eines nachhaltigen, barrierefreien Tourismus hat jeder Betroffene ein Recht. Es ist gleichzeitig eine Notwendigkeit und enorme ökonomische Chance für die Tourismusindustrie in Deutschland. Die Erleichterungen kommen dabei im Endeffekt allen zugute. Die „Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle“, Natko, bringt den gesellschaftlichen Gewinn mit dem Satz: „Für 10 Prozent zwingend erforderlich, für über 30 Prozent hilfreich, für 100 Prozent komfortabel“, auf den Punkt. Hierbei handelt es sich nur um die aktuellen Zahlen. Die Tendenz ist steigend. Unsere Aufgabe ist es jetzt, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um der Tourismusindustrie diesen notwendigen Umbau möglichst schnell zu ermöglichen. Der Antrag schlägt trotz einiger kleiner Mängel die richtige Richtung ein. Deshalb werden wir zustimmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Tourismus empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9853, den Antrag der Fraktion der SPD mit der Drucksachennummer 17/5913 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Koalition hat zugestimmt, die Opposition war dagegen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Tankred Schipanski, Albert Rupprecht ({1}), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann ({2}), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben stärken - Drucksachen 17/7183, 17/9912 Berichterstattung: Abgeordnete Tankred Schipanski Dr. Martin Neumann({3}) Krista Sager Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Ressortforschung ist ein unverzichtbarer Bestandteil des deutschen Wissenschaftssystems. Seit Jahren verzeichnen wir einen wachsenden Bedarf an qualitativ hochwertigen wissenschaftsbasierten Erkenntnissen bei den verschiedenen Ressorts. Weil wir um die große Bedeutung der Ressortforschung wissen, wollen wir die betroffenen Einrichtungen weiterentwickeln und machen mit unserem Antrag ganz konkrete Vorschläge. Der Bundesbericht für Forschung und Innovation 2012 weist 40 öffentlich-rechtliche Bundeseinrichtungen mit Forschungs- und Entwicklungsaufgaben aus. Hinzu kommt die dauerhafte Zusammenarbeit mit sechs überwiegend privatrechtlich verfassten FuE-Einrichtungen. Zusammen werden sie als Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben bezeichnet. Neben ihren hoheitlichen Funktionen unterstützen sie das jeweilige Ressort bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben durch - vereinfacht gesprochen - wissenschaftsbasierte Politikberatung. Diese erfolgt entweder durch die Einrichtungen selbst, in Kooperation mit anderen Forschungseinrichtungen oder durch die Vergabe von Forschungsaufträgen an externe Forschungsnehmer. Im Jahr 2004 begann der Wissenschaftsrat auf Bitten des BMBF, zunächst 13 Ressortforschungseinrichtungen des Bundes zu evaluieren. Er stellte in seiner 2007 vorgelegten ersten Gesamtstellungnahme fest, dass die FuE-Leistungen der Einrichtungen „häufig von guter bis sehr guter Qualität“ seien, gab jedoch auch Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Ressortforschung. Der Wissenschaftsrat benannte insbesondere das FuEManagement, Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem, wissenschaftliche Qualitätssicherung sowie personalund haushaltsrechtliche Rahmenbedingungen als Reformfelder. Zwischen 2007 und 2010 begutachtete der Wissenschaftsrat in einem zweiten Schritt die bis dahin noch nicht evaluierten Einrichtungen. Die zweite Gesamtstellungnahme bestätigte die Ergebnisse der ersten Evaluation und mahnte zusätzlich eine stärkere Profilierung sowie eine Verstärkung der internationalen Aktivitäten an. Seit geraumer Zeit findet in mehreren Ressorts eine erfolgreiche Umstrukturierung der Ressortforschungseinrichtungen statt. Das BMELV hat diesen Prozess bereits erfolgreich abgeschlossen. Mit unserem Antrag wollen wir die Bundesregierung bei der Gestaltung dieses Prozesses mit konstruktiven Vorschlägen unterstützen und den Forderungen des Wissenschaftsrats parlamentarischen Nachdruck verleihen. Lassen Sie mich diese Vorschläge im Einzelnen vorstellen. Zunächst muss zur Verbesserung der wissenschaftlichen Qualitätssicherung und Transparenz überprüft werden, welche Einrichtungen künftig als Ressortforschungseinrichtung geführt werden sollen. Zentrales Kriterium für Verbleib und Aufnahme muss sein, dass die betreffenden Institutionen über eigene wissenschaftliche Kompetenz verfügen, indem sie entweder eigene Forschung betreiben oder FuE-Projekte extern vergeben. Im Hinblick auf Qualität und Struktur sind die 46 Einrichtungen höchst heterogen. Ein Blick auf den FuE-Anteil der 46 Ressortforschungseinrichtungen offenbart dies. Während der FuE-Anteil bei 14 Einrichtungen unter 10 Prozent liegt, beträgt er bei 15 Institutionen 50 Prozent und mehr. Einige Einrichtungen - stellvertretend sei auf die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, BAM, verwiesen - sind zweifellos hervorragend und wissenschaftlich exzellent aufgestellt. Andere müssen sich einer kritischen Überprüfung der wissenschaftlichen Kompetenz stellen. Diese Überprüfung setzt voraus, dass die Ressorts zunächst ihre Forschungsbedarfe definieren und systematisch klären, welche Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben erforderlich sind. Zweitens muss die Koordination zwischen den Einrichtungen, aber auch zwischen den übergeordneten Ressorts verbessert werden. Nur so können wissenschaftliche Synergien optimal genutzt und Doppelarbeit vermieden werden. Wichtige Voraussetzung hierfür ist die vom Wissenschaftsrat empfohlene Kartierung der FuE-Landschaft des Bundes und der Länder. Insbesondere in Politikfeldern, die auf europäischer Ebene koor22018 diniert werden, empfiehlt sich eine verstärkte Zusammenarbeit. Drittens sehen wir in der wissenschaftlichen Qualitätssicherung eine zentrale Herausforderung. Diese muss auf mehreren Säulen fußen. Alle Einrichtungen müssen regelmäßig von erfahrenen externen Experten evaluiert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt muss selbstverständlich überprüft werden, ob die gegebenen Empfehlungen auch umgesetzt wurden. Da die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Institutionen maßgeblich vom jeweiligen Leitungspersonal abhängt, müssen wissenschaftliche Führungspositionen auch ausschließlich durch ausgewiesene Wissenschaftler besetzt werden. Wissenschaftliche Beiräte in den Einrichtungen können einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung leisten. Auch erachten wir es als erforderlich, dass passgenaue Qualitätssicherungssysteme entwickelt werden, die auf validen Indikatoren basieren, zum Beispiel Anzahl und Qualität der Publikationen, Einwerbung von Drittmittelprojekten, Kundenzufriedenheit etc. Viertens wünschen wir uns - die Empfehlung der zweiten Gesamtstellungnahme des Wissenschaftsrats aufgreifend - eine noch stärkere Vernetzung der Einrichtungen untereinander und mit dem nationalen und internationalen Wissenschaftssystem. Dies kann beispielsweise durch Personalaustausch oder gemeinsame Berufungen geschehen. So würde die Sichtbarkeit der Ressortforschung spürbar erhöht und die notwendige Internationalisierung vorangetrieben werden. Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben werden ebenso wie universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen an den Maßstäben wissenschaftlicher Qualität gemessen. Daher gilt es, die Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben als Teil der Wissenschaftslandschaft zu betrachten und im Hinblick darauf Sorge für Rahmenbedingungen zu tragen, die einen fairen wissenschaftlichen Wettbewerb mit universitären und außeruniversitären Einrichtungen ermöglichen. Größere administrative Freiheiten müssen für den jeweiligen Einzelfall geprüft und umgesetzt werden. Im Zuge der Verabschiedung des Entwurfs für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz am 2. Mai 2012 hat die Bundesregierung grundsätzlich ihre Absicht hierzu bekundet. Schließlich fordern wir, dass über die hier vorgestellten Vorschläge zur Weiterentwicklung der Ressortforschung in den künftigen Ausgaben des Bundesberichts für Forschung und Innovation detaillierter berichtet wird. Zu einem umfassenden Bericht zählen mindestens ein Überblick über die Schritte zur Verbesserung der institutionellen Rahmenbedingungen, über Maßnahmen und Ergebnisse zur Qualitätssicherung, die Forschungspläne einzelner Ressorts sowie Evaluierungsschwerpunkte in den Einrichtungen. 2014 soll erstmals über die Anpassung der Liste der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben berichtet werden.

Eckhardt Rehberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003826, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Insgesamt gesehen ist die Qualität der Forschungsleistungen in Einrichtungen, die weitgehend den „Wissenschaftlichen Ressortforschungseinrichtungen“ entsprechen, durchgängig gut bis sehr gut, in einigen Bereichen auch international hervorragend.“ Das schreibt der Wissenschaftsrat selbst in seiner Stellungnahme vom 12. November 2010. Mit dem „Konzept einer modernen Ressortforschung“ der Bundesregierung aus dem Jahr 2007 wurde in den Ressorts ein kontinuierlicher Modernisierungsprozess angestoßen, durch den in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Die Bundesregierung hat auf die zweite Gesamtstellungnahme des Wissenschaftsrats mit einem Bericht zur Weiterentwicklung der Ressortforschung reagiert, welcher dem Haushaltsausschuss am 1. Juli 2011 vorgelegt wurde. Der vorliegende Antrag der Koalition von CDU/CSU und FDP, den der Kollege Schipanski bereits im Detail geschildert hat, verleiht den Handlungsempfehlungen des Wissenschaftsrates nun parlamentarischen Nachdruck und signalisiert, dass die Koalition davon ausgeht, dass die durch den Wissenschaftsrat aufgezeigten Optimierungspotenziale durch die Bundesregierung auch konsequent und zügig genutzt werden und der Modernisierungsprozess fortgeführt wird, um die anerkannt hohe Leistungsfähigkeit der Einrichtungen auch zukünftig zu sichern. Eine Kernkritik der Opposition ist, dass die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes vorerst nicht vom Anwendungsbereich des aktuell vorliegenden Wissenschaftsfreiheitsgesetzes, das wir voraussichtlich in der kommenden Sitzungswoche in erster Lesung beraten werden, erfasst sind. Es wird befürchtet, dass sich die Rahmenbedingungen für die Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben von denen der außeruniversitären Forschungseinrichtungen weiter auseinanderentwickeln. Es stimmt, dass die Ressortforschungseinrichtungen nicht am jährlichen 5-Prozent-Aufwuchs des Pakts für Forschung und Innovation partizipieren. Allerdings profitieren die Einrichtungen vom 6-Milliarden-EuroAufwuchs für Forschung in dieser Legislaturperiode. Ich möchte Sie daran erinnern, das es der schwarzgelben Koalition zu verdanken ist, das Bildung und Forschung höchste Priorität eingeräumt werden. Um zu verdeutlichen, dass die Ressortforschung hiervon nicht abgeschnitten wird, möchte ich Ihnen noch einmal die Verteilung der zusätzlichen Forschungsmittel auf die Ressorts vor Augen führen: 56 Prozent der Mittel entfallen auf das BMBF, 18 Prozent auf das BMWi, 3 Prozent auf das BMVg, jeweils 2 Prozent auf das AA, das BMVBS und das BMU, jeweils 1 Prozent auf das BMELV, das BMG und BMI sowie 14 Prozent auf den Energie- und Klimafonds. Aus dem aktuellen Bundesbericht Forschung und Innovation 2012 lässt sich entnehmen, dass die Sollausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung an Ressortforschungseinrichtungen im Jahr 2012 circa 874 Millionen Euro betragen. Das sind 33 Millionen Euro mehr als im Jahr 2011, was einer Steigerung von rund 4 Prozent entspricht. Selbstverständlich muss es unser Ziel sein, dass die Ressortforschungseinrichtungen im Spannungsfeld von Politikberatung und wissenschaftsbasierter AufgabenZu Protokoll gegebene Reden wahrnehmung gleichberechtigte Partner im Wissenschaftssystem sind. Als Haushälter möchte ich Ihnen jedoch darlegen, warum ich die vorläufige Ausklammerung der Ressortforschung von den Elementen des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes als angemessen betrachte. Vor dem Hintergrund der Heterogenität der Ressortforschungseinrichtungen - 15 Einrichtungen weisen einen Eigenanteil an Forschung am Tätigkeitsspektrum von 50 Prozent und mehr aus, bei 14 Einrichtungen liegt dieser Anteil bei 10 Prozent und darunter - und ihren spezifischen gesetzlich geregelten Aufträgen halte auch ich die vom Wissenschaftsrat vorgeschlagene Ausdifferenzierung in forschungsintensive und administrative Einrichtungen nicht für zielführend. Der Ressortforschung kommt eine Brückenfunktion zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu. Im Unterschied zu anderen Forschungseinrichtungen unterliegen die Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben als nichtselbstständige Behörden besonderen rechtlichen Grundlagen; Forschung und Entwicklung ist in diesen Einrichtung kein Selbstzweck, sondern dient im Kern der Wahrnehmung hoheitlicher Dienst- und Amtsaufgaben, wie beispielsweise die Gewährleistung von Sicherheit in Technik und Chemie durch die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung oder die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere der Infektionskrankheiten durch das Robert-Koch-Institut. Aufgrund der angesprochenen Heterogenität und des geltenden Ressortprinzips, welches besagt, dass die Feststellung des Ressortforschungsbedarf und die Ausrichtung bzw. Weiterentwicklung der Ressortforschung in den Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Ressorts fallen, ist es folgerichtig, dass die zuständigen Ressorts aufgefordert sind, zu prüfen, inwieweit entsprechende Flexibilisierungen in den Bereichen Haushalt, Personal und Bauverfahren auf ihre Ressortforschungseinrichtungen oder auf einzelne Teile angewendet werden können. Die grundsätzliche Absicht hierzu hat die Bundesregierung durch einen gesonderten Beschluss anlässlich der Verabschiedung des Entwurfes für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetzes im Kabinett am 2. Mai 2012 bekundet. Im Einzelnen sollten die Ressorts folgende Maßnahmen prüfen: In Anbetracht des Spannungsverhältnisses zwischen gesetzlichem Stellenabbau und der Erforderlichkeit hoch qualifizierter Experten in den Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben sollte erstens auf die Angemessenheit der Stellenausstattung im jährlichen Haushaltaufstellungsverfahren besonders geachtet werden. Zweitens sollte der Flexibilisierungsbedarf bei der Bezahlung von Beamten und Arbeitnehmern im Bereich des wissenschaftlichen Personals für die Ressortforschungseinrichtungen geprüft werden. Dies beinhaltet die Gewährung von Zulagen als auch die Reaktionsgeschwindigkeit bei der Abwehr von Abwerbeangeboten aus der Wirtschaft oder dem Ausland. Die ressortspezifische Prüfung von Möglichkeiten zur Flexibilisierung ist meiner Ansicht nach ein vernünftiger Kompromiss, der den großen Unterschieden zwischen den Einrichtungen Rechnung trägt und auch im Hinblick auf haushalterische Folgewirkungen das richtige Maß ansetzt. Das Ziel einer gleichberechtigten Partnerschaft gilt nicht nur im Hinblick auf die außeruniversitären Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen, sondern auch im Hinblick auf die ministerielle Verwaltungsebene. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, abgesehen davon, verfügen die Ressortforschungseinrichtungen bereits heute über Möglichkeiten der Flexibilisierung. Gemäß § 5 des Haushaltgesetzes stehen den Einrichtungen Möglichkeiten einer weitgehenden Flexibilisierung von Haushaltsmitteln zur Verfügung, womit sie auf neue Entwicklungen und Erkenntnisse im Forschungsbereich schnell und flexibel reagieren können. Diese werden ressort- und einrichtungsspezifisch genutzt und bei Bedarf angepasst. Dies gilt auch für den Bereich der Beschaffungen. Um international konkurrenzfähig zu sein, müssen die Forschungseinrichtungen wirtschaftlich und zügig die für die Forschungsvorhaben erforderliche Infrastruktur, insbesondere die entsprechenden technischen Gerätschaften, beschaffen können. Die Ressortforschungseinrichtungen können Waren und Dienstleistungen bis zu einem Höchstwert von 25 000 bzw. 30 000 Euro im Rahmen der freihändigen Vergabe einkaufen. Zudem profitieren sie - wie auch andere Forschungseinrichtungen von der sogenannten Forschungsklausel im Vergaberecht, wonach Aufträge bis zum EU-Schwellenwert ohne förmliche Ausschreibung vergeben werden können. Insgesamt kann man festhalten, dass die Ressortforschungseinrichtungen schon heute über gute institutionelle Rahmenbedingungen verfügen, unter denen sie - wie bereits eingangs erwähnt - gute bis international hervorragende Forschungsleistungen erzielen. Die Koalition von CDU/CSU und FDP hat mit dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung beauftragt, die Stärkung der Potenziale der Ressortforschungseinrichtungen weiterhin voranzutreiben und die Leistungsfähigkeit der Ressortforschung stetig weiterzuentwickeln. Ich denke, mit dem vorliegenden Antrag ist es uns gelungen, den zentralen Empfehlungen des Wissenschaftsrats Nachdruck zu verleihen und somit die starke Stellung der Ressortforschung in der nationalen und internationalen Wissenschaftslandschaft auch zukünftig zu erhalten.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit den Ressortforschungseinrichtungen des Bundes beschäftigte sich der Wissenschaftsrat erstmals im Jahr 2004. Bereits in dieser ersten Evaluation hat das Gremium die Rolle der Ressortforschungseinrichtungen grundsätzlich positiv bewertet, aber auch auf Handlungsbedarfe hingewiesen. Schon im Jahr 2007, noch zu Zeiten der Großen Koalition und unter aktiver Einflussnahme der SPD, hat das BMBF ein Papier mit dem Titel „Zehn Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ publiziert, in welchem die Verbesserungsvorschläge des Wissenschaftsrats aufgegriffen und in konkrete Handlungsvorschläge gefasst Zu Protokoll gegebene Reden wurden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass dieses Papier noch heute über die Website des BMBF abrufbar ist. Die inhaltlichen Zielvorgaben für eine politische Weichenstellung hin zu einer zukunfts- und leistungsfähigen Ausrichtung der Ressortforschungseinrichtungen, die den gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird, sollten daher auch den Koalitionsfraktionen hinlänglich bekannt sein. Man könnte demnach annehmen, dass mit einer solchen Vorlage eine politische Umsetzung - vor allem im parlamentarischen Raum - reine Formsache wäre. Liest man aber den vorliegenden Antrag von Union und FDP, muss man mit Enttäuschung feststellen, dass dem nicht so ist. Vorab sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass zwischen Publikation der Leitlinien und dem jetzt vorliegenden Antrag knapp fünf Jahre vergangen sind. Hatte die Union in der letzten Wahlperiode mit der SPD-Bundestagsfraktion noch einen Koalitionspartner an der Seite, der sie dazu drängte, in dieser Frage als ressortführende Partei endlich zu handeln, so muss man heute feststellen, dass ohne den nötigen Druck offenbar alles wesentlich länger dauert. Der Umstand, dass man auf einen Antrag der Regierungsfraktionen in dieser Frage so lange warten muss, ist an sich schon äußerst unbefriedigend, wäre aber hinnehmbar, wenn der Antrag selbst eine inhaltliche Tiefe hätte, die eine solche „Bearbeitungszeit“ rechtfertigen könnte. Mit Ernüchterung muss man aber feststellen, dass der vorliegende Antrag leider substanziell hinter den Leitlinien des BMBF zurückbleibt - er es also nicht vermag, die Mindestzielvorgaben des eigenen Ministeriums zu erfüllen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wird in den „Zehn Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ unter Punkt fünf explizit eine Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses - einhergehend mit der Schaffung von Weiterqualifizierungsmaßnahmen des wissenschaftlichen Personals an den jeweiligen Einrichtungen - gefordert, so findet sich dieser wichtige Punkt im Forderungskatalog des Antrags nicht wieder. Zwar wird im Begründungsteil in dieser Frage noch explizit auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats hingewiesen und festgestellt, dass zur optimalen Ausschöpfung der Potenziale der Ressortforschungseinrichtungen die Nachwuchsförderung eine wichtige Rolle spielt. Doch leider unterlässt es der Antrag, diesen Punkt im Forderungsteil aufzugreifen. Oder um es anders auszudrücken: Es wird ein Bedarf identifiziert; allein die logische Schlussfolgerung aus der Analyse hin zu einer Handlungsempfehlung erfolgt nicht. Daher sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, wie die Regierungsfraktionen dem künftigen Bedarf der Ressortforschung Rechnung tragen möchten, wenn sie den jeweiligen Einrichtungen nicht die Mittel in die Hand geben, qualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs für ihre spezifischen Bedarfe auszubilden? Im Antrag der Koalitionsfraktionen ist zudem die Rede davon, dass die Ressortforschungseinrichtungen - insbesondere solche mit einem hohen Forschungsanteil - „im Wettbewerb zu universitären sowie außeruniversitären … Wissenschaftseinrichtungen“ stehen und sie folglich auch „im Wettbewerb um hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gestärkt werden“ müssen. Zur Bewältigung dieser Aufgabe müssen diese Einrichtungen jedoch über geeignete Möglichkeiten der akademischen Ausbildung verfügen, um entsprechend qualifiziertes Personal möglichst frühzeitig zu rekrutieren und an sich zu binden. Denn die Ressortforschungseinrichtungen werden ihren künftigen akademischen Personalbedarf nicht allein durch die Anwerbung externen Personals decken können. Aber selbst inhaltliche Punkte, die tatsächlich von den „Zehn Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ ihren Weg in den Antrag gefunden haben, werden bei genauer Betrachtung im Spiegel der Regierungsrealität als das enttarnt, was sie sind: reine Lippenbekenntnisse. So findet sich in besagtem Antrag bzw. in den Leitlinien die richtige Einschätzung wieder, dass im Sinne einer stärkeren Vernetzung der jeweiligen Ressortforschungseinrichtungen mit dem Wissenschaftssystem gemeinsame Berufungen mit Hochschulen als „geeignetes Mittel“ anzusehen sind. Nach Auskunft der Bundesregierung auf eine schriftliche Frage des Abgeordneten Klaus Hagemann ist diese Berufungspraxis seit dem Jahr 2007 - also seitdem diese Forderung erstmals in den Leitlinien der Bundesregierung publik gemacht wurde - in lediglich drei({0}) Ressortforschungseinrichtungen erfolgt. Alle drei Einrichtungen fallen in den Geschäftsbereich des BMWi, was ebenfalls für eine nur punktuelle Umsetzung dieser Vorgabe spricht. Auch wenn der Antrag zu der Erkenntnis kommt, dass die „wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Einrichtungen … maßgeblich von deren wissenschaftlichem Leitungspersonal“ abhängt, scheint es die Bundesregierung im Einzelfall besser zu wissen. Als Negativbeispiel sei an dieser Stelle die Berufungspraxis des Bundesministers Ramsauer bei der Ressortforschungseinrichtung Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, BBSR, genannt. Offenbar scheint ebenjener Bundesminister wissenschaftliche Expertise und Exzellenz mit Parteizugehörigkeit zu verwechseln. Man weiß zwar, dass der neue Leiter ein schwarzes Parteibuch hat; eine einschlägige Publikationsliste dieses neu berufenen Leiters der Ressortforschungseinrichtungen ist uns zumindest - und wohl auch der Bundesregierung nicht bekannt. Ob auf diese Weise die gewünschte Vernetzung mit der Wissenschaftslandschaft herbeigeführt werden kann, sei dahingestellt. Dem Ansehen der Ressortforschungseinrichtungen ist eine solche Berufungspraxis jedenfalls nicht dienlich. Die Mängelliste ist noch viel länger, kann aber - mangels Zeit - nicht weiter ausgeführt werden. Abschließend sei aber darauf verwiesen, dass wir uns zu den vom Wissenschaftsrat angeregten wichtigen Fragen hinsichtlich der künftigen eigenen Einwerbung von Drittmitteln und der Koordinierung der Forschungsund Entwicklungstätigkeiten der Ressortforschungseinrichtungen handfeste Handlungsvorschläge gewünscht hätten. Aber bei diesem Wunsch verhält es sich wie bei so manchen Versprechungen dieser Bundesregierung: Sie bleiben unerfüllt. Zu Protokoll gegebene Reden

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Als der Deutsche Bundestag 2004 das Bundesministerium für Bildung und Forschung beauftragte, die Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben systematisch zu evaluieren, hatte die FDP-Bundestagsfraktion bereits 2001 mit einem Antrag auf die Notwendigkeit einer umfassenden Evaluation hingewiesen. Der Antrag wurde abgelehnt; drei Jahre später gelangten SPD und Bündnis 90/Die Grünen dann doch zu der Einsicht, dass eine systemische Evaluation der Ressortforschung notwendig sei. Denn viel zu lange wurden die Ressortforschungseinrichtungen als Teil des Wissenschaftssystems ignoriert und nur in ihrer dienenden Funktion für die Bundesministerien wahrgenommen. Welches wissenschaftliche Potenzial sich tatsächlich dahinter verbirgt, wurde nicht wahrgenommen. Mit der Forderung nach einer systemischen Evaluation der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben lösten wir Liberale in vielen Ressorts auch erstmals einen Denkprozess über die wissenschaftspolitische Stellung ihrer Einrichtungen aus. Als die Evaluation durch den Wissenschaftsrat 2007 dann in einer ersten Gesamtstellungnahme veröffentlicht wurde und die Bundesregierung darauf aufbauend zehn Leitlinien für eine moderne Ressortforschung vorlegte, war dies ein erster wichtiger Schritt zur Stärkung der Ressortforschung. Ein wichtiger Schritt, den wir Liberale als Erfolg über die Fraktionsgrenzen hinweg anerkennen. Für uns Liberale war aber auch klar, dass mit den zehn Leitlinien für eine moderne Ressortforschung aus der Zeit der Großen Koalition der Prozess keinesfalls abgeschlossen sein kann. Denn der Wissenschaftsrat verdeutlichte 2010 mit der zweiten Gesamtstellungnahme, dass die Ressortforschungseinrichtungen als Instrument der Politikberatung weiter gestärkt werden müssen. Dies gelänge, indem sich die Ressortforschungseinrichtungen dem Wissenschaftssystem weiter öffneten, die Einrichtungen näher an das Wissenschaftssystem herangeführt würden und man einen engen Austausch förderte. Mit unserem Antrag „Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben stärken“ greifen wir als christlich-liberale Koalition genau diese Möglichkeit auf. Mit unserem Antrag zielen wir darauf, die Ressortforschung fortzuentwickeln, damit die jeweils zuständigen Bundesministerien für die Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben, für die Erfüllung der Beratungs-, Forschungs- und Dienstleistungsaufgaben, auf hohe wissenschaftliche Kompetenz zurückgreifen können. Um die hohe wissenschaftliche Qualität in den Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben sicherzustellen, muss zuallererst eine grundlegende Überprüfung aller Einrichtungen erfolgen. Diejenigen, die keine Ressortforschungsaufgaben leisten, können nicht als Ressortforschungseinrichtungen erhalten bleiben, sondern sollten wie im Antrag gefordert ins Wissenschaftssystem überführt werden. Alle Einrichtungen, die als Ressortforschungseinrichtungen verbleiben, sollen Forschungsprogramme entwickeln. Darin sollen aktuelle und erwartbare Forschungsbedarfe dargelegt werden. Als einen weiteren zentralen Punkt sehen wir eine stärkere Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem durch Personalaustausch an. Auch Kooperation mit internationalen Partnern sowie gemeinsame Berufungen mit Hochschulen führen zur besseren und stärkeren Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem. In diesem Zusammenhang ist darauf zu achten, dass wissenschaftliche Leitungspositionen zukünftig im Rahmen öffentlicher Ausschreibungen nur noch durch ausgewiesene Wissenschaftler besetzt werden. Für uns Liberale ist dies eines der wichtigsten Elemente im Antrag. Eine hohe wissenschaftliche Qualität der Ressortforschungseinrichtungen ist vor allem dann möglich, wenn diese ausschließlich durch hervorragende Wissenschaftler geführt werden. Ein Beispiel, wie die Besetzung wissenschaftlicher Leitungspositionen umgesetzt werden kann, bietet das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. 2011 wurde bei der Neubesetzung der Leitungsposition der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt eine eigens für diesen Zweck installierte Expertenkommission berufen, deren Empfehlungen Bundesminister Dr. Philipp Rösler uneingeschränkt gefolgt ist. Ziel aller Kooperationen und personellen Verschränkungen ist es, Synergien und Kompetenz für die Ressortforschung zu nutzen und auch dem Wissenschaftssystem einen Zugang zu den Forschungsinfrastrukturen zu geben, die der Bund vorhält. Denn Kooperation und Vernetzung ist nicht eindimensional, sondern verläuft in beide Richtungen. Als Forschungspolitiker sind wir in der christlich-liberalen Koalition an der Stärkung der Hochschulen und des gesamten deutschen Wissenschaftsstandorts interessiert. Deshalb müssen wir allen Akteuren im Wissenschaftssystem Kooperationen und Synergien, mittels einer Kartierung der FuE-Infrastrukturen über einem Anschaffungswert von 1,5 Millionen Euro, eröffnen. Eine solche Kartierung entfaltet dabei eine größere Wirkung, wenn diese gemeinsam mit den Ländern erstellt wird. Ein weiterer wichtiger Punkt aus liberaler Sicht ist die im Antrag adressierte intensiviere Vernetzung der Ressortforschungseinrichtungen mit Partnern auf europäischer Ebene. Denn die deutschen Ressortforschungseinrichtungen müssen noch stärker als Agendasetter in einer europäischen und internationalen Gremien- und Ausschussarbeit auftreten. Mit dem Antrag zieht diese christlich-liberale Koalition den richtigen Ansatz aus der Evaluation der Ressortforschungseinrichtungen und folgt im Übrigen vielen gemeinsamen überfraktionellen Anliegen, die in den letzten Jahren über die Fraktionen hinweg adressiert wurden. Insofern ist die Ablehnung des Antrags durch Oppositionsfraktionen in den Beratungen des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung bedauerlich. Denn es stellt aus deren Sicht einen Rückschritt dar, aus nicht nachvollziehbaren Gründen. Die Punkte, die von SPD und Grünen im Ausschuss angeführt wurden, stechen nicht; denn das Kernanliegen, die Stärkung der Potenziale, wird außer Acht gelassen. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Koalition reagiert mit dem Antrag auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung der Ressortforschung. Diese umfasst derzeit 46 Einrichtungen mit einem Gesamtausgabevolumen von etwa 2 Milliarden Euro. Das Spektrum der Einrichtungen reicht vom Umweltbundesamt über die PhysikalischTechnische Bundesanstalt, das Robert-Koch-Institut bis zum Bundesinstitut für Berufsbildung, BIBB. Der Wissenschaftsrat hat sich in seinen Empfehlungen vor allem für eine stärkere Internationalisierung der Einrichtungen sowie für mehr Transparenz, Profil und intensivere Kooperation mit anderen Wissenschaftseinrichtungen ausgesprochen. Die Koalition beantragt, dass eine klare Zugehörigkeit von Wissenschaftseinrichtungen zur Ressortforschung anhand konkreter Kriterien definiert wird. Nur Einrichtungen, die eigene Forschungstätigkeit vollziehen, sollen benannt werden. Dazu gehören auch solche technisch-administrativen Einrichtungen mit geringeren eigenen Forschungsanteilen. Der Koalitionsantrag bleibt leider die Antwort auf die Frage schuldig, welchen Status Einrichtungen bekommen sollen, die nicht auf die Liste der Ressortforschung aufgenommen werden. Eine solche Klärung ist jedoch notwendig, wenn die vom Wissenschaftsrat empfohlene Klassifizierung vorgenommen werden soll. Wir müssen diesen Einrichtungen, die zumeist sinnvolle, oft hoheitliche Aufgaben leisten, eine Perspektive bieten. Die Einrichtungen der Ressortforschung sollten nach der Vorstellung der Koalition Forschungs- und Entwicklungsprogramme erarbeiten und die von ihnen bearbeiteten Fragestellungen konkretisieren. Zudem sollen die Einrichtungen weiterhin regelmäßig evaluiert werden. Wir finden es verdienstvoll, dass die Koalitionsfraktionen nicht länger auf die Bundesregierung warten und sich dieses Themas im gebotenen Umfang angenommen haben. Fünf Jahre liegen die letzten strategischen Positionierungen der Bundesregierung zurück. Es wird nun Zeit, der erfolgten Evaluierung der Einrichtungen und den Empfehlungen des Wissenschaftsrats endlich Taten folgen zu lassen. Dabei muss natürlich die Rolle des Wissenschaftsrates, der in erster Linie aus Politik und universitärer Wissenschaft zusammengesetzt ist, kritisch berücksichtigt werden. Die Koalition entlässt jedoch die Bundesregierung zu weit aus der Verantwortung. Der Wissenschaftsrat hatte empfohlen, dass nicht die Einrichtungen selbst, sondern vor allem die Bundesregierung ihre Forschungsbedarfe regelmäßig und unter Einbezug externen Sachverstands ermittelt und auch mit dem Parlament diskutiert. Davon ist bei der Koalition jetzt nichts zu lesen; dabei wäre eine solche Debatte der erste Schritt zu mehr Transparenz. Dazu passt leider, dass die Bundesregierung sich aus der Detailsteuerung der Forschungseinrichtungen in Fragen der Haushalts- und Personalführung zurückziehen soll. Dies wird aber nicht mit einer entsprechenden transparenten Steuerung bezüglich der institutionellen Entwicklung, der Kooperationen und der zu bearbeitenden Forschungsfelder verknüpft. Die Linke fordert, das spezifische Anforderungsprofil der Einrichtungen präzise zu definieren und dementsprechend auch die Governancestrukturen auszurichten. Wer autonome Einrichtungen will, muss auch sagen, was er von ihnen erwartet. Erst dann ist es auch möglich, eine nachhaltige Personalpolitik an den Ressortforschungseinrichtungen zu gestalten. Ein planloser Abbau von Personal, wie an vielen Einrichtungen in der Vergangenheit geschehen, ist nicht im Interesse einer zukunftsfähigen Entwicklung der Institute. Zudem ist sicherzustellen, dass die Einrichtungen kritische und für die entsprechenden Ministerien unbequeme Ergebnisse veröffentlichen dürfen. Die Wissenschaftsfreiheit sollte auch für die Ressortforschung und für beauftragte externe Institute ausgelegt werden. Wir erinnern uns an mehrere Fälle eines unwürdigen Gezerres etwa um Studien aus dem Umweltbundesamt. Mehr Transparenz ist insbesondere auch in die Ressortforschung des Verteidigungsministeriums zu bringen. Hier forschen allein 14 Institute mit einem Etat von mehr als 150 Millionen Euro. Das Beispiel der Forschung an Pockenviren im Wehrwissenschaftlichen Institut für Schutztechnologien in Munster zeigt, dass eine Debatte über Regeln guter wissenschaftlicher Praxis auch in der Ressortforschung notwendig ist. Alles in allem: Die Koalition ist gesprungen - leider zu kurz.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Forschungsausschuss hat sich zuletzt im Dezember 2010 mit den Empfehlungen des Wissenschaftsrats befasst. Damals kündigte die Bundesregierung an, im Frühjahr 2011 eine ausführliche Stellungnahme zu diesen Empfehlungen vorzulegen. Davon hat man dann aber nichts mehr gehört. Die Modernisierung und Neustrukturierung der Ressortforschung ist offensichtlich ins Stocken geraten, das Engagement der Bundesregierung offenbar erlahmt. Nachvollziehbar vor diesem Hintergrund, dass die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung jetzt per Antrag dazu auffordern, einige der Vorschläge des Wissenschaftsrats aufzugreifen. Auch ihnen ist aufgefallen, dass die Regierung zu zögerlich ist, den Empfehlungen des Wissenschaftsrats von 2007 und 2010 Konsequenzen und strukturelle Entscheidungen folgen zu lassen. Ich begrüße das Bemühen, der Bundesregierung mehr Dampf bei der Reform der Ressortforschungseinrichtungen zu machen. Wenn die Koalition aber bis heute gebraucht hat, um sich darüber zu verständigen, welche Empfehlungen des Wissenschaftsrats man überhaupt aufgreifen will: Wie lange wird es dann wohl noch dauern, bis es zur Umsetzung kommt? Wir wissen doch alle: Jedes Ressort hockt auf seinen Ressortforschungseinrichtungen wie die Henne auf ihren Küken. Deshalb ist es schade, dass in Ihrem Antrag keinerlei Ideen entwickelt werden, wie denn der Prozess der Umsetzung von Veränderungen in der RessortforZu Protokoll gegebene Reden schung organisiert werden kann. Denn mit Appellen des BMBF an die anderen Ministerien ist es sicher nicht getan. Die Koalition bekennt sich in ihrem Antrag zur regelmäßigen Überprüfung der Forschungsbedarfe. Und sie ermutigt die Bundesregierung, zu überprüfen, welche Einrichtungen zukünftig tatsächlich weiter als Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben geführt werden sollten. Nun hätte ich allerdings erwartet, dass im Antrag konkretere Vorstellungen entwickelt werden, wie ein solcher Entscheidungsprozess organisiert werden kann. Dazu schweigt sich der Antrag jedoch aus. Die Koalition ist also keinen Schritt weiter beim zentralen Thema, innerhalb welcher Strukturen denn nun zukünftig Entscheidungen getroffen werden sollen. Wie kann es da zur Anpassung der Liste der Ressortforschungseinrichtungen bis 2014 kommen, über die im Bundesforschungsbericht dann berichtet wird? Der Antrag gibt keine Antwort darauf, wie zentrale Fragen gelöst werden sollen: Welche Ressortforschungseinrichtungen sollen weitergeführt, welche als Ressortforschungseinrichtungen nicht auf der Liste beibehalten, und welche Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur strukturellen Verbesserung sollen auf welchem Weg umgesetzt werden? Auch in anderer Hinsicht greift der Antrag zu kurz. Bemerkenswerterweise finden zentrale wissenschaftspolitische Entscheidungen der Bundesregierung auf die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes keine Anwendung. Ich nenne hier zum Beispiel das Wissenschaftsfreiheitsgesetz, die forschungspolitische Internationalisierungsstrategie oder die Umsetzung von Gleichstellungsstandards und mehr Chancengleichheit im Forschungsbereich. An der Ressortforschung laufen diese Strategien vorbei, und Ihr Antrag schweigt dazu. Auf welche Einrichtungen welche Regelungen des jetzt im Entwurf vorliegenden Wissenschaftszeitvertragsgesetzes angewendet werden sollten, dazu hätte ich mindestens etwas von Ihnen erwartet. Das ist doch ein offenkundiges Defizit. Wir haben in dieser Woche in einer Anhörung des Forschungsausschusses gehört, dass es an der Zeit ist, beim Thema Gleichstellungspolitik in der Wissenschaft wesentlich mehr Verbindlichkeit und Überprüfbarkeit der Fortschritte durchzusetzen. In der Ressortforschung, wo der Bund direkten Einfluss hat, zeigt er aber leider in dieser Hinsicht bisher wenig Engagement. Der Bund bleibt hier hinter den Erfordernissen zurück und verpasst Chancen, mit gutem Beispiel voranzugehen. Der Wissenschaftsrat plädiert dafür, Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen stärker bei Forschungsaufträgen der Bundesministerien zu berücksichtigen. Zukünftig mehr Forschungsaufträge, Fragestellungen und letztlich auch finanzielle Mittel direkt an Hochschulen, außeruniversitäre Einrichtungen oder auch unabhängige Forschungseinrichtungen zu geben, halte auch ich vom Ansatz her für völlig richtig. Leider fehlt es in dem Koalitionsantrag auch hier an Ideen, wie das umgesetzt werden kann. Ich sehe ein Manko darin, dass der Wissenschaftsrat 2004 einheitliche Kriterien an völlig unterschiedliche Einrichtungen angelegt hat. Dabei macht es offenkundig keinen Sinn, zum Beispiel einer Einrichtung, die vorrangig Genehmigungs- und Kontrollfunktionen hat, aufzuerlegen, dass sie mehr eigenständige Forschung betreiben oder mehr wissenschaftlich publizieren soll. Erst auf Basis einer funktionalen Differenzierung ist es möglich, Forschungsnotwendigkeiten spezifisch zu unterscheiden. Alle Fragen zu klären: „Wo wäre die Vergabe von Forschungsaufträgen und wissenschaftsbasierten Dienstleistungen nach außen sinnvoll? Wo ist eigene Forschung in einer eigenen Einrichtung unerlässlich? Und in welchen Einrichtungen geht es sinnvollerweise vorwiegend um professionelle Beratung, Information und Entscheidung auf Basis des aktuellen Stands der Forschung?“, würde aber auch voraussetzen, die Einrichtungen stärker nach ihren jeweiligen Aufgabenstellungen und Funktionen zu differenzieren. Lassen Sie mich zum Schluss einen bislang unterbelichteten Punkt in den Fokus rücken. Die Einbindung von zivilgesellschaftlichen Stakeholdern in die Entwicklung von Forschungsfragestellungen, der partizipative Dialog mit der Gesellschaft über Forschungsschwerpunkte und Transparenz bzw. Rechenschaftslegung gegenüber der Öffentlichkeit - das sind Anforderungen, die gegenüber Forschung, Wissenschaft und Technologiepolitik immer stärker formuliert werden. Dem kann sich auch und gerade die Ressortforschung nicht entziehen. Ich halte es für nicht zeitgemäß, wenn Ministerien abgeschottet von gesellschaftlichen Debatten über Arbeits- und Forschungsprogramme der Ressortforschungseinrichtungen entscheiden. Besser wäre es, wenn solche Entscheidungen im Dialog und unter Einbeziehung von Stakeholdern, gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen selbst vorbereitet würden. Bei einigen Ressortforschungseinrichtungen findet dies sicher schon statt, es ist aber eine politische Aufgabe, dies zu systematisieren. Der ausstehende Modernisierungsprozess in den Ressortforschungseinrichtungen sollte auch in diese Richtung fortentwickelt werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9912, den Antrag auf Drucksache 17/7183 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen war die SPD, enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linken. Tagesordnungspunkt 25: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Barbara Höll, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wirksamer Schutz für Flüchtlinge, die wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt werden - Drucksache 17/9193 22024 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden sind zu Protokoll genommen.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem vorliegenden Antrag beabsichtigt die Fraktion Die Linke eine quasiautomatische Zuerkennung des Flüchtlingsstatus für alle Lesben, Schwulen, Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuelle, die aus Ländern stammen, in denen die sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität strafrechtlich kriminalisiert wird. Nach Auffassung der Antragsteller stößt diese Gruppe im Asylverfahren auf Vorurteile und sachwidrige Ablehnungsmuster, obwohl diese Gruppe in vielen Staaten massiv in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und sexuelle Selbstbestimmung verletzt würde. Als vorbildlich wird die angebliche Rechtslage in Italien dargestellt, hier genüge „für die Asylanerkennung bereits der Umstand, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivitäten im Herkunftsland kriminalisiert und unter Strafe gestellt sind“. Mit dem Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, gesetzgeberische und andere Maßnahmen zu ergreifen, um wegen ihrer sexuellen Identität Verfolgte wirksam zu schützen. Hierzu soll nach dem Willen der Antragsteller den Betroffenen ein Schutzstatus verliehen werden, wenn sie aus einem Land kommen, in dem „die sexuelle Identität ({0}) kriminalisiert wird“; ein Verweis auf staatlichen Schutz bei nichtstaatlicher Verfolgung und innerstaatliche Fluchtalternativen sowie die Verbergung der sexuellen Identität sollen nicht erfolgen. Die Einschätzung der Glaubwürdigkeit der sexuellen Identität im Asylverfahren solle nur durch entsprechend geschultes Personal erfolgen. Außerdem sollen besondere Schutzvorkehrungen für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuelle in Aufnahme-, Haft- und Unterbringungseinrichtungen geschaffen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke, zum einen halte ich die von Ihnen angeführte Studie für nicht repräsentativ. So basieren die der Studie in Bezug auf Deutschland zugrunde gelegten Erkenntnisse auf einem von einer Nichtregierungsorganisation beantworteten Fragebogen. Die Aussagekraft der Studie halte ich vor diesem Hintergrund für sehr fraglich. Auch die Darstellung der italienischen Rechtslage geht fehl, denn auch in Italien wird nicht jeder als Asylbewerber anerkannt, der aus einem Land stammt, in dem gleichgeschlechtliche Handlungen mit Strafe bedroht sind. Insbesondere aber geht der Antrag von der Zielsetzung über das gebotene und in der Praxis realisierbare Maß an Schutz von Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden, hinaus. In der Konsequenz würde der von Ihnen vorgelegte Antrag auf eine Asylberechtigung aller Menschen hinauslaufen, die aus einem Land stammen, in denen bestimmte „Handlungen“ pönalisiert sind, und die glaubhaft machen, unter einen der betroffenen Tatbestände zu fallen. Sollte, wie in Ihrem Antrag gefordert, die Behauptung bzw. Glaubhaftmachung ausreichen, die von der Asylbehörde im Einzelfall kaum überprüft oder widerlegt werden kann, würde dies zu einer nahezu beliebigen Ausweitung der Gruppe der Asylberechtigten führen. Zudem bestünden Wertungswidersprüche, weil in zahlreichen Ländern auch außer- oder voreheliche Handlungen mit zum Teil drastischen Strafen bedroht sind. Von diesem Tatbestand ist potenziell zumindest jeder ehefähige, auch heterosexuelle Mensch betroffen. Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, den Betroffenen nicht mehr zumutet, Ihre Homosexualität im Verborgenen zu leben, um dadurch eine drohende Verfolgung zu vermeiden. Dass das Bundesamt weiterhin individuell prüft, ob eine Entdeckung der Homosexualität im Herkunftsland beachtlich wahrscheinlich ist und deshalb eine Verfolgung droht, finde ich den Betroffenen gegenüber nicht nur zumutbar, sondern auch legitim und dringend geboten. Wesentliches Element der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus ist immer eine Einzelfallprüfung dahin gehend, ob tatsächlich Verfolgungsgefahr besteht. Eine pauschale Zuerkennung des Flüchtlingsstatus ohne eine solche individuelle Prüfung kommt grundsätzlich nicht in Betracht und würde auch gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Eine Ausnahme wäre nur denkbar, wenn die Person einer abgrenzbaren sozialen Gruppe zuzurechnen wäre - Verfolgungsgrund - und alle Mitglieder dieser Gruppe im Herkunftsland einer so massiven, tatsächlich stattfindenden Verfolgung - Verfolgungshandlung - ausgesetzt wären, dass auch die Verfolgung der betroffenen Person wahrscheinlich wäre. Gleichzeitig dürfte es im Herkunftsland keine zumutbaren Ausweichmöglichkeiten geben. Für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuelle gibt es in der Asylpraxis solche Fälle jedoch bislang nicht. Auch den Verweis auf staatlichen Schutz bei nichtstaatlicher Verfolgung oder der Verweis auf Fluchtalternativen innerhalb der jeweiligen Staaten, in denen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuelle kriminalisiert werden, oder darauf, dass staatliche Behörden homosexuellen-, transsexuellenoder transgenderfeindlich sind, halte ich für zumutbar und legitim. Diese Praxis steht im Übrigen im Einklang mit der EU-Qualifikationsrichtlinie. Nach Maßgabe der EU-Qualifikationsrichtlinie schließt wirksamer staatlicher Schutz die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus ({1}). Vergleichbare Grundsätze gelten für die Asylberechtigung. Wegen der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes - diesen benötigt nur, wer im Heimatstaat keinen Schutz finden kann -, halten wir daran fest. Ihre Forderung nach geschultem Personal ist obsolet, denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bietet umfassende Schulungsmaßnahmen zum Themenkomplex Verfolgung in Anknüpfung an die sexuelle Identität an. Die Entscheider werden sowohl in den damit verbundenen Rechtsfragen als auch im persönlichen Umgang mit den Antragstellern geschult ({2}). Das Bundesamt verlangt grundsätzlich keine sexualwissenschaftlichen Gutachten. Der Asylbewerber muss glaubhaft machen, dass die begründete Furcht vor Verfolgung an seine tatsächliche oder vermeintliche Homosexualität anknüpft. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Bei Homosexualität als Verfolgungsgrund kommt es daher nicht darauf an, ob der Betreffende nach sexualwissenschaftlichen Maßstäben homosexuell ist oder nicht, sondern darauf, ob er im Herkunftsstaat als homosexuell angesehen wird. Eine sexualwissenschaftliche Begutachtung ist vor diesem Hintergrund grundsätzlich nicht zielführend. Auch lehnt das Bundesamt keine Asylanträge allein wegen eines späten Vorbringens ab. Es findet immer eine Prüfung der Gesamtumstände statt. Das Bundesamt ist bei der Bearbeitung von Asylanträgen darauf angewiesen, dass Antragsteller bei der Aufklärung des Sachverhalts mitwirken, dabei selbst ihre Furcht vor Verfolgung begründen und die erforderlichen Angaben machen ({3}). Es wird jedoch berücksichtigt, dass aufgrund soziokultureller Prägungen oder, aufgrund der Tatsache, dass die Intimsphäre betroffen ist, es nicht allen Antragstellern möglich sein wird, von sich aus über Verfolgungen, die an die sexuelle Orientierung anknüpfen, zu sprechen. In Fällen, in denen Anhaltspunkte für eine derartige Verfolgung vorliegen, wird daher auch ohne eigenständiges Ansprechen durch die Antragsteller im Rahmen der Anhörung gezielt, aber mit der gebotenen Sensibilität nachgefragt. Die Anhörung wird von besonders geschulten Entscheidern, den sogenannten Sonderbeauftragten, durchgeführt, wenn Antragsteller dies wünschen oder es geboten erscheint. Als Sonderbeauftragte können je nach Fallgestaltung sowohl weibliche als auch männliche Entscheider eingesetzt werden. Soweit im Asylverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die sexuelle Identität als Verfolgungsgrund vorgetragen wird, erfolgt eine individuelle Prüfung unter Berücksichtigung der bereits vorhandenen oder anlässlich des vorliegenden Einzelfalls recherchierten Erkenntnisse zum Herkunftsland. Für die Hauptherkunftsländer der Asylantragsteller verfasst das Auswärtige Amt mindestens jährlich Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage. In ihnen finden sich jeweils auch Ausführungen zu geschlechtsspezifischer Verfolgung sowie zu einer möglichen Ahndung homosexueller Handlungen. Das Auswärtige Amt wertet für seine Lageberichte verschiedenste Quellen aus, insbesondere auch Berichte von Nichtregierungsorganisationen. Zur Lage von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen berichten zudem die deutschen Botschaften regelmäßig und speziell im Fall aktueller Anlässe. Zuletzt möchte ich noch kurz auf Ihre Forderung nach besonderen Schutzvorkehrungen für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuelle in Aufnahme-, Haft, und Unterbringungseinrichtungen eingehen. Die Unterbringung von Asylbewerbern und Abschiebungshäftlingen fällt in die Zuständigkeit der Länder. Eine gesonderte Unterbringung von Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuellen erfolgt nach den Informationen der Länder in der Regel nicht. Eine Befragung nach der sexuellen Identität wäre diskriminierend und findet daher nicht statt. Infolgedessen ist in der Regel nicht bekannt, ob und wer zum Kreis der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Transund Intersexuellen gehört. Die Länder haben jedoch Schutzmaßnahmen vorgesehen für den Fall, dass einzelne Personen Hilfe benötigen. Die Betroffenen können sich etwa an Sozialarbeiter wenden, erhalten bei Bedarf Einzelzimmer oder werden in andere Einrichtungen verlegt. In keinem Land wurden bislang nennenswerte Probleme bei der Unterbringung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen bekannt. Alles in allem bin ich der Ansicht, dass wir der besonderen Situation und Problematik von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen, die aus Ländern stammen, in denen die sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität strafrechtlich kriminalisiert wird, so gut es überhaupt geht, Rechnung tragen. Aber ich weise noch einmal darauf hin, dass die in Ihrem Antrag enthaltenden Forderungen über das gebotene und in der Praxis realisierbare Maß an Schutz von Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden, hinausgehen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Politisch Verfolgte erhalten in Deutschland Asyl. Ein Mensch wird verfolgt, wenn ihm aufgrund seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder aufgrund von für ihn unverfügbaren Merkmalen, die seine Persönlichkeit prägen, gezielt schwere Rechtsverletzungen zugefügt werden oder zu befürchten ist, dass ihm solche Verletzungen zukünftig zugefügt werden. Die sexuelle Orientierung eines Menschen gehört zu den von ihm unverfügbaren Merkmalen. Menschen, die aufgrund dessen in ihren Heimatländern verfolgt werden, können und müssen in Deutschland Asyl erhalten. Wenn sie nicht aufgrund von Art. 16 a Grundgesetz anerkannt werden, haben sie einen Anspruch auf Prüfung des sogenannten kleinen Asyls, also auf Prüfung der Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ({0}). Dies wurde durch die 2004 in Kraft getretene QualifikationsZu Protokoll gegebene Reden richtlinie, auf die § 60 AufenthG deklaratorisch verweist, konkretisiert. In Art. 10 Abs. 1 d heißt es: „Eine Gruppe gilt insbesondere als soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale … teilen, die so bedeutsam für die Identität sind …, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. … Je nach Gegebenheit im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet.“ ({1}) Für die Anerkennung als Asylberechtigter oder als Flüchtling gibt es bei uns also bereits Gesetze, die dies ermöglichen. Im Asylverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfolgt in diesen wie in allen Fällen politischer Verfolgung eine individuelle Prüfung unter Einbeziehung der vorhandenen oder anlässlich des Einzelfalls recherchierten Erkenntnisse aus dem Herkunftsland ({2}). Unterschiedlich ist die Haltung der deutschen Gerichte in Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Transgender-, Trans- und Intersexuellen-Fällen ({3}). In seiner Entscheidung vom 15. März 1988 ({4}) hat das Bundesverwaltungsgericht klargestellt, dass die Verfolgung wegen Homosexualität ein Asylgrund ist. Allerdings trifft es auch unserer Erkenntnis nach zu, dass einige deutsche Gerichte die drohende Durchsetzung einer exzessiven Strafe im Herkunftsland für die Zuerkennung des Schutzstatus verlangen - so wie es in dem Antrag der Fraktion Die Linke kritisiert wird -, wogegen andere den Schutzstatus in korrekter Anwendung der Qualifikationsrichtlinie gewähren, wenn im Herkunftsland die sexuelle Ausrichtung als solche kriminalisiert wird. Auch wenn wir für eine einheitliche, der Qualifikationsrichtlinie entsprechende Entscheidungspraxis der deutschen Gerichte sind, so sehen wir in diesem Punkt keinen Handlungsbedarf im Sinne der Schaffung neuer Gesetze. Sollte sich die Lage jedoch ändern und es Anzeichen für mehr ablehnende, restriktive oder diskriminierende Entscheidungen und Urteile geben, werden wir diesen Standpunkt überdenken. Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag des Weiteren, die Bundesregierung möge LSBTTI schützen, indem ihnen nicht entgegengehalten werden könne und dürfe, sie sollten eine inländische Fluchtalternative nutzen oder ihre sexuelle Identität zur Vermeidung von Verfolgung verbergen. Der auch von der Fraktion Die Linke zitierten Studie von Sabine Jansen und Thomas Spijkerboer „Fleeing Homophobia“ ist zu entnehmen, dass Deutschland insoweit eine „vorbildliche Praxis“ hat, als bei uns nicht verlangt wird, dass LSBTTI um staatlichen Schutz in Ländern nachsuchen müssen, in denen Homosexualität kriminalisiert wird. In der genannten Studie wird auch gesagt, dass in Deutschland gewöhnlich nicht verlangt wird, LSBTTI müssen um staatlichen Schutz nachsuchen, wenn bekannt sei, dass die Autoritäten homophob seien. Der Verweis eines Antragstellers auf eine bestehende inländische Fluchtalternative ist allerdings grundsätzlich als solche in der Qualifikationsrichtlinie in Art. 8 vorgesehen. Danach ist eine Verfolgung nicht anzunehmen, wenn in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung „besteht und von dem Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält.“ Dies sind allgemeine Grundsätze, die so auch bei der Prüfung eines Antrags auf politisches Asyl ohne LSBTTI-Bezug gelten und geprüft werden. Wenn die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert, LSBTTI dürfe nicht entgegengehalten werden, sie sollten sich in ihrem Heimatland diskret verhalten, um so einer drohenden Verfolgung zu entgehen, so stimmen wir dem zu. In der Qualifikationsrichtlinie (Art. 10 Abs. 1 d wird - wie bereits gesagt - bestimmt, dass eine Gruppe insbesondere dann eine soziale Gruppe ist, wenn die Angehörigen dieser Gruppe Merkmale teilen, die so bedeutsam für die einzelnen Gruppenmitglieder sind, dass sie nicht gezwungen werden sollten, darauf zu verzichten. Ein Diskretionsgebot würde von LSBTTI aber genau das verlangen: den Ausdruck ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität zu verleugnen. Mithin würde ein solches Erfordernis gegen die Qualifikationsrichtlinie verstoßen. Die Bundesregierung hat die diesbezügliche Frage der Fraktion Die Linke nicht deutlich beantwortet in dem Sinne, ob sie das Erfordernis erhebt, sich im Herkunftsland diskret zu verhalten, oder nicht: „Bei glaubhaft gemachter Homosexualität stellt das BAMF im Rahmen einer Prognoseentscheidung fest, ob eine Entdeckung der Homosexualität im Herkunftsland wahrscheinlich ist und ob der Betreffende deshalb mit asylerheblicher Verfolgung rechnen muss.“ Das ist nicht eindeutig. Allerdings sind es die gleichen Maßstäbe, die bei der Prüfung eines Antrags auf Schutz aufgrund einer praktizierten religiösen Überzeugung gelten. Kernstück eines Asylverfahrens ist die Glaubhaftmachung der Verfolgung. Hauptbezugspunkt ist die Aussage des Antragstellers. Aufgrund dieser Aussage hat der Entscheider zu beurteilen, ob die behaupteten Ereignisse stattgefunden haben und was voraussichtlich passieren wird, wenn der Antragsteller wieder in seine Heimat zurück muss. Von LSBTTI wird hier verlangt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung an die tatsächliche oder vermeintliche sexuelle oder geschlechtliche Orientierung anknüpft. Entsprechend der Qualifikationsrichtlinie kommt es dabei nicht auf die „Irreversibilität“ der Homosexualität an, was die Bundesregierung genauso sieht ({5}). Laut der Bundesregierung verlangt das BAMF von LSBTTI auch Zu Protokoll gegebene Reden keine sexualwissenschaftlichen Begutachtungen. Wenn solche Begutachtungen jedoch vom Antragsteller selbst vorgelegt werden, dann werden sie natürlich zugelassen. Da grundsätzlich der Nachweis der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität auf den Angaben des Antragstellers beruht, sollten die Einzelentscheider entsprechend geschult sein, so auch eine in dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke enthaltene Forderung. Hierzu hat die Bundesregierung in der genannten Entscheidung angeführt, dass das BAMF umfassende Schulungen zum Themenkomplex „Verfolgung im Zusammenhang mit der sexuellen Identität“ anbietet und durchführt. Dabei werden die Entscheider sowohl in Rechtsfragen als auch im persönlichen Umgang mit den Antragstellern geschult. Die Frage einer inländischen Fluchtalternative, nach einem diskreten Verhalten und die Kriterien und Maßstäbe, die an die Glaubhaftmachung angelegt werden, sind keine speziell auf LSBTTI bezogenen Fragen. Die zugrunde liegenden Probleme sind verallgemeinerungsfähig und deshalb in Verfahren der Anerkennung und Glaubhaftmachung in Bezug auf jeden Verfolgungsgrund mehr oder weniger vorhanden. Wir brauchen eine allgemeine Debatte über die Ausgestaltung des Anerkennungsverfahrens, innerhalb derer wir darüber sprechen sollten, ob sich die Standards bei der Glaubhaftmachung und der Nachweispflicht ändern sollten; dass man Menschen - zumal wenn sie zum Beispiel traumatisiert sind, und das müssen nicht nur LSBTTI sein - vielleicht auch Zeit geben muss, Dinge zu einem späteren Zeitpunkt vorzubringen, da es ihnen aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit schwerer fallen könnte, bei der ersten Anhörung alles für den Entscheider Wesentliche zu sagen und glaubhaft zu machen. Das Grundanliegen, die Anerkennung der sexuellen oder geschlechtlichen Orientierung als Asyl- und Fluchtgrund, teilen wir, ebenso die Forderung nach einer diskriminierungsfreien Behandlung von LSBTTI im Verfahren. Aus unserer Sicht bedarf es dazu jedoch keiner gesetzlichen Änderung; das „Werkzeug“ ist vorhanden. Ich empfehle daher, sich dem Antrag gegenüber zu enthalten.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Linken ist, wie so viele dieser offenbar zur Glaubenssekte verkommenden Partei, bizarr. Zur Begründung - aber auch in den Forderungen stützt er sich vollständig auf eine niederländische Studie, die unwissenschaftlich und keinesfalls repräsentativ ist. Wenn die Linken den Bundestag auffordern, sich solch ein Elaborat unkritisch zu eigen zu machen, ist es mit der politischen Gestaltungskraft der Linken wohl nicht mehr allzu gut bestellt. Die Linken zitieren in ihrem Antrag nicht zu Unrecht die deutsche Rechtsprechung. So habe das Bundesverfassungsgericht festgestellt, das Asylrecht habe nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen. Warum die Linken in ausdrücklicher Bezugnahme auf die Verfassungsgerichtsrechtsprechung nicht gleich einen Verfassungsänderungsantrag einbringen, wäre ein Rätsel, wenn wir nicht alle wüssten, dass der Bekenntnisakt im Sektierertum das Entscheidende ist. In einer poltischen Partei dagegen kommt es auf politische Gestaltung an. Davor hat die Linkspartei offenbar längst kapituliert. Dass die Linken einmal mehr statt der individuellen Prüfung eines Verfolgungsschicksals gleich pauschal die Bürger ganzer Länder für in Deutschland asylberechtigt anerkennen wollen, ist inakzeptabel. Man kann nur hoffen, dass die vielen gutgläubigen Wählerinnen und Wähler der Linkspartei sich die absehbaren Konsequenzen solcher Forderungen konkret für ihren Wohnort deutlich vor Augen führen. Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die Flüchtlings- und Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und auch die EU-Planungen auf diesem Gebiet kritisch und konstruktiv begleiten.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transund Intersexuelle - ich möchte sie im Folgenden, entsprechend einem in Fachkreisen geläufigen Kürzel, LSBTTI nennen - werden in zahlreichen Ländern der Welt wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt. In einigen Ländern nimmt die Bedrohungslage sogar noch zu. Ich nenne beispielhaft Uganda, wo ein Gesetz zur Einführung der Todesstrafe für „schwere Homosexualität“ im Gespräch ist, und Russland, wo das St. Petersburger Stadtparlament erst vor wenigen Monaten ein Gesetz gegen die „Propagierung“ von Homosexualität verabschiedet hat. Die gesetzliche Verfolgung von einvernehmlicher Homosexualität geht häufig einher mit tief verwurzelten Vorurteilen und Ablehnungen von Homosexualität innerhalb der Bevölkerung. Die Fraktion Die Linke legt nun einen Antrag vor, um den Menschen, die wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt werden und aus ihren Ländern fliehen müssen, einen möglichst wirksamen Schutz in Deutschland zu bieten. Dass Handlungsbedarf besteht, hat unlängst eine wissenschaftliche internationale Studie - „Fleeing Homophobia“ - umfassend belegt. Dass wir etwas tun müssen, wird aber auch offenkundig, wenn man sich aktuelle Behördenentscheidungen, vor allem aber eine zum Teil skandalöse Asylrechtsprechung in Bezug auf LSBTTI konkret ansieht. In unserem Antrag nennen wir zur Illustration beispielhaft ein Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom April letzten Jahres. Das Gericht hielt allen Ernstes eine dreijährige Gefängnisstrafe für einen homosexuellen Soldaten in Syrien für legitim und nicht asylrelevant, weil sie dem „Schutz der öffentlichen Moral“ diene und eine dreijährige Haft auch keine „unmenschliche Strafe“ sei. Das ist leider kein Einzelfall. Zu Protokoll gegebene Reden Viele Gerichte berufen sich auch heute noch auf ein völlig antiquiertes Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts, BVerwG, aus dem Jahr 1988. Darin wird ausgeführt, dass Gesetze zum „Schutz der öffentlichen Moral“ und „der Zwang, sich entsprechend den in dieser Hinsicht herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hiermit nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen“, „keine politische Verfolgung“ darstellten. Das Asylrecht habe auch „nicht die Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen“. Die homosexuellenfeindliche Rechtslage im Iran wurde vom Bundesverwaltungsgericht sogar mit einem Verweis darauf relativiert, dass ja auch in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 eine entsprechende Verbotslage geherrscht habe - die wiederum der im Jahr 1935 ({0}) geänderten Fassung des § 175 im Wesentlichen entsprach, fügten die Richter kommentarlos hinzu. Aber es ist doch unerträglich, wenn verfolgten LSBTTI ein Schutz in Deutschland versagt wird mit dem Argument, dass ihnen im Faschismus und in der Bundesrepublik Deutschland bis vor wenigen Jahrzehnten ein vergleichbares Unrecht angetan wurde! Unerträglich ist auch, dass das Bundesverwaltungsgericht schließlich vorgab, dass eine politische Verfolgung nur dann vorliege, wenn Homosexuellen Strafen drohten, die nicht nur „besonders streng“, sondern „offensichtlich unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt schlechthin unangemessen“ seien. Strafgesetze, die einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen verbieten, sind schlicht und ergreifend diskriminierend und stellen eine schwerwiegende Verletzung eines grundlegenden Menschenrechts dar. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf Schutz der Privatsphäre gilt uneingeschränkt auch für LSBTTI und darf nicht im Rahmen einer auf Abwehr bedachten Asylrechtsprechung relativiert werden. Das Bundesverwaltungsgericht berief sich bei seiner Entscheidung im Übrigen zu Unrecht auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR. Zwar hieß es im Dudgeon-Urteil des EGMR von 1981 tatsächlich, dass „eine gewisse Regelung des männlichen homosexuellen Verhaltens“ „in einer demokratischen Gesellschaft“ gerechtfertigt werden könne. Das BVerwG unterschlug jedoch einen entscheidenden Einschub des EGMR; denn im Originalurteil lautet der Satz wie folgt: „Es lässt sich nicht bezweifeln, dass eine gewisse Regelung des männlichen homosexuellen Verhaltens, wie in der Tat jeder Form sexuellen Verhaltens, mit dem Mittel des Strafrechts als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt werden kann.“ Der EGMR rechtfertigte also strafrechtliche Regelungen jeglichen sexuellen Verhaltens - allerdings nur zum Schutz derjenigen, „die besonders ungeschützt sind, weil sie jung, geistig oder körperlich schwach oder unerfahren sind oder sich in physischer, amtlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit befinden“, und nicht „zum Schutz der Moral“, wie das BVerwG freihändig hinzugefügt hatte. Schließlich lautete das Urteil des EGMR im Ergebnis, dass die damaligen Strafbestimmungen in Irland zu einvernehmlichen homosexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen ungeachtet der dort bestehenden rigiden moralischen Normen einen nicht zu rechtfertigenden menschenrechtswidrigen Eingriff in das Recht des schwulen Klägers auf Achtung seines Privatlebens darstellten, unabhängig davon, wie wahrscheinlich es war, dass diese Gesetzesvorschriften in der Praxis auch tatsächlich zur Anwendung kamen - was im Umgang mit LSBTTI-Flüchtlingen ebenfalls von Bedeutung ist. Ich habe die Bundesregierung gefragt, inwieweit das überkommene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1988 zeitbezogen und unter Berücksichtigung des öffentlichen Wandels im Umgang mit Homosexualität interpretiert und angewandt werden müsse. Die Antwort war, dies gehe nur durch eine neuerliche höchstrichterliche Entscheidung - „es sei denn, der Gesetzgeber regelt die Frage durch Gesetz“. Genau das will die Linke jetzt anstoßen; denn auf eine höchstrichterliche Entscheidung werden wir lange warten müssen, nachdem ein Vorlageverfahren beim Europäischen Gerichtshof zur Klärung dieser Fragen „geplatzt“ ist: Der Kläger wurde als Flüchtling anerkannt, nachdem das Verfahren vom EuGH wie üblich unter Nennung seines Namens öffentlich bekannt gemacht wurde. Der EuGH sollte unter anderem eine ganz entscheidende Frage klären: Ist es zumutbar, Schutz suchende LSBTTI dazu aufzufordern, sich im Herkunftsland „bedeckt“ zu halten, um eine Verfolgung wegen ihrer sexuellen Identität zu vermeiden, und mit dieser Begründung eine Asylanerkennung zu verweigern? Eine solche Zumutung mag für unbefangene Ohren absurd klingen denn wer käme schon auf die Idee, politisch Verfolgten anzuraten, sich politisch diskret zu verhalten, um nicht verfolgt zu werden? Aber bis heute ist genau dies im Umgang mit LSBTTI in Teilen der Asylrechtsprechung üblich. Auch die Bundesregierung war noch bis vor kurzem dieser Auffassung. Umso mehr hat mich gefreut, dass sie auf Anfrage der Linksfraktion bestätigt hat, dass ein solches Ablehnungsargument jedenfalls nach Inkrafttreten der EU-Qualifikationsrichtlinie nicht mehr angewandt werden darf. Erfreulich ist die Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/8357 auch deshalb - zu einer solchen Einschätzung gibt mir die Bundesregierung übrigens nur sehr selten Anlass -, weil sich die Regierung von weiteren alten Zöpfen der Rechtsprechung trennt, etwa wonach drohende Strafen besonders hart und unerträglich streng sein müssten, wonach das Asylrecht nicht hiesige Grundrechtsvorstellungen auf andere Länder übertragen wolle oder wonach eine „irreversible“ Homosexualität nachgewiesen werden müsse. Nur waren die Antworten der Regierung zu den konkreten Handlungsvorschlägen der Studie „Fleeing Homophobia“ nicht so erfreulich, und leider gibt es, wie dargelegt, viele Gerichte, die anders entscheiden. Deshalb haben wir uns zu dem vorliegenden Antrag entschlossen, und zu allen weiteren Details möchte ich Sie auf diesen verweisen. Ich empfehle zudem die sehr gute Überblicksdarstellung zur internationalen Rechtsprechung von Frau Dr. Annegret Titze in der „Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik“ Nr. 4/2012. Zu Protokoll gegebene Reden Ich hoffe, dass wir auf dieser Grundlage dann zu einer ernsthaften und sorgfältigen Beratung unseres Anliegens im weiteren parlamentarischen Verfahren kommen. Ich lade alle anderen Fraktionen ein: Sie müssen ja nicht alle unsere Forderungen im Detail übernehmen, aber im Interesse der Menschen bitte ich Sie, daran mitzuwirken, die geltenden Gesetze, Bestimmungen und Praktiken so zu ändern, dass allen Menschen, die wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt werden und nach Deutschland fliehen müssen, hier ein wirksamer Schutz gewährt wird.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In 75 Staaten werden schwule Männer verfolgt und wird schwule Liebe mit Freiheitsentzug oder sogar mit der Todesstrafe bestraft. Für lesbische Frauen ist es in den meisten dieser Staaten nicht zum Besseren bestellt: Wo die ausdrückliche Bestrafung nicht genannt wird, werden sie häufig mit gemeint und mit verfolgt. Diese Verfolgungen sind Menschenrechtsverletzungen, wie auch die Bundesregierung nicht müde wird zu betonen. Ich habe mit Außenminister Westerwelle viele Briefwechsel geführt, in denen der Minister wiederholt auf Einzelfälle von Verurteilungen reagiert hat und beispielsweise im Fall eines schwulen verfolgten Paares in Malawi auch erwogen hat, den beiden Betroffenen Asyl nach § 22 Aufenthaltsgesetz anzubieten. Dieser Fall hatte international hohe Aufmerksamkeit erzeugt, für die beiden Männer ist eine andere Lösung gefunden worden. Leider haben viele Menschen nicht das Glück, dass internationale Medien über ihr Schicksal berichten. Schwule und Lesben, die in Deutschland Asyl suchen, werden dagegen mit der unbarmherzigen Maschine des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge konfrontiert. Denn unbarmherzig ist es, wie dieses Amt mit Menschen umgeht, die aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt wurden. Gerade aktuell liegt mir ein Ablehnungsbescheid einer lesbischen Iranerin vor, der an diskriminierender Sprache und absurden Forderungen nicht zu übertreffen ist. So könnten „Homosexuelle, die sich im Ausland aufhielten, unbeschadet wieder nach Iran zurückkehren, falls nicht eine sexuelle Verfehlung erfolgt und nachgewiesen sei“. Die Rückkehr sei unproblematisch, falls die Homosexuellen mit „ihren Neigungen nicht auf offener Straße provozierten“. Fazit des Amtes, das dem Bundesinnenminister untersteht: „Die Homosexuellen könnten im Iran ein sicheres Dasein führen.“ Das steht im eklatanten Widerspruch zu der Tatsache, dass im Iran Homosexualität mit der Todesstrafe bedroht wird und diese Strafe auch angewandt wird. Die Menschenrechtsorganisation Hrana spricht von zwei bis fünf Fällen im Jahr 2011, wobei die Dunkelziffer hoch ist; denn im Iran gibt es eben keinen Rechtsstaat wie in Deutschland mit klarer Statistikführung und einer breiten Zivilgesellschaft, die den Staat kontrollieren kann. Herr Außenminister, das BAMF bezieht sich bei all diesen zitierten Äußerungen auf eine Stellungnahme des Auswärtigen Amts aus dem Jahr 2008. Ich frage mich doch, welche Äußerungen in Bezug auf die Sicherheit von homosexuellen Menschen im Iran eigentlich gelten: die offiziell gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit vorgetragenen menschenrechtlichen Bedenken oder die geheim gehaltenen Stellungnahmen gegenüber dem BAMF? Wir werden prüfen müssen, wie solche Einschätzungen zustande kommen und wer dafür Verantwortung trägt. Diese eben zitierten Stellen aus dem Bescheid machen aber auch deutlich, wie lebensfremd und menschenfeindlich die Entscheidungen des Bundesamts sind. De facto wird hier gesagt: Homosexuelle sollen doch einfach aufhören, homosexuell zu sein, dann passiere ihnen schon nichts. Damit wird der Sinn des Asylrechts und des Flüchtlingsschutzes ausgehöhlt und ins Gegenteil verkehrt. Denn nach derselben Logik könnten verfolgte Christen im Irak einfach aufhören, ihre christliche Religion zu praktizieren, und könnten politisch Verfolgte aufhören, ihre Meinungsfreiheit zu nutzen. Die Menschenrechte sind aber unteilbar. Es ist deswegen richtig, wenn die Linkspartei in ihrem Antrag fordert, dass eine Abschiebung von homosexuellen Menschen in Länder, die Homosexualität kriminalisieren, generell unterbunden werden muss. Ich begrüße den vorsichtigen Positionswechsel der Koalition in dieser Frage, wie er sich in der Antwort der Bundesregierung in Drucksache 17/8357 andeutet. Ich erwarte, dass wir hier in den weiteren Beratungen zu einer besseren Verständigung kommen. Der Antrag behandelt auch Fragen, die den Umgang mit homosexuellen Flüchtlingen im Zuge des Verfahrens thematisieren. Es ist richtig, dass die Glaubhaftmachung von Homosexualität nicht immer einfach nachzuprüfen ist. Eine Beweiserhebung im Herkunftsland wäre verfassungswidrig, ein Beweis über Gutachten medizinischer Art ist nicht möglich. Deswegen müssen wir zu einem Verfahren kommen, dass besonders auf entsprechend geschultes Personal hier in Deutschland abstellt. Dabei sollten die Lesben- und Schwulenverbände und -beratungsstellen eine Schlüsselfunktion erhalten, denn sie können vorurteilsfrei und präzise entsprechende Fragen stellen und überprüfen. Mich freut, dass in diese Debatte wieder Bewegung kommt. Die Koalition hat an verschiedenen Stellen angedeutet, zu Änderungen im Asylverfahren kommen zu wollen. Ich hoffe, dass wir in den Ausschüssen zu konkreten Ergebnissen kommen, um den Umgang mit homosexuellen Flüchtlingen zu verbessern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Das ist beschlossen. Tagesordnungspunkt 26: Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus Weinberg ({0}), Michael Kretschmer, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Sylvia Canel, Dr. Martin Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Neumann ({1}), Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der Lehrerausbildung - Drucksache 17/9937 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Haushaltsausschuss Die Reden sind zu Protokoll genommen.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Qualität eines Bildungssystems hängt entscheidend von der Qualifikation der Lehrerschaft ab. Gute Schule und gute Lehrer bewirken guten Unterricht! Lehrer fungieren als Vermittler zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und der jungen Generation. Insbesondere sind sie es, die jungen Menschen neben den Eltern das Rüstzeug mitgeben, dass diese sich in die Gesellschaft einbringen und einen erfolgreichen Berufsweg beschreiten können. Und nicht zuletzt sollen sie Motivator sein, um die Lebensgestaltung junger Menschen positiv zu beeinflussen. Wir alle in diesem Hause haben hier unsere persönlichen Erfahrungen und könnten sofort eine Lehrerin bzw. einen Lehrer nennen, der uns im Leben motiviert hat. Wir haben gute bis sehr gute Lehrer. Sie sind zu einem großen Teil sehr engagiert und verstehen es, ihre Schülerinnen und Schüler zu motivieren. Aber das Anforderungsprofil an die Lehrerschaft hat sich besonders in den vergangenen Jahren gewandelt. Verschiedene internationale und nationale Vergleichsstudien haben die enormen Herausforderungen beschrieben, denen sich die deutschen Schulen und damit vor allem die Lehrerschaft gegenübersehen. Insbesondere die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen in Verbindung mit den Herausforderungen der Integration sowie die verstärkt differenzierten Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft machen eine Anpassung der Lehrerausbildung erforderlich. Ebenso ist belegt, dass die Qualität des Unterrichts durch die Lehrkräfte ein entscheidender Faktor für das Kompetenzniveau und die Entwicklung von Schülern mit unterschiedlichen Voraussetzungen ist. Eine weitere Herausforderung liegt in der Zusammensetzung der Lehrerschaft: Über die Hälfte sind älter als 50 Jahre. Die unter 40-Jährigen bilden mit 27 Prozent hingegen eine relativ kleine Gruppe. Unter 30 Jahre sind lediglich 6 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer. Eine ältere Lehrerschaft bedeutet zwar nicht automatisch einen Verlust an Unterrichtsqualität, doch eine gut durchmischte Zusammensetzung in der Altersstruktur der Lehrer verstärkt auch einen größeren Erfahrungsund Kompetenzaustausch. Es ist erstrebenswert, den Lehrerberuf attraktiver zu machen, um mehr Abiturienten für ein Lehramtsstudium zu gewinnen. Der Lehrerberuf muss für junge Menschen wieder erstrebenswerter werden! Eine weitere Herausforderung ist die begrenzte Mobilität von Lehramtsstudierenden und aktiv tätigen Lehrkräften zwischen den einzelnen Bundesländern. Durch die nach wie vor uneinheitliche Anerkennung von Studienleistungen und Abschlüssen der verschiedenen Bundesländer existieren unnötige Hemmnisse, die einen konstruktiven bundesweiten Austausch didaktischer und fachlicher Expertise innerhalb der Lehrerschaft erschweren. Daher sollte es auch Ziel sein, die Mobilität angehender und aktiver Lehrer zu fördern. Dies im Einklang mit dem föderalen Bildungssystem zu gestalten, ist Herausforderung und Chance zugleich. Dem Wandel dieser Anforderungen und den aktuellen Herausforderungen muss die Bildungspolitik Rechnung tragen. Die kontinuierliche Verbesserung Deutschlands im PISA-Ranking spricht zwar dafür, dass in den Schulen vieles gut läuft, aber es gibt Verbesserungsbedarf. Daher müssen auch Strukturen und Inhalte der Lehrerbildung überprüft und verbessert werden, sei es im fachlichen, didaktischen oder auch im methodischen Bereich. Für eine Verbesserung der Lehrerbildung bedarf es eines Steins des Anstoßes, der die Öffentlichkeit und die Lehrer der Zukunft für die Notwendigkeit exzellenter Lehrerbildung sensibilisiert. Ein solcher erster Schritt und Impuls kann - wie bei den Hochschulen bereits bewiesen - in einer Exzellenzinitiative liegen. Die von uns auf den Weg gebrachte „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ hat zum Ziel, die Lehrerausbildung und -weiterbildung fortzuentwickeln. Ziel ist es, durch Förderung universitärer Initiativen, die in einem Wettbewerb bewertet und gefördert werden, nachhaltige Impulse zu setzen - Impulse dafür, die Bedeutung der Lehrerbildung an Hochschulen aufzuwerten und sie aus der „Nische“ ins Zentrum der universitären Profilbildung zu rücken. So soll ein Qualitätsschub in Forschung und Lehre erreicht werden. Damit soll die Lehrerbildung in ihrer ganzen Breite weiterentwickelt werden, und das Schulsystem soll ebenso profitieren. Die Exzellenzinitiative soll im Rahmen eines Wettbewerbs stattfinden. Dabei können einzelne Hochschulen oder Hochschulen im Verbund Zukunftskonzepte einreichen, die eine praxisorientierte und forschungs- bzw. evidenzbasierte Lehrerbildung zum Inhalt haben. Die Auswahl erfolgt anhand verschiedener Kriterien wie dem aktuellen Stand der Forschung oder klarer Berufsfeldorientierung. Ebenso soll das Konzept die Fachdidaktik stärken und, damit einhergehend, eine fundierte Wissensbasis für die angehenden Lehrer schaffen. Die Bewertung erfolgt durch eine externe Jury. Die ausgewählten Hochschulen können für fünf oder zehn Jahre gefördert werden und sollten sich dazu verpflichten, das Konzept nach Auslaufen der Förderphase institutionell zu sichern. Die ausgewählten Konzepte werden so zu Leuchttürmen der Lehrerbildung und können als solche flächendeckend wahrgenommen werden. Gerade von einem Leuchtturmprojekt wie einer Exzellenzinitiative für die Lehrerbildung kann eine Strahlkraft für die gesamte Schullandschaft ausgehen, von der eine positive Wirkung für das gesamte Bildungswesen ausgehen kann. Wir wollen sehr gute Schüler, sehr gute Lehrer, sehr gute Bildung - mit der Exzellenzinitiative für Lehrerbildung kommen wir diesem Ziel wieder ein Stück näher. Die Bildungsrepublik Deutschland nimmt langsam Gestalt an.

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Guter Unterricht ist und bleibt das Kernziel von Schulentwicklung. Er muss strukturiert sein, herausfordernde Lerninhalte bieten und in einem unterstützenden Klima stattfinden. Dies belegen zahlreiche Ergebnisse der Bildungsforschung. Der demografische Wandel und eine bessere Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie die Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems sind nur einige der Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Auch der ausgeprägte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen bleibt eine große Herausforderung. Die Hälfte aller befragten Lehrer beklagt, dass sie durch ihre Ausbildung nur unzureichend auf den Unterricht vorbereitet werden. Das ist das Ergebnis einer Studie des Allensbach-Instituts, die im April 2012 veröffentlicht wurde. 20 Prozent dieser Befragten empfanden den Einstieg ins Berufsleben als sehr schwierig. Die Qualität des Unterrichts durch die Lehrkräfte ist jedoch ein entscheidender Faktor für das Kompetenzniveau, die Herausbildung von Schülerinteressen und insbesondere für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit unterschiedlichen sozialen und ethnischen Hintergründen. PISA hat gezeigt, dass sich die unterschiedliche Lehrerausbildung in den einzelnen Bundesländern mit einem Leistungsunterschied der Schüler von bis zu einem ganzen Schuljahr auswirkt. Die COACTIVStudie hat des Weiteren bewiesen, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen fachlichem, fachdidaktischem und pädagogischem Wissen von Lehrern einerseits und der Effektivität ihres Unterrichts auf der anderen Seite gibt. Um die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems zu steigern, muss somit das Wissen und das Know-how des Lehrerberufs in allen Abschnitten der Ausbildung erhöht werden. Zunächst ist es wichtig, geeignete und motivierte Studienanfänger zu finden. Leider ist das Berufsbild des Lehrers in den letzten Jahren mit einer Abnahme des Ansehens und Respekts bei gleichzeitiger Zunahme der Anforderungen konfrontiert. Dies muss sich ändern - die Profilbildung des Berufs muss gestärkt werden. Zweitens müssen die Studierenden früh mit der Realität des Klassenzimmers konfrontiert werden. Es kann nicht sein, dass ein zukünftiger Lehrer erst am Ende seiner Studienzeit Praxiserfahrung sammelt. Daher ist es essenziell, dass die vom Bund geförderten Projekte immer in engem Austausch mit einer oder mehreren Schulen stehen. Zuletzt muss dafür gesorgt werden, dass Lehrer durch Fort- und Weiterbildungsangebote im Sinne eines lebenslangen Lernens gefördert werden. Deshalb sprechen wir uns in unserem Antrag für einen Qualitätswettbewerb für eine exzellente Lehrerbildung aus. Dabei sollen besonders herausragende Konzepte der Lehrerausbildung ausgezeichnet werden und dadurch die Einführung der prämierten Ideen oder die Stärkung bereits vorhandener Strukturen ermöglicht werden. Die Hochschulen konkurrieren um eine Fördersumme von insgesamt 16 Millionen Euro im Jahr. Dabei ist uns wichtig, dass sich nicht nur bereits exzellente Hochschulen bewerben, sondern auch solche Hochschulen eine Gelegenheit bekommen, die über gute Entwicklungspotenziale verfügen. Es sollen auch nicht nur vereinzelte Fakultäten gefördert werden, sondern die Hochschulen können sich mit ihren Konzepten zu Verbünden zusammenschließen. Daher läuft der Vorwurf der Grünen, die Regierung würde nur Exzellenz fördern und nicht auf eine Breitenwirkung setzen, meines Erachtens ins Leere. Selbstverständlich bleiben die Länder in der Verantwortung, die Hochschuen in vollem Umfang zu unterstützen. Dabei können Sie aber auf die geförderten Best-PracticeModelle des Bundes zurückgreifen. Es liegt dann in ihrer Hand diese in voller Bandbreite zu implementieren. Ich möchte nochmal daran erinnern, dass die Bundesregierung so viel für die deutschen Hochschulen tut wie keine Regierung zuvor. Durch die Hochschulpakte I und II sowie den Qualitätspakt Lehre werden die Forschungs- und Lehrbedingungen an deutschen Hochschulen nachhaltig verbessert. Worauf ich zuletzt noch eingehen möchte und was mir als Bildungspolitiker aus Bayern wirklich am Herzen liegt, ist die länderübergreifende Angleichung der Lehramtsstudien. Bayern kann dabei als Vorbild für einen sehr hohen Standard, wie es die TUM School of Education beweist, dienen.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem Antrag „Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der Lehrerausbildung“ nehmen die Koalitionsfraktio- nen auf, was seit längerem in der deutschen Kultus- ministerkonferenz und auch der gemeinsamen Wissen- schaftskonferenz von Bund und Ländern erarbeitet wird, und bringen es in die parlamentarische Mitberatung ein. Wir begrüßen es, dass es hierzu jetzt eine parlamentari- sche Diskussion gibt, zumal wir zu etlichen Punkten, was die Analyse und auch die Bewertung der Aufgaben- stellung angeht, Übereinstimmungen haben. Erstens. Natürlich stimmen wir darin überein, dass entscheidend für die Qualität von Schulbildung die Qua- lität der Lehrkräfte ist. Lehrkräfte sind entscheidende pädagogische Bezugspersonen, sie wirken als Persön- lichkeit, sie organisieren Lern- und Sozialprozesse, sie vermitteln Wissen und Fertigkeiten auf möglichst hohem Niveau in kind- und jugendgerechter Form. Gute Schule muss gute Lehrkräfte gewinnen, gute Hochschule den Lehrkräften in Aus- und Weiterbildung das optimale Rüstzeug mitgeben und gute Lehrkräfte auch zur Koope- ration im engeren schulischen Umfeld mit anderen Pro- fessionen, mit Eltern wie Schülern verhelfen. Sie müssen auch darauf vorbereitet und darin unterstützt werden, Schule als Teil eines kommunalen, eines sozialen Umfel- des gut zu organisieren. Zweitens. Der Lehrerberuf ist ein ausgesprochen schöner Beruf. Er ist auch ein ausgesprochen fordernder Beruf, weshalb wir nachdrücklich unterstreichen, was Zu Protokoll gegebene Reden auch an Anerkennung gegenüber den Lehrkräften in der Öffentlichkeit wieder stärker aufgebaut werden muss. Gute personale Autorität, Zufriedenheit mit dem Beruf, die dann auch auf Schüler, Kolleginnen und Kollegen und Eltern ausstrahlen kann, fordert auch von uns als politische Meinungsträger und Multiplikatoren, diesem Beruf immer wieder zur Anerkennung zu verhelfen. Das muss erst recht auch dafür gelten, der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften, nicht zuletzt an den Hochschulen, ein wesentlich höheres Gewicht zu geben. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Hochschulen, hervorragende Lehrkräfte auszubilden. Es ist keine Ne- benaufgabe, es ist nicht etwas, das die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit von Hochschulen einschränkt, son- dern ganz im Gegenteil: Eine gute Hochschule ist auch eine gute Lehrerausbildungsstätte. Drittens. Die Analyse, die von den Koalitionsfraktio- nen dem Antrag vorangestellt worden ist, weist auch auf eine quantitative Problematik hin. Allerdings kommt der Antrag an dieser Stelle mit einer gewissen Verzögerung, denn nicht zuletzt die Gewerkschaft Erziehung und Wis- senschaft oder auch einzelne Bildungsökonomen und Wissenschaftler wie Klaus Klemm und andere weisen schon seit Jahren darauf hin, dass in Deutschland zu we- nig Lehrkräfte ausgebildet werden und wir von daher in ein dramatisches Nachwuchsproblem an den Schulen hineinlaufen werden. Will man allerdings guten Nach- wuchs gewinnen, müssen nicht nur die materiellen und ideellen Rahmenbedingungen stimmen, was die öffent- liche Anerkennung und Motivierung angeht, sondern auch die Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen vorgehalten werden und dieses rechtzeitig, mit langem zeitlichen Vorlauf und in der entsprechenden Qualität. Viertens. Übereinstimmung besteht schließlich darin, dass der Beruf der Lehrkraft immer anspruchsvoller wird aus pädagogisch-psychologischen Gründen, im ge- sellschaftlichen Umfeld und auch in der Neuorgani- sation von Schule. Sie weisen in Ihrem Antrag richtig darauf hin, dass die Umsetzung der UN-Behinderten- rechtskonvention erfordert, die stärkere Inklusion als wesentlichen Gegenstand von Lehrerausbildung für alle verpflichtend aufzubauen. Sie haben auch in Ihrem An- trag ganz in Übereinstimmung mit der sozialdemokrati- schen Betrachtung aufgeführt, dass die alten Strukturen der Lehrerausbildung für die Zukunft nicht mehr ausrei- chen, was die Rekrutierung und Motivierung von Studie- renden angeht, die studienbegleitende Beratung, die Verstärkung der Praxisbezüge und den Ausbau der Pra- xisphasen bis hin zu neusten Erkenntnissen in der Di- daktik und Methodik, die für moderne Lernarrange- ments in Schule einzubringen sind und schließlich auch die soziale und personale Kompetenz. An dieser Stelle haben wir Übereinstimmungen, so wie es sie auch in der Kultusministerkonferenz und der gemeinsamen Wissen- schaftskonferenz gibt. Wenn diese Übereinstimmungen langsam gewachsen sind, so sind Wegmarken hierfür sicherlich die ersten großen Studien zur empirischen Bildungsforschung, die sich mit Kürzeln wie TIMMS und PISA verknüpfen. Im- merhin sind das Studien, die zum Teil bereits über ein- einhalb Jahrzehnte zurückliegen. Als der sogenannte PISA-Schock ausgelöst wurde, hatte sich die damalige Kultusministerkonferenz auf acht Handlungsfelder ver- ständigt, an denen in Zukunft gemeinsam und länder- übergreifend auch im Zusammenwirken mit dem Bund vorrangig gearbeitet werden müsste, um die evident ge- wordenen Schwächen des deutschen Schulsystems auf- zuarbeiten und zu verändern. Die Lehrerausbildung ist hierbei allerdings ein großer Restant geblieben, und es ist deshalb höchste Zeit, dass auf der Kultusminister- ebene, aber eben auch auf der Bundesebene diesem wichtigen und zentralen Handlungsfeld mehr Aufmerk- samkeit gewidmet wird. Erste Verabredungen in der KMK aus dem Jahr 2004 über gemeinsame Standards sollen hier nicht verschwiegen werden, aber auch dies ist schon acht Jahre her und die Probleme sind gewiss nicht kleiner geworden. Weshalb? Erstens. Zum einen gibt es immer noch keine ausrei- chende Konsensbildung und Konvergenz in Bezug auf die verschiedenen Schulstrukturen, die in den einzelnen Bundesländern angeboten werden, sondern im Gegen- teil erleben wir in Teilen sogar noch eine weitere Ausdif- ferenzierung. Grundsätzlich muss Lehrerbildung aber auf eine Praxis ausgerichtet sein, die sich nicht an erster Stelle über Schulstrukturen definiert, sondern über Al- tersphasen, das heißt Entwicklungsphasen von Kindern und Jugendlichen und bestimmte pädagogisch-schu- lische Leitprinzipien. Diese Betrachtung darf deshalb unseres Erachtens auch in der Zukunft einer länderüber- greifend ausgerichteten Lehrerausbildung nicht ausge- spart werden. Allerdings gibt es hier Tabus, und Tabus führen bekanntlich dazu, dass sich Entscheidungen auch hinziehen bzw. verdrängt werden und letztlich rudimen- tär bleiben. Zweitens. Gute Lehrerbildung erfordert einen hohen Einsatz an den Universitäten wie in den Praxiseinrich- tungen. Und in einer Situation, in der die Hochschulen nicht zuletzt wegen der begrüßenswerten Zuwächse an Studienanfängerzahlen sowieso schon eine starke zu- sätzliche Bildungsleistung erbringen, gibt es auch unter dieser Überlastungswahrnehmung eine gewisse Distanz zu einer deutlichen qualitativen Verbesserung und auch einem quantitativen Ausbau von Lehrerbildung. Nur kann diese Überlastungssituation nicht der Maßstab bleiben, unter dem wir in Zukunft diese zentrale Rolle der Lehrer- ausbildung weiterhin bewerten. Gerade weil die Hoch- schulen schon so viel leisten, müssen sie an dieser Stelle noch eine besondere Unterstützung erfahren. Drittens. Niemand soll ja drumherumreden: Gerade im Schulbereich und in Verbindung damit auch in der Lehrerausbildung gibt es noch eine Kleinstaaterei in Deutschland, die, historisch gewachsen, dennoch nicht mehr in diese Zeit passt: Statt der Konkurrenz muss es hier zur Kooperation kommen, dies aber eben nicht nur in Bezug auf die Schulen unmittelbar, sondern auch auf die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Weil aber der Abschied von einem konkurrierenden Föderalismus hin zu einem kooperativen Föderalismus vielen Beteilig- ten nicht leicht fällt, ist hier sicherlich zu viel Zeit ins Land gegangen, die guten Einsichten der PISA-Reform auch schnell in Taten umzusetzen. Kooperation heißt hier aber auch, sich offen zu zeigen gegenüber den in- Zu Protokoll gegebene Reden haltlich wie materiell - sprich haushalterisch - gegebe- nen Möglichkeiten des Bundes als einem weiteren Mit- verantwortlichen, damit Bildung in Deutschland und speziell Lehrerbildung zu einem guten Ergebnis ge- bracht wird. Das gute Ergebnis wird sich dann auch da- ran bemessen, dass es für die Lehrkräfte selbst keine aus der Zeit gefallenden Einschränkungen gibt und eine wechselseitige Anerkennung ihrer Qualifikation zwi- schen den einzelnen Bundesländern sowie die Möglich- keiten ihrer Mobilität in Deutschland und mit einer langfristigen Perspektive auch über Deutschland hinaus Standard wird. Nun zu Ihrem Antrag im Einzelnen, wobei hier sicher- lich auch Differenzierungen und kritische Bewertungen stärker deutlich werden. Erstens. Sie beziehen sich bei Ihrem Antrag, dem von daher auch nur eine begrenzte Originalität zuzuspre- chen ist, im Wesentlichen auf die Eckpunkte für die in- haltliche Ausrichtung der Bund-Länder-Initiative Leh- rerbildung, wie sie von der Kultusministerkonferenz, KMK, bis hin zur Gemeinsamen Wissenschaftskonfe- renz, GWK, vorbereitet worden ist. Dort ist davon die Rede, dass Schwerpunkte einer solchen gemeinsamen Initiative sein sollten: a) die Profilierung und Optimie- rung der Strukturen der Lehrerbildung an den Hoch- schulen, b) die Qualitätsverbesserung des Praxisbezugs in der Lehrerbildung, c) die Verbesserung der profes- sionsbezogenen Beratung und Begleitung der Studieren- den in der Lehrerbildung, d) die Fortentwicklung der Lehrerbildung in Bezug auf die Anforderungen der He- terogenität und Inklusion, e) die Fortentwicklung der Fachlichkeit, der Didaktik und der Bildungswissenschaften. Wir stimmen dem gerne zu, möchten hier aber ergänzen, dass natürlich auch ein großer Bereich von Veränderung in den nächsten Jahrzehnten, der in Deutschland längst überfällig ist, die Entwicklung von Schule hin zur Ganztagsschule ist. Deutschland hat hier einen gewaltigen Nachholbedarf und steht in seiner Struktur der Halbtagsschule vollkommen isoliert in Europa und auch darüber hinaus da. Erste Ansätze, hier Ganztagsschule, und zwar gute Ganztagsschule, aufzubauen, sind seit der Regierung von Gerhard Schröder und Edelgard Buhlman in Bewegung gekommen. Nun müssen sich das veränderte Bild von Schule und auch die veränderten Anforderungen an die Lehrkräfte natürlich auch in einer reformierten Lehrerausbildung in angemessener Form wiederfinden, bei der sich Lehrkräfte nicht nur von vornherein in der Ausbildung darauf einzustellen haben, dass sie als zentrale Beteiligte an einem Ganztagslernund Lebensort Schule ganz anders gefordert sind. Sie müssen auch in einer solchen erneuerten Lehrerausbildung bzw. Weiterbildung immer wieder darauf vorbereitet bzw. dafür qualifiziert werden, mit viel mehr Beteiligten zu kooperieren, neue Ideen von Schule zu entwickeln und zu leben, als sie Schule im klassischen Klassenzimmerunterricht über lange Jahre selbst noch kennengelernt haben. Von SPD-Seite im Bundestag aus wünschen wir uns jedenfalls, dass diese große Zukunftsaufgabe der guten Ganztagsschule gleichberechtigt neben die andere Zielsetzung tritt und dieses auch mit einschließt, den Lehrerberuf aus seiner isolierten Position zu befreien und als Teil eines Gesamtberufsfeldes Schule zu verstehen. Zweitens. Die Frage der Schulstruktur soll nicht im Vordergrund der Lehrerausbildung stehen, gerade weil die Lehrertätigkeit vom einzelnen Kind und Jugendlichen her zu sehen ist, im emotionalen Bezug, in der pädagogischen Führung, in der Fachdidaktik und in der Anlage von Unterricht. Deshalb darf die Lehrerausbildung in der Zukunft die Schulstrukturfrage nicht ganz aussparen. Wir beobachten jetzt schon in der Lehrerausbildung in vielen Bundesländern, dass diese nach Überwindung des klassischen mehrgliedrigen Schulsystems zunehmend auch alters- und entwicklungsstufenbezogene Schulstrukturen in die Lehrerausbildung mit hineinnehmen. Dies wird umso wichtiger werden, wenn gleichzeitig ein offener Arbeitsmarkt für Lehrer geschaffen werden soll, der nicht nur aus Sicht der einzelnen Lehrkräfte, sondern auch aus Sicht der Bundesländer und letztlich auch mit der europäischen Perspektive immer wichtiger wird. Viele Bundesländer gehen deshalb schon dazu über, neben dem Lehramt für die Grundschule ein Lehramt für die Sekundarstufe I und II an Gemeinschaftsschulen, Stadtteilschulen, Gesamtschulen und Gymnasien auszuweisen und darüber hinaus auch noch die Lehrämter an den Schulen für besondere Förderbedarfe sowie den beruflichen Schulen. Weil alle Beteiligten wissen, dass dieses ein sehr schwieriges Feld ist, darf es dennoch nicht aus der Entwicklung von zukunftsbezogener Lehrerausbildung ausgespart werden, sondern die Perspektiven, die sich mit einer stärker koordinierten und stärker konsensorientierten Lehrerausbildung mit Blick auf die Konsensbildung in der Schulstruktur absehbar ergeben, müssen jetzt schon in die Verbesserung der Lehrerausbildung in Qualität und Quantität mit einbezogen werden. Schließlich werden Lehrer nicht für eine kurze Berufsphase, sondern für einen Arbeitsplatz, der in der Regel über 35 Jahre im Berufsfeld Schule wahrgenommen wird, ausgebildet. Hier Offenheit und Anschlussfähigkeit in einer harmonisierten Struktur der Lehrerausbildung mit zu befördern, sollte deshalb auch ein Anliegen dieser Initiative für die Stärkung der Lehrerausbildung in Deutschland sein. Natürlich sind hier an erster Stelle die Länder gefordert, aber wenn es schon zu einem kooperativen Vorgehen von Bund und Ländern in der Verbesserung der Lehrerausbildung kommt, darf es hier auch keine Tabus mehr geben, was die Erwartungen durch den Bund als Teilnehmer angeht. Allein der demografische Wandel mit der Verringerung der Schülerinnen- und Schülerzahlen zwingt hier alle klassischen Schulideologen aus ihren Schützengräben heraus und zu einer stärker konsensorientierten gemeinsamen Politik. Die Lehrerbildung kann hier hinter nicht zurückstehen und muss im Gegenteil sogar Antreiber für eine solche veränderte Politik sein. Damit beantwortet sich auch, dass natürlich eine Bund-Länder-Initiative zur Stärkung der Lehrerausbildung auch immer mit einschließen muss, das Anerkennungsverfahren der jeweiligen in den einzelnen Bundesländern erreichten Qualifikationen so zu verändern, dass die teilweise wiZu Protokoll gegebene Reden dersinnigen Hürden und Abgrenzungen einer wahrlich vernünftigen und betroffenen- wie schulzentrierten Offenheit weichen. Drittens. Wenn die Koalitionsfraktionen die Überschrift wählen „Initiative zur Exzellenz in der Lehrerausbildung“ und auch an mancher anderer Stelle im Antrag, hier allerdings weniger in den Forderungen als vielmehr im Begleittext, assoziativ an die Exzellenzinitiative im Hochschulbereich, den Wettbewerbscharakter dieser Exzellenzinitiative und an das Paradigma der Leuchttürme-Philosophie anknüpfen, so ist dies nicht unser Verständnis, und wir glauben, auch nicht das Verständnis der KMK und der gemeinsame Geist aus der GWK von Bund und Ländern. Uns muss es darum gehen, die Lehrerausbildung generell in Deutschland zu verbessern und nicht einzelne Hochschulen als quasi Exzellenzhochschulen mit der Lehrerausbildung zu identifizieren. Wir möchten deshalb nachdrücklich dafür werben, dass Sie in Ihrem Verständnis dabei bleiben, dass ein Element der Verbesserung der Hochschullehrerausbildung an den 120 Hochschulen, die wir in Deutschland haben, die Identifikation von Best-PracticeBeispielen sein kann, dass es aber im Übrigen nicht nur um einen Wettbewerb gehen darf, in dem eine Prämierung von als besonders gut identifizierten Lehrerausbildungen stattfindet, sondern ein Prozess organisiert wird, der Breitenwirkung entfaltet und am Ende alle Hochschulen in Deutschland und die gesamte Lehrerausbildung erreicht. Über die einzelnen Bedingungen eines solchen Qualitätswettbewerbs wird deshalb auch noch im Einzelnen zwischen den Bundesländern und auch zwischen Bund und Ländern zu diskutieren und zu verhandeln sein. In den Ziffern 2 und 3 Ihres Antrags haben Sie dazu einige Vorschläge gemacht. Ob es klug ist, hier als Bundestag die Regierung anzuweisen, und dies schon zum jetzigen Zeitpunkt, in dieser Weise den Qualitätswettbewerb auszugestalten, ohne es mit den Partnern in den Ländern bereits abschließend geklärt zu haben, ob diese Form der Eingrenzung tatsächlich das angestrebte Ziel ist, nämlich eine Stärkung der Lehrerausbildung mit mehr Qualität und Quantität insgesamt in Deutschland zu erreichen, sei deshalb dahingestellt. Viertens. Natürlich spielt auch das Geld eine große Rolle. Der Hinweis in Ihrem Antrag, dass unter strikter Beachtung der verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse haushalterisch Vorsorge getroffen werden soll, dass der Wettbewerb für eine Laufzeit von fünf Jahren gesichert ist und die Fördermaßnahmen im kommenden Jahr beginnen können, kann einerseits als Selbstverständlichkeit gesehen werden andererseits aber auch als Hinweis darauf, wie verwirrend hier die Regierungsfraktionen bisher agieren. So gibt es Zeitungsmeldungen, zum Beispiel aus dem „Hamburger Abendblatt“ vom 12. März 2012, wonach die Fraktionen der Union und der FDP im Wettbewerb angeblich planen, dass sich die Hochschulen um eine Fördersumme von jeweils 16 Millionen Euro im Jahr für die einzelne Hochschule bewerben sollen. Davon sollen nach der Berichterstattung aus dem „Hamburger Abendblatt“ 10 bis 16 solcher sogenannten Zukunftskonzepte gefördert werden. Zugleich wird von der „Süddeutschen Zeitung“ am 21. April 2012 berichtet, dass das Programm über zehn Jahre laufen und eine Größenordnung von 500 Millionen Euro haben solle. Damit würden pro Jahr 50 Millionen Euro zur Verfügung stehen, und man muss nicht Adam Riese bemühen, um in diesen verschiedenen Verlautbarungen, die offensichtlich sehr mediengeleitet in die Öffentlichkeit gebracht worden sind, auf der Hand liegende Widersprüche zu erkennen. Und wenn wir dann als Abgeordnete noch wissen, dass die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP eine mittelfristige Finanzplanung vorgelegt hat, bei der die Haushaltsmittel des Bundes ab 2014 für Bildung und Forschung rückläufig sein sollen, bleibt erst recht die Frage, was eigentlich die finanzielle bzw. materielle Substanz ist, die seitens der Bundesregierung für dieses Projekt der Lehrerausbildung mobilisiert werden soll. So sind wir gespannt, auch in den weiteren Beratungen im Ausschuss Näheres zu hören. Allerdings sollten die CDU/CSU- und FDP-Fraktionen zusammen mit ihrer Regierung vorher mehr Klarheit in sich selbst gefunden haben, statt hier weiter zur Verwirrung beizutragen. Dass eine solche Initiative zur Verbesserung der Lehrerausbildung von Bund und Ländern einer ausreichenden finanziellen Absicherung bedarf, steht für die SPD außer Zweifel. Vielleicht kann hier auch ein neues Nachdenken bei den Koalitionsfraktionen über das unsinnige Kooperationsverbot nachhelfen, das immer noch von Ihnen im Bereich der hochschulischen und der schulischen Bildung hochgehalten wird. Es ist doch im Gegenteil so, dass wir hier keine minimale, nur auf ganz konkrete Probleme abzielende Lösungsstrategie brauchen, sondern eine umfassende Öffnung neuer Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern in der Finanzierung und in der Gestaltung von Bildung an Schule und Hochschule. Wie sehr dies notwendig ist, zeigt sich auch in der Initiative der Verstärkung der Lehrerausbildung in Qualität und Quantität. Als SPD im Bundestag werden wir diesen Prozess im Bundestag konstruktiv begleiten.

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bildung ist einer der Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Folglich muss eine hohe Qualität des deutschen Bildungssystems gewährleistet sein, um den wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt unserer Gesellschaft zu garantieren. Sie wissen, dass Deutschland eine Bildungsrepublik ist. Genau aus diesem Grund müssen wir uns auch im internationalen Wettbewerb behaupten können und auf dieser Grundlage das gesamte Bildungssystem sowie dessen Qualität mit Blick in die Zukunft stetig verbessern. Es ist richtig, dass die Dozenten, Ausbilder und Ausbilderinnen sowie Lehrerinnen und Lehrer in diesem Prozess eine besondere und wichtige Rolle spielen. Die Entwicklung des Bildungssystems wird in der heutigen Zeit maßgeblich vor drei gesellschaftliche Herausforderungen gestellt: den demografischen Wandel, die Inklusion und die Digitalisierung. Der demografische Wandel spielt in dem gesamten Prozess der Verbesserung der Qualität des BildungssysZu Protokoll gegebene Reden tems in Deutschland eine Schlüsselrolle. Es ist bekannt, dass in den folgenden Jahren viele Lehrerinnen und Lehrer aufgrund des Erreichens des Rentenalters aus dem Schuldienst ausscheiden werden. Schon heute ist beinahe jede zweite Lehrkraft über 50 Jahre und älter. Damit bilden die 50- bis 60-Jährigen die größte Altersgruppe im Schuldienst. Im Vergleich dazu gibt es nur einen geringen Anteil von jungen Lehrkräften. Dies ist zum einen auf die Länge der Hochschulausbildung zurückzuführen, zum anderen wurden aufgrund der demografischen Entwicklung weniger Lehrkräfte eingestellt. Für das Jahr 2020 wird ein Rückgang der Zahl der Schülerinnen und Schüler um 2,2 Millionen erwartet. Junge Leute müssen daher motiviert werden, den Beruf des Lehrers zu erlernen. Um dieses Ziel zu erreichen und die Motivation der potenziellen neuen Lehrkräfte zu steigern, müssen die Ausbildungsbedingungen verbessert werden. Auch für die Problematik der Inklusion muss eine Lösung gefunden werden. Konkret bedeutet das einen veränderten Umgang mit der Leistungsdifferenzierung, eine Abkehr von homogenen Lerngruppen, eine Hinwendung zu individuellen Lernarrangements und eine Anpassung pädagogischer Unterstützungsleistungen. Deutschland setzt sich für eine inklusive Pädagogik ein und muss folglich eine Neuausrichtung der Lehrerausbildung und Schulorganisation vornehmen. Dies setzt voraus, dass die jeweilige Schule sich an die Förderbedürfnisse der ihr anvertrauten Schüler anpasst und die Lehrkräfte umfassend qualifiziert werden. Die Digitalisierung fordert das Bildungssystem ebenfalls heraus. Die Lehrerausbildung muss sich demzufolge an die aktuelle Bildungstechnologieentwicklung anpassen, um die daraus entstehenden wichtigen Perspektiven für den Unterricht und die Kooperation mit den Unternehmen verstärkt nutzen zu können. Die gesamte Gesellschaft verändert sich. Da darf die Lehrerausbildung nicht bleiben, wie sie ist. Gute Lehrer sind der Grundpfeiler eines gelingenden Bildungssystems. Ihr Engagement verdient höchste gesellschaftliche Anerkennung; denn die Qualität im Klassenzimmer wird maßgeblich durch die Qualität der Lehrerausbildung bestimmt. Guten Unterricht gibt es nur mit guten Lehrern. Doch die Lehrerausbildung wird in Deutschland vernachlässigt. Die Zersplitterung der Lehrerausbildung ist ein weiteres ärgerliches Hemmnis. So wie ein Arzt und ein Jurist muss auch ein Lehrer mit seinem abgeschlossenen Studium in allen Bundesländern gleichermaßen anerkannt und angestellt werden können. Auch soll die Ausbildung sich mehr an den Erfordernissen des Unterrichtens orientieren. Wir wollen Lehrer, die Fachleute vor Ort sind, ernst nehmen, indem wir ihnen mehr Gestaltungsfreiheit übertragen. Ebenso gibt es einen Zusammenhang zwischen Schülerleistung und Autonomie: Je eigenständiger die Schule, desto besser die Leistung der Schüler. Darum: Wir benötigen Freiheit und Stärke vor Ort. Mehr Bildungsqualität braucht ein klares Bekenntnis zur Eigenständigkeit der Schulen mit den Möglichkeiten der Leistungsdifferenzierung. Die Ziele dieser Initiative sind vielseitig und umfangreich. So soll die Struktur der Lehrerbildung an den Hochschulen im Sinne einer Profilbildung befördert werden. Dies soll die Sichtbarkeit sowie die Lehrerbildung stärker an den Hochschulen verankern. Insgesamt soll eine Stärkung der Lehrerausbildung vorgenommen werden. Ein weiteres Ziel der Initiative ist die Weiterentwicklung von Konzepten der Lehrerbildung. Das bedeutet, eine fachliche, fachdidaktische und pädagogische Ausbildung zu garantieren. Ferner soll die Verzahnung von Lehrerausbildung und pädagogischer Forschung verbessert werden. Des Weiteren sollen an ausgesuchten Standorten die finanziellen Kapazitäten aufgestockt und damit die Grundlage zu einer deutlichen Qualitätssteigerung geschaffen werden. Ein Problem stellt im Moment noch das BundLänder-Programm dar, da dieses noch zur Verhandlung aussteht. Durch sogenannte Leuchtturmprojekte sollen die künstlichen Barrieren zwischen den Bundesländern eingerissen werden. Die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse muss nämlich gegeben sein. Betrachtet man die Initiative insgesamt, so ist dies der erste Schritt in die richtige Richtung.

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag zur Verbesserung der Lehrerausbildung auf den Weg gebracht. Es ist erfreulich, dass sie die Bedeutung einer guten Lehrerausbildung für eine gute Schule und gute Bildungsabschlüsse von Lernenden begreifen, und es ist erfreulich, dass sie zu der Einsicht gekommen sind, dass es nicht reicht, diese Aufgabe den Ländern allein zu überlassen. Immerhin wurde der vor ziemlich genau zwei Jahren eingebrachte Antrag der Fraktion Die Linke für ein Fachkräfteprogramm Bildung und Erziehung noch mit dem Verweis auf den Hochschulpakt und die Zuständigkeit der Länder abgelehnt. Man sah keinen Handlungsbedarf. Das scheint sich nun geändert zu haben, und das ist ein ermutigendes Zeichen. Dass mehr als die Hälfte der Lehrerinnen und Lehrer heute älter als fünfzig Jahre sind und damit ihr Verbleib im Schuldienst endlich ist, war allerdings schon damals bekannt. Nun fällt der Koalition auf, dass trotz des Hochschulpakts zu wenige Lehrerinnen und Lehrer nachwachsen, denn nur 27 Prozent sind insgesamt unter 40 Jahre alt. Auch das ist für die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen keine Neuigkeit, sehen sie es doch jeden Tag in der eigenen Schule. Auf der anderen Seite wurde auch von der Seite der Politik in den letzten Jahren zu wenig getan, die Anerkennung des Lehrerberufes zu verbessern. So geht immer noch das Sprichwort herum, dass Lehrer vormittags Unterricht und nachmittags frei hätten. Abfällige Äußerungen über Lehrerinnen und Lehrer wie die eines uns allen gut bekannten ehemaligen Ministerpräsidenten Zu Protokoll gegebene Reden eines Bundeslandes haben dabei offensichtlich nachhaltige Wirkungen hinterlassen. Vielleicht reagiert die Koalition ja auch erst, wenn sich die Wirtschaft in Bildungsangelegenheiten zu Wort meldet: So hat eine Studie des Allensbach-Instituts im Auftrag der deutschen Wirtschaft jüngst herausgefunden, dass sich zwar die Anerkennung des Lehrerberufes in den letzten Jahren geändert hat, dass aber die Anziehungskraft des Lehramtsberufes nach wie vor gering ist. Darum wundert es nicht, dass zu wenige Studierende mit der Absicht ein Studium beginnen, am Ende Lehrerin oder Lehrer zu werden. Und wenn schon, dann doch eher für Grundschulen oder besser noch Gymnasien, aber keinesfalls für Hauptschulen oder zusammengefasste Haupt- und Realschulen, die es nun in irgendeiner Weise in den meisten Bundesländern geben wird. Zu meiner Zeit als Landespolitikerin konnte man die Studierenden eines Jahrgangs für ein Lehramt an Sekundarschulen an einer Hand abzählen. Das hat sich noch nicht wesentlich verbessert. Ein Grund ist sicher auch, dass die Länder über viele Jahre hinweg eine verfehlte Einstellungspolitik praktiziert haben, weshalb vor allem im Osten ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer verstärkt in die finanzstärkeren Westländer gegangen sind, seit die Länder auch die Hoheit über die Besoldung von Lehrkräften in eigener Regie regeln. Tatsächlich gibt es inzwischen zwar eine größere Anerkennung der Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern, aber an der problematischen Arbeitssituation in den Schulen hat sich nichts zum Positiven gewendet, im Gegenteil. Lehrerinnen und Lehrer werden mit immer mehr Vorschriften, Programmen, abzurechnenden Verpflichtungen überhäuft, sodass für das Kerngeschäft Unterricht zu wenig Zeit bleibt. Auf der anderen Seite haben die Hochschulen zu wenig getan, um die Qualität der Lehrerausbildung zu befördern und mit der Einführung des Bachelor-MasterSystems ist die berufliche Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern noch unübersichtlicher geworden, wurden die Bildungswissenschaften vernachlässigt usw. Es gibt also allen Grund, etwas für die Lehrerausbildung zu tun, zumal dieser Ausbildungsbereich für Hochschulen nicht drittmittelfähig ist und damit kein Geld bringt. Doch was fällt der Koalition ein? Sie beschließt: „Wir machen einen Wettbewerb.“ „Wer bildet die besten Lehrerinnen und Lehrer aus?“ Das soll es richten. Die am besten ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer werden dann mit Kusshand von den Ländern aufgenommen, die am besten bezahlen können. So ist das halt in einer vom Wettbewerb geprägten Gesellschaft, und warum soll es in der Schule anders sein? Länder, die ärmer sind, können sich dann die Lehrkräfte leisten, deren Ausbildung eben noch nicht so gut war. Was ja nicht an ihrer persönlichen Eignung liegen muss, sondern vielleicht an der Kurzsichtigkeit oder auch nur der Unterfinanzierung von Hochschulen. Die Lehrenden und die Lernenden in den Ländern, die nicht die am besten ausgebildeten Lehrkräfte abbekommen, sind erneut die Gelackmeierten. Die Koalition behauptet in ihrem Antrag, dass die unterschiedliche Unterrichtsqualität von den unterschiedlichen Unterrichtsmustern abhänge. Was immer sie darunter versteht, es erklärt nicht den Hang zum Wettbewerbsföderalismus als Heilmittel für die Mängel in der Lehrerausbildung in Qualität und Quantität in der Fläche und in den Bildungsergebnissen in Deutschland. Ein solcher Wettbewerb führt auch nicht zur Verringerung der hohen Zahlen von Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne Abschluss, die heute in zahlreichen Bundes- und Landesprogrammen wenigstens teilweise aufgefangen werden. Es führt dazu, dass die Schere weiter aufgeht, ganze Generationen von Lehrenden und Lernenden abgehängt werden, dass die wirtschaftliche und soziale Lage zwischen den Bundesländern weiter auseinanderdriftet. So kann man das richtig erkannte Problem nicht lösen. Eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwischen den Bundesländern und Regionen und gleiche Teilhabe in der Bildung wird sich so ebenso wenig herstellen lassen wie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen an den Schulen außerhalb der Gymnasien. Was von dem Antrag der Koalition bleibt, ist neben der Einsicht, dass es in der Lehrerausbildung ein Problem gibt, aus dem sich der Bund nicht herausmogeln kann, die Erkenntnis, dass der alte biblische Spruch „Wer hat, dem wird gegeben“ für die Koalition immer noch politischer Leitfaden ist. Der Bund hat eine gesamtstaatliche Verantwortung, auch im Bildungsbereich. Sonst könnte man den Art. 7 auch gleich aus dem Grundgesetz entfernen, nach dem das Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht. Der Bund muss, gemeinsam mit den Ländern auch gesamtstaatlich handeln. Wenn das Kooperationsverbot in der Bildung dabei hinderlich ist, dann muss es weg.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Image der Lehrer in Deutschland hat sich verbessert. In der Studie „Lehre({0}) in Zeiten der Bildungspanik“ des Allensbach-Instituts, die im April 2012 veröffentlicht wurde, landeten die Lehrer im Bezug auf Ansehen auf dem vierten Platz hinter Ärzten, Krankenschwestern und Polizisten. In derselben Studie beklagte sich die Hälfte der befragten Lehrkräfte, dass sie sich durch ihre Ausbildung nur unzureichend auf ihre Arbeit vorbereitet fühlten. Unter den jungen Lehrern, die bis zu fünf Jahre im Beruf sind, waren es sogar 62 Prozent. Das zeigt überdeutlich: Eine bessere Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ist eine beständige Herausforderung für alle Länder und Hochschulen. Ein Förderprogramm von Bund und Ländern zur Verbesserung der Lehrerbildung kann ein sinnvoller Ansatz sein, gute Beispiele zu unterstützen, die dann idealerweise Impulse für die Verbesserung der Lehrerbildung an anderen Hochschulen auslösen. Gute Schulen brauchen gute Lehrerinnen und Lehrer. Die konkreten beruflichen Anforderungen an sie wachZu Protokoll gegebene Reden sen und müssen bei einer Erneuerung der Lehrerausbildung maßgeblich sein. Im Schulalltag sind hohe fachliche Qualifikationen genauso gefordert wie zunehmend anspruchsvolle didaktische Qualitäten oder diagnostische und evaluative Kompetenzen. Neben erzieherischen und betreuenden Kompetenzen benötigen Lehrkräfte die Fähigkeiten zur Qualitätsentwicklung und klugen Selbstverwaltung. Studium und Referendariat müssen darauf dringend besser vorbereiten und können so die Basis schaffen für pädagogische Eigenverantwortung, hohe Unterrichtsqualität und ein demokratisches Schulklima mit sozialem Zusammenhalt. Wer höchste Lernleistungen und Chancengleichheit will, muss alle Schülerinnen und Schüler nach ihren individuellen Potenzialen fördern und darf kein Talent vergeuden. Alle Lehrerinnen und Lehrer müssen deshalb im professionellen Umgang mit Heterogenität ausgebildet sein, um produktiv mit der gewachsenen Vielfalt ihrer Schülerschaft umgehen zu können. Unterschiedliche soziale Lebenslagen in unserer Einwanderungsgesellschaft erfordern eine schulische Lehrund Lernkultur, die Integration und Inklusion in den Mittelpunkt guter pädagogischer Praxis rückt. Eine reformierte Lehrerausbildung ist daher ein Schlüssel für beste Bildung vor Ort. Sie muss Teamfähigkeit stärken, da selbstständige Ganztagsschulen mit Personalmix diese brauchen, und sie sollte Lehrkräfte stärker zur Interdisziplinarität befähigen: Es braucht nicht nur die Fähigkeit zur Verständigung zwischen Schulfächern, sondern unter anderem auch mit Sozialarbeit, Gesundheitsprävention und kommunaler Quartiersentwicklung. Denn Schulen werden heute vielerorts zum zentralen Baustein lokaler Bildungslandschaften. Diesen modernen Ansprüchen genügt der Antrag der Regierungsfraktionen nicht. Es ist zweifelhaft, dass die von Union und FDP skizzierte „Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der Lehrerausbildung“ zu einer flächendeckenden Verbesserung der Lehrerbildung in Deutschland führen wird. Erstens scheint das Prinzip der individuellen Förderung in den Köpfen und Herzen von CDU/CSU und FDP immer noch nicht angekommen zu sein. Zweitens beschränken sich die Regierungsfraktionen fast völlig auf die Ausbildung von Lehrkräften, ihre Fort- und Weiterbildung wird nur alibimäßig erwähnt. Dabei zeigen die Zahlen über Alterskohorten, dass hier ein riesiger Bedarf liegt. Niemand kann und darf warten, bis es zu einem kompletten Austausch der Lehrkräfte gekommen ist. Fort- und Weiterbildung müssen gleichrangig zur Ausbildung von Lehrkräften gesehen werden. Drittens ist es erstaunlich, dass Schwarz-Gelb das Kooperationsverbot in der Bildung nicht anrührt, dann aber in ihrem Parlamentsantrag formuliert, die Bundesregierung solle mit dem Qualitätswettbewerb darauf hinwirken, „dass auch die länderübergreifende Anerkennung von Ausbildung und Abschlüssen in der Lehrerausbildung und damit eine verbesserte Mobilität von Studierenden und Lehrkräften als Ziele des Wettbewerbs verankert werden“. Damit erkennen auch die Fraktionen von Union und FDP die dringende Notwendigkeit an, dass Bund und Länder in einem zentralen Bereich der Bildungspolitik kooperieren. Es geht ihnen also nicht nur um abstrakte Exzellenz der Hochschulbildung für eine Fächergruppe, sondern es geht auch ihnen um die praktische Verbesserung der Schulen. Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP: Seien Sie ehrlich, öffnen Sie die Verfassung auch im Bildungsbereich, und ermöglichen Sie dort endlich Kooperation! Bundesbildungsministerin Schavan muss endlich aus ihren Fehlern lernen und mehr Steuerungs- und Verhandlungsgeschick beweisen, damit mehr Bund-LänderKooperation möglich wird und eine echte Offensive für die Lehrerbildung herauskommt. Sonst wird Schavan einmal mehr als Ankündigungsministerin dastehen, wie bei den mickrigen Deutschlandstipendien, dem ad acta gelegten Zukunftskonto für jedes Kind, den zusammengeschrumpften lokalen Bildungsbündnissen oder dem gescheiterten Plan einer „Akademie für die Lehre“.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9937 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Sie sind einverstanden. Das ist so beschlossen. Tagesordnungspunkt 27: Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen - Drucksache 17/9947 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Ausschuss für Tourismus Hier sind die Reden zu Protokoll genommen.

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Ausbau des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen ist sinnvoll und notwendig, sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr. Wir sind uns einig, dass es große Defizite bei der grenzüberschreitenden Eisenbahninfrastruktur gibt und dass sich teilweise die Fahrzeit mit den Zügen in Polen derzeit mit dem Pkw nicht messen kann. Aber was die Grünen nicht sagen, ist, dass derzeit in Polen auf sehr vielen Strecken Ausbau- und Modernisierungsarbeiten stattfinden. Dies führt dazu, dass die Züge große Umwege machen müssen, um an ihr Ziel zu gelangen. Die Modernisierung in Polen wird sehr zügig vorangetrieben. Schwerpunkt liegt eindeutig auf den Strecken, die Teil des transeuropäischen Verkehrsnetzes sind. Außerdem wird in die technische Aufrüstung des Bestandnetzes investiert. Im Jahr 2012 wurden in Polen Schienenverkehrsprojekte im Wert von rund 4,5 Milliarden Euro allein zwischen dem zentralen Eisenbahninfra22038 strukturunternehmen PkP Polskie Linie Kolejowe und verschiedenen Auftragnehmern beschlossen. Dieser enorme Umfang der Sanierungsmaßnahmen verursacht leider zahlreiche Verzögerungen durch die Bauarbeiten, da die Bahnen die Baustellen weiträumig umfahren müssen. Mit einer deutlichen Verbesserung wird ab dem Jahr 2014 gerechnet. Die schwarz-gelbe Bundesregierung und insbesondere unser Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer streben eine Fortführung der intensiven und guten Zusammenarbeit zu grenzüberschreitend bedeutsamen Infrastrukturprojekten mit der polnischen Seite an. Der Zustand der grenzüberschreitend bedeutsamen Schienenprojekte begründet einen weiteren Investitionsbedarf auf beiden Seiten, der bisher und künftig im Bundeshaushalt angemessen berücksichtigt wird. Es bedarf hierfür jedoch internationaler Abkommen, in der Regel Staatsverträge, für deren Abschluss erfahrungsgemäß lang dauernde Abstimmungsprozesse erforderlich sind. Im Rahmen der deutsch-polnischen Regierungskonsultationen im Juni 2011 wurde eine gemeinsame Projektliste bezüglich Bau und Betrieb aller Verkehrsträger mit grenzüberschreitender Bedeutung vereinbart, deren Umsetzung von deutscher Seite nachdrücklich verfolgt wird. Aktuell verhandelt werden Ressortabkommen zum Ausbau der Eisenbahnverbindung Berlin-Stettin und zum Eisenbahnbetrieb. Ich möchte die wichtigsten Ausbaustrecken erörtern: ABS Berlin-Stettin:Die Ausbaustrecke Berlin-Stettin ist ein internationales Vorhaben des Bedarfsplans Schiene. Folgende Maßnahmen sind geplant: Ausbau auf eine Streckengeschwindigkeit von bis zu 160 Stundenkilometern, durchgehende Elektrifizierung, Erhöhung der Kapazität durch Blockverdichtung, langfristig und bei entsprechender Entwicklung des Verkehrsaufkommens die Herstellung der durchgehenden Zweigleisigkeit, Investitionsvolumen: rund 104 Millionen Euro ohne Zweigleisigkeit. Nach mehrjährigen Verhandlungen und einer Unterbrechung von nahezu zwei Jahren durch die polnische Seite wurde im Sommer 2011 ein überarbeiteter polnischer Entwurf bilateral erörtert. Der ursprünglich angestrebte Fertigstellungstermin der Elektrifizierung 2016 ist nicht mehr umsetzbar. Über die Inhalte besteht inzwischen weitestgehend Einvernehmen. Eine abschließende Einigung zum Realisierungszeitraum war bisher nicht möglich. Aus haushalterischen Gründen ist eine Fertigstellung aus deutscher Sicht nicht vor 2020 zu erwarten. Nach erneuten Gesprächen unter anderem auf Ministerebene im Mai/Juni 2012 soll nun gemeinsam mit dem polnischen Verkehrsministerium eine schnelle Lösung gefunden werden. Angestrebt wird eine Unterzeichnung des Abkommens noch in 2012. ABS Berlin-Cottbus-Görlitz: Es bestand die Möglichkeit, nach Abschluss der Bauarbeiten in beiden Ländern, die Fahrzeit zwischen Berlin und Breslau um bis zu 40 Minuten zu verkürzen. Der Ausbau des Abschnittes Berlin-Cottbus ermöglicht eine Reduzierung um bis zu 20 Minuten. Es zeichnet sich derzeit ab, dass die polnische Eisenbahn den alten Laufweg über den Grenzübergang Forst trotz Ausbaus der niederschlesischen Magistrale zwischen Kohlfurt und Breslau für eine Streckengeschwindigkeit von 160 Stundenkilometern weiterhin beibehalten will. Die DB AG steht hierzu in Verhandlung mit der polnischen Seite. Bahnstrecke Hoyerswerda-Horka-Grenze Deutschland/Polen-Wegliniec: Polen ist stark daran interessiert, dass der deutsche Abschnitt der niederschlesischen Magistrale Grenze-Horka-Hoyerswerda zweigleisig elektrifiziert ausgebaut wird, einschließlich des Neubaus der Eisenbahngrenzbrücke bei Horka. Die Planungen zum Ausbau der Strecke wurden seitens der DB Netz AG beauftragt. Erste Planfeststellungsbeschlüsse liegen vor. Der Beschluss zum Planfeststellungsabschnitt 3 HorkaGrenze Deutschland/Polen wird frühestens Mitte 2012 erwartet. Die notwendige Finanzierungsvereinbarung mit einem Investitionsvolumen von rund 420 Millionen Euro zwischen Bund und DB AG wurde im April 2012 abgeschlossen. Ein Baubeginn ist frühestens im Herbst 2012 möglich. Die Streckengeschwindigkeit soll nach Fertigstellung 120 km/h betragen. Im Zusammenhang mit dem zweigleisigen Ausbau einschließlich Elektrifizierung ist der Neubau der Grenzbrücke über die Lausitzer Neiße bei Horka durch die polnische Seite erforderlich. Polen geht von einer Fertigstellung bis 2014 aus. Bahnstrecke Dresden-Görlitz-Grenze-Breslau ({0}): Neben der Elektrifizierung der noch fehlenden Abschnitte der Verbindung Breslau-Dresden ist die polnische Seite sehr daran interessiert, den Bahnhof Görlitz als vorgezogene Maßnahme zu elektrifizieren. Zum möglichen Ausbau der Strecke Dresden-Görlitz auf 120 bis 160 Stundenkilometer können unter Beachtung der Priorisierung derzeit keine zeitlichen Angaben getätigt werden. Dies trifft insbesondere auf die Elektrifizierung dieser Strecke zu, die aus deutscher Sicht erst langfristig vorgesehen ist. Bahnstrecke Zittau-Liberec: Die Bahnstrecke hat lediglich regionale Bedeutung. Die Verkehrsleistung wird durch die Vogtlandbahn/Trilex nach Ausschreibung im Jahre 2010 erbracht. Es besteht Regelungsbedarf aufgrund des sehr schlechten Zustands des auf deutscher und polnischer Seite befindlichen Viadukts. Im Jahre 2008 wurde von polnischer Seite ein trilateraler Staatsvertrag ({1}) vorgelegt, der vor allem Tschechien und Deutschland zu Instandsetzung und Unterhaltung verpflichten würde. Die Verhandlungen über eine für alle Seiten befriedigende Lösung laufen. Erläutern möchte ich noch das deutsch-polnische Abkommen zum Eisenbahnbetrieb: Im Rahmen der Verhandlungen im Oktober 2010 wurde in Warschau der Entwurf eines deutsch-polnischen Abkommens über die Zusammenarbeit im Bereich des grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehrs paraphiert. Die Unterzeichnung des Abkommens durch die Verkehrsminister beider Länder wird kurzfristig angestrebt. Ein für Anfang Juni 2012 beZu Protokoll gegebene Reden reits geplanter Unterzeichnungstermin konnte wegen noch nicht erfüllter formeller Voraussetzungen auf der polnischen Seite nicht realisiert werden. Der Ausbau des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen wird von deutscher Seite sehr stark vorangetrieben, ohne dass es eines Antrags bedarf. Ich bitte Sie, unterstützen Sie mit uns unseren Bundesverkehrsminister Dr. Ramsauer in seinem Einsatz für bessere Verkehrsanbindungen in ganz Deutschland.

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte gleich an den Anfang meiner Rede stellen, dass meine Fraktion den vorgelegten Antrag nicht unterstützt, weil vieles, was hier wortreich gefordert wird, bereits gemacht wird und anderes wiederum schlichtweg falsch dargestellt wird. Die Analyse der antrageinreichenden Fraktion ist jedoch dahin gehend richtig, dass der grenzüberschreitende Bahnverkehr zwischen Deutschland und Polen weiter ausgebaut und verbessert werden muss. Das ist aber keine Erkenntnis mit Neuigkeitswert. Das ist eine Erkenntnis, die niemand hier im Raum infrage stellt. Seit Jahren wird über diese Verbesserungen verhandelt. Darüber verhandelt die Bundesregierung mit der polnischen Regierung, darüber tauschen sich die Ministerpräsidenten der an Polen grenzenden Bundesländer regelmäßig mit den Wojewoden aus, darüber diskutieren die Bahnunternehmen der Länder miteinander. Über Verbesserungen wird unter anderem auch am „Runden Tisch Verkehr der Oder-Partnerschaft“ intensiv debattiert. Ich gebe zu, dass auch ich mir wünsche, dass die Verhandlungen beispielsweise für die Strecke Berlin-Stettin, die bereits vor dem Beitritt Polens zur Europäischen Union aufgenommen wurden, endlich in einen unterschriebenen Vertrag münden. Die Strecke führt durch meinen Wahlkreis, und sowohl die Menschen auf der polnischen Seite als auch die Uckermärker sind sich bewusst, dass ihre Regionen von einer besseren verkehrlichen Vernetzung zwischen den attraktiven touristischen Gebieten profitieren würden. Die positive Nutzen-Kosten-Relation dieser Strecke wurde auch durch das Bundesverkehrsministerium bereits 2003 bei Aufstellung des geltenden Bundesverkehrswegeplans festgestellt. Dennoch: Deutschland und Polen sind zwei gleichberechtigte Partner, die nicht in jedem Punkt der verkehrlichen Vernetzung eine identische Interessenlage haben. Die Strecken haben teilweise unterschiedliche strategische Bedeutung beiderseits der Grenze. Da helfen auch parlamentarische Anträge, die das bisher Erreichte infrage stellen, nicht weiter. Ich glaube daher nicht, dass der vorgelegte Antrag die laufenden und weit vorangeschrittenen Verhandlungen unterstützt. Wir müssen bedenken: Polen hat nicht nur die verkehrlichen Verbindungen nach Deutschland auszubauen. Vielmehr wurde auch der grenzüberschreitende Verkehr und dessen Infrastruktur mit anderen Nachbarländern unter der sozialistischen Diktatur stark vernachlässigt. Wir wissen, wie schwierig es in Deutschland ist, den Infrastrukturausbau finanziell abzusichern. Unser Nachbarland Polen mit einem wesentlich höheren infrastrukturellen Defizit und anderer öffentlicher Einnahmesituation sollte motiviert werden - zum Beispiel über die guten europäischen Fördermöglichkeiten -, gute Verkehrsverbindungen nach Deutschland anzustreben. Wir sollten unseren Nachbarn aber nicht bevormunden. Ich halte auch nichts davon, wenn man den Straßenverkehr gegen den Bahnverkehr ausspielt. Beides hat seine Bedeutung für das Zusammenwachsen der Regionen. Beides hat seine Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg in Polen und Deutschland. Eine Straßenverbindung weniger nach Deutschland bedeutet nicht einen Schienenweg mehr nach Deutschland! Hier wird mit dem Antrag etwas suggeriert, was nicht haltbar ist. In den letzen Jahren wurde im Bereich des Schienenverkehrsangebots zwischen Deutschland und Polen einiges erreicht, zum Beispiel im Bereich Usedom, die Strecke Bützow-Szczecin, die Dreiländerbahn, der Ausbau Küstrien-Kietz, die Verbindung mit der brandenburgischen Stadt Guben. Die Aufzählung der erfolgreichen Projekte ließe sich fortsetzen. Ob die Bahnangebote verbessert werden, ist aber nicht nur eine Frage des Infrastrukturausbaus, sondern auch der Bestellpolitik der Länder und der unternehmerischen Entscheidungen der Bahn. Wenn die Länder, die für den Nahverkehr verantwortlich sind, grenzüberschreitende Verkehrsangebote nicht bestellen oder nur unbefriedigende Taktzeiten vorsehen, bringen Anträge wie von den Grünen formuliert - gar nichts. In Brandenburg beispielsweise macht die rot-rote Landesregierung vor, wie man es nicht machen sollte. Hier werden die Schienenangebote in die ländlichen Gebiete und damit in den Grenzraum massiv ausgedünnt. Hier muss bei der Novellierung des Regionalisierungsmittelgesetzes angesetzt werden. Ländliche Räume müssen für die Nachteile kompensiert werden, die aus der dünnen Siedlungsdichte bei der Bestellung von Bahnleistungen bestehen. Dann werden auch mehr Züge im Grenzraum fahren. Eine Verkehrspolitik, wie die von Ministerpräsident Platzeck, die das Zusammenwachsen Europas behindert, darf nicht weiter einfach akzeptiert werden. Der Bahnverkehr zwischen Deutschland und Polen wird und muss in den kommenden Jahren deutlich verbessert werden. Wir, die schwarz-gelbe Koalition, sind uns unserer Verantwortung bewusst, und auch die polnische Regierung und die Bundesländer wissen, dass erreichte Fortschritte zum Nutzen aller sind.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Als die deutsche Fußballnationalmannschaft 1954 Weltmeister wurde, hat sie die Deutsche Bundesbahn mit einem Sonderzug aus Bern nach Deutschland gefahren. Die Fahrt hat lange gedauert, weil damals entlang der Strecke und an den Bahnhöfen Tausende Menschen standen und feierten. Wenn in diesen Wochen die deutschen Fußballer Europameister würden - was zu wünschen wäre - und die Zu Protokoll gegebene Reden heutige Bahn AG sie wieder mit einem Sonderzug abholen würde, wäre die Fahrzeit aus der Ukraine über Polen noch sehr viel länger. Aber nicht wegen der längeren Strecke oder noch mehr feiernder Anhänger, sondern schlicht deshalb, weil die Bahnverbindungen zwischen Deutschland und Polen in einem Zustand sind, wie sie nach mehr als 20 Jahren nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ eigentlich nicht sein dürften. Die Fahrtzeit mit der Bahn von Berlin nach Breslau, nur ein Beispiel, beträgt mehr als fünf Stunden. In den 30er-Jahren hat man für die gleiche Strecke nur zweieinhalb Stunden benötigt. An politischen Vorgaben, diese Misere zu beenden und die bahntechnische Teilung in Ost und West zu überwinden, hat es nicht gemangelt. Bereits im deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 wurde festgehalten, dass die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Polen eine „Erweiterung der Transportverbindungen im Luft-, Eisenbahn- und Straßenverkehr sowie in der See- und Binnenschifffahrt unter modernsten Technologien“ anstreben. Zuletzt forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung im Juni 2011 fraktionsübergreifend auf, die Zusammenarbeit mit Polen in allen Politikbereichen voranzutreiben und für „rasche und substanzielle Fortschritte beim Ausbau der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur zu sorgen, insbesondere bei den Schienenverbindungen in Richtung Stettin, Warschau und Breslau“. Die Bundesregierung hat sich zudem anlässlich des 20. Jahrestages der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit verpflichtet, zusammen mit der polnischen Regierung ein Programm zur erweiterten Zusammenarbeit vorzulegen. Man hat sich explizit auf eine deutliche Fahrzeitreduzierung auf den Schienenstrecken Berlin-Breslau und Berlin-Stettin verständigt und den Ausbau und die Elektrifizierung der Strecken zwischen Horka und Hoyerswerda sowie Breslau und Dresden beschlossen. Alle diese Maßnahmen sind dringend notwendig, denn die Wirtschaft in Deutschland und Polen wächst und partizipiert in enormem Maße voneinander. Der stetig steigende Güter- und Warenaustausch - aber auch der Personenverkehr zwischen beiden Ländern - beweist das. Vor allem Grenzregionen wie zum Beispiel die strukturschwache Region von Ost-Vorpommern können bei besserer Anbindung von der boomenden Wirtschaft im nahen Stettin partizipieren. Aber der angestrebte zweigleisige Ausbau der Strecke Berlin-Stettin mit einer durchgehenden Elektrifizierung kommt nicht voran, noch immer muss in Angermünde umgekoppelt werden - ein verkehrstechnisches Armutszeugnis, dass mitten in Europa zwei boomende Regionen wie Berlin und die Region um Stettin über eine solch schlechte Anbindung verfügen. Ein weiteres Beispiel: Der künftige Hauptstadtflughafen BER wird auch für die westpolnischen Regionen ein wichtiger Luftverkehrsstandort sein, der daher bahnseitig besser angeschlossen werden muss. Laut dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg - VBB - müssen dafür bis 2020 sechs Bahnkorridore zwischen dem BER und Westpolen ausgebaut werden. Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Immerhin gibt es für den Ausbau der sogenannten niederschlesischen Magistrale über Horka bis 2016 einen Silberstreif am Horizont. Auch die nun umsteigefreie Anbindung Danzigs im Rahmen der Maßnahmen für die Fußballeuropameisterschaft ist ein Schritt aus der bahntechnischen Steinzeit hinein ins 21. Jahrhundert. Gleichwohl, das reicht alles nicht aus. Gerade mit Blick auf die deutsche Geschichte ist jede deutsche Regierung in der Pflicht, alles zu tun, um die sich stetig weiterentwickelnde Verzahnung der deutschen und der polnischen Gesellschaft zu unterstützen. Dazu gehört eben auch ein adäquater Ausbau der Schienenverkehrswege. Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zählt die Maßnahmen auf, die so schnell wie möglich zu realisieren sind. Die SPD erwartet von der Bundesregierung, sich ernsthaft und zielorientiert mit der polnischen Seite über deren Umsetzung zu verständigen. „Schwarzer-Peter-Spiele“, bei denen der anderen Seite vorgeworfen wird, zu verzögern, müssen aufhören. Sie dienen häufig nur dazu, zu verschleiern, dass letztlich Geldfragen im unterfinanzierten Etat des BMVBS und die einseitige Fokussierung auf den Straßenbau für den schleppenden Ausbau verantwortlich sind.

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

„Es fährt kein Zug nach nirgendwo…!“ Ja, diesen Eindruck bekomme ich, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, wenn ich Ihren Antrag lese. Ich habe das Gefühl, unser Nachbarland Polen ist mit dem Zug praktisch nicht erreichbar. Sie zeichnen ein völlig verzerrtes Bild! Vielmehr ist es doch so, dass der Infrastrukturausbau weit vorangekommen ist und auch angebotsseitig in den letzten Jahren von deutscher und polnischer Seite Fortschritte bei den Eisenbahnverbindungen erzielt werden konnten. Gleichwohl sind diese noch lange nicht auf dem Stand, den Sie und ich uns wünschen. Doch das liegt nicht immer nur an der Bundesregierung, denn zu einem Vertrag gehören immer zwei Parteien. Vielleicht hat die polnische Regierung andere verkehrspolitische Prioritäten,oder es ist schlichtweg eine Frage fehlender Mittel . Nehmen wir die von Ihnen angesprochene Verbindung nach Breslau. Diese ist in der Tat etwas schwieriger zu realisieren, da es sich auf der polnischen Seite um eine Regionalstrecke handelt, für die keine EU-Mittel bereitgestellt werden. Demnach liegt es nicht nur an der deutschen Seite - so wie Sie es in ihrem Antrag darstellen -, sondern vielleicht auch an fehlenden Mitteln auf Zu Protokoll gegebene Reden polnischer Seite, dass der Ausbau nicht auf allen Strecken zügig vorangeht. Bei dem einen oder anderen Streckausbau sind während der deutsch-polnischen Regierungskonsultationen im vergangenen Jahren keine konkreten Zeitpläne vereinbart worden. Bei anderen Strecken sind Vereinbarungen mit den betroffenen Nachbarländern erzielt worden, und diese sind auch entsprechend im noch unter RotGrün erstellten und beschlossenen Bundesverkehrswegeplan eingestuft worden. Ein Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Weiterentwicklung der Eisenbahnverbindung Berlin-Stettin ist derzeit in Vorbereitung. Darüber hinaus ist ein Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Zusammenarbeit im Bereich des Eisenbahnverkehrs über die deutsch-polnische Staatsgrenze im Oktober 2010 paraphiert worden; eine Unterzeichnung folgt dieser Tage. Besonders hervorheben möchte ich das Ausbauvorhaben „niederschlesische Magistrale“ KnappenrodeHorka-Hoyerswerda-Bundesgrenze. Hier sind wir mittlerweile so weit, dass wir eine Entwurfsplanung haben und drei von sechs Planfeststellungsbeschlüssen vorliegen. Die noch fehlenden Planfeststellungsbeschlüsse Knappenrode-Niesky werden im Lauf des Jahres 2012 erfolgen. Nach derzeitigem Stand ist mit einer vollständigen Umsetzung des Projekts „niederschlesische Magistrale“ bis zum Jahr 2016 zu rechnen. Auch die von Ihnen angesprochene Strecke nach Stettin ist bei der Bundesregierung in guten Händen. Alle Seiten wollen einen möglichst zügigen Ausbau der Strecke von der Hauptstadt nach Stettin. Auf deutscher Seite muss noch ein 30 Kilometer langer Streckenabschnitt bis zur Grenze elektrifiziert werden, auf der anderen Seite der Grenze sind es zehn Kilometer. Voraussetzung zum Abschluss des Projektes ist nach Worten eines Bahnsprechers ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland und Polen. Das solle bis zum Jahr 2020 zustandekommen. Ein Punkt in Ihrem Antrag hat mich doch sehr erstaunt. Soweit ich mich erinnere, ist es besonders die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die bei Schienenprojekten peinlich auf das Kosten/Nutzen-Verhältnis achtet. Da wundert es mich schon, wenn ich dann lesen muss, dass die Strecke Berlin-Cottbus-Görlitz nur knapp die Wirtschaftlichkeit erreicht hat, Sie sich aber in Ihrem Antrag massiv für diese Strecke starkmachen. Da könnte man ja auf die Idee kommen, dass der Kollege Kühn Grundprinzipien grüner Verkehrspolitik beim eigenen Wahlkreis etwas lockerer auslegt. Ich kann mich noch sehr gut an Diskussionen im Verkehrsausschuss erinnern, in denen die Grünen bei einem Kosten/Nutzen-Verhältnis von 1,3 oder 1,1 lauthals die Sinnhaftigkeit des Baus von Strecken infrage gestellt haben. Zu guter Letzt noch eine aktuelle Nachricht: Am 6. Juni dieses Jahres haben Bundesverkehrsminister Ramsauer, Bahnchef Grube und der polnische Verkehrsminister Nowak gemeinsam die neue Eurocitystrecke, die Direktverbindung Berlin-Danzig in Betrieb genommen. Die neue Eurocitystrecke führt von Berlin nach Frankfurt/Oder und Posen ({0}) in die polnischen Küstenregion Dreistadt mit den Zentren Danzig, Zoppot und Gdingen. Sie sehen, auch die Bundesregierung weiß um die Potenziale einer guten Schienenverkehrsverbindung zwischen Deutschland und Polen. Denn Polen und Deutschland rücken schon längst zusammen.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Thema Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Und wir unterstützen auch den Antrag der Grünen zu dieser Thematik vollinhaltlich. Jüngst schrieb der Kabarettist Steffen Möller - er ist in Wuppertal geboren, lebt seit 1994 in Polen und ist dort landesweit unter anderem durch das Fernsehprogramm „Europa da się lubić - Europa lässt sich mögen“ bekannt: „Polen ist mit Sicherheit von allen neun Nachbarländern Deutschlands das exotischste. Eher macht der Potsdamer eine Kaffeefahrt nach Holland oder der Hellersdorfer eine Kreuzfahrt durch die Antarktis. Und warum ist das so? … Weil die polnische Grenze für uns … gefühlt 2 000 km im Osten liegt, kurz vor dem Ural. Dabei liegt Warschau näher an Berlin als Köln.“ ({0}). Wenn Steffen Möller hier indirekt auf die deutsch-polnische Geschichte mit all den Narben, die diese zurückließ, verweist, dann mag dies eine Erklärung dafür sein, dass das östliche Nachbarland vielen Deutschen fremd ist. Eine andere Erklärung hat jedoch mit der aktuellen Politik zu tun - und Verkehrspolitik und Bahnpolitik sind doch Teil der aktuellen Politik. Nehmen wir mal das Beispiel unseres großen westlichen Nachbarn. Frankreich und Deutschland sahen sich auch rund ein hundert Jahre lang als Feinde; es gab sogar den Begriff „Erbfeinde“. Doch dann kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer politisch gewollten und vorangetriebenen Annäherung, zu „jumelage“, zu den vielen Hundert Partnerschaften zwischen westdeutschen und französischen Städten, zu hunderttausendfachem Schüleraustausch und auch zu einem teilweise guten Ausbau des Schienenverkehrs zwischen beiden Ländern. Sehen wir uns doch einmal im Vergleich die Verbindungen Frankfurt/Main-Paris und Berlin-Warschau an. Die Strecke Frankfurt am Main nach Paris ist stolze 741 Kilometer lang. Die ICE- bzw. TGV-Züge benötigen auf dieser Verbindung 3 Stunden und 56 Minuten. Und die Züge sind fast immer gut gebucht. Die Bahnlinie Berlin-Warschau ist deutlich kürzer, sie hat eine Länge von nur 591 Kilometer. Doch der vier Mal am Tag verkehrende Fernverkehrszug „Berlin-Warszawa-Express“ benötigt auf der Verbindung 5 Stunden und 24 Minuten, also eine um eineinhalb Stunden längere Zugfahrt für eine um 150 Kilometer kürzere Strecke. Das ist irgendwie höhere Mathematik. Entsprechend sehen im Übrigen die Fahrgastzahlen aus. Es herrscht oft gähnende Leere in diesen weißblau lackierten Zügen. Und natürlich ist man dann schnell dabei zu sagen: Das AnZu Protokoll gegebene Reden gebot wird nicht angenommen, worauf eine Verbindung ausgedünnt oder komplett eingestellt wird. Überhaupt: Warum fährt der ICE nach Kopenhagen, nach Paris, nach Zürich, gar nach Interlaken und nach Wien, aber nicht nach Warschau? Es gibt da nicht nur fehlende Angebote. Es gibt real existierenden Abbau von Angeboten. So beim letzten Fahrplanwechsel vor ein paar Tagen. Da wurde doch der Eurocity Berlin-Sczeczin - immerhin die einzige durchgehende Verbindung zwischen den beiden Großstädten - komplett eingestellt. Auch hier hieß es: mangelnde Nachfrage. Doch wer den - inzwischen alten Fahrplan mal genauer studiert hat, der weiß: Die Nachfrage hat eben auch hier mit dem Angebot zu tun. Originellerweise benötigte man mit diesem durchgehenden EC eine um zehn Minuten längere Fahrtzeit als mit der schnellsten Nahverkehrsverbindung - bei Nutzung eines Regionalexpresszuges und einer Regionalbahn mit Umsteigen in Angermünde. Im Übrigen kostete dann die langsamere EC-Fahrt auch noch zwei Euro mehr - gewissermaßen eine Art Draufgeld für Entschleunigung. Im Übrigen trifft ja nicht ganz zu, was Steffen Möller sagte. Es ist vor allem der Schienenpersonenverkehr, der zwischen beiden Ländern darnieder liegt. Der Straßenverkehr und auch der Luftverkehr zwischen Deutschland und Polen hat sich dagegen sprunghaft entwickelt. Und warum? Vor allem, weil die Infrastruktur hier massiv ausgebaut wurde - völlig im Gegensatz zur Schiene. Das lässt sich im Übrigen auch beim Güterverkehr ablesen. 2010 wurden zwischen Polen und Deutschland gerade mal 8,2 Millionen Tonnen Güter auf der Schiene transportiert. Das ist der niedrigste Werte seit 1990. Er ist auch niedriger wie zu DDR-VR-Polen-Zeiten, und niedriger als in den 1920er-Jahren. Gleichzeitig schnellte jedoch nach 1990 der Straßengüterverkehr zwischen beiden Ländern nach oben - allein seit 2000 mit 28 Millionen Tonnen bis 2010 auf 40 Millionen Tonnen. Zum Schluss noch drei ergänzende Anmerkungen zum Antrag selbst: Erstens. Wenn in Punkt 4 des Antragteils gefordert wird, dass auf den zentralen Korridoren zwischen beiden Ländern „ein angemessenes Fernverkehrsangebot eingerichtet wird“, dann erinnere ich daran, wie oft wir seitens der Regierung, gelegentlich auch durch Mitglieder der Grünen Partei belehrt wurden, dass es nicht Sache der Bundesregierung sei, im Schienenpersonenverkehr Angebote einzurichten usw. Wir stimmen diesem Punkt im Antrag ausdrücklich zu und glauben, eine solche Forderung lässt sich aus Art. 87 des Grundgesetzes ableiten, in dem der Bund nicht nur für die Schieneninfrastruktur, sondern auch für „Angebote“ auf dem Schienennetz in die Pflicht genommen wird. Im Übrigen verweise ich an dieser Stelle darauf, dass alle, die ja zur Änderung von § 13 des Personenbeförderungsgesetzes - und damit ja zu einer Liberalisierung des Buslinienfernverkehrs - sagen, an dieser Stelle in einen Widerspruch geraten. Wenn es zu dieser Liberalisierung kommt, so werden gerade Strecken wie die hier Genannten oft mit Buslinienfernverkehr bedient werden, was eine Ausweitung oder gar erst Einrichtung von Schienenfernverkehrsangeboten enorm erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Dabei ist es oft die DB AG selbst, die von Zug auf Bus umstellt, so vor zwei Jahren auf der Verbindung Nürnberg-Prag. Zweitens. Im Antragstitel ist zwar allgemein von „Schienenverkehr“ die Rede, doch real wird nur von Schienenpersonenfernverkehr gesprochen. Das sehe ich kritisch. Die Potenziale im grenzüberschreitenden Schienenverkehr auf mittleren und kurzen Distanzen sind rund zehn Mal größer als die des Fernverkehrs. Im Grunde wäre ein ergänzender Antrag für den grenzüberschreitenden Schienenpersonennahverkehr zwischen Deutschland und Polen sinnvoll. Hier gab es in jüngerer Zeit sogar komplette Streckenstilllegungen bzw. die Aufgabe jeglichen Schienenverkehrs, so wurde im Oktober 2002 der Schienenpersonenverkehr zwischen Guben und Czerwiensk eingestellt. Drittens. Schließlich möchte ich mich in diesem Zusammenhang für den Wiederaufbau der Karniner Brücke und damit für eine schnelle Schienenverbindung zwischen Berlin und Usedom bzw. Swinoujscie ({1}) einsetzen. Im Februar 2012 erklärte der Berliner Senat - nach Absprache mit Vertretern der Inselgemeinden auf Usedom und der Stadt Swinemünde - seine Unterstützung für dieses Projekt. Die äußerst erfolgreiche Usedomer Bäderbahn und sogar DB Netz unterstützen inzwischen dieses Vorhaben. Damit würde sich die Fahrtzeit von Berlin nach Usedom oder Swinemünde von vier auf zwei Stunden halbieren und die deutsch-polnische Insel wäre wieder das, was sie einmal war: „Berliner Badewanne“. Leider lehnt Bundesverkehrsminister Ramsauer weiterhin eine Unterstützung dieses Projekts ab. Wir sollen bei der Beratung im Ausschuss prüfen, ob der Antrag nicht um diesen Punkt erweitert werden sollte. Ach ja: Der zitierte Kabarettist Steffen Möller schrieb in seinem erwähnten Grußwort: „Auf die Frage nach meiner wahren Heimat würde ich heute sofort antworten: ,der Berlin-Warszawa-Express‘“. Die beiden auf Frankfurt ({2}) zulaufenden Bahnverbindungen ab Eberswalde und ab Königs Wusterhausen sind ebenfalls von Abbestellungen bedroht. Auch hier gibt es spezifische Gründe für das unbefriedigende Fahrgastaufkommen. Auf der Verbindung EberswaldeFrankfurt ({3}) verkehrt die ODEG über viele Kilometer als Bummelbahn, mit Tempo 40 km/h. Auf der Strecke Königs Wusterhausen ist die Reisegeschwindigkeit ebenfalls deutlich zu niedrig, wobei sie hier vor allem durch die langen Wartezeiten auf den Ausweichbahnhöfen zustande kommt. Wenn schließlich die Verbindung Angermünde-Tantow-Sczeczin ein zu niedriges Fahrgastaufkommen aufweist, dann gibt es auch hierfür gute Gründe. Auf der Strecke zwischen der größten deutschen Stadt und der mit 400 000 Einwohnern siebtgrößten polnischen Stadt - übrigens Partnerstadt von Berlin-FriedrichshainKreuzberg - gibt es derzeit pro Tag gerade mal zwei durchgehende Zugverbindungen: eine mit einem durchgehenden Regionalexpress ({4}) und eine mit einem Eurocity ({5}). Die Letztere soll im Übrigen mit dem kommenden Fahrplanwechsel eingestellt werden. Ansonsten gibt es nur sechs Nahverkehrsverbindungen mit Umsteigen in Angermünde. Es ist schlicht peinlich, dass für die Deutsche Bahn bzw. für die deutsche Verkehrspolitik - und analog für die polnische Seite - zu gelten scheint: Je mehr Europa beziehungsweise je mehr EU, desto weniger Schienenverkehrsverbindungen. Das Hauptproblem bei dieser Verbindung ist aber in dem Dreisatz zu sehen: Es gibt erstens zu wenig Direktverbindungen, zweitens zu wenige Verbindungen überhaupt und drittens liegt bei allen Verbindungen die Reisegeschwindigkeit ({6}) deutlich zu niedrig.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Fußballeuropameisterschaft rückt unseren Nach- barn Polen für drei Wochen in den Mittelpunkt des me- dialen Interesses, und manch einem wird in diesem Zu- sammenhang erst bewusst, wie beschwerlich zumindest teilweise die Anreise mit der Bahn ist. Wir sind der An- sicht, dass mehr als 20 Jahre nach Öffnung der Grenzen und acht Jahre nach dem EU-Beitritt Polens es Zeit ist, auch im Verkehrssektor Bilanz zu ziehen. Polen ist heute ein aufstrebendes Land. Nicht zuletzt der Beitritt unserer Nachbarn östlich von Oder und Neiße zur Europäischen Union hat eine Dynamik entwi- ckelt, die viele in der alten, westlich geprägten EU nicht für möglich gehalten haben. Die deutschen Exporte ha- ben sich seit dem EU-Beitritt verdoppelt; Polen ist in der Außenhandelsbilanz bei den Ausfuhren mittlerweile auf Rang 10 und bei den Einfuhren auf Rang 12 aufgerückt. „Handel bringt Wandel“ - sagt ein Sprichwort, und so gesehen sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen also auf einem guten Weg. Stärkere wirtschaftliche Beziehungen sind ohne Ver- kehrswege nicht denkbar. Schauen wir auf den Zustand der Verkehrswege zwischen beiden Ländern, dann zeigt sich uns ein zweigeteiltes ambivalentes Bild. Wir stellen nämlich fest, dass das Fernstraßennetz im deutsch-pol- nischen Grenzgebiet in den letzten beiden Dekaden mas- siv ausgebaut wurde. Alle geplanten Vorhaben sind fer- tiggestellt bzw. im Bau. Welch ein Kontrast im Vergleich zu dem Zustand der Eisenbahnstrecken, die über Oder und Neiße führen. Besonders drastisch wird dies an der Verbindung Berlin-Wrocław deutlich. Mit dem Pkw ist man rund vier Stunden unterwegs, während der Bahnreisende für die rund 320 Kilometer fünf Stunden und 22 Minuten be- nötigt - vor allem gibt es diese Verbindung nur einmal am Tag. Vor 75 Jahren benötigte der Bahnfahrgast übri- gens nur zwei Stunden und 40 Minuten für diese Strecke. Eine mittelfristig umsetzbare Lösung könnte darin bestehen, die „niederschlesische Magistrale“, deren Ausbau bis 2016 erfolgen soll, für die Verbindung Berlin-Wrocław zu nutzen. Der Schlüssel dafür ist die Elektrifizierung der rund 94 Kilometer zwischen Cott- bus und Görlitz. Dann ließen sich Fernverkehrszüge zwischen Berlin und Wrocław erstmalig durchgehend mit E-Loks bespannen, und die Fahrzeit würde um rund zwei Stunden auf etwa dreieinhalb Stunden zusammen- schmelzen. Damit könnten die Bahnen gegenüber dem Pkw konkurrenzfähige Angebote etablieren. Auch bei der Strecke Berlin-Stettin liegt noch vieles im Argen. Zwar haben wir dank des Engagements des dortigen Aufgabenträgers für den Nahverkehr auf der Schiene - dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg - ein dich- teres Angebot; jedoch werden die Züge durch Langsam- fahrstellen und eine Elektrifizierungslücke von rund 30 Kilometern ausgebremst. Neben infrastrukturellen Voraussetzungen fehlen uns im Fernverkehr auf der Schiene aber auch die Angebote. Während noch Anfang der 1990er-Jahre 15 Zugpaare des Fernverkehrs Bahnreisen zwischen Deutschland und Polen ermöglichten, sind es heute gerade einmal be- scheidene sieben Zugpaare. Daran ändert auch die in der vergangenen Woche erfreulicherweise eingeführte neue Eurocity-Verbindung von Berlin nach Danzig nichts. Wo Licht ist, da ist auch Schatten: Während die neue Verbindung nach Danzig gefeiert wurde, fuhr zwi- schen Berlin und Stettin der letzte Fernverkehrszug. Leider müssen wir im Jahr 2012 konstatieren, dass die Bahnverbindungen zwischen Deutschland und Polen der gewachsenen Bedeutung der deutsch-polnischen Be- ziehungen nicht gerecht werden. Angesichts des mage- ren Fernverkehrsangebots wundert es kaum, dass der Marktanteil im Personenverkehr auf fast unbedeutende 2 Prozent abgesunken ist. Auch der Güterverkehr auf der Schiene konnte vom wachsenden Verkehrsmarkt nicht profitieren, was letztendlich dazu geführt hat, dass der Marktanteil unter 20 Prozent abgesunken ist. Sehr geehrter Herr Minister Ramsauer! Wir fordern Sie auf: Beenden Sie das Trauerspiel beim Ausbau des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen! Be- enden Sie das mittlerweile unwürdige Schwarze-Peter- Spiel beim Abschluss eines Staatsvertrags zum Ausbau der Strecke Berlin-Stettin! Bei gutem Willen könnte die Strecke - wie von polnischer Seite gefordert - bis 2016 in Betrieb gehen. Senden Sie ein Signal für gute nachbarschaftliche Be- ziehungen und bringen Sie diesen Staatsvertrag endlich zum Abschluss. Einigen Sie sich mit unseren polnischen Nachbarn auch bei der Strecke Berlin-Wrocław auf eine Ausbauvariante und bringen Sie die dazugehörigen Pro- jekte auf den Weg, sodass auch hier spätestens 2020 endlich attraktive Angebote auf der Schiene angeboten werden können. Sehr geehrter Herr Minister: Für die Verbesserung der deutsch-polnischen Bahnverbindungen wurde über die Jahre viel angekündigt und wenig umgesetzt. Die Zeit der Ankündigungen muss vorbei sein: Handeln Sie, Herr Minister!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9947 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt schüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Dann haben wir das beschlossen. Tagesordnungspunkt 28 a und b: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Marlene Mortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Horst Meierhofer, Jens Ackermann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP Kinder- und Jugendtourismus unterstützen und weiter fördern - zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Elvira Drobinski-Weiß, Hans- Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Reisen für Kinder und Jugendliche ermögli- chen - Förderung sicherstellen und „Ak- tionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ weiterentwickeln - Drucksachen 17/8451, 17/8924, 17/9913 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Helga Daub Thomas Lutze b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Mitgliedschaft in der International Organisa- tion of Social Tourism - Drucksachen 17/4844, 17/9308 - Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Jens Ackermann Markus Tressel Auch hier sind die Reden zu Protokoll genommen.1)

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kinder- und Jugendreisen in Deutschland verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Sie sind nicht nur für die Tourismuswirtschaft bedeutsam, sondern fördern auch die Entwicklung, die soziale Kompetenz und den Zusammenhalt junger Menschen in unserem Land. Kin- der- und Jugendreisen schaffen intensive Gemein- schaftserlebnisse. Sie stärken unsere Kinder auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Sie bieten gute Gelegenhei- ten, die eigene Heimat kennen- und schätzen zu lernen sowie auch frühzeitig in Kontakt mit anderen Ländern und Kulturen zu treten. Wir haben in unserem Antrag darauf hingewiesen, wie die Bundesregierung bereits mit erheblichen Mitteln Fort- und Weiterbildungsangebote, Informationsveran- staltungen, die internationale Jugendarbeit, den Bau von Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätten so- wie von Jugendherbergen unterstützt. Wir machen uns zudem für eine noch intensivere Un- terstützung stark: bei der Qualifizierung, bei der Vernet- zung und Kooperation jugendtouristischer Angebote, beim möglichen Aufbau einer Internetplattform sowie bei der intensiveren internationalen Vermarktung. Für Letzteres bietet das Themenjahr „Junges Reise- land Deutschland“ der Deutschen Zentrale für Touris- mus im kommenden Jahr einen idealen Anknüpfungs- punkt. Darüber hinaus wollen wir, dass die Einsatzmöglich- keiten des neuen Bundesfreiwilligendienstes in jugend- touristischen Einrichtungen verstärkt genutzt werden. Auf diese neuen Möglichkeiten soll die Bundesregierung an geeigneter Stelle hinweisen. Im Gegensatz zu den Forderungen der SPD gibt es noch weitere Punkte, mit denen wir auch ohne finanziel- len Aufwand einiges bewegen können. Einige Bundes- länder etwa lassen Reisevermittler als Organisatoren von Klassenfahrten nicht zu. Wie kürzlich bei einer Ver- anstaltung des Bundesforums Kinder- und Jugendreisen e. V. deutlich wurde, wünschen sich dies aber manche Lehrer. Da die mit der Organisation einer Klassenfahrt verbundene Arbeit neben dem normalen Job aus ihrer Sicht zuweilen zu aufwendig ist, hätten sie gern die Mög- lichkeit, bei Bedarf auch auf kommerzielle Anbieter zu- rückgreifen zu können. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, bei den Bundesländern auf die positiven Aspekte der Einbezie- hung von Reisevermittlern bei der Planung von Klassen- fahrten hinzuweisen. Dabei geht es nicht um die Vergabe öffentlicher Mittel für private Anbieter, sondern um eine Unterstützung für Lehrer bei der Planung und Durch- führung von Klassenfahrten, die ansonsten möglicher- weise nicht stattfinden. Das zweite Thema der heutigen Debatte ist die Forde- rung der Linken, dass Deutschland Mitglied in der Inter- nationalen Organisation für Sozialtourismus werden soll. Damit soll die Möglichkeit für eine direkte Einfluss- nahme auf die Fortentwicklung des Sozialtourismus und das Kennenlernen guter Praxisbeispiele eröffnet wer- den. Diese Organisation ist aber bisher vergleichsweise wenig in Erscheinung getreten, und eine dortige Mit- gliedschaft ist unserer Meinung nach nicht zielführend. Schon heute engagiert sich die Bundesregierung stark im sogenannten Sozialtourismus und fördert Familien-1) Anlage 16 ferienstätten, Jugend-, Bildungs- und Begegnungsstätten, Jugendherbergen sowie die internationale Jugendarbeit. Eine Auflistung der wichtigsten Punkte können Sie gerne in unserem Antrag nachlesen. Außerdem gibt es neben den aus öffentlichen Mitteln und von gemeinnützigen Organisationen unterstützten Angeboten für die genannten Zielgruppen in Deutschland zahlreiche attraktive und preisgünstige Quartiere. Dies gilt insbesondere für den ländlichen Raum, dessen Stärkung ein Schwerpunkt unserer tourismuspolitischen Arbeit ist. So gibt es eine Vielzahl sehr attraktiver, naturnaher, sehr persönlich betreuter Urlaubsangebote auf dem Bauernhof, die noch dazu häufig sehr preisgünstig sind. Das gilt nicht nur für die Übernachtung, sondern auch für das Essen und andere Dienstleistungen. Anfang dieser Woche haben wir - die Koalitionsfraktionen - einen Kongress mit 500 Teilnehmern zum Thema „Ländliche Räume, regionale Vielfalt“ durchgeführt. Dabei haben wir uns auch intensiv mit der Frage beschäftigt, wie wir die ländlichen Räume als Reiseziel stärken können. Das hervorragende Preis-LeistungsVerhältnis der oft einzigartigen touristischen Angebote ist sicher ein wichtiges Argument dabei. Gerade hier sind Urlauber und Familien mit begrenztem Budget gut aufgehoben. Außerdem möchte ich auf die ausgezeichneten und preiswerten Angebote der Bundesarbeitsgemeinschaft Familienerholung hinweisen, die vom Katholischen und dem Evangelischen Arbeitskreis für Familienerholung zusammen mit dem Paritätischen Arbeitskreis für Familienerholung gebildet werden. Die Vorsitzende des Katholischen Arbeitskreises ist die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker aus unserer Fraktion, die Vorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises - und gegenwärtig auch der Bundesarbeitsgemeinschaft - ist unsere SPD-Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller. Zentrales Anliegen ist es dort, Familien mit vielen Kindern einen preiswerten Urlaub in familienfreundlichen Unterkünften anzubieten und den Zusammenhalt in den Familien zu stärken. Dafür gibt es in Deutschland 120 gemeinnützige Familienferienstätten, die seit den 50er-Jahren entstanden sind. In diesen Einrichtungen gibt es immerhin rund drei Millionen Übernachtungen pro Jahr. Familienerholung wendet sich an alle Familien, doch werden finanziell benachteiligte und kinderreiche Familien, Alleinerziehende sowie Familien mit behinderten Kindern oder behinderten Angehörigen besonders berücksichtigt. Angebote für Familienberatung, zur Stärkung der Familienkompetenz und zur gesundheitlichen Prävention spielen dabei heute eine große Rolle. Bau und Renovierung von Familienferienstätten werden im Übrigen ebenfalls bereits aus dem Bundeshaushalt gefördert in Kofinanzierung mit den Bundesländern und den Trägern. Statt Geld für eine nicht zielführende Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation auszugeben, sollten wir lieber als Bundestagsabgeordnete diese Familienferienstätten unterstützen, die sich manchmal noch etwas schwertun bei der Vermarktung und noch lange nicht allen bekannt sind, die als Gäste infrage kommen. Wenn sich in Ihrem Wahlkreis eine solche Einrichtung befindet, informieren Sie sich doch einmal vor Ort über deren Arbeit, weisen Sie mit auf diese Angebote hin und machen Sie beispielsweise bei eigenen Besuchen in Schulen und Kindergärten auf diese besonderen und preisgünstigen Familienerholungsangebote aufmerksam. Damit könnten wir alle einen wichtigen Beitrag leisten und gezielt helfen.

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute debattieren wir hier im Plenum des Deutschen Bundestages innerhalb von gut vier Monaten zum dritten Mal über das Thema Kinder- und Jugendtourismus. Als Koalitionsfraktionen haben wir mit unserer Antragsinitiative das Thema auf die Tagesordnung der Politik hier im Bundestag gesetzt. Wenn wir heute zum dritten Mal über dieses Thema beraten, dann zeigt dies, dass der Kinder- und Jugendtourismus auch für die Tourismuspolitik im Deutschen Bundestag eine hohe Bedeutung hat. Insofern ist es den Sozialdemokraten nicht zu verübeln, dass auch sie mit einem eigenen Antrag hinterher gekommen sind. Bereits bei der ersten Beratung über den Antrag der Koalitionsfraktionen der christlich-liberalen Koalition hier im Plenum haben wir auf die Bedeutung des Kinder- und Jugendtourismus für den Tourismus insgesamt hingewiesen. Er umfasst einen Jahresumsatz von etwa 12 Milliarden Euro. Kinder- und Jugendreisen machen einen Anteil von 20 Prozent des Inlandstourismus aus. Allein die Jugendherbergen verzeichnen über 10 Millionen Übernachtungen und einen Umsatz von insgesamt über 1 Milliarde Euro an Wertschöpfung. Dies erlebe ich gerade in meinem Wahlkreis Nordfriesland/Dithmarschen-Nord, der mit 13 Jugendherbergen so viele Jugendherbergen umfasst wie kein anderer Wahlkreis in Deutschland. Eigentlich waren wir uns auch in vielen Punkten, in denen wir seitens der Politik den Kinder- und Jugendtourismus unterstützen können, einig. Niemand von uns würde sagen: Das wollen wir nicht unterstützen. Schließlich geschieht ja auch bereits viel an Unterstützung, unsere Bundesregierung leistet diese Unterstützung in vielfältiger Form. Das gilt für die internationalen Jugendreisen, den Jugendaustausch, die Förderung des deutsch-französischen und des deutsch-polnischen Jugendaustausches und für die deutsch-israelischen Jugendbegegnungen. Wenn im kommenden Jahr die Deutsche Zentrale für Tourismus das Themenjahr „Junges Reiseland Deutschland“ weltweit vermarktet, dann finanzieren wir dies auch aus Bundesmitteln, die wir auf über 27 Millionen Euro aufgestockt haben. Mit unserem Antrag zeigen wir aber auch die Aspekte auf, wo wir noch Handlungsnotwendigkeiten sehen. Ich will nicht alles wiederholen, was wir bereits vor vier Monaten debattiert haben. Schließlich hat sich in dieser Hinsicht an den Sachverhalten selbst ja auch nichts geändert: dass wir mehr für Qualitätssicherung Zu Protokoll gegebene Reden und Qualitätssteigerung tun müssen, dass es um Klassifizierung geht, aber auch darum, dass die Bundesländer in ihrer Zuständigkeit einiges tun können, zum Beispiel zur Steigerung des pädagogischen Profils von Klassenfahrten. In den vergangenen Wochen nach Vorlage unseres Antrages und in der Ausschussberatung haben wir über einige neue Aspekte diskutiert. Nachdem wir unseren Antrag veröffentlicht hatten, sind uns viele Anregungen zugegangen, was man noch alles mehr tun könnte - vor allem, wo man noch mehr Geld ausgeben könnte. Vieles davon wäre wünschenswert, aber wir alle müssen uns nach der finanziell knappen Decke strecken. Deshalb haben wir bewusst davon abgesehen, in unseren Antrag einen „Wunschkatalog“ aufzunehmen, ohne dass die darin enthaltenen Maßnahmen finanziell abgesichert wären. Dies kann nur in den Haushaltsberatungen selbst geschehen. Deshalb sind die entsprechenden Passagen im Antrag der Sozialdemokraten zwar nett zu lesen, aber heute schlichtweg verfehlt. Wir sind eben nicht in den Haushaltsberatungen. Wir haben in den vergangenen Wochen auch über die unterschiedlichen Aufgaben und die wechselseitige Abgrenzung zwischen gewerblichen und gemeinnützigen Anbietern im Kinder- und Jugendtourismus gesprochen. Sicherlich gibt es hier Konkurrenz, aber jeder hat eben seine speziellen Geschäftsfelder, seine Profile und seine Aufgaben. Damit hat auch jeder seine eigene Berechtigung. Ich halte überhaupt nichts davon, diese Anbieter gegeneinander auszuspielen. Jeder hat seine Funktion und wird dem gerecht. Dabei ist auch klar, dass die finanzielle Förderung mit staatlichen Mitteln sich darauf bezieht, dass besondere im Gemeinwohl liegende Aufgaben wahrgenommen werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies in erster Linie die gemeinnützigen Anbieter sind. Insofern ist jede Sorge unbegründet, wir wollten in irgendeiner Form Mittel umschichten von gemeinnützigen zu gewerblichen Unternehmen, wenn wir auch deren spezielle Rolle in diesem touristischen Segment nennen und anerkennen. Unser Antrag beschreibt das Thema, nennt die Herausforderungen, vor denen der Kinder- und Jugendtourismus steht, und zeigt Handlungsoptionen auf, wie wir unterstützen und helfen wollen. Dabei sind unsere Möglichkeiten auf Bundesebene allein begrenzt, wir brauchen auch die Bundesländer, die gerade hier in vielfältiger Form in der Verantwortung stehen. Insofern geht es auch um eine Gemeinschaftsaufgabe zur Förderung des Kinder- und Jugendtourismus. Der Antrag der Fraktionen der christlich-liberalen Koalition wird diesem Anliegen gerecht. Der Tourismusausschuss hat dem Antrag mehrheitlich zugestimmt, und ich bitte auch heute hier im Plenum darum, unserem Antrag zuzustimmen. Mit den beiden Anträgen zum Thema Kinder- und Jugendtourismus verhandeln wir heute auch über den Antrag der Fraktion Die Linke, Deutschland möge Mitglied in der „International Organisation of Social Tourism“, OITS, werden. Diesen Antrag werden wir ablehnen. Schon heute engagiert sich die Bundesregierung stark im sogenannten Sozialtourismus. Familienferienstätten, Jugend-, Bildungs- und Begegnungsstätten, Jugendherbergen sowie die internationale Jugendarbeit fördern wir. Darauf habe ich bereits hingewiesen. Hinzu kommen Hilfen auf Landes- und Kommunalebene für Familien mit geringem Einkommen. Neben den aus den öffentlichen Mitteln und von gemeinnützigen Organisationen unterstützten Angeboten gibt es für diese Zielgruppe in Deutschland eine Vielzahl attraktiver und preisgünstiger Quartiere. Dazu gehört auch der Urlaub auf dem Bauernhof. Wir sehen nicht, wie eine Mitgliedschaft in dieser Organisation den Menschen, um die es doch eigentlich geht, tatsächlich konkret helfen soll. Lassen Sie mich aber auch gern eine persönliche Anmerkung anfügen: In der Begründung zum Antrag der Fraktion Die Linke wird Bezug genommen auf den Ethikkodex der Welttourismusorganisation UNWTO, in dem das „universelle Recht auf Tourismus“ angesprochen wird. Mit Verlaub: Die Partei Die Linke steht in der Nachfolge der Parteien PDS und SED. Diese Partei beteiligt sich immer wieder gern an der Verherrlichung der SED/DDR-Vergangenheit - und dazu gehört auch, dass die Regierung das eigene Volk eingesperrt hat. Damals gab es überhaupt kein Recht auf Tourismus und freies Reisen, Reisefreiheit war ein Fremdwort. Von dieser Partei braucht sich niemand etwas über das „Recht auf Tourismus“ sagen zu lassen. Auch aus diesem Grunde bitte ich um Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich, dass wir uns heute erneut mit Kindern und Jugendlichen befassen, genauer: mit ihren Chancen zu reisen und ihren Horizont zu erweitern. Die vorliegenden Anträge haben viel Bewegung in das Themenfeld gebracht. Das allein reicht aber nicht. Wir müssen die entstandene Dynamik für gutes politisches Handeln nutzen. Schon die Titel der Anträge machen deutlich, wie verschieden die politischen Ansätze sind. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, geht es vor allem um die Tourismuswirtschaft, die sich den Markt der Kinder- und Jugendreisen stärker erschließen soll. Natürlich wollen auch wir, dass der starke Aufwind im Deutschlandtourismus anhält und wir in diesem Jahr die Schallmauer von 400 Millionen Übernachtungen durchbrechen. Der SPD kommt es jedoch in erster Linie darauf an, Kindern und Jugendlichen das Reisen zu ermöglichen. Wir wollen allen jungen Menschen die Chance geben, zu reisen, unser Land und andere Kulturen kennenzulernen, toleranter und selbstbewusster zu werden. Dass Reisen die persönliche Entwicklung stärkt, wissen wir alle aus eigenen Kindheitserfahrungen. Reisen bildet - und die Bildung und Entwicklungschancen unserer Kinder sind uns viel wert. Dazu gehört, Zu Protokoll gegebene Reden das nötige Geld bereitzustellen, um qualitativ hochwertige Reiseangebote für Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Gemeinnützige und jugendverbandliche Träger stehen in besonderem Maße für pädagogisch wertvolle Angebote, von denen auch Kinder aus Familien profitieren, die kaum Geld für einen Urlaub übrig haben. Die Förderung aus dem Kinder- und Jugendplan des Bundes ist deshalb unverzichtbar. Sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen, jungen Menschen mit Behinderung und mit Migrationshintergrund wird bei der Förderung besonderes Augenmerk gewidmet. Sehr bedauerlich ist, dass CDU/CSU und FDP in diesem Jahr die Mittel für Jugendherbergen, Jugendbildungs- und Begegnungsstätten um 500 000 Euro gekürzt haben. Dass Sie, meine Damen und Herren Koalitionäre, dies in Ihrem Antrag auch noch falsch darstellen und verschweigen, wirft ein schlechtes Licht auf Ihren Antrag. Wir haben uns bereits im letzten Jahr im Haushaltsausschuss gegen die Kürzungen gestellt. Wir fordern Sie auch jetzt mit unserem Antrag auf: Nehmen Sie die Kürzungen im neuen Haushalt zurück! Damit können Sie mehr für Kinder- und Jugendreisen tun als mit ihrem wortreichen, aber schlappen Antrag. Zwischen Reden und Handeln liegen Welten bei Ihnen. Sie sind seit 2009 in Regierungsverantwortung und hätten schon seit drei Jahren etwas tun können - vor allem für die Familien mit Kindern und Jugendlichen, die sich aus dem eigenen Geldbeutel keine Reise leisten können. Ich erinnere Sie gerne daran: Die SPD war es, die sich im vorigen Jahr im Vermittlungsausschuss dafür eingesetzt hat, dass vom Bildungs- und Teilhabepaket auch Familien profitieren, die Kinderzuschlag und Wohngeld beziehen. Mit Erfolg: 500 000 Kinder zusätzlich haben Anspruch auf die monatlichen 10 Euro. Diese können für Ferienfreizeiten angespart werden. Sie hätten das am liebsten verhindert. Gut, dass Sie an uns nicht mehr vorbeikommen im Bundesrat. Wir haben Ende April beim Polittalk mit den Reiseanbietern und Trägern der Kinder- und Jugendarbeit ausführlich über Kinder- und Jugendreisen diskutiert. Es wurde von allen Seiten bestätigt, dass unsere Forderung sinnvoll ist, den 2002 von Rot-Grün aufgelegten „Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ weiterzuentwickeln. Wir brauchen dringend neuen Schwung und müssen den Aktionsplan thematisch breiter aufstellen. Ein zentraler Baustein ist, Betreuerinnen und Betreuer optimal zu qualifizieren und auch für das Problem sexueller Gewalt zu sensibilisieren. Wichtig ist ebenfalls, gesundheitsfördernde Konzepte durchzusetzen. Gesundes Essen und viel Bewegung sind zu fördern. Die Jugendaktion „GUT DRAUF“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet eine gute Grundlage. Das Ziel ist klar: Es muss überall gewährleistet sein, dass Kinder und Jugendliche in guten Händen sind und das Kindeswohl an allen Stellen berücksichtigt wird. Wir sagen der Bundesregierung ganz deutlich: Setzt euch dabei mit den Trägern zusammen. Dort sind viel Sachverstand und praktische Erfahrung vorhanden, die die Politik nutzen sollte. Die Regierung muss auch die Länder ins Boot holen. Wir müssen es schaffen, dass alle Länder eigene Aktionspläne für den Kinder- und Jugendtourismus ableiten und umsetzen. Hier haben die meisten Nachholbedarf. Der Dachverband Bundesforum Kinder- und Jugendreisen hat ebenfalls die SPD-Forderung begrüßt, eine interministerielle Arbeitsgruppe einzurichten, um bestehende Kompetenzen zusammenzuführen. Wir fordern die Regierung zudem auf: Gebt den Vereinen und Verbänden einen zentralen Ansprechpartner! Sie dürfen sich nicht länger im Labyrinth der verschiedenen Ministerien verirren. Das sind allesamt Punkte, die die Koalition verschlafen hat, auch in ihrem Antrag. Wir lehnen diesen deshalb ab. Fördern Sie Kinder- und Jugendreisen richtig, und unterstützen Sie unseren Antrag! Er geht weit über die Prüfaufträge des Koalitionsantrags hinaus. Ich hoffe, dass auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, sich noch anschließen. Denn die vorgebrachten Gründe für eine Enthaltung zu unserem Antrag sind nicht stichhaltig. Sie schreiben in der Beschlussempfehlung, dass wir nichts zur Datenlage sagen. Das stimmt nicht. Wir fordern, dass bundesländerübergreifend eine einheitliche statistische Erfassung für Kinderund Jugendreisen geschaffen wird. Wir wollen aktuelle, zuverlässige Zahlen auf dem Tisch haben. Und die von Ihnen gewünschte konzertierte Aktion zur Verbesserung der Qualität und Qualifizierung wollen wir ja gerade mit der Fortschreibung des Aktionsplans erreichen - gemeinsam mit den Fachleuten der Träger. Sie können sich unserem Antrag also bedenkenlos anschließen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ich freue mich über Ihre Unterstützung des Antrags. Sie selbst haben zum heutigen Debattenpunkt Ihren Antrag zur Mitgliedschaft der Bundesregierung in der International Organisation of Social Tourism, OITS, aufsetzen lassen. Die OITS verfolgt international das Thema Sozialtourismus. Darüber können sicher gute Praxisbeispiele ausgetauscht werden, wie mehr Menschen am Tourismus teilhaben können. Das Ziel, dass alle Menschen am Tourismus teilhaben können, haben wir in unserer Regierungszeit auch in den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundesregierung beschlossen. Wir denken, dass Deutschland in der OITS mit dem Bundesforum Kinder- und Jugendreisen bereits gut vertreten ist. Da kaum andere staatliche Stellen Mitglied der OITS sind, scheint die Beteiligung der deutschen Regierung verzichtbar. Deshalb enthalten wir uns bei der Abstimmung über diesen Antrag.

Helga Daub (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003515, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vorab: Es war wichtig und richtig, sich in den vergangenen Monaten so intensiv mit dem Thema Kinderund Jugendreisen zu beschäftigen. Darüber sind sich die Koalitionsparteien einig. Die breite Resonanz auf unZu Protokoll gegebene Reden sere Beratungen in den Reihen der Träger dieser Reisen zeigt die Relevanz des Themas. Von den vielen Stellungnahmen aus dem Nichtregierungsbereich greife ich das Bundesforum Kinder- und Jugendreisen heraus. Das Forum hat in seiner neuerlichen Stellungnahme recht mit seiner Feststellung - ich zitiere -: Kinder- und Jugendreisen werden in Deutschland durch eine vielfältige Trägerlandschaft mit unterschiedlichen Wertevorstellungen und unterschiedlichen Zielen veranstaltet. Darunter sind gemeinnützige Anbieter, Organisationen mit gewerblicher Firma und gemeinnützigem Verein sowie gemeinnützige Anbieter. Unabhängig von der Gesellschaftsform müssen beide Bereiche wirtschaftlich arbeiten. Damit sind die Rahmenbedingungen für unsere Beratungen eigentlich hervorragend beschrieben. Für die FDP fasse ich zusammen, welche Ansprüche wir an den Kinder- und Jugendtourismus haben: Wir wollen Vielfalt. Wir wollen Wettbewerb. Wir wollen Qualität. Wir wollen Wirtschaftlichkeit. Wir wollen aber keine mehr oder weniger willkürlichen Abgrenzungen zwischen den Veranstaltern. Im Sinne einer besseren Zusammenarbeit aller Anbieter von Kinder- und Jugendreisen wünschen wir uns im Übrigen auch eine weitere Öffnung des Bundesforums Kinder- und Jugendreisen e.V. für gewerbliche Anbieter. Wichtig ist für uns: Auf die Qualität der Angebote kommt es an. Und da gelten für Kinder- und Jugendreisen natürlich andere Kriterien als für Angebote des Massentourismus. Für uns gibt da unser Koalitionsantrag am meisten her. Wir bedauern, dass sich dafür eine breitere und fraktionsübergreifende Akzeptanz nicht herstellen ließ. Der SPD-Antrag bringt uns - wie schon in den vorangegangenen Diskussionen und Debatten gesagt - nicht weiter. Wieder einmal wollen die Sozialdemokraten ihre altbekannten und längst verworfenen Instrumente auspacken. Hier soll ein Haushaltstitel angehoben werden, dort sollen Bundesmittel erhöht werden, Statistiken erstellt und neue bürokratische Positionen geschaffen werden. Das alles kostet ein Heidengeld und bringt nichts für die Kinder- und Jugendlichen. Was den Antrag der Fraktion Die Linke angeht, kann ich nur sagen: Jeder nach seinen Möglichkeiten! Wir packen die Dinge an, formulieren konkrete Vorschläge und bringen die Beteiligten an einen Tisch. Die Linke fordert die Mitgliedschaft in einer weiteren internationalen Organisation, in der es um den sozialen Tourismus geht. Na prima, die werden unsere Probleme schon lösen, wenn wir den jährlichen Mitgliedsbeitrag bezahlen. Nein, unverändert bleibt richtig: Kinder und Jugendliche werden als bedeutende Zielgruppe für die Reisebranche häufig unterschätzt. Beim Reisen entwickeln die jungen Menschen den Blick für Neues und anderes. Nie mehr im Leben ist der Mensch so lernfähig und aufnahmebereit wie gerade in der Jugend, und gerade auch deshalb gilt es, den Bereich Kinder- und Jugendtourismus weiterhin im Fokus zu behalten. Dass wir das tun wollen, ist aber längst klar. Die Initiative der DZT beweist das. Insgesamt hilft die öffentliche Hand an vielen Stellen bereits heute bei notwendigen Finanzierungen. Ich schließe mich dem Lob des Deutschen Jugendherbergswerks in seiner Stellungnahme zur Ausschussberatung ausdrücklich an: Mit MeckPomm, einem speziellen Angebot für Klassen- und Jugendreisen aus Mecklenburg-Vorpommern, gibt es ein Beispiel dafür, was zum Beispiel auf Länderebene noch alles getan werden kann. An diesem Beispiel könnten sich auch andere Bundesländer orientieren und evaluieren, welche touristischen Angebote für Kinder und Jugendliche vorhanden sind und wo Verbesserungen möglich sind. „Action am Strand“, Rangertouren im Wald oder „Paddeln statt Pauken“ sind Ideen, die sich nicht nur mit MeckPomm umsetzen lassen. Man muss eben nur einmal genau hinsehen. Ich will mich an dieser Stelle nicht wiederholen und verweise auf unsere früheren Diskussionen. Richtig bleibt: Die Bundesregierung wird diesen wichtigen touristischen Bereich weiter unterstützen; finanziell - aber auch dort, wo es gilt, die ausgetretenen Pfade zu verlassen und Neues zu wagen. Aber Gießkannenpolitik à la SPD oder neue Mitgliedschaften in unbekannten Organisationen, wie von der Linkspartei gefordert, bringen uns auch beim Kinder- und Jugendtourismus nicht weiter. Gute Ideen sind gefragt, und die waren in dem bereits beschlossenen Koalitionsantrag längst enthalten. Wir sehen deswegen immer noch keinen Grund, dem Antrag der SPD oder dem Antrag der Linkspartei zuzustimmen, und werben für unseren eigenen.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den Antrag der Linken, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, Mitglied in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus zu werden, ab. In der Begründung heißt es: „Schon jetzt engagiere sich die Bundesregierung stark im so genannten Sozialtourismus.“ Sie verwies auch auf „die Gefahr eines Subventionswettlaufs zulasten sich selbst tragender Angebotsstrukturen.“ Siehe Drucksache 17/9308. Was damit gemeint sein könnte, erfuhren die Zuschauerrinnen und Zuschauer der Sendung „Panorama“ am 7. Juni 2012 in der ARD: „Allgäu, Haus am See, Doppelzimmer ab 9 Euro die Nacht. Oder Häuschen für 6 Personen in Italien, 20 Euro die Nacht für alle. Und hier: Eine Nacht im bayerischen Schloss Hohenaschau ab 7 Euro 80. Nicht schlecht, was? Buchen kann man diese sagenhaft günstigen Urlaube allerdings nur, wenn man etwa Beamter oder Angestellter der Bundesverwaltung ist. Zum Beispiel Diplomaten, Zöllner oder Finanzoder Ministerialbeamte. … Kampen auf Sylt. Traumhafte Landschaft, nur leider für Normalverdiener fast unbezahlbar. Oft kosten Ferienwohnungen in Strandnähe mehr als 100 Euro am Tag, es sei denn man ist Beamter oder Angestellter der Bundesverwaltung. Wie hier in Kampen finden sich auf der Insel so einige preiswerte Domizile für Staatsdiener. Diese Ferienwohnung zum Beispiel ist schon für ganze 6,60 Euro pro Nacht und Zu Protokoll gegebene Reden Person zu haben. Da ist die Erholung nur ein Grund nach Sylt zu fahren.“ Seit 52 Jahren organisiert das Sozialwerk „Bund“ mit millionenschweren direkten und indirekten Zuschüssen preiswerte Reisen für Bundesbeamte, unabhängig von deren Einkommen und sozialer Bedürftigkeit. Natürlich fehlt dann das Geld an anderer Stelle, zum Beispiel für dringend notwendige Investitionen in den Kinderund Jugenderholungszentren, in Jugendherbergen oder für den Jugendaustausch in Richtung Osteuropa. Auch die wenigen sozial wirklich bedürftigen Familien, die mal Urlaub in den von Bund bzw. einigen Ländern geförderten Familienheimstätten machen dürfen, würden sich über solche Konditionen sehr freuen. Es würde sich also schon lohnen, wenn die Bundesregierung gemäß eigenen Worten zielgerichtet fördert und nicht mit der Gießkanne die Steuermittel verteilt. Und es würden sich dann auch die 4 000 Euro für den jährlichen Mitgliedsbeitrag in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus finden. Ich meine, es wäre gut angelegtes Geld, denn der Erfahrungsaustausch mit den rund 140 Mitgliedern, darunter die Staaten Griechenland, Italien, Polen, Belgien, Frankreich, Schweiz, Türkei, Portugal, Spanien und Mexiko, in dieser 1963 gegründeten Organisation käme auch der Entwicklung des Tourismus für Kinder und Jugendliche, für Menschen mit Behinderungen und finanzschwachen Familien in Deutschland zugute. Ein Drittel der Kinder in Deutschland - dem „Reiseweltmeister“ - kann nicht in den Urlaub fahren. Tendenz steigend! Es sind vor allem finanzielle, aber auch bauliche und kulturelle Barrieren. Das ist kein Problem, welches sich durch die Selbstheilungskräfte des Marktes lösen lässt. Hier ist die Politik gefragt. Auch und gerade für diese Kinder und Jugendlichen sind Reisen zur Förderung von Bildung, Erholung, Gesundheit und Weltanschauung wichtig. Welche Kenntnisse die Bundesregierung zur realen Situation in diesem Bereich hat, zeigt sich in der Antwort der Bundesregierung vom 7. Februar 2012 auf meine wiederholten Fragen zu Kinder- und Jugendreisen für alle, Drucksache 17/8637, Seite 46/47. Hier teilt die Bundesregierung, vertreten durch ihren Staatssekretär Dr. Bernhard Heitzer, achtmal in ähnlichen Formulierungen mit: „Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor. Entsprechende Daten werden nicht erhoben.“ Und zur Bewertung der Tatsache, dass ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland aus finanziellen Gründen keine Urlaubsreise mehr machen können, antwortet dieser Staatssekretär - Drucksache 17/8637, Seite 48 -: „Auch Menschen mit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellen Einschränkungen sollen reisen können. Über die Nichtteilnahme von Kindern und Jugendlichen an Urlaubsreisen aus finanziellen Gründen liegen der Bundesregierung keine Primärerhebungen vor.“ Ich möchte Ihnen an einem Beispiel zeigen, wie das wirkliche Leben ist, und dazu aus dem Schreiben des Bezirksamtes Pankow von Berlin an das BDP-Integrationsprojekt e.V., BDP - Bund Deutscher PfadfinderInnen, vom 6. Februar 2012 zitieren: „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass der Bezirk Pankow in den Haushaltsjahren 2012 und 2013 keine Leistungen der Kinder- und Jugenderholung im Sinne des § 11 Abs. 3 Nr. 5 SGB VIII mehr erbringen kann. Unter dieses Leistungsangebot fallen auch die behindertenbedingten Mehrkosten bei den Erholungsreisen, die in Ihrer Trägerschaft durchgeführt werden.“ Und das ist kein Einzelfall, sondern die Regel in den Kommunen infolge ihrer Haushalts- und Finanzpolitik. Deswegen fordert die Linke unter anderem eine Fortschreibung des Aktionsplanes Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland durch Bund, Länder sowie die Betroffenen und ihre Interessenverbände; deswegen fordert die Linke, dass eine Klassenfahrt pro Jahr in allen Altersstufen Pflichtteil der schulischen Bildung wird, und deswegen fordert die Linke eine stärkere Förderung von Familienurlauben und -freizeiten. Auch deswegen wird die Linke als Zeichen des guten Willens zur Zusammenarbeit auf diesem Gebiet nicht gegen den Koalitionsantrag stimmen und dem SPD-Antrag zustimmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 17/9913. Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8451 mit dem Titel „Kinder- und Jugendtourismus unterstützen und weiter fördern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen waren SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die Linke hat sich enthalten. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8924 mit dem Titel „Reisen für Kinder und Jugendliche ermöglichen - Förderung sicherstellen und ‚Aktionsplan Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland‘ weiterentwickeln“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen von SPD und Linken. Tagesordnungspunkt 28 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Mitgliedschaft in der International Organisation of Social Tourism“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9308, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4844 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die SPD hat sich enthalten. Bündnis 90/Die Grünen und die Linke waren dagegen, die Koalitionsfraktionen dafür. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Tagesordnungspunkt 31: Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Menschenrechte in Zentralasien stärken - Drucksache 17/9924 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden sind zu Protokoll genommen.

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Regionen Zentralasiens und des Kaukasus sind seit dem Zerfall der Sowjetunion fast traditionell ein außenpolitisches Randthema der Europäischen Union, aber auch Deutschlands. Oftmals richtet sich unser prüfender Blick zu unseren östlichen Partnern nur, wenn Großevents wie die Fußballeuropameisterschaft in der Ukraine oder ein großes europäisches Event wie der Eurovisioncontest in Aserbaidschan gastieren. Dabei ist die Nichtbeachtung dieser Weltregion für unsere nationalen wirtschaftlichen Interessen und demokratischen Ansprüche nahezu sträflich, befindet sich doch eine Vielzahl von Rohstoffen, Handelswegen und geostrategischen Ansätzen in der Region, die Deutschland und Europa besser im Blick haben müssen. Zudem ist Deutschlands Engagement im Bereich der Verbesserung der Menschenrechte gefragt. Gerade die Regierungen der zentralasiatischen Länder - Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan - sind für die Missachtung der Menschenrechte bekannt. In einigen Ländern wie Usbekistan und Turkmenistan hat sich die Situation seit dem Ende der Sowjetunion sogar noch verschlechtert. Turkmenistan gilt als eines der repressivsten Länder der Welt. Kasachstan wird immer noch von einem Spitzenpolitiker der ehemaligen Sowjetunion, Nursultan Nasarbajew, regiert. Die aktuelle Regierung Kirgisiens kam vor zwei Jahren an die Macht und versprach Reformen. Bis jetzt hatte der Menschenrechtsschutz in dem Land jedoch weiter keine Priorität. Das untergeordnete Interesse der EU an dieser Weltregion zeigt auch, dass nur Deutschland das einzige Land innerhalb der Europäischen Union ist, das in allen fünf zentralasiatischen Staaten Botschaften unterhält. Zudem ist Deutschland im Rahmen der EU der größte bilaterale Geldgeber. Wir genießen in Zentralasien einen sehr guten Ruf als ehrlicher Makler. Trotz unseres im Vergleich zu unseren EU-Partnern starken Engagements bleiben auch hier die wechselseitigen Interessen untereinander diffus - jeder gibt sich offen, aber niemand weiß so recht, was durch die Tür kommen wird. Um diesem Missstand entgegenzuwirken, hat die Bundesregierung kürzlich im Rahmen der EU-Zentralasienstrategie darauf gedrungen, eine Vielzahl von Angeboten an die Länder Zentralasiens zu formulieren. Die Chancen, den deutschen Einfluss und damit auch unsere positiven Standards nachhaltiger in die Region einzubringen, sind gegeben. Nachdruck ist deshalb mehr denn je gefordert, denn alle Länder Zentralasiens sind an einer intensiven Zusammenarbeit mit Deutschland interessiert. Klar ist, sollten wir unser Engagement erhöhen, werden wir auch eine nachhaltigere Menschenrechtspolitik in Zentralasien erreichen. Faire Zusammenarbeit und Ehrlichkeit sind Tugenden, die die Regierungen dort verstehen, denn noch befinden sich die jungen Staaten des Kaukasus und Zentralasiens im schwierigen Prozess des Übergangs zur Demokratie. Aus diesem Grund sollten wir klar in der Analyse der Probleme sein, um die demokratische und wirtschaftliche Zusammenarbeit in den nächsten Jahren zu verbessern. Eines der Hauptprobleme der gesamten Region sind nach wie vor die wirtschaftliche Situation sowie aufflammende ethnisch definierte Konflikte - in NagorniKarabach, Abchasien, Südossetien und anderen Teilen des Kaukasus und Zentralasiens. Die bleibend labile Sicherheitslage in Zentralasien ist symptomatisch für die mangelnde soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklung in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die sich sowohl mit wachsender politischer Unzufriedenheit im Innern als auch mit immer häufigeren Scharmützeln in den Grenzgebieten konfrontiert sehen. Eine Bedrohung stellt zudem auch der Drogenhandel - insbesondere mit Opium - dar, doch handelt es sich dabei nicht um die bedeutendste Gefährdung für die Sicherung einer friedlichen Entwicklung. In dieser schwierigen Gemengelage entwickeln sich viele Staaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu mehr oder weniger demokratischen Strukturen. Nicht alles ist perfekt, doch die Richtung stimmt für mich in kaukasischen Ländern wie Armenien, Georgien und mit mehr Abstrichen auch Aserbaidschan, vielleicht sogar in Abgrenzung zu Zentralasien im gesamten Kaukasus. Gerade bei meiner Tätigkeit als Wahlbeobachter der OSZE bei den Wahlen in Armenien hat sich gezeigt, dass die demokratischen Spielregeln geachtet werden und die Umsetzung von Menschenrechten auch bei der Regierung nicht nur Lippenbekenntnis ist. Es lohnt jedoch auch ein kurzer Blick auf die anderen Länder Zentralasiens, um einen Eindruck zu bekommen, dass noch vieles im Bereich der Menschenrechte im Argen liegt. Die meisten ungelösten Probleme im Bereich der Menschenrechte gibt es in Turkmenistan und Usbekistan. Das sind zwei Staaten, in denen Andersdenkende besonders unterdrückt werden - und das nicht nur politisch oder religiös, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Fakt ist, dass internationale Menschenrechtsaktivisten zudem nur schwer in diesen beiden Ländern arbeiten können. Anders sieht die Lage wiederrum in Kirgisistan, Kasachstan und Tadschikistan aus, wo es Vertretern von Amnesty International durchaus gelingt, mit Bürgern vor Ort zu sprechen. Mir erzählen europäische Menschenrechtsaktivisten oft, dass im Falle Usbekistans vor allem auf den Umgang mit der Todesstrafe in dem Land aufmerksam geJürgen Klimke macht werden muss. Seit dem 1. Januar 2009 ist die Todesstrafe zwar abgeschafft, trotzdem ist nicht bekannt, wie viele Personen von Gerichten bereits zum Tode verurteilt worden sind und bei wie vielen Menschen die Todesstrafe inzwischen durch eine lebenslange Haftstrafe ersetzt worden ist. Manchmal wissen die Angehörigen der zum Tode Verurteilten nicht, ob ihre Angehörigen noch leben oder nicht. In Tadschikistan müssen wir besonders das Thema häusliche und sexuelle Gewalt ansprechen. Ein weiteres Problem: Flüchtlinge und Asylsuchende aus Usbekistan werden in Kirgisistan nach wie vor mit dieser Abschiebung bedroht, betonen viele besonders in Deutschland engagierte Menschenrechtler. In Kasachstan haben die Behörden den Druck auf Vertreter religiöser Minderheiten verstärkt. Weiterhin bleiben Brutalität und Amtsmissbrauch bei Vertretern kasachischer Rechtsschutzorgane immer noch unbestraft, obwohl der Staat versichert hat, für Ordnung zu sorgen. Viele Menschenrechtler machen zudem auf russischen Einfluss in ehemaligen Sowjetrepubliken aufmerksam. Es ist daher die Aufgabe der deutschen und europäischen Politik, den Einfluss Russlands mit einer aktiven Politik zurückzudrängen. Leider nehmen sich häufig die zentralasiatischen Staaten die russische Praxis zum Vorbild. Beispielsweise hat man gerade erst das russische Gesetz über Nichtregierungsorganisationen in Kirgisistan übernommen, was die Arbeit von Menschenrechtlern deutlich erschwert. Auch ist der Einfluss Russlands auf den Stand der Ermittlungen zur Erschießung friedlicher Bürger in Andischan in Georgien zu beobachten. Wir sehen also, dass die Kooperation zwischen der EU, Deutschland und den Ländern Zentralasiens und dem Kaukasus intensiv fortgeführt werden muss, damit die benannten Missstände abgebaut werden können. Ich empfehle daher eine effektivere Koordination der existierenden Strategien: Wesentlich ist ein Ausbau der Vertretung und damit der Sichtbarkeit der EU und des Europäischen Auswärtigen Dienstes in der Region. Investiert werden muss in eine Bildungs- und Ausbildungsinitiative, die der jungen Generation Perspektiven bietet. Eine Ausbildung zukünftiger zentralasiatischer Eliten an europäischen Hochschulen muss gefördert werden. Es muss ein regelmäßiger, strukturierter und ergebnisorientierter Menschenrechtsdialog mit den einzelnen Staaten stattfinden. Die Zusammenarbeit mit der OSZE, den Vereinten Nationen, internationalen Finanzinstitutionen und regionalen Organisationen soll ausgebaut werden. Ich möchte besonders hervorheben, dass die Bundesregierung die wichtige Rolle, die die auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik bei der europäischen Zentralasien-Strategie spielen kann, in den letzten Jahren massiv unterstützt hat. Gerade auf zivilgesellschaftlicher Ebene, gerade im Umgang mit Ländern, wo sich die Beziehung auf staatlicher Ebene nicht gerade problemlos und durch offene Kommunikation auszeichnet, ist das Instrument der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik von unschätzbarem Wert. Es ist daher gut, dass die Bildungsoffensive im Kaukasus und Zentralasien durch diese Bundesregierung verstärkt wurde. Der Kaukasus und Zentralasien sind unser Brückenkopf nach Asien. Dieser Leitlinie müssen wir uns immer wieder bewusst werden, wenn wir über unsere zukünftigen geostrategischen Entwicklungen nachdenken. Die Bundesregierung und die EU haben auf der politischen Ebene seit 2007 konstruktive Schritte unternommen. Es gilt auch, die europäische Öffentlichkeit stärker auf die Chancen und Probleme dieser Länder aufmerksam zu machen. Neue Partnerschaften brauchen auch ein gesellschaftliches Fundament. Hieran müssen wir noch viel arbeiten.

Ullrich Meßmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Seit 2007 bildet die EU-Zentralasien-Strategie den politischen Rahmen, um die Zusammenarbeit zwischen Europa und den zentralasiatischen Staaten zu intensivieren. Sie wird seit Anfang 2012 überprüft und soll in neuen EU-Ratsschlussfolgerungen zu Zentralasien münden. Europa hat sich mit der Zentralasien-Strategie vor allem das Ziel gesetzt, die gute Staatsführung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die Einhaltung von Menschenrechten zu fördern. Mit demokratisch anmutenden Verfassungen haben sich die zentralasiatischen Länder - Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aber nicht in eine demokratische, sondern eher in eine autoritäre Richtung entwickelt. Die fortlaufende Verlängerung der Amtszeiten der Präsidenten und die anhaltend prekäre Menschenrechtslage gehen dabei Hand in Hand. Offenbar fürchten die regierenden Präsidenten, dass eine Öffnung und Demokratisierung der Gesellschaft unmittelbar mit ihrem Machtverlust verbunden ist. Stabilität wird so in den zentralasiatischen Staaten als Stabilität der Regime verstanden und Sicherheit wird nicht auf den einzelnen Menschen und die Wahrung seiner Rechte, sondern auf die staatstragenden Eliten bezogen. Die EU hingegen sieht gerade in Öffnung und Demokratisierung die Voraussetzung für Sicherheit und Stabilität sowie für wirtschaftliche Entfaltung. Auf diese Diskrepanz gilt es einen entsprechenden Politikansatz, mit dem die EU und Deutschland den zentralasiatischen Staaten gegenübertreten können, zu finden. Die menschenrechtliche Lage in den zentralasiatischen Staaten ist besorgniserregend: In keinem der fünf Staaten existiert ein wirklich unparteiisches Rechtssystem, es gibt teilweise keine Verfassungsgerichtsbarkeit und Frauen und Minderheiten sind nicht ausreichend geschützt. Hier versucht die EURechtsstaatsinitiative mit konkreten Projekten, Beratungen, Ausbildungshilfen und Ähnlichem Abhilfe zu schaffen. Auch die Arbeit der politischen Stiftungen leistet hier einen Beitrag. Kleine Erfolge sind zwar sichtbar, aber wir brauchen unverminderte Anstrengungen, um die rechtliche Situation der Menschen in Zentralasien schrittweise zu verbessern. Zu Protokoll gegebene Reden Auch die Religionsfreiheit ist in den zentralasiatischen Ländern teilweise erheblich eingeschränkt. Das betrifft sowohl das freie Bekenntnis als auch die Mission. Kleinen Verbesserungen - wie zum Beispiel bei der Registrierung von Gemeinden - stehen teilweise gravierende Verschlechterungen - wie zum Beispiel das tadschikische Gesetz über die „Verantwortung der Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder“, das grundsätzlich die Religionsausübung stark beschneidet - gegenüber. Das Bildungssystem ist ebenfalls in einem alarmierend schlechten Zustand, und in Ländern wie Usbekistan stellt der umfangreiche Einsatz von Kindern bei der Baumwollernte einen zusätzlichen Bildungshemmschuh dar. Die Reise- und Bewegungsfreiheit ist besonders für regimekritische Menschenrechtsverteidiger und Journalisten teilweise erheblich eingeschränkt. Die Situation in den Gefängnissen ist größtenteils erschreckend, Haftbedingungen menschenunwürdig und Folter an der Tagesordnung. Regelmäßige Besuche des IKRK finden nicht statt, und es ist hier noch erheblicher politischer Druck nötig, um die Situation vor allem der politischen Gefangenen nachhaltig zu verbessern und menschenwürdig zu gestalten. Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit gibt es nur in eingeschränktem Maße. Kritische Journalisten werden verfolgt, es herrscht zum Teil strikte staatliche Zensur. Besonders der Zugang zu Informationen über das Internet und internationale Medien muss ermöglicht und die staatliche Zensur abgeschafft werden. Politische Opposition wird unterdrückt, Wahlen immer noch manipuliert und Wahlergebnisse gefälscht, obwohl sich alle zentralasiatischen Staaten durch ihre OSZE-Mitgliedschaft automatisch zur Einhaltung des Kopenhagener Dokuments und damit zur Durchführung von Wahlen nach demokratischen Standards verpflichtet haben. Nach wie vor werden politische Oppositionsparteien bei ihrer Arbeit behindert, Gegenkandidaten zu den amtierenden Machthabern nicht zur Wahl zugelassen oder in Haft genommen. Unbequeme Journalisten, Gewerkschafter, Umweltaktivisten und Menschenrechtsverteidiger sind ständiger Behinderung und Verfolgung ausgesetzt. Die Maßnahmen reichen von Schikanen, Berufsverbot und Hausarrest hin zu Inhaftierung und teilweise Ermordung. Jüngstes Beispiel ist der Gewerkschaftsaufstand in der Stadt Zhanaosen, der in einem beispielhaften Schauprozess mit 34 teilweise äußerst fragwürdigen Verurteilungen sein unrechtes und nicht der Aufklärung verpflichtetes Ende fand. Der Vorfall von Zhanaosen wirft aber auch die drängende Frage auf, ob die Beziehungen Deutschlands und der EU zu den zentralasiatischen Regierungen politisch tragfähig und menschenrechtlich vertretbar sind, oder ob Deutschland und die EU Gefahr laufen, sich dem Vorwurf der doppelten Standards auszusetzen, wenn sie einerseits die Menschenrechtsverletzungen in den zentralasiatischen Ländern verurteilen, aber andererseits keine Konsequenzen daraus für ihre Wirtschaftsbeziehungen zu den einzelnen Ländern ziehen. Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern sind notwendig, denn nur der Dialog schafft die Voraussetzungen für Veränderungen. Es müssen aber konkrete Verbesserungen für die Menschen erreicht werden, reden allein kann da zu wenig sein. Seit Anfang 2012 läuft eine Überprüfung der EU-Zentralasien-Strategie, die in neuen EU-Ratsschlussfolgerungen zu Zentralasien münden soll. Dies ist sehr zu begrüßen. Wichtig erscheint vor dem Hintergrund der Umbrüche in der arabischen Welt besonders eine stärkere Fokussierung auf die Zivilgesellschaft, denn nur deren Erstarken wird einen demokratischen und friedlichen Wandel bewirken können. Es gilt die hinsichtlich ihrer bürgerlichen Freiheiten und persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten politisch enttäuschten Menschen zu adressieren und sie in die Lage zu versetzen, sich zu vernetzen und politisch zu artikulieren. Dann können jene kritischen Massen entstehen, die in den arabischen Ländern Massenproteste in Gang gesetzt haben und die autoritäre Regime einer ganzen Region erschüttert und zum Einsturz gebracht haben. Daneben müssen selbstverständlich die Projekte und Initiativen zur Rechtsstaatlichkeit, zur Verbesserung der Situation in den Gefängnissen und alle anderen weiter gefördert und angemessen finanziell ausgestattet werden. Das Gelingen sämtlicher Bemühungen wird von einer stärkeren Hinwendung zur Zivilgesellschaft und ihrer Akteure abhängen. Ein Verharren bei den vermeintlich Mächtigen dieser Länder kann dazu führen, dass die Ansprechpartner in den jeweiligen Ländern wegbrechen, da eher mittel- als langfristig mit einem Erstarken der Zivilgesellschaft in den zentralasiatischen Ländern und damit mit einem Ende der autoritären Regime zu rechnen ist. Dann tun Deutschland und die EU gut daran, für den Aufbau einer demokratischen Spielregeln verpflichteten wirtschaftlichen und kulturellen Partnerschaft die entsprechenden Ansprechpartner zu kennen.

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich begrüße die Debatte zu einer Region, die oft nur durch die Brille der wirtschaftlichen und energiepolitischen Zusammenarbeit gesehen wird. Derweil sind die Regierungen der zentralasiatischen Länder - Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan - für die Missachtung der Menschenrechte ihrer Bevölkerung bekannt. In einigen Ländern wie Usbekistan und Turkmenistan hat sich die menschenrechtspolitische Situation seit dem Ende der Sowjetunion sogar noch verschlechtert. Turkmenistan gilt als eines der repressivsten Länder der Welt. Kasachstan wird immer noch von einem Spitzenpolitiker der ehemaligen Sowjetunion, Nursultan Nasarbajew, regiert, ohne eine einzige nationale Wahl gemäß den OSZE-Wahlstandards abgehalten zu haben. In Usbekistan steht staatlich organisierte Kinderarbeit und Zwangsarbeit auf der Tagesordnung. Die Forderungen an Usbekistan, eine ILOZu Protokoll gegebene Reden Untersuchungskommission einreisen zu lassen, verhallen schon seit Jahren ungehört. Wie in dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen richtig dargelegt, wird Stabilität in den semiautoritären bzw. autoritären Regimen Zentralasiens als „Stabilität des Regimes“ verstanden; eine offene demokratische Gesellschaft dagegen als dessen Risiko, einhergehend mit Macht- und Reichtumsverlust für die herrschende Elite. Was der vorliegende Antrag allerdings nur unzureichend beleuchtet, ist die Diskrepanz zwischen den Ländern Zentralasiens. Die Heterogenität der Länder untereinander und die schwelenden Konflikte zwischen den einzelnen Ländern dürfen nicht übersehen werden. Sie sind für die Behebung menschenrechtlicher Vergehen - auch diese sind in den jeweiligen Ländern unterschiedlich ausgeprägt - mit einzubeziehen. Während in Zentralasien ethnische Konflikte zwischen den einzelnen Ländern auf der einen Seite bestehen, herrschen Verteilungskonflikte um Wasser auf der anderen Seite. Manche Länder profitieren von deren Öl- und Gasreichtum, während Kirgisistan und Tadschikistan wirtschaftlich stagnieren. Die wirtschaftliche und soziale Schieflage zwischen den Ländern wird durch Probleme der organisierten Kriminalität, so beispielsweise des Drogenhandels aus Afghanistan, verschärft. Die fehlende Stabilität der Region, resultierend aus den genannten Konflikten, führt zu negativen Ausstrahleffekten - im Bereich der organisierten Kriminalität, des Terrorismus etc. - bis nach Europa. Ein weiterer Punkt, der Deutschland und Europa unmittelbar betrifft, ist die Stabilisierung und die zukünftige Entwicklung Afghanistans. Denn auch diese ist eben nicht unabhängig von der Situation in den umliegenden Nachbarstaaten. Zentralasien hat als geostrategische Brücke zwischen Europa, Russland und China das Potenzial einer politischen und wirtschaftlichen Drehscheibe. Um jedoch ein verlässlicher Partner Europas zu werden, sind Rechtsstaatlichkeit, verantwortliche Staatsführung und Demokratisierung sowie die Einhaltung von Menschenrechten Voraussetzung. Diese sind ebenso Bedingungen für Sicherheit und Stabilität. Dafür setzt sich die Bundesregierung seit der 1991 gewonnenen Unabhängigkeit der zentralasiatischen Länder ein. Deutschland ist bisher das einzige EU-Land mit Botschaften in allen fünf zentralasiatischen Hauptstädten. Gleichwohl ist die Einflusskraft Deutschlands und Europas auf Zentralasien begrenzt. In ihrer politischen Relevanz rangiert die EU hinter den in Zentralasien seit langem etablierten Akteuren Russland, China und den USA. Dies unterstreicht umso mehr die Wichtigkeit eines gemeinsamen und konzertierten Vorgehens innerhalb Europas. Die Zentralasienstrategie bietet dafür seit 2007 den ersten konzertierten Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen Europa und Zentralasien. Der Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und die Achtung der Menschenrechte stellen dabei einen Schwerpunkt der Zentralasien-Strategie dar. Deutschland engagiert sich sowohl im Rahmen der EU-Zentralasien-Strategie als auch bilateral in vielfältiger Weise in Zentralasien. Die deutschen politischen Stiftungen führen Programme zur Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Zentralasien durch. Seit den 90er-Jahren unterstützt Deutschland die zentralasiatischen Staaten im Bereich der Rechts- und Justizreform. Andere Schlüsselbereiche des deutschen Engagements sind verantwortungsvolle Staatsführung und Demokratisierung. Im Bereich der Rechts- und Justizreform fördert ein Regionalprojekt insbesondere den Aufbau der für die Gewährleistung von Menschenrechten erforderlichen rechtsstaatlichen Strukturen. Im Rahmen dieses Regionalvorhabens erfolgte beispielsweise auch der Erfahrungsaustausch zwischen dem tadschikischen Verfassungsgericht und dem deutschen Bundesverfassungsgericht. In einem weiteren Projekt finden Austausch und rechtliche Zusammenarbeit des Justizministeriums mit den Ministerien Kasachstans und Usbekistans statt, zum Beispiel durch Seminare zum Strafvollzug oder zur Gerichtsorganisation. Im Rahmen der Zentralasienstrategie koordiniert Deutschland gemeinsam mit Frankreich die EU-Rechtsstaatsinitiative für Zentralasien. Zur Förderung des Menschenrechtsschutzes werden mit allen zentralasiatischen Staaten strukturierte Menschenrechtsdialoge durchgeführt. In deren Rahmen erfolgt ein intensiver Austausch mit hochrangigen Vertretern der Justiz- und Innenbehörden der zentralasiatischen Staaten. Die erste Runde des EU-Menschenrechtsdialogs fand 2007 unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft statt. Seit vielen Jahren fördert das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Modernisierung der Rechtssysteme in allen fünf zentralasiatischen Ländern. Seit 2002 wurden hierfür mehr als 12 Millionen Euro bereitgestellt. Schwerpunkte der Beratung sind das Zivil- und Wirtschaftsrecht sowie der Aufbau unabhängiger und qualifizierter Organe der Rechtspflege. Dabei findet ein ständiger Austausch sowohl der zentralasiatischen Staaten untereinander als auch mit deutschen und europäischen Institutionen statt. Deutschland unterstützt zudem ein Projekt mit der Venedig-Kommission des Europarats zur Anwendung internationaler menschenrechtlicher Standards. Darüber hinaus wird der Aufbau von zivilgesellschaftlichen Organisationen auf unterschiedlichen Ebenen mit verschiedensten Instrumentarien unterstützt. Zentrales Element der EU-Politik ist dabei das Programm „Nichtstaatliche Akteure und lokale Behörden in der Entwicklungszusammenarbeit“, das für den Zeitraum 2007 bis 2013 mit Fördermitteln in Höhe von 4,36 Millionen Euro für Projekte in Zentralasien ausgestattet ist. Auch in politischen Gesprächen mit den zentralasiatischen Regierungen setzt sich die Bundesregierung nachdrücklich für die Verbesserung der Menschenrechtslage vor Ort ein. So war der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe zu Gesprächen bereits in Kirgisistan und in Usbekistan. Zu Protokoll gegebene Reden Vor diesem Hintergrund des deutschen Engagements bündelt der vorliegende Antrag ein wichtiges Thema. Doch auch wir als Parlamentarier sind bereits aktiv tätig. So reiste der Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages letztes Jahr nach Tadschikistan und informierte sich vor Ort über die Situation der Menschenrechte im Land. Die Reise nach Usbekistan steht noch aus. Zudem haben Kollegen im Rahmen des Programms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ Patenschaften übernommen; zum Beispiel hat Angelika Graf, MdB, eine Patenschaft für den usbekischen Oppositionspolitiker und Menschenrechtsaktivisten Agzam Turgunov übernommen. Ich fordere alle Kolleginnen und Kollegen auf, sich ebenfalls am Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ zu beteiligen und Patenschaften zu übernehmen. So erhöhen wir die Sichtbarkeit der verheerenden Menschenrechtssituation vor Ort und erhöhen den Druck auf die politischen Eliten. Jeder von uns kann etwas tun - für die Menschenrechte.

Katrin Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004188, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich freue mich, dass wir heute über Zentralasien sprechen. Der Region wurde lange Zeit viel zu geringe Beachtung geschenkt. Zentralasien gliedert sich in die fünf Staaten Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Tadschikistan, zwischen und in denen zahlreiche ungelöste Konflikte bestehen. Vor allem Usbekistan und Turkmenistan sind auch für den Transport und die Logistik des Afghanistankrieges von hoher militärstrategischer Bedeutung. Und nicht zu vergessen: Zentralasien ist außerordentlich reich an Rohstoffen wie Erdöl, Erdgas, Uran und seltenen Erden. Gleichzeitig existieren große ökologische Probleme von überregionaler Bedeutung wie das Verlanden des Aralsees und der Streit um die Wassernutzungsrechte der Quellzuflüsse Amudarja und Syrdarja. Deshalb weisen Expertinnen und Experten immer wieder darauf hin, dass sich die Region in naher Zukunft zum wohl weltweit bedeutsamsten Austragungsfeld imperialer Gegensätze entwickeln könnte. Gegenwärtig konkurrieren bereits die Großmächte Russland, China und die USA um Einfluss in Zentralasien, die EU zeigt ebenfalls wachsendes Interesse. Indien, Pakistan oder der Iran könnten bald noch hinzukommen. Die Türkei verfügt aufgrund ihrer engen sprachlichen und kulturellen Verbindungen ohnehin über historisch enge Sonderbeziehungen zu den TurkRepubliken. Insgesamt ist dies eine komplexe Ausgangsituation, in der sich die Frage stellt, mit welcher Politik Deutschland bzw. die EU die Beziehungen zu den zentralasiatischen Ländern künftig gestalten will und um welche konkreten Interessen es hierbei gehen soll. Ein erster Eindruck lässt sich durch die EU-Zentralasien-Strategie gewinnen. Unter dem Stichwort „Good Governance“ wird als abstraktes Ziel zwar auch die Förderung von Menschenrechten und Demokratie erwähnt, insgesamt dominieren aber wirtschaftliche Interessen, vor allem im Bereich der Energiezusammenarbeit. Konkret geht es um die Diversifizierung der Energiebezugsquellen und Transitwege im Rahmen zu errichtender marktwirtschaftlicher Strukturen in Zentralasien. Das bedeutet nichts anderes, als dass Demokratie und Menschenrechte in der Praxis unter wirtschaftlichem Vorbehalt stehen sollen. Wie heißt es doch in der EU-ZentralasienStrategie? Ich zitiere: Die EU unterstützt die Beseitigung von Handelshemmnissen zwischen den zentralasiatischen Staaten und setzt sich weiterhin dafür ein, dass die vier zentralasiatischen Staaten, die noch nicht Mitglieder der WTO sind, der WTO unter handelspolitisch tragbaren Bedingungen und in voller Übereinstimmung mit den WTO-Anforderungen beitreten können. Der WTO-Beitritt ist der Schlüssel zu einer weiterreichenden Reform und Diversifizierung der Wirtschaft und einer besseren Integration der Staaten in das internationale Handels- und Wirtschaftssystem. Im Kern sollen die zentralasiatischen Länder nur das neoliberale Wirtschaftsmodell der EU übernehmen, damit die EU leichter an die dortigen Rohstoffe kommt und neue Absatzmärkte für sich selbst gewinnt. Das bedeutet: Wenn dabei gegebenenfalls auch mehr Demokratie in den zentralasiatischen Ländern herauskommt, dann ist dies sicherlich gut; wenn dabei aber keine Demokratie herauskommt, dann ist dies im Zweifelsfall egal. Das ist mehr als nur ein menschenrechtspolitisches Armutszeugnis. Es ist Tatsache, dass die EU und die deutsche Bundesregierung jederzeit gern bereit sind, mit autoritären Regimen zusammenzuarbeiten, solange dies für sie wirtschaftliche oder geostrategische Vorteile bringt. Solange die herrschenden Eliten in autoritär regierten Staaten kooperationswillig sind, wird selbst zu massiven Menschenrechtsverletzungen hartnäckig geschwiegen. Sind sie hingegen nicht oder nicht mehr zur Kooperation bereit, werden plötzlich die Menschenrechte entdeckt oder oppositionelle Kräfte dazu ermutigt, einen Regimewechsel herbeizuführen. Häufig wird dabei das Völkerrechtsprinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten nach der UN-Charta missachtet und selbst militärische Interventionen werden zunehmend im Namen der Menschenrechte geführt. Das Ergebnis sind menschenrechtliche Doppelstandards: Während die Bundesregierung an Saudi-Arabien Kampfpanzer geliefert hat, die ja nicht zufällig bei der Niederschlagung der Demokratiebewegung in Bahrain zum Einsatz kamen, trat sie im Fall des LukaschenkoRegimes in Belarus vorgeblich der Menschenrechte wegen als Fürsprecherin von verschärften EU-Sanktionen auf. Die blutige Unterdrückung der friedlichen Gewerkschaftsproteste in Kasachstan wurde von der Bundesregierung nicht kommentiert, der Abschluss eines Partnerschaftsabkommens mit Nursultan Nasarbajew war ihr wichtiger. Demgegenüber wurden bestimmte Demokratieprobleme in Aserbaidschan und der Ukraine im Vorfeld des Eurovision Song Contests bzw. der Fußball-EM umgehend verallgemeinert und geradezu hysterisch politisiert. Bei allen genannten Fällen bestanden durchaus konkrete Missstände, die Kritik verdienten. Die vorgeblichen „nationalen Interessen“ Deutschlands, mittels Zu Protokoll gegebene Reden derer die Bundesregierung aber entscheidet, ob und wie sie Kritik ausübt oder auf Kritik verzichtet, sind Ausdruck ihrer politischen Doppelmoral. In Wahrheit dient dies nur den herrschenden Eliten und Großkonzernen, jedoch nicht der Bevölkerung. Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Beenden Sie endlich ihre politische Heuchelei beim Thema Menschenrechte! Sie werden jetzt wieder danach fragen, was denn unsere Vorschläge seien. Ich will sie Ihnen nicht vorenthalten: Mit einigen Abstrichen im Fall Kirgisistans herrschen in allen zentralasiatischen Republiken autoritäre Regime, die mitunter sogar notstandsfeste Menschenrechte wie das absolute Folterverbot systematisch verletzen oder die ausbeuterische Kinderzwangsarbeit tolerieren bzw. sogar aktiv fördern. Das ist vollkommen inakzeptabel und zu Recht empörend, dennoch lassen sich Menschenrechte und Demokratie nicht erzwingen oder herbeibomben. Menschenrechte erfordern eine zivile Logik. Die Linke fordert einen konsequenten und kritischen Menschenrechtsdialog mit den zentralasiatischen Staaten und die Schaffung von geeigneten politischen und wirtschaftlichen Anreizen für menschenrechtliche Fortschritte. Der Förderung von Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften ist Vorrang einzuräumen, da dies die demokratische Zivilgesellschaft insgesamt stärkt. Soziale Entwicklung und Demokratie erfordern auch andere wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Linke ist nicht gegen internationalen Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Entscheidend sind die Bedingungen und, ob alle Beteiligten auch tatsächlich davon profitieren. Die zentralasiatischen Länder leiden meist noch unter historisch bedingten, technologisch wenig entwickelten und umweltschädlichen Monowirtschaften, vor allem im Bereich der Rohstoffgewinnung. Dies betrifft die Erdöl- und Erdgasproduktion, aber auch die Baumwollgewinnung und die Elektrizitätserzeugung. Die Diversifizierung der Binnenwirtschaft und der Ausbau der Infrastruktur bei Verkehr, Telekommunikation, Gesundheitsversorgung sind längst noch nicht abgeschlossen. Gerade im Bereich der Industrie- und Konsumgüterproduktion müssten viel stärker kleinere und mittlere Unternehmen gefördert werden, um insbesondere in den teilweise großflächigen ländlichen Räumen Zentralasiens regionale Wirtschaftskreisläufe und eine zahlungskräftige Binnennachfrage zu schaffen. Dabei ist es sehr wichtig, dass deutsche Unternehmen, die in den zentralasiatischen Staaten tätig sind, internationale Menschenrechtsstandards und die Kernarbeitsnormen der ILO einhalten. Es ist völlig inakzeptabel, wenn deutsche Unternehmen einheimische Arbeitskräfte zu menschunwürdigen Bedingungen beschäftigen und damit ihrerseits zu Menschenrechtsverletzungen beitragen oder diese verursachen. Es ist beispielsweise seit langem bekannt, dass in Usbekistan zur Baumwollernte Kinder zur Zwangsarbeit verpflichtet werden. Die Linke fordert: Produkte aus ausbeuterischer Kinderarbeit müssen international geächtet werden! Hier muss auch die ILO ihrer internationalen Verantwortung zur Durchsetzung der Konventionen zur Abschaffung von Zwangsarbeit und den schlimmsten Formen der Kinderarbeit stärker gerecht werden. Die Linke fordert die deutschen Arbeitgeberverbände auf, dass sie ihre Blockadehaltung in der ILO aufgeben, damit das Thema Kinderzwangsarbeit in Usbekistan endlich behandelt werden kann. Die Linke ist auch gespannt, wie sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen zu diesem Thema verhalten werden. Über diese und andere Aspekte des Antrags von SPD und Grünen werden wir in den Ausschüssen in den nächsten Wochen diskutieren. Ich freue mich auf eine kritische Debatte.

Viola Cramon-Taubadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004025, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich freue mich, dass wir heute einen gemeinsamen rot-grünen Zentralasien-Antrag einbringen können. Leider widmen wir uns der Region im Bundestag nur selten. Dabei nimmt die sicherheitspolitische Bedeutung Zentralasiens im Rahmen des ISAF-Abzugs aus Afghanistan für die NATO-Staaten zu. China und Russland bauen ihr Engagement in der Region stark aus, und Europa spielt trotz der EU-Zentralasien-Strategie von 2007 nur eine begrenzte Rolle in Zentralasien. Doch der als Great Game bezeichnete Kampf externer Großmächte um die Vormachtstellung in Zentralasien und die Gunst der größtenteils extrem autoritären Regime ist nicht das, woran wir uns beteiligen sollten; er wird auf dem Rücken der Menschen in Zentralasien ausgetragen und trägt nicht zur Stabilität der Region bei, im Gegenteil. Die Bundesregierung trägt jedoch etwa mit der bilateralen Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan oder dem nicht öffentlich zugänglichen militärischen Transitvertrag mit Usbekistan zu diesem Great Game bei. Das gestern vorgestellte Asien-Konzept der CDU/CSU-Fraktion hat den engstirnigen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Ansatz der Bundesregierung gegenüber Zentralasien noch mal eindeutig bestätigt. Mit dem Antrag „Die Menschenrechte in Zentralasien stärken“ möchten wir dazu einen deutlichen Gegenpol setzen: Die so wichtige dauerhafte Stabilität der Region hängt ganz entscheidend davon ab, ob sich verantwortungsvolle Staatsführung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte in Zentralasien entwickeln können. Doch momentan scheint nur in Kirgisien mit der friedlichen Machtübergabe und einem gestärkten Parlament eine solche Entwicklung in näherer Zukunft denkbar. Insgesamt müssen wir einsehen, dass wir mit dem bisherigen Politikansatz der EU-Zentralasien-Strategie keine relevanten Erfolge erzielt haben; teilweise gab es sogar gravierende Rückschritte in der Menschenrechtslage. Diese Realität müssen wir anerkennen und eine überzeugende Antwort für die Gestaltung deutscher und europäischer Politik finden. Doch leider habe ich den Eindruck, dass der Evaluierungsprozess der EU-Zentralasien-Strategie im ersten Halbjahr dieses Jahres dieZu Protokoll gegebene Reden ses Problem umgangen hat und der Rat der Außenminister demnächst ein Weiter-so in Bezug auf Zentralasien beschließen wird. Unser Antrag fordert dagegen eine Neuausrichtung der deutschen und europäischen Zentralasien-Politik, die sich an der Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen orientiert. Dies betrachten wir als eine zentrale Lehre aus dem arabischen Frühling. Dieser hat gezeigt, wie schnell junge Generationen, die nach ökonomischen Perspektiven und persönlichen Freiheiten streben, eine ganze Reihe autoritärer Regime hinwegfegen können. Wir dürfen uns zwar in dieser Hinsicht in Zentralasien keinen falschen Hoffnungen hingeben. Aber die scheinbare Stabilität der Regime wird spätestens mit dem Ableben langjähriger Präsidenten erschüttert werden. Ob die darauf anstehenden Machtwechsel friedlich stattfinden werden, bleibt eine offene Frage. Eine selbstbewusste Zivilgesellschaft wäre für eine friedliche Entwicklung jedenfalls ein entscheidender Faktor. Deswegen sollten wir uns jetzt ganz genau überlegen, mit welchen Mitteln wir die Entstehung bzw. Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Zentralasien unterstützen können. Dazu sind einerseits klare Worte in Menschenrechtsfragen notwendig; hierzu haben wir eine Reihe konkreter Forderungen in unserem Antrag aufgelistet. Es darf zum Beispiel nicht sein, dass in Usbekistan aus sicherheitspolitischen Erwägungen und im Fall Kasachstan aufgrund von Rohstoffinteressen Menschenrechtsstandards aufgeweicht werden, weil es vermeintlich um Wichtigeres geht. Andererseits müssen wir uns auch selbstkritisch fragen: Was sind wir bereit zu investieren, um Veränderungsprozesse in Zentralasien zu fördern? Ich denke, ein wichtiger Aspekt muss hier die Visapolitik sein. Was für die östliche Partnerschaft gelten sollte, muss auch für die Gesellschaften in Zentralasien eine Perspektive darstellen. Ich spreche von erleichterten Einreisemöglichkeiten in Bezug auf die EU, die positive gesellschaftliche und politische Veränderungen anstoßen können. Selbstverständlich können bessere Reisemöglichkeiten nur ein Ansatzpunkt sein, und die Stärkung der Zivilgesellschaft in Zentralasien ist kein einfaches Unternehmen - die Rahmenbedingungen sind mehr als widrig. Aber das macht sie nicht weniger notwendig, und ich hoffe, wir können mit unserem Antrag einen wichtigen Impuls in diese Richtung geben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9924 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Sie sind einverstanden. Das ist so beschlossen. Tagesordnungspunkt 30: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Joachim Pfeiffer, Andreas G. Lämmel, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner ({0}), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Neue Herausforderungen der regionalen Wirtschaftsstruktur meistern - GRW fortführen und EU-Kohäsionspolitik zukunftsorientiert gestalten - Drucksache 17/9938 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Die Reden sind wiederum zu Protokoll genommen.

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deutschland ist ein vielfältiges Land mit starken Regionen. In Deutschland gibt es nicht eine dominante Metropole und einen Rest flache Provinz. Die Mehrheit der Deutschen lebt nicht in Großstädten, sondern in ländlichen Regionen oder mittleren Städten. Dementsprechend konzentriert sich das wirtschaftliche Geschehen auch nicht auf eine Metropolregion. Die Vielfalt von Stadt und Land spiegelt sich auch in der heterogenen wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen wider. Es gibt Regionen, da herrscht Vollbeschäftigung, während in anderen Teilen des Landes leider eine höhere Arbeitslosenquote zu verzeichnen ist. Weiterhin sind viele Regionen von den Großtrends wie Strukturwandel, Globalisierung oder der deutschen Einheit höchst unterschiedlich betroffen. Gleichzeitig verlangt das Grundgesetz die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Das zentrale und bewährte Instrument dafür ist seit 1969 die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW. Gemeinsam unterstützen Bund und Länder strukturschwache Regionen, die den Strukturwandel nicht aus eigener Kraft bewältigen können bzw. die vor besonderen regionalen Herausforderungen stehen. Hauptziel ist die Schaffung und Sicherung dauerhaft wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen durch die Förderung von gewerblichen Investitionen, Investitionen in die wirtschaftsnahe Infrastruktur und gezielte Maßnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen. Die GRW zielt also auf die Aktivierung der regionalen Wirtschaftskraft als Hilfe zur Selbsthilfe ab. Im Rahmen der regelmäßigen Evaluation der GRW wird ihre positive Wirkung ständig bestätigt. Schwerpunkte der Förderung liegen eindeutig bei kleinen und mittleren Unternehmen und bei Innovationen. So haben die geförderten Unternehmen zwischen 1998 und 2008 einen Beschäftigungszuwachs in Höhe von durchschnittlich 4,6 Prozent und einen Einkommenszuwachs in Höhe von 6 Prozent erziehlt. Gerade in den jüngsten Krisenjahren konnte mit dem Sonderprogramm der GRW auf ein bewährtes und eingespieltes System zurückgegriffen werden, um die wirtschaftliche Basis in den strukturschwachen Regionen zu stärken. Zwischen 2008 und 2010, also während des heftigsten Einbruchs der Konjunktur in der Geschichte der Bundesrepublik, führten 5,8 Milliarden Euro an GRW-Mitteln von Bund und Ländern sowie EFRE-Mittel der Europäischen Union zu 25,1 Milliarden Euro Investitionen von Unternehmen. In der gewerblichen Wirtschaft wurden über 74 000 neue Dauerarbeitsplätze geschaffen und circa 301 000 Dauerarbeitsplätze erhalten. Hohe Mittelabflüsse von über 90 Prozent belegen das hohe Interesse seitens der Bundesländer und der Unternehmen vor Ort. Nun steht die regionale Wirtschaftspolitik in Deutschland vor einer großen Herausforderung: Die beihilferechtlichen Rahmenbedingungen für die nationale Regionalpolitik werden von der Europäischen Kommission für die neue Förderperiode ab dem Jahr 2014 neu ausgerichtet. Diese Regeln werden festlegen, wo und was zukünftig in Deutschland regionalpolitisch gefördert werden darf. Der demografische Wandel wirkt zuerst in ländlichen und strukturschwachen Räumen, also in jenen Gebieten, auf die sich die GRW-Mittel konzentrieren. GRW-Mittel stehen auch für die gewerbliche Umwidmung ehemaliger Bundeswehrstandorte zur Verfügung. Die angelaufene Reform der Bundeswehr stellt eine neue Aufgabe für die GRW dar. Die Investitionszulage für Unternehmen in Ostdeutschland wird Ende des Jahres 2013 auslaufen. Der Solidarpakt II zur Unterstützung der ostdeutschen Bundesländer ist bis zum Jahr 2019 befristet. Die Mittel aus den europäischen Strukturfonds werden in Deutschland ab dem Jahr 2014 vermutlich ebenfalls erkennbar zurückgehen, sodass der GRW eine höhere regionalpolitische Verantwortung zukommt. Die europäischen Strukturfonds werden ab 2014 neu fokussiert. Von daher werden momentan die Weichen dafür gestellt, dass die GRW effektiv und flexibel zur Stärkung der Regionen im Standortwettbewerb beitragen kann und auch die strukturschwachen Regionen ihren Anteil am gesamtdeutschen Wirtschaftswachstum leisten können. Die christlich-liberale Koalition steht zur GRW als zentrales Instrument der regionalen Wirtschaftspolitik. Wir bekennen uns aber ebenfalls zur Schuldenbremse. Daher musste auch die GRW ihren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. Im Gegensatz zu mancher Vorgängerregierung haben wir die GRW aber nicht als haushalterischen Steinbruch genutzt. Außerdem haben wir in den parlamentarischen Haushaltsberatungen dieser Legislaturperiode den Regierungsvorschlag stets ein wenig zugunsten der GRW verschoben. Im Rahmen der Haushaltsmittel und der Schuldenbremse steht diese Koalition zur Fortführung des Haushaltstitels der GRW auf bestehendem hohem Niveau und zu einer finanziellen Ausstattung, die gewährleistet, dass sie strukturell wirksam bleibt und die neue Aufgabe der Konversion ehemaliger Bundeswehrliegenschaften entsprechend gewürdigt wird. Weiterhin erwarten wir von den Regierungen der Bundesländer, dass sie die paritätische Kofinanzierung durch Landesmittel sicherstellen. Die GRW ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Tiefgreifende Entscheidungen für die regionale Wirtschaftspolitik in Deutschland werden momentan auf EUEbene vorbereitet. In diesen Verhandlungen unterstützen wir die Bundesregierung bei den Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Regionalleitlinien der Europäischen Union. Es muss faire und wirksame Übergangsregelungen für Regionen geben, die ihren Status als A-Fördergebiet verlieren. In Deutschland betrifft dies konkret die Unterstützung des Angleichungsprozesses der ostdeutschen Bundesländer. Entsprechend dem Grundsatz der Subsidiarität müssen auch künftig nationale Spielräume zur wirkungsvollen Förderung strukturschwacher Regionen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestehen. Dies betrifft auch die Förderung strukturschwacher Regionen in Westdeutschland. Wir bestärken daher die Bundesregierung in den Verhandlungen zur Weiterentwicklung der Leitlinien der Regionalpolitik der Europäischen Union in ihrem Einsatz unter anderem für die Verlängerung der Übergangsperiode für Ex-A-Gebiete bis 2020, die Begrenzung des Fördergefälles zu Höchstfördergebieten auf 15 Prozentpunkte und die Fördermöglichkeit von Großunternehmen auch in Ex-A- und C-Gebieten. Auch bei den Verhandlungen über die zukünftige Kohäsionspolitik unterstützen wir die Bundesregierung. Insbesondere begrüßen wir, dass die Strukturfonds verstärkt auf die Ziele der Strategie „Europa 2020“ ausgerichtet werden und damit Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltiges Wachstum vorantreiben. Dabei muss die Kohäsionspolitik weiter auf das Vertragsziel, den Abbau regionaler Entwicklungsunterschiede, ausgerichtet bleiben. Wir brauchen einen effizienten und zweckmäßigen Einsatz der EU-Mittel in allen Staaten. Daran hat es in den letzten Jahren oft gefehlt, wie wir heute sehen können. Von daher ist die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene thematische Ausrichtung und Konzentration der künftigen Kohäsionspolitik in weiten Teilen sinnvoll. Allerdings müssen den Regionen dabei Spielräume verbleiben, um den spezifischen regionalen Bedürfnissen und Erfordernissen Rechnung tragen zu können. Die Bundesregierung hat unsere Unterstützung in den weiteren Verhandlungen des Legislativpaketes für die Kohäsionspolitik. Es geht unter anderem um ein Sicherheitsnetz für ehemalige Konvergenzregionen, das mindestens zwei Drittel der Förderung der Jahre 2007 bis 2013 entspricht, der Sicherstellung eines effizienten und zweckmäßigen Einsatzes der EU-Mittel in allen Mitgliedstaaten und deren regelmäßige Fortschritts- und Zu Protokoll gegebene Reden Erfolgskontrolle sowie die Senkung der Bürokratiekosten bei der Umsetzung der Kohäsionspolitik für alle Beteiligten, insbesondere für die nationalen Behörden und die betroffenen Unternehmen. Weiterhin ist uns die Abfederung des Förder- und Behilfengefälles in den Grenzregionen wichtig. Wir werden über diesen Antrag noch vertiefend in verschiedenen Ausschüssen diskutieren. Ich werbe um die Zustimmung aller Fraktionen. Die regionale Wirtschaftspolitik verdient unser aller Unterstützung, gerade bei den Verhandlungen in Brüssel.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist erstaunlich, dass die Koalitionsfraktionen knapp 15 Monate brauchten, um nach der Einbringung unseres Antrages „Stärkung der Gemeinschaftsaufgabe ‚Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur‘ - Finanzierung langfristig sichern“ jetzt einen eigenen Antrag einzubringen, der in weiten Teilen deckungsgleich mit unserem ist. Das hätten wir einfacher haben können, indem wir uns bereits im letzten Jahr zusammengeschlossen hätten. Aber damals wollten oder durften das die Koalitionsfraktionen nicht. Denn wenn ich mir jetzt Ihren Antrag ansehe, bekomme ich ein déjà vu. Es ist gut, dass alle im Bundestag vertretenen Fraktionen die Auffassung teilen, dass die GRW die wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land erheblich nach vorne gebracht hat. Die hier investierten Gelder zahlten sich um ein Mehrfaches aus. Nicht nur wurden erhebliche Investitionen angestoßen, auch der Aufwuchs an Arbeitsplätzen war und ist beachtlich. Wegen der Verteilung der Mittel in den Osten unseres Landes ist dort die Wirkung auch am größten. Aber das wollen wir ja so, hier muss sehr schnell eine wirtschaftliche Dynamik einsetzen, um jungen Menschen eine Perspektive in ihrer Heimat zu geben. Wir können es nicht einfach hinnehmen, dass ganze Landstriche keine Jugend mehr haben. Das hat Folgen für die Infrastruktur, angefangen von der Versorgung des täglichen Bedarfs bis hin zu Handwerksbetrieben, Ärzten, Sozialdiensten und vielem mehr. Hier kommt der GRW eine wesentlich größere Bedeutung zu, als viele glauben. In der Zwischenzeit sehen wir, dass zunehmend auch im Westen Gebiete entstanden sind, die unserer Aufmerksamkeit und unserer Unterstützung bedürfen. Das sind aber nicht nur die ehemaligen Zonenrand- und bayerischen Grenzgebiete, sondern auch Regionen, in denen die klassische, traditionelle Industrie wegen der günstigeren Produktionsstandorte im europäischen und asiatischen Ausland zusammengebrochen ist. In meiner Heimatregion, der Pfalz, betrifft es Pirmasens, einst die Hochburg der deutschen Schuhindustrie. Unser Anliegen muss hier eine innovative Wirtschaftsförderung sein, wie sie das Land Rheinland-Pfalz bereits bei den Konversionsgebieten der ehemaligen US-Streitkräfte-Stützpunkte durchgeführt hat. In Kaiserslautern entstand auf dem großen Kasernengelände direkt neben der A 6 ein Technologiepark, der gute, interessante und innovative neue Arbeitsplätze zu bieten hat. Kommen wir zurück zu Ihrem Antrag. Ich verstehe ja, dass Sie unseren Antrag nicht ohne eigene Antwort behandeln wollen. Und erstaunlich ist, wie konkret jetzt Ihre Forderungen gegenüber Ihrer eigenen Bundesregierung sind. Fast zu allen Ihren Forderungen finden sich Entsprechungen in unserem Antrag - nur, wie gesagt, 15 Monate früher. Ja, es ist richtig, eine Diskussion über die Zukunft der Kohäsionspolitik zu führen und sie auf die Strategie Europa 2020 auszurichten. Es stimmt auch, dass die Investitionszulage für Unternehmen in Ostdeutschland Ende 2013 ausläuft. Wir hatten vorgeschlagen, deshalb die GRW mit entsprechend mehr Finanzmitteln auszustatten. Letztes Jahr hätten Sie bereits dafür kämpfen können, statt es jetzt zu bedauern. Was ich als sinnvolle Ergänzung zu unseren bisherigen Forderungen betrachte, ist Ihre Forderung, GRWMittel auch für die gewerbliche Umwidmung ehemaliger Bundeswehrstandorte zur Verfügung zu stellen. Wie gesagt, weiß ich, wovon ich spreche, da mein Bundesland Rheinland-Pfalz eine ganze Arie zu dem Problem Konversion singen könnte. Dann sollten Sie aber Ihre Forderungen konsequenter durchdenken. Denn wie soll das in der Haushaltsplanung für 2013 aussehen, in der „die Rolle der GRW bezüglich der Konversion“ entsprechend gewürdigt werden soll, andererseits der „Haushaltstitel der GRW auf bestehendem hohem Niveau“ fortgeführt und finanziell so ausgestattet werden soll, dass die GRW strukturell wirksam bleibt? Heißt das nun, dass der diesjährige Ansatz bestehen bleiben soll, oder soll er gekürzt werden, oder soll er vielleicht sogar aufgestockt werden, eben für diese neue Aufgabe? Hier kneifen Sie, hier bleiben Sie im Ungenauen, Sie können sich nicht dazu durchringen, die von uns schon im letzten Jahr geforderten zusätzlichen Mittel von der eigenen Bundesregierung einzufordern, obwohl Sie schon damals uns eigentlich recht gaben. Und da hatten wir noch gar nicht die Konversion mit im Gepäck. Wie, glauben Sie, soll die Förderung für Konversionsgebiete vonstatten gehen? Sind Sie sicher, dass Sie das mit Ihrer Regierung so abgesprochen haben? Etwas gewundert hat mich, dass Sie auch Selbstverständlichkeiten in Ihren Forderungskatalog schreiben, zum Beispiel den Punkt II Ziffer 3. Bisher war doch klar, dass die Bundesländer die paritätische Cofinanzierung der GRW übernehmen müssen. Wieso „bestehen“ Sie jetzt darauf? Gibt es da eventuell neue Bestrebungen? Noch nicht ganz verstehen kann ich Ihre Aufforderung an Ihre eigene Regierung, dass diese sich in den anstehenden Verhandlungen für „die Förderfähigkeit von Unternehmensinvestitionen auch außerhalb von KMU“ einsetzt - das ist Punkt 16. Und bereits in Punkt 10 fordern Sie von der Bundesregierung deren Einsatz für „die Fördermöglichkeit von Großunternehmen auch in Ex-A- und C-Gebieten“. Zu Protokoll gegebene Reden Wenn dies jetzt nicht gelänge, bestünde dann tatsächlich die Gefahr, dass Regelungen aus Brüssel unseren „grundgesetzlichen Auftrag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland“ behindern würden? Was befürchten Sie da? Wen genau meinen Sie mit den Großunternehmen, die förderbar werden sollen? Eigentlich wundert mich, dass die FDP ein solches Ansinnen mitträgt. Nun, wir werden hoffentlich bald Gelegenheit haben, uns mit den Anträgen und den sich daraus ergebenden Fragen dann endlich auch im Unterausschuss zu befassen, nachdem wir darauf jetzt über ein Jahr lang warten mussten.

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Koalition stärkt die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW. Das ist eine gute Nachricht für die Wirtschaft in strukturschwachen Regionen. Die Gemeinschaftsaufgabe wird mit zusätzlichen Finanzmitteln in Höhe von 39 Millionen Euro ausgestattet, ohne dabei den Bundeshaushalt zusätzlich zu belasten. Das wiederum ist eine gute Nachricht für den Steuerzahler und ganz im Sinne unseres Ziels einer Haushaltskonsolidierung. Die GRW-Mittel steigen damit von den ursprünglich im Regierungsentwurf des Bundeshaushalts für 2012 vorgesehenen 557 Millionen Euro auf 596 Millionen Euro an. Das bedeutet die Fortführung der Regionalförderung, entsprechend des Koalitionsvertrages, auf hohem Niveau, trotz notwendiger Sparmaßnahmen im Zuge des beschlossenen Sparpakets. Die investive GRW-Förderung leistet einen wirkungsvollen und nachhaltigen Beitrag zur Stärkung wettbewerbsfähiger Strukturen und zum Aufbau nachhaltiger Beschäftigung. Damit kann die GRW ihre erfolgreiche Förderung strukturschwacher Regionen in den ost- und westdeutschen Bundesländern fortsetzen. Gerade vor dem Hintergrund der wegfallenden Investitionszulage und Unsicherheiten über die Zuflüsse aus dem EFRE ab 2014 ist eine hinreichende Ausstattung der GRW für eine wirkungsvolle Regionalpolitik erforderlich. Der Umfang der im Haushalt 2012 ausgebrachten Verpflichtungsermächtigungen ermöglicht den Bundesländern Mittel für Investitionen in den kommenden drei Jahren in notwendiger Höhe zu bewilligen und damit eine kontinuierliche und nachhaltige Förderung zu gewährleisten. Diese Entscheidung ist ein deutliches Signal an die Regierungen der Bundesländer, ihrerseits entsprechende Haushaltsmittel bereitzustellen. Als Beauftragte für IT-Kommunikation meiner Fraktion und stellvertretende Vorsitzende der Koalitionsarbeitsgruppe „Ländliche Räume, regionale Vielfalt“ möchte ich besonders einer Verwendung der zusätzlichen Finanzmittel für die Förderung des Breitbandausbaus anregen. Die Standortnachteile ländlicher Regionen, die in Sachen Breitbandausbau noch Defizite aufweisen, können so in Angriff genommen werden. Die GRW-Förderung wirkt, und das belegt auch die hohe Abfrage der Mittel seitens der Bundesländer und Unternehmer. Auch in Phasen einer schleppenden Konjunktur hat sich die Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur bewährt. Das bestätigt die Evaluierung der GRW-Förderung zwischen 2008 und 2010. Demnach stiegen die Investitionen von Unternehmen, es konnten Arbeitsplätze geschaffen und erhalten werden. Diese Ergebnisse bestärken uns in der Entscheidung, die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ fortzuführen.

Johanna Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004212, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Kohäsionspolitik gehört zu den Kernaufgaben der EU. Sie soll die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den EU-Mitgliedstaaten und einzelnen Regionen verringern. Ein Drittel des gesamten EUHaushalts wird dafür ausgegeben. Mit den Geldern werden zum Beispiel Investitionen in kleine und mittlere Unternehmen, KMU, Qualifizierungsprojekte für Arbeitslose und Infrastrukturmaßnahmen gefördert. Einige Entwicklungsunterschiede konnten so schon reduziert werden. Kohäsionspolitik stärkt den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt. In Deutschland haben vor allem die ostdeutschen Bundesländer von den EU-Fördermitteln profitiert. So wurde die Erneuerung der Infrastruktur, die Förderung von Forschung und Entwicklung und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit möglich. In Deutschland selbst wird außerdem über die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GRW, an der Gleichstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland gearbeitet. Ab 2014 sollen neue EU-Vorgaben für die Regionalpolitik gelten. Damit fallen Entscheidungen darüber, wo und was zukünftig in Deutschland regionalpolitisch gefördert werden darf. Diese Weichenstellungen müssen der Grundidee der Struktur- und Kohäsionspolitik gerecht werden! Die Bundesregierung will mit Strukturpolitik, „insbesondere wirtschaftlich schwächeren Regionen dabei helfen, Standortnachteile abzubauen und Anschluss an die allgemeine Wirtschaftsentwicklung zu halten“. Aber das darf nicht das einzige Ziel sein. Mit diesen Geldern muss auch der sozial-ökologische Umbau vorangetrieben werden. Regionale Wirtschaftskreisläufe müssen gestärkt werden statt einseitiger Exportorientierung. Bei den geförderten Investitionsprojekten müssen Tarifverträge eingehalten und ökologische Standards sichergestellt werden. Und selbst wenn Wirtschaftswachstum nicht wie erhofft generiert werden kann, dürfen strukturschwache Regionen nicht abgeschrieben werden. Das heißt, in Regionen, die besonders vom demografischen Wandel betroffen sind, stellt sich weniger die Frage, wie Wachstum initiiert werden kann. Hier geht es darum, Lebensqualität langfristig zu sichern und so auch dem Schrumpfen der Bevölkerung entgegenzuwirken. Im vorliegenden Antrag der schwarz-gelben Koalition begrüßen wir die Forderung, die Rolle der GRW bezüglich der Konversion ehemaliger Bundeswehrliegenschaften entsprechend zu würdigen. Auch unterstützen Zu Protokoll gegebene Reden wir das Ansinnen, faire Übergangsregelungen für die ostdeutschen Bundesländer und andere Regionen zu schaffen, die ihren Status als A-Fördergebiet verlieren. Für die Förderung von Großunternehmen ist die EURegionalpolitik allerdings weder geeignet, noch wird sie dafür gebraucht. Aber genau das fordert die Regierungskoalition. Wir fordern stattdessen, dass die ohnehin nicht gerade üppig bemessenen Gelder den Kernaufgaben der Regionalpolitik zugutekommen sollen. Außerdem müssen die Kriterien des Verteilungsmechanismus erweitert werden. Bisher wird die Förderbedürftigkeit von Regionen ausschließlich nach wirtschaftlichen Kennzahlen ermittelt. Aber auch vom demografischen Wandel besonders betroffene Regionen müssen explizit berücksichtigt werden. Darüber hinaus muss sich die Bundesregierung in den Verhandlungen mit der EU für folgende drei Punkte einsetzen: Erstens darf die Kohäsionspolitik nicht zu einem bloßen Umsetzungsinstrument der EU-2020-Strategie werden. Die Verbindung von Kohäsionspolitik mit der neoliberalen EU-2020-Strategie brauchen wir nicht. Zweitens muss sich die Mittelvergabe aus dem Europäischen Sozialfonds mehr auf die Förderung von „Guter Arbeit“ und auf die Armutsbekämpfung richten. Wettbewerbsfähigkeit ist kein Ziel an sich. Drittens ist die Idee der „makroökonomischen Konditionalität“ sofort zu verwerfen. Die EU-Kommission will damit durchsetzen, dass Mitgliedstaaten, die sich einem Defizitverfahren aufgrund der Verletzung der Maastricht-Kriterien unterziehen müssen, mit einem teilweisen Entzug von Mitteln aus den Strukturfonds bestraft werden. So würden Regionen für die Haushaltspolitik der Nationalstaaten bestraft, für die sie keine Verantwortung tragen. Hinzu kommt, dass ein Staat, der sich offensichtlich in haushalts- und fiskalpolitischen Schwierigkeiten befindet, nicht noch zusätzlich durch den Entzug von Fördergeldern bestraft werden sollte. Die Kohäsionspolitik war und ist ein deutliches Zeichen der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, und das muss sie auch bleiben!

Lisa Paus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004127, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wäre dieser Antrag gut gemacht, könnte er nicht nur Menschen und kleinen und mittleren Unternehmen in strukturschwachen Gebieten in Deutschland helfen. Er könnte auch gegen die Rezession, besonders gefährlich in Spanien, Italien und Griechenland, helfen, zu einer Lösung beitragen. Stattdessen bringen Sie unterstützungsbedürftige Menschen in Deutschland und in Europa in die Gefahr, dass ihnen ab 2014 die Hilfe entzogen wird. Denn hinter den Widersprüchen und den irreführenden Begriffen dieses Antrags verbirgt sich vor allem die Forderung nach weniger: Sie wollen rund 100 Milliarden Euro weniger im wahrscheinlich siebenjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union. Und Sie wollen weniger klare Regeln, als die EU-Kommission vorgeschlagen hat und die Grünen im Europaparlament unterstützen. Das ist falsch. In der Krise brauchen wir mehr Europa. Wir brauchen mehr europäische Solidarität in Form eines Investitionsprogramms in den sozialen und ökologischen Wandel, in Berliner Bezirken, in ostdeutschen Kommunen und in Spanien, Italien und Griechenland. Damit das Geld klug in Köpfe statt in eine neue Immobilienblase fließt, in die nötige Infrastruktur für das Einsparen der 400 Milliarden, die Europa jetzt noch für Ölimporte ausgibt, braucht es verbindliche Regeln und wirksame Erfolgskontrolle. Der irreführende Begriff Better Spending heißt in der Realität zuerst: Statt 1,12 Prozent des Bruttonationaleinkommens bisher soll die EU in sieben Jahren nur 1,0 Prozent investieren können. Dieser Freundeskreis von Regierungen will Ländern in der Rezession helfen, indem er Investitionsmittel kürzt. Die Bundesregierung ist ganz vorne dabei. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat gerade noch einmal ausgerechnet, dass diese Bundesregierung 2009 bis 2012 durch den Zinsvorteil von Bundesanleihen 52,5 Milliarden Euro Entlastung ohne Eigenleistung erfahren hat. Braucht die Bundesregierung diese 52,5 Milliarden so dringend, um so zu tun, als würde sie sparen, dass nichts übrig bleibt, um in die Energiewende in Europa zu investieren? Investitionen in erneuerbare Energien in Griechenland senken nicht nur das Außenhandelsdefizit dort, sondern bringen auch Jobs für deutsche Fachbetriebe. Sie verhindern das aktuell. Wir fordern: Lassen Sie uns jetzt in eine nachhaltige Wirtschaft investieren! Eine faire Regelung, ohne de facto die sozial-ökologischen Investitionsmittel noch weiter zu kürzen, braucht auch die Frage der Reste à Liquider, kurz RAL. Übrige Mittel sollten nicht einfach aus dem EU-Haushalt herausfallen. Mit weniger Geld für den EU-Haushalt gefährden Sie aber die Vorteile der EU-Strukturfonds nicht nur für andere Länder in Europa, sondern auch für strukturschwache Gebiete in Deutschland, die davon bisher sehr profitieren konnten. Viele Gebiete sollen nach bisherigen Regeln endgültig aus der Höchstförderung herausfallen. Wer sich mit der Debatte auch außerhalb Deutschlands beschäftigt, weiß: Der Kommissionsvorschlag der Übergangsregionen ist die einzige Hoffnung, für diese Gebiete, einen sanften Übergang finden zu können. Sie sollten wissen, dass Ihre Forderung nach einem „Sicherheitsnetz“ ganz vorwiegend spezifisch für Ostdeutschland nicht für einen europäischen Kompromiss taugt. Machen Sie den Menschen keine falschen Hoffnungen. Unterstützen Sie wie wir die Übergangsregionen. Better Spending meint nicht nur weniger Geld, sondern völlig gegen die Logik der deutschen Sprache auch schlechtere Regeln und verwässerte Ziele im Vergleich zum EU-Kommissionsvorschlag. Die Kommissare hatten vorgeschlagen: In entwickelten Regionen müssen 80 Prozent für die Energiewende ausgegeben werden, 50 Prozent über den Europäischen Sozialfonds - also in Köpfe statt in Beton. Einige kämpfen gerade gegen die Mindestquote für den Europäischen Sozialfonds, den ESF. Finger weg von diesem wichtigen Vorschlag der Kommission! Zu Protokoll gegebene Reden Vordergründig unterstützen Sie die EU-2020-Ziele, öffnen dann aber Hintertüren, um zum Beispiel mit dem Argument Tourismusförderung doch wieder Autobahnen zu bauen. Sie wollen Förderung auf kleine und mittlere Unternehmen konzentrieren, aber ja nicht die Großindustrie ausschließen. Gar keine Entscheidung im Bundestag, um es Kompromissen nachts beim Gipfel zu überlassen? So viel Entscheidungsunfähigkeit ist gefährlich. Besonders schädlich war in der Vergangenheit die Förderung für Neuansiedlungen von Großbetrieben, die dann wie Nokia aus dem Ruhrgebiet nach Rumänien zogen und inzwischen schon wieder den Standort gewechselt haben. Die Kommission und wir wollen damit Schluss machen. Finden auch Sie die Stärke zu dieser Entscheidung. Einig sind wir uns beim Anliegen, die Mittel nach dem Prinzip der Subsidiarität zu verwenden. Das heißt, diejenigen, die sich vor Ort auskennen, sollen eng in die Entscheidungen eingebunden sein. Praktisch fordern Sie deshalb mehr Macht für die Landesregierungen. Aber die lokalen Partner, die Zivilgesellschaft, die Kommunen sind noch näher am Wissen um die lokalen Strukturen. Auch die Abgeordneten der Landtage kennen ihre Wahlkreise gut. Seien Sie konsequent und unterstützen Sie unsere Forderungen, die Partner und Parlamente auf allen Stufen der Entscheidung wirksam einzubinden. Ausreichend Mittel, um gegen den Zyklus dieser Krise zu kämpfen, wirksame Regeln für die Umsetzung der EU-2020-Ziele ohne Hintertüren und die demokratische Einbindung des Wissens der lokalen Expertinnen und Experten: Damit richten Sie die Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsstruktur und die EU-Kohäsionspolitik gegen die Krise und für die Zukunft richtig aus.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9938 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 36: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marco Bülow, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Keine deutsche Zustimmung zu einer europäischen Förderung der Atomenergie - Drucksachen 17/9554, 17/9799 Berichterstattung: Abgeordneter Thomas Bareiß Die Reden haben wir zu Protokoll genommen.

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der vorliegende Antrag verdeutlicht einmal mehr, wie sehr die Opposition an ihrem Lieblingsthema Atomkraft klebt. Auch wenn zu Euratom und Atomausstieg schon alles gesagt wurde, versuchen einige unbeirrbar, weiterhin das Thema durch immer neue Anfragen und Anträge aufzublasen. Diesen sei gesagt: Wir schalten die Kernkraftwerke ab. Suchen Sie sich ein neues Thema. Die deutsche Bundesregierung hat mit der Energiewende einen mutigen und weltweit beispiellosen Weg beschritten. Die Förderung der erneuerbaren Energien steht dabei an erster Stelle. Doch auch wenn Deutschland beschlossen hat, aus der Kernenergie auszusteigen, bedeutet dies nicht, dass uns andere EU-Mitgliedstaaten automatisch folgen müssen. Als guter europäischer Nachbar haben wir es zu respektieren, wenn andere EULänder die mit der Kernenergie verbundenen Risiken für akzeptabel halten. Wir können und dürfen nicht aus einer nationalen Befindlichkeit heraus den Strommix unserer Nachbarn bestimmen. Die Wahl des Strommixes bleibt auch weiterhin den Mitgliedsländern selbst überlassen. Hierzu empfehle ich den geschätzten Oppositionskollegen die Lektüre des Lissabon-Vertrags: Dort steht in Art. 194 explizit das Recht eines Mitgliedstaats auf die Wahl seiner Energiequellen festgeschrieben. Der Energiefahrplan der EU-Kommission stellt fest, dass mit der Kernenergie eine Dekarbonisierungsoption geboten wird, die den Großteil des in der EU verbrauchten CO2-arm erzeugten Stroms liefert. Dabei muss man ganz klar sehen, dass dieser Anteil nicht so schnell wie von manchen gefordert zu ersetzen sein wird. EU-weit ist die Forderung nach weniger Kernkraft im Stromsektor mit den ehrgeizigen EU-Klimaschutzzielen vorerst nicht vereinbar. Im Gegenteil bietet Strom aus Kernenergie mit CO2-Emissionen von 32 Gramm je Kilowattstunde bessere Emissionswerte als Wasserkraft mit 40 Gramm je Kilowattstunde oder Solarzellen mit sogar 101 Gramm je Kilowattstunde. Wenn man die ökonomische Seite des Klimaschutzes betrachtet, so taucht die Frage nach den Kosten der CO2-Vermeidung auf: Also, wie viel kostet es, eine Tonne weniger CO2 zu emittieren? Schaut man sich diese Größe an, so bietet die Kernenergie mit Vermeidungskosten von 15 bis 30 Euro je Tonne vermiedene CO2-Äquivalente sogar eine günstigere Alternative als Strom aus Sonne, Wind und Wasser. Man muss diese Zahlen kennen, um über Kernenergie und Klimaschutz diskutieren zu können. Nichtsdestotrotz haben wir in Deutschland unter dem Eindruck der Ereignisse von Fukushima beschlossen, dass wir uns den Ausstieg aus der Kernenergie leisten möchten. Deutschland steht somit vor einer doppelten Herausforderung im Energiesektor: Die abgestellten Kernkraftwerke sind möglichst schnell klimaschonend zu ersetzen. Wenn wir uns jedoch den damit verbundenen Anstrengungen stellen, so heißt das nicht, dass auch andere Länder diese auf sich nehmen müssen. Wir sollten es unseren Nachbarn also selbst überlassen, auf welchem Wege sie die Klimaschutzziele erreichen, anstatt dauernd zu versuchen, in ihre Angelegenheiten reinzureden. Die Opposition hält ihr altes Kampfthema Kernkraft immer noch hoch. Doch nicht die Kernenergie, sondern der Ausbau der erneuerbaren Energien steht im Mittel22062 punkt des EU-Energiefahrplans. Deshalb ist es doch sinnvoller, über neue Chancen zu reden, anstatt dem alten Klassenfeind nachzutrauern. Der EU-Energiefahrplan 2050 weist uns Wege für mehr Klimaschutz und für eine nachhaltige Energiepolitik. Die enthaltenen Szenarien für eine fast vollständige Treibhausgasreduktion, nämlich auf 5 bis 20 Prozent im Jahre 2050 verglichen mit 1990, sind sehr ambitioniert. Darüber in das KleinKlein der Kernenergiefragen zu verfallen, zeugt nicht gerade von großem Verantwortungsbewusstsein. Stattdessen sollte die Opposition lieber konstruktiv an der Energiewende hierzulande mitarbeiten, um Europa und der Welt zu zeigen, dass der Weg Deutschlands durchaus gangbar ist. Mitarbeiten heißt konkret, Blockadehaltungen auflösen, beispielsweise auf Landesebene beim Ausbau der Netze oder beim Bau von dringend benötigten Pumpspeicherkraftwerken, wie zum Beispiel Atdorf im Schwarzwald. Über mehr Klimaschutz und Ressourcenunabhängigkeit als Ziele unserer Energiepolitik sind wir uns hoffentlich alle einig. Genau deswegen ist es richtig, dass wir europaweit nicht nur den Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreiben, sondern auch die Energieeffizienz fördern. Das Ziel von 20 Prozent mehr Energieeffizienz bis 2020 ist ehrgeizig, aber auch erreichbar. Die Steigerung der Energieeffizienz führt dazu, dass wir insgesamt weniger Energie verbrauchen, unabhängig von der Erzeugungsart. Deshalb dürfte es unseren Nachbarländern in Zukunft einmal leichter fallen, auf Kernenergie zu verzichten, zumal bei einem weiteren Zubau von erneuerbaren Energien. Der EU-Energiefahrplan zeigt auf, dass wir die Energieeffizienz noch weiter werden steigern müssen. Auf europäischer Ebene sorgt der Energieeffizienzplan für die notwendigen Anreize und Schwerpunktsetzung. Vor allem der Bereich der Gebäudesanierung verspricht hier große Möglichkeiten. Die Blockadehaltung der Opposition im Bundesrat bei der Zustimmung zur steuerlichen Förderung der Gebäudesanierung ist deshalb besonders beschämend. Gleichzeitig wird auf nationaler Ebene durch Initiativen wie das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, die Mietrechtsnovelle oder das Marktanreizprogramm für regenerative Wärmetechnologien Anreize für mehr Energieeffizienz geschaffen. Wir sind also auf dem richtigen Weg. Mit den 20-20-20-Zielen hat sich die EU ambitionierte Energie- und Klimavorgaben gegeben. Es ist unser aller gemeinsames Ziel, diese zu erreichen. Diese gemeinsame Zielsetzung rechtfertigt jedoch keine Souveränitätsverletzung einzelner Mitgliedstaaten in Energiefragen. Denn auch wenn die Opposition am liebsten alle Länder zu einem Atomausstieg zwingen möchte, muss dennoch akzeptiert werden, dass andere Mitgliedstaaten an der Kernenergie festhalten. Mit Euratom haben wir auf europäischer Ebene auch das passende Instrument, um angemessen in Kernenergiefragen mitreden zu können und dies trotz des selbstgewählten Ausstiegs aus der Kernenergie. Die von Teilen der Opposition erhobene Forderung nach einer Anpassung von Euratom oder gar einem Ausstieg schießen deshalb weit über das Ziel hinaus. Nicht einmal Greenpeace Österreich ist für einen Austritt aus Euratom. Wir können zwar mit dem eingeschlagenen Weg zeigen, dass wir unsere Energieversorgung ohne Kernenergie gewährleisten können, aber wir können die anderen Länder nicht zwingen, aus der Kernenergie auszusteigen.

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zweifelsohne werden im EU-Energiefahrplan bis 2050 neue Schwerpunkte gesetzt werden müssen. Aber was nun den heutigen Antrag konkret angeht, darf ich erst einmal Dichtung und Wahrheit sortieren: Es gab im April eine sich dann als falsch erwiesene Pressemeldung, dass Frankreich, Großbritannien, Polen und Tschechien sich per Brief an die EU-Kommission gewandt hätten mit dem Ziel, „dass Brüssel Nukleartechnik genauso wie Wind- und Solaranlagen fördert“, „Süddeutsche Zeitung“, 13. April 2012. Richtig ist, dass sich diese die Staaten in ihren Stellungnahmen zum sogenannten Energiefahrplan 2050 für eine Gleichwertigkeit aller CO2-armen Technologien einsetzen. Damit ist jedoch nicht notwendigerweise eine Förderung auf EUEbene verknüpft. Das ist eine reine Behauptung Ihrerseits. Die Bundesregierung setzt sich in ihrer Stellungnahme zum Entwurf der Ratsschlussfolgerungen zum Energiefahrplan dafür ein, dass keine Förderung von Nuklearenergie durch die EU-Ebene erfolgt. Es gibt nach vorliegenden Informationen derzeit auch keine Pläne, auf EU-Ebene eine Subventionierung geplanter oder in Betrieb befindlicher Kernkraftwerke anzustreben. Damit ist Ihr Antrag bereits obsolet. Deutschland vertritt eine andere Haltung zur Nuklearenergie als die in der Pressemeldung genannten Staaten. Gleichzeitig ist jedoch die souveräne Entscheidung eines jeden EU-Mitgliedstaates zu achten, der gegebenenfalls Nuklearenergie auf seinem Gebiet zulässt und fördert. Der Vertrag von Lissabon belässt die Hoheit über den Energiemix in der Hand der EU-Mitgliedstaaten. Europäische Energieeffizienzpolitik muss die unterschiedlichen Potenziale zur Steigerung der Energieeffizienz und die Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten berücksichtigen. Ich bin mir allerdings sicher, die deutsche Energiewende wird sich langfristig auch auf die anderen Mitgliedstaaten auswirken, wenn sie uns überzeugend gelingt, ganz nach dem Motto Vorbild statt Bevormundung. Aber ich möchte doch auf Ihr Szenario eingehen. Wenn Sie die Kernkraft so sehr fürchten, müssen Sie doch dafür eintreten, dass die bestehenden Kraftwerke auf die technisch besten Sicherheitsstandards gebracht werden. Solange sie noch genutzt werden, haben wir doch ein ureigenes Interesse daran, dass der von Ihnen beispielhaft erwähnte Reaktorpark in Frankreich sicherheitstechnisch ertüchtigt wird. Selbst wenn es hierfür auch EU-Mittel bedürfte, wäre dies doch allemal besser, als irgendwelche Risiken zu erhöhen. Zudem sollten wir in Zu Protokoll gegebene Reden der Tat - und da widerspreche ich Ihnen ausdrücklich allen energieerzeugenden Technologien unter dem Aspekt der CO2-Vermeidung offen gegenüberstehen. Sie nennen die Windkraft als positives Beispiel. Dabei vermeiden Sie geflissentlich, die CO2-Bilanz der Photovoltaik zu erwähnen. Die fällt nämlich gegenüber der Kernkraft deutlich schlechter aus, und zwar um das Vier- bis Achtfache schlechter. Das zeigt eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages über die „CO2-Bilanzen verschiedener Energieträger im Vergleich“. Also, wenn schon, dann bitte die ganze Wahrheit. Machen wir uns doch nichts vor: Wir können den anderen Mitgliedstaaten erstens nichts vorschreiben und zweitens nicht von jetzt auf gleich eine Vollbremsung hinlegen. Noch haben wir unsere Probleme wie den nötigen Ausbau der Hochspannungsnetze, die Fragen der Energiespeicherung und vieles mehr auch noch nicht zufriedenstellend gelöst. Da ist es klüger, nicht allzu eingleisig aufgestellt zu sein. Als Wirtschaftspolitiker sehe ich auch den positiven Effekt, dass der deutsche Technologie- und Forschungsstandort sich weiter frei entwickeln können muss. Da wir anerkanntermaßen mit weltführend sind, was die Sicherheitstechnik in Kernkraftwerken angeht, wäre es fatal, hier mit ideologischen Scheuklappen von jetzt auf gleich alle abzuwürgen. Solange es weltweit immer noch Kernkraftwerke gibt und geben wird, sollte wenigstens deutsche Sicherheitstechnik zum Einsatz kommen können. Ich sage, wir müssen die Energiewende sorgfältig, Schritt für Schritt und mit Augenmaß vornehmen. Wir alle sind gegen einen hemmungslosen CO2-Ausstoß, der keine Rücksicht nimmt auf die Folgen für Menschen und Umwelt. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, für eine verlässliche und umweltverträgliche Stromversorgung zu sorgen, die uns aber nicht die Basis unseres Sozialstaates - Wirtschaft und Arbeitsplätze - unter unseren Füßen wegzieht.

Marco Bülow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003512, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass man an dieser Stelle, wenn man über das Thema Atomenergie redet, vorrangig über die Fragen debattiert: Wie kann man noch schneller aussteigen? Wie kann man für mehr Sicherheit sorgen? Wie kann man einer Lösung der Endlagerfrage näherkommen? Wie kann man Nachbarn beim Atomausstieg helfen? Gerne hätte man das Gefühl, es ginge voran, man würde einen großen Schritt nach dem anderen machen, um mehr Sicherheit für Mensch und Umwelt zu schaffen und die Energiewende konsequent zu vollziehen. Aber nein, stattdessen man muss tatsächlich darüber reden, dass Atomenergie nicht noch zusätzlich gefördert wird. Vor einem Jahr sind wir mit viel rhetorischem Brimborium ausgestiegen. Seitdem ist beim Thema Atomenergie nichts mehr passiert. Wo bleiben denn die Initiativen der Bundesregierung, um den Atomausstieg auch international voranzutreiben? Den Griechen wollen wir ständig erklären, was sie zu tun und zu lassen haben schließlich geht es da um unser Geld! Wenn es nicht um Geld, sondern „nur“ um die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger geht, dann halten wir uns vornehm zurück. Wir wollen ja angeblich niemandem irgendwo hineinreden. Jedes Land solle selbst entscheiden, wie es seinen Energiebedarf deckt. Ja, das ist richtig, aber nur solange andere davon nicht bedroht werden. Fossile und nukleare Energieproduktion haben aber internationale Folgen. Auch wenn sich in der globalen Klimapolitik zuletzt leider nichts mehr bewegt hat, so ist wenigstens hier doch nahezu allen Beteiligten seit Jahren klar, dass es nicht allein um nationale Belange geht, sondern das Verhalten einzelner Länder Auswirkungen auf Menschen in ganz anderen Erdteilen hat. Bezüglich des Betriebs von Atomkraftwerken wissen wir schon seit Jahrzehnten, dass sich die Auswirkungen eines Reaktorunfalls in der Regel nicht auf nationale Territorien beschränken. Trotzdem passiert hier nichts, um einen globalen Atomausstieg zumindest als langfristiges Ziel zu formulieren. Im Gegenteil, Politiker der Regierungskoalition, die vor einem Jahr für den Atomausstieg in Deutschland gestimmt haben, sind nach wie vor dafür, dass Nachbarländer Atomkraftwerke betreiben. So hat beispielsweise der Kollege Joachim Pfeiffer noch an diesem Montag in der Anhörung des Wirtschaftsausschusses zu Euratom erwähnt, dass es richtig sei, dass andere Länder noch auf Atomenergie setzen. Natürlich wundert mich das nicht; denn der erneute Atomausstieg im letzten Jahr war nicht für alle in Union und FDP eine Überzeugungstat, sondern für genügend Atomfreunde ein wahltaktisches Manöver, das sie zähneknirschend vollzogen haben. Daher fehlt es in Union und FDP jetzt an Geschlossenheit, um das Thema weiterhin offensiv anzugehen. Der nächste Schritt wäre konsequenterweise, sich in der EU für einen europaweiten Atomausstieg stark zu machen. Wenn man liest, dass Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz errechnet haben, dass Ereignisse wie in Tschernobyl und Fukushima etwa einmal in 10 bis 20 Jahren auftreten können und damit 200-mal häufiger als in der Vergangenheit geschätzt, dann sollte man alles andere tun, als die Füße stillzuhalten. Die Mainzer haben auch festgestellt, dass Westeuropa weltweit das höchste Risiko einer radioaktiven Kontamination trägt, denn hier ist die Dichte an Reaktoren am höchsten. Insgesamt sind in Europa noch 133 Atomkraftwerke am Netz. Es bleibt also noch viel zu tun. Wenn Länder wie Frankreich, Großbritannien, Polen und Tschechien jetzt plötzlich auch noch fordern, Atom als klimafreundliche Energie anzuerkennen, um sie somit genauso subventionieren zu können wie zum Beispiel erneuerbare Energien, dann reicht es nicht, wenn die Bundesregierung dies still und leise ablehnt. Hier wäre ein lautes und klares Nein die richtige Antwort, und zwar eingebettet in eine Initiative, die versucht, auch andere Länder davon zu überzeugen, dass Atomenergie keine Zukunft mehr hat. Neue Atomkraftwerke, besonders im dichtbesiedelten Europa, bauen zu wollen, zeugt von nationalem Egoismus, den man nicht, wie Herr Pfeiffer, beklatschen sollte. Es ist schon traurig, dass die Führungseliten einiger Länder, offensichtlich unter dem Zu Protokoll gegebene Reden Eindruck der Atomlobby stehend, nicht das Sicherheitsbedürfnis und die Gesundheit ihrer Bevölkerung in den Vordergrund stellen. Aber wenn das schon so ist, dann ist es nicht nur legitim, sondern geradezu eine Verpflichtung für die Bundesregierung, zu sagen: Wir können das nicht tolerieren, weil auch Menschen in Deutschland dadurch gefährdet werden. Man muss sich über die Überlegungen Großbritanniens schon sehr wundern, für Strom aus neuen Atomkraftwerken eine feste Einspeisevergütung garantieren zu wollen, quasi ein EEG für Atomkraftwerke - und das für eine seit Jahrzehnten eingeführte Technologie, die sich am Markt bis heute nicht so weit wirtschaftlich rechnet, dass sich private Investoren finden würden, die das immense Milliardenrisiko ohne staatliche Unterstützung in Kauf nehmen wollten; für eine Technologie, die hochgefährliche Abfälle hinterlässt, deren sichere Entsorgung auch im Vereinigten Königreich nicht geklärt ist; für eine Technologie, die wieder einmal auf zentralistische und unflexible Großstrukturen setzt, die mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien nicht zusammengehen. Es ist einfach ein Widerspruch, in Zukunft vor allem auf die Erneuerbaren setzen, aber gleichzeitig neue Atomkraftwerke bauen zu wollen. Ich würde gerne einmal von einem Menschen mit wirtschaftlichem Sachverstand erklärt bekommen, wie sich neue Atomkraftwerke ganz ohne Hilfe der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler rechnen sollen, wenn sie es bisher nicht getan haben, obwohl die Rahmenbedingungen sogar günstiger waren. Schließlich müssen die Atomreaktoren in Zukunft viel häufiger ihre Leistung drosseln, hoch- und runterfahren, also im verschleißfördernden Lastwechselbetrieb laufen, um auf die zum Teil volatile Stromeinspeisung von erneuerbaren Energien reagieren zu können. Offenbar gibt es selbst unter Atomenergiebefürwortern keinen mehr, der eine solche Rechnung nachvollziehbar aufmachen kann. Ansonsten würde man nicht ausgerechnet aus Großbritannien, dem Vorreiterland des völlig liberalisierten Marktes, das sich immer gegen jeden staatlichen Interventionismus wendet, Stimmen hören, die die Förderung der Atomenergie fordern. In unserem Antrag „Keine deutsche Zustimmung zu einer europäischen Förderung der Atomenergie“ fordern wir daher die Bundesregierung auf, die Anliegen Großbritanniens, Frankreichs, Polens und Tschechiens ganz klar abzulehnen. Eine Gleichstellung von Atomenergie mit den erneuerbaren Energien ist geradezu absurd. Wenn sich morgen die zuständigen EU-Minister treffen, um erneut über das Thema zu reden, dann muss das Nein Deutschlands eindeutig stehen. Das sind Sie den Menschen, denen Sie im letzten Jahr mehr Sicherheit und eine nachhaltige Energiewende versprochen haben, schuldig.

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In ihrem Antrag fordert die SPD-Fraktion die Bundesregierung auf, sich beim Europäischen Rat für Verkehr, Telekommunikation und Energie am 15. Juni klar gegen eine Gleichstellung der Atomenergie mit erneuerbaren Energien auszusprechen. Sie soll sich dort gegen jede Subventionierung vorhandener oder geplanter Kernkraftwerke aussprechen - ein frommer Wunsch. Allerdings gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung derzeitig überhaupt gar keine konkreten Pläne, auf EU-Ebene eine Subventionierung geplanter oder schon in Betrieb befindlicher Kernkraftwerke anzustreben. Vielmehr will die EU die Umsetzung der Energiewende mit einer gemeinsamen EU-Richtlinie vereinheitlichen. Auch bin ich der Auffassung, dass es in Deutschland einhellige Meinung ist, ausgereifte und erprobte Technologien nicht noch obendrein zu fördern. So äußerte sich auch eindeutig der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Ernst Burgbacher. Anders sieht es natürlich bei dem Forschungsprojekt ITER aus. Hier sind Investitionen in Forschung und Entwicklung durchaus angesagt. Mit dem internationalen Fusionsexperiment ITER wird erstmals eine Fusionsanlage entstehen, die einen Nettoenergiegewinn erzielen kann. ITER stellt damit einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem kommerziellen Fusionskraftwerk dar und damit zu einer schier unerschöpflichen und ebenso sauberen Energiequelle. Maßgeblichen Anteil an diesem Fortschritt hat das Max-Planck-Institut. Im Teilinstitut Greifswald des MaxPlanck-Instituts für Plasmaphysik, IPP, entsteht derzeit mit Wendelstein 7-X das weltweit größte und fortgeschrittenste Stellaratorexperiment. Es soll die Kraftwerkstauglichkeit dieses Anlagentyps demonstrieren. Kernstück der Anlage ist ein Spulensystem aus 70 supraleitenden Magnetspulen. Durch dieses Engagement können deutsche Forscher an der Spitze der Weltelite agieren: sei es in der theoretischen Forschung oder in der praktischen Materialentwicklung. Die notorischen Kritiker an diesem Projekt erscheinen mir immer wie die Pessimisten, die vor gut hundert Jahren dem Automobil keine Zukunft voraussagten. In ihrem Antrag verweist die SPD-Fraktion auf die von der dänischen Ratspräsidentschaft erbetenen Stellungnahmen zum EU-Energiefahrplan bis 2050. Vier Mitgliedstaaten - Großbritannien, Frankreich, Polen und Tschechien - hätten sich darin für eine Gleichstellung der Atomenergie mit erneuerbaren Energien ausgesprochen. Beide Energieformen seien kohlendioxidneutral und damit wichtige Mittel gegen den Klimawandel. Deshalb wollen die vier EU-Mitgliedsländer die finanzielle Förderung des Abbaus der Kohlendioxidemissionen technologiefrei erfolgen lassen. In dieser Forderung eine Motivation ökonomischer Natur zu sehen, wie es die SPD tut, ist wirklich keine große Kunst. Es ist aber verwunderlich, wenn Rot-Grün seinerzeit selbst Hunderte von verschiedenen Fördertatbeständen geschaffen hat und sich dann erstaunt zeigt, wenn das System auf europäischer Ebene Schule macht. Im Dezember 2011 waren in 31 Ländern 437 Kernkraftwerke mit einer installierten elektrischen Bruttoleistung von etwa 389 Gigawatt in Betrieb. In 14 Ländern sind 63 Kernkraftwerke mit einer elektrischen Bruttoleistung von knapp 65 Gigawatt im Bau. Zu Protokoll gegebene Reden In Europa nutzen heute 14 der 27 EU-Mitgliedstaaten Kernenergie. Dies tun sie nach dem deutschen Ausstiegsbeschluss mit insgesamt 135 Reaktoren. Die weltweite Stromerzeugung aus Kernenergie betrug im Jahr 2011 netto rund 2 497,1 Milliarden Kilowattstunden. Seit der ersten Stromerzeugung in einem Kernkraftwerk 1951 in den USA - sind kumuliert rund 65 600 Milliarden Kilowattstunden netto erzeugt worden. Dies zeigt, dass für viele andere Länder die Kernkraft noch lange kein Auslaufmodell ist. Das müssen wir so akzeptieren. Insofern mutet es zumindest fragwürdig an, wenn die SPD die Kernkraft in Bausch und Bogen als völlig unwirtschaftlich ablehnt. Wo diese doch auch in Europa noch durchaus verbreitet ist. Schließlich obliegt es laut Euratom-Vertrag jedem einzelnen Staat, sich für oder gegen die friedliche Nutzung der Kernkraft zu entscheiden. Diese Entscheidung darf nicht durch europäische Gesetzgebung festgelegt werden. Nach SPD-Meinung soll die Bundesregierung auf eine Weiterentwicklung der Energiewende hinwirken. Diese Meinung ist als Bemerkung schlichtweg überflüssig. Denn sie tut es ja: Energiepaket, Netzentwicklungsplan, EEG- und KWK-Novelle usw. Zielführender wäre es jedenfalls, wenn die Opposition ihre egozentrische Grundhaltung im Bundesrat ändern und die energetische Häusersanierung wie auch die Anpassung der PV-Förderung nicht weiter blockieren würde. Zum Schluss argumentiert die SPD-Fraktion dann noch mit einem vermeintlich hohen Energieverbrauch beim Uranabbau. Deshalb sei die Kernkraft nicht kohlendioxidneutral. Das renommierte Schweizer PaulScherrer-Institut hat unter Einbeziehung aller Faktoren für die Kernkraft 16 bis 23 Gramm Kohlendioxidäquivalent pro Kilowattstunde berechnet. Zum Vergleich: Für die Photovoltaik fallen in Bezug auf Lebensdauer und Produktion zwischen 80 und 160 Gramm Kohlendioxid pro Kilowattstunde an. Dieser Ansicht folgend wies das Landgericht Berlin am 9. November 2010 eine einstweilige Verfügung auf Untersagung zurück. Mit dieser Verfügung sollte dem Deutschen Atomforum Werbung untersagt werden, die Kernkraft als CO2-freie Stromproduktion darstellt. Der SPD-Antrag ist alles in allem ohne Bezug zur europäischen Realität und auch in der sachlichen Argumentation von einseitig interessengeleiteten Gutachten getragen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.

Sabine Stüber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004171, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vor wenigen Tagen wurde eine Studie veröffentlicht, aus der hervorging, dass der Süden Deutschlands die mit am meisten von einem atomaren GAU gefährdete Region Europas ist - und dabei handelt es sich nicht nur um die Bedrohung aus eigenen Atomkraftwerken, vielmehr auch um Bedrohungen durch die nahegelegenen französischen AKW knapp hinter der Grenze. Atomkraft zu betreiben, ist keine national-isolierte Angelegenheit. Eine radioaktive Wolke macht vor Staatsgrenzen nicht halt. Deswegen müssen wir in der Europäischen Union dringend über die nachbarschaftlichen Verantwortlichkeiten in Sachen Atomkraft sprechen. Während Deutschland einen zwar langsamen, aber doch richtungsweisenden Atomausstieg vollzieht, umzingeln uns geplante AKW-Neubauten, neuerlich auch in Polen. Dieser Zustand ist unerträglich und muss endlich in einer Diskussion um den Sinn und Zweck des Euratom-Vertrags und letztendlich in dessen Auflösung münden. Nur auf Grundlage des Euratom-Vertrags sind solche absurden Forderungen, wie sie von Polen, Großbritannien, Tschechien und Frankreich jetzt zur Förderung der Atomkraft nach Vorbild des Erneuerbare-Energien-Gesetzes erhoben werden, überhaupt erst möglich. Es ist ganz klar, dass der Betrieb von Atomkraftwerken nicht nur ökologisch Irrsinn ist, sondern auch ökonomisch. Die Kosten, die mit der Atomkraft verbunden sind, sind so hoch, dass es noch nie irgendwo ein Atomkraftwerk gegeben hat, das ohne staatliche Unterstützung zu bauen gewesen wäre. Genau daher kommt auch diese absurde Forderung. Da Polen den fatalen Weg in die Atomkraft einschlagen will und Großbritannien den Bau mehrerer neuer Atomkraftwerke erwägt, brauchen sie solch eine Förderung, um den Neubau ihrer Atomkraftwerke irgendwie wirtschaftlich darstellen zu können. Die Atomwirtschaft lässt sich von vorn bis hinten durchsubventionieren: für den Bau, für den Betrieb, für den Rückbau und für die Entsorgung von Atomkraftwerken und ihren Begleiterscheinungen. Allein in Deutschland sind in den vergangenen Jahrzehnten so Kosten von wenigstens 200 Milliarden Euro zusammengekommen, die die Steuerzahler aufgebracht haben. In anderen Staaten sind die Relationen zumindest ähnlich. Als ob das nicht genüge - als ob es nicht genüge, dass wir uns ebenfalls mit Steuergeldern noch um Jahrmillionen strahlenden Müll werden kümmern müssen, und als ob es nicht genüge, dass ein Atomkonzern mit einem laufenden Atomkraftwerk 1 Million Euro Profit täglich erwirtschaften kann - bekommt die internationale Atommafia den Rachen nicht voll genug und fordert ein EUSubventionsprogramm für die Atomkraft. Die Bevölkerung von Staaten wie Österreich, die verfassungsmäßig Atomkraft im eigenen Land verboten haben, würden dann zur Kasse gebeten werden zur Förderung ausländischer Atomkraftwerke. Welch ein Irrsinn! Man kommt sich vor wie in die 50er-Jahre versetzt, als Franz Josef Strauß als Atomminister durch die Lande zog und allen das Märchen vom billigen, sauberen und sicheren Atomstrom auftischte und sagte, dass das Wirtschaftswunder davon abhinge. Die international agierende Atomwirtschaft bäumt sich wieder auf und versucht mit aberwitzigen Mitteln, ihren Albtraum weiter zu träumen, und zwar auf Kosten der Menschen, der Umwelt und der zukünftigen Generationen. Gleichzeitig verhindern die Institutionen der Europäischen Union die Gründung einer europäischen Antiatom-Bürgerinitiative mit dem billigen Argument, eine solche verstieße gegen den Euratom-Vertrag. Wenn Zu Protokoll gegebene Reden das Diktat der Wirtschaft in Europa mehr Gewicht hat als die Entfaltung basisdemokratischer Strukturen, dann haben wir ein ernsthaftes Demokratieproblem. Deutschland muss seinen Weg aus der Atomkraft konsequent gehen und auf EU-Ebene ausweiten. Der Euratom-Vertrag muss aufgelöst werden und einem Vertrag für eine soziale und ökologische Energiewende weichen. Die Linke wird ihren Teil dazu beitragen und an der internationalen Vernetzung von Umweltverbänden und Antiatominitiativen weiter aktiv mitwirken.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Geschichte der staatlichen Förderung der Atomkraft ist seit dieser Woche um eine Anekdote reicher. Die deutschen AKW-Betreiber wollen in der ihnen eigenen Dreistigkeit die Steuerzahler mit rund 15 Milliarden Euro für einen in breiter Mehrheit beschlossenen Atomausstieg büßen lassen. Ob ihre Rechnung aufgeht, ist zwar mehr als fraglich. Aber man muss auch festhalten: Abermals steht eine happige Summe im Raum, die unser Staat für die Atomkraft aufbringen soll. Sie steht nur deshalb im Raum, weil Schwarz-Gelb mit dem rot-grünen Atomausstieg aus dem Jahr 2000 gebrochen hat, dem ein ausgehandelter Konsens mit den EVU aus gutem Grund vorausging. Mit ihrer unsäglichen Laufzeitverlängerung vom Herbst 2011 hat die Regierung Merkel den Menschen in Deutschland neben dem atomaren Risiko nun auch ein völlig unnötiges Finanzrisiko in Milliardenhöhe eingebrockt. Im europäischen Kontext betrachtet hat diese Geschichte dennoch etwas Positives. Denn sie handelt vom Niedergang der Atomkraft. Andere Länder sind leider noch nicht so weit. So wollen in der EU Frankreich, Großbritannien, Polen und Tschechien mit weiteren Unsummen dafür sorgen, dass Atomkraft Bestandteil im jeweiligen Energiemix bleiben bzw. werden kann. Es spricht schon Bände, dass sich die seit Jahrzehnten staatlich gepäppelte Atomkraft ohne erneute staatliche Hilfe ganz offensichtlich nicht selbst behaupten könnte. Der Einfluss der Atomlobby ist in vielen EU-Ländern stark. Das geht auch zulasten dessen, was auf EU-Ebene energiepolitisch insgesamt notwendig wäre. Längst ist klar, dass die EU sich darum kümmern muss, die Grundlagen und Leitplanken für eine zukunftsfähige Energieversorgung zu schaffen. Das heißt, sie muss den Mitgliedstaaten mit Engagement und Elan den Weg ebnen zu Energieeffizienz, Energieeinsparung und erneuerbaren Energien; mithin den Weg zu einer dezentralen Stromversorgung. Ein Zementieren zentraler Versorgungsstrukturen wäre für die Zukunftsfähigkeit der europäischen Energie- und Klimapolitik fatal. Auch deshalb darf es keine europäische Hilfe für weitere Päppelungen der Atomkraft geben. Dass die Bundesregierung durchaus Einfluss in der EU haben kann, konnte man jüngst am negativen Beispiel ihrer Blockade der EU-Energieeffizienzrichtlinie sehen. Es wird höchste Zeit, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung ihren Einfluss auf die europäische Energiepolitik sinnvoll geltend macht. Im Bereich Atompolitik heißt das, aktiv Nein zu sagen zu Vorstößen staatlicher Subventionierung einer sinnlosen und hochgefährlichen Technologie. Es heißt, alles dafür zu tun, dass gut ein Jahr nach der Atomkatastrophe von Fukushima die richtige Diskussion geführt wird: nicht die um neue Atomsubventionen, sondern die um höhere Sicherheitsanforderungen für die bestehenden AKW. Darum müsste sich in Europa heute eine energische und fruchtbare Debatte drehen, mit einer gut hörbaren Bundesregierung, die zum Beispiel den AKW-Stresstest der EU dafür nutzt, dass die gefährlichsten Anlagen in Europa möglichst schnell stillgelegt werden - am besten sofort -, und die dafür kämpft, dass die noch am Netz bleibenden Anlagen mit umfangreichen Nachrüstungen deutlich sicherer gemacht werden. Doch davon fehlt bislang jede Spur. Beim EU-Stresstest macht das zuständige Bundesumweltministerium im Gegensatz zu manchen Bundesländern gerade das Allernötigste. Mit Indifferenz und Untätigkeit trägt es dazu bei, dass der Stresstest zum Wohlfühl- und PR-Programm für die europäischen AKW-Betreiber verkommt. Noch schlimmer ist es um die Rolle des Bundesumweltministeriums im Bereich der Terrorgefahren für europäische Atomkraftwerke bestellt. Vor rund einem Jahr wurde diesbezüglich auf EU-Ebene eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die kürzlich weitgehend unbeachtet ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Dieser ist unfassbar oberflächlich, ist das Papier nicht wert, auf dem er steht. Anstatt sich den wichtigsten Problemen und den gefährdetsten Anlagen zu widmen, hat die Arbeitsgruppe anscheinend genau das Gegenteil getan: keine konkreten Anlagen untersucht und auch nicht die vorhandenen gehaltvollen Unterlagen ausgewertet. Sie hat Empfehlungen ausgesprochen, ohne sicherzustellen, dass sie umgesetzt werden, geschweige denn schnell umgesetzt werden. Nun kann in Prozessen, an denen mehrere Staaten beteiligt sind, natürlich nicht alles so laufen, wie ein einzelner Staat es für optimal hielte. Doch das Erschreckende ist, dass sich die Bundesregierung nicht von den unsäglichen Ergebnissen dieser Arbeitsgruppe distanziert. Vielmehr stellt sie sich voll und ganz dahinter. Damit ist sie maximal von der Haltung entfernt, die sie einnehmen müsste, wenn sie es ernst meinte mit einem Mehr an Atomsicherheit als Konsequenz aus der japanischen Atomkatastrophe. Sie müsste ihren Einfluss geltend machen, damit die Arbeitsgruppe ein neues, besseres Mandat bekommt und noch einmal richtig arbeitet. Ähnlich schlecht ist es um die Haltung des Umweltministeriums in Bezug auf das tschechische AKW-Neubauvorhaben Temelin 3 und 4 bestellt. Hier versteckt sich das BMU hinter den Bundesländern Sachsen und Bayern und lässt damit den Großteil der deutschen Bevölkerung im Regen stehen. Anstatt den Menschen eine maximale Mitsprache bei einem Projekt mit so enormem Schadenspotenzial wie zwei neuen AKW kurz hinter der deutschen Grenze zu ermöglichen, steckt das BMU seine Energie in immer neue Argumente, warum es sich nicht zuständig fühlt. Ähnlich untätig und feige hätte sich das BMU auch vor einem Jahrzehnt verhalten können, als es um die ReZu Protokoll gegebene Reden aktorblöcke Temelin 1 und 2 ging. Das tat es aber nicht, sondern hat sich engagiert und seine Ressourcen genutzt, um aktive Schadensvorsorge für die Bevölkerung zu betreiben und gemeinsam mit Tschechien das Sicherheitsniveau von Temelin 1 und 2 zu erhöhen. Umweltminister Altmaier täte daher gut daran, Jürgen Trittin zum Vorbild zu nehmen anstatt seinen direkten Vorgänger und Parteikollegen Norbert Röttgen. Vierzehn Monate voll hochtrabender Ankündigungen und kaum Taten sind im Bereich Atomsicherheit nach der Fukushima-Katastrophe vergangen. Es wird höchste Zeit, die noch verbleibenden vierzehn Monate in dieser Wahlperiode zu nutzen, um das Versäumte nachzuholen und zahlreiche Lippenbekenntnisse in Taten umzusetzen. Herr Altmaier, Sie stehen in besonderer Pflicht!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9799, den Antrag auf Drucksache 17/9554 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Koalitionsfraktionen waren dafür, die Oppositionsfraktionen dagegen. Tagesordnungspunkt 32: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs - Drucksache 17/1221 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - Drucksache 17/9841 Berichterstattung: Abgeordnete Nadine Schön ({1}) Miriam Gruß Katja Dörner Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Die Reden haben wir zu Protokoll genommen.

Nadine Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004116, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Elterngeld ist heute aus dem Kanon der familienpolitischen Leistungen nicht mehr wegzudenken. Für immer mehr junge Paare ist es ein fester Bestandteil ihrer finanziellen Planungen, und - darüber freue ich mich ganz besonders - auch immer mehr Väter nehmen eine Auszeit von ihrem Beruf, um sich um die Erziehung des Nachwuchses zu kümmern. Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf wollen wir den Vollzug des Elterngeldes vereinfachen, für die Antragssteller ebenso wie für die Mitarbeiter der Behörden; denn im Laufe der vergangenen Jahre hat die Praxis gezeigt, dass bei der verwaltungstechnischen Umsetzung des Elterngeldes Verbesserungsbedarf besteht. Insbesondere die Einkommensermittlung der Bezieher hatte in den Ländern viele Kapazitäten in Anspruch genommen. Ich begrüße deshalb besonders, dass die gefundenen Verbesserungen im Einvernehmen mit den Ländern, der Bundesregierung sowie den christlich-liberalen Fraktionen getroffen werden konnten. Wir Familienpolitiker von CDU/CSU und FDP hatten in einem gesonderten Antrag noch einmal bei einigen Punkten nachjustiert und den bestehenden Gesetzentwurf des Bundesrates an unterschiedlichen Stellen ergänzt. Die neuen Regelungen werden somit zum 1. Januar 2012 in Kraft treten können. Ich möchte Ihnen einige konkrete Verbesserungen nennen, welche die Gesetzesnovelle mit sich bringt: Das Kernstück des Gesetzentwurfs des Bundesrates ist die Einführung von Pauschalen für Steuern und Abgaben. Dadurch wird die Ermittlung des Einkommens, an dessen Höhe sich das letztendlich auszuzahlende Elterngeld bemisst, wesentlich erleichtert. Auch der Vollzug wird erleichtert. Die Verwaltungsmitarbeiter müssen nun nicht mehr die Lohn- und Gehaltsbescheinigungen als einzelne Positionen separat bewerten und übernehmen, sondern können mit den pauschalen Sätzen rasch und mit Unterstützung der elektronischen Datenverarbeitung verfahren. Auf diese Art und Weise werden auch mögliche Fehlerquellen minimiert. Lästiges Nachfragen - wie es in der Vergangenheit ab und an der Fall war - entfällt, was den Aufwand für die Elterngeldstellen und Arbeitnehmer spürbar verringert. Vonseiten der Fraktionen von CDU/CSU und FDP war es uns darüber hinaus ein Anliegen, den bürokratischen Aufwand für Selbstständige durch eine Vereinfachung bei der Ermittlung des Bemessungseinkommens zu reduzieren. Dies wird gewährleistet, indem der Nachweis des Einkommens aus selbstständiger Erwerbstätigkeit grundsätzlich über den Steuerbescheid des letzten abgeschlossenen Veranlagungszeitraums vor der Geburt erfolgt. Die Selbstständigen müssen somit nicht zusätzlich zur steuerlichen Gewinnermittlung noch eine elterngeldliche Gewinnermittlung vornehmen. Ich bin mir sicher, das ist ganz in ihrem Sinne. Gleichzeitig verringert sich abermals der Verwaltungsaufwand in den Elterngeldstellen, weil die vormals gesondert erstellten Gewinnberechnungen für die tatsächliche Berechnung des Elterngeldes wegfallen. Die neue Regelung hilft somit beiden Seiten. Darüber hinaus sieht unser gemeinsamer Ergänzungsantrag vor, das Prozedere zur generellen Ermittlung des Einkommens aus selbstständiger Arbeit zu vereinfachen: Dies geschieht, indem wir den Antragstellern mit Einkommen aus selbstständiger Arbeit die Möglichkeit geben, für die Ermittlung der Betriebsausgaben eine Pauschale von 25 Prozent der zugrunde zu legenden Einnahmen anzusetzen. Machen die Elterngeldberechtigten davon Gebrauch, entfällt das Erfordernis des Nadine Schön ({0}) bisweilen sehr aufwendigen Einzelnachweises von Betriebsausgaben und die entsprechende Umrechnung auf die Bezugszeit des Elterngeldes. Diese Vereinfachungen werden durch weitere Verbesserungen ergänzt, die aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre ratsam geworden sind: So wird der Höchstbetrag des berücksichtigungsfähigen Einkommens vor der Geburt auf 2 770 Euro erhöht. Eine andere Ergänzung sieht vor, dass der Elterngeldantrag je nach Bedarf geändert werden kann. Die Beschränkung zulässiger Antragsänderungen, die sich in der Praxis nicht bewährt hat, wird somit aufgehoben. Zusätzlich wird klargestellt, dass auch bei der Berechnung von Kostenbeiträgen - etwa für die Kita-Betreuung - das Elterngeld in der Regel bis zu einem Betrag von 300 Euro nicht berücksichtigt werden darf. Um auch künftig einen möglichst guten Einblick darüber zu haben, welche Entwicklungen das Elterngeld in der Praxis nehmen wird und wo es gegebenenfalls noch etwas nachzujustieren gibt, werden wir auch Verbesserungen bei der statistischen Erfassung vornehmen. So wird eine Bestandsstatistik eingeführt und eine Ergänzung der Übermittlungsbefugnisse des Statistischen Bundesamtes vorgenommen. Auf diese Art und Weise ist die Erstellung einer differenzierteren Datenlage möglich, die wiederum eine bessere gesetzgeberische Planung und Folgenabschätzung möglich macht. Es wird deutlich, dass der ganz überwiegende Teil der Änderungen rein formeller Natur ist und sich aus regelungstechnischen Erfordernissen speist. Aus Gründen der Rechtsförmlichkeit und Systematisierung des Gesetzes haben wir über den gesamten Gesetzestext hindurch Veränderungen vorgenommen, Passagen glattgestrichen und mögliche Widersprüche aus dem Weg geräumt. Das Ergebnis wird ein kompakteres und in sich abgerundetes Gesetz sein. Ich möchte abschließend noch ergänzen, dass die vorzunehmenden Veränderungen im praktischen Verwaltungsablauf natürlich einen einmalig höheren Programmierungs- und Schulungsaufwand erfordern. Ich bin aber überzeugt, dass sich, sobald sich die Neuerungen eingespielt und bewährt haben, mittel- und langfristig der Arbeitsaufwand in der Verwaltung reduzieren wird, und das war schließlich eines unserer Anliegen. Kurzum: Mit dieser Novelle verbessern wir formell ein materiell erwiesenermaßen sehr erfolgreiches Gesetz. Ich bitte sie daher um Ihre Zustimmung.

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Vereinfachung des Elterngeldvollzugs enthält zwar positive Regelungen, die zur Vereinfachung der Berechnung des Elterngelds beitragen werden. Insbesondere Selbstständige werden wohl von der Verwaltungsvereinfachung profitieren können, auch wenn das Problem der Selbstständigen mit nicht verstetigten Einkommen dabei keinesfalls gelöst wurde; denn es wird lediglich der Vollzug vereinfacht. Aber dies wird zumindest teilweise gelingen. Trotzdem lehnen wir als SPD-Bundestagsfraktion diesen Gesetzentwurf auch mit den Änderungen, die durch die Koalitionsfraktionen eingebracht wurden, ab; denn er enthält an vielen Stellen Ungereimtheiten. Die Koalitionsfraktionen verschlechtern sogar einzelne Regelungen, wie etwa beim Bezug von Mutterschaftsgeld. Betroffen hiervon sind vor dem errechneten Geburtstermin Gebärende. Diese Mütter dürfen sich bei den Koalitionsfraktionen für deren vermeintliche „Klarstellung“ bedanken. Auch die Anrechnungsfreiheit des Geschwisterbonus auf Leistungen nach dem SGB II und XII ist durch die schwarz-gelbe Koalition wieder aufgehoben worden. Hier war der Gesetzentwurf besser als der Änderungsantrag von CDU/CSU und FDP. Wir lehnen diese Anrechnung ab, ebenso wie wir grundsätzlich die Anrechenbarkeit des Mindestelterngelds auf die entsprechenden Sozialleistungen ablehnen. Zu einer weiteren „Ungereimtheit“ zählt etwa auch die durch nichts begründete und durch die Koalition einfach festgelegte Höhe des pauschalen Abzugs von 25 Prozent der Betriebseinnahmen als Betriebsausgaben bei Selbstständigen ohne Einkommensteuerbescheid. Der Gesetzentwurf sah hier 20 Prozent Abzugshöhe vor. Dies führt unweigerlich zu einer Senkung des Bemessungseinkommens für die Berechnung des Elterngelds. So ließen sich noch viele weitere Detailregelungen anführen, die dazu beigetragen haben, dass der Gesetzentwurf für uns insgesamt nicht zustimmungsfähig ist. Zudem wurde eine Chance vertan, das Elterngeld sinnvoll weiterzuentwickeln. Das bleibt grundsätzlich festzuhalten. Aber vielleicht auch noch einmal etwas Grundsätzliches zum Ansatz dieses Gesetzentwurfs. Um den Vollzug des Elterngelds zu vereinfachen, hat sich der Bundesrat für eine Orientierung am Einkommensteuerrecht entschieden. Die Übernahme des steuerrechtlichen Einkommensbegriffs auf der einen Seite, aber Ausschluss etwa von Einmalzahlungen, Sonn- und Feiertagszuschlägen, Weihnachtsgeld bei der Einkommensberechnung für das Elterngeld auf der anderen Seite sind kaum verständlich, wenn man berücksichtigt, dass Einmalzahlungen zum Beispiel versteuert werden. Überhaupt, wenn es bestimmte steuerrechtliche Regelungen gibt, müssen sie auch Eltern bei der Berechnung des Elterngelds zugutekommen. Verwerfungen im Steuerrecht dürfen nicht auf ihrem Rücken ausgetragen werden. Dies hat uns auch die Anhörung im Familienausschuss deutlich gemacht. Wenn es also die Möglichkeit der Freibeträge gibt, dann muss diese Möglichkeit auch Eltern zur Verfügung stehen, die Elterngeld beziehen wollen. Im Übrigen ist die Eintragung von Freibeträgen ja auch an die vorhersehbaren realen Aufwendungen geknüpft, womit das Einkommen in dieser Höhe den Eltern für die Steuerzahlung nicht zur Verfügung steht. Im Zusammenhang mit den Freibeträgen haben wir auch gleich eine auf den ersten Blick erkennbare Gruppe von Verlierern der Neuregelung. Eltern mit BeZu Protokoll gegebene Reden hinderung oder Eltern, deren Kinder eine Behinderung haben, haben nun nicht mehr die Möglichkeit, Freibeträge eintragen zu lassen und so ihren vorhandenen Mehrbelastungen entsprechend zu begegnen. Dies ist in der Anhörung von allen Sachverständigen kritisiert worden, und es ist eine Lösung - und wenn auch außerhalb dieses Gesetzentwurfs - eingefordert worden. Allerdings meine ich nach wie vor, dass eine Lösung genereller Natur sein sollte und daher für alle eine Berücksichtigung der Freibeträge erfolgen muss. Wir dürfen auf jeden Fall sehr gespannt sein, was die Bundesregierung hier zu tun gedenkt. Nur viel Zeit darf sie sich im Interesse der Betroffenen wohl kaum lassen. Wir werden dies jedenfalls entsprechend beobachten und einfordern. Apropos Zeit: Als Grund für diese notwendige Reform zur Verwaltungsvereinfachung wird genannt, dass auch eine Verkürzung der Bearbeitungsfristen erforderlich ist, weil Eltern zu lange auf ihren Bescheid warten müssten. Ist das so? Ich jedenfalls kenne keine Statistik, die verlässlich Auskunft über die Bearbeitungsdauer der Anträge durch die einzelnen Elterngeldstellen gibt. Die SPD-Bundestagsfraktion bringt deswegen auch einen Entschließungsantrag ein, der unter anderem die Bundesregierung auffordert, die durch dieses Gesetz in Kraft tretenden Regelungen zu evaluieren und dem Deutschen Bundestag spätestens nach einem Jahr erstmalig zu berichten, welche Auswirkungen und welche Ergebnisse durch die Rechtsänderungen im BEEG eingetreten sind. Geht es jetzt wirklich schneller? Welche Elterngeldberechtigten haben gegebenenfalls welche Nachteile erfahren? Welche Erfahrungen liegen in der Verwaltung vor? Gibt es weniger Nachfragen bei den Antragstellern oder sogar mehr? Was wir zu einer sinnvollen Beurteilung wirklich brauchen, sind verlässliche empirische Daten. Aber ich komme noch einmal grundsätzlich zurück zum Elterngeld: Es ist als Lohnersatzleistung konzipiert, soll die finanziellen Einbußen nach der Geburt eines Kindes abfedern, wenn die Erwerbsarbeit ganz oder teilweise aufgegeben wird, und gleichzeitig den erforderlichen Schonraum für die Betreuung im ersten Lebensjahr des Kindes bieten. Es hat „den doppelten Charakter einer Einkommensersatzleistung und einer Anerkennungsund Unterstützungsleistung“, so wörtlich das BMFSFJ in seiner schriftlichen Antwort auf die Frage Nr. 5/455. Nur die Anerkennungs- und Unterstützungsleistung erhalten nicht mehr alle Eltern. Würdigung der Erziehungsleistung, Gleichbehandlung, Gleichstellung, dies ist bei dieser Bundesregierung absolute Fehlanzeige. Dies gilt auch für die Weiterentwicklung des Elterngelds. Es soll auch dazu beitragen, dass sich die Einschränkung der Erwerbstätigkeit - vor allem von Müttern - zeitlich begrenzt halten lässt, und letztlich soll die Väterbeteiligung an der Betreuung und Erziehung zunehmen. Damit sich Väter noch mehr als bisher beteiligen und Frauen ihre Erwerbsarbeit ebenfalls vielleicht nur reduzieren, muss als Erstes zwingend der doppelte Anspruchsverbrauch beseitigt werden. Dies hat die Koalition zwar verkündet und auch im Koalitionsvertrag festgehalten, aber nach dem Motto „Papier ist geduldig“ blieb es bisher dabei. Eine wirkliche Absicht liegt wohl nicht vor, denn der Gesetzentwurf hätte die Chance dazu geboten. Auch sind alle weiteren Chancen vertan worden, das Elterngeld partnerschaftlich weiterzuentwickeln, damit sich Erziehungs- und Erwerbsarbeit zwischen den Eltern entsprechend aufteilen lässt. Auch zum Elterngeld liegen genügend Untersuchungen, Studien und Berichte vor, die der Bundesregierung viele Hinweise und Vorschläge für ihr weiteres Handeln gegeben haben. Aber sie stehen wohl nur im Regal der Ministerin, vielleicht nicht einmal gelesen. Die Eltern und Kinder in diesem Land haben wirklich eine bessere Familienpolitik verdient. Sie haben eine bessere Familienministerin und eine bessere Bundesregierung verdient.

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Elterngeld ist eine insgesamt erfolgreiche - und sehr beliebte - familienpolitische Maßnahme. Seine Einführung hat zwei Effekte gehabt, die ich sehr begrüße: Zum einen hat es die Erwerbsbeteiligung von Müttern im zweiten Lebensjahr des Kindes gesteigert, und zum anderen hat es die Rolle des Vaters in der Erziehung gestärkt. Die berühmten „Vätermonate“ sind ein großer Erfolg. Das hat allerdings seinen Preis: Allein 4,6 Milliarden Euro sind für das laufende Jahr im Haushalt veranschlagt. Um diese Kosten in Schach zu halten, sind wir als Staat aufgefordert, sorgsam nachzusteuern und Prozesse zu optimieren. Das haben wir mit dem vorliegenden Entwurf getan. Der Elterngeldvollzug wird einfacher und effektiver. Und das ist gut für alle Beteiligten für die Kommunen, für die Eltern und für den Bundeshaushalt. Die Anhörung zum Elterngeldvollzug hat eindeutig gezeigt, dass alle Expertinnen und Experten den Gesetzentwurf und den Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen im Grundsatz begrüßen. Lassen Sie mich einige Verbesserungen im Einzelnen aufzählen: Die Regelungen der §§ 2 und 3 BEEG werden einfacher. Dadurch kann die Bearbeitung schneller erfolgen. Das ist gut für die Eltern, die Anträge stellen. Die Ermittlung des Einkommens für Selbstständige wird einfacher. Statt 96 Eingaben sind nunmehr nur noch 12 Eingaben notwendig. Gerade dieser Punkt war uns Liberalen wichtig. Dabei haben wir die Kritik, dass bei Gründern das Einkommen häufig von Jahr zu Jahr stark schwankt, durchaus zur Kenntnis genommen. Eine Berechnung über einen längeren Zeitraum, beispielsweise fünf Jahre, hätte aber das Ziel der Vereinfachung wieder konterkariert. Außerdem ist zu nennen: Der Höchstbetrag des berücksichtigungsfähigen Einkommens wird auf 2 770 Euro angehoben. Die Antragstellung, insbesondere die Änderungsmöglichkeiten, wird flexibilisiert und dem Bedarf der Antragsteller angepasst. Bei der Berechnung von Zu Protokoll gegebene Reden Kostenbeiträgen darf das Elterngeld in der Regel bis zum Betrag von 300 Euro nicht berücksichtigt werden. Zudem wird die statistische Datenbasis verbessert. All das optimiert den Elterngeldvollzug deutlich. Gerade uns Liberalen ist immer an einer Entbürokratisierung gelegen. Es gibt aber vor allem einen Punkt, bei dem auch wir Ergänzungsbedarf sehen. Das ist die Situation von Behinderten. Hier kann es im Einzelfall zu einer Schlechterstellung kommen. Allerdings haben alle Experten erklärt, dass man einen entsprechenden Nachteilsausgleich nicht in diesem Gesetz regeln sollte, sondern außerhalb dieses Gesetzes, zum Beispiel durch einen prozentualen oder pauschalen Zuschlag. Deshalb haben wir von einem entsprechenden Änderungsantrag abgesehen. Ich hoffe, dass dieses Gesetz im Bundesrat nicht blockiert wird. Schließlich war es der ausdrückliche Wunsch der Länder, hier etwas zu tun. Das Gesetz führt zu Bürokratieabbau und zu einer bürgerfreundlichen Politik im Sinne der betroffenen Eltern. Deshalb sollten Bund und Länder gleichermaßen ein Interesse daran haben, dass dieses Gesetz zum 1. Januar 2013 in Kraft treten kann.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Und wieder werden Chancen vertan, das Elterngeld sinnvoll weiterzuentwickeln. Ziel des Gesetzentwurfs des Bundesrates sind die Vereinfachung des Elterngeldvollzugs und die dadurch bedingte Reduzierung der finanziellen Belastung der Länder. Ein Ziel, das durchaus ehrenwert ist. Aber man muss auch die Risiken und Nebenwirkungen beachten, die eine solche Regelung mit sich bringt oder bringen kann. Positiv ist, dass die Berechnung für das Elterngeld schneller geht und damit Eltern auch schneller in den Bezug von Elterngeld gelangen. Jedoch gibt es auch Eltern, welche durch die Vereinfachung schlechter gestellt werden. Die Nichtanrechnung des Geschwisterbonus bei Sozialleistungen ist eine sinnvolle Fortführung der Anrechnungsfreiheit von Mindestelterngeld und Mehrlingsbonus. Da jedoch das Mindestelterngeld beim Bezug von Hartz-IV-Leistungen abgezogen wird, profitieren Eltern, welche sich im ALG-II-Bezug befinden, leider nicht davon. Bei der Pauschalierung ergibt sich das Problem, dass diejenigen Eltern, welchen hohe Freibeträge auf der Lohnsteuerkarte eingetragen waren, sei es wegen eines langen Arbeitswegs, also Pendlerpauschale, oder gar einer doppelten Haushaltsführung, eben mit dieser Pauschalierung schlechter gestellt werden. Weiter gibt es Ungerechtigkeiten, die teilweise zu Anspruchsverlusten führen. Beispielsweise entfällt der Elterngeldanspruch für den gesamten Monat, wenn die Mutter nur einen Tag Mutterschaftsgeld bezieht. Der Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Jugend hat eine Anhörung zu diesem Gesetz durchgeführt. Von allen Sachverständigen wurde der Gesetzentwurf grundsätzlich positiv eingeschätzt; jedoch wurde auch bemängelt, dass bestimmte Elterngruppen benachteiligt werden, so beispielsweise Eltern mit Behinderung oder Eltern von Kindern mit Behinderung. Von daher ist dem Entschließungsantrag der Grünen zuzustimmen, da dieser die Regierung auffordert, für diese besondere Elterngruppe nach einer Lösung zu suchen, welche die Benachteiligung abschafft. In der Anhörung konnte auch von allen Sachverständigen einhellig festgestellt werden, dass der doppelte Anspruchsverbrauch bei Teilzeitarbeit der Eltern geändert werden sollte. Von daher hat meine Fraktion den entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, um Eltern nicht finanziell schlechter zu stellen, welche die Erziehung gemeinschaftlich mit Teilzeitarbeit leisten. So sollen Eltern, die halbtags arbeiten gehen, auch nur jeweils einen halben Monat Elterngeldanspruch verbrauchen. Wenn beide Eltern nacheinander jeweils sieben Monate im Beruf aussetzen, bekommen sie gemeinsam 14 Monate lang das volle Elterngeld. Wenn beide parallel sieben Monate halbtags arbeiten, ist für sie schon nach sieben Monaten der Bezug des Teilelterngelds vorbei. Das soll der Antrag ändern. Der Entschließungsantrag der SPD geht ebenfalls in die richtige Richtung und versucht auch in Teilen, die Ungerechtigkeiten dieses Gesetzes zu beheben, gerade was die Anrechnungsfreiheit des Elterngelds bei Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern II und XII angeht. Von daher wird die Linke diesem Entschließungsantrag zustimmen. Es ist schade, dass die Regierung unter Berufung auf die Haushaltskonsolidierung wieder einmal verpasst, Familien vernünftig zu unterstützen. In der Neujahrsansprache hat die Bundeskanzlerin versprochen, Familien zu unterstützen. Und wieder einmal gilt für diese gelbschwarze Koalition: Versprochen - gebrochen! Die Anträge der Opposition sind durchweg richtungsweisend, was eine Besserstellung von Familien betrifft. Daran hat die Regierung ganz offensichtlich nicht das geringste Interesse. Konsolidierung ist gut; das kann man aber auch an anderen Stellen tun, zum Beispiel bei Rüstungsausgaben. Der Vollzug des Elterngelds wird durch das Gesetz zwar vereinfacht; bestehende Ungerechtigkeiten werden allerdings nicht behoben. Im Ergebnis wird meine Fraktion dem Gesetz wegen der vertanen Chancen nicht zustimmen, sondern sich aufgrund der Vereinfachung der Bearbeitung und der sich daraus ergebenden nicht zu negierenden Beschleunigungseffekte enthalten.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Diejenigen, die derzeit die Republik überzeugen wollen, dass ein Betreuungsgeld notwendig und sinnvoll ist, mögen unterschiedliche Motive haben. Doch eines haben sie nicht: die Wünsche der Familien im Blick. Zu Protokoll gegebene Reden 1,2 Milliarden Euro jährlich sind für das Betreuungsgeld vorgesehen. Eine unsinnige und immens kostspielige Maßnahme, gegen die es zu Recht ein breites Bündnis von Verbänden und Wissenschaftlern gibt, die die Mehrzahl der Deutschen ablehnt und die trotzdem jetzt wider alle Vernunft im Schweinsgalopp durch das Parlament gepeitscht werden soll. Diese 1,2 Milliarden Euro könnten wir in der Familienpolitik an anderer Stelle sehr viel besser einsetzen. Und das würde auch den Wünschen vieler Mütter und Väter entsprechen. Doch dafür hat die Bundesregierung kein Geld. Beispielsweise liegen die seit 2009 angekündigten Weiterentwicklungen beim Elterngeld, also das Teilelterngeld und der Ausbau der Vätermonate, auf Eis, weil sie unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Bei der kürzlich durchgeführten Anhörung zum Elterngeld waren sich die Expertinnen und Experten völlig einig, dass wir das Teilelterngeld ausbauen sollten. Die jetzige Regelung hat den großen Nachteil, dass die Eltern, die sich die Kindererziehung partnerschaftlich teilen, benachteiligt und diskriminiert werden. Das können wir alle eigentlich nicht wollen. Alle Expertinnen und Experten waren sich auch einig: Die Partnermonate beim Elterngeld müssen ausgebaut werden. Auch das finden wir eigentlich alle richtig. Beide Vorschläge sind auch im Koalitionsvertrag so vorgesehen. Es liegen auch bereits Vorschläge vor, das Teilelterngeld mit nur geringen Kosten oder gar kostenneutral zu ermöglichen oder die Partnermonate auszuweiten. Doch die Regierung lässt sich lieber von der bayerischen Landespartei ein antiquiertes Familienbild diktieren und propagiert ein Betreuungsgeld, als tatsächlich bessere Rahmenbedingungen für ein Leben mit Kindern zu schaffen. Die Weiterentwicklung des Elterngeldes wäre die richtige Maßnahme zum richtigen Zeitpunkt, flankiert durch eine gute, verlässliche Kinderbetreuung. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Vollzug des Elterngelds hat die Bundesregierung leider nicht die Chance genutzt, Familienpolitik entlang der Bedürfnisse von Familien zu machen und das Elterngeld substanziell weiterzuentwickeln. Neben richtigen verwaltungstechnischen Veränderungen, die zu einer Verkürzung der Bearbeitungszeiten und zu einem Abbau von Bürokratie führen sollen, drohen durch die Gesetzesänderung jedoch auch Verschlechterungen für bestimmte Personengruppen. Ich spreche hier von Eltern und Kindern mit Behinderungen. Durch die Reform werden behinderungsbedingte Freibeträge bei der Berechnung des Elterngelds ausgeklammert. Das führt zu einer Absenkung des ausgezahlten Elterngelds. Eltern mit Behinderungen oder Eltern, deren Kinder mit Behinderungen aufwachsen, sind jedoch ohnehin oft in ihrer Erwerbstätigkeit eingeschränkt. Daher wäre es ungerecht und nicht im Sinne der Zielsetzung des Elterngelds, wenn die wirtschaftliche Situation dieser Familien durch ein geringeres Elterngeld weiter verschlechtert wird. Hier muss die Bundesregierung dringend eine Lösung finden. Statt sich wegen des Betreuungsgeldes in immer neuen Krisengesprächen aufzureiben, sollte sie endlich die richtigen Prioritäten in der Familienpolitik setzen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9841, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/1221 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9996 ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen und SPD. CDU/CSU und FDP waren dagegen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die SPD war dagegen. Bündnis 90/Die Grünen und die Linke haben sich enthalten. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer möchte zustimmen und erhebt sich deswegen? - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! - Mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9997. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Die Koalitionsfraktionen waren allerdings dagegen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Tom Koenigs, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eigengebrauch von Cannabis wirksam entkriminalisieren - Nationale und internationale Drogenpolitik evaluieren - Drucksache 17/9948 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Auch hierzu sind die Reden zu Protokoll gegeben und genommen.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In Ihrem Antrag sprechen Sie davon, dass Cannabis eine Alltagsdroge sei. Aber die aktuelle Repräsentativerhebung „Die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland 2011“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigt, dass der Konsum von Alkohol, Tabak und Cannabis unter Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurückgegangen ist. Im Jahr 2011 gaben 6,7 Prozent der 12- bis 17-jährigen Jugendlichen an, schon einmal Cannabis konsumiert zu haben. Damit hat sich der Prozentsatz im Vergleich zum Spitzenwert aus dem Jahr 2004 - 15,1 Prozent - mehr als halbiert. Im Gegensatz zum insgesamt positiven Trend bei den Jugendlichen ist bei den jungen Erwachsenen zwischen 18 bis 25 Jahren der Alkoholkonsum unverändert hoch und der Cannabiskonsum stabil. Wenn wir aber wenigstens solche Erfolge zumindest bei den Jugendlichen vorweisen können, gäben wir doch ein völlig falsches Signal, wäre es geradezu kontraproduktiv, wenn man wie Sie die Legalisierung der Droge fordert. Zusätzlich ist auch die Anzahl der Personen, die sich in Behandlung begibt, weiterhin hoch. Im Jahr 2010 waren es 23 349 Personen, die wegen einer cannabisbezogenen Störung eine ambulante oder stationäre Therapie gemacht haben. Es ist meines Erachtens außerordentlich wichtig und muss doch hoffnungsvoll stimmen, wenn deutlich weniger Kinder und Jugendliche Cannabis konsumieren. Unsere Prävention wirkt offensichtlich. Eine derart unverantwortliche Haltung Ihrerseits in der Drogenpolitik kann ich nicht nachvollziehen. Eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes, wodurch die Strafbarkeit bei Personen entfällt, die Cannabis in geringen Mengen zum Eigenverbrauch konsumieren, wird es mit uns nicht geben. Eine sinnvolle Suchtpolitik stellt den Menschen in den Mittelpunkt mit seinen spezifischen, meist suchtstoffübergreifenden Problemen. Es geht um die Fragen der Entstehung von Sucht, der meist ein komplexes Geflecht aus Erfahrung im Umgang mit anderen Menschen, Störungen im emotionalen Gleichgewicht oder Misshandlung zugrunde liegt. Wir stellen mit unserem Verständnis von Drogen und Suchtpolitik deshalb Prävention, Therapie, Hilfe zum Ausstieg und die Bekämpfung der Drogenkriminalität in den Mittelpunkt. Unser christliches Menschenbild geht vor allem vom freien unabhängigen Menschen aus. Denn wer abhängig ist, kann nicht frei über sein Leben entscheiden. Genau deshalb stehen wir zuerst für Prävention und im zweiten Schritt für Hilfe zum Ausstieg. Staatliche Strafverfolgung ist und bleibt notwendig, um den Schutz der Gesundheit Dritter, aber vor allem auch von Kindern und Jugendlichen, zu sichern. Der Bund fördert mit diesem Verständnis von Sucht zahlreiche Initiativen und Projekte, die sich insbesondere an jugendliche Konsumenten wenden. Ich verweise hier zum Beispiel auf das Internetangebot der BZgAw „drugcom.de“. Wir wollen die Menschen mit riskantem Cannabiskonsum so früh wie möglich mit unterschiedlichsten Angeboten erreichen, um so den Ausstieg zu ermöglichen oder zumindest den Konsum zu reduzieren. Das ist für mich der richtige Weg. Konkret zu Ihrem Antrag stelle ich fest: Illegale Drogen wie Cannabis stellen nachgewiesenermaßen und entgegen Ihrer Darstellung für die Gesundheit der Menschen eine erhebliche Gefahr dar. Während in anderen europäischen Staaten, allen voran den Niederlanden, der Konsum von Cannabis - Haschisch, Marihuana immer weiter eingeschränkt wird, wollen Sie mit Ihrem Antrag Cannabis in Deutschland künftig erlauben. Nochmals: Cannabis ist kein harmloses Betäubungsmittel. Der Cannabiskonsum birgt nach neueren medizinischen Erkenntnissen erhebliche physische und psychische Risiken. Chronischer Konsum kann nicht nur zur psychischen, sondern auch zur körperlichen Abhängigkeit führen. Genau davor will das BtmG schützen. Ein wissenschaftliches Gutachten aus den Niederlanden aus dem Jahr 2008 bestätigt überdies, dass die Einführung von Cannabisclubs, ein Thema, das Ihnen auch am Herzen liegt, der organisierten Kriminalität erheblichen Vorschub leistet, weil die Trennung der Märkte, das ursprüngliche Ziel der niederländischen Drogenpolitik, nicht funktioniert. Nicht zuletzt gehen wir sehr differenziert vor: Mit der 25. Verordnung zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften haben wir neben wichtigen anderen Regelungen zur Verbesserung der betäubungsmittelrechtlichen Rahmenbedingungen auf dem Gebiet der Palliativmedizin auch die betäubungsmittelrechtlichen Voraussetzungen für die Zulassungs- und Verschreibungsfähigkeit cannabishaltiger Fertigarzneimittel geschaffen. Eine Legalisierung des Cannabiskonsums - egal in welcher Menge - lehnen wir aber weiterhin ab. Nur nochmal zur Erinnerung: Die von mehr als 180 Staaten unterzeichneten Suchtstoffkonventionen der Vereinten Nationen verpflichten die Bundesrepublik Deutschland überdies, die Verwendung von Cannabis und anderen Suchtstoffen auf ausschließlich medizinische oder wissenschaftliche Zwecke zu beschränken sowie den Besitz, Kauf und Anbau für den persönlichen Verbrauch mit Strafe zu bewehren. Deshalb ist in Deutschland wie auch in anderen europäischen Staaten, die allesamt Vertragsstaaten der Suchtstoffkonventionen sind, der Verkehr mit Cannabis, dazu zählen insbesondere Anbau, Herstellung, Handel, Einfuhr, Abgabe, Veräußerung, Erwerb und Besitz von Pflanzen oder Pflanzenteilen, nach dem BtMG grundsätzlich strafbar. Hiervon umfasst ist auch der ({0})Anbau. Zudem ist in der von Ihnen zitierten „Cannabisentscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 gerade ausdrücklich die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Cannabisverbote anerkannt. Mit seinen Beschlüssen vom 29. Juni 2004 und 30. Juni 2005 hat das Bundesverfassungsgericht sogar seine früheren Entscheidungen zur Strafbarkeit in aller Deutlichkeit bestätigt und unsere Haltung ausdrücklich gestärkt. Das Gericht hat lediglich die Strafverfolgungsorgane aufgefordert, von der Verfolgung der in § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes - einer damals noch sehr jungen Zu Protokoll gegebene Reden Vorschrift - bezeichneten Straftaten unter den dort genannten Voraussetzungen nach dem Übermaßverbot abzusehen bzw. die Strafverfahren einzustellen. Die Länder wurden aufgefordert, für eine einheitliche Einstellungspraxis bei Strafverfahren wegen Cannabisbesitz - zum Beispiel hinsichtlich der „geringen Menge“ - zu sorgen. Dieser Verpflichtung sind die Länder nachgekommen. In der Regel findet eine Verurteilung wegen des Besitzes kleiner Mengen Cannabis bis zu 6 Gramm unter den übrigen Voraussetzungen nicht statt. Wenn Sie dann von unterschiedlichen Einstellungspraktiken sprechen, so kann ich nur auf den Föderalismus verweisen. Auch bezüglich des Anbaus, Handels und Besitzes von Cannabis bleibt die Rechtslage mit uns unverändert. Denn die grundsätzliche Strafbarkeit beruht auf der Gefahr der Weitergabe an Dritte und dem Ziel des Gesundheitsschutzes des Einzelnen und der Bevölkerung. Auch neuere Studien haben Cannabis nicht als unbedenklich bewertet, vielmehr wird auf eine Reihe akuter und langfristiger Risiken des Cannabiskonsums hingewiesen. Die Gefährlichkeit des Cannabiskonsums wird in den letzten Jahren sogar eher höher eingeschätzt als früher, zumal eine stetige Steigerung des THC-Gehalts bei Cannabisprodukten zu beobachten ist. Die Gesundheitsgefahren des Cannabismissbrauchs gerade bei Jugendlichen und Heranwachsenden sind medizinisch erwiesen. Ich bin auch dankbar, dass sich in jüngster Zeit grundsätzlich ein Rückgang im Konsum und in der Verbreitung von Cannabis zeigt. Dies zeigt doch vor allem, dass unsere zahlreichen Initiativen und Projekte Wirkung zeigen. Dies gilt es fortzusetzen. Dafür stehen dem Bund in diesem Jahr rund 12,6 Millionen Euro und insbesondere rund 7 Millionen Euro für Aufklärungsmaßnahmen zur Verfügung. Um letztlich noch auf Ihren zweiten Antrag einzugehen: Richtig ist, dass Deutschland weiterhin die internationale Zusammenarbeit im Bereich des Betäubungsmittelrechts aktiv mitgestaltet. Die Drogenbeauftragte hat zuletzt in der Sitzung des Gesundheitsausschusses vom 13. Juni 2012 dazu berichtet. Selbstverständlich fließen auch diese internationalen Erkenntnisse in die Drogenpolitik der christlich-liberalen Koalition ein. Aber Evaluierung heißt erfassen und bewerten, nicht 1:1-Umsetzung. Die christlich-liberale Fraktion wird die Bundesregierung dort in ihren Reformbemühungen unterstützen, wo dies aus ihrer Sicht notwendig ist. Auf das differenzierte Vorgehen im Hinblick auf cannabishaltige Fertigarzneimittel habe ich bereits beispielhaft verwiesen. Dazu bedarf es keiner weiteren Kommission. Schlussendlich bleibt festzuhalten: Mit dem Willen unserer Fraktion werden auch künftig der Handel und die Verwendung von Cannabis zu Rauschzwecken verboten bleiben. Durch die präventive Wirkung der Strafdrohung soll die Verfügbarkeit und Verbreitung der Substanz weiterhin eingeschränkt bleiben. Ein Wegfall der Strafbarkeit und, damit gleichgesetzt, eine Freigabe der Droge ist ein gesundheitliches und innenpolitisches Armutszeugnis. Eine weitere Freigabe von Rauschmitteln ist angesichts der enormen Anstrengungen, den Missbrauch von Alkohol zu verhindern und Jugendliche zu schützen, nicht vertretbar. Eine Öffnung würde zu einem deutlich höheren Konsum und einer größeren Zahl von Abhängigen führen. In der Folge kämen auch Kinder und Jugendliche einfacher und häufiger mit diesem Rausch- und Suchtmittel in Kontakt. Dies könnte insbesondere von dieser Personengruppe als Aufmunterung zum Drogenkonsum verstanden werden. Wir lehnen daher alle Maßnahmen mit dem Potenzial zur unmittelbaren und aktiven Förderung des Konsums von illegalen Drogen ab. Der effektivste Schutz vor illegalen Substanzen besteht vielmehr darin, den Konsum dieser Substanzen konsequent zu unterlassen. Das erfordert unsere Anstrengungen in der Prävention und vor allem auch dahin gehend, die Lebensbedingungen für junge Menschen in Deutschland so zu gestalten, dass eine Flucht aus der Realität in die Sucht erst gar nicht als Ausweg in Betracht gezogen wird. Genau in diesem Bereich ist die christlich-liberale Koalition mit ihren Anstrengungen zum Beispiel für Arbeitsplatzsicherheit und daraus resultierend zum Beispiel einer der besten Quoten für Jugendarbeitslosigkeit in Europa auf dem richtigen Weg.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Rechtspraxis bezüglich des § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes ist in den jeweiligen Bundesländern und Gerichtsbezirken in der Tat nicht einheitlich und damit aus rechtsstaatlichen und demokratiepolitischen Gründen durchaus problematisch. Zu Recht kritisieren dies die Grünen in ihrem Antrag. Und die Debatte ist nicht neu. Die damalige SPD-geführte Bundesregierung hatte schon als Reaktion auf die sogenannte HaschischEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 bei den zuständigen Landesjustizministerien insbesondere die Festlegung einer „geringen Menge“ für den Eigenkonsum angeregt. Vor allem die starre Haltung der unionsgeführten Bundesländer in dieser Problematik hat dazu geführt, dass es bis heute keine einheitliche Regelung zur Festlegung der Kriterien für die Einstellungspraxis nach § 31 a BtMG gibt und wir uns immer wieder mit unterschiedlichen Gerichtsurteilen in den einzelnen Gerichtsbezirken und Bundesländern auseinandersetzen müssen. Ich erinnere Sie an die letzte Anhörung des Gesundheitsausschusses zum Thema Cannabis als Arzneimittel, in der dieses Thema auch zur Sprache kam. Dies kann der Gesetzgeber nicht hinnehmen. Dies untermauern auch die im Antrag angeführten Studien zur Rechtsanwendung. Der heute eingebrachte Antrag der Grünen fordert also aus meiner Sicht zu Recht eine einheitliche Strafverfolgung, doch schießt er meines Erachtens in anderen Teilen ein Stück weit über das Ziel hinaus. Ist die Forderung nach einer Kommission zur Evaluierung des Betäubungsmittelgesetzes noch verständlich und unterstützenswert, so ist die Forderung nach einem Gesetzentwurf, der den Anbau von Cannabis ohne transparente und exakte Grenze straffrei stellen soll, unrealistisch und naiv. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Grünen-Fraktion: Die AnhörunZu Protokoll gegebene Reden Angelika Graf ({0}) gen des Deutschen Bundestages zum Konsum von Cannabis scheinen Sie leider nur sehr selektiv wahrzunehmen. Sowohl die Frage, inwiefern Cannabiskonsum die Wahrscheinlichkeit für einen späteren Konsum härterer Drogen erhöht, als auch die Frage nach der Gesundheitsgefährdung durch gelegentlichen oder regelmäßigen Konsum von Cannabis sind in den Anhörungen mitnichten so eindeutig widerlegt worden, wie die Grünen in ihrem Antrag behaupten. Zudem geben die Grünen weder auf die Frage, wie der Anbau zum Eigenverbrauch definiert bzw. kontrolliert werden soll, eine glaubhafte Begründung noch für Folgeprobleme, die mit so einer Regelung entstehen würden, wie zum Beispiel die Kontrolle des THC-Grenzwerts von Konsumenten im Straßenverkehr. Dabei ist beim Cannabis die Dosis/Konzentration-Wirkung-Beziehung immer noch weitgehend unbekannt, und sie kann nicht so zuverlässig wie beim Alkoholkonsum kontrolliert werden. Bei Cannabis handelt es sich um eine Vielzahl von Mitteln und Substanzen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Fahrleistungen. Ich habe das Gefühl, im Gegensatz zu anderen Problematiken und Sachverhalten erscheinen Ihnen solche Detailfragen erstaunlich lästig und unwillkommen. Das macht einen dann schnell skeptisch. Die Liberalisierung des Eigengebrauchs beim Cannabiskonsum scheint für Sie ein überfälliges Zeichen an Ihre Wählerinnen und Wähler zu sein. So liest sich zumindest der Antrag spätestens bei den Begründungen. Diese wirken auf mich wie Teile eines Strategiepapiers des Hanfverbands. Was für die FDP die Unterstützung der privaten Krankenversicherung ist, ist für die Grünen vermutlich die regelmäßige Forderung nach der Freiheit des Kiffens. Mich sorgt dabei vor allem die sichtbare Bagatellisierung der Gesundheitsgefährdungen durch den regelmäßigen Konsum von Cannabis sowie vor allem die Gedankenlosigkeit der Grünen bei zu definierenden Grenzen des Eigengebrauchs. Warum legen Sie sich nicht auf eine feste Grenze für eine mögliche Geringe-Mengen-Regelung für § 31 a in Verbindung mit § 29 BtMG fest? Weil dem Hanfverband 10 oder 15 Gramm nicht reichen, oder weil Sie fürchten, in den Verhandlungen mit unionsgeführten Ländern unter diesen Grenzen zu landen? Sie schreiben selbst in der Begründung des Antrags - übrigens fast im Stil einer Gebrauchsanweisung -, dass der Ertrag allein einer Cannabispflanze bereits über 10 Gramm liegen könnte. Und Sie schlussfolgern daraus, dass man neue Regelungen für den Anbau von Pflanzen und für den Erwerb von Samen brauche. Sie beantworten die Fragen aber nicht, wer denn für die Kontrolle dieses Anbaus zuständig sein soll, wer ihn überwachen soll etc. In den weiteren Beratungen dieses Antrags werden Sie deutlich machen müssen, wie viele Pflanzen es Ihrer Meinung nach sein sollen, inwiefern wir uns auf die angeblich etwas kleinere Psychosewahrscheinlichkeit durch Cannabis verlassen können, ob es anderslautende Studien gibt und wie die Folgeprobleme eines straffreien Eigenanbaus gelöst oder vermieden werden können. Welches Signal ein straffreier Eigenanbau für die Suchtprävention ist und wie die Grenze des Eigenanbaus definiert und kontrolliert werden soll, wären weitere Fragen der praktischen Politik und Rechtsanwendung, die Sie - ähnlich der daueroppositionellen Linksfraktion - bei diesem Thema stets unbeantwortet lassen. An der FDP können Sie sehen, wie schief es gehen kann, wenn man sich auf Geschenke an die eigene Klientel konzentriert. Auf die 4,8 Prozent der Cannabiskonsumenten, die Sie in Ihrem Antrag als Begründung für eine Legalisierung angeben, würde ich mich dabei nicht verlassen; denn auch diese Bürgerinnen und Bürger schätzen eine verantwortungsvolle Politik, die beispielsweise den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Drogen und Sucht ernst nimmt. Und davon ist in Ihrem Antrag leider keine Silbe zu lesen. Sehr schade.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ziel des vorliegenden Antrags ist der komplette Wegfall der Strafbarkeit von Konsum, Anbau, Herstellung, Einführung, Erwerb, Besitz und Handel von Cannabis. Das ist unhaltbar. Ich halte den Weg, den Gelegenheitskonsum von Cannabis ein Stück weit zu entkriminalisieren, durchaus für richtig. Es gilt, angemessen und verhältnismäßig auf die Tatsache zu reagieren, dass das gelegentliche Rauchen eines Joints ein gesellschaftliches Phänomen ist, das nicht mit aller Staatsmacht angegangen werden muss. Deshalb halte ich eine Entkriminalisierung über den Weg geringer Eigenbedarfsmengen für praktikabel. Dabei muss zunächst festgehalten werden: Der bloße Konsum von Cannabisprodukten war schon immer straffrei, nur der Besitz und Handel etc. nicht. Es gilt weiterhin: Wer Cannabisprodukte „anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft“ - so hält der § 29 des Betäubungsmittelgesetzes es fest - macht sich strafbar. Allerdings gab es durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts bereits eine gewisse Entkriminalisierung des Eigengebrauchs von Cannabis. Das Bundesverfassungsgericht hat sich jedoch nicht genau festgelegt, was eine geringfügige Menge denn nun tatsächlich ist. Das Gesetz unterscheidet nur zwischen der „geringen Menge“, der „Normalmenge“ und der „nicht geringen Menge“, gibt dafür jedoch Anhaltspunkte. Es liegt im Ermessen der jeweiligen Bundesländer, inwieweit der Besitz gewisser Mengen straffrei bleibt. Die Länder haben da jeweils unterschiedliche Regelungen. Das erwähnte Urteil sollte vor allem dazu beitragen, Erst- oder Geringkonsumenten zu entkriminalisieren, sodass von einer Strafverfolgung abgesehen werden kann, begründet unter anderem durch das verfassungsmäßige Verbot übermäßiger Bestrafung. Eine praktikable Entkriminalisierung des Eigenbedarfs würde durch eine Anhebung oder gar Aufhebung der Mengengrenze konterkariert. Eine praktikable Entkriminalisierung kann meines Erachtens nur über eine möglichst niedrige Menge gewährleistet werden. Denn nur dadurch, durch die möglichst niedrige Menge, wird deutlich, dass mit dem mitgeführten Betäubungsmittel kein Handel betrieben werden soll und ausschließlich Zu Protokoll gegebene Reden der Eigenbedarf bzw. der tatsächliche eigene Konsum im Vordergrund steht. Je höher die Grammzahl jedoch ist, desto mehr kann man aus der mitgeführten Menge ableiten, dass vielleicht doch andere Konsumenten an dem Stoff teilhaben sollen und mit ihm gedealt werden könnte. Deshalb wäre eine Anhebung der Mengengrenze kontraproduktiv. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der von den Grünen skizzierte „gemeinsame Konsum“ tatsächlich unentgeltlich stattfindet. Das ist grüne Träumerei. In Wahrheit wird doch gedealt, bis sich die Balken biegen. Bei allem gemeinsamen Bestreben, Erst- oder Geringkonsumenten entgegenzukommen, muss festgehalten werden: Cannabis ist illegal, sein Konsum ist gefährlich und kann den Einstieg in eine Suchtspirale hin zu härteren Drogen bedeuten. Die in der Öffentlichkeit oft geäußerte völlige Unbedenklichkeit des Cannabiskonsums entspricht nicht den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen. Experten warnen insbesondere, dass Cannabis immer stärker und immer giftiger wird. Der THC-Gehalt ist im Laufe der Jahre stetig gestiegen. Beispielsweise weisen Experten auf die Gefahr von schizophrenen Psychosen hin. So heißt schon es im Drogenund Suchtbericht der Bundesregierung vom Mai 2009, dass manche neue, synthetische Substanzen aus der Arzneimittelforschung stammen und daher eine vielfach stärkere Wirkung als das THC der Cannabispflanze haben. Dies bedeutet ein hohes gesundheitliches Risiko. Es sind Erkenntnisse wie diese, die mich ermutigen, weiterhin vor der Verharmlosung von Cannabis zu warnen - und eine weitergehende Entkriminalisierung würde genau diese Verharmlosung bewirken. Im Übrigen halte ich diesen Ansatz der Grünen für schizophren. Denn wo immer sie können, wollen sie den Konsum „normaler“ Tabakprodukte einschränken, verbieten oder sanktionieren. Aber wenn dem Tabak ein bisschen Harz oder Gras beigemischt ist, verfolgen sie eine ganz andere Linie. Das ist nur schwer nachvollziehbar.

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich freue mich darüber, dass nun auch die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen einen Antrag zur vollständigen Entkriminalisierung des Cannabiskonsums vorgelegt hat. Wir haben bereits mit unserem Antrag zur Einführung von Cannabisclubs - Drucksache 17/7196 - Ende des letzten Jahres einen konkreten Vorschlag für eine Legalisierung auf den Weg gebracht, der in einer öffentlichen Anhörung zum Antrag am 25. Januar 2012 mündete. Unser Ziel war es, einen Wettbewerb der Parteien zu initiieren, in welchem die besten Lösungen für eine moderne Drogenpolitik im Mittelpunkt stehen. Das haben wir erreicht. Der vorliegende Antrag geht in die richtige Richtung, auch wenn klar gesagt werden muss, dass unser Antrag zur Einführung von Cannabisclubs den weitergehenden Antrag darstellt. Leider beantwortet der Antrag der Grünen nämlich nicht die Frage nach dem Vertrieb von Cannabis. Nach dem vorliegenden Antrag sollen die Konsumierenden die Möglichkeit zum Eigenanbau erhalten. Ist das jedoch nicht möglich, müssen sie weiterhin auf den Schwarzmarkt zurückgreifen oder das Glück besitzen, jemanden zu kennen, der Eigenanbau betreibt und bereit ist, zu teilen. Außerdem muss betont werden, dass zur Ermöglichung des Eigenanbaus auch der Vertrieb von Samen erlaubt werden müsste. Das wird im Antrag - wenn überhaupt - nur implizit gefordert. Trotzdem ist der Antrag auf dem Weg zu einer modernen Drogenpolitik ein richtiger Schritt. Die Kriminalisierung der Cannabiskonsumierenden muss endlich ein Ende haben. Sie ist unverhältnismäßig der Bürgerin und dem Bürger gegenüber und steht dem Jugend- und Verbraucherschutz vollkommen entgegen. Sie grenzt Cannabiskonsumierende aus der Gesellschaft aus. Diese werden gezwungen, sich an den Schwarzmarkt zu binden; im schlimmsten Fall entstehen dadurch Kriminalitätskarrieren. Die Kriminalisierung bedeutet zudem eine konkrete Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Personen, die auf den Konsum von Cannabis aus medizinischen Gründen angewiesen sind. So berichtet Herr Dr. med. Grotenhermen, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin, in seiner Stellungnahme zur Anhörung des Gesundheitsausschusses am 9. Mai 2012 zur medizinischen Verwendung von Cannabis von einem erblindeten Multiple-Sklerose-Patienten, der vor etwa 15 Jahren festgestellt hat, dass Cannabis bei seiner Symptomatik hilfreich ist. Er wurde im Frühjahr dieses Jahres in einem Zug aus den Niederlanden mit 150 Gramm Cannabis aufgegriffen und muss sich nun strafrechtlich verantworten. Herr Grotenhermen berichtet ebenso von einem weiteren ihm bekannten Patienten aus Würzburg, der eine ähnliche Situation erlebte und daraufhin nach Spanien ausgewandert ist, da er die Bewährungsauflagen in Deutschland aus gesundheitlichen Gründen nicht einhalten konnte. Dass Cannabis unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, stellt einen erheblichen Eingriff in die Bürgerrechte dar. Gerade deshalb müssen die Folgen dieses Eingriffs im Gleichgewicht zum Zweck der Maßnahme stehen, um legitim zu sein. Das ist bei der aktuellen Drogenpolitik nicht der Fall. Der Antrag der Grünen fordert richtigerweise eine einheitliche Rechtslage in Deutschland zum Eigenverbrauch von Cannabis. Aber wie bereits erwähnt, kann dies nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer vollkommenen Legalisierung von Cannabis sein. Wie im Antrag erwähnt, greift dieser ähnliche Initiativen der SPD-Bundestagsfraktion aus der 12. und 13. Legislaturperiode auf. Ich hoffe daher, dass die SPD endlich über ihren Schatten springt und dazu beiträgt, die Kriminalisierung endlich zu beenden. Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass SPD und Grüne in ihrer Regierungszeit 1998 bis 2005 keinerlei Verbesserungen im Bereich der Entkriminalisierung der Konsumierenden eingeführt und sich nicht für die Legalisierung von Cannabis und Cannabisprodukten eingesetzt haben. Auch unter der Federführung eines grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg sind bis heute noch keinerlei Verbesserungen für Cannabiskonsumierende eingetreten. Zu Protokoll gegebene Reden Aber weiter zum Antrag: Die Forderung nach Einrichtung einer Kommission, die das Betäubungsmittelrecht im Hinblick auf unerwünschte Wirkungen formulieren soll, ist ein ebenso richtiger Schritt. Diese Kommission soll rechtliche, soziale und gesundheitliche Folgen evaluieren und Empfehlungen für Reformen in der Drogenpolitik abgeben. Hierbei sollten wir auf die Erfahrungen aus Portugal zurückgreifen: Dort ist man mit der Einrichtung einer solchen Kommission den ersten von vielen nötigen Schritten hin zu einer modernen Drogenpolitik gegangen. Die Anzahl der Konsumierenden oder Abhängigen von bis dato illegalisierten Drogen hat sich in Portugal nicht erhöht; dafür hat sich die Gesundheitslage der Abhängigen verbessert, die HIV-Infektionsrate ist zurückgegangen und die Kriminalisierung der Konsumierenden wurde beendet. Eine Evaluierung des gesamten Drogenstrafrechts ist daher auch in Deutschland dringend erforderlich.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kriminalisierung von Konsumentinnen und Konsumenten, Verhinderung der letzten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten für chronisch kranke Menschen: Cannabis und der Umgang damit ist das Symbol dafür, was grundsätzlich falsch läuft in der nationalen und internationalen Drogenpolitik. Obwohl mittlerweile wissenschaftlich belegt ist, dass es für die Tatsache und die Höhe des Konsums von Cannabis keine Rolle spielt, ob diese Substanz verboten ist, hält die Bundesregierung nach wie vor daran fest. Gleichfalls wissenschaftlich belegt ist, dass die gesundheitlichen Risiken des Cannabiskonsums unter denen von Alkohol oder Tabak liegen. Trotzdem hält die Bundesregierung an dem Verbot fest und verbreitet weiter die unhaltbare These, dass der Cannabiskonsum per se gefährlich sei. Und obwohl inzwischen klar ist, dass es vor allem die Kriminalisierung der Konsumentinnen und Konsumenten ist, die durch den Schwarzmarkt zu erheblichen gesundheitlichen Risiken führt, hält die Bundesregierung an dem Verbot fest und nimmt damit erhebliche Gesundheitsschäden der vielfach jungen Menschen in Kauf. Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Schon 2004 hat die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen angemerkt, dass die strafrechtliche Verfolgung der Konsumentinnen und Konsumenten kontraproduktiv ist. Die Europäische Drogenbeobachtungsstelle hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass es keinen Zusammenhang zwischen gesetzlichen Regelungen und dem Konsum gibt. 2009 hat eine Studie im Auftrag der Bundesregierung ergeben, dass etwa zwei Drittel des finanziellen Engagements des Staates in Bezug auf Drogen in repressive Maßnahmen fließen. 10 Prozent der gesamten öffentlichen Ausgaben für die öffentliche Sicherheit und Ordnung haben einen Bezug zu illegalen Drogen. Nur ein geringer Teil der Mittel fließt hingegen in Prävention, Therapie- und Hilfsangebote. Und schon vor fast 20 Jahren hat eine Studie im Auftrag des Bundeskriminalamts die These von Cannabis als Einstiegsdroge verworfen. Ich frage mich nun ernsthaft, warum wir uns eigentlich auf nationaler und europäischer Ebene all die Studien und Beratungsinstitutionen in der Drogenpolitik leisten, wenn deren Erkenntnisse insbesondere durch die Bundesregierung überhaupt nicht berücksichtigt werden. Oder um grundsätzlich zu fragen: Warum verzichten wir in der Drogenpolitik auf Evidenz? Warum werden Forschungsergebnisse ignoriert und weiter Mythen verbreitet? Warum macht die Bundesregierung drogenpolitische Strategien und evaluiert nicht einmal, ob und wie ihre repressiven Maßnahmen in der Drogenpolitik wirken? Warum behaupten Sie nach wie vor, Cannabis sei eine Einstiegsdroge oder habe eine Schrittmacherfunktion, obwohl seit 20 Jahren das Gegenteil belegt ist? Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Frau Dyckmans, behauptet, sie würde für eine moderne, am Menschen orientierte Drogenpolitik stehen. Am 26. März dieses Jahres hat sich nun diese Drogenbeauftragte zusammen mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamts vor die Presse gestellt und gefordert, den Kampf gegen die Betäubungsmittelkriminalität weiterhin mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln - präventiv wie repressiv - zu betreiben. Und so frage ich die Bundesregierung weiter: Warum spielt es keine Rolle für Sie, dass der von ihr propagierte „War on drugs“ viele Staaten an den Abgrund geführt und allein in Mexiko seit 2007 fast 50 000 Menschenleben gekostet hat? 1994 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem damaligen Urteil darauf hingewiesen, dass auch bei Cannabiskonsumenten das verfassungsrechtliche Übermaßverbot zu gelten hat. „Die Verhängung von Kriminalstrafe gegen Probierer und Gelegenheitskonsumenten kleiner Mengen von Cannabis kann in ihren Auswirkungen auf den einzelnen Täter zu unangemessenen und spezialpräventiv eher nachteiligen Ergebnissen führen, wie etwa einer unerwünschten Abdrängung in die Drogenszene“, urteilte das Bundesverfassungsgericht seinerzeit. Allerdings hat die herrschende Drogenpolitik hieraus kaum Schlüsse gezogen. Nach wie vor wird das Märchen erzählt, der Eigengebrauch von Cannabis sei entkriminalisiert. Die Bundesregierung behauptet in der gewohnten Spitzfindigkeit, ihr lägen keine Erkenntnisse vor über die Zahl konsumnaher Delikte. Dann gebe ich Ihnen eine Hilfestellung: Schauen Sie einfach in die sogenannten Lagebilder Rauschgiftkriminalität des Bundeskriminalamts und dort unter Allgemeine Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz. Da werden Sie entsprechende Zahlen finden: Gegen fast 100 000 Menschen werden Jahr für Jahr Strafverfahren eröffnet, weil sie Cannabis zum Eigenverbauch besitzen oder anbauen. Schauen Sie sich an, bei wie vielen Cannabiskonsumentinnen und -konsumenten Jahr für Jahr die Fahreignung überprüft wird oder wie viele gar ihre Fahrerlaubnis verlieren, obwohl sie gar nicht unter Einfluss dieser Droge gefahren sind. Diesen Menschen mag die Behauptung, der Eigengebrauch von Cannabis sei bei uns entkriminalisiert, wie Hohn in den Ohren klingen. Zu Protokoll gegebene Reden Wir erleben in Berlin gerade, wie ohne Not eine Absenkung der sogenannten geringen Menge für Cannabis erwogen wird. Dabei zeigen uns Studien, dass es keinerlei Rolle für den Cannabiskonsum spielt, ob die geringe Menge bei 15 Gramm oder 6 Gramm liegt. In Berlin wird eine rein ideologische Diskussion geführt, die niemandem nutzt, aber am Ende viel Schaden anrichtet. Da sind unsere Kolleginnen und Kollegen von der SPD hier im Bundestag offensichtlich deutlich weiter. Deren drogenpolitische Sprecherin, Frau Graf, befürwortete immerhin kürzlich eine Entkriminalisierung von „Süchtigen“ und sprach sich für eine bundeseinheitliche geringe Menge aus. Wir wollen vor diesem Hintergrund mit unserem Antrag nun einen neuen Anlauf nehmen, um eine Entkriminalisierung des Eigengebrauchs von Cannabis zu erreichen. Unser Vorschlag ist eine Regelung, durch welche die Strafbarkeit des Eigengebrauchs von Cannabis entfällt. Das ist zwar noch keine Legalisierung, wie wir sie uns vorstellen, aber es ist ein erster Schritt, um die Konsumentinnen und Konsumenten endlich wirksam vor Kriminalisierung zu schützen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9948 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 34: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgesetzes - Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe ({0}) - Drucksache 17/9695 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Die Reden wurden zu Protokoll genommen.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Strafgesetzbuchs, mit der offiziellen Bezeichnung „Beschränkung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe“ hat zum Gegenstand, den Anwendungsbereich der Kronzeugenregelung einzuschränken. Die erst 2009 eingeführte Änderung der Kronzeugenregelung hat sich als sehr weitgehend erwiesen. Daher ist eine Korrektur angebracht, zumal es unserem Rechtssystem ohnehin eher wesensfremd ist, über Strafen zu verhandeln. Unser Strafrecht beruht auf dem Schuldprinzip. Das Schuldprinzip bedeutet, dass eine gerechte, schuldangemessene und vor allem gleichmäßige, also in vergleichbaren Fällen ähnliche Strafe zu finden ist. Wir reden hier von schweren Straftaten und schwerkriminellen Tätern und Strukturen. Ein „strafrechtlicher Deal“, und einen solchen stellt die Kronzeugenregelung dar, kann damit nur in den Fällen gerechtfertigt sein, in denen der Staat, weil er ansonsten an die bedeutsamen Hintermänner schwerer Straftaten nicht herankommen kann, sie weder aufklären noch verhindern könnte, kapitulieren müsste. Dies betrifft damit nur Bereiche, in denen der Staat in „Aufklärungsnotständen“ ist. Die Kronzeugenregelung sollte also nicht inflationär, sondern nur restriktiv in geeigneten Fällen angewandt werden. Dies ist angezeigt bei organisierter Banden-, Milieu- und Wirtschaftskriminalität, bei terroristischen Vereinigungen und bei Serientaten, Korruption, sowie Betäubungsmittelkriminalität also Straftaten, bei Verbrechen Hand in Hand gehen die feste Strukturen aufweisen, bei denen das Schweigen Voraussetzung für den Verbrechenserfolg ist und wo der Verräter sich selbst erheblicher, gar einer Lebensgefahr aussetzen würde. Das ist also dort, wo wir derartig straffen Strukturen gegenüberstehen, dass nur die Offenbarung von Insiderwissen eine Strafverfolgung oder Verhinderung ermöglicht. Das sind Taten, bei denen der übliche Instrumentenkasten der normalen Ermittlungen nicht mehr ausreicht. Will der Staat nicht vor diesen Verbrechen kapitulieren, muss er andere Methoden anwenden, wie das Einschleusen von verdeckten Ermittlern oder die Belohnung für das Offenbaren von Insiderwissen. Das Insiderwissen gibt es aber nicht umsonst. Der Preis, den wir dafür bezahlen müssen, ist, dem Straftäter, der zur Offenbarung seines Wissens bereit ist, mit einer Strafmilderung entgegenzukommen. Die Kronzeugenregelung ist also eine Strafrahmenverschiebung, die auf einem Deal beruht. Die durch die Aussage des Kronzeugen mögliche Verurteilung oder Prävention von Straftaten fordert jedoch rechtspolitisch einen durchaus hohen Preis: Durch die verhandelte Strafmilderung wird das Prinzip einer gleichmäßigen, berechenbaren und der Schuld angemessenen Bestrafung verwischt. So kann sich ein Täter mit besonders großer Schuld möglicherweise einen Vorteil bei der Strafzumessung erhandeln, den sogenannte kleine Straftäter nicht erlangen können. Wir wenden das Strafrecht also ungleich an. Es besteht auch immer die Gefahr, dass sich Täter durch falsche Beschuldigungen versuchen, einen Vorteil zu erkaufen. Anders als ein unbelasteter Zeuge ist es ein Straftäter, dem es freisteht, sich zu äußern und ob und wie sehr er sich selbst belasten will. Der Kronzeuge ist eben nicht der unbelastete und objektive Zeuge im Strafprozess. Er kann seinen Tatbeitrag verharmlosen und den anderer Täter preisgeben, um für sich und unter Umständen mit einem „faulen Deal“ einen erheblichen Vorteil bei der Strafzumessung zu erzielen. Er kann seinen Tatbeitrag ungestraft verharmlosen, obwohl er Schlimmeres begangen hat, um so Strafklageverbrauch in eigener Sache zu erreichen. Letztlich bleibt daher immer auch ein Zweifel an dem Wert und der Qualität der Aussage vom Kronzeugen. Diese schwere Einschätzung fällt allerdings erheblich leichter, wenn das Offenbarte im Zusammenhang mit der eigenen Tat steht. Gleichzeitig lässt der Kronzeuge damit erkennen, wie sehr er sich von der Tat und der Gruppe distanziert. Dies macht auch seine Aussage wertvoller und damit gewichtiger für seine Schuldfrage. Nur aus diesem Gesichtspunkt kann es gerechtfertigt sein, das Maß des Schuldvorwurfs und damit das Maß der Strafe zu reduzieren. Soweit er andere Straftaten, die nicht im inhaltlichen Zusammenhang mit seiner eigenen Straftat stehen, aufklären oder verhindern hilft, findet dies ausreichend Berücksichtigung durch eine Milderung der Strafe durch die Anwendung der allgemeinen Strafzumessungsregelung des § 46 StGB. Es geht bei der Beurteilung einer Kronzeugenregelung also im Ergebnis immer darum, die Möglichkeit der Aufklärung einer Straftat dort, wo der Staat im Ermittlungsnotstand ist, auf der einen Seite gegenüber dem Preis einer erkauften Strafmilderung auf der anderen Seite abzuwägen. Ich meine, dass der aktuelle Gesetzentwurf einen ausgewogenen Kompromiss anbietet. Die Offenbarung von Insiderwissen zur Aufklärung oder der Verhinderung von Straftaten sollte in einem Zusammenhang zu der eigenen Straftat stehen. Nur in diesem Kontext ist der rechtstreuen Bevölkerung die Vergünstigung bei der Milderung des Schuldvorwurfs und der Strafe durch die Kronzeugenregelung zu vermitteln: nämlich eine Strafmilderung für die eigene Tat, wo die Offenbarung von Insiderwissen im Zusammenhang mit der eigenen Tat steht und zu eine Aufklärung oder Verhinderung von gravierenden Taten anderer erst ermöglicht wird. Nur so lässt sich der strafrechtliche Handel, der der Kronzeugenregelung zugrunde liegt, vor der rechtstreuen Bevölkerung glaubhaft und nachvollziehbar rechtfertigen.

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im Jahre 2009 haben die Koalitionsfraktionen nach langem Ringen und vielen Diskussionen die Neuauflage der sogenannten Kronzeugenregelung verabschiedet. Diese Regelung dient der effizienteren Aufklärung und Verhinderung von Straftaten, insbesondere in den Bereichen organisierte Kriminalität und terroristische Vereinigungen. Unter der Voraussetzung, dass die Aussage des Kronzeugen tatsächlich zu einem Aufdeckungserfolg führt oder die Begehung bestimmter Straftaten verhindert, soll dessen Strafe gemildert werden können. Der nun von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf will den Anwendungsbereich der Kronzeugenregelung einschränken. Kann bisher dem Täter die Vergünstigung für eine Kooperation unabhängig davon gewährt werden, ob zwischen seiner Tat und der Tat, zu der er Aufklärungs- oder Präventionshilfe leistet, ein Zusammenhang besteht, soll diese Verknüpfung zukünftig erforderlich sein. Die Taten müssen nach dem Willen der Bundesregierung zwar nicht aus dem gleichen Deliktsbereich stammen, es muss jedoch ein innerer oder inhaltlicher Bezug zwischen den Taten bestehen. Dies soll, so die Begründung, der Fall sein, wenn die eigene und die offenbarte Tat Teil eines kriminellen Gesamtgeschehens sind. In der Großen Koalition haben wir uns vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staats zur Verbrechensaufklärung und mit Blick auf die abgeschotteten Täterstrukturen der organisierten Kriminalität bewusst für eine weit gefasste Regelung entschieden. Was hat sich geändert? Die Bundesregierung argumentiert, der weite Anwendungsbereich ermögliche Strafmilderungen, die aus Sicht des Tatopfers nicht mehr schuldangemessen seien und die das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtsordnung beeinträchtigen könnten. Zudem werde man dem Zweck der Norm, geschlossene Täterkreise aufzubrechen, mit der Eingrenzung besser gerecht, da es speziell der Hinweise von Personen aus dem Täterkreis bedarf. Diese Argumente sind nicht neu. In der letzten Legislaturperiode haben wir dem entgegengehalten, dass § 46 b StGB keine zwingende Strafmilderung vorsehe und das Gericht in der Abwägung den Wert der Aufklärungs- oder Präventionshilfe zur Schwere der Straftat und Schuld des Kronzeugen ins Verhältnis zu setzen habe. Mittlerweile sind jedoch zweieinhalb Jahre vergangen, sodass wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Anlass nehmen sollten, die damals von der Opposition und heute von der Bundesregierung vorgetragenen Argumente auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Daher werden wir eine Anhörung fordern, in der wir insbesondere den Umgang der Rechtsprechung mit der Kronzeugenregelung beleuchten wollen. Zudem sollte in der Anhörung geklärt werden, ob und inwieweit Aussagen von Kronzeugen, deren Tat nicht im Zusammenhang mit der offenbarten Tat stehen, wesentlich zur Aufdeckung oder Verhinderung beigetragen haben oder beitragen können.

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir reden heute über die Veränderung der sogenannten Kronzeugenregelung, also die Veränderung des § 46 b StGB. Die Kronzeugenregelung ist nicht neu, sie hat im Gegenteil eine sehr wechselvolle Geschichte. Noch unter Helmut Kohl wurde sie 1989 eingeführt und zunächst auf zwei Jahre beschränkt. Danach wurde sie gegen den Willen der damaligen Bundesjustizministerin LeutheusserSchnarrenberger verlängert, und erst unter Rot-Grün lief die Kronzeugenregelung aus. Es war die Koalition aus SPD und CDU, die die Kronzeugenregelung 2009 wieder einführte. Ich gehe davon aus, dass die heutige Bundesjustizministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Hinblick auf die Kronzeugenregelung immer noch die gleiche Position vertritt wie die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in den Neunzigerjahren. Deshalb ist es für mich nicht nachvollziehbar, warum aus dem Haus der Bundesjustizministerin nicht ein GeZu Protokoll gegebene Reden setzentwurf kommt, der die Kronzeugenregelung wieder abschafft, sondern lediglich ein Gesetzentwurf, der die Kronzeugenregelung einschränkt. Dabei liegen noch nicht einmal empirische Erkenntnisse vor, ob diese Regelung zur Aufklärung von Straftaten überhaupt benötigt wird. Hinzu kommt, dass Kronzeugen häufig dazu neigen, falsche Angaben zu machen, um einer Verurteilung zu einer langjährigen Haftstrafe zu entgehen. Sie sind aufgrund dessen häufig unglaubwürdig und ihre Aussagen sind daher untaugliche Beweismittel. Zudem können Richter und Richterinnen bereits jetzt im Rahmen des § 46 StGB etwaige Aufklärungshilfe berücksichtigen. Worum geht es bei der Kronzeugenregelung? Ein Täter bzw. eine Täterin wird mit einer geringeren Strafe oder gar mit Absehen von Strafe für eine begangene Straftat belohnt, wenn er bzw. sie Aufklärungs- oder Präventionshilfe im Hinblick auf zukünftige Straftaten vorwiegend abgeschotteter Strukturen leistet. Bislang musste zwischen der eigenen Tat und der zukünftigen Tat, zu der Informationen gegeben werden, kein Zusammenhang bestehen. Das soll durch den Gesetzentwurf geändert werden. Will man sich überhaupt auf das System Kronzeugenregelung einlassen, ist dies sicherlich richtig. Aber angesichts der Diskussionen in der Vergangenheit um die Kronzeugenregelung und angesichts der Tatsache, dass die Kronzeugenregelung nichts anderes ist als ein Deal des Staates mit Straftätern zur Aushöhlung der im Strafgesetzbuch festgehaltenen Schuldstrafe, ist das nicht überzeugend. Eine geringere Strafe als die der Schuld des Täters bzw. der Täterin aufgrund ihrer bzw. seiner Taten entsprechende, unter Umständen sogar das Absehen von Strafe ist unserem streng rechtsstaatlichen Verfahren vom Grunde her fremd. Ein solcher Deal mit der Strafe hat auch nichts mit dem Prinzip der schuldangemessenen Strafe zu tun. Rechtssystematisch ist eine solche Weitergabe eben auch kein Schuldmilderungsgrund, denn die Tat ist abgeschlossen, die Tatschuld ist vollendet. Es ist schon ein wenig absurd, wenn die Sicherheitsfanatiker, insbesondere bei der Union, nach immer härteren Strafen für jede kleine Straftat rufen, aber in Kauf nehmen, dass unter Umständen bei schwersten Straftaten die Täter straffrei ausgehen, wenn sie entsprechende Informationen über Strukturen und geplante Straftaten weitergeben. Die Verhinderung und Aufklärung von zukünftigen Straftaten, zum Beispiel durch Informationsweitergabe über abgeschottete Strukturen, ist nichts, was es extra zu belohnen gilt, sondern sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Schließlich will ich noch auf einen Aspekt hinweisen: Mit der Kronzeugenregelung findet ein Deal mit der Gerechtigkeit zugunsten der „großen Fische“ und zulasten der „kleinen Fische“ statt. Täter und Täterinnen, die tief ins kriminelle Milieu verstrickt sind, können aufgrund ihrer Kenntnisse besser aufklären helfen als Täter und Täterinnen, die vielleicht erstmalig straffällig geworden sind. Kurz und gut: Der Gesetzentwurf hält an der Kronzeugenregelung fest, und genau das können wir nicht akzeptieren. Hier hätte von einer liberalen Ministerin ein größerer Wurf erfolgen können und auch müssen: ein Gesetzentwurf, der mit der Kronzeugenregelung aufräumt und diese abschafft.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

1989 hat die damalige schwarz-gelbe Koalition eine Kronzeugenregelung befristet eingeführt. Sie lief 1999 aus, weil wir Grüne und die SPD sie wieder abgeschafft haben, wir haben sie auslaufen lassen. 2009 hat die Koalition von SPD und CDU/CSU sie wieder eingeführt, und das in einem so erschreckend weiten Ausmaß, dass die jetzige schwarz-gelbe Koalition sie wieder einschränken will. In den 10 Jahren von 1989 bis 1999 ist die Kronzeugenregelung im Bereich des Terrorismus weniger als 25-mal und in ungefähr genauso vielen Fälle im Bereich der organisierten Kriminalität eingesetzt worden. In den folgenden 10 Jahren ohne Kronzeugenregelung ist die Kriminalität in Deutschland kontinuierlich zurückgegangen, die Ausklärungsquoten sind gleich hoch geblieben oder sie sind gestiegen, und besonders im Bereich des Terrorismus hatten die Ermittlungsbehörden alle Möglichkeiten, Terroranschläge zu verhindern, und die Justiz alle Beweismöglichkeiten zur Aburteilung terroristischer Straftäter. Und das alles ohne eine Kronzeugenregelung! Damit ist eines völlig klar: Die Justiz braucht die Kronzeugenregelung nicht. Sie setzt sie so gut wie nie ein, und sie gewährleistet hohe Sicherheit vor Straftaten ohne sie. Umso größer ist der Schaden für den Rechtsstaat. Die Kronzeugenregelung ist ein Geschäft mit Straftätern: Um vermeintlicher oder tatsächlicher Aufklärungserfolge willen machen Polizei und Staatsanwaltschaft Straftätern - natürlich informell - Zusagen, sie vor schuldangemessener Strafe zu schützen, wenn sie „auspacken“. Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit bleiben dabei auf der Strecke. Wir Grünen lehnen die Kronzeugenregelung nach wie vor ab: Die Kronzeugenregelung ermöglicht einen schmutzigen Handel mit Straftätern. Dies ist eines Rechtsstaats nicht würdig. Einsicht, Reue und Mitleid braucht ein Kronzeuge nicht zu zeigen. Bei dem Handel um die Höhe seines Strafrabatts dienen ihm als Kapital seine Verstrickung und sein Insiderwissen. Je mehr er hiervon einbringt, um so günstiger kommt er weg. Die Kronzeugenregelung verletzt den Grundsatz schuldangemessenen Strafens und den Gleichheitsgrundsatz. Denn der angemessene Strafrahmen darf unterschritten werden. Es ist nicht erträglich, dass bei einem Mord, der nach jahrelangem Martyrium an dem Peiniger begangen wird, eine Milderung der lebenslangen Freiheitsstrafe nach dem Gesetzeswortlaut nicht möglich sein soll, bei einem Mörder, der sich aus rein egoistischen Gründen als Kronzeuge zur Verfügung Zu Protokoll gegebene Reden stellt, dagegen schon. Besonders infrage gestellt wird der Schuldgrundsatz, wenn sogar ganz von Strafe abgesehen werden kann, obwohl an sich drei Jahre Freiheitsstrafe angemessen wären. Die Kronzeugenregelung schafft Anreize für falsche Anschuldigungen: Je umfangreicher die Belastungen anderer, umso größer kann der „Strafrabatt“ für den Kronzeugen ausfallen. Für eine Kronzeugenregelung gibt es kein praktisches Bedürfnis. Schon nach der Strafzumessungsregel des § 46 StGB kann das Gericht - außer bei Mördern Strafrabatt gewähren, wenn der Angeklagte hilft, andere Delikte aufzuklären. Ein angebliches „Bedürfnis der Praxis“ nach einer Kronzeugenregelung ist nicht ersichtlich: Vom Deutschen Anwaltverein bis zum Deutschen Richterbund lehnen große Teile der Praxis eine Kronzeugenregelung mit großer Einigkeit ab. Nicht zuletzt ist die Präklusionsregelung zu kritisieren, wonach eine Kronzeugenaussage noch vor Eröffnung der Hauptverhandlung gemacht werden muss. Damit wird die Hauptverhandlung zur Farce. Denn das Gericht kann so nur noch prüfen, was im Vorverfahren geschehen ist, wäre jedoch gehindert, vor Gericht gemachte Aussagen in gleicher Weise zu berücksichtigen wie vor dem Staatsanwalt gemachte „Kronzeugenaussagen“. Nunmehr hat sich die FDP mit einer Minireparatur an der Kronzeugenregelung durchgesetzt, die die SPD und CDU/CSU beschlossen haben. So konnte sich in den letzten Jahren - genauer seit dem 29. Juli 2009 - ein Straftäter einen Strafrabatt schon allein dadurch erkaufen, dass er Dritte einer Straftat bezichtigte, mit der er selbst nichts zu tun hatte. Diese Regelung war doppelt unerträglich. Zum einen ermuntert sie zu Falschbelastungen und honoriert mit Strafrabatt ohne Reue und Schuldeinsicht, zum anderen bevorzugt sie diejenigen, die mehr im kriminellen Umfeld verstrickt sind und an der Spitze krimineller Strukturen stehen. Wer mehr weiß, kann mit mehr auspacken. Der Vorschlag der Bundesregierung geht dahin, dass die Tat, die vom Kronzeugen offenbart wird, im Zusammenhang mit seiner eigenen Tat stehen muss. Entsprechende Änderungen werden auch für das Betäubungsmittelrecht vorgelegt. Das engt den Anwendungsbereich der Kronzeugenregelung ein wenig ein und soll der Uferlosigkeit von Drittbelastungen vorbeugen. Deshalb ist, bei aller fortbestehenden Kritik an der Kronzeugenregelung, der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf ein kleines Stück in die richtige Richtung. Wir werden uns ihm nicht verweigern, aber wir werden uns weiterhin für eine Wiederabschaffung der Kronzeugenregelung einsetzen.

Dr. Max Stadler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002805

Sie alle wissen, dass eine allgemeine Kronzeugenregelung, so wie sie heute in § 46 b StGB verankert ist, seit vielen Jahren rechtspolitisch umstritten ist. Der Deutsche Anwaltverein, die Bundesrechtsanwaltskammer sowie der Deutsche Richterbund, aber auch der Bundesrat kritisierten bei ihrer Einführung im Jahr 2009 vor allem einen Punkt. Kritisiert wurde, dass § 46 b StGB auch dann eine Strafmilderung ermögliche, wenn die offenbarte Tat überhaupt nichts mit der eigenen Tat des Kronzeugen zu tun hat und daher seine unmittelbare Tatschuld gar nicht beeinflussen könne. Dadurch könne es zu Strafmilderungen kommen, die nicht nur für das Tatopfer als nicht mehr angemessen angesehen werden, sondern die auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts beeinträchtigen könnten. Mit diesem Gesetzentwurf will die Bundesregierung diese Kritik aufgreifen. In Zukunft soll die Kronzeugenregelung daher nur noch gelten, wenn ein Zusammenhang zwischen begangener und aufgeklärter bzw. verhinderter Tat besteht. So haben wir das im Koalitionsvertrag vereinbart, und das setzen wir mit dem Gesetzentwurf jetzt eins zu eins um. Wir erreichen damit, dass eine etwaige Strafmilderung stärker vom Verhältnis der geleisteten Aufklärungs- oder Präventionshilfe zur eigenen Tatschuld des Täters abhängt und die Regelung somit noch deutlicher den allgemeinen Strafzumessungsgrundsatz der schuldangemessenen Strafe betont. Mit der von uns angestrebten Neuregelung erreichen wir zudem einen Gleichklang zu der „kleinen Kronzeugenregelung“ des § 31 BtMG, bei dem das Erfordernis des Zusammenhangs nach der Rechtsprechung ohnehin schon seit vielen Jahren gilt. Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass der Bundesrat gegenüber dem Gesetzentwurf keinerlei Einwendungen erhoben hat, also dem Entwurf unverändert zugestimmt hat. Ich möchte dennoch kurz auf gelegentlich vorgetragene Bedenken gegen unseren Vorschlag eingehen.Vereinzelt wird befürchtet, durch die vorgeschlagene Änderung könne die Regelung für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Terrorismus ihre Wirkung einbüßen, da in diesen Bereichen häufig ein hohes Maß an Abschottung anzutreffen sei. Diese Bedenken halte ich für unbegründet. In der Tat werden gerade bei organisierten bzw. terroristischen Täterkreisen oftmals stark abgeschottete Strukturen vorherrschen. Die für das Aufbrechen dieser Strukturen notwendigen „internen“ Kronzeugen, also Personen, die deshalb über detailliertes Wissen verfügen, weil sie Teil dieser Strukturen sind, werden durch die Neuregelung aber keineswegs ausgeschlossen. Vielmehr werden zukünftig gerade sie von der Neufassung erfasst. Denn gerade weil sie Teil der jeweiligen kriminellen Struktur sind, werden ihre eigenen Taten in der Regel den notwendigen Zusammenhang zu den anderen Taten dieser Struktur aufweisen. Insgesamt kann daher der Gesetzentwurf der Hauptkritik, die aus rechtsstaatlicher Sicht an der Regelung von 2009 erhoben wurde, Rechnung tragen, ohne die mit ihr angestrebten Erleichterungen bei der Tataufdeckung und -verhinderung wesentlich zu beinträchtigen. Ich Zu Protokoll gegebene Reden hoffe deshalb, dass er auch in diesem Haus eine breite Unterstützung finden wird.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9695 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere Vorschläge gibt es nicht. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/9851 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss Die Reden haben wir zu Protokoll genommen.

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften. Die christlich-liberale Bundesregierung hat diesen Gesetzentwurf eingebracht, weil die Veränderungen im Wohngeldverfahren einige Rechtskonkretisierungen notwendig gemacht haben. Im Zuge der Föderalismusreform I im Jahre 2006 hat die damalige Große Koalition aus CDU/CSU und SPD das Wohngeldverfahren erheblich verändert. Das Wohnraumförderungs- und Wohnungsbindungsrecht ist von der Kompetenz des Bundes in die Kompetenz der Länder übertragen worden. Gemäß Wohngeldgesetz soll zudem ein automatisierter Datenabgleich im Wohngeldverfahren stattfinden. Durch dieses transparente Verfahren wird der rechtswidrigen Inanspruchnahme von Wohngeld vorgebeugt. Dies ist im Sinne der Haushaltskonsolidierungen und im Sinne der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die ein Interesse daran haben, dass Sozialleistungen sachgerecht eingesetzt werden. Die Kosten, die bei der Datenstelle der Träger der Rentenversicherung für die Durchführung und Vermittlung des automatisierten Datenabgleichs entstehen, sollen die Länder tragen. Der vorliegende Gesetzentwurf präzisiert dieses Verfahren des automatisierten Datenabgleichs, damit dieses Verfahren auch effizient eingesetzt werden kann. So schaffen wir mit dem Gesetz eine Rechtsgrundlage für die Kostenerstattung der Länder an die Datenstelle für den Datenabgleich. Wie hoch sind diese Kosten? Den Ländern entstehen Kosten in Form der jährlichen Erstattung der Verwaltungskosten, die bei der Datenstelle anfallen. Das macht im ersten Kalenderjahr nach Einführung 2 700 Euro zuzüglich 950 Euro je Kalendervierteljahr. In den nachfolgenden Jahren beläuft sich die Summe auf bis zu 3 800 Euro. Angenommen, die Länder würden den automatisierten Datenabgleich ohne die Hilfe der Datenstelle vollziehen, so wären die Kosten um ein Vielfaches höher. Kosten und Nutzen stehen in einem sehr gewinnbringenden Verhältnis. Darüber hinaus erwartet die christlich-liberale Koalition von diesem neuen Verfahren erhebliche Einsparungen an Wohngeldausgaben. Der automatisierte Datenabgleich deckt Fälle rechtswidrigen Wohngeldbezugs auf, die daraufhin zurückgezahlt werden müssen. Dass hier erhebliche Einsparungspotenziale liegen, beweisen diejenigen Länder, die den automatisierten Datenabgleich bereits eingeführt haben. Denn durch die Föderalismusreform I wurde den Bundesländern die Kompetenz eingeräumt, eigene landesrechtliche Wohnraumförderungs- und Wohnungsbindungsgesetze einzuführen. Nur in denjenigen Ländern, die darauf bislang verzichtet haben, gilt weiterhin das Bundesrecht. Für diese Fälle schaffen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Rechtsgrundlage für den automatisierten Datenabgleich. Bislang haben vier Bundesländer bereits eigene Landesgesetze eingeführt: Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Diese Länder haben mit dem automatisierten Datenabgleich sehr gute Erfahrungen gemacht. Mit seiner Hilfe konnten insbesondere bei der Antragstellung zum Wohngeld verschwiegene Kapitalerträge aufgedeckt werden. Auf diese Weise wurde ein überhöhter Leistungsbezug verhindert. So wurde in Nordrhein-Westfalen allein beim ersten Datenabgleich ein Rückforderungspotenzial von 9 Millionen Euro ermittelt. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass diese Summen tendenziell abnehmen, wenn sich herausstellt, dass zukünftig strikter kontrolliert wird. In NRW wurde beim vierten Datenabgleich immerhin noch 1 Million Euro Rückforderungspotenzial ermittelt. Die Ausweitung dieses effizienten Verfahrens auf die gesamte Bundesebene ist insofern sehr lohnenswert. Es ist eindeutig: Gemessen an diesen Kostenersparnissen fallen die einmalig entstehenden Kosten zur Einführung des technischen Verfahrens nicht ins Gewicht. Dieses neue Verfahren macht den Wohngeldbezug hingegen wesentlich gerechter und bedürfnisbezogener. Die Bundesregierung schafft mit diesem Gesetzentwurf somit ein effizientes System zur Aufdeckung nicht gerechtfertigter Wohngeldbezüge. Darüber hinaus stellt der Gesetzentwurf klar, dass Kreditinstitute für Auskünfte über Kapitalerträge nach Wohngeldgesetz eine Entschädigung durch die Länder erhalten. Dies ist in anderen Sozialleistungsbereichen ohnehin gängige Praxis. Pro Auskunftsersuchen werden hierdurch Kosten in Höhe von 50 Euro entstehen. Diese Kosten werden durch die zu erwartenden Einsparungen jedoch ebenfalls deutlich überkompensiert werden. Der Gesetzentwurf nimmt weitere Konkretisierungen vor. Die Wohngeldstatistik wird zukünftig bei der Erhebung der Merkmale Erwerbsstatus und Geschlecht auf alle zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder ausgeweitet. Die Erhebung von Kindern und Jugendlichen wird vereinfacht. Hierdurch entsteht ein vollständigeres statistisches Bild des Wohngeldbezugs in Deutschland. Durch die statistische Erhebung dieser zusätzlichen Merkmale entstehen keine nennenswerten Mehrkosten. Es ist lediglich eine einmalige Anpassung des Datensatzes notwendig - sprich, einmalige Umstellungskosten des Statistischen Bundesamts von rund 20 000 Euro. Für die Länder entstehen Umstellungskosten von jeweils 5 000 Euro und laufende Mehrkosten von rund 7 000 Euro jährlich, wohlgemerkt: für alle Länder zusammen. Diese 7 000 Euro, die die Länder jährlich insgesamt mehr aufbringen müssen, sind absolut vertretbar in Hinblick auf die Einsparungen im Millionenbereich, die dieses Gesetz bewirken wird. Ein weiteres - sehr spezifisches - Problem, das wir mit diesem Gesetz lösen wollen, liegt bei der abweichenden Bundeskompetenz des Bergarbeiterwohnungsbaus. Denn auch in Bundesländern mit eigenen Wohnraumförderungs- und Wohnungsbindungsgesetzen gelten für die Belegung von Wohnungen, die von der Zweckbindung für Wohnungsberechtigte im Kohlenbergbau freigestellt sind, die Vorgaben des Bundesrechts. Diese unübersichtliche Lage in den Ländern mit eigenen Landeswohnraumförderungs- und Landeswohnungsbindungsgesetzen wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf aufgelöst. Auch für die von der Zweckbindung freigestellten Bergarbeiterwohnungen gelten zukünftig - sofern vorhanden - die Landesgesetze. Durch den neuen Gesetzentwurf wird eine weitestgehend lückenlose Aufdeckung von Missbrauchsfällen beim Wohngeldbezug gewährleistet. Das Gesetz nimmt umsichtige und notwendige Anpassungen vor. Auch der Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen e. V. unterstützt unsere Pläne deshalb ausdrücklich. Das Gesetz dient aber nicht nur der Aufdeckung rechtswidriger Inanspruchnahme des Wohngelds, sondern auch der umfassenden Prävention. Denn der Datenabgleich findet bereits während der Wohngeldbeantragung statt. Würden die Länder den neuen automatisierten Datenabgleich nicht durchführen, so würden Bund und Ländern Millionenbeträge verloren gehen, Millionenbeträge wohlgemerkt, die sonst rechtswidrig als Wohngeld ausgezahlt wurden. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass wir die anstehenden Ausschussberatungen zu diesem Gesetzentwurf zügig abschließen können, um diese notwendigen Verbesserungen im Wohngeldverfahren schnell einzuführen.

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute findet die erste Lesung des Dritten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften statt. Wir werden uns also in den Ausschüssen in den kommenden Wochen mit den Details dieses Gesetzentwurfs befassen. Der Bundesrat hat dazu bereits eine Stellungnahme abgegeben und war eigentlich recht zufrieden. Lediglich ein paar kleinere Änderungen werden gewünscht. Es macht den Eindruck, als sei es ein gelungener Entwurf, über den wir hoffentlich nicht viel streiten werden. Nachdem wir im Zuge der Föderalismusreform I im Jahr 2006, an der ich mitarbeiten durfte, die Zuständigkeit für das Wohnraumförderungs- und Wohnraumbindungsrecht auf die Länder übertragen haben, wurde über die Jahre offensichtlich, dass einige Nachbesserungen erforderlich sind. Nun hat die Bundesregierung vor, die Regelungen zum wohngeldrechtlichen Datenabgleich zu präzisieren und zu verbessern. Auch soll eine Ermächtigungsgrundlage für die Kostenerstattung der Länder an die Datenstelle im Rahmen des automatisierten Datenabgleichs geschaffen sowie die Vorschrift zur Berücksichtigung vom weitergeleiteten Pflegegeld präzisiert werden. Ferner wird mit dem Gesetz klargestellt, dass Kreditinstitute für Auskünfte über Kapitalerträge eine Entschädigung erhalten. Aber auch die Erfassung statistischer Werte soll erweitert werden, indem bei der Erhebung der Wohngeldstatistik die Merkmale Erwerbsstatus und Geschlecht auf alle zu berücksichtigenden Haushaltsmitglieder ausgeweitet und die im Haushalt lebenden Kinder und junge Erwachsene mit aufgenommen werden sollen. Ein besonderer Punkt, der zudem geregelt werden soll, ist die Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes. Es sollen zukünftig für die von der Zweckbindung freigestellten Bergarbeiterwohnungen und alle öffentlich geförderten Sozialwohnungen jeweils landeseinheitliche Vorschriften für die Ermittlung des Einkommens und der Einkommensgrenzen gelten. Doch nun zu den Plänen im Einzelnen: Der automatisierte Datenabgleich im Wohngeldverfahren nach § 33 Abs. 5 Wohngeldgesetz, WoGG, ist unerlässlich, um eine rechtswidrige Inanspruchnahme zu verhindern. Es kommt zu Rückzahlungen und Einsparungen von Geldern, auf die es keinen Anspruch gab. Dies führt dazu, dass Bund und Länder Haushaltsmittel einsparen, die an anderen Stellen viel besser eingesetzt werden könnten. Die Erfahrungen in den Bundesländern, die bereits den automatischen Datenabgleich eingeführt haben, wie zum Beispiel NRW oder Baden-Württemberg, waren sehr positiv. Schon bei der Antragstellung konnten viele Anträge abgewiesen werden, weil die Antragsteller sich nach einer Prüfung als nicht berechtigt herausstellten. Gut, NRW muss ja auch zuzusehen, dass es an Geld kommt, denn man hat ja bekanntlich extreme haushalterische Defizite und plant, sich noch weiter zu verschulden. Da kann man jeden Euro gebrauchen. Aber zurück zum Thema: Im Rahmen des Datenabgleichs nehmen also die Länder die Hilfe der Datenstelle in Anspruch; denn würden sie den Datenabgleich selber vornehmen, würden die Kosten noch viel höher ausfallen. Die einmalig aufzubringenden Kosten zur Einrichtung der Technik sind daher auch im Vergleich zu den zu erwartenden Summen, die zurückfließen, als eher untergeordnet zu betrachten. Die entstandenen Einsparungen stehen entsprechend den Finanzierungsanteilen jeweils hälftig dem Bund und dem jeweiligen Land zu. Um mögliche, nicht angegebene Kapitalrücklagen zu erfahren, werden Auskünfte bei Banken eingeholt. Diese sollen künftig für ihre Informationen bzw. ihren Aufwand entschädigt werden. Es wird mit einer Summe von etwa 50 Euro pro Anfrage gerechnet. Zu Protokoll gegebene Reden Bei diesem Punkt gibt es allerdings wahrscheinlich noch Diskussionsbedarf, denn es ist nicht vorhersagbar, wie oft diese Auskünfte künftig eingeholt werden müssen. So schlägt der Bundesrat in seiner Stellungnahme vor, dass diese Kosten durch die betroffenen Bürger übernommen werden sollten, da die betreffende Person durch das Verschweigen von Angaben letztendlich für diese Prüfung selbst verantwortlich ist. Darüber werden wir also nochmal sprechen müssen. Die Ausweitung der Erhebung statistischer Daten ist ebenfalls sinnvoll und nur mit geringen Kosten und geringem Aufwand verbunden. Es muss dazu eine Umstellung der Technik vorgenommen werden. Das sind für das Statistische Bundesamt einmalig 20 000 Euro, die dieses übernimmt, und für die Statistischen Landesämter jeweils einmalig 5 000 Euro. Die jährlichen Mehrkosten für die Länder belaufen sich voraussichtlich auf insgesamt 7 000 Euro; also alles Summen, die gut zu verkraften sind. Diese liefern wertvolle Daten für die Statistiken. Das bedeutet konkret, dass an die bisher schon bestehende Informationspflicht beim Wohngeldantrag noch die Information über im Haushalt lebende Kinder und junge Erwachsene hinzugefügt wird. Damit kann die Informationspflicht über einen möglichen Kindergeldbezug für den Antragsteller entfallen. Außerdem gibt es bekanntlich immer mehr Mehrverdienerhaushalte, sodass es wichtig wird, in diesem Rahmen einzelne Erwerbsquellen statistisch zu erfassen. Jetzt komme ich nochmal kurz auf die Föderalismusreform I zu sprechen. Damals verblieb die Kompetenz für das Recht des Bergarbeiterwohnungsbaus beim Bund. Es wurde durch das Inkrafttreten länderspezifischer Wohnraumförderungsgesetze, das Wohnraumförderungsgesetz und das Wohnraumbindungsgesetz des Bundes ersetzt - auch bei mir in Bayern. Aber die Bergbauwohnungen wurden weiterhin ausschließlich aus dem bundeseigenen Bundestreuhandvermögen für den Bergarbeiterwohnungsbau im Kohlenbergbau gefördert. Da es sowohl unpraktisch, ineffizient und schon gar nicht bürgernah und transparent ist, gleich zwei Regelungen zu haben, soll § 22 Abs. 3 WoBindG dahingehend ergänzt werden, dass landesrechtliche Regelungen in der jeweiligen Fassung nun auch für von der Zweckbindung freigestellte Bergarbeiterwohnungen gelten können. Ich stimme mit der Schlussfolgerung der Bundesregierung überein, dass es eindeutig besser und im Sinne aller Beteiligten ist, wenn für die Erteilung eines Wohnberechtigungsscheins in solchen Fällen der Freistellung von der Zweckbindung öffentlich geförderter Wohnungen landeseinheitliches Recht gilt.

Michael Groß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004045, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wohnen ist für alle Menschen ein zentrales Grundbedürfnis, ist persönlicher Rückzugsraum. Wohnraum macht nicht nur seine Quantität, sondern gerade die individuelle Qualität lebenswert. Haushalte mit Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen, Singles, Paaren usw. haben hier oft sehr unterschiedliche spezielle Wohnbedürfnisse. Unterhalb bestimmter Einkommensgrenzen greift hier die soziale Wohnraumförderung, um Härten abzufedern und einen Grundlebensstandard zu sichern. Bezahlbare Wohnungen werden vielerorts immer knapper, gerade wenn noch bestimmte bauliche Voraussetzungen wie beispielsweise Barrierefreiheit erforderlich sind. Zusammen mit den steigenden Energiekosten bei gleichbleibenden Gehältern und Löhnen, der Zunahme der Zahl von Geringverdienern am Arbeitsmarkt, niedrigeren Renten aufgrund niedriger Einkommen im Erwerbsleben und Brüchen in den Erwerbsbiografien werden zukünftig mehr Menschen Unterstützung brauchen. Wohngeld wird zur wirtschaftlichen Sicherung angemessenen und familiengerechten Wohnens als Mietzuschuss für Mieter von Wohnraum oder als Lastenzuschuss für Eigentümer gewährt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf möchte die Bundesregierung die gesetzlichen Regelungen zum wohngeldrechtlichen Datenabgleich im Wohngeldverfahren automatisieren und verbessern. Gleichzeitig ist eine Harmonisierung von Gesetzen der Länder und des Bundes vorgesehen. Darüber hinaus soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auch mittels des automatisierten Datenabgleichs die rechtswidrige Inanspruchnahme von Wohngeld vermieden und der Gesetzesvollzug erleichtert werden. Nach dem Entwurf der Bundesregierung wäre nun ein Abgleich der Meldedaten bereits bei der Antragsbearbeitung möglich und kann auch hinsichtlich einer versicherungspflichtigen oder geringfügigen Beschäftigung unter Nennung des Arbeitgebers vorgenommen werden. Der automatisierte Datenabgleich wird bundesweit eingeführt. Dies soll der Prävention von rechtswidriger Inanspruchnahme von Wohngeld dienen und somit ein Schlupfloch zum Leistungsmissbrauch schließen, aber auch Fehler in den Antragstellungen vermeiden und somit die Zahl nachträglicher Aufhebungsbescheide und entsprechender Rückforderungsansprüche verringern. Allerdings ist dafür Sorge zu tragen, dass der Datenschutz sichergestellt ist. Es ist wichtig, dass Wohngeld denjenigen zugutekommt, die wirklich darauf angewiesen sind. Deswegen darf sich die Bundesregierung nicht nur darauf ausruhen, Leistungsmissbrauch zu verhindern, sondern muss auch dafür Sorge tragen, dass die Mittel für diese Leistungen in ausreichender und zeitgemäßer Form zur Verfügung stehen, um laut § 1 WoGG angemessenes und familiengerechtes Wohnen zu ermöglichen. Hierzu gehört auch ein Monitoring und die Überprüfung, ob die vorhandene Gesetzeslage und Regelstruktur tatsächlich ausreichend ist. Auch eine Mittelaufstockung und zeitgemäße Anpassung sollte regelmäßig überprüft werden. Im Zusammenhang mit steigenden Heizkosten und zukünftig nicht absehbar sinkenden Energiepreisen sollte ebenfalls überprüft werden, ob der pauschale Zuschlag für Heizkosten, den die schwarz-gelbe Bundesregierung 2011 gestrichen hat, nicht dringend wieder eingeführt werden müsste. Zu Protokoll gegebene Reden Der Aspekt der einseitigen Entschädigung für Kreditinstitute für Bankauskünfte zur Ermittlung des wohngeldrechtlichen Einkommens wird von außen insofern kritisiert, dass natürlich auch Immobilienverwalter, aber auch Vermieter Bestätigungen und Bescheinigungen für Mieter im Antragverfahren ohne Vergütung ausstellen. Hier ist klar zu prüfen, ob dies nicht zu einer Ungleichbehandlung führt. Wichtig wird sein, Wohnraum jetzt und zukünftig bezahlbar, angemessen, barrierearm und familienfreundlich zu ermöglichen.

Petra Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004115, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Wohngeld ist eine wesentliche und wichtige Säule unseres Sozialstaats. Es gewährt Bürgerinnen und Bürgern mit geringem Einkommen einen Mietzuschuss oder einen Lastenzuschuss für selbst genutztes Wohneigentum. Es unterstützt damit alle, die sich bemühen, ihr Leben zu gestalten, auf eigenen Beinen zu stehen, für sich und ihre Nächsten zu sorgen und zu arbeiten, denen es aber trotzdem nicht gelingt, dies ganz aus eigener Kraft zu leisten. Es entspricht unserer zutiefst liberalen Grundüberzeugung, den Menschen einerseits für diese Lebensgestaltung allen möglichen und notwendigen gesellschaftlichen Freiraum zu schaffen. Andererseits ist es Aufgabe unseres sozialen Gemeinwesens, überall dort einzuspringen, wo die elementaren Lebensrechte unverschuldet nicht gesichert sind. Allein für Wohngeld sind im laufenden Haushaltsjahr 650 Millionen Euro vorgesehen. Zu jedem Euro Wohngeld steht die FDP. Wir haben uns in der Vergangenheit dagegen eingesetzt - ich erinnere an die Debatte im Jahre 2010 -, und wir werden das auch in Zukunft tun, wenn Haushaltskonsolidierung auf dem Rücken der sozial Schwächsten betrieben werden sollte, zum Beispiel zulasten der Wohngeldbezieher. Jeder, der arbeitet, jeder der sich mit täglicher Anstrengung und Einsatzbereitschaft den eigenen Unterhalt versucht zu erwirtschaften, hat ein Recht auf unsere Hilfe und muss unterstützt werden. Nur so ist es möglich, sich letztlich selbstständig und unabhängig zu machen von staatlicher Versorgung. Verbunden mit diesem finanziellen Einsatz des Bundes und der Länder ist die Pflicht, sparsam, sorgsam und bedacht mit dem Geld der Steuerzahler umzugehen. Im heute diskutierten Dritten Gesetz zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften führt die christlichliberale Koalition unter anderem den automatischen Datenabgleich im Wohngeldverfahren ein. Das dient erstens der Vermeidung einer rechtswidrigen Inanspruchnahme von Wohngeld. Es führt damit zur Einsparung von Haushaltsmitteln im Bund und in den Ländern - und das in nicht unerheblicher Größenordnung. Dort, wo dieser Datenabgleich bereits eingeführt worden ist, in Nordrhein-Westfalen, in Hamburg, in Berlin und in Baden-Württemberg, überall dort konnten zum Beispiel verborgene Kapitalerträge aufgedeckt und überhöhte Leistungsbezüge verhindert werden. Allein in Nordrhein-Westfalen lag das Rückforderungspotenzial im ersten Datenabgleich bei 9 Millionen Euro. Damit spart der Staat nicht nur Geld, das Verfahren trägt darüber hinaus, zweitens, in erheblichem Maße zu Rechtssicherheit und Verfahrensgerechtigkeit bei. Hier geht es weder um den Schnüffelstaat noch soll irgendwem ein Anspruch auf Sozialleistungen streitig gemacht werden. Für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger entsteht weder eine neue Informationspflicht noch werden berechtigte Leistungen gekürzt oder eingeschränkt. Recht soll und muss hier Recht bleiben. Auch der Wohnungswirtschaft und insbesondere den vielen Mittelständlern in diesem Bereich erwachsen keine zusätzlichen Kosten durch das Gesetz. Keine bisher bestehende Informationspflicht wird geändert oder abgeschafft oder ergänzt. Lediglich der Verwaltung entstehen für die statistische Erhebung der Daten und die Umstellung der Datenerhebungs- und Statistiksoftwarekosten. Diese aber sind marginal im Vergleich zu den erwartbaren Einspareffekten. Einen dritten positiven Aspekt möchte ich zum Abschluss noch ansprechen: Mit der Gesetzesänderung soll die Wohngeldstatistik insbesondere bei der Berücksichtigung von Haushaltsmitgliedern und bei der Erfassung von Kindern und Jugendlichen vereinheitlicht und vereinfacht werden. Vereinfachung und Vereinheitlichung struktureller und administrativer Abläufe und Regelungen ist seit langem eine politische Forderung der FDP nach Entbürokratisierung. Hier gehen wir einen kleinen, doch weiteren Schritt. Auch das wird perspektivisch Steuergelder sparen und den Verwaltungsaufwand senken. Solide statistische Daten sind die Grundvoraussetzung für einen effektiven und passgenauen Einsatz öffentlicher Mittel. Auch dazu werden wir mit dieser Gesetzesänderung beitragen. Einsparungen, wo möglich, Anspruchsgerechtigkeit, wo nötig, Bürokratieabbau, wo er sinnvoll ist: Das ist liberale Politik, in diesem Fall christlich-liberale Politik.

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es hat ganz den Anschein, dass die Bundesregierung in voller Breite und mit preußischer Gründlichkeit gegen die Mieterinnen und Mieter in diesem Land vorgehen will. Erst dieser unsägliche und völlig überflüssige Entwurf eines „Gesetzes über die energetische Modernisierung von vermietetem Wohnraum und über die vereinfachte Durchsetzung von Räumungstiteln“, dann die permanenten Fluchtversuche aus den Verpflichtungen zur sozialen Wohnraumförderung mit ungewissem Ausgang und nun dieses „Dritte Gesetz zur Änderung wohnungsrechtlicher Vorschriften“. Das alles passt zusammen und wirft erneut ein grelles Licht auf das Denken und Handeln dieser Bundesregierung. Der politische Anspruch des eingebrachten Entwurfes ist nicht: Wie kann den rund 900 000 Menschen in diesem Land geholfen werden, die auf Wohngeld angewiesen sind, weil sie sowieso schon nicht wissen, wie sie sonst ihr alltägliches Leben fristen sollen? Nein, es geht darum, wie die von diesen schreienden sozialen Missständen betroffenen Menschen noch effizienter verwaltet, überwacht und ausgepresst werden können. Zu Protokoll gegebene Reden Bis zur letzten Briefmarke soll geregelt werden, welche Behörde, welches Kreditinstitut wem gegenüber welche Kosten in Rechnung stellen darf und wem gegenüber ein Erstattungsanspruch in welcher Höhe besteht. Zuletzt immer gegen diejenigen, die ohnehin schon nichts haben: Kein Geld, keine Rechte und keine Lobby - außer uns. Dieser Gesetzentwurf zeugt von einem tiefen Misstrauen eines Obrigkeitsstaats seinen Untertanen gegenüber, eines Staats, der sich längst von den Grundsätzen des Sozialstaats verabschiedet hat, der dabei ist, sich über die Phase des Verwaltungsstaats immer mehr zu einem Überwachungsstaat zu entwickeln. Ein solches Gesetz brauchen die Menschen in diesem Land nicht - vielleicht mit Ausnahme einiger Regierungsbeamter, die mit der Erarbeitung solcher Vorlagen ihr Geld verdienen. Was die Menschen - besonders die von diesem Gesetzentwurf Betroffenen; es handelt sich dabei zu einem ganz überwiegenden Teil um Rentnerhaushalte - stattdessen brauchen, ist zunächst die Wiederberücksichtigung der Heizkosten bei der Wohngeldberechnung, die ja auch von dieser Koalition zum 1. Januar 2011 gestrichen worden war, und zwar mit der völlig weltfremden Begründung, die Heizkosten seien gesunken. Angesichts der tatsächlich steigenden Mieten und der geradezu explodierenden Heiz-, Energie- und Wasserkosten sowie anderer wohnnaher Kosten und Gebühren ist eine Erhöhung des Wohngelds nötig, weil immer mehr Mieterhaushalte einen immer größeren Teil ihres Einkommens für Wohnkosten auszugeben gezwungen sind. Mehr als 40 Prozent der deutschen Mieterhaushalte müssen heute schon die Hälfte ihres monatlichen Nettoeinkommens für Wohnkosten aufwenden. Da diese Haushalte schon jetzt keine Einkommens- und schon gar keine Vermögensreserven - wie der vorliegende Ge-setzentwurf unterstellt - mehr haben, müssen sie bei anderen lebensnotwendigen Ausgaben sparen und verzichten. Es droht in diesem Land eine neue, flächendeckende, durch Wohnkosten verursachte Armut. Das ist der eigentliche Skandal. Dagegen muss der Gesetzgeber dringend aktiv werden. Angesichts der tatsächlichen, für immer mehr Menschen spürbaren und für einen wachsenden Teil der Bevölkerung existenzbedrohenden Wohnprobleme brauchen wir ein klares Bekenntnis der Politik zum Wohnen als sozialem Grundbedürfnis und ein daran orientiertes Regierungshandeln. Wir brauchen eine verlässliche Zusage zur Fortführung einer bedarfsgerechten sozialen Wohnraumförderung, und wir brauchen ein soziales Mietrecht, das Mieterinnen und Mieter ihren Vermietern nicht ausliefert, sondern sie ihnen rechtlich gleichstellt. Was wir absolut nicht brauchen, ist ein Gesetz für einen automatisierten Datenabgleich zur Vermeidung rechtswidriger Inanspruchnahme des Wohngelds zur Einsparung von Haushaltsmitteln des Bundes. Das ist absurd und menschenverachtend und muss von jedem verantwortungsbewussten Volksvertreter sofort zurückgewiesen werden.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der von der Bunderegierung eingebrachte Gesetzentwurf ist in seiner inhaltlichen Ausrichtung weitestgehend unproblematisch, da es sich um die Umsetzung des bereits in der Wohngeldnovelle 2009 angelegten Datenabgleichs handelt. Seine finanziellen Auswirkungen sind insbesondere für die Kommunen allerdings kritisch zu hinterfragen. Deswegen habe ich gemeinsam mit meiner Fraktion im März diesen Jahres eine Kleine Anfrage ({0}) gestellt. Obwohl es das parlamentarische Fragerecht im Deutschen Bundestag gibt, war ich mit den Antworten der Bundesregierung ({1}) äußerst unzufrieden. Der Datenabgleich hat zum Ziel, die rechtswidrige Inanspruchnahme des Wohngelds zu verhindern. Er wird zur Folge haben, dass Bund und Länder mittelfristig weniger Wohngeldkosten zu tragen haben. Umgesetzt wird der Datenabgleich allerdings in den Kommunen, die diesen wahrscheinlich mit höherem Personalaufwand umsetzen werden. Zusätzlich entstehen für die Kommunen nach Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfs weitere Kosten durch die Entschädigung der Kreditinstitute für die Auskunftserteilung. Auf diese Problematik habe ich unter anderem in meiner Kleinen Anfrage hingewiesen. Auf meine Frage „Wie hoch werden die Kosten für die Kommunen, entstehend aus der neuen Erstattungspflicht für die auskunftgebenden Kreditinstitute, sein?“, hat die Bundesregierung geantwortet, dass sie „… nicht von nennenswerten Mehrkosten für die Kommunen aus[geht].“ Dem widerspricht sie allerdings in ihrer Gegenäußerung auf die Einwände des Bundesrates, siehe Seite 17 des vorliegenden Dokuments ({2}): „Da die Anzahl der Bescheinigungen nicht absehbar ist, kann der gesamte Erfüllungsaufwand für die Wohngeldbehörden nicht beziffert werden.“ Angesichts der weit verbreiteten schlechten finanziellen Lage vieler Kommunen sollten wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren eine Lösung finden. Bund und Länder zahlen die Wohngeldkosten hälftig. Maßnahmen, die zu finanziellen Einsparungen führen, sollten die Kommunen nicht zusätzlich belasten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9851 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Das sehen Sie auch so. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 38: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sönke Rix, Ute Kumpf, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrich Schneider, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Verantwortung stärken - Drucksache 17/9926 22086 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe mir in Vorbereitung auf diese Rede noch einmal die Mühe gemacht, die Plenarprotokolle der zurückliegenden Reden zum Thema Freiwilligendienste und Bundesfreiwilligendienst zur Hand zu nehmen und die Aussagen von damals mit den Realitäten zu vergleichen. Um es vorwegzunehmen: Ihre Aussagen von damals müssen Ihnen - und dabei meine ich von den antragstellenden Fraktionen insbesondere die Grünen - ziemlich peinlich sein. Aus Zeitgründen ist es gar nicht möglich, alle Fehleinschätzungen aufzulisten, deshalb beschränke ich mich auf einige wenige Aussagen in der Debatte vom 24. März 2011. „Der Bundesfreiwilligendienst wird als Lückenbüßer für den Zivildienst nicht funktionieren und kein Erfolgsmodell sein.“ Das war die Aussage des Grünen-Redners von damals. Fest steht heute: Sie haben unrecht gehabt. Genau das Gegenteil ist eingetreten. Wir haben es geschafft, die Wehrpflicht auszusetzen, einen anerkannten Bundesfreiwilligendienst zu etablieren und das bürgerschaftliche Engagement in einer bisher nie dagewesenen Weise zu verstärken. Der Systemwechsel mit all seinen Begleiterscheinungen ist geglückt. Die Freiwilligendienste sind mit einem gestärkten Rücken aus dem gesamten Prozess hervorgegangen. Wie froh können wir alle sein, dass wir nicht auf Ihre Kassandrarufe gehört haben und uns von Ihrer sehr oft parteipolitisch und negativ vorgetragenen Kritik nicht aus der Ruhe haben bringen lassen. Sie haben von geringer Nachfrage schwadroniert und von fehlender Akzeptanz. In der Realität ist genau das Gegenteil eingetreten. Jeder einzelne Platz im BFD wurde besetzt - wir sehen uns sogar mit dem Problem konfrontiert, dass nicht genügend freie Plätze für alle Bewerberinnen und Bewerber zur Verfügung stehen. Dies zeigt: Der Bundesfreiwilligendienst ist bei den engagementbereiten Menschen längst angekommen. Was hat es alles für Ratschläge von Ihnen gegeben, was zu tun wäre. Wir können im Sinne der Freiwilligen gemeinsam froh und dankbar sein, diese Vorschläge nicht aufgegriffen zu haben. Wenn Sie heute in Ihrem Antrag schreiben:„Die große Engagementbereitschaft Jugendlicher zeigt, dass die Warnungen und Verwerfungen im Sozialbereich infolge der Zivildienstaussetzung unbegründet und übertrieben waren“, ist dies insofern zuallererst als Selbstkritik an Ihren eigenen Fehleinschätzungen zu sehen. Ich finde es gut und richtig, dass Sie das heute eingesehen haben. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen aus der christlich-liberalen Koalition, der Bundesregierung und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben sowie insbesondere auch Herrn Dr. Kreuter für ihre Leistungen in den zurückliegenden Monaten. Es war gut und richtig, dass wir den Bundesfreiwilligendienst eingeführt und die Jugendfreiwilligendienste deutlich gestärkt haben. Es ist zudem ein großartiger Ausweis jugendlichen Verantwortungsbewusstseins, wenn man betrachtet, wie viel Interesse in diesen Generationen besteht, sich für die Gesellschaft einzusetzen. Es kann uns alle mit Freude erfüllen, dass gerade die junge Generation so viel Verantwortungsbewusstsein zeigt. Eine weitere Aussage der Grünen, die Ihnen heute bitter aufstoßen müsste, ist: „Es ist ein Kardinalfehler, dass Schwarz-Gelb Freiwilligendienste erster und zweiter Klasse schaffen will.“ Mittlerweile müsste auch den Grünen deutlich geworden sein, dass diese Unterstellung jeglicher Grundlage entbehrt. Unser Ziel war es, dass die Teilnehmer an den Jugendfreiwilligendiensten und dem Bundesfreiwilligendienst auf gleichem Niveau betreut und unterstützt werden - sowohl finanziell als auch organisatorisch. Genau das ist gelungen - und ich denke, das bestreitet heute auch niemand mehr. Wir sind angetreten mit dem Ziel, dass die Teilnehmer an beiden Formaten keinen Unterschied in ihren Diensten merken. Unterschiede sind heute nur sehr gering. Das war uns wichtig, und deshalb haben wir bei der Umstellung beide Komponenten immer auch parallel mitgedacht. Das hat sich ausgezahlt, und es freut uns, dass wir heute auch von vielen Trägern nach anfänglicher Skepsis viel Anerkennung und Zustimmung erfahren haben. Diese Koalition hat sich schon im Koalitionsvertrag vorgenommen, die Jugendfreiwilligendienste zu stärken. Genau das haben wir auch getan. Wir haben die Förderpauschalen erhöht, und zwar schon vor der Aussetzung der Wehrpflicht. Inzwischen werden die Förderpauschalen im Jugendfreiwilligendienst dreimal so hoch sein wie noch zu Beginn der Legislaturperiode. Wir haben eine Sonderregelung eingeführt, um Jugendliche mit besonderem Förderungsbedarf besser zu unterstützen. Wir haben die Einsatzbereiche über das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr hinaus deutlich ausgedehnt und ausgebaut. Heute können Jugendliche sich auch in der Politik, im Sport, in der Kultur, in der Bildung und in der Integration mit ihren jeweiligen Fähigkeiten und ihren Ideen einbringen. Die Freiwilligendienste haben in dieser Legislaturperiode eine Aufwertung und eine Unterstützung erfahren, wie es sie noch nie vorher gab. Es ist die große gesellschaftspolitische Entscheidung, das große gesellschaftspolitische Projekt dieser Legislaturperiode. Wenn die antragstellenden Fraktionen dann an den verschiedenen Details herumkritteln, dann muss man sich vor Augen führen, woher wir kommen und was angesichts von Haushaltskonsolidierungsdruck und Schuldenbremse alles auf dem Spiel stand. Wir haben insofern allen Grund, auf das Gesamtergebnis stolz zu sein. Wenn Sie angesichts dieser Entwicklungen und der damals zu lösenden Mammutaufgaben dann von „handwerklichen Mängeln“ und dergleichen schwadronieren, muss man sich schon fragen, ob die Komplexität der Aufgabe Ihrerseits erfasst wurde. Es ist an dieser Stelle noch einmal wichtig, zu betonen, dass Sie es sich mit Ihren Aussagen zu den Doppelstrukturen beim BFD und den Jugendfreiwilligendiensten ziemlich einfach machen. Sie wissen um die verfassungsmäßige Problematik, die sich rund um die Frage dreht, inwieweit der Bund sich an den Jugendfreiwilligendiensten der Länder beteiligen darf. Mit der erheblichen Aufstockung der Mittel für die Jugendfreiwilligendienste ist die Bundesregierung bereits weit gegangen. Sie hat dies ganz im Sinne der Stärkung der Jugendfreiwilligendienste getan. Die zivilgesellschaftliche Komponente hat alleine durch diesen Aufwuchs eine Stärkung erfahren, wie es sie bislang nicht gab. Dies müssen Sie bei Ihrer Forderung nach Stärkung der Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Verantwortung zur Kenntnis nehmen, und ich denke, dass es daran fraktionsübergreifend keinen Zweifel gibt. Ich finde es auch sehr interessant, wie ambivalent Sie immer wieder mit der Frage der Zivilgesellschaft umgehen. Das hat sich ja bei den Beratungen rund um den Bundesfreiwilligendienst deutlich gezeigt. Auf der einen Seite haben Sie sich darüber aufgeregt, dass der staatliche Einfluss auf den Bundesfreiwilligendienst zu groß sei und der Staat nun einen zu großen Einfluss auf die Zivilgesellschaft nimmt. Andererseits sind Sie nicht müde geworden, immer neue Forderungen zu stellen, was alles noch gesetzlich geregelt werden muss, um es nicht der Zivilgesellschaft selbst zu überlassen. Unter diesem Blick muss auch Ihre Forderung nach neuen gesetzlichen Regelungen oder - wie Sie es nennen - „einem einheitlichen Rechtsrahmen“ gesehen werden. Umstellungsprozesse brauchen immer ein wenig Zeit - und es gibt tatsächlich das eine oder andere, das aus meiner Sicht noch geschärft werden muss. Ich habe keinen Zweifel, dass wir diese Änderungen im Sinne der Freiwilligen in beiden Säulen angehen werden.

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein knappes Jahr nach der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme. Wo steht der BFD? Nach wie vor ist deutlich spürbar, dass das Gesetz zum Bundesfreiwilligendienst unter einem hohen Zeitdruck durch die Gremien gebracht werden musste. Es gibt weiterhin grundsätzliche Schwachstellen, die sich aus der „Pflichtdienstlogik“ ergeben - schließlich sollte der BFD die Lücke schließen, die der Zivildienst vermeintlich hinterlassen hat -; aber es gibt auch massive Probleme bei der Umsetzung, der Verzahnung zwischen BFD und FSJ/FÖJ und der Arbeitsmarktneutralität. Anfang des Jahres hat meine Fraktion gemeinsam mit Freiwilligen, Trägern und Einsatzstellen versucht, systematisch die Schwächen des BFD aufzuzeigen. Gemeinsam mit den Grünen bringen wir nun einen Antrag ein, der unsere Vorstellung von klugen Rahmenbedingungen für Freiwilligendienste deutlich macht. Diesen Rahmenbedingungen liegt unserer Meinung nach ein grundsätzlich anderes Verständnis von Freiwilligendiensten zugrunde als das, das die Bundesregierung im letzten Jahr vermittelt hat. Wir nämlich sind der Überzeugung, dass Freiwilligendienste in zivilgesellschaftliche Verantwortung gehören und nicht in staatliche. Man kann es aufgrund der aktuellen Entwicklungen nicht oft genug sagen: Freiwilligendienste sind weder Ausfallbürgen noch Lückenbüßer für sozialstaatliche Aufgaben. Engagement im Rahmen eines Freiwilligendienstes ist für die Gesellschaft, aber eben auch für den einzelnen Freiwilligen ein großer Gewinn. Freiwilligendienste sind Bildungsdienste. Das muss auch für den BFD gelten. In diesem Sinne muss er sich in seiner Struktur stärker an den Jugendfreiwilligendiensten orientieren. Dazu gehört - und damit komme ich zum harten Kern unseres Antrags - die Verankerung des Trägerprinzips im Bundesfreiwilligendienstgesetz. Denn es kann nicht sein, dass die Träger, die wichtige Ansprechpartner für ihre Freiwilligen sind, die eine koordinierende Funktion wahrnehmen und für die Qualitätssicherung zuständig sind, im BFD kein Vertragspartner sind. Neben dem Grundsatz der Subsidiarität, den es hier zu wahren gilt, stellt die momentane Situation die Träger allein schon verwaltungstechnisch vor unlösbare Aufgaben - müssen sie doch auch hinsichtlich ihres Kontingents einen Überblick über die Anzahl und die Daten „ihrer“ Freiwilligen erhalten. Wir wollen, dass auch der BFD - genau wie die Jugendfreiwilligendienste - seinen Anspruch als Bildungsdienst ernst nimmt. Noch ist dies nicht der Fall: Beispielsweise ist die pädagogische Begleitung in den Einsatzstellen nicht festgeschrieben; für mein Dafürhalten ist sie aber essenziell. Zum anderen gibt es organisatorische Schwierigkeiten beim Umgang mit den Bildungsgutscheinen für die ehemaligen Zivildienstschulen. FSJ- und FÖJ-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer können häufig nicht an den Seminaren teilnehmen, weil es vonseiten der Bildungszentren keine Flexibilität gibt. So verfallen die Bildungsgutscheine und damit ein Teil der aufgestockten Mittel. Hier fordern wir in unserem Antrag ein neues System und eine grundlegende Reform des Bildungskonzeptes. Neben vielen anderen Punkten, die wir in unserem Antrag aufführen, ist mir ein Thema besonders wichtig: Die Doppelrolle des BAFzA sehen wir mehr als kritisch. Einerseits ist es steuernde, koordinierende und kontrollierende Behörde und verwaltet die Zuschüsse an die zivilgesellschaftlichen Zentralstellen. Andererseits ist es insbesondere für kleine und kommunale Träger Zentralstelle und Dienstleister. Somit tritt das BAFzA in Konkurrenz zu den Zentralstellen aus dem dritten Sektor. Das widerspricht unter anderem dem Subsidiaritätsgebot. Wir fordern, dass diese zweite Rolle des BAFzA aufgegeben wird. Zu Protokoll gegebene Reden Grundsätzlich müssen wir uns die Frage stellen, wie wir uns die Freiwilligendienstlandschaft in Zukunft vorstellen. Ich begrüße, dass es mit dem BFD nun auch eine Möglichkeit für Menschen über 27 gibt, einen Freiwilligendienst zu leisten. Gleichzeitig wirft dies aber Fragen auf, die wir klar beantworten müssen. Die Abgrenzung zum Arbeitsmarkt und zu anderen Formen des bürgerschaftlichen Engagements muss gewährleistet sein. Tätigkeitsfelder müssen neu definiert und stets kontrolliert werden. Die Möglichkeiten, die die Abschaffung des Wehr- und Zivildienstes nun bieten, müssen wir nutzen, und zwar besser, als es die Bundesregierung momentan tut. Wir brauchen ein kluges, durchdachtes und zivilgesellschaftlich orientiertes Konzept für eine Zukunft der Freiwilligendienste. Unser Antrag stellt eine gute Grundlage dafür dar.

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das große Interesse am Bundesfreiwilligendienst hat die Bundesregierung überrascht, sie feiert das als ihren Erfolg. Wir, die SPD, waren nicht überrascht. Das Interesse am freiwilligen Engagement ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Die Engagementquote ist in den letzten zehn Jahren um 2 Prozent gestiegen, bei den über 60-Jährigen sogar um mehr als 5 Prozent. Auf einen Platz im Freiwilligen Sozialen bzw. im Freiwilligen Ökologischen Jahr kamen drei Bewerbungen. Die SPD hat in ihrer Regierungsverantwortung, in der 14. und 15. Wahlperiode, die klassischen Jugendfreiwilligendienste kontinuierlich ausgebaut, quantitativ wie qualitativ. Diesen Ausbau wollten wir fortsetzen, die Bundesregierung nicht. Stattdessen hat sie mit dem Bundesfreiwilligendienst einen neuen Dienst eingeführt. Danken müssen wir den Freiwilligen wie den Trägern. Trotz der widrigen Bedingungen haben sie aus den neuen Vorgaben das Beste gemacht und den neuen Dienst erfolgreich umgesetzt. Freiwillige, die bereits als junge Erwachsene erfahren, welchen Wert und welche Bedeutung ihr Engagement für die Gesellschaft hat, werden sich auch im weiteren Verlauf ihres Lebens engagieren, davon bin ich überzeugt. Wir, die SPD, fordern daher auch in unserem Antrag, dass wir eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung entwickeln müssen. Das darf sich nicht auf schöne Worte und Schulterklopfen beschränken. Anerkennung muss schon bei der Bundesregierung anfangen. Während das Familienministerium für den neuen Dienst wirbt, beschäftigt sich das Finanzministerium lieber damit, wie man Freiwilligen in die Tasche greifen kann. Das Finanzministerium erarbeitete Pläne für eine Engagementsteuer! Das ohnehin schon geringe Taschengeld der Freiwilligen sollte besteuert werden. Solche Gedankenspiele sind ein vollkommen falsches Signal, sie sind das Gegenteil einer Anerkennungskultur. Solche Stolpersteine dämpfen Engagement, anstatt es zu befördern. Eine Kultur der Wertschätzung und Anerkennung müssen auch die Einsatzstellen und Träger entwickeln. Der Zivildienst war ein Pflichtdienst. Viele Einsatzstellen müssen erst noch realisieren, dass sie es mit Freiwilligen und nicht mit Dienstverpflichteten zu tun haben, denn Freiwillige können ihren Dienst jederzeit quittieren. Die Abbrecherquote von rund 10 Prozent im Bundesfreiwilligendienst muss daher näher untersucht werden. Was sind die Gründe, dass Freiwillige ihren Dienst abbrechen? Welche Konsequenzen müssen daraus gezogen werden? In Gesprächen mit Freiwilligen äußerten viele, dass sie als Freiwillige gesehen werden wollen, und nicht als Verpflichtete. Sie wollen ihre Qualifikationen im Freiwilligendienst einbringen, auch Veränderungen anstoßen, Freiwillige erwarten, dass sie auf Augenhöhe behandelt werden. Unklarheiten gibt es auch nach wie vor bei der Anrechnung eines Freiwilligendienstes als Wartesemester oder Praktikum für eine spätere Ausbildung oder ein Studium. FSJ und FÖJ sind eingeführt und werden angerechnet. Für die Freiwilligen im BFD muss dies auch gelten. Die Bundesregierung ist hier noch nicht aktiv geworden. Die ersten Bundesfreiwilligen sind schon fertig mit ihrem Dienst, und es gibt - nach einem Jahr - noch nicht einmal einen Bundesfreiwilligendienstausweis. Die Bundesregierung versichert immer wieder, man arbeite an dem Problem. Wie lange noch? Dabei ist ein einheitlicher und breit akzeptierter Freiwilligendienstausweis, der zu Ermäßigungen berechtigt, ein wichtiger Baustein für mehr Anerkennung. Auch Arbeitgeber sind in Sachen Anerkennung gefordert. Ehemalige Freiwilligendienstleistende sind ein Gewinn für Arbeitgeber. Wer einen Freiwilligendienst geleistet hat, bringt außergewöhnliche Kompetenzen, Fertigkeiten und Erfahrungen mit, Qualifikationen, die auch im Job gefragt sind. Davon profitieren sowohl Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber als auch Kolleginnen und Kollegen. Umgekehrt müssen Arbeitgeber auch jungen Auszubildenden die Teilnahme an einem Freiwilligendienst ermöglichen, ohne dass sie ihren sicheren Job aufgeben müssen. Denn bisher werden Freiwilligendienste von jungen Leuten meistens zwischen Schule und Studium oder vor dem Berufseinstieg absolviert. Auszubildende, die von ihrem Betrieb übernommen werden wollen, können sich einen Freiwilligendienst gar nicht leisten, weil sie damit die Übernahme aufs Spiel setzen. Wir brauchen daher eine „Allianz für Freiwilligendienste“. Die Arbeitgeber verpflichten sich, einen Freiwilligendienst mit gleichzeitiger Rückkehr in den Job zu ermöglichen. Zivis hatten ein Rückkehrrecht. Eine Selbstverpflichtung wäre ein Baustein für eine reale Anerkennung. Und sie erspart uns gesetzliche Regelungen. Der Bundesfreiwilligendienst richtet sich nicht nur an Junge, sondern auch an Ältere. Eine erste Studie zum BFD, verfasst von der Hertie School of Governance und des CSI, „Ein Jahr Bundesfreiwilligendienst“, zeigt: Über 30 Prozent der Bundesfreiwilligen sind über 27. Auf den ersten Blick sieht das toll aus. Schaut man sich die Verteilung auf die Bundesländer an, fällt auf, dass es in den östlichen Bundesländern überproportional viele ältere Teilnehmer am BFD sind. Während in BadenWürttemberg 16 Prozent der BFDler älter als 27 sind, sind es in Thüringen 79 Prozent. Ist die ArbeitsmarktZu Protokoll gegebene Reden neutralität im Osten nicht gegeben? Mir wurden Fälle geschildert, in denen die Arbeitsagentur Arbeitsuchende zur Aufnahme eines Bundesfreiwilligendienstes aufgefordert hat. Aus der persönlichen Sicht der Arbeitslosen kann ein Bundesfreiwilligendienst vielleicht ganz schön sein. Bei einem Besuch bei der Diakonie habe ich mit älteren Freiwilligen gesprochen. Oft sind es Brüche im Lebenslauf, die der Aufnahme eines BFD vorausgegangen sind. Es kann aber nicht sein, dass aktive arbeitsmarktpolitische Instrumente gekürzt werden und Arbeitslose mit dem Bundesfreiwilligendienst abgespeist werden. Der Bundesfreiwilligendienst ist keine AB-Maßnahme und darf nicht zu weiteren prekären Beschäftigungsverhältnissen führen. Die Altersöffnung ist aber mit noch mehr Fragezeichen verbunden. Mitnahmeeffekte sind möglich: Durch geringe Stundenzahl im BFD und einem Teilzeitjob im selben Bereich kann Missbrauch betrieben werden. Hier ist die Bundesregierung in der Pflicht. Möglicher Missbrauch muss untersucht und konsequent unterbunden werden. Alle die aufgeworfenen Themen sind in unserem Antrag aufgeführt. Wir fordern einen klaren Rechtsrahmen. Wir brauchen eine Abgrenzung zum Arbeitsmarkt. Freiwilligendienste dürfen nicht als Ersatz für soziale Arbeit, arbeitsmarktpolitische oder Wiedereingliederungsmaßnahmen missbraucht werden. Ein Freiwilligendienstestatusgesetz schafft Abhilfe. Es kann dazu beitragen, dass das Angebot für Interessierte übersichtlich ist, gesellschaftliche Anerkennung gewährleistet ist, Zuständigkeiten klar und transparent geregelt sind, und die Qualität der Einsatzstellen gesichert ist. Die Vielfalt und die zivilgesellschaftliche Verankerung der Freiwilligendienste muss darin gewährleistet sein. Ein letzter Punkt, der uns als SPD wichtig ist, ist die Frage der Partizipation. Wer sich für einen Freiwilligendienst entscheidet, will mitreden, mitgestalten und teilhaben. Gerade in den Freiwilligendiensten geht es nicht um das Ableisten einer Dienstpflicht. Dazu benötigt es eine Interessenvertretung der Freiwilligen, sowohl bei den Einsatzstellen, als auch bei den Trägern. Das ist bisher nicht gewährleistet. Es muss eine Plattform geschaffen werden, auf der sich BFDler organisieren und austauschen können. Die SPD steht zum Ausbau der Freiwilligendienste, dazu bekennt sich unser Antrag. Wir wollen die Vielfalt und die Verlässlichkeit in der Finanzierung gewährleisten. Unser Ziel bleibt es, jedem und jeder Interessierten einen qualitativ guten Freiwilligendienstplatz anbieten zu können, und dazu braucht es die entsprechenden Haushaltsmittel.

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Man soll den Tag bekanntlich nicht vor dem Abend loben. Aber in diesem Falle möchte ich das Wagnis eingehen. Schließlich stellt dieser Antrag fast eine 180Grad-Wendung von SPD und Grünen dar. Man erlebt es nicht alle Tage, dass die Opposition in einem Antrag so offen und unumwunden einräumt, dass die mutige Entscheidung der Koalition, die Wehrpflicht auszusetzen, richtig war. Da gab es in der Vergangenheit ja durchaus unterschiedliche Signale von der linken Seite des Hauses. Die SPD war mal für die Wehrpflicht, dann dagegen, dann für eine „freiwillige Wehrpflicht“; unklarer ging es kaum. Für uns Liberale war die Sache hingegen eindeutig: Anstatt babylonische Sprachverwirrung zu betreiben, haben wir uns seit über einem Jahrzehnt konsequent für die Aussetzung der Wehrpflicht und damit aller Zwangsdienste eingesetzt, weil wir die Wehrpflicht aus bekannten sicherheitspolitischen Erwägungen nicht mehr für zeitgemäß hielten. Als Nächstes hieß es dann, die Aussetzung sei übereilt, komme zum falschen Zeitpunkt oder sei in der aktuellen Lage fehl am Platze. Ich freue mich, dass Sie all diese vorschnellen Urteile mit diesem Antrag öffentlich eingestehen. Ferner räumen Sie Ihren Irrtum ein, dass der BFD ein Rohrkrepierer werden würde. Sie haben uns dies stets prophezeit - und ganz offensichtlich die Engagementbereitschaft der Menschen in unserem Lande massiv unterschätzt. Aber aus Fehlern kann man bekanntlich lernen. Ich wünschte, dass ich es dabei schon belassen könnte. Aber wo Licht ist, da ist auch Schatten, und der ist in diesem Fall leider ziemlich lang. Wenn Sie feststellen, dass mit der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes die Chance verpasst wurde, die Jugendfreiwilligendienste weiterzuentwickeln und auszubauen, dann haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Sie ignorieren wieder einmal geflissentlich die Hinweise des Bundesrechnungshofs, der bereits die heutige Förderung der Jugendfreiwilligendienste wiederholt gerügt hat. An anderer Stelle, liebe Mitglieder der Opposition, argumentieren Sie doch gerne mit dem Bundesrechnungshof. Warum weigern Sie sich in diesem Fall so beharrlich, dessen Hinweise zur Kenntnis zu nehmen? Außerdem unterschlagen Sie schlicht die enormen Anstrengungen, die diese Koalition im Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements unternommen hat. Wir haben die Unterstützung für die Freiwilligendienste, die pädagogische Förderung, um das beinahe Vierfache erhöht. Nichts annähernd Vergleichbares ist unter Ihrer Ägide geschehen. Daher können wir, CDU, CSU und FDP, mit Fug und Recht sagen, dass wir die Koalition des bürgerschaftlichen Engagements sind. Und es ist kein Geheimnis, dass sich insbesondere die Liberalen für den Ausbau der Jugendfreiwilligendienste von Beginn dieser Legislatur an eingesetzt haben. In Ihrem Antrag stellen Sie nun eine Reihe von Forderungen. Teilweise werden diese schon erfüllt. So läuft die Evaluation des BFD bereits, und natürlich wird dabei dezidiert auf die Arbeitsmarktneutralität geachtet. Und es steht doch völlig außer Frage, dass die Freiwilligendienste nicht als arbeitsmarktpolitisches Instrument missverstanden werden dürfen. Da sind wir fachpolitisch völlig einer Meinung. Zu Protokoll gegebene Reden Für einige andere Punkte, die Sie fordern, habe ich allerdings kein Verständnis. Nicht etwa, weil ich sie inhaltlich nicht teilen würde, sondern weil Sie sich schlicht und ergreifend wieder einmal den falschen Adressaten für Ihre Forderungen ausgesucht haben. Für die Anerkennung von bürgerschaftlichem Engagement in Form von Wartesemestern durch die Universitäten beispielsweise ist der Bund überhaupt nicht zuständig. Und das trifft auch auf eine Reihe anderer Punkte zu. Das sollten Sie eigentlich wissen. Es steht Ihnen aber selbstverständlich frei, sich bei Ihren Landeskollegen für eine größere Wertschätzung des bürgerschaftlichen Engagements einzusetzen. Es wäre höchste Zeit, und ich würde das ausdrücklich begrüßen. Sicherlich gibt es auch Punkte, wie zum Beispiel die Zukunft der Bildungszentren, die Sie selbst ansprechen, über die wir uns im Ausschuss austauschen sollten. Das gesetzliche „Feintuning“ beim BFD ist ohne Frage noch nicht abgeschlossen; wie sollte es auch. Die Freiwilligendienste haben sich über 40 Jahre entwickelt. Der BFD wurde in weniger als einem Jahr von uns sprichwörtlich aus dem Boden gestampft. Rom wurde bekanntlich auch nicht an einem Tag erbaut. Da wartet noch Arbeit auf uns. Ob aber dieser Antrag dazu beiträgt, die wichtigsten Baustellen erfolgreich abzuschließen, habe ich doch erhebliche Zweifel.

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist interessant, wie stark sich die anderen Fraktionen - trotz gegenteiliger Beteuerungen - regelmäßig an den Positionen der Linken orientieren, so wie in diesem Fall SPD und Bündnisgrüne, die in ihrem gemeinsamen Antrag zu den Freiwilligendiensten viele Forderungen und Bedenken der Linken aufnehmen. Unsere Forderungen, die von Ihren alles andere als weit entfernt sind, stellten wir schon im Februar 2011 im Bundestagsplenum zur Abstimmung. Unserem Antrag „Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen, statt Bundesfreiwilligendienst einführen“ stimmten Sie damals aber leider nicht zu. Im Mai 2012 wurde meine umfassende Kleine Anfrage zur „Weiterentwicklung des Bundesfreiwilligendienstes“ von der Bundesregierung beantwortet. Diese Anfrage haben Sie, wie Ihr Antrag zeigt, zu Recht genau studiert. Doch ob hier im Plenum oder im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“. Nicht nur die Regierungskoalition, auch Sie von SPD und Grünen untermalten regelmäßig unsere Anmerkungen - ob zur vermeintlichen Arbeitsmarktneutralität oder zur Altersöffnung - mit genervtem Desinteresse. Dies macht Sie nicht unbedingt glaubwürdiger! Wenn Sie jetzt schon einiges von der Linken guttenbergen, ist es umso bedauerlicher, dass wir nicht einen oppositionsübergreifenden Antrag vorlegen. Dies hätte erstens Ihrem jetzigen Antrag noch mehr Nachdruck und Glaubwürdigkeit verliehen, gerade in die soziale Bewegungs- und Engagementszene hinein. Und zweitens hätte dies Ihrem Antrag gewiss zu noch mehr Qualität verholfen. Rot-Grün fordert nun im Antrag, dass alle Freiwilligendienste vollständig zivilgesellschaftlich organisiert sein sollen. Dies ist richtig. Doch wären Sie nur immer schon so konsequent gewesen! Die Linke lehnte den staatlich organisierten Bundesfreiwilligendienst von vornherein und - das ist der Unterschied zu Ihnen - mit Nachdruck ab. Wir wollten rechtliche Voraussetzungen schaffen, um die bestehenden Jugendfreiwilligendienste mithilfe erfahrener zivilgesellschaftlicher Akteure weiter auszubauen und zu stärken. Sie eierten dagegen rum! Aber in Ihrem Antrag wird vieles Richtige und Wichtige angesprochen: Der Linken liegt das Thema Arbeitsmarktneutralität ganz besonders am Herzen. Da lassen wir auch nicht locker. Schön, dass Sie sich dieses Themas zumindest in Ihrem Antrag ein bisschen ausführlicher annehmen. In Debatten schoben Sie es bisher allzu oft schnell beiseite. Uns ist wichtig, dass alle Freiwilligendienste noch klarer von Erwerbsarbeit und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen abgegrenzt werden. Gerade in Ostdeutschland wurden und werden viele Erwerbslose von den Arbeitsagenturen in den Bundesfreiwilligendienst geschickt. Es ist doch offensichtlich, warum: Erwerbslose stellen eine Armada an günstigen Arbeitskräften da nun auch noch unter dem Deckmantel des staatlichen Freiwilligendienstes. In der Altersgruppe von 27 bis 65 Jahren leisten mehr Frauen als Männer einen Bundesfreiwilligendienst, weil ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt geringer sind als die von Männern. Kommunen schielen aufgrund ihrer Finanznöte immer öfter auf Freiwillige jeglicher Couleur. Und dann gab es noch den absurden Vorschlag, Bundesfreiwilligendienstler vermehrt in Kitas zu schicken. Hieran sehen wir doch deutlich: Freiwillige sollen immer häufiger für fehlende Fachkräfte und Arbeitsplätze sowie als Ausgleich für zu geringe Finanzmittel in die Bresche springen. Sie müssen es oftmals sogar tun, um zum Beispiel als Erwerbslose überhaupt über die Runden zu kommen. Auch Seniorinnen und Senioren sind in ihrer berechtigten Furcht vor Altersarmut davon besonders betroffen. Mit einem Bundesfreiwilligendienst können sie ihr Einkommen bzw. ihre Rente wenigstens ein kleines Stück aufstocken. Gerade die geringere Stundenzahl für über 27-Jährige im Bundesfreiwilligendienst verführt dazu. Generell sehen wir im Gegensatz zu SPD und Grünen die Altersöffnung sehr kritisch. Zudem kommt es immer öfter vor, dass mehrere derartig niedrig entlohnte Beschäftigungen kombiniert werden. Die Zuverdienstmöglichkeiten für Beziehende von Arbeitslosengeld II verstärken dieses „Getriebenwerden in den Bundesfreiwilligendienst“ ebenso wie die vom Gesetzgeber angestrebten Anreize, mit einem Bundesfreiwilligendienst wieder Ansprüche auf Arbeitslosengeld I zu erhalten. Doch das ist der völlig falsche Weg! Die Linke ist der Meinung, dass Freiwilligendienste nicht als Ausfallbürgen und Freiwillige nicht als Lückenbüßer in einem bewusst ausgetrockneten Sozialsystem herhalten dürfen! Bürgerschaftliches Engagement als Ganzes darf und kann nicht all das übernehmen und auffangen, was die Zu Protokoll gegebene Reden öffentliche Hand nicht mehr finanzieren kann oder will. Es darf nicht länger Notnagel im Zuge des Sozialstaatsabbaus sein und auch nicht reguläre, qualifizierte Beschäftigung verdrängen! Die Linke will nicht, dass der Bundesfreiwilligendienst eine weitere Niedriglohnoase zwischen klassischem Engagement und regulärer Erwerbsarbeit wird. Was wir an erster Stelle brauchen, sind mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze mit qualifizierten Beschäftigten bei tariflichem Lohn oder wenigstens 10 Euro Mindestlohn und mehr betriebliche Ausbildungsplätze. Statt prekärer Beschäftigung und Leiharbeit will die Linke existenzsichernde Arbeitsplätze und gute Arbeit für Jung und Alt. Erwerbslose brauchen eine sank-tionsfreie, Teilhabe ermöglichende Grundsicherung. Und wir fordern eine armutsfeste und lebensstandardsichernde Rente. Die Kommunen wiederum haben stabilere und höhere Einnahmen nötig, um wieder handlungsfähig zu werden und umfassende kommunale Daseinsvorsorge zu garantieren. Deshalb muss unter anderem die Gewerbesteuer zur Gemeindewirtschaftsteuer weiterentwickelt werden. Dies alles muss dringend angegangen werden! Ein Bundesfreiwilligendienst wird kein Heilsbringer sein! Kommen wir zu anderen Punkten Ihres Antrags: Die Linke sieht Freiwilligendienste ebenfalls primär als Lern- und Bildungsdienste, aber eher für junge Menschen. Deren zielgruppengerechte pädagogische Begleitung in der jeweiligen Einsatzstelle muss gesichert sein! Da stimmen wir mit Ihnen überein. Jedoch zeigen sich auch hier Probleme aufgrund der Altersöffnung: Sinnvolle Regelungen aus dem Bereich Bildung lassen sich nicht so einfach von Jugendfreiwilligendiensten auf Bundesfreiwilligendienstler jedes Alters übertragen. Die Verschiedenartigkeit dieser Gruppe macht Bildungsbegleitung und das Entwickeln konsistenter Bildungskonzepte sehr schwer. Auch befürwortete die Linke schon immer eine breite Anerkennungskultur für Engagement in Freiwilligendiensten, was beispielsweise in unserem Antrag aus dem letzten Jahr nachzulesen ist. Ergänzend zu den rot-grünen Forderungen unter anderem nach einem Freiwilligendienstausweis, ÖPNV-Vergünstigungen und Anerkennung eines Dienstes als Wartesemester oder Praktikum möchte ich noch Vergünstigungen beim BAföG oder Möglichkeiten zur gebührenfreien Weiterbildung in die Debatte einbringen. Dass Arbeitgeber Beschäftigte, die einen Freiwilligendienst geleistet haben oder leisten wollen, mehr wertschätzen bzw. besser unterstützen sollen, ist eine sinnvolle Forderung. An dieser Stelle gilt es aber, sich für konkrete Freistellungsregelungen und vor allem für einen starken Kündigungsschutz einzusetzen. Im Unterschied zu SPD und Grünen fordern wir die ausdrückliche Beachtung von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsprinzipien in Freiwilligendiensten. Im Bereich Mitgestaltung der Teilnehmenden an einem Freiwilligendienst bleiben Sie außerdem zu schwammig: Die Linke möchte nicht nur eine vage Mitgestaltung, sondern Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz. Ebenso wichtig ist die demokratische Mitbestimmung an Zielen, Inhalten und Ausrichtung der Jugendfreiwilligendienste selbst. Gremien der Mitbestimmung sind aus unserer Sicht bei jedem Träger von Freiwilligendiensten notwendig. In Ihrem Antrag hätten Sie zudem deutlicher hervorheben müssen, dass Freiwilligendienste niedrigschwelligere Zugangsmöglichkeiten bieten müssen, um unterrepräsentierte Gruppen vermehrt zu gewinnen. Die Linke fordert, dass sich Freiwilligendienste stärker für neue Zielgruppen öffnen, wobei besonders Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Behinderung in den Blick genommen werden müssen. Freiwilligendienste dürfen aber auch hier nicht Platzhalter für umfassende Integration und Inklusion sein. Was insgesamt an diesem in weiten Teilen gelungenen Antrag auffällt, ist, dass Sie wie die Bundesregierung Freiwilligendienste als Hauptinstrument zur Engagementförderung ansehen. Damit agieren Sie jedoch zu einseitig. Sie verstärken die Sicht auf freiwilliges Engagement als bloße Dienstleistung für die Bewältigung sozialer Probleme. Der Staat greift auf Freiwillige zu, an der Zivilgesellschaft vorbei. Engagement soll geradezu planwirtschaftlich gesteuert werden. Freiwillige werden dem Bereich zugeteilt, in dem sie gerade gebraucht werden: heute Pflege, morgen Kita, je nachdem, wo aktuell durch Sozialabbau die Strukturen geschliffen wurden. Der engagierte Mensch wird damit zur bloßen Ressource, zur Ware. Das lehnt die Linke entschieden ab! Bund, Länder und Kommunen - nicht Freiwillige sind gefordert, eine breite öffentliche Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Am Bundesfreiwilligendienst wird hingegen berechtigterweise die zu große Staatsnähe und das Kleben an der Logik der Pflichtdienste kritisiert. Der vermoderte, altertümliche Dienst-Begriff stellt in den Schatten, dass sich bürgerschaftliches Engagement an dem freien und freiwilligen, solidarischen Miteinander aller Menschen in einer vitalen und sozialen Demokratie orientieren sollte. Dies alles wird seit geraumer Zeit unter dem Stichwort „Verdienstlichung der Engagementpolitik“ diskutiert. Dem sollten wir uns in den entsprechenden Ausschüssen vertiefend annehmen. Bürgerschaftliches Engagement hat noch mehr Facetten als nur die Freiwilligendienstseite. Dies müsste mal dem Familienministerium bewusst werden! Die Linke fordert nach dem „Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements“ aus der letzten Wahlperiode daher eine weitreichende Strukturförderung von bürgerschaftlichem Engagement auch jenseits der Freiwilligendienste. Kommunen, Vereine, Verbände und Initiativen müssen in die Lage versetzt werden, zielgenaue Infrastrukturen zur Engagementförderung aufzubauen. Denn nur dann kann freiwilliges Engagement als das gestärkt werden, was es sein sollte: als wichtiges soziaZu Protokoll gegebene Reden les Plus in einer demokratischen und gerechten Gesellschaft.

Ulrich Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004219, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Knapp ein Jahr ist die Aussetzung der Wehrpflicht und des damit verbundenen Zivildiensts her. Und knapp ein Jahr besteht der Bundesfreiwilligendienst. Allen Unkenrufen zum Trotz ist mit dem Ende des Zivildienstes das soziale System in Deutschland nicht zusammengebrochen. Im Gegenteil: Es gibt eine große Nachfrage nach allen Freiwilligendiensten. Aktuell leisten circa 85 000 vorwiegend junge Menschen in Deutschland ein freiwilliges Jahr. Circa 35 000 von ihnen haben einen Platz im Bundesfreiwilligendienst - in einem Dienst, den Union und FDP im Hauruckverfahren im vergangenen Jahr eingeführt haben und der das bewährte System der Jugendfreiwilligendienste in eine Schieflage gebracht hat, weil die Qualität der Angebote hinter der Quantität weit zurücksteht. Vor diesem Hintergrund haben wir gemeinsam mit der SPD den vorliegenden Antrag eingebracht, um wenigstens die groben Probleme kurzfristig anzugehen. Mit der Einführung des Bundesfreiwilligendiensts durch die Bundesregierung am 1. Juli 2011 entstanden Risse in der Erfolgsgeschichte der Freiwilligendienste und eine große Verunsicherung für alle Beteiligten. Wäre die jahrelange Erfahrung der Träger bei Einführung des neuen Bundesfreiwilligendiensts nicht vorhanden gewesen, hätten sie nicht die Freiwilligen und Einsatzstellen unterstützt und wären sie darüber hinaus nicht in finanzielle Vorleistung gegangen, dann gäbe es den Bundesfreiwilligendienst ein Jahr nach seiner Einführung so nicht mehr. An dieser Stelle also ein großes Lob an die Träger und Einsatzstellen, die die Einführung des Bundesfreiwilligendiensts zu einem Erfolg gemacht haben! Und ein Lob an die Freiwilligen, die sich nicht haben verunsichern lassen! „Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher Verantwortung stärken“ ist Titel und Ziel unseres Antrags. Das bedeutet für uns Grüne, dass das Subsidiaritätsprinzip flächendeckend für alle Freiwilligendienste gelten muss. Traditionell sind unsere Inlandsfreiwilligendienste FÖJ und FSJ und ihre vielen Facetten in den Bereichen Kultur, Sport, Politik, Denkmalschutz usw. zivilgesellschaftlich organisiert. Der Bundesfreiwilligendienst untergräbt dieses Prinzip, indem der Staat - mittels des „neuen“ Bundesamts für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben, kurz BAFzA, und seiner Bildungszentren - die zentrale Steuerungsfunktion übernimmt und gleichzeitig als Zentralstelle fungiert. Diese Doppelrolle muss beendet werden. Die Träger haben ausreichend Erfahrung im Umgang mit Freiwilligen. Die Verwaltungsstruktur des BAFzA dagegen ist überdimensioniert, schwerfällig und teuer. Außerdem muss die Rolle der Bildungszentren entsprechend angepasst werden. Die Qualität von Bildung und pädagogischer Begleitung der bewährten Jugendfreiwilligendienste muss wieder unbedingter Maßstab werden. Die staatlich geführten Bildungszentren bereiten den Trägern in ihrer Ausrichtung als „Nachfolgeeinrichtung“ der Zivildienstschulen Probleme in der pädagogischen Begleitung und Passgenauigkeit. Die Träger haben momentan keine Möglichkeit der Einflussnahme auf das Curriculum der staatlichen Bildungszentren. Die Vielfalt der unterschiedlichen Akteure in den Freiwilligendiensten geht dadurch verloren und weicht einem Zentralangebot, das nur erhalten werden muss, um den Fortbestand der Zivildienstschulen zu sichern. Hier sollten sich BAfzA und Familienministerium einmal beim Verteidigungsminister erkundigen, der überflüssige Strukturen nach der Aussetzung der Wehrpflicht abschafft und Kasernen schließt. Schließlich wollen wir die Teilhabe der Freiwilligen im Rahmen ihres Freiwilligendiensts gewährleisten. Denn es kann nicht nur darum gehen, die Freiwilligen in die Pflicht zu nehmen. Engagement braucht Raum für Kreativität, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Hierfür ist eine fundierte Evaluation für die Weiterentwicklung der Freiwilligendienste dringend nötig. Kurzfristig müssen Zwischenergebnisse der Evaluation die Weiterentwicklung begleiten, um unter anderem die Arbeitsmarktneutralität sicherzustellen und den steigenden Abbrecherquoten entgegenzuwirken. Es gibt noch viel zu tun, bis die Struktur der Freiwilligendienste insgesamt aus einem Guss ist. Es gibt noch viel zu tun, bis der Bundesfreiwilligendienst ein echter Freiwilligendienst ohne staatliche Fernsteuerung ist und bis sich der Dschungel der Freiwilligendienste für junge engagierte Menschen gelichtet hat. Die Bundesregierung muss endlich handeln und das lange angekündigte Freiwilligendienstestatusgesetz vorlegen. Auch dazu fordern wir sie mit unserem Antrag auf.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9926 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Tagesordnungspunkt 37: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP Für effektive EU-Regeln zur Beteiligungstransparenz an börsennotierten Unternehmen und die Möglichkeit des Stimmrechtsverlustes von Aktionären bei Verstößen gegen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a des Wertpapierhandelsgesetzes in der Fassung des Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetzes - Drucksache 17/9940 Die Reden sind zu Protokoll genommen.

Ralph Brinkhaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004021, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Einige spektakuläre Übernahmefälle in der Vergangenheit haben gezeigt, wie wichtig die Beteiligungstransparenz für die betroffenen Unternehmen, AnteilsRalph Brinkhaus eigner und Arbeitnehmer ist. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die bestehenden Regelungen nicht ausreichten, da sie durch die Nutzung von Finanzinstrumenten, die der Meldepflicht nicht unterlagen, umgangen werden konnten. So konnten unerkannt Stimmrechtspositionen an Unternehmen aufgebaut werden. Man spricht diesbezüglich auch von „Anschleichen“. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts, das zu Beginn des vergangenen Jahres verabschiedet wurde, haben wir die Meldepflichten daher deutlich ausgeweitet. Mit dem neuen § 25 a WpHG wurde ein Auffangtatbestand geschaffen, um alle bekannten, aber auch alle noch nicht angewendeten Strategien zur Verschleierung des Aufbaus von Beteiligungen zu erfassen. Es werden alle Instrumente erfasst, die es ihrem Inhaber faktisch oder wirtschaftlich ermöglichen, mit Stimmrechten verbundene und bereits ausgegebene Aktien eines Emittenten zu erwerben. Der neue § 25 a WpHG ist daher ein geeignetes Mittel, um - der Kreativität der Finanzbranche trotzend - in zukünftigen Fällen ein Anschleichen wirksam zu verhindern. Wir haben dies national festgelegt, haben aber großes Interesse daran, dass diese Regelung auch europaweit gilt. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, dieses Anliegen im Rahmen der Verhandlungen über den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Novellierung der Transparenzrichtlinie einzubringen. Zu einem wirksamen Verbot gehört aber auch eine wirksame Sanktionierung bei Verstößen gegen dieses Verbot. Ein Verstoß gegen die Transparenzvorschriften des WpHG ist eine Ordnungswidrigkeit, die bisher mit einem Bußgeld bis zu 1 Million Euro geahndet werden kann. Das Bußgeld ist im Vergleich zu Bußgeldandrohungen in anderen Rechtsgebieten sehr hoch. Bei den immensen Werten, um die es beim versuchten Anschleichen geht, steht aber zu befürchten, dass auch diese hohe Bußgeldandrohung keine ausreichend abschreckende Wirkung hat. Daher haben wir bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts zugesagt, zu prüfen, ob die bestehenden Sanktionen ausreichen. Zwar sind weitere negative Folgen mit einem Melderechtsverstoß verbunden. So gibt es beispielsweise die Möglichkeit der Vorteilsabschöpfung, unter bestimmten Umständen auch strafrechtliche Konsequenzen und in jedem Fall einen erheblichen Reputationsschaden. Insgesamt erscheint es uns aber dennoch notwendig, im Falle einer vorsätzlichen Zuwiderhandlung gegen die Transparenzvorschriften der §§ 25, 25 a WpHG auch die Möglichkeit eines vorübergehenden Stimmrechtsverlustes vorzusehen. Denn mit einem Stimmrechtsverlust verliert derjenige, der verdeckt eine Position aufbaut, die Möglichkeit, die erworbenen Stimmrechte und Mehrheiten einzusetzen. Mit dieser Sanktionsandrohung wird jedem Erwerber der Anreiz genommen, verdeckt vorzugehen; denn sie trifft ihn in seinem Grundanliegen. Die Sanktion des Stimmrechtsverlustes trägt daher dazu bei, das Anschleichen effektiv zu verhindern. Die bereits erwähnte Novellierung der Transparenzrichtlinie ist eine gute Gelegenheit, die bestehenden deutschen Regelungen um die Möglichkeit zur Stimmrechtsaussetzung zu ergänzen. Denn wir legen großen Wert darauf, dass wir bei diesem doch sehr weitgehenden Eingriffsinstrument europaweit abgestimmt handeln. Auch wenn ein nationaler Alleingang in anderen Fällen von Vorteil sein kann, würde er in diesem Fall mehr schaden als nützen. Zum einen ginge es nicht um die Einführung der Meldepflicht - diese haben wir bereits eingeführt. Es ginge lediglich um die Verschärfung der Sanktionen bei einem Verstoß gegen diese Meldepflichten. Zum anderen rechnen wir mit einem baldigen Abschluss der Verhandlungen. Das grundsätzlich mögliche nationale Vorangehen wäre nur von kurzer Dauer. Dies würde unter den Marktteilnehmern wahrscheinlich mehr Verwirrung als Respekt für die neuen Meldetatbestände schaffen. Es ist uns daher wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag entsprechend positioniert und die Bundesregierung bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene aktiv begleitet. Konkret geht es dabei um folgende drei Punkte: Erstens wollen wir erreichen, dass die harmonisierten Regeln zur Beteiligungstransparenz nicht hinter dem in Deutschland durch die §§ 25, 25 a WpHG erreichten Standard zurückbleiben. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, für Meldepflichten einen Auffangtatbestand zu schaffen, auch wenn wir dadurch nicht heute schon alle Instrumente konkret benennen können, die unter die Meldepflicht fallen. Mit dieser gewissen Unsicherheit zu leben, ist besser, als immer neuen Gestaltungen mit angepassten Regelungen hinterherzulaufen. Daher wäre es wichtig, dass auch die Transparenzrichtlinie einen Auffangtatbestand nach deutschem Vorbild enthält. Zweitens wollen wir erreichen, dass als mögliche Sanktion bei vorsätzlichen Verstößen gegen Meldepflichten, die auf der Transparenzrichtlinie beruhen und der Beteiligungstransparenz dienen, die Möglichkeit eines vorübergehenden Stimmrechtsverlusts eingeführt wird. Diese Sanktionsandrohung soll die Erfüllung der Meldepflichten beim Aufbau einer Beteiligung sicherstellen. So können wir Fälle, in denen ein Anschleichen zur Vorbereitung einer Übernahme versucht wird, wirkungsvoll verhindern, da es im Falle einer geplanten Übernahme gerade auf die Ausübung der Stimmrechte ankommt. Drittens erwarten wir eine zügige Verabschiedung der Transparenzrichtlinie. Wir streben an, die Richtlinie nach Inkrafttreten schnell - möglichst noch in dieser Legislaturperiode - in deutsches Recht umzusetzen. Dabei wollen wir darauf achten, gleiche Wettbewerbsbedingungen für börsennotierte Unternehmen in Deutschland und den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union sicherzustellen. Die Ergebnisse der bisherigen Verhandlungen im Rat zeigen, dass die Bundesregierung erfolgreich im Sinne des vorliegenden Antrages tätig ist. Vor den anstehenden abschließenden Beratungen im Rat und dem sich anZu Protokoll gegebene Reden schließenden Trilogverfahren wollen wir mit diesem Antrag die Verhandlungsposition der Bundesregierung noch einmal gezielt stärken. Ich bitte Sie daher um Zustimmung zu unserem Antrag.

Ingo Egloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„Creeping in“, das unbemerkte Anschleichen von Investoren an große Aktiengesellschaften, verfolgt das Ziel der Übernahme einer kontrollierenden Beteiligung. Diese Praxis soll europaweit durch Beteiligungstransparenz im Aktienrecht verhindert werden. Deshalb gibt es bei börsennotierten Aktiengesellschaften Melde- und Offenlegungspflichten ab einem Paketanteil von 3 Prozent. Auch Optionsgeschäfte, mit denen nur das Recht erworben wird, Aktien in diesem Umfang erwerben zu können, müssen nach dem Wertpapierhandelsgesetz offengelegt und veröffentlicht werden, § 25 a WpHG. Verstöße sind bußgeld- und unter Umständen auch strafbewehrt. Außerdem droht nach dem deutschen Wertpapierhandelsgesetz bei einem Verstoß gegen die Mitteilungspflichten ein vorübergehender, sechsmonatiger Stimmrechtsverlust aus den Aktien, wenn sie selbst gehalten oder zugerechnet werden, zum Beispiel bei Sicherungsübertragung an einen Dritten, § 28 WPHG. Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag für eine Änderung der Transparenzrichtlinie, 2007/14/ EC ({0}) vorgelegt, mit dem sie eine Maximalharmonisierung der Beteiligungsmeldungen anstrebt. Die Sanktionen für Verstöße gegen Meldepflichten sollen drastisch bis zu einer Höhe von 10 Prozent des Konzernumsatzes angehoben werden, so Art. 28 a Nr. 2 d, und Meldepflichten soll es künftig - wie im deutschen Recht - auch für Optionsgeschäfte geben, steht in Art. 13 des Richtlinienvorschlags. Der Koalitionsantrag fordert die Bundesregierung auf, die Kommission bei diesem Vorschlag zu unterstützen. Die europäisch vorgegebenen Mitteilungspflichten dürften nicht hinter dem nationalen Recht, insbesondere hinter § 25 a Wertpapierhandelsgesetz, zurückbleiben. § 25 a Wertpapierhandelsgesetz regelt die Mitteilungspflichten auch bei Optionsgeschäften. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Forderung, den Richtlinienvorschlag der Kommission betreffend Mitteilungspflichten für Optionsgeschäfte zu unterstützen. Die Schutzmechanismen sollten nach unserer Auffassung aber nicht nur börsennotierte Unternehmen im Auge haben. Die Forderung nach weiteren gesetzlichen Maßnahmen bezüglich des Umfangs der Beteiligungstransparenz - trotz Änderungen durch das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz - wird insbesondere von Vertretern der Unternehmen und Gewerkschaften, aber auch mehrheitlich von Investmentbankern befürwortet, während die Rechtsberater und Wissenschaftler mehrheitlich das Transparenzniveau für ausreichend halten. Außerdem soll nach Art. 28 Nr. 2 c des Richtlinienänderungsvorschlags die zuständige Behörde die Befugnis zur vorübergehenden Aussetzung von Stimmrechten bei Verstoß gegen die Meldepflichten erhalten. Der Koalitionsantrag fordert die Bundesregierung deshalb auf, darauf hinzuwirken, dass die Mitgliedstaaten als Sanktion die Aussetzung von Stimmrechten vorsehen müssen. Diese Verschärfung des Richtlinienvorschlags unterstützen wir, weil der Stimmrechtsverlust die wichtigste Sanktion gegen unbemerktes Anschleichen darstellt. Er ist wirksamer als Ordnungswidrigkeitentatbestände. Vor Einführung der Sechsmonatsfrist im deutschen Wertpapierhandelsgesetz war es gängige Praxis, zwischen zwei Hauptversammlungen unerkannt ein relevantes Paket aufzubauen und erst kurz vor der Hauptversammlung die Meldepflicht zu erfüllen, um dann das Stimmrecht auszuüben. Das muss auch auf europäischer Ebene unterbunden werden. Denkbar wäre über den vorliegenden Antrag hinaus, die in Folge einer nicht korrekten Meldung einem Aktionär nach § 28 WpHG nicht zustehenden Dividendenzahlungen als Sanktion - gegebenenfalls auch nur teilweise - verfallen zu lassen bzw. sie zugunsten der Staatskasse einzuziehen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag. Gestatten Sie mir allerdings noch eine Bemerkung zur Art und Weise, wie der Antrag von CDU/CSU und FDP eingebracht wurde. Wie Sie wissen, haben wir mehrfach unseren Wunsch bekräftigt, Aufforderungen an die Bundesregierung bezüglich europäischer Verfahren im Einvernehmen zwischen Koalition und Opposition zu verfassen. Leider ist hier erneut versäumt worden, sich an diese Gepflogenheit zu halten, was wir sehr bedauern.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit unserem Antrag führen wir der Bundesregierung bei den Verhandlungen über den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Transparenzrichtlinie in einer Detailfrage die Feder. Es geht um die Transparenz von Beteiligungsverhältnissen an börsennotierten Aktiengesellschaften. Wer eine Beteiligung an einer börsennotierten Aktiengesellschaft erwirbt oder ausbaut, muss dies offenlegen. Das ist schon lange so. Problematisch sind Verstöße gegen diese Transparenzpflicht. Wir müssen uns mit der Frage befassen, was passieren soll, wenn jemand eine Beteiligung nicht meldet, die er melden muss. Ganz einfach ist dies nicht zu beantworten. Das liegt an dem Spannungsfeld, in dem wir uns hier bewegen. Zunächst ist da die Frage der Sanktionierung eines Verstoßes. Im Grunde stehen uns hier nur Bußgelder zur Verfügung. Doch diese haben keine ausreichende abschreckende Wirkung. Wer eine Milliardenübernahme stemmt, der stört sich nicht an einem Millionenbußgeld. Das ist der Grund, warum wir schon seit längerem über eine Aussetzung des Stimmrechts nachdenken. Damit könnten wir das nötige Abschreckungsniveau erreichen. Es stört den Übernehmer empfindlich, wenn er die Stimmrechte aus unter Verstoß gegen die Transparenzvorschriften erworbenen Anteilen nicht ausüben darf. Dann aber laufen wir in ein Problem der Rechtssicherheit. Ein Verstoß gegen Transparenzvorschriften kommt üblicherweise erst später ans Licht. Er kommt häufig sogar erst so spät ans Licht, dass eine Hauptversammlung bereits durchgeführt wurde und die Stimmrechte ausgeübt worden sind, die eigentlich ausgesetzt Zu Protokoll gegebene Reden sein sollten. Nun stehen wir vor einem erneuten Dilemma, wenn wir die so gefassten Hauptversammlungsbeschlüsse als unwirksam behandeln. Denn dann verlagert sich das Risiko der Rechtsverletzung vom Übernehmer auf die Gesellschaft und die anderen Aktionäre. Diese wissen nicht, welche Beschlüsse gültig sind. Dabei sollen die Konsequenzen des Verstoßes doch bei dem liegen, der die Transparenzregeln verletzt. Wenn wir die Beschlüsse der Hauptversammlung dagegen als gültig betrachten, dann ist die Stimmrechtsaussetzung folgenlos, weil die für den Übernehmer wichtigen Beschlüsse schon gefasst worden sind. Schließlich ist zu beachten, dass die nationalen Gesellschaftsrechtstatute noch sehr verschieden sind. Sie sind - und so muss es auch sein - nicht harmonisiert. Wir wollen einen Wettbewerb der Rechtsformen in Europa. Wegen der Niederlassungsfreiheit kann jeder deutsche Gründer unter vielen europäischen Rechtsformen wählen und die passende aussuchen. Das Gleiche gilt für erfolgreiche gestandene Unternehmen. Die Vielfalt der Angebote führt zu einem race to the top zum Nutzen aller, wie wir es aus dem weltweit führenden amerikanischen Gesellschaftsrecht kennen. Diesen tatsächlichen, rechtspolitisch auch gewollten Befund galt es hier zu berücksichtigen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, einen großen nationalen Umsetzungsspielraum zu verhandeln. Je weniger die Richtlinie vorschreibt, desto mehr nationalen Umsetzungsspielraum haben wir, um den Interessen der Gesellschaften und Anteilseigner gerecht werden zu können. Deshalb ist es gut, dass wir die Möglichkeit der Stimmrechtsaussetzung auf vorsätzliche Verstöße beschränken. Deshalb ist es auch gut, dass die Stimmrechtsaussetzung nicht zwingend ist, sondern nur eine mögliche und vorübergehende Folge ist. Wenn die Richtlinie schließlich verhandelt ist, dann haben wir den nötigen Raum zum Manövrieren auf nationaler Ebene, den wir dann später eigenständig und in Übereinstimmung mit den europäischen Vorgaben füllen werden.

Harald Koch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004076, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Anschleichen und bereit machen zum Entern! Nein, wir reden heute nicht über die Piratenpartei, aber gewissermaßen über Freibeuter des Kapitalmarkts. Ob Hochtief, Continental oder Porsche, das Anschleichen, das überfallartige Aufkaufen bzw. die Übernahme börsennotierter Unternehmen standen in den vergangenen Jahren öfters im Blickpunkt. Die modernen Freibeuter sicherten sich beispielsweise große Aktienpakete und betrieben einen verdeckten Ausbau ihrer Beteiligung an einem börsennotierten Unternehmen. Durch Anschleichen sollen Übernahmekosten verringert werden, denn bei Bekanntwerden eines Übernahmeinteresses steigt der Börsenkurs des angegriffenen Unternehmens. Um diesem heimlichen, verdeckten Agieren teilweise vorzubeugen, wurde auf europäischer Ebene die Transparenzrichtlinie entwickelt. Die Richtlinie will die Unterrichtung der Anleger über die Ergebnisse und Finanzlage börsennotierter Unternehmen sowie über Änderungen größerer Beteiligungen verbessern. In Deutschland sollte das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz, das im Februar dieses Jahres in Kraft trat, den Freibeutern das Handwerk legen. Zusätzliche Melde- und Veröffentlichungspflichten bei der feindlichen Übernahme von Unternehmen wurden darin beschlossen und ins Wertpapierhandelsgesetz, WpHG, übernommen. Wer Instrumente hält, die ihm den Erwerb börsennotierter Aktien ermöglichen, muss dies bei Überschreiten bestimmter Beteiligungsschwellen der Gesellschaft mitteilen. Die Gesellschaft bzw. das Unternehmen muss diese Mitteilungen veröffentlichen. So soll Beteiligungstransparenz erreicht werden. Die Linke unterstützt Regeln, die ein unbemerktes Anschleichen an Unternehmen verhindern. Höhere Transparenz- und Offenlegungspflichten sind für mögliche Zielgesellschaften und ihre Beschäftigten vorteilhaft. Die bisherigen Regeln sehen wir aber nicht als ausreichend an. Denn die erweiterten Mitteilungspflichten der §§ 25 und 25 a WpHG ändern kaum etwas daran, dass das deutsche Aktien- und Kapitalmarktrecht börsennotierte Unternehmen grundsätzlich dazu zwingt, übernahmeoffen zu sein. Unternehmen und ihre Beschäftigten bleiben der Gefahr ausgesetzt, dass sich Finanzinvestoren oder Großkonzerne an sie heranschleichen und sie gegen den ausdrücklichen Willen von Vorständen und Betriebsräten übernehmen, mit Schulden überhäufen und der Gefahr des Zugrundewirtschaftens sowie des Arbeitsplatzverlusts aussetzen können. Werden gemäß dem Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz Mitteilungspflichten verletzt, gilt dies als Ordnungswidrigkeit und zieht eine Geldbuße nach sich. Ein Verstoß gegen die Mitteilungspflichten für Finanzinstrumente nach § 25 a WpHG löst jedoch keinen Stimmrechtsverlust aus. In dem heute zur Debatte stehenden Antrag von Union und FDP wird gefordert, dass die EU-Mitgliedstaaten als Sanktion für vorsätzliche Verstöße gegen Mitteilungspflichten, die auf der Transparenzrichtlinie beruhen und der Beteiligungstransparenz dienen, die Möglichkeit einer Stimmrechtsaussetzung vorsehen müssen. Das heißt, ein Freibeuterinvestor, der Geschäfte nach §§ 25 und 25 a WpHG nicht meldet, muss befürchten, dass ihm die Stimmrechte aus den Aktien, wenn er sie denn später erwirbt, streitig gemacht werden. Union und FDP betonen dabei stets nur den „vorübergehenden“ Verlust der Stimmrechte eines meldepflichtigen Aktionärs. Im Ganzen stellt diese weitere Sanktionsmöglichkeit sicherlich einen Fortschritt dar. Dieser ist aber immer noch nicht ausreichend. Ob das angekündigte „scharfe Schwert“ wirklich so scharf ist, ist zu bezweifeln. Es bleibt fraglich, ob und in welchem Umfang die Sanktionsmöglichkeiten überhaupt greifen und abschrecken. Zudem bleibt das Grundproblem, dass Unternehmen grundsätzlich übernahmeoffen sein müssen, wenn sie sich über die Börse rekapitalisieren wollen, was auch Monopolisierungstendenzen vergrößert. Dies alles wird durch das deutsche Aktienrecht verstärkt, welches Marktfreiheit in der Regel höher als Vertragsfreiheit bewertet. So ist es nicht möglich, dass offen agierende Aktionäre eines Unternehmens selbst erweiterte Offenlegungspflichten oder StimmrechtsregelunZu Protokoll gegebene Reden gen in ihrer Satzung festlegen. In der Folge scheiden im deutschen Aktienrecht sinnvolle Regelungen aus, zum Beispiel Erwerbsbegrenzungen von Aktien, wie in der Schweiz üblich, oder Mehrfachstimmrechte für langfristig investierende Aktionäre bzw. Mehrstimmrechtsaktien wie in Frankreich oder Schweden. Die Linke fordert, den Zielunternehmen und ihren Belegschaften das Recht einzuräumen, selbst zu bestimmen, wer und in welchem Umfang Unternehmensanteile erwerben kann. Im Grunde sollten Investoren gezwungen werden, ihre Beteiligungen an Unternehmen wieder langfristiger auszurichten, um nicht in Versuchung zu geraten, das eigene Geschäftsmodell auf dem Rücken der Beschäftigten und zulasten des nachhaltigen Wachstums eines Unternehmens durchzudrücken. Deshalb ist es aus meiner Sicht nötig, das Stimmrecht an die Haltedauer der Aktien zu koppeln. Wenn es dann doch zur Übernahme oder Fusion kommt, will die Linke vor allem die Beschäftigtenrechte stärken. Die Auskunfts- und Mitbestimmungsrechte der Belegschaften, Aufsichtsratsvertreter und Gewerkschaften müssen erweitert werden. Gewerkschaften brauchen einen gesetzlichen Anspruch auf Abschluss eines Fusionstarifvertrags zum Erhalt sozialer und tariflicher Standards. Ein Vetorecht für den Betriebsrat des betroffenen Unternehmens gegen Übernahmen ist nötig. Beschäftigte müssen ferner im Übernahmerat der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht paritätisch vertreten sein. Der öffentlichen Hand muss schließlich ein Vetorecht bei Übernahmen mit großem öffentlichem Interesse, zur Verhinderung von Unternehmenskonzentration und zur Beschäftigungssicherung eingeräumt werden. Mit ihrem Antrag werden Sie das Anschleichen an Unternehmen und die „feindliche Übernahme“ nicht verhindern können. Zielunternehmen und ihre Beschäftigten brauchen hier mehr Rechte. Die Linke nimmt im Gegensatz zu Ihnen Existenzängste von Beschäftigten eines betroffenen Unternehmens sehr ernst. Den Freibeutern des Kapitalmarkts ist das Handwerk zu legen, damit niemand mehr auf hoher See und auf dem Kapitalmarkt hilflos ausgeliefert ist.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir beraten heute über den Antrag der Koalitionsfraktionen für effektive EU-Regeln zur Beteiligungstransparenz an börsennotierten Unternehmen und die Möglichkeit des Stimmrechtsverlusts von Aktionären bei Verstößen gegen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a Wertpapierhandelsgesetz in der Fassung des Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetzes. Die Tatsache, dass wir einen solchen Antrag hier in diesem Hause debattieren, ist begrüßenswert. Hintergrund ist, dass auf EU-Ebene derzeit im Rahmen der Revision der Transparenzrichtlinie die Kommissionsvorschläge für eine verbesserte Durchsetzung der Mitteilungspflichten diskutiert werden. Ich bin jedoch einigermaßen verwundert und auch enttäuscht, warum wir diesen Antrag ohne inhaltliche Ausschussberatung heute sofort abstimmen müssen. Seit langem ist die Überarbeitung der Transparenzrichtlinie auf europäischer Ebene bekannt. Warum der Antrag nun so eilig beschlossen werden muss, ist mir unverständlich und offenbart eine mangelnde Abstimmung und auch Versäumnisse in den Reihen der Koalition. Im November letzten Jahres haben wir im Finanzausschuss in einvernehmlichem Rahmen ein inhaltlich aufschlussreiches Fachgespräch zur Überprüfung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Übernahmerechts und der möglichen Benachteiligung deutscher Unternehmen durchgeführt. Dort spielten die neuen Meldepflichten aus den §§ 25, 25 a Wertpapierhandelsgesetz und insbesondere die Frage der Rechtsfolgen bei Verstößen eine entscheidende Rolle. Warum die Koalitionsfraktionen nun ein halbes Jahr später nicht einmal versuchen, zu einem fraktionsübergreifenden gemeinsamen Antrag mit der Opposition zu gelangen, ist mir schleierhaft. Ich hatte bereits im Mai 2011, als wir den Antrag der Koalitionsfraktionen zum Europäischen Zahlungsverkehr, SEPA, in einem ähnlichen Hauruckverfahren durch das Plenum brachten, meine Bedenken über das parlamentarische Verständnis dieser Koalition zum Ausdruck gebracht. Ich möchte noch einmal betonen, dass den Stellungnahmen des Bundestages ein weitaus größeres Gewicht zukommt, wenn wir gemeinsam vorgehen und mit einer interfraktionellen Stimme zu europäischen Themen und Vorhaben sprechen. Diese Chance hat die schwarz-gelbe Koalition heute wieder einmal verpasst. So viel zum Verfahren - ich komme zum Inhaltlichen. Wir begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen im vorliegenden Antrag die Bundesregierung auffordern, sich bei den Verhandlungen über den Kommissionsvorschlag dafür einzusetzen, dass die der Beteiligungstransparenz dienenden Mitteilungspflichten in ihrer durch die revidierte Transparenzrichtlinie harmonisierten Form in ihrem Tatbestand nicht hinter den §§ 25 und 25 a Wertpapierhandelsgesetz zurückbleiben. Erst mit dem im April 2011 verkündeten Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz wurde national die Pflicht zur Meldung sogenannter Erwerbsrechte im Sinne des § 25 Wertpapierhandelsgesetz um „sonstige Instrumente“ ergänzt und eine Meldepflicht für Instrumente mit wirtschaftlicher Zugriffsmöglichkeit auf Aktien nach § 25 a Wertpapierhandelsgesetz eingeführt. Damit sollte der heimliche Aufbau größerer Beteiligungen verhindert werden. Damals war - unabhängig von der Kritik aus der Wissenschaft, dass die neuen Meldepflichten bestimmte Strategien zur Umgehung der Beteiligungstransparenz und Instrumente nicht erfassen - bereits klar, dass es zur Absicherung der neuen Meldepflichten jedenfalls geeigneter Sanktionen bei Meldepflichtverstößen bedarf. Klar war auch, dass die dafür vorgesehene Erhöhung des Bußgeldrahmens von zuvor 200 000 Euro auf zunächst 500 000 Euro - Diskussionsentwurf - und sodann auf 1 Million Euro nicht mehr als ein stumpfes Schwert sein kann. Der Grund dafür, dass selbst ein Bußgeld in Höhe von 1 Million Euro nicht in der Lage ist, die Einhaltung der neuen Meldepflichten sicherzustellen, liegt in den immensen Vorteilen und Erträgen von größeren Übernahmetransaktionen. Inwieweit diese das maximale Bußgeld übersteigen, zeigt exemplarisch der Fall ContiZu Protokoll gegebene Reden nental/Schaeffler, wo von Einsparungen durch Optionsgeschäfte von 145 Millionen Euro die Rede ist. Bei der Beschlussfassung zum Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz verständigte man sich sodann auf ein Fachgespräch, um der Frage nachzugehen, ob „abschreckendere Sanktionen für Verstöße gegen die neuen Meldepflichten nach § 25 a Wertpapierhandelsgesetz ergriffen werden sollten und wie diese auszugestalten sind“. Der heute diskutierte Antrag stellt fest, dass vorsätzliche Verstöße gegen die Pflichten aus den §§ 25, 25 a Wertpapierhandelsgesetz die Möglichkeit eines vorübergehenden Verlusts der Stimmrechte des meldepflichtigen Aktionärs nach sich ziehen sollten. Da die Absicherung der neuen Meldepflichten auf der Rechtsfolgenseite nur mit einem scharfen Schwert gelingen kann, ist dieses Ansinnen zu begrüßen. Leider bleibt die Ausgestaltung eines solchen Stimmrechtsverlusts jedoch ziemlich vage. Entscheidend ist gerade die Beantwortung der Frage, ob es einen Stimmrechtsverlust ipso iure, eine Anordnung der Aufsicht oder ein Antragsrecht der Aufsicht mit einer gerichtlichen Entscheidung geben soll. Leider schweigt der Antrag zu diesem Punkt. Gleichfalls gibt der Antrag keinerlei Antwort darauf, dass zusätzliche Sanktionen in Form des Stimmrechtsverlusts auch das Anfechtungspotenzial von Beschlüssen in Hauptversammlungen erhöhen, was unter Umständen die Falschen trifft. Darauf hatten die Sachverständigen im Rahmen des Fachgesprächs einvernehmlich hingewiesen. Festzuhalten bleibt damit, dass der Antrag kaum Aufschluss gibt zu konkreten Punkten einer möglichen Ausgestaltung eines auf Verstöße gegen die neuen Meldepflichten erweiterten Stimmrechtsentzugs. Wir werden uns daher enthalten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9940. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und SPD. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Tagesordnungspunkt 40: Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Groschek, Uta Zapf, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Katja Keul, Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für einen wirkungsvollen UN-Waffenhandelsvertrag ({2}) - Drucksache 17/9927 In der Tagesordnung lesen Sie, dass die Reden zu Protokoll genommen worden sind.

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der weltweite Handel mit konventionellen Waffen findet seit langer Zeit in besonderem Maße das Interesse der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft. Bislang werden jedoch nur Teile des internationalen Waffenhandels durch einzelne Verträge reguliert. Zu nennen ist hier beispielsweise das „Ottawa-Protokoll“ von 1997 zum Handel mit Landminen oder auch die „Konvention über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen“ von 1980, die Waffen verbietet, welche unterschiedslos wirken oder besonderes Leiden verursachen, zum Beispiel Brandwaffen oder blindmachende Laserwaffen. Ein rechtlich verbindliches Dokument, das den globalen Handel mit konventionellen Waffen, zum Beispiel Kampfpanzern und -flugzeugen oder Kleinwaffen, umfassend reguliert, fehlt jedoch bislang. Das nicht vorhandene Exportkontrollsystem im Bereich Rüstungsgüter hat ausufernde illegale Waffenmärkte und Waffenmissbrauch in Konflikten zur Folge. Insbesondere kleine und leichte Waffen werden weltweit in großer Zahl für schwere Menschenrechtsverletzungen benutzt. Keine andere Waffenart fordert in Kriegen und Bürgerkriegen mehr Opfer. Kleine und leichte Waffen sind die Waffen der Warlords, des Terrorismus, des organisierten Verbrechens. Es sind die Waffen, mit denen heute weltweit über 300 000 Kinder als Soldaten in den Krieg geschickt werden. Gerade in vielen Staaten der MENA-Region, also die Staaten von Marokko bis Iran, sind kleine und leichte Waffen eine Gefahr für das Individuum und die Gesellschaften. Schätzungen zufolge zirkulieren 50 bis 90 Millionen Kleinwaffen in der Region, von denen 80 Prozent in den Händen der Zivilbevölkerung sind. In der MENARegion gibt es verschiedenste offene Konflikte, was die Proliferationsgefahr noch verstärkt. Hier müssen wir als internationale Gemeinschaft dringend aktiv werden. Schon seit den 1990er-Jahren verhandeln wir über einen Handelsvertrag für konventionelle Waffen. Dabei geht es nicht um ein generelles Verbot des Handels mit Rüstungsgütern, sondern um die Sicherstellung eines verantwortungsvollen Umgangs mit ihnen. Von Anfang an hat die Bundesregierung diesen Prozess aktiv begleitet und den Abschluss eines internationalen Abkommens zur Regulierung des legalen Handels mit konventionellen Rüstungsgütern vorangetrieben. Im Juli dieses Jahres haben wir nun erstmals die Chance, ein solches Abkommen - den ATT - zu verabschieden. Von Anfang an wurde der Verhandlungsprozess von Nichtregierungsorganisationen und der Zivilgesellschaft unterstützt. Ohne sie und ihre tatkräftige Lobbyarbeit und Unterstützung wäre der Prozess nicht so weit fortgeschritten. Dafür möchte ich der Zivilgesellschaft ein großes Kompliment aussprechen. Der ATT ist für uns vor allem wichtig, weil er ein wirksames Instrument vernetzter Sicherheit sein kann und als Mittel der zivilen Krisenprävention bereits bei der Konfliktvermeidung ansetzt - und nicht erst, wenn es zu spät ist. Damit werden wir auch der ersten Säule der Responsibility to Protect, R2P, der Responsibility to Prevent, gerecht. Mir kommt es in der Sicherheitspolitik auf die Vernetzung vorhandener Strukturen und Fähigkeiten an, um wirkungsvolle Krisenprävention, Frühwarnfä22098 higkeit und rasches Handeln besser zu verknüpfen. Das reduziert auch den Aufwand in der Krisennachsorge und verzahnt bisher parallel, aber nicht synergetisch wirkende Handlungsfelder. Wie bereits ausgeführt ist die Gefahr illegalen Waffenhandels in der MENA-Region besonders virulent. Hier - nur als ein Beispiel - käme der ATT mustergültig zur Anwendung und wird dringend gebraucht. Wie es der Antrag von SPD und Grünen fordert, will Deutschland mit dem ATT international rechtlich verbindliche Standards für den Handel mit konventionellen Rüstungsgütern auf hohem Niveau etablieren. Uns geht es um die Wahrung von Frieden, Sicherheit und Stabilität, um die Prävention von bewaffneten Konflikten im Sinne einer zivilen Krisenprävention und um die Abwehr von Terrorismus und Kriminalität. In diesem Sinne vertreten wir, vertritt unser Land, eine der positivsten und aufgeschlossensten nationalen Positionen gegenüber dem ATT. Nach unserer Vorstellung sollte sich der ATT auf sämtliche konventionellen Rüstungsgüter erstrecken, insbesondere auf kleine und leichte Waffen sowie Munition. Ein ATT sollte zudem einen klaren Kriterienkatalog für Waffenausfuhren beinhalten - mit höchstmöglichen Mindeststandards bei der Genehmigung von Rüstungstransfers. Insbesondere die Beachtung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht, die Bewahrung der regionalen Stabilität und die Berücksichtigung der inneren Lage im Empfängerland sollten dabei eine Rolle spielen. Weitere Priorität beim ATT ist für uns ein wirksames System zur Endverbleibssicherung sowie ein nach Transferarten differenziertes nationales Kontrollsystem. Bei den Verhandlungen im Juli dieses Jahres in New York muss die Bundesregierung deshalb darauf achten, erstens auf einen möglichst umfassenden Regulierungsbereich hinzuwirken und zweitens ein möglichst starkes Abkommen zu erzielen. Drittens muss auch die Anwendbarkeit des ATT gewährleistet sein, und das Abkommen muss viertens eine Chance auf Verabschiedung haben. Die Verhandlungen werden schwierig werden. Deshalb sollten wir uns für eine Überprüfungskonferenz bezüglich des ATT zwei bis drei Jahre nach Abschluss des Vertrags einsetzen, um gegebenenfalls Nachverhandlungen zu ermöglichen. Denn leider stehen nicht alle Staaten dem ATT so aufgeschlossen gegenüber wie wir. Gerade die großen Exporteure China, Russland oder auch die USA wollen sich nur ungern weitreichenden Beschränkungen unterwerfen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass es überhaupt eine Basis für gemeinsame Verhandlungen gibt. Wir werden uns jetzt nicht mit jeder weitreichenden Forderung durchsetzen können. Eine umfassende Kontrolle in allen Einzelheiten werden wir im Juli wohl nicht erreichen. Den privaten Waffenbesitz und illegale Märkte wird man mit dem ATT nicht direkt beeinflussen können. Trotz allem gilt für mich: Lieber im Juli Abschluss eines Vertrags, bei dem wir nachverhandeln, als gar kein Abschluss!

Michael Groschek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004044, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der gemeinsame Antrag von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen „Für einen wirkungsvollen UN-Waffenhandelsvertrag ({0})“, den wir heute ins Parlament einbringen, sollte ursprünglich ein gemeinsamer Antrag mit den Regierungsfraktionen werden. Nachdem mir die Kollegen Schnurr und Kiesewetter ihr grundsätzliches Einverständnis signalisiert hatten, ging es um die konkrete Umsetzung. In Anbetracht des Themas wäre ein gemeinsamer Antrag auch angebracht gewesen. Die Bundesregierung war von den mitbeteiligten Nichtregierungsorganisationen in der Vergangenheit für ihr Auftreten und ihre Positionen ausdrücklich gelobt worden. Ein gemeinsamer Antrag des deutschen Parlaments hätte die Regierung bei den abschließenden Verhandlungen im Juli dieses Jahres bei den Vereinten Nationen gestärkt. Doch es kam anders: Sobald es konkret werden sollte, wurden die Kollegen Kiesewetter und Schnurr wieder in die Büsche zurückgepfiffen. Der Kollege Kiesewetter entschuldigte sich mit Verweis auf den FDP-Kollegen Dr. Stinner, dass ein gemeinsamer Antrag nicht möglich sei. Der FDP-Kollege Schnurr wusste von all dem nichts und sein Büro wurde von dem meinen erstmalig über den Sachverhalt aufgeklärt. Aus dem zu diesem Zeitpunkt noch vorliegenden Einverständnis wurde so sehr schnell eine Ablehnung. Nun haben Bündnis 90/Die Grünen und die SPD einen Oppositionsantrag eingebracht, der die Schaffung einer sogenannten Implementation Support Unit, ISU, zum zentralen Gegenstand macht. Denn was auch immer bei den Verhandlungen im Sommer diesen Jahres bei den Vereinten Nationen herauskommt - die Überwachung des Handels mit konventionellen Rüstungsgütern und die damit einhergehende Auswertung der Berichte ist finanziell und personell zu gewährleisten. Des Weiteren macht sich der Antrag dafür stark, dass die Beachtung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Staats beim Handel mit Rüstungsgütern berücksichtigt werden soll, sowie, neben der Exportkontrolle, auch der Import, der Transit, die Lizenzherstellung und der Technologietransfer. Wenn es gelingt, endlich auch den Handel mit Kleinwaffen und deren Munition weltweit zu kontrollieren, wären wir einen guten Schritt weiter. Es existieren auf europäischer Ebene bereits einige gut funktionierende Kontrollregime der weiteren konventionellen Rüstungsgüter. Auch die europäische Rüstungsindustrie gibt bei den jetzigen Verhandlungen Rückendeckung. Dies machen sie natürlich nicht uneigennützig. Bisher hatten sie im Zweifel beim weltweiten Handel mitunter das Nachsehen, wenn ihr die bereits bestehenden Kontrollregime einen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Wenn es jetzt durch den ATT eine weltweit geltende Regelung geben soll, dann kann dies einigen Händlern nur gefallen. Und daher komme ich erneut auf den Rückpfiff der von mir geschätzten Kollegen Kiesewetter und Schnurr zu sprechen. Welche Strategie verfolgen die Kräfte in Union und FDP, wenn sie diesen Antrag von vorneherZu Protokoll gegebene Reden ein ablehnen, ohne inhaltliche Bewertung? Ist dies schon der Vorbote für einen beginnenden Lagerwahlkampf kurz vor Ende der Legislaturperiode? Werden gemeinsame Werte im internationalen Kampf gegen kriegsentscheidende Waffenlieferungen über Bord geworfen, nur weil ein gemeinsamer Antrag mit der Opposition nicht ins Schema passt? Diese Antwort erscheint mir als die wahrscheinlichste. Denn um ein Ringen um Inhalte ging es ja gar nicht. Schließlich wäre eine sachliche Begründung schwieriger zu führen. Da nicht einmal erste Formulierungen Gegenstand der Betrachtung waren, ließe dies dann die Schlussfolgerung zu, dass die Bundesregierung in der Vergangenheit lediglich gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat und von vorneherein auf ein Scheitern der Verhandlungen bei den Vereinten Nationen gesetzt haben müsste. Demzufolge bräuchten sich die Regierungsfraktionen gar nicht erst mit einem solchen Antrag herumzuschlagen. Um die Inhalte geht es den Regierungsfraktionen scheinbar nicht. Ich glaube, einigen in den Reihen der Regierungsfraktion ist es egal, ob bei den Vereinten Nationen ein starker oder schwacher Waffenhandelsvertrag herumkommt. Die Menschenrechte, die im Übrigen ein Kriterium bei diesem Vertrag sein sollen, sind diesen Leuten egal, und die Tatsache, dass allein mit Kleinwaffen jährlich bis zu 500 000 Menschen getötet werden, was sie zu den „Massenvernichtungswaffen der Gegenwart“ macht, wie der Stern titelt, geht an dieser Stelle lediglich zu Protokoll. Für die Verhandlungen bei den Vereinten Nationen ist es wünschenswert, dass ein möglichst starker ATT zustande kommt. Ein Scheitern würde bedeuten, dass es analog zu den Verhandlungen der Ächtung von Streumunition in den 90er-Jahren zu einem Ottawa-Abkommen kommen müsste. Damals hat sich die Staatengemeinschaft bei den Vereinten Nationen nicht einigen können, und durch die Initiative einiger Staaten haben sich mittlerweile circa 160 Staaten auf das Ottawa-Abkommen einigen können. Auch die Bunderepublik hat bereits 1998 frühzeitig dieses Abkommen ratifiziert.

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die anstehende Staatenkonferenz zum Arms Trade Treaty ist nicht der erste Versuch der Weltgemeinschaft, gemeinsame Regeln für den internationalen Waffenhandel zu finden. Fast 90 Jahre ist es her, dass die Staaten des damaligen Völkerbunds Verhandlungen zum gleichen Thema geführt haben. Damals waren die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs allgegenwärtig. Heute ist es der arabische Frühling und es sind die Bürgerkriege der 1990er- und der 2000er-Jahre, die uns die Notwendigkeit der Regulierung des Waffenhandels vor Augen führen. Es waren aber nicht die Staaten, die diese Notwendigkeit zuerst erkannt haben. Der ATT-Prozess wurde vor fast zehn Jahren von einer Gruppe von Nobelpreisträgern, unterstützt von Nichtregierungsorganisationen, angestoßen. Es war also die Zivilgesellschaft, die all das möglich gemacht hat, die immer wieder die treibende Kraft war und die weiter Impulse gibt. Als Liberaler ist es mir besonders wichtig, darauf hinzuweisen und allen Beteiligten für ihren oft jahrelangen Einsatz zu danken. Dieser Einsatz hat Wirkung gezeigt. In der Bundesrepublik gibt es heute einen breiten Konsens - zwischen Regierung und Parlament, zwischen den Parteien und Fraktionen. Selbst Nichtregierungsorganisationen und Industrie finden einhellig lobende Worte für die Anstrengungen der Regierung. Ein solch breiter Konsens ist nicht selbstverständlich. Woher kommt er also? Vor allem von der gemeinsamen Erkenntnis, dass die gegenwärtige Situation ein Problem darstellt. Entgegen den Hoffnungen nach Ende des kalten Krieges sind die weltweiten Ausgaben für Rüstungsgüter im letzten Jahrzehnt stark gestiegen. Gleichzeitig hat die Globalisierung den Handel in allen Bereichen befördert. Beides hat dazu geführt, dass sich auch der internationale Handel mit Waffen und anderen militärischen Gütern intensiviert hat. Während die Staaten Europas, der NATO und einige wenige andere aber Exportkontrollen eingeführt haben und damit Waffenlieferungen an diktatorische Regime weitestgehend verhindern konnten, ist dies in den meisten Ländern der Welt noch nicht der Fall. Das ist bereits heute ein Problem, wird sich in Zukunft aber noch verschärfen, da immer mehr Staaten eigene Kapazitäten für die Produktion von Rüstungsgütern aufbauen und damit zu potenziellen Exporteuren werden. In den falschen Händen können Waffen aber Konflikte anheizen, intensivieren und verlängern. Die Kontrolle des Waffenhandels ist daher ein wichtiges Element präventiver Sicherheitspolitik. Der breite Konsens in Deutschland, auch in Europa, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verhandlungen im Juli sehr schwierig werden. Ein Erfolg ist keineswegs sicher. Zu weit gehen die Auffassungen der beteiligten Staaten auseinander. Das betrifft den Regelungsgehalt ebenso wie den Regelungsumfang. Wenige Wochen vor Beginn der Verhandlungen ist beispielsweise völlig offen, welche Waffenkategorien ein ATT beinhalten soll, ob auch Munition erfasst wird und welche Kriterien für Exportentscheidungen maßgeblich sein sollen. Einige, wenn auch wenige Staaten, stehen gar dem ganzen Vorhaben skeptisch gegenüber. Das im Vorfeld für die Konferenz vereinbarte Konsensprinzip ist eine zusätzliche Hürde, die die Verhandlungen erschweren wird. Das gilt auch für die kurze Dauer der Verhandlungen. In lediglich vier Wochen soll der Vertrag stehen. Andere Rüstungskontrollfragen wurden und werden zum Teil über viele Jahre hinweg debattiert. Es ist also völlig offen, ob es überhaupt zu einem Vertragsabschluss kommt. Im Moment sieht es so aus, als stünden sich der Anspruch auf Robustheit, auf einen starken und wirkungsvollen Vertrag, und der Wunsch nach Universalität konträr gegenüber. Wir werden vermutlich nicht beides haben können. Die Kunst der Verhandlung wird darin liegen, das eine nicht gänzlich für das andere aufzugeben. Ich blicke daher mit vorsichtiger Hoffnung nach New York und hoffe darauf, dass sich die Zögerer noch überZu Protokoll gegebene Reden zeugen lassen und am Ende ein Vertrag steht, der tatsächlich Einfluss auf die Staatenpraxis nimmt. Allerdings mahne ich auch zur Vorsicht und warne vor überhöhten Erwartungen. Die Gefahr ist real, dass solche Erwartungen enttäuscht werden. Denn selbst wenn sich die Staatengemeinschaft auf einen Vertrag einigen sollte, wäre das erst der Auftakt. Mindestens ebenso wichtig wird die anschließende Phase der Implementierung. Erst dann entscheidet sich, welche Bedeutung die Buchstaben des Vertrags haben, ob und wie der Vertrag die Exportpraxis der Staaten beeinflusst. Von großer Bedeutung wird es dann sein, dass es zu regelmäßigen Überprüfungskonferenzen kommt, auf denen der Vertrag weiterentwickelt werden kann und eine Diskussion über die getätigten Exportentscheidungen möglich ist. Immer im Hinterkopf sollten wir auch behalten, dass der ATT nur ein Teil einer größeren Strategie der Sicherheitsvorsorge sein kann. Er löst nicht alle Probleme, noch nicht einmal im eng begrenzten Bereich des Waffenhandels: So kann er sich im besten Fall indirekt auf den illegalen Waffenhandel auswirken. Komplementär bietet sich hier immer noch das VN-Kleinwaffenaktionsprogramm an, das weiter gestärkt werden muss. Vor allem aber kann der ATT das Problem der Entstehung von Konflikten nicht lösen. Konfliktprävention und -bewältigung müssen noch stärker in den Fokus der Weltgemeinschaft rücken, damit die Nachfrage nach Militärgütern gar nicht erst entsteht. Trotz alldem bin ich der festen Überzeugung, dass wir einen Arms Trade Treaty brauchen und dass ein solcher ein wichtiges Element einer umfassenden Sicherheitspolitik sein kann. Ebenso sicher bin ich mir, dass sich die Bundesregierung nach Kräften und im Sinne des Hohen Hauses für den Abschluss eines starken Vertrags einsetzen wird. Der vorgelegte Antrag ist daher nicht nötig. Hoffen wir lieber gemeinsam darauf, dass die Konferenz im Juli erfolgreicher verläuft als vor 90 Jahren, als sich ein weltweites Abkommen nicht durchsetzen ließ.

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Keine Minute vergeht, in der nicht irgendwo auf dieser Welt ein Mensch mit Waffen, insbesondere Kleinwaffen, getötet wird. Mit dem UN-Waffenhandelsvertrag soll ein wichtiger Schritt unternommen werden, dem einen Riegel vorzuschieben. Die Vertragsverhandlungen im Juli werden entscheidend dafür sein, ob der Waffenhandelsvertrag als Papiertiger daherkommen oder ein ernsthaftes Instrument zur Eindämmung und Kontrolle des internationalen Geschäfts mit dem Tod sein wird. SPD und Grüne stellen in ihrem Antrag richtige Forderungen auf, und die Bundesregierung wäre gut beraten, diese Forderungen energisch bei den Verhandlungen in New York zu vertreten. Eine Ausweitung der Erfassung von Waffengeschäften auf Kleinwaffen, auf Munition und vor allem auf Rüstungskomponenten ist unabdinglich. Ansonsten würde die Mehrzahl der Rüstungsexporte gar nicht unter den Vertrag fallen. Auch die Forderung nach einem handlungsfähigen Gremium zur Umsetzung des Waffenhandelsvertrages ist sinnvoll. Das Mandat des Gremiums darf sich nicht nur auf die Erfassung und Verwaltung der Waffengeschäfte beschränken, sondern muss auch einen Mechanismus für den Informationsaustausch zu den jeweiligen Genehmigungsentscheidungen umfassen. Nur so entsteht eine politische Rechenschaftspflicht, die Regierungen davon abhalten kann, Waffen an problematische Empfänger zu liefern. Genauso wichtig ist es, auf die Beibehaltung der bislang in der Diskussionsvorlage für die Vereinten Nationen enthaltenen Mindeststandards für erlaubte Rüstungsexportgeschäfte hinzuwirken - allen voran die Einhaltung der Menschenrechte. Allein die Erfahrungen des Arabischen Frühlings haben gezeigt, welche schrecklichen Konsequenzen es für die Menschen haben kann, wenn man Waffen und Gerät an repressive Regime liefert. Hier hätten SPD und Grüne allerdings besser noch die Forderungen von Nichtregierungsorganisationen übernommen. Diese fordern zu Recht, dass Rüstungstransfers bereits zu untersagen sind, wenn ein erhebliches Risiko besteht, dass die Rüstungsgüter zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen benutzt werden, und nicht erst, wenn dies nachweislich der Fall ist. Die Linke gibt sich allerdings keiner Illusion über die positiven Auswirkungen des Waffenhandelsabkommens auf die deutsche Genehmigungspraxis hin. Hier sieht es Jahr für Jahr düster aus. Trotz aller vermeintlich hohen Standards gehört Deutschland regelmäßig zu den größten Rüstungsexportnationen. Diktaturen wie SaudiArabien erhalten Waffen aller Art; deutsche Unternehmen - zum Teil sogar mit Unterstützung der Bundeswehr - bauen in diesen Ländern Rüstungskapazitäten auf. Deutschland liefert gerne auch in Spannungsgebiete; Stichwort: U-Boot-Lieferungen an Israel. Derzeit wird über Kampfpanzer nach Saudi-Arabien und Indonesien spekuliert; Algerien soll Know-how für den Bau von Panzern und einige Kriegsschiffe bekommen. Nach wie vor bemüht man sich um den Verkauf von Kampfflugzeugen nach Indien. Und wenn man sich die Liste der Waffensysteme ansieht, die aufgrund der Bundeswehrreform ausgemustert werden sollen und für die Käufer gesucht werden - neben den Kampfpanzern auch Tornado-Kampfflugzeuge und Panzerhaubitzen -, kann einem nur angst und bange werden. Daher bleiben wir bei unserer grundsätzlichen Forderung nach einem Stopp aller deutschen Rüstungsexporte. Trotzdem: Der Waffenhandelsvertrag ist wichtig, um weltweit Standards zu setzen und langfristig ein Umdenken zu erreichen. Je mehr Länder mitziehen, umso besser. Deswegen sollte so lange wie möglich an einem Konsens gearbeitet werden. Wenn allerdings die Standards heruntergeschraubt werden, dann darf die Bundesregierung dem nicht zustimmen. Dann muss als Alternative eben der gleiche Weg beschritten werden wie bei den Kontrollregimen für Landminen und Streumunition: In beiden Fällen hat sich eine Gruppe gleichgesinnter Staaten auf höhere Standards verpflichtet, andere sind daraufhin nachgezogen. Zu Protokoll gegebene Reden Paul Schäfer ({0}) Darüber hinaus wäre es gefährlich, wenn die Diskussion um einen UN-Waffenhandelsvertrag den Blick auf die anderen großen Herausforderungen verstellt. Nur zur Erinnerung: Die EU-Staaten haben sich bereits 1998 einen Verhaltenskodex für Waffenausfuhren gegeben, der 2009 zu einem Gemeinsamen Standpunkt aufgewertet worden ist. Das hat nichts daran geändert, dass die EU-Staaten mit Exportgenehmigungen im Wert von sage und schreibe 31 Milliarden Euro nach wie vor mehr als 170 Staaten außerhalb der EU mit Rüstungsgütern versorgen. Das zeigt deutlich: Wenn man ernsthaft an einer Verbesserung der Kontrollen und Standards für Rüstungsexporte interessiert ist, darf das Bemühen nicht beim UN-Waffenhandelsvertrag aufhören. Man sollte vor allem vor der eigenen Haustür anfangen. Das bleibt für die Linke auf der Tagesordnung.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Am 2. Juli beginnen in New York die Verhandlungen über einen weltweiten Waffenhandelsvertrag auf UN-Ebene. Deutschland kommt als einem der sechs großen Rüstungsgüter exportierenden Staaten eine besondere Verantwortung im Rahmen der Verhandlungen zu. Nur wenn die Bundesregierung sich für einen umfassenden und verbindlichen Vertrag einsetzt und positiv Einfluss auf die übrigen Staaten nimmt, besteht die Chance, dass am Ende ein erfolgreiches Abkommen verhandelt wird. Erfolgreich bedeutet, sowohl einen weiten Geltungsbereich als auch einen hohen Kontrollstandard im Vertrag zu verankern. Es müssen Waffen, die in zwischenstaatlichen Konflikten oder für Repressionen gegen die eigene Bevölkerung genutzt werden können, vor allem Kleinwaffen und leichte Waffen, einbezogen werden. Die meisten Menschen, die weltweit Opfer militärischer Gewalt werden, sterben nicht durch Panzer oder andere Großwaffensysteme, sondern durch Handfeuerwaffen. Alle abseits der medialen Aufmerksamkeit geführten Konflikte in Afrika, Asien und Amerika sind auf die stete Zufuhr mit ebendiesen leicht verbringbaren Waffen angewiesen. Wenn wir es schaffen können, den unkontrollierten Handel mit diesen Waffen zu regulieren, haben wir eine Chance, die Gewalt in diesen Konflikten wirksam einzudämmen. Kleinwaffen sind die Massenvernichtungswaffen der heutigen Zeit. Einmal produziert, sind Handfeuerwaffen leicht von einem Konflikt in den nächsten zu transportieren; sie sind pflegeleicht in der Lagerung und können ohne nennenswerte Ausbildung bedient werden. Eine AK-47 kann Jahrzehnte genutzt werden und ein Elfjähriger ohne größere Probleme damit schießen. Geschmuggelt, entzieht es sich allen legalen Kontrollwegen. Auch Munition muss ein Teil des Abkommens werden. Eine Handfeuerwaffe kann Jahrzehnte eingesetzt, eine Gewehrkugel hingegen lediglich einmal verschossen werden. Um wirksam Einfluss auf schwelende Konflikte nehmen zu können, ist es wichtig, den Nachschub mit Munition zu unterbinden. Ohne die notwendige Munition können auf Dauer keine Konflikte geführt werden, und deshalb ist es so wichtig, die Munition in den Waffenhandelsvertrag einzubeziehen. Hier muss die Bundesregierung gegenüber unserem größten Bündnispartner, den USA, standhaft bleiben. Der Vertrag muss außerdem menschenrechtliche und humanitäre Gesichtspunkte enthalten. Staaten, die systematisch die Rechte ihrer Bürger missachten und in kriegerischen Auseinandersetzungen immer wieder gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen, sollen sich auf dem weltweiten Waffenmarkt nicht mehr legal mit den Mitteln für dieses Unrecht eindecken können. Diese - von den Nichtregierungsorganisationen - als „goldene Regeln“ bezeichneten Kriterien müssen für die Bundesregierung die roten Linien in den anstehenden Verhandlungen darstellen. Die Bundesregierung muss sich aber auch für sozioökonomische Kriterien einsetzen. Diese sollen bewirken, dass Staaten durch Rüstungsausgaben nicht in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gefährdet werden. Das Rüstungsstreben eines Staats muss im Verhältnis zu seinen sozialen und wirtschaftlichen Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern stehen. Wenn dies nicht gegeben ist, dürfen keine Waffen exportiert werden. Bestes Beispiel dafür sind die deutschen Exporte nach Griechenland in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch der Staatfinanzen. Entscheidend ist aber, dass der Vertrag am Ende mehr wert ist als das Papier, auf dem er geschrieben steht. Ein Abkommen mit vielen leeren Versprechungen ist vertane Zeit. Dies gilt besonders in Anbetracht des Umstands, dass ein Waffenhandelsvertrag nur der Beginn eines Prozesses sein kann, an dessen Ende eine spürbare Verringerung der globalen Rüstungsausgaben stehen muss. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich für eine starke „Implementation Support Unit“ einzusetzen, die den Vertragsstaaten bei der Anpassung ihrer Strukturen an die neuen Regelungen hilft und die gewonnenen Daten auswertet und veröffentlicht. Dies wäre ein Schritt auf dem Weg zu mehr Transparenz, der zumindest zu ein wenig mehr Ehrlichkeit in diesem für Korruption und Bestechung sehr anfälligen Wirtschaftsbereich führen könnte. Unverständlich ist mir, dass es nicht möglich war, die Abgeordneten der Koalition für einen gemeinsamen Antrag zu gewinnen. Es hätte der Bundesregierung sicher bei den anstehenden Verhandlungen geholfen, wenn sie mit einem starken Verhandlungsmandat des Deutschen Bundestages in New York hätte auftrumpfen können. Ihr FDP-Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Georg Link hat vor einigen Tagen bei einer Veranstaltung im Auswärtigen Amt selbst gesagt, dass eine parteiübergreifende Behandlung des Themas jetzt notwendig und geboten sei. Deshalb ist es geradezu grotesk, dass ein gemeinsamer Antrag an seiner eignen Fraktion im Bundestag scheiterte. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU: Lassen Sie sich nicht immer von der FDP vorführen, und stimmen Sie unserem Antrag für einen starken VN-Waffenhandelsvertrag zu! Zu Protokoll gegebene Reden

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der beiden Fraktionen auf Drucksache 17/9927? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die Oppositionsfraktionen. Dagegen waren die Koalitionsfraktionen. Tagesordnungspunkt 39: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Klimaziel der EU auf 30 Prozent anheben - zu dem Antrag der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Europäisches Klimaschutzziel für 2020 auf 30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen Überschüssige Emissionsrechte stilllegen - zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN EU-Klimaziel anheben - 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020 - Drucksachen 17/9561, 17/9562, 17/9175, 17/9993 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({1}) Michael Kauch Bärbel Höhn Die Reden wurden zu Protokoll genommen.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Gipfel in Rio de Janeiro setzte 1992 Maßstäbe für eine weltweite Politik zum Schutz von Klima und Umwelt in einer gerechteren Welt. Exakt 20 Jahre danach werden wir uns besonders an den Erfolgen oder Misserfolgen messen lassen müssen. In diesem Kontext gilt es, die bereits international und national aufgestellten Wegmarkierungen noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Der Weg und das Ziel sind dabei mehr oder minder klar umrissen. Die auf der Weltklimakonferenz in Cancun 2010 festgelegte 2-Grad-Grenze gilt es auf jeden Fall zu erreichen, um die schlimmsten Auswirkungen auf das Klima und die Umwelt zu verhindern. Das 2007/ 2008 von der EU beschlossene 20-20-20-Programm war hierbei bereits ein erster Aufschlag. Die Beschlüsse von Durban vom Dezember 2011 legten dann die rechtlichen Grundlagen für die Klimaschutzanstrengungen der Industriestaaten unter dem Kioto-Protokoll, voraussichtlich bis 2020. Mittlerweile ist es allgemein anerkannt, dass die bisher verbindlich vorgelegten Minderungsangebote allerdings wohl nicht ausreichen werden, um die international vereinbarte 2-Grad-Grenze für den globalen Temperaturanstieg einhalten zu können. Es ist - wieder einmal - an der Zeit, zu handeln. Wir dürfen uns auf den für einen langen Zeitraum festgelegten Zielen nicht ausruhen, sondern sollten technische Innovationen und gesellschaftliche Lernprozesse aufgreifen und nutzen, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben, Machbares umzusetzen, die vorhandenen Instrumente und Vorgaben anzupassen. Tatsache ist, dass wir in der Europäischen Union das 20-Prozent-Ziel an CO2-Einsparung bis 2020 schaffen werden, ohne uns anstrengen zu müssen, da die bisher geleisteten technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Anstrengungen ausreichen werden. Doch wenn wir die kommenden acht Jahre ungenutzt verstreichen lassen, dann verschaffen wir uns ohne Not eine schlechtere Ausgangsposition für eine kosteneffiziente Erfüllung der Langstreckenziele bis 2050. Aktuelle Prognosen machen deutlich, dass eine Erhöhung des EUKlimaziels auf 30 Prozent bis 2020 hier den Druck herausnehmen kann und darüber hinaus machbar ist. Wir brauchen hierfür klare Signale der europäischen Politik, dass sich Investitionen in die Dekarbonisierung der Wirtschaft in Europa lohnen. Blieben wir auf Dauer beim derzeitigen Ziel von 20 Prozent bis 2020, laufen wir darüber hinaus Gefahr, dass die Europäische Union international als anspruchslos und träge wahrgenommen wird. Dies gilt es zu vermeiden, um auch die Schwellen- und Entwicklungsländer zu einem konsequenteren Handeln zu animieren. Das gegenwärtige 20Prozent-Ziel der EU liegt noch unterhalb der unteren in Cancun beschlossenen Spannbreite der Emissionsminderung für die Industrieländer von 25 bis 40 Prozent bis 2020 gegenüber 1990. Diese Spannbreite wurde auch vom Weltklimarat IPCC 2007 als notwendig angesehen, um zumindest mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu verhindern, dass die globale Erwärmung um mehr als 2 Grad Celsius Temperaturerhöhung steigt. Als Vorreiter wird international von uns erwartet, dass wir gangbare Schritte machen und unsere gesteckten Ziele regelmäßig überprüfen, Vorbild geben und Nachahmung initiieren. Gleichzeitig demonstrieren wir durch eine Erhöhung den innovativen Vorsprung, den wir anderen vermitteln können. Ich bin fest überzeugt, dass ein verbindliches Klimaziel von 30 Prozent Reduktionen der europäischen Emissionen bis 2020 eine wirtschaftliche Dynamik auslösen kann, die zusätzliche Arbeitsplätze schafft und Wirtschaftswachstum ermöglicht. Von dem bestehenden 20-Prozent-Ziel sind kaum neue Investitionsanreize zu erwarten, da schon 2009 die Emissionen bereits 17,3 Prozent unter dem Niveau von 1990 lagen. Die EU-Mitgliedstaaten müssen unter den geltenden rechtlichen Rahmenbedingungen nur noch eine zusätzliche Minderung von 285 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent in dem Zeitraum von 2009 bis 2020 erbringen. Bei einem 30-Prozent-Ziel müsste die Europäische Andreas Jung ({0}) Union bis 2020 eine Minderung von insgesamt 1,22 Milliarden Tonnen leisten, hiervon hat sie aber mit 535 Millionen Tonnen bereits fast die Hälfte erreicht. Im März 2011 legte die Europäische Kommission eine Analyse vor, aus der hervorgeht, dass die europäischen Emissionen bis 2020 um 25 Prozent unter das Niveau von 1990 sinken, wenn die Europäische Union allein ihre längst verabschiedeten Ziele erreicht, insbesondere im Bereich Energieeffizienz. Das schafft keine Anreize. Die Europäische Union hat in einer Zeit großer Umbrüche und Transformationen schon heute einen strategischen Vorsprung - mit der verbindlichen Einführung eines CO2-Preises, ihrer Klimaschutzgesetzgebung und den damit einhergehenden Innovationsimpulsen im Bereich der Umwelttechnologien. Diesen Vorsprung gilt es jetzt konsequent zu verteidigen und auszubauen, Wenn wir uns vor diesem Hintergrund das EU-Klimaund -Energiepaket aus dem Jahr 2008 anschauen, wird allerdings schnell klar, dass wir hier unbedingt nachbessern müssen. Die Erhöhung des EU-Klimaziels ist hierbei ein wesentlicher Schritt. Europa muss nun sein Ambitionsniveau im Klimaschutz erhöhen. Dies kommt auch den Forderungen der Wirtschaft nach einer langfristigen Investitionssicherheit nach und bietet eine Chance, auf einen Wachstumspfad für Europa zu kommen, ohne auf ein verbindliches internationales Klimaschutzabkommen warten zu müssen. Zudem ist es die angemessene strategische Antwort der Europäischen Union auf steigende Ölpreise und eine Positionierung im Wettbewerb mit China und den USA, Es geht um die Führerschaft bei den Technologieleitmärkten von morgen. Bereits in ihrer Nachhaltigkeitsstrategie hat die Bundesregierung 2011 die ambitionierten nationalen Minderungsziele für die Treibhausgase fixiert. Sie sollen bis 2020 um 40 Prozent, bis 2030 um 55 Prozent, bis 2040 um 70 Prozent und bis 2050 um 80 bis 95 Prozent - jeweils gegenüber 1990 - sinken. Diesen Weg geht die Bundesregierung mit der Unterstützung des Bundestages konsequent weiter. So konnte Deutschland im Jahr 2010 seine Verpflichtungen aus dem Kioto-Protokoll erfüllen, Gegenüber dem Basisjahr 1990 sind die Treibhausgasemissionen Deutschlands 2010 um fast 25 Prozent zurückgegangen. Das entspricht einer Verminderung von mehr als 295 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr und zeigt: Ein großes Stück des Wegs haben wir bereits geschafft. Wir können feststellen, dass von unserer Klimaschutzpolitik gleichzeitig kräftige Impulse für Wirtschaftswachstum, Innovation und Beschäftigung ausgehen. Europa muss nach meinem Dafürhalten den positiven Nachweis erbringen, dass Klimaschutzpolitik eine leistbare Zukunftsvorsorge darstellt, dass sie kein Gegensatz zu wirtschaftlicher Entwicklung ist, sondern dass die Integration von modernen Technologien natürliche Ressourcen schonen und klimaschädliche Emissionen nachhaltig reduzieren kann. Denn eine technologische Modernisierung ist es, die uns wettbewerbsfähiger, produktiver, wirtschaftlich erfolgreicher macht und darum auch ökonomisch zu empfehlen ist. Dafür reicht es nicht, dass die Europäische Union bei ihrem 20-Prozent-Reduzierungsziel bleibt. Wenn wir uns nur das vornehmen, was wir ohne zusätzliche Maßnahmen erreichen, dann ist das definitiv zu wenig und würgt Innovationen für die Zukunft ab. Dann ist es auch kein Anreiz für Technologieentwicklung, dann senden wir keine positiven Signale an andere Länder, die es ungleich schwerer haben, ihren CO2-Ausstoß zu reduzieren. Vorreiter heißt, immer einen Schritt voraus zu gehen, um gangbares Terrain aufzuzeigen. Die vom Umweltausschuss am 23. Mai 2012 abgehaltene Anhörung der Sachverständigen zur Erhöhung des EU-Klimaziels auf 30 Prozent hat unmissverständlich klargemacht, dass dieser Schritt jetzt gemacht werden muss. Die entwickelten europäischen Industriestaaten müssen ihrer Vorreiterrolle, aber auch den Erwartungshaltungen gerecht werden, um andere zum Mitmachen zu bewegen. Wer kein Zeichen setzt, kann keine mutigen Schritte von anderen erwarten. Wollen wir an der internationalen Spitze bei den erneuerbaren Energien und den dafür nötigen Technologien bleiben, dann müssen wir jetzt handeln. Eine Initiative der dänischen Ratspräsidentschaft, das EU-Klimaschutzziel auf 30 Prozent bis 2020 zu erhöhen, wurde auf der Sitzung des Umweltministerrats vom 9. März 2012 von Deutschland und 25 anderen Mitgliedstaaten unterstützt. Am 11. Juni 2012 stand es erneut auf der Tagesordnung des Umweltministerrats. Auch bei dieser Sitzung unterstützte Deutschland die Erhöhung des Klimaziels. Gescheitert ist eine Erhöhung bislang an dem Widerstand von Polen. Die Bundesregierung ist mit Polen in intensiven Gesprächen und Verhandlungen, um es von der Erhöhung zu überzeugen. Die Position der Bundesregierung, die als Grundlage für diese Verhandlungen dient, ist auch schwarz auf weiss nachzulesen. Auf Seite 144 des Fortschrittberichts zur Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung wird ausgeführt: „Eine Anhebung des EU-Klimaziels auf 30 Prozent trägt die Bundesregierung auf Basis des nationalen 40-Prozent-Ziels dann mit, wenn keine darüber hinausgehenden Emissionsminderungen von Deutschland verlangt werden und alle Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag leisten.“ Damit macht die Bundesregierung die Erhöhung des Klimaziels nicht vom - weiter mit Nachdruck angestrebten - Zustandekommens eines internationalen Klimaschutzabkommens und von vergleichbaren Anstrengungen aller Industriestaaten abhängig. Die Betonung des Festhaltens am deutschen 40-Prozent-Ziel und der Notwendigkeit, dass alle Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag leisten, sind logisch und notwendig. Die Arbeitsgruppe Umwelt der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt diesen Ansatz nachhaltig. Wir müssen heute die Bundesregierung nicht erst dazu auffordern, sich auf europäischer Ebene für die Erhöhung des Klimaziels einzusetzen, wir können dieses Bemühen begrüßen und das Signal geben, dass wir dieses Engagement ausdrücklich unterstützen. Ich persönlich halte die Erhöhung des Klimaziels für dringend geboten und werde in meiner Funktion als BeZu Protokoll gegebene Reden Andreas Jung ({1}) richterstatter für Klimaschutz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion weiterhin für eine ambitionierte Klimapolitik eintreten.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Anhörung zum europäischen Klimaziel, die wir in der letzten Sitzungswoche hatten, hat eindeutig gezeigt: Es gibt keine vernünftigen Argumente gegen eine Verschärfung des europäischen Klimaziels. Unternehmen sprechen sich offen für diese Erhöhung aus. Die Sachverständigen, die die Union benannt hat, haben sich sehr deutlich und mit guten Argumenten für das 30-Prozent-Ziel ausgesprochen. Nur eine politische Mehrheit hier im Bundestag für dieses Ziel zu finden, das scheint unmöglich, was ich für ein ziemliches Trauerspiel halte, denn neben dem Umweltminister spricht sich nun die gesamte Bundesregierung für ein 30-Prozent-Ziel aus, wenn auch nicht laut und klar, sondern versteckt auf Seite 144 des Fortschrittsberichts zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Kennt eigentlich in Brüssel jemand die Haltung der Bundesregierung? Oder denken dort noch alle, dass sich BMU und BMWi immer noch nicht geeinigt haben? Hier wäre eine klare Stellungnahme des Bundestages oder eine Zustimmung zu unserem Antrag hilfreich gewesen. Zustimmen alleine reicht jedoch nicht. Die anderen Staaten Europas warten auf ein starkes Signal aus Deutschland für mehr Klimaschutz. Nach jahrelangem Herumlavieren muss die Bundesregierung anderen Staaten erklären, dass für sie ein höheres Klimaziel von vitalem Interesse ist. Wenn sie weiterhin nur stumm am Rande steht, macht sie sich mitschuldig, den Klimaschutz zu verhindern. Angesichts der Opfer, die der Klimaschutz heute schon fordert, kann das niemand wollen. Wenn wir das 2-Grad-Ziel erreichen wollen, müssen wir die Treibhausgasemissionen um 80 bis 95 Prozent bis 2050 reduzieren. Wir dürfen in der Debatte um das 30-Prozent-Ziel dieses Langfristziel nicht unbeachtet lassen. Auf dem Weg zu diesem Langfristziel brauchen wir sinnvolle Zwischenschritte. In den nächsten acht Jahren praktisch keinen Klimaschutz zu machen - das würde das Festhalten am 20-Prozent-Ziel bedeuten aber ab dem Jahr 2020 plötzlich sehr große Anstrengungen von Industrie und Bevölkerung zu verlangen, ist kein sinnvolles Zwischenziel. In diesen acht Jahren würden wir den Vorsprung, den wir in vielen Bereichen haben, verlieren. Welcher Investor würde unter solch unsicheren Bedingungen investieren? Wir sollten heute schon unsere Anstrengungen erhöhen und das Langfristziel auf einem gleichbleibenden und verlässlichen Pfad erreichen. Für das Jahr 2020 ist das 30-Prozent-Ziel konsistent mit dem Langfristziel. Wichtig ist daneben die Debatte um das Klimaziel für das Jahr 2030 und eine schnelle Festlegung dieses Ziels. Auch um das nationale Klimaziel von 40 Prozent zu erreichen, brauchen wir das europäische 30-ProzentZiel. Ansonsten müssten die Bereiche, die nicht im Emissionshandel sind, eine Minderungsleistung erbringen, die jenseits des praktisch Machbaren ist. Somit gilt: Ohne höheres Klimaziel der EU kein Erreichen des deutschen Klimaziels. Die Diskussionen um die Klimaziele sind jedoch äußerst zäh und schwierig. Bereits zweimal war die Klimaroadmap und damit das Klimaziel auf der Tagesordnung des Umweltrates der EU gewesen. Zweimal gab es keinen Konsens. Nachdem die Minister sich nicht einigen konnten, kommt es nun auf die Staats- und Regierungschefs an. Diese treffen sich am 28. und 29. Juni in Brüssel zum Europäischen Rat. Auf diesem Ratstreffen muss der gordische Knoten gelöst werden und endlich eine Einigung auf ein höheres Klimaziel erreicht werden. Die Sorgen von Ländern wie Polen, die sehr von Kohle abhängig sind, müssen angehört werden. Wie kein anderes Land behindert Polen gerade die europäische Klimapolitik. Deutschland muss die polnische Regierung mehr bei Vorhaben unterstützen, die in Polen einen Übergang hin zu erneuerbaren Energien und Energieeffizienz attraktiver machen. Polen wird verschärfte Klimaziele nur akzeptieren, wenn es Klimapolitik nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance wahrnehmen kann. Auch muss die Abhängigkeit Polens von Energieimporten diskutiert werden. Diese Abhängigkeit von Energieimporten nimmt zu, trotz der gegenwärtigen polnischen Kohlepolitik. Die Einfuhren von Kohle sind zwischen 2006 und 2010 nach Angaben von Eurostat um 169 Prozent gestiegen. 2008 wurde Polen Nettoimporteur von Kohle. 2009 machten Kohleimporte aus Russland rund 70 Prozent der polnischen Kohleimporte aus. Unabhängigkeit ist mit erneuerbaren Energien zu erreichen, nicht mit weiteren Kohlekraftwerken. Sonne und Wind kann niemand abschalten. Aber nicht nur ein stärkeres Werben für erneuerbare Energien ist wichtig. Im Mittelpunkt muss auch die Energieeffizienz stehen. Polen verbraucht doppelt so viel Energie, um eine Einheit seines Bruttosozialprodukts zu erzeugen, wie der europäische Durchschnitt. Nach der gegenwärtigen polnischen Energiestrategie will Polen das Energieniveau, das die EU-15-Staaten im Jahr 2005 erreicht hatten, erst im Jahr 2030 erreichen, 25 Jahre später. Hier können wir Wege zeigen, wie man Energie und Geld sparen kann und dabei auch noch neue Arbeitsplätze schaffen kann. Nachdem nun auch der Umweltrat am Montag gescheitert ist, ist nun der Europäische Rat Ende Juni entscheidend. Aber hat die Bundesregierung die Zeit seit dem letzten polnischen Veto im März mit Hochdruck genutzt? Hat die Bundesregierung alles getan, damit Polen nicht auch beim nächsten Treffen eine Einigung blockiert? Jetzt kommt es auf die Staats- und Regierungschefs an. Zu diesem Thema habe ich in meiner letzten Rede der Bundesregierung einige Fragen gestellt. Antworten habe ich leider nicht erhalten. Deswegen möchte ich diese Fragen erneut stellen: Wie möchte die Bundesregierung die polnische Blockade bis Ende Juni auflösen? Wie zeigt die Bundesregierung, dass sie die polnischen Sorgen ernst nimmt? Welche Angebote möchte die Bundesregierung Polen machen? Kann sich die Bundesregierung zum Beispiel vorstellen, die bilateralen Umweltprojekte zwischen Deutschland und Polen auszubauen? Sind vor dem JuniZu Protokoll gegebene Reden Rat Gespräche zwischen Merkel und Tusk geplant? Umweltverbände fordern die Schaffung eines Sonderbotschafters, der Pendeldiplomatie zwischen den Hauptstädten der EU betreibt. Unterstützt die Bundesregierung diese Forderung nach einem Sonderbotschafter? Gibt es in der deutschen Botschaft in Warschau überhaupt jemanden, der zu Klimapolitik arbeitet? Wenn nein, warum nicht? Ich habe meine Zweifel, dass mir die Bundesregierung ausreichend auf diese Fragen antworten kann. Aber wenigstens war der Minister höchstpersönlich auf dem Treffen der Umweltminister und hat sich nicht vertreten lassen, wie sein Vorgänger. Herr Altmaier sagte, dass Klimaschutz für ihn ein Herzensthema sei. Nun kann er zeigen, ob er dies auch ernst meint, und sich dafür einsetzen, dass die Bundesregierung eine klare Position vertritt. Allerdings kann man dann nicht mit dem Wirtschaftsminister kuscheln; denn dieser verhindert Klimaschutz, wo er nur kann. Ich hoffe, dass der neue Minister nicht nur ein Mann der schönen Worte, sondern ein Mann der Durchsetzungskraft ist; denn ohne Durchsetzungskraft ist Klimaschutz nicht möglich.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Opposition stellt heute erneut Schaufensteranträge zur Abstimmung. Man suggeriert, nur mit einem Beschluss des Parlaments werde eine Verhandlungsstrategie der Bundesregierung in Richtung des 30-ProzentKlimaziels in der EU möglich. Offenkundig sind Sie aber nicht mehr auf der Höhe der Entwicklungen. Denn die Bundesregierung hat bereits eine gemeinsame Strategie zum EU-Klimaziel beschlossen. Das Bundeskabinett hat im Fortschrittsbericht 2012 zur Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie folgende Verhandlungsposition in Europa beschlossen: „Eine Anhebung des EU-Klimaziels auf 30 Prozent im Jahre 2020 gegenüber 1990 trägt die Bundesregierung auf Basis des nationalen 40-Prozent-Ziels dann mit, wenn keine darüber hinausgehenden Emissionsminderungen von Deutschland verlangt werden und alle EU-Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag leisten.“ Dies ist die Position der Bundesregierung, die das Wirtschaftsministerium und das Umweltministerium gemeinsam tragen. Ein Entschließungsantrag ist deshalb nicht notwendig. Die Erhöhung auf 30 Prozent wird bereits als Verhandlungslinie der Bundesrepublik Deutschland vertreten. Allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung, die die Opposition weglässt: Was immer auf europäischer Ebene passiert, das deutsche 40-Prozent-Ziel darf im Rahmen der Lastenverteilung nicht noch weiter erhöht werden. Denn die deutschen 40 Prozent sind bereits äußerst ambitioniert. Die Formulierung der Bundesregierung ist daher besser als alle Anträge der Opposition, die wir deshalb ablehnen. Zudem sollten wir bei der Diskussion über das EUKlimaziel immer mit diskutieren, wie Produktionsverlagerungen bei energieintensiven Branchen vermieden werden können. Es ist wichtig, hier einen für alle gangbaren Weg zu finden. Denn Produktionsverlagerungen in Länder, die es mit Klimaschutz nicht ernst meinen, helfen niemandem: der Umwelt nicht und schon gar nicht den Arbeitsplätzen in Deutschland. Deshalb sind bei ambitionierteren Klimaschutzzielen im Emissionshandel Kompensationen im Rahmen der begrenzten finanziellen Möglichkeiten für diejenigen energieintensiven Unternehmen zu prüfen, die im internationalen Wettbewerb stehen. Peinlich ist es im Übrigen, dass die Oppositionsfraktionen von SPD und Grünen sich ständig überbieten, mehr Engagement für den Klimaschutz auf Bundesebene und in Europa zu fordern; denn dort, wo sie gemeinsam regieren, geht es mit den Klimaschutzzielen bergab. Sowohl Grün-Rot in Baden-Württemberg als auch RotGrün in NRW haben die Klimaschutzziele gegenüber ihren schwarz-gelben Vorgängern abgesenkt. Gerade erst wurde im rot-grünen Koalitionsvertrag in NRW bestätigt, dass trotz einer gewünschten Anhebung des EUZiels auf 30 Prozent und trotz des deutschen Ziels von 40 Prozent das Land NRW nur 25 Prozent Einsparung erbringen soll. Wer die Grundrechenarten beherrscht, der sieht, dass bei 25 Prozent im größten Bundesland national 40 Prozent kaum zu erreichen sein dürften. Das einzige, was der grüne Umweltminister in NRW mit seinem sogenannten Klimaschutzgesetz erreicht, ist ein Ausufern von Bürokratie und Ordnungsrecht. Das macht Klimaschutz teurer, aber nicht besser. Die Krönung des Ganzen ist die Begründung für das Versagen in Baden-Württemberg. Der grüne Umweltminister erklärt, man müsse die Klimaschutzziele senken, da Baden-Württemberg vom Atomausstieg besonders betroffen sei. Weniger Klimaschutz wegen Atomausstieg, das hatten die Grünen den Wählern vor der Landtagswahl nicht erklärt. Das aber ist offenbar die bittere Realität rot-grüner Umweltpolitik.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Opposition ist sich einig, und auch große Teile der Koalition, jedenfalls im Umweltausschuss, sind für eine Anhebung des bedingungslosen EU-Klimaschutzziels auf 30 Prozent Minderung bis 2020 gegenüber 1990. Ich hoffe, die Bundesregierung wird sich im EU-Rat so positionieren, wie sie sich im Fortschrittsbericht zur Nachhaltigkeitsstrategie festgelegt hat, und zwar dass Deutschland minus 30 Prozent EU-weit mitträgt, wenn auf die Bundesrepublik keine zusätzlichen Emissionsminderungen über die Selbstverpflichtung von national minus 40 Prozent hinzukommen und alle EU-Staaten einen fairen Beitrag leisten. Sie werden verstehen, dass wir etwas misstrauisch sind, ob die Bundesregierung das Bekenntnis zu 30 Prozent in Brüssel auch wirklich klar kommuniziert. Denn die Koalitionsfraktionen waren im Ausschuss nicht bereit, bei einem entsprechenden fraktionsübergreifenden Antrag mitzumachen. Ich darf allerdings einschränken, dass die Position der Bundesregierung, selbst wenn sie denn ehrlich gemeint ist, klimapolitisch kein allzu großer Wurf ist. Schließlich sind minus 25 bis minus 40 Prozent bei den Industriestaaten das Mindeste, was aus Sicht der Wissenschaft erforderlich ist, um den Klimawandel - mit Zu Protokoll gegebene Reden nur Zweidrittel Wahrscheinlichkeit - auf zwei Grad Erwärmung begrenzen zu können. In dem Zusammenhang wundert mich übrigens die Enthaltung der Grünen und der SPD im Ausschuss zu unserem Antrag. Dem Vernehmen nach war zumindest bei den Grünen das Argument gegen eine Zustimmung, dass die LINKE die Bundesregierung auffordert, in Brüssel für eine weiter Verschärfung des EU-Klimaschutzziels bis 2020 über 30 Prozent hinaus einzutreten. Ich frage mich, was wäre denn so furchtbar schlimm daran? Was ist das politische Problem für die Grünen, wenn sich die EU zu minus 40 Prozent bis 2020 verpflichten würde? Darf man so etwas als Oppositionspartei nicht mehr fordern angesichts der Dramatik des Klimawandels? Werden wir nicht sogar gezwungen sein, noch eine Schippe drauf zu packen, weil Schwellenländer und USA viel mehr Treibhausgase ausstoßen, als in der Zeit vorauszusehen war, in der der Minderungspfad von den Wissenschaftlern des IPCC errechnet wurde? In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, dass das Klimaschutzgesetz von SPD und Grünen in NRW eher wenig ambitioniert ist. Die Treibhausgasemissionen des Bundeslandes sollen bis zum Jahr 2020 um nur 25 Prozent im Vergleich zu den Gesamtemissionen des Jahres 1990 verringert werden. Die 25 Prozent sind für das Braunkohleland NRW aber viel zu niedrig. Damit wird das 40-Prozent-Minderungsziel der Bundesregierung für Deutschland praktisch unerfüllbar: Da Bayern oder Baden-Württemberg historisch bedingt einen Brennstoffwechsel von Atom zu erneuerbaren Energien und Gas zu bewältigen hat, können diese ehemaligen Atom-Länder realistisch bis 2020 nur CO2-Minderungsziele deutlich unter 40 Prozent erreichen. In der Verantwortung stehen hier darum am stärksten die Bundesländer mit einem hohen Anteil an Braunkohleverstromung. Schließlich bringt hier der Wechsel zu erneuerbaren Energien und Gas automatisch enorme CO2-Einsparungen mit sich. An der Spitze - weil auch mit 72 Prozent mit dem höchsten Anteil Braunkohlestrom am Erzeugungsstrommix - müsste hier NRW stehen. Gefragt wäre also ein signifikant schärferes Klimaschutzziel von deutlich über minus 40 Prozent Minderung, anstatt deutlich darunter. Brandenburg hat hier immerhin minus 40 Prozent abgeliefert, was auch noch zu schlapp ist. Rot-Grün in NRW entzieht sich mit 25 Prozent jedoch weitgehend der Verantwortung. Aber zurück zu Europa. Schärfere Klimaschutzziele sind in der EU natürlich sehr schwer umzusetzen. Wir sehen beispielsweise die Probleme Polens, eines Landes, welches 89 Prozent seiner Stromerzeugung mit Braun- oder Steinkohle realisiert. Doch genau darum fordern wir in unserem Antrag, ähnlich wie die Grünen, entsprechende Hilfestellungen für unseren kohlegeplagten Nachbarstaat. Was die Stillegung von Emissionsrechten angeht, die wir als Einzige in unserem Antrag fordern, so decken sich unsere Vorstellungen hier weitgehend mit jenen Forderungen, die das Ökoinstitut diese Woche in einer Studie aufgemacht hat, die im Auftrag von WWF und Greenpeace erstellt wurde. Gemäß der Studie sollten angesichts des Überschusses von 2 Milliarden Euro durch den Verkauf von Verschmutzungsrechten 1,4 Milliarden Zertifikate für mindestens zehn Jahre stillgelegt werden. Zudem seien die Anrechenbarkeit von CDM-Gutschriften für die Unternehmen aus Klimaprojekten in der Dritten Welt zu begrenzen. Schließlich müsse die jährliche Emissions-Minderungsvorgabe der EU und damit das zu schwache europäische Klimaziel „deutlich verschärft“ werden. Unsere Worte, kann ich da nur sagen, natürlich wissenschaftlich besser unterfüttert. Ich denke, unter dem Strich hat die Linke einen runden Antrag hingelegt, die Zustimmung sollte diesem Haus - auch nach den eindeutigen Ergebnissen der Anhörung am 23. Mai - nicht schwerfallen. Die Linke stimmt im Übrigen den Anträgen der SPD und der Grünen zum Thema zu.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir hätten heute etwas grundlegend Richtiges tun können: Wir hätten einen gemeinsamen Beschluss aller Fraktionen im Bundestag fassen können, der die Anhebung des europäischen Klimaziels unterstreicht. Wir hätten es tun können - und sogar gemusst! Doch obwohl der Umweltausschuss sich prinzipiell einig darin war, dass die Bundesregierung in Brüssel weiterhin ein 30prozentiges CO2-Reduktionsziel für die EU verfolgen soll, konnten wir keinen gemeinsamen Antrag hier einbringen. Die Blockade innerhalb der Koalition beschädigt aber nicht nur weiter ihr eigenes Ansehen, sondern den Klimaschutz weltweit und die Pläne zur Energiewende der Kanzlerin. Unsere gemeinsame Anhörung in der vergangenen Sitzungswoche hat eindrucksvoll bewiesen, wie breit der Konsens für eine Erhöhung der Klimaziele ist, nicht aus ideologischem Kalkül, sondern aus wirtschaftlichen und diplomatischen Gründen. Das haben uns übrigens auch die von der Union geladenen Experten bestätigt. Wenn die EU jetzt nicht ihre Ziele ohne Wenn und Aber von 20 Prozent auf 30 Prozent erhöht, dann droht über kurz oder lang ein Stillstand im Klimaschutz. Denn Europaweit wurden bereits 17 Prozent eingespart. Was wollen wir alle gemeinsam in den nächsten acht Jahren tun? Uns zurücklehnen, während die globalen Emissionen immer weiter steigen? Nein. Wir müssen die Ambition beim Klimaschutz konstant und gemeinschaftlich erhöhen. Wir dürfen uns nicht auf bisher Erreichtem ausruhen. Wenn jetzt Angst und Mutlosigkeit gewinnen, dann hat das verheerende Auswirkungen. Wer gegen das 30-Prozent-Ziel ist, der verzichtet auf zusätzliche 0,6 Prozent Wirtschaftswachstum, der verzichtet auf Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze, der verzichtet auf einen Anstieg der EU-weiten BIPs um über 600 Milliarden Euro und auf einen erheblichen Anstieg der europäischen Investitionsrate. All das hatte die Kanzlerin doch auch schon erkannt, als sie das 40-Prozent-Ziel, also minus 40-Prozent CO2-Emissionen in Deutschland bis 2020, ausgegeben hat. Das wird nun von den Blockierern in der Union untergraben. Denn wenn es keine EU-weite Deckelung von 30 Prozent im Emissonshandel gibt, dann müssen Zu Protokoll gegebene Reden die anderen Sektoren - Verkehr und Gebäude - umso mehr Reduktionen erbringen. Haben Sie für die einen Masterplan? Nein, Sie haben hier nichts als Aufschub vorzuweisen. Statt einer Steigerung der Sanierungsrate gibt es einen Sanierungsstau. In Brüssel verhindern Sie eine ohnehin halbwegs wirksame Energieeffizienzrichtlinie, und im Verkehr haben Sie bis auf altbackene Vorschläge für eine Pkw-Maut auch nichts zustande gebracht. Deutschland muss international mehr Gewicht auf das 30-Prozent-Ziel legen. Nur dann ist es möglich, unseren Nachbarn Polen noch rechtzeitig von den Chancen ambitionierter Klimapolitik zu überzeugen. Denn wer heute weniger für den Klimaschutz tut, der zahlt morgen mehr für importiertes Öl und Gas. Konkret: Bis zu 14 Milliarden Euro mehr kostet diese Blockade die ohnehin von teuren Energieimporten gebeutelten europäischen Staaten. Anstatt mehr zu zahlen, können wir sogar mehr einnehmen. Der Emissionshandel hat das Potenzial, viel Geld für den Klimaschutz und die Energiewende abzuwerfen. Denn die Einnahmen daraus fließen in den von der Regierung eingerichteten Energie- und Klimafonds. So ist es jedenfalls gedacht. Doch der Zertifikatspreis dümpelt bei 6,50 Euro herum, statt bei den vom Finanzminister anvisierten 17 Euro. Während die Ansprüche an die Energiewende steigen, werden die Mittel dafür also immer geringer. Das liegt an einem Überangebot an Zertifikaten. Ich hätte den Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion ein besseres Verständnis von Angebot und Nachfrage zugetraut. Wir Grüne fordern ein höheres EU-Klimaziel auch deswegen, weil dadurch die Menge der Zertifikate verknappt wird. Das führt zu einem höheren CO2-Preis und bringt auch mehr Planungssicherheit für die Unternehmen. Außerdem bringt es den EU-Staaten auch Mehreinnahmen, die sie für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz nehmen können, und sorgt damit für ein grünes Wachstum mit Tausenden von Arbeitsplätzen. Sie fahren die Energiewende gerade an die Wand und entziehen ihr dann noch das Geld, indem Sie die einzige Einnahmequelle abwürgen. Diese Politik passt zu den Äußerungen von Minister Rösler, der die Solarbranche in Deutschland plattmachen will. Sie meinen es eben nicht ernst mit der Energiewende, und das wird jetzt immer deutlicher. Nächste Woche beginnt in Rio de Janeiro die UNNachhaltigkeitskonferenz. Wir alle wissen, dass den Zeiten von großen Worten nun große Taten folgen müssen. Unsere nationale Energiewende wäre, wenn sie richtig angegangen worden wäre, solch eine Großtat. Denn sie hat Strahlkraft; die ganze Welt schaut auf uns. Aber Misstrauen zwischen Norden, Süden und den Schwellenländern droht gerade die Klimaverhandlungen zu zerstören. Jetzt endlich den Worten von Kopenhagen Taten folgen zu lassen und als EU auf minus 30 Prozent zu gehen, das wäre ein Signal. Die von Ex-Minister Röttgen in Durban gebaute Allianz mit einigen Entwicklungsländern kann nur tragfähig sein, wenn die EU sich selbst an ihre hohen Ansprüche hält. Unsere CO2-Emissionen müssen bis 2050 fast vollständig reduziert sein. Wenn wir uns nicht kurz vor der Jahrhundertwende auf dem Scherbenhaufen der Geschichte wiederfinden wollen, dann müssen wir uns an einen konsequenten und sinnvollen Reduktionspfad halten. Dieser sieht 2020 für Europa eine Emissionsminderung von sogar über 30 Prozent vor. Je später wir anfangen, uns diesem Pfad anzunähern, desto teurer wird es für uns. Wir Grüne wollen ein starkes Signal initiieren; aus Gründen der Kosteneffizienz, der Glaubwürdigkeit Deutschlands und des Klimaschutzes.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9993. Unter Buchstabe a wird die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9561 mit dem Titel „Klimaziel der EU auf 30 Prozent anheben“ vorgeschlagen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalition und Ablehnung durch die Opposition. Buchstabe b. Hier wird die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9562 mit dem Titel „Europäisches Klimaschutzziel für 2020 auf 30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen - Überschüssige Emissionsrechte stilllegen“ empfohlen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Enthaltungen von Bündnis 90/Die Grünen und SPD, bei Gegenstimmen durch die Linke. Die Koalitionsfraktionen waren dafür. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9175 mit dem Titel „EU-Klimaziel anheben 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. CDU/CSU und FDP waren dafür, SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen dagegen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 41 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Schutz- und Sicherheitskonzepte für den Bau und Betrieb von Offshore-Windparkanlagen weiterentwickeln - Drucksache 17/9928 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Laut Tagesordnung werden die Reden zu Protokoll genommen.

Matthias Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Offshorebranche ist ein relativ junger Wirtschaftszweig, der insbesondere im Zusammenhang mit der deutschen Energiewende eine große Rolle spielt. Erst im Juni letzten Jahres haben wir deshalb ein 5 Milliarden Euro schweres Kfw-Sonderprogramm aufgelegt, um die Potenziale der Offshoreenergie voranzutreiben. Während das Programm erste Erfolge zeitigt und immer mehr Windparks in Nord- und Ostsee genehmigt und gebaut werden, kristallisiert sich sehr deutlich heraus, wie bedeutend die Windindustrie ist. Wir haben den Ausstieg aus der Atomenergie bis Ende 2020 beschlossen und benötigen zum Gelingen dieser Energiewende zweifelsohne einen großen Anteil Offshoreenergie. Für dieses ehrgeizige Vorhaben benötigt der Offshoresektor politische Unterstützung, die er durch uns erhält. Doch neben der Betrachtung der Windkraftindustrie als signifikanten Zweig der maritimen Wirtschaft müssen wir uns ebenso mit den begleitenden Problemen und Risiken befassen. Mit der grundsätzlichen Thematik der Sicherheitsvorkehrungen im Offshorebereich befasst sich auch der vorliegende Antrag der SPD-Bundestagsfraktion. Leider könnte man beim Lesen des Antrags schnell den Eindruck gewinnen, dass die Arbeits- und Sicherheitsbedingungen bei den Offshorebetreibern katastrophale Ausmaße hätten und wir keinerlei Regelung für Seenotfälle in der Bundesrepublik hätten. Aber dem ist nicht so. Wir haben bei der Reglementierung dieser jungen Technik im Seebereich einiges getan, um schwere Seenotfälle zu verhindern oder im schlimmsten Fall dementsprechend reagieren zu können. Vorkommnisse mit tödlichem Ausgang und die besonderen Bedingungen bei der Montage und Wartung der Parks auf hoher See erfordern ein besonderes Management. Daher gibt es bereits viele vereinzelte Projekte, die zusammen mit den Offshorebetreibern - und diese sehe ich hier zwingend in der Pflicht - versuchen, Rettungs- und Sicherheitskonzepte an diese hohen Anforderungen anzupassen. So wurde - um nur ein Beispiel zu nennen - am 19. April 2012 im Berufsgenossenschaftlichen Unfallkrankenhaus Hamburg, BUKH, das Forschungsprojekt „Rettungskette Offshore Wind“ gestartet. Dessen Zielsetzung ist es, über die nächsten drei Jahre Erkenntnisse dahin gehend zu erhalten, wie die Rettungslogistik und die Rettungsmedizin ausgestaltet werden müssen. Doch was gibt es aktuell für Vorkehrungen zur Sicherheit in diesem Bereich? Im Notfall sieht die derzeit festgeschriebene Meldekette vor, dass die Betreuung von Seenotfällen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger, DGzRS, obliegt. Je nach Sachlage erfolgt von dort aus die weitere Koordination an staatliche Stellen oder an das Havariekommando. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat dieses Havariekommando gemeinsam mit den Ländern in Cuxhaven eingerichtet. Während früher Schadensfälle vom örtlich zuständigen WSA erledigt werden mussten, fällt die Bewältigung komplexer Aufgaben seit dem 1. Januar 2003 - seit der Havarie des Holzfrachters „Pallas“ - in die Zuständigkeit des Havariekommandos. Diese Stelle ermöglicht das gemeinsame Vorgehen auf See von Bund und Küstenländern. Derzeit arbeitet das Havariekommando außerdem an einem zusätzlichen Strategiekonzept zur Verletztenversorgung und -rettung bei Offshoreunfällen. Wie Sie sehen, läuft hier also im Falle des Falles alles nach Plan. Sicherlich wird es zukünftig noch vereinzelte Punkte im Sicherheitsbereich geben, derer man sich annehmen werden muss. Da die Offshorebranche in Deutschland zu den jüngeren Wirtschaftszweigen zählt, werden noch viele dynamische Entwicklungen folgen. Und dies meine ich angefangen von der Ausbildung der Fachkräfte, der Sicherheit auf See bis hin zur Zusammenarbeit von Bund und Bundesländern. Fachkräfte im Offshorebereich werden immer gefragter. Hier bietet sich sehr viel Potenzial für den Arbeitsmarkt im Norden der Bundesrepublik. Die Gewinnung von Arbeitskräften sowie die Stärkung der Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen haben wir deshalb schon im Nationalen Masterplan Maritime Technologien anberaumt. Insbesondere die Stiftung der Offshorewindenergie und die dort eingerichtete Fachgruppe „Aus- und Weiterbildung“ sowie der ständige Arbeitskreis „Vernetzung der maritimen Wirtschaft mit der Offshore-Windenergie“ sind mit diesen Themengebieten intensiv befasst. Da die Offshoretechnik zu den neuen Technologiebereichen zählt, gibt es derzeit aber noch keine einheitlichen Ausund Fortbildungen. Hier liegt es allerdings auch an den Unternehmen für ihre Fachkräfte und deren Aus- und Weiterbildung zu sorgen. Auf diesem Gebiet planen bereits etliche Ausbilder und Institutionen, wie die Universität Rostock, spezielle Bildungsprogramme. Und diese Entwicklung begrüßen wir, denn mit dem verstärkten und durch uns geförderten Zubau an Offshoreenergie wird die Nachfrage in den nächsten Jahren ansteigen. Sie sehen, dass wir nicht tatenlos zusehen, sondern schon vieles auf den Weg gebracht haben. Die Offshorebranche verfügt über dynamische Potenziale. Es ist auch an uns, zukünftig konkrete Bedarfe und Defizite zu definieren und diese Entwicklung konstruktiv zu begleiten. Aber, meine liebe Kollegen und Kolleginnen der SPD-Bundestagfraktion, dazu benötigen wir Ihren Antrag nicht. Er ist überflüssig und das Thema längst auf unserer Agenda! Den vorliegenden Antrag lehne ich daher ab.

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die deutsche Sozialdemokratie kümmert sich mit Hingabe um die Offshorewindenergie. Das ist auch verständlich: Die Offshorewindenergie ist nämlich ein so neuer Wirtschaftszweig, dass er bisher noch nicht von sozialdemokratischer Regulierungswut erstickt werden konnte. Das will die SPD jetzt ändern. Aber nicht mit uns! Als ich diesen Antrag zum ersten Mal las, musste ich immer an Ilse Aigner und ihren Kampf für gute Lebensmittel denken. So wie zwielichtige Gestalten verdorbene Lebensmittel in attraktiven Verpackungen anbieten, so servieren die Sozialdemokraten in diesem Antrag angefaulte Politikreste unter einer zugegebenermaßen Zu Protokoll gegebene Reden chicen Überschrift als Delikatesse. Doch das ändert natürlich nichts: ungenießbar bleibt ungenießbar. Es ist schon erstaunlich, dass der Glaube an staatliche Intervention, die seligmachend sein soll, noch immer so verbreitet ist. Die Kollegen von der SPD glauben zu sehen, dass ein angeblich bereits heute erkennbarer Engpass an Fachkräften die Wachstumsdynamik dieser Branche zu bremsen droht. Einerseits vermag ich dies nicht zu glauben, andererseits frage ich mich, was der Staat dagegen tun sollte. Sollen wir die Unternehmen dazu zwingen, nach Maßgabe sozialdemokratischer Vorstellungen Leute auszubilden? Was sollen die armen Unternehmen mit den ganzen Mitarbeitern machen, die sie nach Ansicht von praxisfernen Sozialpädagogen in der SPD brauchen? Sollen die den ganzen Tag aus alten Zeitungen Papierschiffchen bauen? Es ist klar, dass ein Unternehmen nur dann wachsen und gedeihen kann, wenn es qualifizierte und motivierte Mitarbeiter hat. Gute Unternehmer wissen das. Schlechte Unternehmer sollten sowieso vom Markt verschwinden. Warum soll sich da der Staat einmischen? Sollen wir Unternehmen, die nicht dazu in der Lage sind, Personal zu gewinnen, qualifizierte Leute zuteilen? Nein, meine Damen und Herren, das muss und wird der Markt schon regeln. Unternehmen, die eine Zukunft haben wollen, bilden aus, Unternehmen, die keine Zukunft haben wollen, bilden nicht aus. Das ist so ähnlich wie mit den Dinosauriern - wer sich nicht weiterentwickelt, muss dem Neuen weichen. Als nächste Zutat taucht der unvermeidliche Leiharbeiter auf. Da unsere sozialdemokratischen Kollegen keine Zahlen für die Offshorewindenergie haben, ziehen Sie Ergebnisse irgendeiner fünf Jahre alten Studie für den gesamten Bereich der erneuerbaren Energien heran. Vor fünf Jahren, meine Damen und Herren, befand sich die Offshorewindenergie noch in einem embryonalen Stadium. Doch das interessiert keinen aufrechten Sozialdemokraten, wenn es um den Kampf gegen die böse Zeitarbeit geht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, warum haben Sie eigentlich die Zeitarbeit eingeführt, wenn diese Form der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes angeblich die Mutter alles Bösen sein soll? Da heute Abend auch Parteifreunde und geschätzte Koalitionspartner, die ich nicht mit schon lange und immer wieder gescheiterten sozialdemokratischen Rezepten langweilen möchte, anwesend sind, lassen Sie mich bitte noch einige Gedanken zu dem eigentlichen Thema ausführen. Im Bereich Sicherheit ist es Aufgabe der öffentlichen Hand, Such- und Rettungsdienste, SAR, bereitzustellen, Notfallpläne und Bereitschaftsdienste zum Schutz vor Umweltverschmutzung vorzuhalten sowie die Einhaltung der Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen am Arbeitsplatz zu kontrollieren. Wer sich schon einmal ernster mit den Aufgaben des Havariekommandos, das im Gebäude des Wasser- und Schifffahrtamtes in Cuxhaven untergebracht ist, auseinandergesetzt hat, muss zu dem Schluss kommen, dass es bei Unfällen im Bereich der Nord- und Ostsee ein koordiniertes und gemeinsames Unfallmanagement gewährleistet. Das gilt selbstverständlich auch für Offshorewindenergieanlagen. Das kann und soll aber nicht alles sein. Die Bundesregierung hat hier schon lange einen Optimierungsbedarf identifiziert und arbeitet daran, dass die Unternehmen der Offshorewindenergiebranche ergänzend zur staatlichen Daseinsvorsorge ausreichende Schutz- und Sicherheitskonzepte sowie Notfallpläne entwickeln und fortschreiben. Sicherheit ist nämlich nicht allein Sache des Bundes. Schon auf der Offshorekonferenz „Partner der Energiewende - Maritime Wirtschaft und Offshore-Windenergie“ hat Verkehrsstaatssekretär Enak Ferlemann konkrete Ziele formuliert. Er sah unter anderem verschiedene Möglichkeiten zur Optimierung: intensive Schulung und Fortentwicklung der Notfallpläne der Betreiber, Standardisierung und Zertifizierung der Aus- und Weiterbildung der Beschäftigten, Aufbau eines Ausbildungszentrums an der Küste. Sie sehen, diese Koalition handelt schon, bevor die Opposition einen Antrag geschrieben hat! Sie müssen uns nicht zum Jagen tragen. Schauen Sie genau hin, Kolleginnen und Kollegen von der SPD - so sieht nämlich gute Regierungsführung aus.

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Offshore ist mehr als Onshore auf dem Wasser. Denn ob kirchturmhohe Anlagen im stürmischen Meer, kilometerlange Unterwasserkabel oder ein „wetterfestes“ Umspannwerk - Wind, Wetter und Gezeiten machen jede Offshoreaktivität zur echten Herausforderung für Mensch und Maschine. Die Arbeit auf hoher See und in großen Höhen ist nicht ungefährlich, und sie erfordert gut trainierte Spezialisten. Rund 600 bis 1 000 Menschen werden nach bisherigen Schätzungen künftig direkt auf den Offshorewindanlagen tätig sein, in Spitzenzeiten sogar vier- bis fünfmal so viele. Mit der Größe der Bauvorhaben auf See und zunehmenden Beschäftigtenzahlen steigt auch das Unfallrisiko. Der Offshorebereich erfordert eine komplett neue Herangehensweise an die Windenergie: technologisch, logistisch und vor allem mit Blick auf Arbeitsschutz und Sicherheit für die Beschäftigten. Doch weil die Offshorewindkraft eine sehr junge Branche ist, fehlen bisher Standards für Aus- und Fortbildung sowie umfassende Qualifizierungsangebote. Derzeit obliegt die Verantwortung für Schutz- und Sicherheitskonzepte ausschließlich den Betreibern der Offshorewindenergieanlagen. Angesichts der dynamischen Entwicklung des Offshorebereiches besteht hier ein dringender Handlungsbedarf. Die Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass ein klarer Rahmen für die Offshoreaktivitäten geschaffen wird. Notwendig ist eine Ausbildung, die technisch auf dem neuesten Stand ist und die Arbeitsrealität auf den Windparkanlagen möglichst genau abbildet. Ein hohes Qualifikationsniveau der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kann dazu beitragen, die Gefahren bei den Arbeiten auf See deutlich zu senken. Dabei sind auch die besonderen Bedingungen der Zeitarbeitskräfte in den Blick zu nehmen. Zu Protokoll gegebene Reden Wichtig sind aber auch klare Handlungsempfehlungen für die Offshorewindenergieunternehmen, um einheitliche Standards sicherzustellen. Dies betrifft Arbeitsschutz und Notfallvorsorge, aber auch Meldeketten und Rettungsverfahren der im Bereich der Offshoresicherheit beteiligten Institutionen. Hier ist eine enge Abstimmung etwa mit dem Havariekommando, der gemeinsamen Einrichtung von Bund und Küstenländern, aber auch mit der DGzRS, der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, erforderlich. Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, ein umfassendes Konzept vorzulegen, mit dem das vorhandene Instrumentarium der Rettung auf See für Einsätze in Offshorewindparks gezielt erweitert wird. Bei den meisten Offshoreunfällen dürfte es sich nicht um Seenotfälle im klassischen Sinne handeln. Notwendig ist daher ein allgemeiner Rettungsdienst, der über eine entsprechende technische Ausrüstung verfügt und speziell geschult ist etwa mit Hubschraubern für den Einsatz auf See, mit denen Verletzte geborgen werden können. Zu berücksichtigen ist aber auch der Fall, dass Schiffe havarieren und in Windparkanlagen zu geraten drohen. Bisher ist nicht eindeutig geregelt, welche Sicherheitsbehörde im Notfall für die Bergung von Unfallopfern zuständig ist. Es ist zu klären, ob dem Havariekommando die Gesamtkoordination für die Offshorerettung übertragen werden sollte. Insbesondere die geplante neue Rettungsleitstelle ist in das bestehende „Sicherheitskonzept Deutsche Küste“ einzupassen. Was wir brauchen, ist ein verantwortungsvoller Umgang mit dem jungen Segment Offshore - damit die Zukunftsbranche auch dort die richtige Richtung weist, wo es um die wichtigen Themen Arbeitsschutz und Sicherheit geht.

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der SPD spricht zwei für die Offshorebranche wichtige Themen an: Ausbildung und Sicherheit. Offshoreanlagen werden in Zukunft einen Großteil unserer Energie bereitstellen. Damit die Energiewende gelingt, müssen nicht nur das Stromnetz und die Häfen ausgebaut werden. Wir brauchen auch gut ausgebildetes Fachpersonal. In punkto Aus- und Weiterbildung gibt es noch viel zu tun. Ganz so schwarz wie die SPD die Situation darstellt, ist sie aber nicht. Die Windenergieagentur WAB und das Zentrum für Windenergieforschung ForWind, an dem auch die Universität Bremen beteiligt ist, bieten ein weiterbildendes Studium „Offshore-Windenergie“ an, an der Universität Rostock wurde eine Stiftungsprofessur Windenergie eingerichtet, und in Bremerhaven gibt es das Offshoretrainingszentrum für Monteure - um nur ein paar Beispiele zu nennen. Es tut sich also etwas. Die norddeutschen Küstenländer haben erkannt, dass ihre Zukunft auf dem Meer und im Offshorebereich liegt. Aber es kann und muss noch mehr getan werden. Ein unkoordinierter Flickenteppich an Einzelmaßnahmen nützt uns wenig. Die Sozialdemokraten fordern daher eine Bestandsaufnahme der Istsituation. Diese ist bereits in Arbeit. Die Stiftung Offshore-Windenergie wird bis Ende des Jahres 2012 den Qualifikationsbedarf und die Ausbildungsangebote im Bereich Offshore für Norddeutschland analysieren. Darauf aufbauend können und müssen umfassende Aus- und Weiterbildungskonzepte erarbeitet werden. Beim Thema Schutz- und Sicherheitskonzepte ist die Rechtslage eindeutig. Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass das deutsche Arbeitsschutzgesetz auch in der Ausschließlichen Wirtschaftszone, AWZ, Anwendung findet. Die Betreiber von Offshorewindanlagen sind verpflichtet, Sicherheitskonzepte für ihre Anlagen zu erstellen und Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dazu gehört auch die Unfallnachsorge. Es steht ihnen frei, diese Aufgaben selbst zu übernehmen oder sie an Dienstleister zu übertragen. Die Bundesregierung steht ihrerseits in der Pflicht, einen Rahmen für ein Schutz- und Sicherheitskonzept der Offshorewindparkbetreiber zu schaffen. Das hat der Bundestag im letzten Jahr mit dem Koalitionsantrag zur Zukunftsfähigkeit der maritimen Wirtschaft beschlossen. Das Bundesverkehrsministerium wird diese Forderung erfüllen.

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nachdem uns die SPD kurzfristig einen Antrag zu Problemen der Offshorewindenergie bei der Hafeninfrastruktur vorlegte, hat sie gestern einen zweiten eingereicht, weil sie entscheidende Punkte vergessen hat. Aber Sie liefern keine eigenen Ideen, sondern rezitieren bekannte Herausforderungen und Fragen, von denen Sie selber sagen, dass diese hinlänglich bekannt seien und auch bereits bearbeitet würden. Selbstverständlich muss zum Beispiel die Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern für das Rettungswesen in Offshorewindparks geklärt werden. Ja, auch wir sehen dies als Teil der staatlichen Daseinsvorsorge an. Dennoch müssen die Konzernmultis an den Kosten für die schwierige Versorgung mitten in der Nord- und Ostsee beteiligt werden. Auf Schiffen unter deutscher Flagge - so es denn noch welche gibt - stellt die öffentliche Hand ja auch keine Schiffsärzte und Sicherheitskräfte, obwohl es sich um deutsches Hoheitsgebiet handelt. Wir legen Wert darauf, dass die Energiekonzerne diese Kosten nicht der Allgemeinheit überlassen. Warum jetzt ausgerechnet die SPD eine Lockerung der Offshorearbeitszeitregelungen fordert, um der „dynamischen“ Branchenentwicklung Rechnung zu tragen, leuchtet mir allerdings nicht ein. In Ihrem Antrag finden sich viele kleinteilige Forderungen, die Selbstverständlichkeiten des Betriebsablaufs und zur Ausbildung und regelmäßigen Schulung der dort Beschäftigten beinhalten. Dass Sie zum Beispiel einen umfassenden Branchenaustausch fordern, ist ja nett, doch ich bin mir sicher, dass es den auch ohne Forderungen des Deutschen Bundestages geben wird. Es ist vernünftig, konkrete Konzepte für Ausbildung, Arbeitsschutz, Unfall- und Notfallkonzepte einzufordern, insbesondere zum Schutz der Beschäftigten, wenn noch niemand daran gedacht hätte. Aber es gibt doch Zu Protokoll gegebene Reden schon die guten Empfehlungen aus der 7. Nationalen Maritimen Konferenz 2010 zu dem Thema. Es gibt weitere vom Deutschen Verkehrsgerichtstag und ein „Strategiekonzept zur Verletztenversorgung und -rettung auf Offshore Windkraftanlagen“ vom Havariekommando. Sie kennen sicher die Tätigkeit des Arbeitskreises „Vernetzung der Maritimen Wirtschaft mit der OffshoreWindenergiebranche“ und „Aus- und Weiterbildung“ der Stiftung „Offshore-Windenergie“ sowie den Arbeitskreis der Gesellschaft für Maritime Technik, die Arbeit des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie und der Gesellschaft zur Rettung Schiffsbrüchiger. Wozu also Ihr Antrag? Er würde mehr Sinn ergeben, wenn Sie in Ihrem Antrag neben den Sicherheitsfragen auch die Grenzen der Offshorewindparks aufgreifen würden. Sie machen den gleichen Fehler wie die Bundesregierung, die sich allein auf die heilsbringende Wirkung der Offshoreanlagen konzentriert. Wir haben bereits in der letzten Sitzungswoche darüber gesprochen, dass es sich bei dem Offshoreboom im Wesentlichen um einen Planungsboom handelt. Von 6 500 beantragten und über 2 000 genehmigten Anlagen befinden sich gerade einmal 160 Anlagen im Bau. 2004 hieß es noch in einer Studie von drei der vier großen Netzbetreiber in Deutschland, dass 2010 insgesamt 5,4 Gigawatt Offshoreenergie produziert werden würde, tatsächlich haben wir dort heute 0,2 Gigawatt installierte Leistung. Offshorewindparks leisten einen wichtigen Beitrag zur Energiewende. Aber an Land wird heute bereits die 135-fache Menge Windenergie erzeugt 27 Gigawatt. Sie lässt sich leichter ans Stromnetz anbinden, und die Probleme des schwierigen Notfallmanagements entfallen hier ebenfalls. Wir setzen zur Umsetzung der Energiewende nicht auf die Energiekonzerne, die lediglich von der Atomkraft auf Windkraft umstellen und bei Großprojekten bleiben. Wir wollen einen Mix aller regenerativen Energieformen und dezentrale Strukturen. Die Kommunen müssen bei der Rekommunalisierung ihrer Stadtwerke unterstützt und Genossenschaftsmodelle geschaffen werden. Milliardeninvestitionen zum Ausbau großer Übertragungsnetze quer durch die Republik lassen sich reduzieren, wenn mehr Strom dort erzeugt wird, wo er auch verbraucht wird. Auch im Süden der Republik entstehen neue und mehr Windparks, Biogas- oder Photovoltaikanlagen. Mittelfristig ist der geplante gigantische Ausbau der Übertragungsnetze also überdimensioniert und allenfalls in der Offshoreplanung begründet. Ja, wir brauchen ein Konzept, mit dem das vorhandene Instrumentarium zur Rettung auf See für Einsätze in Offshorewindparks erweitert wird. Aber viel dringender brauchen wir eine sichere und umweltfreundliche Energieerzeugung, die nicht ausschließlich auf Großtechnologie setzt. Nur so gelingt uns die Energiewende.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Welchen großen Stellenwert die Offshorewindenergie weltweit haben wird, habe ich schon letzte Sitzungswoche betont, als wir den Ausbau der Infrastruktur für die Offshorewindenergie debattiert haben. Besonders die Bewohner von Küsten und an Küsten gelegene Megacitys können durch die Offshorewindenergie und andere Meerestechnologien mit sauberem Strom versorgt werden. Es ist nicht nur der Strom, der diesen Menschen zugutekommt. Das große Potenzial der Energiegewinnung im Meer und durch das Meer ermöglicht einen rascheren Ausstieg aus der atomaren und fossilen Energiegewinnung. So können genau diese Bewohner der Küsten auch vor dem Klimawandel und den daraus resultierenden katastrophalen Folgen des Anstiegs des Meeresspiegels geschützt werden. In Deutschland sollen nach den Plänen der Bundesregierung bis zum Jahr 2020 Offshorewindenergieanlagen mit 10 Gigawatt Leistung installiert sein. Wir sind schon heute im Verzug mit dem Ausbau. Damit der Ausbau zügig vorangehen kann, muss aber nicht nur endlich die schnelle Netzanbindung gewährleistet und die Hafeninfrastruktur ausgebaut werden. Auch weitere Faktoren sind für den reibungslosen Ablauf des Ausbaus der Offshorewindenergie unabdingbar. Der Bau von Windenergieanlagen auf See ist eine technisch anspruchsvolle Aufgabe. Natürlich kann es dabei zu gefährlichen Situationen und Unfällen kommen. In solchen Fällen müssen klare Strukturen und Konzepte greifen. Rettungskräfte müssen personell gut ausgestattet und auf ihre Aufgaben vorbereitet sein. Natürlich muss auch das passende Rettungsgerät zur Verfügung stehen. Aber es geht nicht nur um Rettungsmaßnahmen nach Unfällen. Es muss vor allem auch um vorsorgende Unfall- und Arbeitsschutzmaßnahmen gehen. Schließlich ist die Offshorewindenergie eine noch junge Technologie, weshalb Erfahrungen noch gesammelt werden müssen. Diese sollten dann möglichst zeitnah in die Konzepte eingearbeitet werden. Der Antrag der SPD-Fraktion enthält viele wichtige Vorschläge zur Sicherheit für Offshorewindparks. Worauf die SPD in ihrem Antrag jedoch nicht eingegangen ist, sind Schutzkonzepte für das Meer und seine Bewohner. Der Ausbau der Offshorewindenergie muss natürlich auch den Schutz von Meereslebewesen berücksichtigen und darf nicht einseitig zulasten der Fauna gehen. Insbesondere die Lärmvermeidung zum Schutz von zum Beispiel Delphinen und Schweinswalen muss hier eine Rolle spielen, aber auch die Vermeidung von Leckagen, um etwa Chemikalien- oder Ölverschmutzungen des Meeres zu vermeiden. Der zügige Ausbau der Offshorewindenergie ist ein wichtiger Pfeiler der Energiewende in Deutschland, hinter dem wir Grünen stehen. Auch international können die Technologien zur Energiegewinnung im Meer einen sehr wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Dabei dürfen Sicherheitsaspekte und der Meeresschutz nicht zurückstehen. Nur wenn wir in Zukunft gute Schutz- und Sicherheitskonzepte sowie einen Interessenausgleich zwischen Energiegewinnung und Naturschutz, ein gutes Risikomanagement und ein gutes Küstenzonenmanagement haben, wird sich der Ausbau der Offshorewindenergie nicht noch weiter verzögern. So können wir nicht nur technologischer Vorreiter, sondern auch ein Zu Protokoll gegebene Reden weltweites Vorbild bei den Sicherheitsstandards für die Offshorewindenergie werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9928 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Sie sind einverstanden. Das ist so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 43 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben - Drucksache 17/9930 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({0}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Federführung strittig Die Reden wurden ebenfalls zu Protokoll genommen.

Norbert Brackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004017, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben hat die ihr gesetzlich zugewiesene Aufgabe, Immobilien des Bundes wirtschaftlich zu verwalten und für die Bundeszwecke entbehrliche Liegenschaften nach dem geltenden Haushaltsrecht zum vollen Verkehrswert zu veräußern. Die Verkaufserlöse fließen nach Abzug der Verwaltungskosten in den Bundeshaushalt - die Einnahmen kommen also allen Bürgerinnen und Bürgern im gesamten Bundesgebiet zugute. Bei einem Grundstücksverkauf geht die Bundesanstalt aber nicht mit der Holzhammermethode vor, sondern wendet vielmehr die Salamitaktik an, Stück für Stück zum Erfolg - ein Gewinn für beide Seiten: den Bürger und den Staat. Liegen zum Beispiel vergleichbare Kaufangebote für ein zu veräußerndes Grundstück vor, so berücksichtigt die Bundesanstalt im Rahmen der Käuferauswahl die strukturpolitischen Ziele der Länder und Kommunen ohne dass es hierzu einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedarf. Mit Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, wollen sie also gesetzlich etwas regeln, was von der Bundesanstalt bereits praktisch so gehandhabt wird. Wie Sie sehen, gibt es hierfür keine Notwendigkeit. Oder versteckt die Bundes-SPD in ihrem Antrag ein anderes Ziel? Ja, das tut sie! Mit ihrer Forderung, eine gesetzliche Öffnungsklausel zur Berücksichtigung städtebaulicher und regionalpolitischer Belange der Länder und Kommunen einzuführen, verfolgt die SPD vielmehr und primär das Ziel, die verbilligte Abgabe von Grundstücken des Bundes wieder einzuführen. Die BundesSPD verschleiert dies noch in ihrem Antrag, während die SPD im Bundesland Nordrhein-Westfalen mit ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben „das Kind beim Namen nennt“. In der Gesetzesbegründung zur Einführung einer Öffnungsklausel wird aufgeführt, dass die Bundesanstalt eine den kommunalen und regionalen Zielvorstellungen entsprechende Nachnutzung auch dann ermöglichen muss, wenn der volle Wert nicht realisiert werden kann, das heißt also: „Gebt uns das Grundstück verbilligt.“ Die Verschleierungsspielchen der Bundes-SPD sind mit uns nicht zu machen. Eine Partei, die sich für Transparenz einsetzt, sollte dies nicht nur fordern, sondern auch und vor allem selbst umsetzen. Dann legt die Bundes-SPD in ihrem Antrag noch einen Zacken drauf. Ihr eigentliches Ziel ist nicht nur, wie die SPD im Land NRW fordert, die verbilligte Abgabe von ehemals militärischen Liegenschaften, sondern die verbilligte Abgabe von allen nicht mehr benötigten Bundesliegenschaften. Wenn wir dies zuließen, wäre das Nächste, was wir von der SPD zu hören bekämen: Die christlich-liberale Koalition verschleudert Haushaltsmittel, veräußert Grundstücke zu Dumpingpreisen und schadet somit allen Bürgerinnen und Bürgern in der gesamten Bundesrepublik. Es geht nicht, auf der einen Seite der Regierung vorzuwerfen, man mache zu viele Schulden und spare zu wenig, und auf der anderen Seite zu fordern, das Tafelsilber als Plastikbesteck in die Regale zu legen. So etwas ist mit uns nicht zu machen - wir haben unseren Haushalt im Blick, und wir haben Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in der gesamten Bundesrepublik. Man sollte sich auch hier die Frage stellen: Würden die Kommunen ihre nicht mehr benötigten Grundstück auch verbilligt abgeben? Wohl kaum! Die federführende Arbeitsgruppe Haushalt der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion lehnt gemeinsam mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben und dem Bundesministerium der Finanzen eine - vor 2005 praktizierte Wiedereinführung einer verbilligten Abgabe von Grundstücken ab. Abgesehen von Präjudizwirkungen und Abgrenzungsschwierigkeiten käme es als Folge einer Öffnung des Bundesimmobilienanstaltsgesetzes unter Annahme einer derzeit geschätzten Flächengröße von circa 80 000 Hektar Konversionsflächen zu erheblichen Einnahmeverlusten für den Bund. Zählt man die Flächen noch dazu, die nicht als Konversionsflächen verbilligt veräußert werden sollen, so wären die Einnahmeausfälle noch viel größer. Somit würde Geld im Haushalt des Bundes fehlen, welches an anderer Stelle, zum Beispiel für Ausgaben im Sozialbereich - Rente, Arbeitslosengeld - dringend gebraucht würde. Verschleuderung von Grundstücken zu billigen Preisen wäre dann keine Wohltat, sondern eine Schandtat. Darüber hinaus würde „armen“ Kommunen eine Verbilligung nicht helfen, da sich auch einen verbilligten Ankauf lediglich finanziell gesunde Kommunen leisten könnten. Zudem hat die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben die Erfahrungen gemacht, dass in der Regel nicht die Kommunen als Körperschaft selbst ein Erwerbsinteresse haben, sondern deren Primärinteresse auf die Anwerbung von Investoren gerichtet ist. Die Verwertungs- und Investitionschancen setzen voraus, dass die Kommunen als Planungsträger attraktives Planungsrecht schaffen. Hierfür ist jedoch ein Eigentumserwerb durch die Kommunen nicht erforderlich, es sei denn die Kommune hat neben der Förderung der städtebaulichen Entwicklung mit Blick auf den Grundstückserwerb auch ein eigenes „Gewinnerzielungsinteresse“, welches durch einen verbilligten Kaufpreis entsprechend erhöht würde. Die Bundesanstalt hat verschiedene Verwertungsmodelle, die sowohl eine Beteiligung an den Entwicklungskosten, den Abschluss von städtebaulichen Verträgen wie auch Erleichterungen der Zahlungsmodalitäten für den Grundstückserwerber vorsehen. Diese stellen eine ergänzende wirksame und effektive Hilfestellung für die Entwicklung in den betroffenen Kommunen dar. Eine verbilligte Abgabe wäre zudem auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben des europäischen Beihilferechts zu überprüfen. Nach ersten Einschätzungen wäre zumindest eine Notifizierung erforderlich. Gemeinsames Ziel ist und bleibt es im Konversionsprozess, die strukturpolitischen und städtebaulichen Entwicklungsziele der Kommune einerseits und die wirtschaftlichen Verwertungsinteressen der Bundesanstalt andererseits zu einem für beide Seiten annehmbaren Interessenausgleich zu führen. Das vom Haushaltsauschuss am 21. März 2012 beschlossene Erstzugriffsrecht der Kommunen ist der geeignete Weg, um diese Ziele zu erreichen. Kaufangebote Dritter bleiben in diesem Fall unberücksichtigt. Damit erhalten die Kommunen zusätzlich zu ihrer Planungshoheit ein weiteres wichtiges Instrument, weil sie den kompletten Konversionsprozess von der Planung bis zur Vermarktung in einer Hand gestalten können. Man kann es nicht oft genug betonen: Die Flankierung des durch die Schließung von Bundeswehrstandorten eintretenden Strukturwandels ist vorrangig Aufgabe der Länder. Der Bund wirkt im Rahmen bestehender Förderprogramme daran mit. Das ist ausreichend, das ist sinnvoll und das ist haushalterisch vertretbar. So unterstützen wir Haushälter den Weg der Bundesregierung, in den Eckwerten zum Bundeshaushalt 2013 eine Anhebung der Ausgabemittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in Höhe von jährlich 33 Millionen Euro vorzusehen, die gerade für Konversionsprojekte eingesetzt werden können.

Alois Karl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003784, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Fraktion der Sozialdemokraten will mit ihrem Antrag „Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“ neue Akzente setzen. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben ist in ihren Zielen klar definiert: Eine unendliche Vielzahl von Liegenschaften, Grundstücken, Gewerbeflächen und Wohneinheiten sollen nicht nach althergebrachter, gutbürgerlicher Art von verschiedensten Behörden verwaltet werden; vielmehr hatte die damalige rot-grüne Bunderegierung eine andere Intention: Sie begründete die neue Bundesanstalt zum 1. Januar 2005 und hat ihr als Hauptaufgabe maßgeblich ins Stammbuch geschrieben, dass die mehr als 28 000 bundeseigenen Immobilien, Grundstücke, Staatsforsten usw. möglichst wirtschaftlich verwaltet werden sollen. Gerade durch die Zusammenführung in eine Bundesanstalt statt Aufsplitterung in Bundesvermögensämter, Bundesforstämter oder Bundesvermögensabteilungen in den Oberforstdirektionen wollte der Bund wirtschaftlich an die Verwaltung seiner Grundstücke herangehen. Dies ist in den vergangenen Jahren durchaus mit großem Einsatz geschehen. Die Mitarbeiter der BImA bis hin zu ihrem jetzigen Präsidenten Dr. Jürgen Gehb haben außerordentlich gute Arbeit geleistet. Sie müssen die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit, insbesondere die des Sparsamkeitsprinzips, einhalten. Gerade in einer Zeit, in der wir an oberster Stelle die Haushaltskonsolidierung als Staatsziel haben, sind diese Oberziele, die Wirtschaftlichkeit genauso wie die Sparsamkeit, auch von der BImA zu verlangen. Der Antrag der Sozialdemokraten läuft diesen Grundprinzipien geradezu diametral entgegen. Der Antrag möchte, dass entgegen Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit andere Belange ins Feld geführt werden. Insbesondere soll die BImA städtebauliche und regionalpolitische Belange stärker als bisher berücksichtigen. Zwar nicht ausgesprochen, aber dennoch als Hintergrund des Antrages ist für jeden erkennbar: Die BImA soll durch verbilligten Verkauf, durch „Unterwertverkauf“, teilweise klamme und teilweise marode Kommunen subventionieren. Dies widerspricht den Grundsätzen, die seinerzeit die rot-grüne Regierung der BImA mit auf den Weg gegeben hat. Unsere Zustimmung wird solch ein Antrag aus diesem Grunde in gar keiner Weise finden können. Gerade im Augenblick, wo viele Bundeswehrliegenschaften frei werden, wo die Bundeswehr aufgrund ihrer Strukturreform mit viel weniger Kasernen, viel weniger Übungsplätzen usw. auskommen wird, hat die BImA die Möglichkeit, das nicht betriebsnotwendige Bundesvermögen verantwortlich zu veräußern und sich wirtschaftlich zu gerieren. Die BImA macht das mit Augenmaß und mit großem Geschick, insbesondere aber - und das müssen wir von ihr verlangen - unter Einhaltung der gesetzlichen Regeln, unter Einhaltung der ihr vorgegebenen Grundlinien. Die BImA hat sich zwar wirtschaftlich und sparsam zu verhalten; sie hat aber nicht die Notwendigkeit, den letzten Cent herauszuschlagen. Die BImA hat durchaus ein kommunalfreundliches Verhalten. Das zeigt sich schon darin, dass wir als Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und der FDP einen anderen Weg gegangen sind. Wir haben beschlossen, dass die interessierten Städte und Gemeinden ein Erstzugriffsrecht haben. Dies bedeutet, dass Gebietskörperschaften, aber auch Stiftungen und Anstalten, an denen die Kommunen mehrheitZu Protokoll gegebene Reden lich beteiligt sind, billige Grundstücke des Bundes zu günstigen Preisen erlangen können. Sie kennen doch unseren Beschluss! Interessierte Gemeinden können zu einem gutachterlich ermittelten Verkehrswert Konversionsflächen ohne Bieterverfahren erwerben. Dies ist ein großer Vorteil. Die Gemeinden müssen nur ihr Interesse bekunden. Der Verkehrswert der interessierenden Grundstücke wird ermittelt, und die Gemeinden können im Erstzugriffsverfahren diese Grundstücke erwerben, ohne dass sie sich auf Konkurrenten einlassen müssten. In diesem Fall gibt es kein sich gegenseitiges Hochschaukeln von sich überbietenden Angeboten. Die interessierte Gemeinde gelangt in ein außerordentlich komfortables „Alleinstellungskriterium“. Die Gemeinden können von vornherein mit gutachterlich festgesetzten Werten kalkulieren und brauchen sich nicht auf ein oft monatelanges Bieterverfahren einzulassen. Dies nenne ich kommunalfreundlich. Solch ein Verfahren ist nicht nur überschaubar und berechenbar, es schützt Gemeinden auch vor Spekulantentum. Der SPD-Antrag dagegen geht in die Irre. Sie möchten Verbilligungen für Gemeinden erreichen, würden aber gerade das Gegenteil erzielen. Gerade finanzstarke Kommunen würden viel stärker profitieren als finanzschwache Gemeinden. Bedenken Sie nur, dass sich der Bereich von Übungsplätzen usw. über verschiedene Gemeinden erstreckt, dass bei Bundeswehrübungsgeländen mehrere Gemeinden Anlieger sind. Nicht diejenige Gemeinde, die das beste Konzept vorzulegen hat, nicht die Gemeinde, die am dringendsten Erweiterungsflächen braucht, nicht die Gemeinde, die Gewerbe- und Industrieausweitung am sinnvollsten darstellen kann, wäre nach Ihrem Konzept zum Schluss Eigentümer der jetzt zur Konversion anstehenden Grundstücke, sondern die wirtschaftlich stärkste Gemeinde. Gerade unser System vom Erstzugriff vermeidet das. Unter Einschränkung des Prinzips der Wirtschaftlichkeit wird der betroffenen Gemeinde das von der BImA verwaltete Grundstück zugesprochen. Die Sozialdemokraten verwechseln in ihrem Antrag grundlegende Dinge. Es geht ihnen eigentlich um ein kommunalfreundliches Verfahren; dieses aber wird gerade durch die Mittel der Strukturförderung bei uns befördert. Strukturförderung geschieht durch andere Instrumente. Die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, GRW, die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes ({0}), die Instrumente der Städtebauförderung, die Möglichkeiten der Kreditanstalt für Wiederaufbau usw., aber auch die entsprechenden EUProgramme, das sind bei uns die Möglichkeiten, die die Strukturförderung im Fokus haben. Die Aufgaben der BImA sind anders beschrieben; die BImA kann nicht die Strukturförderung betreiben. Wir verhalten uns auf der einen Seite sparsam und wirtschaftlich; wir haben auf der anderen Seite aber gerade durch das Erstzugriffsrecht das Interesse der Gemeinden sehr wohl im Auge. Gerade aus diesem Grunde ist eine Ergänzung oder Neufassung der Ziele und Regelungen des Gesetzes über die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben nicht notwendig. Aus diesem Grunde lehnen wir den Antrag der SPD ab.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nach wie vor verfügt der Bund als Eigentümer über erhebliche Immobilienwerte. Nicht alle Immobilien des Bundes müssen dauerhaft im Bundesbesitz bleiben. Am Ende muss über den Fortbestand des Bundeseigentums die Frage entscheiden, ob und wie eine effektive Nutzung dieser Liegenschaften im gesamtgesellschaftlichen Sinne erfolgen kann. Die SPD-Bundestagsfraktion greift mit ihrem Antrag „Neuausrichtung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben“, über den wir heute diskutieren, ein Problem auf, bei dem aus Sicht der Sozialdemokraten dringender Handlungsbedarf besteht - Handlungsbedarf in mehrfacher Hinsicht und in mehreren Bereichen. Zentrales Ziel ist es hierbei, dass die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, BImA, nicht mehr reiner Immobilienmakler des Bundesfinanzministers sein soll, sondern in ihr Aufgabenspektrum städtebauliche und regionalpolitische Belange einfließen müssen und dass dementsprechend der Aufbau und die Organisation der BImA strukturell und personell optimiert wird. Daraus ergibt sich im Übrigen auch die Notwendigkeit einer stärkeren Zusammenarbeit der BImA mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sowie mit weiteren fachlich zuständigen Bundesbehörden. Vor wenigen Wochen haben wir im Deutschen Bundestag über den Stopp beim Verkauf von TLG-Wohnungen diskutiert. Die BImA hat den Auftrag, circa 11 500 Wohnungen zu privatisieren. Bisher hat die schwarz-gelbe Koalition keine Einsicht gezeigt, dass, wie im SPD-Antrag gefordert, diese Wohnungen vorrangig kommunalen Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften zum Kauf angeboten werden. Die SPD-Bundestagsfraktion sieht hier ein dringendes Handlungserfordernis, damit der Einfluss der öffentlichen Hand auf den angespannten Wohnungsmarkt in Deutschland erhalten bleibt. Warum verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, sollte der Erwerb von TLG-Wohnungen durch Genossenschaften nicht gefördert werden? Auf der kürzlich durchgeführten Veranstaltung zum Internationalen Jahr der Genossenschaften ist die gesellschaftspolitische Rolle der Genossenschaften ausdrücklich positiv bewertet worden. Ich zitiere einige Aussagen: „Der Gedanke der Genossenschaft überzeugt zum Beispiel in Singapur genauso wie in Finnland“, „Genossenschaften sind Vorbilder, wie man ökonomische, soziale und ökologische Ziele verbindet“. Noch ein weiteres Zitat: „Ich denke zum Beispiel an den Bereich des Wohnungsbaus. Viele Wohnungsbaugenossenschaften haben ja die Frage ‚Wie sieht der Mieter, der Wohnungsbesitzer der Zukunft aus?‘ im Blick …“ „Ich glaube, hier können wir auch politisch von interessanten Beispielen aus Ihrem Bereich lernen und aus dem Reservoir Ihrer Erfahrungen schöpfen.“ Recht hat die Gastrednerin mit ihren Ausführungen. Den Appell von Frau Bundeskanzlerin Merkel bei der Festveranstaltung der Genossenschaften sollten Sie, meine Damen und Herren in der Koalition, ernst nehmen. Mit dem am 26. Oktober 2011 von der Bundesregierung verkündeten Stationierungskonzept der Bundeswehr werden 31 Standorte komplett geschlossen und 90 Standorte zum Teil drastisch reduziert. Hieraus erwachsen nicht nur für die Soldatinnen und Soldaten, sondern auch für die betroffenen Standortkommunen erhebliche Konsequenzen. Mit dem Antrag „Konversion gestalten - Kommunen stärken“ hat die SPD-Bundestagsfraktion diese Problematik aufgegriffen und konkrete Vorschläge vorgelegt, wie der Bund diesen Prozess mit den Ländern und den betroffenen Kommunen gestalten soll. In beiden Fällen, sowohl bei der Problematik TLGWohnungen als auch im Rahmen der Standortveränderungen der Bundeswehr, ist offensichtlich, dass es einer gestaltenden Hand des Bundes bedarf, damit nicht kurzzeitige Geldnahmen des Bundesfinanzministers das Kriterium sind, sondern eine weitreichende gestaltende Planung die Grundlage für das staatliche Handeln darstellt. Die derzeitige Rechtslage, auf der die BImA als zuständige Bundesbehörde für die Verwertung der vom Bund nicht mehr benötigten Bundesliegenschaften agiert, wird diesen Erfordernissen nicht gerecht. Bei der Verwaltung und Verwertung der Liegenschaften spielt bislang lediglich die Orientierung an kaufmännischen Grundsätzen eine Rolle, nach denen nicht betriebsnotwendiges Vermögen wirtschaftlich zu veräußern ist. Die Aspekte aus kommunalen und regionalen Zielvorstellungen finden hierbei nicht die notwendige Beachtung. Die Bereiche Landschafts- und Naturschutz und regenerative Energiegewinnung bzw. Ausgleichsmaßnahmen stehen nicht im Fokus der Betrachtung und des Handelns der BImA. Diese kritische Bewertung der derzeitigen Rechtslage bezüglich der Aufgabenstellung der BImA bei Vermögensveräußerungen des Bundes wird auch vom Bundesrat geteilt. Ich verweise darauf, dass das Land Nordrhein-Westfalen einen Gesetzentwurf zur Änderung des BImA-Gesetzes vorgelegt hat, dem mittlerweile die Länder Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz beigetreten sind. Dieser Antrag ist am 31. Mai 2012 im Ausschuss für Städtebau, Wohnungswesen und Raumordnung behandelt worden und wurde mit 14 Ja-Stimmen bei 2 Enthaltungen angenommen. Das ist doch eine ganz klare Botschaft an den Deutschen Bundestag, eine Präzisierung des Auftrags der BImA vorzunehmen. Der Gesetzentwurf des Landes Nordrhein-Westfalen beinhaltet eine Ergänzung des § 1 Abs. 1 BImA-Gesetz. Danach soll nach dem Satz 5 ein weiterer Satz eingefügt werden, mit dem klar definiert wird, dass die BImA bei der Verwaltung und Verwertung ehemals militärisch genutzter Liegenschaften sicherzustellen hat, dass die strukturpolitischen Ziele des Bundes, der Länder und der Kommunen im Sinne einer nachhaltigen Regionalentwicklung zu berücksichtigen hat. Der SPD-Antrag, über den wir heute diskutieren, geht über diese Forderung hinaus und beinhaltet auch eine Berücksichtigung städtebaulicher Belange, und zwar nicht nur bei Konversionsmaßnahmen. Wir stimmen hierbei mit der Forderung der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder überein, die auf ihrer Sitzung am 15. Dezember 2011 gefordert haben, dass strukturpolitische Ziele des Bundes, der Länder und der Kommunen ausdrücklich berücksichtigt werden sollen und hierzu eine Öffnungsklausel ins BImA-Gesetz eingefügt werden soll. Da sind wir wieder beim Thema TLG-Wohnungen. Wir sehen - das kommt in Ziffer 2 unseres Antrages zum Ausdruck - darüber hinaus das Erfordernis, dass die Regelung im § 4 des BImA-Gesetzes zum Aufbau und zur Organisation der BImA präzisiert werden muss. Eine stärkere fachliche Gewichtung städtebaulicher und regionalpolitischer Aspekte bei Veräußerungs- und Verwaltungsprozessen muss strukturelle und personelle Folgen nach sich ziehen. Nochmals, die BImA muss mehr sein als nur der Immobilienmakler für den Bundesfinanzminister. Die Ergänzung des Handlungsauftrags für die BImA ist offenkundig notwendig. Das zeigen die dargestellten Beispiele, und darüber gibt es einen Konsens mit dem Bundesrat. Die Diskussion über die künftige Verwertung der TLG-Wohnungen und die Herausforderungen beim Konversionsprozess belegen, dass hier der Bund seiner strukturpolitischen Verantwortung gerecht werden muss. Darauf zielt der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion ab, für dessen Unterstützung ich um Ihre Zustimmung werbe.

Heinz Peter Haustein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003765, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag fordert, das Gesetz über die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, BImAG, in zwei wesentlichen Punkten zu ändern. Erstens sollen die in § 1 formulierten Ziele um die Aspekte der städtebaulichen und regionalpolitischen Belange ergänzt werden, und zweitens sollen die in § 4 enthaltenen Regelungen betreffend den Aufbau und die Organisation der BImA strukturell und personell optimiert werden. Begründet werden diese Forderungen unter anderem damit, dass es zu „Konflikten zwischen städtebaulich gebotenen und haushaltsrechtlich erforderlichen Überlegungen kommen kann“. Als Lösung wird vorgeschlagen, „dass die Tätigkeit der BImA stärker als bislang an strukturpolitischen Zielen ausgerichtet werden muss“. Dazu ist „eine bessere Verzahnung der unter der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen stehenden BImA mit den städtebaulichen und strukturpolitischen Zielvorstellungen der Länder, der Kommunen und des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erforderlich“. Die Richtung ist eindeutig: Die geltende Rechtslage, dass die BImA sich unter haushaltsrechtlichen Verpflichtungen an kaufmännischen Grundsätzen orientieren muss, soll einseitig zulasten des Bundes aufgegeben werden. Gleichzeitig sollen die Entscheidungsgremien der BImA durch Beteiligung der Länder und Kommunen erweitert werden. Beide Forderungen haben, würden sie umgesetzt, weitreichende Konsequenzen. Denn sollten zukünftig Länderinteressen oder kommunale Interessen höher als die Verpflichtung zur Wirtschaftlichkeit bewertet werden, dann ist jede Haushaltskonsolidierungspolitik beliebig: andere Interessen - andere Wertigkeit. Zu Protokoll gegebene Reden Und die Erweiterung des Entscheiderkreises um interessengeleitete Betroffene erinnert fatal an die vielen Runden Tische, korporatistische Bündnisse, die es in Deutschland gab und gibt. Wer so etwas fordert, fördert ein parternalistisches Demokratieverständnis: Wir setzen uns alle zusammen, und dann verkünde ich, was die Mehrheit für gut befunden hat. Orientierung an übergeordneten Grundsätzen, Haushaltsrecht wird dann ebenso zur Farce wie persönliche Verantwortungsübernahme. Wir Liberale lehnen diese sozialdemokratische Betroffenheitspolitik entschieden ab. Interessant ist, dass die Gesetzesnovellierung 2009 vorsah, den Konversionsprozess ohne ein gesondertes Konversionsprogramm des Bundes weiter durchzuführen. Ziel war und ist weiterhin die effiziente Verwaltung der Liegenschaften nach kaufmännischen Grundsätzen und nicht, betriebsnotwendiges Vermögen wirtschaftlich zu veräußern. Und das ist nach wie vor der richtige Weg. Städtebauliche und regionalpolitische Belange sind im wahrsten Sinne des Wortes zuerst regionalpolitische Aufgaben. Dazu benötigen die Kommunen nicht weniger, sondern eher mehr Autonomie und stehen in der Verantwortung, als Planungsträger ein attraktives, wettbewerbsfähiges Planungsrecht zu schaffen. Auf dieser Grundlage können die Kommunen dann entscheiden, ob sie überhaupt Eigentumserwerb an die durch die Konversion freiwerdenden Gebäuden und Flächen favorisieren oder Private zum Zuge kommen lassen wollen. In jedem Fall legen die Kommunen aber fest, was mit den durch die Konversion freiwerdenden Gebäuden und Flächen geschehen soll: zusätzliche Gewerbestandorte ausweisen, neue Wohngebiete erschließen oder Grünflächen anlegen. Das alles sind kommunalpolitische und keine bundespolitischen Aufgaben. Die FDP fördert den Gedanken des kommunalen Wettbewerbs, um durch Entwicklung regionaler Besonderheiten den Menschen in den unterschiedlichsten Regionen immer wieder neue Perspektiven zu eröffnen. Städtebauliche oder regionalpolitische Belange auf Bundesebene mit entscheiden zu wollen, widerspricht zudem dem Subsidiaritätsprinzip, dem sich selbst die EU verpflichtet hat: Nur dann, wenn eine Entscheidungsebene nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, kann die nächsthöhere Ebene Entscheidungshilfen anbieten. Das Primat der Entscheidungsfindung bleibt auf der lokalen Ebene. Der Bund hat nicht das Recht, die städtebauliche oder regionale Entwicklung zu bestimmen. Das war und bleibt originäres Planungsrecht der Kommunen. Die BImA durch eine strukturelle und personelle Veränderung optimieren zu wollen, um städtebauliche und regionalpolitische Aspekte stärker zu gewichten, heißt zum einen, mit der geleisteten Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht zufrieden zu sein, und zum anderen, ihnen nicht zuzutrauen, weitere Aspekte zusätzlich berücksichtigen zu können. Übersetzt bedeutet das, zusätzliche Stellen in der BImA - im öffentlichen Dienst - schaffen zu wollen. Die schwarz-gelbe Koalition stellt sich hinter die Leistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BImA und lehnt strukturelle wie personelle Veränderungen im Sinne der Antragsteller klar ab. Die Ablehnung der Umsetzungsforderungen dieser Vorschläge heißt aber nicht, dass die schwarz-gelbe Koalition jegliche Mitverantwortung bei der Konversion zur städtebaulichen und regionalen Entwicklung ablehnt. Im Gegenteil: Bereits im Februar 2012 hatte auf Vorschlag der schwarz-gelben Koalition die BImA für ein kooperatives Zusammenwirken aller Beteiligten zu einer Konversionskonferenz eingeladen. Diese neue Form einer kooperativen Zusammenarbeit aller Beteiligten gilt es zu intensivieren und fortzusetzen. Am 21. März 2012 hat der Haushaltsausschuss mit Mehrheit der schwarz-gelben Koalition beschlossen, dass bei Veräußerungen von Konversionsliegenschaften an Gebietskörperschaft bzw. juristischen Personen des Privatrechts, die im Mehrheitsbesitz einer Gebietskörperschaft sind, eine Veräußerung einer Liegenschaft mit einem durch ein Sachverständigengutachten ermittelten Verkehrswert ohne Bieterverfahren möglich ist. Den Kommunen wurde dadurch ein Erstzugriffsrecht eingeräumt. Weitergehende Preiszugeständnisse kämen tendenziell finanzstarken Kommunen zugute und würden diese ohne Bedarf subventionieren. Finanzschwache Kommunen hätten einen eklatanten Wettbewerbsnachteil. Ob durch weitere Preisnachlässe überhaupt positive kommunale Effekte erzielt werden könnten, ist anzuzweifeln. Denn die unter Wert durchgeführte Abgabe von Bundesliegenschaften in den 90er-Jahren hat den Bund zwar 2,27 Milliarden Euro gekostet; deren Wirksamkeit konnte nicht nachgewiesen werden. Deshalb und aus Gründen der Haushaltskonsolidierung lehnt die schwarz-gelbe Koalition solche effekthascherischen Forderungen strikt ab. Des Weiteren fördert die schwarz-gelbe Koalition den Strukturwandel durch die Zurverfügungstellung von Mitteln im Rahmen der bestehenden Förderprogramme, wie zum Beispiel der Städteförderung und der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, GRW. Daneben kommen zur Flankierung auch Fördermittel des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, EFRE, oder des Europäischen Sozialfonds, EFS, in Betracht. Ziele der Konversion sind nach wie vor, in einem fairen Umgang miteinander den Kommunen neue Chancen für ihre weitere Entwicklung zu bieten und den berechtigten Interessen des Bundes durch einen klaren Gesetzesauftrag für die BImA nachzukommen. Der Antrag entspricht nicht diesen Zielintentionen und wird deshalb von der FDP abgelehnt.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Abzug der Bundeswehr ist kein Grund für Weltuntergangsstimmung. Es ist im Gegenteil begrüßenswert, dass nun ehemals militärisch genutzte Gebäude und Flächen für eine zivile Nutzung zur Verfügung stehen. Am 12. Juni hat die Bundeswehr ihre Realisierungsplanung für den Abzug und leider auch den Ausbau einiger Standorte bekannt geben. Aus 32 Standorten wird die Bundeswehr komplett abziehen und etwa 90 Zu Protokoll gegebene Reden werden deutlich verkleinert. Für die betroffenen Regionen wird dies teils grundlegende Veränderungen in Gang setzen. Da in den letzten 20 Jahren im Osten und Westen des Landes bereits Hunderte von ehemaligen Militärstandorten aufgelöst wurden, existiert zwischenzeitlich ein großer Erfahrungsschatz über Chancen und Risiken der zivilen Konversion. Insgesamt waren jedoch die bisherigen Erfahrungen sowohl in städtischen Ballungsräumen als auch in strukturschwachen ländlichen Gebieten so gut, dass auch die nächste Welle der Konversion mit Optimismus in Angriff genommen werden kann. Mittelfristig und teils sogar bereits kurzfristig entstanden mehr und besser qualifizierte Arbeitsplätze in der Region und die Steuereinnahmen stiegen. Dieser Prozess des zivilen Neuanfangs lief dort besonders gut, wo er unter Beteiligung der Bevölkerung und nicht durch einzelne Investoren durchgeführt wurde. Der positive Effekt der Bundeswehr auf die regionale Ökonomie wird regelmäßig überschätzt, denn die Bundeswehr zahlt im Gegensatz zu Gewerbebetrieben keine Steuern und ist im Gegensatz zu früher kaum noch mit der regionalen Wirtschaft verflochten. Die Verpflegung der Soldatinnen und Soldaten wird größtenteils zentral über das Verpflegungsamt in Oldenburg organisiert, und größere Infrastrukturarbeiten und Reparaturen werden ebenfalls seit einigen Jahren zentral durch die „Territoriale Wehrverwaltung“ organisiert, sodass für das lokale Handwerk kaum positive Impulse gesetzt werden. Für die Linke ist es klar, dass wir die Motivation der Bundeswehr für diese Neuordnung ihrer Liegenschaften ablehnen. Der Bundeswehr geht es allein darum, ihre gesamte Struktur an kriegerischen Auslandseinsätzen auszurichten. Deswegen baut die Bundeswehr jetzt das Personal und die Infrastruktur ab, die für weltweite Kriege und Besatzungen nicht mehr nötig sind. Doch auch wenn wir diese Ziele klar ablehnen, sehen wir doch eine Chance darin, frühere Militärliegenschaften zukünftig zivil zu nutzen und so zu zeigen, dass eine zivile Zukunft definitiv attraktiver ist als Militär. Besonders wichtig wird es sein, dass über die bisher bekannten Orte hinaus, militärische Übungs- und Schießplätze in großem Umfang dem Militär entzogen werden. Die Linke setzt sich dafür ein, dass die Gewinne aus dem Verkauf der Liegenschaften zukünftig nicht mehr in den Militärhaushalt fließen. Stattdessen brauchen Kommunen auch aus Bundesmitteln Startkapital, um solide und demokratische Planungsprozesse durchführen zu können und gegebenenfalls dringend benötigte öffentliche Infrastruktur, wie Sportstätten oder Pflegeeinrichtungen, finanzieren oder auch die Renaturierung von Flächen in Angriff nehmen zu können. Die Linke unterstützt deswegen die Forderung des Deutschen Städte- und Gemeindebunds nach Einrichtung beziehungsweise Aufstockung von Förderprogrammen für die Kommunen. Der Bund darf sich dabei nicht aus der Verantwortung stehlen. Zudem teilen wir die Auffassung der kommunalen Spitzenverbände, dass es volkswirtschaftlich sinnvoll sein kann, bei dem Verkauf der Bundeswehrliegenschaften nicht auf kurzfristige Gewinnmaximierung zu setzen. Schließlich handelt es sich bei den Bundeswehrstandorten um öffentliches Eigentum. Die zukünftige Nutzung darf, so sie sich an den Bedürfnissen der Menschen in der Region orientiert, nicht daran scheitern, dass sich die Kommunen den Kauf dieser Flächen nicht leisten können.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben bereits am 26. April 2012 über die Konver- sion militärisch genutzter Liegenschaften in Deutsch- land debattiert. Der Auslöser für die Anträge und Debatte war, dass am 26. Oktober 2011 das Bundes- ministerium für Verteidigung die Schließung von 31 Standorten der Bundeswehr angekündigt hatte. Auf- grund der vorherigen Stationierungsentscheidung ste- hen immer noch 13 weitere Standorte zur Schließung an. Hinzu kommen der Abzug und die Verkleinerung von bri- tischen und US-amerikanischen Streitkräften und deren Standorten in Deutschland. Die britischen Streitkräfte sind derzeit noch an circa 17 und die der USA an 23 Standorten in Deutschland vertreten. Nun hat die SPD erneut einen Antrag zu dem The- menkomplex Konversion und Bundesanstalt für Immobi- lienaufgaben mit dem Titel „Neuausrichtung der Bun- desanstalt für Immobilienaufgaben“ eingebracht. Gefordert werden richtigerweise Änderungen in den §§ 1 und 4 des BImA-Gesetzes. Richtig ist diese Forderung, da die Konversion dieser Liegenschaften die betroffenen Kommunen in den nächsten 10 bis 15 Jahren vor große Zukunftsaufgaben stellt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Veräußerung dieser Liegenschaften durch die Bundesanstalt für Im- mobilienaufgaben als Eigentümerin ausschließlich zum vollen Wert erfolgt und die Gewinne folglich in Form von Verwaltungseinnahmen in den Bundeshaushalt flie- ßen. Seit 2008 lagen diese Einnahmen bei 600 000 Euro in 2008, 1,3 Milliarden Euro in 2011, und für 2012 wird mit Einnahmen in Höhe von 2,2 Milliarden Euro gerech- net. Obwohl die Zuführung einer neuen Nutzung der Lie- genschaften die betroffenen Bundesländer und Kommu- nen vor sehr unterschiedliche Herausforderungen stellt, hat der Bund bis heute kein zukunftsweisendes Konzept zur Nachnutzung der militärischen Liegenschaften von Bundeswehr und alliierten Streitkräften vorgelegt. Aus mehr und mehr betroffenen Bundesländern wird - par- teiübergreifend - die Forderung laut, der BImA mehr Freiräume bei der Preisgestaltung zu geben. Die BImA verfügt über eine große Bandbreite und eine große Anzahl von Bundesliegenschaften. Die Art ih- rer Nutzung ist schon wegen ihres Umfangs und der Zu- griffsmöglichkeit der öffentlichen Hand von erheblicher Bedeutung für Städtebau und Regionalentwicklung, ins- besondere in vom Strukturwandel stark betroffenen Ge- bieten. Wir haben bereits in unserem Antrag gefordert, dass die öffentliche Hand bezüglich ihrer Liegenschaftspoli- tik, der Verwertung ihrer Grundstücke und Gebäude eine Vorbildfunktion einnehmen sollte. Besonders die Zielsetzungen des Städtebaus, der Regionalentwicklung, des Umwelt- und Klimaschutzes sollten hier stärker be- Zu Protokoll gegebene Reden rücksichtigt werden. Wir waren daher von Anfang der Debatte der Auffassung, dass § 1 des BImA-Gesetzes durch eine Öffnungsklausel ergänzt werden muss. Dies sollte dahin gehend erfolgen, dass eine Berücksichti- gung strukturpolitischer, darunter auch städtebaulicher und wohnungspolitischer Ziele des Bundes, der Länder und der Kommunen möglich sein muss. Weiterhin haben wir in unserem Antrag gefordert, das Know-how in den Bereichen energetische Gebäudesa- nierung, warmmietenneutrale Sanierung, Einsatz ökolo- gischer Baustoffe, Energieeffizienz und erneuerbare Energien innerhalb der Abteilung Facility Management der BImA auszubauen und eine bessere Vernetzung mit den Bundesämtern wie dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung und dem Umweltbundesamt zu prüfen. In ihrem Antrag greift die SPD-Bundestags- fraktion nun unsere Forderungen auf. Dies begrüßen meine Fraktion und ich ausdrücklich, besonders da alle Oppositionsfraktionen unserem Antrag im Ausschuss für Verkehr, Bau, Stadtentwicklung gefolgt sind.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9930 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist allerdings strittig. CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss, die Fraktion der SPD beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Ich lasse zunächst über den SPD-Vorschlag abstim- men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag: Verkehr, Bau und Stadtentwicklung? - Wer stimmt dage- gen? - Die Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt bei Zustimmung durch SPD und Bünd- nis 90/Die Grünen. Die übrigen Fraktionen waren dage- gen. Ich lasse abstimmen über den Überweisungsvor- schlag der CDU/CSU und FDP: Haushaltsausschuss. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthal- tungen? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und Linke. SPD und Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Tom Koenigs, Josef Philip Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Tom Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zur Situation von Roma in der Europäischen Union und in den ({3}) EU-Beitrittskandidatenstaaten - Drucksachen 17/8868, 17/5536, 17/7131, 17/9915 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach Angelika Graf ({4}) Annette Groth Volker Beck ({5}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck ({7}), Josef Philip Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Volker Beck ({8}), Tom Koenigs, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zur Situation von Roma in der Europäischen Union und in den ({9}) EU-Beitrittskandidatenstaaten - Drucksachen 17/8869, 17/5536, 17/7131, 17/9723 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Frieser Gabriele Fograscher Serkan Tören Josef Philip Winkler Die Reden werden zu Protokoll gegeben.

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Situation der Roma in der Europäischen Union wurde ausführlich in der Beantwortung auch der Großen Anfrage, Bundestagsdrucksache 17/5536, beleuchtet. Um Wiederholungen zu vermeiden, werde ich daher nicht auf alle aufgeworfenen Punkte nochmals eingehen. Die Entschließungsanträge sollen zu einer Verbesserung der Lebensbedingungen für Roma, Ashkali und Kosovoägypter in Deutschland und in der Europäischen Union führen. I. Um dies zu erreichen, soll die Bundesregierung aufgefordert werden, sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebung von Roma, Ashkali und Kosovoägyptern aus dem Kosovo einzusetzen, und die Regierungen anderer EU-Mitgliedstaaten auffordern, ebenso zu verfahren und Roma, Ashkali und Kosovoägyptern eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu gewähren. Argumentiert wird, dass Kindeswohl und humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung sprächen. Diese Forderungen sind abzulehnen. Eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Roma würde nicht durch eine Aussetzung der Abschiebung erreicht. Im Gegenteil würden Menschen weiter in einem Schwebezustand in einem Land gehalten, das nicht ihre Heimat ist, während der Aufbau ihrer Heimat ohne sie vollzogen werden soll. Erstens. Situation der Rückkehrer. Ich unterschätze nicht, dass eine Rückkehr in den Kosovo schwer ist. Es ist jedoch zu beachten, dass die Herausforderungen, die der Wiederaufbau des Kosovo mit sich bringt, nicht nur die Roma, sondern alle Flüchtlinge aus dem Kosovo betreffen. Es wurden daher bereits Bemühungen unternommen, um allen Rückkehrern gleichermaßen zu helfen. Zur Unterstützung vor Ort wurden eine Reihe von Hilfsmaßnahmen wie zum Beispiel das Projekt URA 2 ins Leben gerufen. URA 2 wird rein national gefördert. Ziel des Vorhabens ist es, zurückkehrenden Personen die Reintegration im Kosovo zu erleichtern und das Rückkehrmanagement insgesamt weiter zu verbessern. Es bietet Maßnahmen zur Integration, Betreuung und Unterstützung für kosovarische Rückkehrer. Es nicht sinnvoll, allen Rückkehrern vor Ort Unterstützung anzubieten und zugleich die Rückkehr der Roma und damit auch ihre Integration in ihr Heimatland auf unbestimmte Zeit zu verzögern. Es stärkt die Position der Roma nicht, wenn ihnen Anreize gegeben werden, zu dem Zeitpunkt in Deutschland zu verbleiben, in dem die Rückkehr in die Heimat durch Unterstützungsleistungen erleichtert würde. Eine Verzögerung des Neuanfangs in der Heimat behindert auch das Zusammenwachsen der Minderheiten der Bevölkerung. Soll die Abschiebung so lange hinausgezögert werden, bis der Wiederaufbau des Kosovo ohne die Minderheiten vollzogen wurde? In diesem Fall würde den Roma, Ashkali und Kosovoägyptern die Gelegenheit genommen, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Der Vorwurf, die Menschen würden ins Nichts abgeschoben, setzt auch die Bemühungen der kosovarische Regierung Rückkehrerfamilien zu unterstützen, herab. Diese hat einen Reintegrationsfond aufgelegt und mit 3,4 Millionen Euro ausgestattet. Die Bürgermeister und Schuldirektoren wurden angewiesen, Rückkehrerfamilien zu unterstützen. Es ist vermessen und naiv zu glauben, dass ein Land im Wiederaufbau sofort optimale Verhältnisse für jeden Einwohner schaffen könne. Die Bemühungen der kosovarischen Regierung tragen jedoch bereits Früchte und dürfen nicht negiert werden. Das Wohl der Kinder wird auch im Kosovo geschützt. Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes als internationales Menschenrechtsabkommen gilt gemäß Art. 22 der Verfassung der Republik Kosovo unmittelbar und genießt Anwendungsvorrang. Ein Zugang zur Bildung ist auch für Roma möglich und wird unter anderem mit kostenlosen Schulbüchern unterstützt. Um Eltern zur Anmeldung ihrer Kinder zu motivieren, werden Aufklärungskampagnen durchgeführt. Nach einer Untersuchung der Kosovo Foundation for Open Society aus dem Jahr 2009 besuchen 82,1 Prozent der Kinder aus den genannten Gemeinschaften regelmäßig eine Schule. Auch werden Anstrengungen zum Schutz von Minderheiten unternommen. Die Verfassung des Kosovo enthält in Art. 58 die Verpflichtung, Minderheitenidentitäten aktiv zu erhalten und zu schützen. Aus dieser Verpflichtung heraus tritt die kosovarische Regierung zum Beispiel mit der „Regierungsstrategie für die Integration der Gemeinschaften der Roma, Ashkali und Ägypter in die Republik Kosovo 2009 bis 2015“ aktiv für Toleranz und Schutz dieser Minderheiten ein. Zweitens, bereits bestehende Bleiberechte. Die Abschiebungen ohne weitere Prüfung im Einzelfall auszusetzen, ist, wie bereits ausgeführt, nicht immer im besten Interesse der Betroffenen und somit auch nicht wie behauptet human. Für den Erlass der Abschiebungsandrohung und für die Durchführung der Abschiebung sind grundsätzlich die Bundesländer zuständig. Diese sehen von einer Abschiebung ab, wenn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bestünde. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verkennt, dass bereits Einzelfallentscheidungen zur Legalisierung des Aufenthaltes in Deutschland möglich sind. Daher sind Ausnahmeregelungen für alle Roma, Ashkali und Kosovoägyptern nicht zielführend und auch nicht notwendig, da in berechtigten Einzelfällen Handlungsspielraum durch das Aufenthaltsgesetz eröffnet ist. In § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen vorübergehenden Aufenthalt aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen oder erheblichen öffentlichen Interessen ermöglicht. Mit der Einfügung von § 25 a in das Aufenthaltsgesetz wurde eine stichtagsfreie Bleiberechtsregelung für in Deutschland aufgewachsene und gut integrierten Jugendliche und Heranwachsenden geschaffen. Auch die Sinti- und Romaverbände in Deutschland sind der Ansicht, dass es keine spezifische Regelung für Roma geben sollte. II. Des Weiteren fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grüne unter anderem die Ausarbeitung einer nationalen Romastrategie, die Verbesserung der Bildungssituation der Sinti und Roma, die Erhebung von Zahlen über die in Deutschland lebenden Sinti und Roma und die Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma voranzutreiben. Auch dieser Entschließungsantrag ist abzulehnen. Die Umsetzung der EU-Vorgaben zur Integration der Roma wurde bereits begonnen. Es wurden integrierte Pakete mit politischen Maßnahmen im Rahmen ihrer breiter angelegten Politik der sozialen Einbeziehung ausgearbeitet. Eine nationale Strategie speziell für Sinti und Roma ist nicht erforderlich, da die nach Schätzungen circa 70 000 deutschen Sinti und Roma sich selbst als gut integriert in die Gesellschaft sehen. Dies ergibt sich auch aus dem Ende 2011 der EU-Kommission übermittelten Bericht der Bundesrepublik Deutschland „EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 Integrierte Maßnahmenpakete zur Integration und Teilhabe der Sinti und Roma in Deutschland“. Deutschland setzt sich bereits entschlossen für mehr Bildungsbeteiligung und Chancengleichheit insbesondere für benachteiligte Gruppen ein. Dies zeigt sich unter anderem auch in die vermehrte Investition in frühkindliche Bildung. Zusätzlich fördern verschiedene Maßnahmen des Bundes und der Länder den Zugang der Sinti und Roma zu Bildung. Der Zugang zu Beschäftigung ist eröffnet, da die Inanspruchnahme von Instrumenten zur Arbeitsförderung in Deutschland unabhängig von Staatsangehörigkeit und ethnischer Zugehörigkeit ist. Die speziellen FörderZu Protokoll gegebene Reden maßnahmen der Länder sind problemorientiert und an die regional unterschiedlichen Integrations- und Unterstützungsbedürfnisse auch von Minderheiten angepasst. Bereits in der Beantwortung der Großen Anfrage wurde erschöpfend erläutert, dass in der Bundesrepublik Deutschland statistische Angaben nicht auf ethnischer Basis erhoben werden, weswegen auch die geforderten validen Zahlen über die in Deutschland lebenden Sinti und Roma nicht zu erheben sind. Zwar können statistische Daten dazu beitragen, Diskriminierungen zu belegen, allerdings besteht dabei die Gefahr, bereits in der Datenerhebung durch die Kategorienbildung zu einer Homogenisierung oder gar einer Stigmatisierung von Menschengruppen beizutragen. Aus den historischen Erfahrungen in Deutschland im Zusammenhang mit der Verfolgung von Minderheiten und dem systematischen Datenmissbrauch wird deshalb zu Recht auf Erhebungen auf ethnischer Basis verzichtet. Abschließend kann ich Ihnen mitteilen, dass die feierliche Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma für den 25. Oktober geplant ist, sodass auch hier keine Notwendigkeit der in dem Entschließungsantrag geforderten Maßnahmen ist. Die Entschließungsanträge sind abzulehnen.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine Mitteilung der Europäischen Kommission vor drei Wochen über die Umsetzung der Forderung nach einem nationalen Aktionsplan zur Integration der Sinti und Roma hat mich mit Bitterkeit erfüllt, wenn auch nicht wirklich überrascht. Der Bericht hat deutlich gemacht: Die Bundesregierung zeigt noch nicht einmal den politischen Willen, die Situation der Roma in Deutschland gezielt zu verbessern, ganz zu schweigen von politischen Aktionen. Die Romabevölkerung ist die größte ethnische Minderheit in Europa. Und sie lebt bei uns und in anderen EU-Ländern unter zum Teil sehr problematischen Umständen. Die Kommission hat das Ziel vorgegeben, „das Leben der Romabevölkerung spürbar zu verändern“. Sie erkennt auch an, dass Gesetze allein nicht ausreichen. Jeder Mitgliedstaat sollte deshalb nationale Ansätze ergänzend einsetzen. Was passiert bei uns? Die Bundesregierung hat die von der EU geforderte „Strategie“ zur Integration der Roma vorgelegt. „Allgemeine Hilfen“ in den Kernbereichen Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Wohnen bietet sie den Roma in Deutschland an. Damit trifft sie jedoch im Durchschnitt gerade einmal ein Viertel der von der EU-Kommission empfohlenen Maßnahmen. Zum Beispiel im Bereich Bildung - unumstritten derjenige Bereich, der allgemein als Schlüssel für eine nachhaltige Integration angesehen wird. Eine breit angelegte Studie Ende 2011 zur Bildungssituation deutscher Sinti und Roma fand heraus, dass 9,4 Prozent der heute 14bis 25-Jährigen noch nie eine Grundschule besucht haben, mehr als 40 Prozent der Erwachsenen keinen Abschluss besitzen und lediglich 18,8 Prozent eine Ausbildung haben. Nennt man das eine erfolgreiche Integration? Ich denke nicht. Und was unternimmt die Bundesregierung? Sie möchte das allgemeine Ziel - nämlich ganz einfach die Verbesserung des Bildungsstandards - unterstützen. Doch von sieben zusätzlich vorgeschlagenen Maßnahmen hat die Bundesregierung vor, lediglich eine umzusetzen. Eine Steigerung der Zahl von Hochschulstudenten unter der Romabevölkerung oder Maßnahmen, um Segregation im Schulalltag zu verhindern, hält sie zum Beispiel nicht für nötig. Ganz anders zum Beispiel Spanien. Trotz Krise plant die Regierung, zusätzlich zu allen sowieso schon geforderten Maßnahmen ein ergänzendes Mediationsprogramm einzuführen. Es soll Schulabbrüche und Fehlzeiten verringern. Bei dem Maßnahmenkatalog, der die Erwerbsbeteiligung der Roma steigern soll, zeichnet sich in Deutschland ein ähnliches Bild wie bei der Bildung: Die Bundesregierung unterstützt das allgemeine Ziel und noch eine weitere Maßnahme. Die vier weiteren fallen unter den Tisch. Gleiches Szenario bei der Gesundheitsfürsorge: Das allgemeine Ziel, die Gesundheitsfürsorge zu verbessern wird - natürlich - unterstützt. Eine von fünf weiteren geforderten Maßnahmen wird darüber hinaus avisiert. Kein Wort darüber, dass besonders für Romafrauen und -kinder ein hochwertiger Zugang zu Gesundheit sichergestellt werden muss, oder darüber, das Gesundheitspersonal für den Umgang mit Menschen mit anderem soziokulturellem Hintergrund zu schulen. Gerade von Letzterem würde nicht nur die Romabevölkerung profitieren. Das gleiche Bild im vierten Kernbereich - Verbesserung der Wohnsituation. Hier sieht die Bundesregierung vor, drei von fünf speziellen Maßnahmen zu implementieren. Doch diejenigen Maßnahmen, die im Besonderen für die Romabevölkerung zugeschnitten sind - zum Beispiel die Berücksichtigung der Bedürfnisse der nichtsesshaften Bevölkerung oder einen integrierten Ansatz zu verfolgen - schließt sie aus. Auch hier: Gerade letztere Maßnahme käme nicht nur der Romabevölkerung zugute, sondern würde eine Integration aller Minderheiten und marginalisierten Gruppen in Deutschland fördern. Dies ist gerade bei der Verteilung und Nutzung des Wohnraums in Städten - ich denke hier zum Beispiel an die Harzer Straße in Berlin-Neukölln - entscheidend, um die Bildung von Problemvierteln zu vermeiden. Andere Länder machen das anders: Viele andere Staaten der EU wie Frankreich, Österreich oder Slowenien bieten spezielle Hilfsangebote an. Peinlich, dass unsere Bundesregierung die Notwendigkeit nicht erkennt. Vielleicht haben ja die anderen einfach erkannt, dass letztlich präventive Maßnahmen immer billiger sind als Hilfe, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Bei der Twiggy-haften Magerkeit der Strategie wundert es auch nicht, dass die Bundesregierung weder eine Evaluierung ihrer nationalen Strategie noch die Zuweisung von Haushaltsmitteln plant. Nun sollte es, glaube ich, jeder verstanden haben: Die Bundesregierung hat kein Interesse an der Romabevölkerung und ihrer Lebenssituation bei uns in Deutschland. Das lässt nur zwei mögliche Schlüsse zu: Entweder Zu Protokoll gegebene Reden Angelika Graf ({0}) will sie sich mit dem Thema nicht beschäftigen und hofft, dass die ungeliebte Bevölkerungsgruppe nicht hier bleibt bzw. bald abgeschoben werden kann. Oder sie ist der Meinung, die Romabevölkerung lebe glücklich, superintegriert und völlig diskriminierungsfrei in Deutschland. Und weil Nichtwissen für beide der oben angeführten Alternativen eine gute Ausrede ist, hat die Bundesregierung es nicht für nötig befunden, Daten zu erheben, um die Lage der Roma in Deutschland zu erfassen. Dies geht aus den Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage, die die Grundlage für den heutigen Antrag der Grünen war, sehr klar hervor. Es gibt keinerlei statistische Angaben über die Lebenssituation der Roma. Ohne diese grundlegende Basis ist es natürlich schwer, zum Beispiel die Schwerpunkte der nötigen Fördermaßnahmen festzulegen. Das muss man schon verstehen. Dabei gibt es Probleme zuhauf. Da geht es nicht nur um materielle Not der Romabevölkerung, sondern auch um den um sich greifenden Antiziganismus. Die SPDFraktion hat in ihrem Antrag im letzten Jahr deutlich auf die Hauptprobleme der Romabevölkerung in Deutschland und Europa hingewiesen und die Bundesregierung schon damals dazu aufgefordert, die Romabevölkerung zu schützen, zu unterstützen und zu stärken. Die Probleme sind offensichtlich. Aber anscheinend ist die Bundesregierung auf diesem Auge blind. Dabei muss man nur einmal in die Presse oder auf die Geschehnisse der vergangenen Monate blicken. Rufen wir uns die Ermittlungen im Fall der ermordeten Heilbronner Polizistin in Erinnerung. Die Polizei hatte Sinti und Roma unter Verdacht, weil Angehörige dieser Volksgruppe in der Nähe des Tatorts gesehen worden waren. Dass aber die Medien den falschen Verdacht sozusagen eigenverantwortlich in die Welt gesetzt haben, wie zunächst behauptet wurde, stimmt nicht. „Die heißeste Spur führe ins Zigeunermilieu“, so zitierte etwa der „Stern“ damals einen anonymen Ermittler. Auch eine Heilbronner Staatsanwältin äußerte sich ähnlich. Zahlreiche Sinti und Roma wurden im Rahmen der Ermittlungen befragt. In einzelnen Fällen wurden sogar Telefone überwacht, Mikrofone in Autos eingebaut und Handyfunkzellen ausgewertet. Wir wissen heute: Für den Mord ist die NSU verantwortlich. Ein deutlicher Fall von Antiziganismus. Den gibt es aber nicht nur in dieser eher subtilen Form. Er existiert auch in einer aggressiven Variante wie beim Cover der Schweizer Zeitung „Die Weltwoche“ Anfang April: „Die Roma kommen: Raubzüge in die Schweiz“ titelte das Blatt. Abgebildet war ein kleiner Junge mit dunkler Haut, dunklen Augen, dunklen Haaren und einer Pistole in der Hand, gerichtet auf den Betrachter. Der Zentralrat der Sinti und Roma in Deutschland hat Anzeige gegen die Zeitung erstattet. Aber seine Wirkung hat das Cover bereits gezeigt und ein Ressentiment weiter angetrieben, das auch in der deutschen Bevölkerung immer noch vorhanden ist. Das Allensbacher-Institut analysierte, dass 68 Prozent aller Deutschen es ablehnen, neben einer Zigeunerfamilie zu wohnen. Trotz Zigeunerbraten, Zigeunersoße und Zigeunerbaron! Und wird irgendwo ein Fahrrad geklaut, war’s bestimmt die Romafamilie im Hinterhaus. Abschließend möchte ich noch einige Worte zum Denkmal verlieren. Der hier diskutierte Antrag fordert die Bundesregierung dazu auf, sich dafür einzusetzen, den Bau zügig abzuschließen. Dies unterstützen wir nachhaltig. Der heutige Antiziganismus hat seine Wurzeln auch in der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Das Schicksal der Sinti und Roma ist untrennbar mit den Erfahrungen im Dritten Reich verbunden. Lange hat die Bundesrepublik gebraucht, bis sie den Sinti und Roma das zugestand, was für die Juden von Anfang an galt: nämlich, dass sie während der NSZeit aufgrund ihrer Rasse verfolgt wurden. Erst 1982 sprach Helmut Schmidt ihnen den Opferstatus zu. Im Herbst nun soll das daran erinnernde Denkmal endlich fertiggestellt werden. Hoffentlich - fast 60 Jahre nach Kriegsende.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Viele der rund 10 bis 12 Millionen in Europa lebenden Roma sind tagtäglich mit Vorurteilen, Intoleranz, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung konfrontiert. Sie leben häufig als Randgruppe unter äußerst prekären sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Dies ist in der Europäischen Union nicht hinnehmbar. Ein besonderes Augenmerk müssen wir dabei auf die Situation der Roma in Südosteuropa legen, wo sie vor allem in Rumänien, Ungarn und Bulgarien leben. Die Lebenssituation der Angehörigen dieser ethnischen Minderheit stellt sich auch in manchen Regionen des westlichen Balkans problematisch dar. Aber auch in Deutschland werden Roma diskriminiert. Nach einer Umfrage des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma haben 76 Prozent der Roma in Deutschland Diskriminierung erfahren, beispielsweise bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der Schule und bei der Ausbildung. Dabei findet Diskriminierung nicht auf Grundlage staatlicher Rechtsordnungen statt, sondern geschieht im gesellschaftlichen Alltag. Sie führt zu sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Ausgrenzung und Stigmatisierung. Roma sind europaweit in öffentlichen oder politischen Ämtern unterrepräsentiert. Zum Teil sind sie mit offener, fremdenfeindlicher Gewalt konfrontiert. Der FDP-Fraktion ist außerdem daran gelegen, auf ein Problem hinzuweisen, mit dem Angehörige der Roma besonders konfrontiert werden: Überdurchschnittlich häufig werden sie Opfer von Menschenhandel. So sind in einigen EU-Staaten bis zu 80 Prozent der Opfer von Menschenhandel Roma. Besonders betroffen sind sie dabei von verschiedenen Formen sexueller Ausbeutung und Zwangsarbeit. Die Ursache hierfür ist häufig in der Armut dieser Bevölkerungsgruppe zu finden, gepaart mit Perspektivlosigkeit und einem eingeschränkten Zugang zu rechtsstaatlichen Mitteln. In unserem Koalitionsantrag zur Situation der Roma in der EU haben wir daher die Bundesregierung aufgefordert, auch in Zukunft bei der Bekämpfung des Menschenhandels verstärkt auf die Situation der Roma zu achten. Die FDP-Fraktion begrüßt, dass die christlich-liberale Bundesregierung die EU-Vorgaben zur Integration der Roma in Deutschland bereits umsetzt und dabei auch die besondere historische Verantwortung gegenZu Protokoll gegebene Reden über den Roma berücksichtigt. Auch europaweit engagiert sich die Bundesregierung für die Verbesserung ihrer Situation. Dabei setzt die Bundesregierung den Schwerpunkt ihres Engagements bewusst auf einen multilateralen Ansatz im Rahmen der europäischen Institutionen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass nur mittels gemeinsamer Anstrengungen der europäischen Länder eine effektive Integrationsförderung für die Roma gelingen kann. An dieser Stelle möchte ich die Bundesregierung auffordern, weiter an diesem vielversprechenden Ansatz festzuhalten. In den Ländern des westlichen Balkans fördert Deutschland aktiv sowohl in internationalen Foren wie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und des Europarates als auch durch verschiedene bilaterale Projekte die Integration der Roma. So förderte das Auswärtige Amt in den letzten Jahren zahlreiche Projekte zur Unterstützung der Roma im Rahmen des Stabilitätspaktes sowie im Rahmen seiner Menschenrechtsprojektfinanzierung. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstützt seit 2007 den Roma Education Fund, REF, der von der Weltbank gemanagt wird und dessen Aufgabe die Verbesserung des Bildungsniveaus der Sinti und Roma auf dem gesamten Balkan ist. Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber des Fonds. Im Hinblick auf Ihren Entschließungsantrag, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, möchte ich Ihnen in einem speziellen Punkt vehement wiedersprechen. Auf Seite 2 unterstellen Sie der Bundesregierung, die Tatsache, dass die ethnische Zugehörigkeit kein statistisches Erhebungskriterium sei, diene nur dem Bestreiten der offensichtlichen Missstände, was die Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Gesundheits- und Wohnraumsituation der Roma in Deutschland angeht. Allerdings ist zu betonen, dass die Bundesregierung bei ihren Maßnahmen zur Förderung der sozialen und gesellschaftlichen Integration grundsätzlich nicht nach ethnischen Abstammungen unterscheidet. Fördermaßnahmen stehen allen Zuwanderergruppen offen, sofern diese sich rechtmäßig und auf Dauer in Deutschland aufhalten. Es steht zu befürchten, dass die Erhebung der ethnischen Zugehörigkeit eine Diskriminierung anhand dieses Merkmals fördern würde. Daher halte ich diesen Grundsatz für richtig und möchte diesen Vorwurf zurückweisen.

Annette Groth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004047, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Europäischen Parlament wie im Europarat findet eine intensive Diskussion über die Diskriminierung von Roma statt. Leider haben diese Diskussionen zu kaum einer Veränderung der sozialen und ökonomischen Situation der Roma geführt. In Europa leben 10 bis 12 Millionen Sinti und Roma. Viele von ihnen sind von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen. In seiner Erklärung von 20. Oktober 2010 hat der Europarat eine grundsätzliche Verbesserung der Lebensbedingungen für die Roma gefordert und einen Prioritätenkatalog zur Bekämpfung der Diskriminierung von Roma aufgestellt. Mit dem Sonderbeauftragten des Europarates zu Fragen der Roma wird auch institutionell versucht, der alltäglichen Diskriminierung der Roma entgegenzutreten. In der nächsten Sitzungswoche wird der Europarat voraussichtlich einen Bericht über Roma in Europa verabschieden. Ich bin die zuständige Berichterstatterin und bemühe mich, einen möglichst breiten Konsens für eine klare Positionierung des Europarats gegen Antiziganismus zu erreichen. Von der Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage zur Situation von Roma bin ich enttäuscht. Sie zeigt, dass die Bundesregierung keine kohärente Strategie zur Verbesserung der Lage der Roma für Deutschland und die Länder der EU hat. Roma werden in allen Ländern der EU diskriminiert. Auch in Deutschland stellt sich die Lage der Roma problematisch dar. Die Umfrage des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma zeigt, dass in Deutschland 76 Prozent der Sinti und Roma Diskriminierung erfahren und bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz, in der Schule oder in der Ausbildung Benachteiligungen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft hinnehmen müssen. In der Studie des Europäischen Parlaments „Measures to promote the situation of Roma EU citizens in the European Union“ wird darauf hingewiesen, dass in Deutschland die Lage für Roma in Bezug auf Schul- und Ausbildungsabschlüsse äußerst problematisch ist. Beispiel Duisburg-Hochfeld: Hier leben Menschen aus 100 Nationen, davon 1 700 Bulgaren, die zum größten Teil Roma sind. In den regionalen Medien werden die Roma vor allem als Problem dargestellt. Mit Überschriften wie „Ein Stadtteil bekämpft den Absturz“ oder „Stadt Duisburg scheint Roma-Problem in Hochfeld nicht in den Griff zu bekommen“ werden soziale Probleme einseitig auf die Bevölkerungsgruppe der Roma übertragen. Dabei wird in den Artikeln von Schwarzarbeit, Prostitution, Kriminalität und unwürdigen Wohnverhältnissen berichtet, jedoch die Ursachen für diese Phänomene nicht benannt. Vielmehr werden die Roma mit diesen Verhältnissen als Verursacher in Verbindung gebracht. Die Roma leben häufig unter schwierigen Bedingungen. Wohnungen sind verschimmelt, die Heizung funktioniert nicht oder es gibt kein Bad. Trotzdem werden diese Wohnungen für völlig überteuerte Mieten an Roma vermietet, die diese Wohnungen annehmen müssen, da sie keine anderen Wohnungen bekommen. Hier muss die Politik endlich handeln. Die Fraktion Die Linke erwartet, dass eine nationale Romastrategie erarbeitet wird, die konkrete Wege zur Beseitigung der Diskriminierungen aufzeigt. Beispiel Italien: Nach Schätzung des italienischen Innenministeriums leben etwa 170 000 Roma in Italien. Das sind 0,2 Prozent der Bevölkerung. In einen Teil der italienischen Medien werden die Roma als Problem für Italien diffamiert. Von den Roma in Italien besitzen mehr als 50 Prozent die italienische Staatsbürgerschaft. Die anderen Roma kommen überwiegend aus Rumänien, Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien. Roma haben auch in Italien keinen Status als anerkannte nationale Minderheit. Meinungsumfragen in ItaZu Protokoll gegebene Reden lien zeigen, dass Roma bei vielen mit einer negativen Assoziation verbunden werden. In fast allen italienischen Städten werden Roma an den Rand gedrängt. Nach Aussagen des Menschenrechtsausschusses des italienischen Senats wohnen sie überwiegend in Camps und müssen dort unter unmenschlichen Bedingungen leben. Über 40 Prozent der Roma in den Camps haben keinerlei Schulausbildung. Viele dieser Lager sind ohne Müllentsorgung, Strom- oder Wasserversorgung. Die Lager sind häufig ohne Genehmigung entstanden und liegen an den Rändern der großen italienischen Städte, werden aber von den kommunalen Behörden zum Teil seit 20 Jahren geduldet. Seit 2011 werden in Rom die Lager geschlossen und die dort lebenden Roma umgesiedelt. Amnesty International kritisiert, dass auch die neuen Unterkünfte nicht akzeptabel sind, da sie zum Teil überbelegt sind und gleichzeitig die Bewohnerinnen und Bewohner überwacht werden. Amnesty fordert, dass Menschen aus der Romagemeinschaft durch eine solche Maßnahme nicht stigmatisiert und generell als Kriminelle dargestellt werden dürfen. Beispiel Tschechische Republik: In der Tschechischen Republik wird offen Hetze gegen Roma betrieben. Im „Schluckenauer Zipfel“ finden seit mehr als einem Jahr antiziganistische Demonstrationen gegen die dort lebenden Roma statt. Mit Sprechchören wie „Zigeuner ins Gas“ werden die Roma offen beleidigt und rassistisch beschimpft. Die bestehende Bildungssegregation, bei der Romakinder in Lernbehindertenschulen abgeschoben werden, wurde bereits 2006 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügt und die Tschechische Republik aufgefordert, diese Ausgrenzung der Romakinder zu beenden. In einer Untersuchung behauptete das tschechische Bildungsministerium, dass 75 Prozent aller Romakinder, die in eine solche Schule gehen, eine Lernbehinderung aufweisen. Diese Untersuchung wurde von Menschenrechtsorganisationen scharf gerügt, da diese Behauptung falsch ist. Vielmehr brauchen viele der Kinder nur eine zusätzliche Förderung zur Verbesserung ihrer Sprach- oder Lesekompetenz, die eine Folge der gesellschaftlichen Ausgrenzung ist. Durch den Einsatz von speziell geschulten Lehrkräften wäre die Integration der Romakinder sofort möglich. Der tschechische Staat hat jedoch bisher lediglich 250 solcher Lehrerstellen geschaffen. Auch die bestehenden Vorurteile in der tschechischen Mehrheitsbevölkerung, die keinen gemeinsamen Unterricht mit Romakindern wollen, führt dazu, dass sich das Bildungsministerium hier zurückhaltend verhält. Einige Anmerkungen zu den beiden Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen: Kritisch anzumerken ist, dass pauschal eine „Verbesserung der Bildungssituation“ verlangt wird und „Integrationsmaßnahmen“ gefordert werden. Sinti- und Romaorganisationen legen aber großen Wert darauf, dass Sinti und Roma in Deutschland und den anderen europäischen Ländern nicht integriert werden müssen, da sie bereits seit Jahrhunderten Teil dieser Gesellschaften sind. Staatliche Bemühungen müssten sich vielmehr auf eine Beendigung der vielfältigen Diskriminierungen konzentrieren und nicht die Integration von Roma fordern. Positiv ist die Forderung nach einem sofortigen Stopp der Abschiebungen von Roma in den Kosovo. Die Linke setzt sich seit langem für einen Stopp der Abschiebungen und ein großzügiges Bleiberecht für Roma aus dem Kosovo ein. Die Betroffenen brauchen einen sicheren und dauerhaften Aufenthaltsstatus und keine weiteren Kettenduldungen bis auf Widerruf. Den Anträgen von Bündnis 90/Die Grünen können wir zustimmen, auch wenn wir uns noch klarere Forderungen gewünscht hätten.

Tom Koenigs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004077, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Lebensbedingungen der Sinti und Roma sind in vielen Ländern Europas nach wie vor von Diskriminierung, sozialer Benachteiligung und Antiziganismus gekennzeichnet. Sie sind auch in Deutschland eine an den Rand gedrängte Minderheit. Die Bundesregierung und andere Akteure zeigen aber gerne mit dem Finger auf andere Staaten - auf Rumänien, Ungarn oder Bulgarien anstatt erst einmal vor der eigenen Haustür zu kehren. Sinti und Roma sind in Deutschland von Diskriminierungen nicht ausgenommen. Nach einer Umfrage des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma haben 76 Prozent dieser Minderheit in Deutschland Diskriminierung erfahren. Die am 24. Mai 2011 veröffentlichte Studie von Daniel Strauß weist auf die besorgniserregende Bildungssituation von Roma und Sinti in Deutschland hin. Nur 2,3 Prozent der Befragten haben in Deutschland ein Gymnasium besucht. In der Gesamtbevölkerung sind es 24,4 Prozent. Es ist schockierend, dass 44 Prozent der Befragten keinerlei Schulabschluss besitzen. Das Menschenrecht auf Bildung für Sinti und Roma wird in Deutschland verletzt. Gesellschaftliche Ausgrenzung besteht auch in den Bereichen Beschäftigung, Gesundheitsfürsorge und Wohnraum. Dennoch finden die Menschenrechte der Roma und Sinti, insbesondere das Diskriminierungsverbot, nicht die notwendige Aufmerksamkeit - weder auf politischer noch auf wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Ebene. Ein positives Beispiel ist die erst kürzlich eröffnete Beratungsstelle in Berlin-Neukölln. Hier werden überwiegend aus Rumänien stammenden Mietern Sprachkurse angeboten und beim Kontakt mit Behörden geholfen. Leider ist es ein in Deutschland einmaliges Projekt. Dabei bräuchten wir in Deutschland viel mehr solcher Initiativen. Die Bundesregierung beabsichtig zwar, integrierte Pakete mit politischen Maßnahmen auszuarbeiten, sie sieht jedoch keinen Bedarf für besondere Integrationsmaßnahmen. Diese Position steht im krassen Widerspruch zu den bestehenden Defiziten und Diskriminierungen in Deutschland und den Empfehlungen des Europäischen Rates. Die Bundesregierung ist auch aufgrund ihrer besonderen historischen Verantwortung gegenüber dieser Minderheit aufgefordert, eine nationale Zu Protokoll gegebene Reden Romastrategie mit zugeschnittenen Integrationsmaßnahmen für Roma und Sinti auszuarbeiten. Gleichzeitig darf die Bundesregierung keine Roma mehr in den Kosovo abschieben. Rückführungen in den Kosovo sind unverantwortlich, da Roma dort keinerlei Lebensperspektiven und Lebensgrundlagen finden. Dennoch hat die Bundesregierung am 12. April 2010 ein Rücknahmeabkommen mit dem Kosovo abgeschlossen. Dabei ist eine Eingliederung von Minderheiten in den Kosovo gar nicht möglich, weil es praktisch nichts gibt, in das die Rückkehrer eingegliedert und integriert werden können. 90 Prozent der Roma im Kosovo sind arbeitslos und können sich keine Existenz aufbauen. Die kosovarischen Behörden haben schlichtweg nicht die Kapazitäten 12 000 Angehörige von Minderheiten aufzunehmen und erfolgreich zu integrieren. Besonders schwierig ist die Lage von rückgeführten Kindern im Kosovo. Die Bundesregierung bestätigt mit ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage erneut, dass es menschenrechtlich nicht vertretbar ist, Roma in den Kosovo abzuschieben. Fast 5 000 Kinder sind von den durchgeführten oder geplanten Abschiebungen in den Kosovo betroffen. Zwei Drittel von ihnen sind hier in Deutschland geboren. Für sie bedeutet die Rückführung in den Kosovo eine Abschiebung ins Elend und in die Fremde. 37 Prozent von ihnen leben mit ihren Familien in extremer Armut am Rande der Gesellschaft. UNICEF hat 2010 und 2011 in Untersuchungen dokumentiert, dass 75 Prozent der aus Deutschland abgeschobenen Kinder im Kosovo nicht mehr zur Schule gehen. Die Bundesregierung hat bis heute keine Konsequenzen aus dieser unvertretbaren Situation gezogen und schiebt weiterhin Kinder in den Kosovo ab. Die neueste UNICEF-Studie „Stilles Leid“ von März 2012 zeigt ein erschreckendes Ausmaß psychosozialer und gesundheitlicher Probleme, denen abgeschobene Kinder ausgesetzt sind. Die Heranwachsenden beschreiben die Abschiebungen als traumatisches Erlebnis, dass sie nicht loslässt. Jedes zweite Kind beschreibt seine Rückkehr in den Kosovo als das schlimmste Erlebnis seines Lebens. Rund 44 Prozent aller Jugendlichen haben laut der UNICEF-Studie Depressionen. Fast ein Drittel der Minderjährigen leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Ein Fünftel empfindet sein Leben als nicht mehr lebenswert. Diese Kinder brauchen medizinische und therapeutische Hilfe. Doch im Kosovo kommen auf 600 000 Kinder und Jugendliche gerade einmal sechs ausgebildete Kinderpsychiater und ein Kinderpsychologe. Die Verantwortung Deutschlands für diese Kinder endet nicht an der Grenze. Kein Kind darf zurückgeführt werden, wenn es gesundheitlich Schaden nimmt, keine Lebensperspektiven und Entwicklungschancen hat. Flüchtlingskinder und Kinder von Migranten sind in erster Linie Kinder und müssen auch so behandelt werden. Die UN-Kinderrechtskonvention fordert, das Wohl des Kindes in allen Belangen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Praxis der Bundesregierung, Kinder in den Kosovo abzuschieben, bezeugt jedoch das Gegenteil. Das menschenrechtliche Prinzip der vorrangigen Achtung des Kindeswohls wird mit der Abschiebung in den Kosovo verletzt. Im Kosovo haben zurückgeführte Kinder keinerlei Chancen auf ein menschenwürdiges Leben und eine normale Entwicklung. Wir Grüne haben deshalb drei zentrale Forderungen, erstens, keine minderjährigen Roma mehr in den Kosovo abzuschieben. Zweitens sind bei allen Entscheidungen über Abschiebungen, von denen Kinder betroffen sind, das Wohl des Kindes und seine Gesundheit in den Mittelpunkt zu stellen. Drittens muss bei Entscheidungen über Aufenthaltserlaubnisse für langjährig Geduldete das Kindeswohl der ausschlaggebende Faktor sein. Kinder und Jugendliche aus dem Kosovo, die seit Jahren in Deutschland leben, sollten ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 42 a. Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9915 die Ablehnung des Entschließungsantrags auf Drucksache 17/8868. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen waren gemeinsam dagegen. Tagesordnungspunkt 42 b. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9723 die Ablehnung des Entschließungsantrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8869. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die SPD hat sich enthalten, Linke und Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen, CDU/CSU und FDP dafür. ({0}) Es gibt die Bitte zu mehr Konzentration und aktivem Abstimmungsverhalten. Diese Bitte gebe ich weiter. Ich rufe Tagesordnungspunkt 44 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) zu dem Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Ehrlicher Dialog über europäische Grundwerte und Grundrechte in Ungarn - Drucksachen 17/9032, 17/10004 Berichterstattung: Abgeordnete Karl Holmeier Michael Roth ({2}) Thomas Nord Die Reden sind zu Protokoll genommen.

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die ungarischen Mediengesetze haben unerwartet große internationale Aufmerksamkeit erregt. Zahlreiche politische Kritiken wurden in Europa und auch weltweit veröffentlicht. Wie kommt es, dass zwei ungarische Mediengesetze so heftige Kontroversen auslösten? Es ist fast augenscheinlich, dass diese heftigen Reaktionen nicht allein in dem ungarischen Medienrecht begründet sein können. Es liegt geradezu auf der Hand, dass die neuen Mediengesetze eine günstige Gelegenheit boten, der neuen ungarischen Regierung auf internationaler Ebene ihre Grenzen zu zeigen. Das ungarische Mediengesetz war ein sehr willkommener Anlass, Orban als neuen ungarischen Ministerpräsidenten zu diskreditieren. Sicherlich war es mehr als ungeschickt, das Gesetz ausgerechnet zu Beginn der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft in Kraft treten zu lassen. Damit war ein unglücklicher Start vorprogrammiert. Warner aus dem Westen waren sich früh einig, dass die Pressefreiheit in Ungarn mit dem neuen Mediengesetz ausgehebelt worden sei. Dabei kannte kaum einer von ihnen die ungarischen Medienerzeugnisse einschließlich Internet in deren unsäglicher Bandbreite von Antisemitismus bis Pornografie. Über Jahre haben sich angesehene ungarische Intellektuelle wie der Nobelpreisträger Imre Kertesz im Lande wie im Westen darüber beklagt, welche Ungeheuerlichkeiten in Ungarn publiziert werden konnten. Und nun sollte es von vornherein verwerflich sein, dagegen gesetzliche Mittel aufzubauen? Darüber hinaus war die Reformbedürftigkeit beispielsweise des ungarischen Rundfunkgesetzes von 1996 unbestritten. Dieses Gesetz konnte den technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen nicht folgen. Im Gegenteil, es wurde zum größten Hindernis für diejenigen, die von den neuen Möglichkeiten Gebrauch machen wollten. Die Mediengesetze wurden unter Beschuss genommen, bevor sie überhaupt in einem zitierfähigen Entwurf vorlagen. Ich will Ihnen an dieser Stelle in Erinnerung rufen, dass die erste Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen zum ungarischen Mediengesetz am 20. Januar 2011 hier im Plenum des Deutschen Bundestages erfolgte. Es ist schon unüblich und irritierend, wenn andere nationale Parlamente die Gesetze eines Mitgliedstaates der Europäischen Union diskutieren und bewerten, bevor eine zertifizierte Übersetzung des Gesetzes vorlag und bevor die Europäische Kommission eine Stellungnahme abgegeben hat. Bereits Ende März 2011 wurden dann die von der zuständigen EU-Kommissarin Neelie Kroes kritisierten Regelungen von der ungarischen Regierung umgesetzt. Das Mediengesetz wurde nach ganz wenigen, überwiegend technischen Korrekturwünschen seitens der EUKommission angepasst. Viele kritisierte Bestandteile des Gesetzes haben sich übrigens in der Praxis als unproblematisch entpuppt. Erlauben Sie mir hier, nur ein Beispiel zu nennen: Das Gebot der Ausgewogenheit der Berichterstattung schlägt gelegentlich auch auf die Regierungspartei zurück. So wurde das öffentlich-rechtliche Fernsehen im Juni 2011 von der Medienaufsicht mit Geldbußen sanktioniert, weil dort die Meinung der Partei zu stark zur Geltung gekommen ist. Meine sehr verehrten Kollegen von der SPD und den Grünen, Sie machen in Ihrem aktuellen Antrag Ihre Sorge um die Medienfreiheit in Ungarn auch am Beispiel des Verlusts der Sendelizenz des Klubradios fest. Erlauben Sie mir hierzu einige klärende Worte. Dem Radio ist keine Lizenz entzogen worden. Es hat nach dem Auslaufen seiner früheren Lizenz am 7. Februar in einem rechtlich nicht zu beanstandenden Verfahren nicht erneut die Lizenz erhalten können. Klubradio unterlag im Bieterverfahren, bei dem es sich bemerkenswert stark zurückhielt. Vielleicht hat es sich ja bewusst in diese Lage gebracht, um sich als Opfer der Medienpolitik der Regierung Orban vor allem im Ausland zu präsentieren. Es wurde dennoch nichts abgeschaltet vom viel gescholtenen Medienrat, auch wenn die Eigner des Klubradios in Brüssel das Gegenteil verkündeten. Es gab sogar eine provisorische Verlängerung. Dennoch verkündete man über exakt diese Frequenz, man sei abgeschaltet. Übrigens haben sich die Eigner des Klubradios gerichtlich zur Wehr gesetzt, um das Bieterverfahren, das wegen weniger Euro zu Ihren Ungunsten verlaufen war, zu kippen. Das ist vor einigen Wochen gelungen. Entscheidung aus formalen Gründen. Das Verfahren muss neu entschieden werden, was selbstverständlich geschieht. Die Gerichte urteilen fair und sachgerecht und sind offenbar keineswegs von der Regierung beauftragt, was gerne von Kritikern unterstellt wird. Lassen Sie mich ein weiteres, bekannteres Beispiel in diesem Zusammenhang nennen. Am 19. Dezember 2011 hat das ungarische Verfassungsgericht das Medienrecht in weiten Aspekten wie zum Beispiel dem Informantenschutz, für verfassungswidrig erklärt. Diese Entscheidung zeigt erneut, dass die Verfassungswirklichkeit in Ungarn intakt ist. Es zeigt auch, dass dieses Land eigene Institutionen zur Korrektur seiner Gesetzgebung hat. Dazu bedarf es nicht der Einmischung und Vorverurteilung durch andere Mitgliedstaaten. Es ist nicht die Aufgabe des Deutschen Bundestages, mit erhobenem Finger einem anderen Mitgliedstaat und dazu einem eng verbundenen Freund zu sagen, wie er mit innenpolitischen Fragen und Gegebenheiten umzugehen hat. Wir sind nicht dafür zuständig, die Aufgaben der ungarischen Opposition wahrzunehmen, auch dann nicht, wenn diese zersplittert und nicht in der Lage ist, eine wahrnehmbare Opposition im ungarischen Parlament zu formieren. Auch darf die Verantwortungsgemeinschaft der Länder der EU keine vorgeschobene Begründung dafür sein, sich in die Innenpolitik anderer souveräner Staaten einzumischen. Da ist doch immer so schön die Rede von Augenhöhe. Es bringt Europa nicht weiter zusammen, sondern trennt, wenn nicht endlich Schluss gemacht wird mit der Verlagerung des innerungarischen Konflikts auf die europäische oder deutsche Ebene. Die ungarischen Wähler haben bewusst diese Regierung gewählt und die MSZP-Regierung der Misswirtschaft und Korruption, die sich zwei Legislaturperioden „beweiZu Protokoll gegebene Reden sen“ konnte, abgewählt. Das sollte jedes europäische Partnerland respektieren. Sicherlich muss eine Regierung mit einer gewonnenen Mehrheit verantwortungsvoll umgehen. Ich will auch nicht in Abrede stellen, dass das ungarische Mediengesetz Anlass zur Besorgnis gibt. Die Verpflichtung zur Offenlegung von Quellen und die Besetzung des Medienrats stehen einer kritischen Berichterstattung klar im Weg. Herr Löning als Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe hat diese Kritik auch immer wieder vorgetragen. Die ungarische Regierung habe von Anfang an versprochen, die gegen die Verfassung verstoßenden gesetzlichen Regelungen des Mediengesetzes nachzubessern, und das ist auch vor drei Wochen geschehen. Das ungarische Parlament hat Ende Mai das Mediengesetz nach Einwänden des Verfassungsgerichts geändert. Sie sehen selbst: Die Gewaltenteilung in Ungarn funktioniert gut, und das Land kann selbst eine Korrektur seiner Gesetze vornehmen. Gerade in einer krisenbehafteten und wirtschaftlich turbulenten Zeit ist Ungarn und die ungarische Regierung auf Freunde und Unterstützer in Europa und speziell in Deutschland angewiesen. Partner und Freunde werden mehr denn je gebraucht. Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag wird ihre helfende Hand Ungarn nicht verwehren.

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich stehe heute hier unter dem bewegenden Eindruck des Besuchs unserer ungarischen Partner und Freunde, mit denen wir in den vergangenen zwei Tagen einen sehr intensiven und offenen Dialog geführt haben. Dieser Dialog war wirklich ehrlich, meine verehrten Oppositionskollegen, und nicht nur scheinbar, wie Sie ihn mit ihrem vorliegenden Antrag vorzuspielen versuchen. Ich bin deshalb bewegt, weil ich in den Gesprächen gesehen habe, welche Spuren die inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufene politische Kampagne der deutschen Opposition gegen Ungarn hinterlassen hat. Jetzt werden Sie mir gleich wieder entgegenhalten, dass Sie keine Kampagne gegen Ungarn führen, sondern lediglich sachliche Kritik an der Regierung üben. Genau das tun Sie aber eben nicht. Sie gehen weit über sachliche Kritik hinaus. Sie klagen an und verurteilen zugleich. Sie operieren mit Falschdarstellungen, Halbwahrheiten und Andeutungen. Sie behaupten eine schwerwiegende Verletzung von Grundwerten der EU und verweisen auf Art. 7 des EU-Vertrages. Um das hier einmal klarzustellen: Sie behaupten damit, Ungarn missachtet Werte wie Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Sie stellen Ungarn hier auf eine Stufe mit diktatorischen Regimen. Das ist nichts anderes als eine Kampagne. Sie verkennen völlig, dass die ungarische Regierung von einer großen Mehrheit der ungarischen Menschen gewählt wurde, und viele dieser Menschen stehen nach wie vor hinter dieser Regierung. Ihre Kampagne trifft damit letztlich nicht nur die ungarische Regierung, sondern sehr wohl Ungarn und das ungarische Volk. Auch scheint Ihnen die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit nicht ganz klar zu sein. Es ist nicht die Aufgabe eines Legislativorgans, Recht zu sprechen und zu verurteilen. Schon gar nicht hat der Deutsche Bundestag als Legislativorgan für Deutschland darüber zu befinden, ob die Gesetze anderer Länder gegen höherrangiges Recht verstoßen. Hierfür sind Gerichte zuständig - entweder nationale oder aber für die EU der Europäische Gerichtshof in Luxemburg sowie für den Europarat und die Einhaltung der Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Ich habe an dieser Stelle schon einmal auf ein Zitat unserer Bundeskanzlerin verwiesen, die gesagt hat: „Die Ungarn haben dem Freiheitsgedanken der Deutschen Flügel verliehen“. Ich kann das nur noch einmal wiederholen. Ungarn war immer ein freiheitsliebendes Volk, und wir Deutsche haben den Ungarn aufgrund dieser Freiheitsliebe sehr viel zu verdanken. Ohne das Vertrauen der ungarischen Freunde in die Freiheit wäre die deutsche Einheit sicher nicht möglich gewesen. Deutschland ist Ungarn daher in ganz besonderer Weise verbunden. Das scheinen einige völlig vergessen zu haben, wenn sie Ungarn vorwerfen, elementare Grundwerte einer freiheitlichen Gesellschaft zu missachten. Und damit möchte ich gern an meinen eingangs angesprochenen Eindruck von den gemeinsamen Gesprächen mit unseren ungarischen Partnern anknüpfen. Die Verbundenheit mit Ungarn hat unter den Anfeindungen der Opposition, unter dem Vorwurf einer schwerwiegenden Missachtung elementarer Grundwerte wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, enorm gelitten. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten mehrfach dazu aufgerufen, den Weg zur Sachlichkeit zurückzufinden, um genau das zu vermeiden. Leider waren meine Aufrufe vergeblich. Sie stoßen unsere ungarischen Freunde mit Ihren Anschuldigungen und Vorverurteilungen vor den Kopf und nennen das dann konstruktive Kritik. Ich sage Ihnen, diese Form von Dialog kann nicht funktionieren und ist von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Das ist auch der Grund, weshalb wir keinen einheitlichen Nenner für einen gemeinsamen Antrag gefunden haben. Die Ungarn fühlen sich zu Recht massiv persönlich angegriffen. In den gemeinsamen Gesprächen ist es inzwischen kaum mehr möglich, über gemeinsame Projekte oder politische Herausforderungen zu reden, die gemeinsam angegangen werden könnten. Stattdessen sind sie infolge der Vorwürfe der Opposition fortwährend dabei, sich zu rechtfertigen, Halbwahrheiten aufzuklären, Falschdarstellungen zu korrigieren und sich gegen die pauschalen Vorverurteilungen zu verteidigen. Sie beklagen auch, dass ein echter Dialog mit der deutschen Opposition de facto nicht stattfindet, auch wenn dieser öffentlich immer behauptet wird. Kurzum, es ist ein Trauerspiel, was hier vonseiten der Opposition abgeliefert wird. So, wie Sie mit Ungarn umgehen, wurde bislang noch kein europäisches Land behandelt - noch nicht einmal Österreich, als die Freiheitliche Partei von Jörg Haider in die dortige Regierung getreten ist. Sie haben aus den Zu Protokoll gegebene Reden damaligen Fehlern im Umgang mit Österreich offenbar nichts gelernt, sondern satteln vielmehr noch eins oben drauf. Ich möchte daher an dieser Stelle noch einmal die Gelegenheit nutzen, das Bild ein wenig geradezurücken. Ja, in Ungarn regiert nach der Wahl 2010 eine Zweidrittelmehrheit. Mit dieser Mehrheit nimmt Ministerpräsident Viktor Orban nach jahrelangem Reformstau einen dringend notwendigen und tiefgreifenden Umbau des Landes mit strukturellen Reformen in der Arbeitsmarkt-, Steuer-, Sozial- und Bildungspolitik vor. Sicher stoßen die zahlreichen Reformen und die zügige Umsetzung bei dem ein oder anderen auf Kritik, und sicher hat Ungarn dabei auch Fehler gemacht. Alle jene, die sich die Kritik zueigen machen, müssen aber doch auch zur Kenntnis nehmen und anerkennen, dass Ungarn stets umgehend auf alle rechtlichen Bedenken reagiert hat. Das gilt für die Kritik der EU-Kommission am Mediengesetz genauso wie die Kritik an der Justizreform, am Notenbankgesetz und beim Datenschutz. Das gilt aber auch für die Kritik der Venedig-Kommission an der Verfassung. Beginnen wir beim Mediengesetz: Hier gehört es zunächst zur richtigen Darstellung der Fakten, dass das ungarische Verfassungsgericht selbst wesentliche Teile des Gesetzes kassiert und damit gezeigt hat, dass das ungarische Verfassungsgefüge durchaus intakt ist. Die ungarische Regierung hat hierauf auch zügig reagiert, und am 4. Juni 2012 hat das Parlament nun eine Änderung des Gesetzes beschlossen. Bezüglich der Justizreform, des Notenbankgesetzes und des Datenschutzes hat die EU-Kommission Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Ungarn ist daraufhin der Kommission im gegenseitigen Dialog entgegengekommen. Die Zusage zur Änderung des Notenbankgesetzes hat die Bedenken der Kommission sogar so weit ausgeräumt, dass diesbezüglich keine weitere Eskalationsstufe eingeleitet wurde. Am 29. Mai 2012 hat das ungarische Parlament seine Zusage durch den Beschluss eines Änderungsantrages zum Notenbankgesetz in die Tat umgesetzt und damit die Zuverlässigkeit Ungarns in der Europäischen Union sowie die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen zu EU-konformer Rechtssetzung unter Beweis gestellt. Offen sind nach wie vor Fragen im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde sowie der Justizreform, mit denen der Europäische Gerichtshof nun befasst ist. Gleichwohl hat Ungarn auch hier weiterhin Gesprächsbereitschaft signalisiert. Sollte bei diesen Fragen keine Einigung erzielt werden, wird das Urteil des Gerichtshofes abzuwarten sein. Für diesen Fall hat Ungarn bereits heute zugesichert, dieses Urteil vollumfänglich zu akzeptieren und entsprechend umzusetzen. Zu der Kritik an der ungarischen Verfassung möchte ich gern auch noch kurz etwas sagen. Zunächst einmal ist es an der Zeit, die grundsätzliche Ausrichtung der neuen Verfassung zu loben. Sie weist nämlich zahlreiche Parallelen zum deutschen Grundgesetz auf. Mit Blick auf die vielfach angesprochenen Kardinalgesetze, muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass die ungarische Verfassung solche Gesetze schon seit langem kennt und bereits vor der Verfassungsänderung Bereiche nur mit Zweidrittelmehrheit geregelt werden konnten, die aus deutscher Sicht vielleicht eher einer einfachen Mehrheit unterliegen sollten. Ungarn hat sich jedoch als souveräner Staat schon vor 20 Jahren dafür entschieden, bestimmte Politikbereiche auf diese Weise zu regeln, und das ist zu respektieren. Sollte es dabei tatsächlich einen Widerspruch zu übergeordnetem Recht geben, wird auch hier ein entsprechendes Urteil der zuständigen Instanzen abzuwarten und dann selbstverständlich auch von Ungarn zu respektieren sein. Diese Instanz ist aber mit Sicherheit nicht der Deutsche Bundestag. Ein letzter Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist das Defizitverfahren gegen Ungarn. Bekanntlich befindet sich Ungarn seit 2004 in diesem Verfahren und die Vorgängerregierungen in Ungarn hatten seitdem keine ausreichenden Maßnahmen zur Beseitigung des übermäßigen Defizits unternommen. Der Ecofin-Rat hat daher am 13. März 2012 beschlossen, einen Teil der ungarischen Kohäsionsfondsmittel des Jahres 2013 mit Wirkung zum 1. Januar 2013 auszusetzen. Die Regierung Orban war es nun, die die entsprechenden Maßnahmen zum Abbau des Defizits eingeleitet hat. Daraufhin hat die Europäische Kommission am 30. Mai 2012 vorgeschlagen, die geplante Mittelaussetzung wieder aufzuheben. Zusammenfassend kann ich also feststellen, dass man mit Ungarn durchaus offen und ehrlich reden kann, und ein solcher ehrlicher Dialog im Ergebnis auch zum Ziel führt. Die Art und Weise, wie die deutsche Opposition in den vergangenen Monaten mit Ungarn umgegangen ist, hat hingegen nichts mit einem ehrlichen Dialog und sachlicher Kritik gemein. Diese Art des Dialogs war verletzend, diskriminierend und hat im deutsch-ungarischen Verhältnis tiefe Spuren hinterlassen. Das hat sich während des Besuchs der ungarischen Delegation leider deutlich gezeigt. Ich habe mich eigentlich von Beginn der Debatte über Ungarn an dagegen gewehrt, als Anwalt Ungarns aufzutreten. Denn das können die Ungarn selbst viel besser. Aber die Kampagne, die die deutsche Opposition betreibt, zwingt mich dazu, öffentlich klarzustellen, dass es auch noch andere Meinungen in Deutschland gibt und Grüne, SPD und Linke nicht für ganz Deutschland sprechen.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Viktor Orban wurde am 29. Mai 2010 zum ungarischen Ministerpräsidenten gewählt. Doch nach zwei Jahren im Amt fällt die Zwischenbilanz seiner nationalkonservativen Regierung mehr als mager aus: Finanziell steht Ungarn kurz vor dem Ruin. Die ungarische Wirtschaft liegt am Boden, das Land steckt in einer schweren Rezession mit einer hohen Arbeitslosigkeit. Gesellschaftlich ist Ungarn tief gespalten und politisch in der Europäischen Union weitgehend isoliert. Neben einer Reihe von sozial- und wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen der Regierung bereitet uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aber insbeZu Protokoll gegebene Reden Michael Roth ({0}) sondere der Umgang mit den Grund- und Freiheitsrechten in Ungarn große Sorgen. Seit ihrem Antritt vor zwei Jahren hat die Fidesz-Regierung mit ihrer Zweidrittelmehrheit mehr als 360 Gesetze und eine neue Verfassung im Eiltempo durchs Parlament gepeitscht. Nicht jedes einzelne neue Gesetz für sich ist ein Drama, aber im Sog dieser gewaltigen Gesetzesflut sind elementare demokratische und rechtsstaatliche Grundprinzipien weggespült worden. „Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne“, so lautete bislang die Antwort der ungarischen Regierung auf die Kritik aus dem In- und Ausland. Als Leitmotiv einer parlamentarischen Demokratie taugt dieses Motto jedoch in keiner Weise. Politik muss sich Zeit nehmen. Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament bedeutet nicht nur legitimierte Macht, sondern auch eine besondere Verantwortung für eine Regierung. Der grundlegende Umbau der staatlichen Strukturen in Ungarn mit dem Ziel, einer Regierungspartei langfristig den politischen Einfluss zu sichern, widerspricht unserem Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch die jüngste Initiative der Orban-Regierung, die staatliche Parteienfinanzierung wegen der schlechten Haushaltslage für zwei Jahre komplett zu streichen, fügt sich in dieses Bild. Dahinter verbirgt sich nicht weniger als der Versuch, die Oppositionsparteien in der weiteren politischen Auseinandersetzung empfindlich zu schwächen. In unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung und die europäischen Institutionen auf, bei den besorgniserregenden Entwicklungen in Ungarn nicht wegzuschauen. Bei Themen wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit darf das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes nicht gelten. Im Gegenteil: Es gibt sogar die Pflicht zur Einmischung, gerade wenn es um unsere gemeinsamen europäischen Werte geht. Die EU-Kommission hat - nach langem Schweigen - mittlerweile durch die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn gezeigt, dass sie gewillt ist, ihre Rolle als Hüterin der europäischen Verträge und Grundwerte entschlossen wahrzunehmen. Wir hätten jedoch auch von Orbans konservativen Parteifreunden im Rat und im Europäischen Parlament, also den Mitgliedern der Europäischen Volkspartei, erwartet, dass sie ebenfalls deutliche Kritik an den Entwicklungen in Ungarn üben. Auch die Bundeskanzlerin und der Außenminister haben dazu bisher leider geschwiegen. Eine klare öffentliche Positionierung ist überfällig. Das uneinheitliche Vorgehen im Fall Ungarn zeigt aber auch, dass die Europäische Union beim Umgang mit Rechtspopulisten noch keine konsequente Strategie verfolgt. Es ist verheerend, wenn der Eindruck entstanden ist, dass in Europa mit zweierlei Maß gemessen wird. Es darf nicht sein, dass die EU-Partner bei den großen Mitgliedstaaten - wie bei Italien unter Berlusconi - beide Augen zudrücken, während die kleinen Mitgliedstaaten drangsaliert werden. Die Europäische Union muss kompromisslos für die Einhaltung der europäischen Grundwerte eintreten. In dieser Frage darf es keinerlei Rabatte geben. Für alle Mitgliedstaaten - egal ob groß oder klein, egal ob neu beigetreten oder Gründungsmitglied - gelten die demokratischen und rechtsstaatlichen Standards gleichermaßen.

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Europäische Union, so wie wir sie sehen und verstanden wissen wollen, ist mehr als nur ein loser Zusammenschluss unterschiedlicher Nachbarstaaten, die sich aus Effizienzgründen und wegen wirtschaftlicher Skaleneffekte in einer Gemeinschaft zusammenfinden. Für uns ist die Europäische Union Ausdruck einer Wertegemeinschaft, die auf einem gemeinsamen Verständnis von gesellschaftlichen, politischen, rechtsstaatlichen und ökonomischen Überzeugungen fußt. Jedes Mitglied dieser Gemeinschaft, egal ob alt oder neu, klein oder groß, muss sich an diesen Kriterien messen lassen. Der Beitritt zu dieser Gemeinschaft ist für jeden Staat eine dauerhafte Verpflichtung, gewisse Standards einzuhalten. Gerade in einer Gemeinschaft ist es erlaubt, ja geboten, im Falle der Nichteinhaltung dieser Standards kritische Punkte offen anzusprechen. Offen bleiben dabei allerdings die gewählten Kommunikationswege. SPD und Grüne haben sich dazu entschieden, hierzu einen Antrag in den Deutschen Bundestag einzubringen. Diese Herangehensweise halten wir im Umgang mit europäischen Partnern für nicht angebracht. Als FDP haben wir uns dazu entschlossen, den ohnehin engen Kontakt zu Ungarn noch weiter zu intensivieren. Im Rahmen unserer parlamentarischen Arbeit stehen wir in regelmäßigem Austausch mit der ungarischen Seite, sei es mit ungarischen Parlamentariern, Mitgliedern der Regierung oder dem ungarischen Botschafter in Berlin. Hierbei äußern wir auch unmissverständlich die notwendige Kritik an einzelnen Maßnahmen der ungarischen Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit. Im Ergebnis stellen wir fest, dass die Sensibilität und das Verständnis für unsere Anliegen auf der ungarischen Seite im Zuge des intensiven Dialogs stetig wachsen. Das merkt man auch in der öffentlichen Diskussion in Ungarn. Unserer Ansicht nach kann die tiefe politische Spaltung des Landes durch offizielle Beschlüsse und Äußerungen von außen nicht zugeschüttet werden. Hier halten wir intensive Kontakte für sinnund wirkungsvoller. Dabei steht fest - und das wird auch klar und deutlich von uns kommuniziert -: Kritik an den Maßnahmen und der Rhetorik der ungarischen Regierung ist keine Einmischung in die innerstaatlichen Angelegenheiten Ungarns oder gar eine Vorverurteilung der dort lebenden Menschen. Es geht uns darum, Kritik nicht pauschal, sondern in der Sache differenziert vorzubringen und Missstände gegebenenfalls offen anzusprechen. Genau das leistet die Europäische Kommission, indem sie potenzielle Missstände in Ungarn identifiziert, und diese werden von uns in aller Offenheit und Freundschaft mit unseren ungarischen Partnern thematisiert. Die Forderung der Europäischen Kommission, gemeinsam definierte Standards etwa im Medienrecht, der Wahlgesetzgebung oder im Justizwesen einzuhalten, ist legitim; wenn wir uns diesem Appell anschließen, heißt das nicht, dass wir unseren ungarischen Freunden und Zu Protokoll gegebene Reden Bündnispartnern die demokratische Gesinnung absprechen, sondern einen offenen und sachlichen Dialog mit ihnen führen, im Sinne unserer gemeinsamen demokratischen Zukunft in einem vereinigten Europa. Derzeit laufen verschiedene Verfahren, deren Ausgang abzuwarten bleibt, bevor man sich ein abschließendes Urteil bilden kann. Das gilt sowohl für die Venedig-Kommission als auch die derzeit laufenden Vertragsverletzungsverfahren. Wir unterstützen die Europäische Kommission als Hüterin der europäischen Verträge ausdrücklich in ihrem originären Auftrag, dem gemeinsam verabschiedeten europäischen Recht zur Durchsetzung in der Europäischen Union zu verhelfen.

Thomas Nord (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004122, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit 2010 hat die Regierung von Viktor Orban eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament und nutzt diese, um der Regierungspartei eine systematische Vorrangstellung in Ungarn auch über die Wahlperiode hinaus zu sichern. Dies muss man sicherlich eine undemokratische Vorgehensweise nennen. Die Parteien CDU und CSU sind auf europäischer Ebene Mitglied in der Europäischen Volkspartei und haben bislang zu diesen Thema geschwiegen. Die Tatsache, dass der ungarische Ministerpräsident stellvertretender Vorsitzender dieser europäischen Partei ist, wird sicher dazu beitragen, dass sich die Regierungskoalition in der Bundesrepublik in den Mantel des Schweigens hüllt. Die Linke begrüßt und unterstützt den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur politischen Lage in Ungarn. Allerdings können wir dem Antrag in der vorliegenden Form nicht zustimmen, da er sich an der normativen Ebene festhält und die praktischen, realen Gegebenheiten in Ungarn ausklammert. Wenn man einen Antrag zu europäischen Grundwerten und Grundrechten formuliert, dann gehört eben auch dazu, eine europäische Perspektive einzunehmen und eine klare Kritik an gesellschaftlichen und staatlichen Zuständen innerhalb der EU zu formulieren, wenn diese so weit von den demokratischen und rechtlichen Standards abweichen, wie dies in Ungarn der Fall ist. Wenn in einem Mitgliedsland der EU rassistische und faschistoide Tendenzen sichtbar werden, reichen diplomatische Formulierungen aus unserer Sicht nicht mehr aus. Der Haushaltsrat wurde abgeschafft, das Verfassungsgericht in seinen Kompetenzen beschnitten. Die Versammlungsfreiheit wurde eingeschränkt. Es wurden menschenverachtende Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit entwickelt. Arbeitslose, die länger als 90 Tage arbeitslos gemeldet sind, werden unter Polizeibewachung zu Hilfsarbeiten auf Baustellen verschickt und vor Ort in Containern gehalten. Während Orban versucht, mit scheinheiligen Maßnahmen wie beispielsweise der sogenannten nationalen Roma-Strategie die EU zufriedenzustellen, werden Roma zunehmend diskriminiert und kriminalisiert. So wurden beispielsweise Stiftungen, die sich um Arbeits-, Bildungs- und Kulturprojekte der Roma kümmerten, wegen „Ineffizienz“ aufgelöst, um sie in ein „neues System“ zu überführen bzw. die staatliche Kontrolle zu zementieren. Unabhängige Richter werden durch regimetreue ersetzt. Obdachlosigkeit wird verboten und mit Geld- und Gefängnisstrafen belegt. Antisemitische Äußerungen in der ungarischen Medienlandschaft werden unkritisch hingenommen. Der gesamte Kulturbereich wird umstrukturiert. Während Filmförderung in Ungarn als Instrument der Zensur genutzt wird, wird der Chef der rechtsradikalen MIEP-Partei, Istvan Csurka, in einem völlig undemokratischen Auswahlprozess Theaterintendant des Neuen Theaters in Budapest, ein Mann, der immer wieder mit antisemitischen und radikal nationalkonservativen Äußerungen auffällt. In Gyöngyöspata wurden Ostern 2011 die Roma durch das Rote Kreuz evakuiert, nachdem eine neofaschistische Bürgerwehrgruppe wochenlang den Ort belagert hatte. Die Regierung stellte dies später als „lange geplanten Osterausflug“ dar und setzte einen Untersuchungsausschuss ein, der klären sollte, „wer Ungarn diffamiert“ hat. Unter dem Schutz der Jobbik können sich die rechtsradikalen „Bürgerwehren“ organisieren und Roma bedrohen und terrorisieren. Medien zufolge versehen heute einige „Bürgerwächter“ aus Gyöngyöspata, die zum eingeführten staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramm abkommandiert wurden, Aufsichtsarbeiten in Bezug auf Roma. Wie „Pester Lloyd“, die Tageszeitung für Ungarn und Osteuropa, in dieser Woche berichtet, hat sich ein Parlamentsabgeordneter der neofaschistischen Partei Jobbik vor der Kommunalwahl 2010 gegenüber seinen potenziellen Wählern besonders empfehlen wollen und in einem medizinischen Labor sein Blut auf „genetische Rassenreinheit“ untersuchen lassen. Dies hat ihm ein Zertifikat ausgestellt, in dem bestätigt wird, dass er „weder Roma noch Juden als Vorfahren“ hat. Der Skandal ist dabei nicht einmal, dass der Abgeordnete der Jobbik auf eine solche Idee kam, sondern dass ein zertifiziertes medizinisches Labor in Ungarn sich zu solcher „Analyse“ bereitfand - als ob es ein „Roma-“ oder ein „Juden-Gen“ gäbe. Am 4. Juni beging Ungarn auf Anordnung der Regierung wieder den „Trianon-Gedenktag“. Dieser war auch Hauptthema einer „Festsitzung“ im Parlament. Der neue Staatspräsident Janos Ader, Fidesz, sprach vom „ungerechten Frieden“ von Trianon, der eine „beschämende Situation, sogar für die Menschen der Siegermächte“ produziere. Das wäre ja in etwa so, als würde in Deutschland ein Versailles-Gedenktag eingeführt. Aus meiner Sicht ist das unerträglicher Revanchismus. Ungarn beschädigt die nachbarschaftlichen Beziehungen zu Rumänien und der Slowakei systematisch und produziert dadurch in hohem Maße ethnisch motivierte politische Spannungen in Osteuropa, die auf eine territoriale Neuordnung in Richtung „Groß-Ungarn“ ausgerichtet sind. Warum führten die enorme Gefährdung von Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Missachtung der Menschrechte in Ungarn bisher zu keinem einzigen Vertragsverletzungsverfahren gegen UnZu Protokoll gegebene Reden garn? Es ist beschämend, dass erst die Bedrohung der Unabhängigkeit der Zentralbank durch die neue ungarische Verfassung zum Handeln auf europäischer Ebene führte. Die Linke ist der Meinung, in Europa sollten mehr Grundwerte und mehr Grundrechte zählen als die Kapitalfreiheiten. Weil wir das grundlegende Ansinnen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen begrüßenswert finden, aber im Antrag selber die gesellschaftlichen Realitäten mit keinem Wort erwähnt sind, stimmen wir hier mit Enthaltung.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe bereits in der letzten Debatte gesagt: Es geht hier nicht darum, Ungarn von außen Regeln aufzudrängen. Es geht um Verpflichtungen, die Ungarn sich selbst auferlegt hat, um Verpflichtungen, die Ungarn mit dem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 eingegangen ist. Dazu gehören die Grundwerte und Grundrechte, die in den Verträgen festgehalten sind. Wer behauptet, eine solche Debatte - eine Debatte über die Grundwerte und Grundrechte - gehöre nicht in den Deutschen Bundestag, der liegt falsch. Auch wir sind Teil dieser Europäischen Union. Uns darf die Einhaltung der Grundwerte und Grundrechte in den anderen Mitgliedstaaten nicht egal sein. Die EU ist eine Gemeinschaft, die auf gemeinsamen Werten beruht - nicht nur ein einfacher Verbund souveräner Nationalstaaten. Zu den gemeinsamen Werten gehört die Demokratie. Und zur Funktionsfähigkeit der europäischen Demokratie gehört, dass die Demokratien in den Mitgliedstaaten funktionieren. Mit Blick auf Ungarn haben wir die Sorge, dass diese Funktionsfähigkeit heute und vor allem in Zukunft eingeschränkt sein könnte. Mit dieser Einschätzung stehen wir nicht alleine da. Sie wird bekanntlich von der Bundesregierung geteilt. Ich zitiere wörtlich den ehemaligen Staatsminister im Auswärtigen Amt Hoyer: „Unsere im Zusammenhang mit den Mediengesetzen aufgekommene Befürchtungen werden mit der heute verabschiedeten Verfassung - und in ihrem Zustandekommen - bestärkt statt bekräftigt.“ In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage hat die Bundesregierung im Februar 2012 diese Haltung bestätigt; sie habe sich nicht grundsätzlich verändert. Warum machen wir uns um die Funktionsfähigkeit der Demokratie in Ungarn Sorgen? Die ungarische Regierung unter Viktor Orban verfügt über eine Zweidrittelmehrheit. Sie trägt damit eine besondere Verantwortung. Anstatt mit ihrer Mehrheit maßvoll und verantwortungsvoll umzugehen, verfestigt sich unser Eindruck, dass politischer Einfluss langfristig gesichert werden soll. Wir haben in diesem Haus schon so viele Beispiele gehört, daher will ich es bei drei weiteren belassen. Die Kardinalsgesetze, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden können. Prominentestes Beispiel: der Einkommensteuersatz. Die Zweidrittelhürde sollte grundsätzlich nur zur Änderung der Verfassung oder ähnlich weitreichender Regelungen notwendig sein, nicht für Bereiche, die vernünftigerweise der einfachen Mehrheitsbildung unterliegen sollten. Wenn einer gewählten Parlamentsmehrheit die Verfügung über das Budget nicht mehr gewährleistet ist, weil ein wesentlicher Teil der Einnahmeseite seiner Kontrolle entzogen ist, dann ist das ein Demokratieproblem. Weiteres Beispiel, Nationale Justizbehörde: Der Präsident bzw. die Präsidentin dieser Behörde wird für neun Jahre vom Parlament ernannt. Nach diesen neun Jahren muss das Parlament einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin wählen - und das mit zwei Dritteln der Stimmen. Kommt eine Zweidrittelmehrheit nicht zustande, bleibt die bisherige Leitung weiter im Amt. Hinzu kommt die Fülle an Kompetenzen in einer Hand und die mangelnde Möglichkeit, den Präsidenten bzw. die Präsidentin für ihr Tun zur Rechenschaft ziehen zu können. Alles nachzulesen im entsprechenden Bericht der VenedigKommission. Auch über die Frage der Herabsetzung des Renteneintrittsalters für Richter unter anderem von 70 auf 62 Jahre haben wir schon gesprochen. Hier wird das Renteneintrittsalter herabgesetzt, ohne Übergangsphase. Das hat zur Folge, dass in kürzester Zeit 274 neue Richterinnen und Richter ernannt werden können. Auch hier spielt der Präsident der Nationalen Justizbehörde übrigens eine entscheidende Rolle. Er entscheidet letztendlich, welcher der ersten drei Kandidaten auf der Shortlist dem Präsidenten Ungarns zur Ernennung vorgeschlagen wird. Es ist gut und richtig, dass über die Frage der Herabsetzung des Renteneintrittsalters der Europäische Gerichtshof entscheidet. Wir kennen das aus jedem Lehrbuch: Demokratie ist Macht auf Zeit. Diese Zeit darf aber nicht dazu benutzt werden, die Macht zu zementieren. Wir haben diesen Antrag zusammen mit der SPD gemacht, da wir uns eine Versachlichung der Debatte wünschen. Unterschiedliche Informationen, fehlerhafte Berichterstattung und auch Unkenntnis führen in dieser Debatte immer wieder zu Missverständnissen. Für einen fairen Dialog über die Vereinbarkeit der gesamten geänderten ungarischen Rechtsordnung mit den Grundwerten der EU brauchen wir einen umfassenden Bericht, der die geänderten Bereiche des ungarischen Rechtssystems betrachtet. Inzwischen hat die Venedig-Kommission des Europarats bereits Berichte zu einzelnen Fragen vorgelegt. Diese Berichte haben der Debatte gut getan. Teilweise sind diese Berichte auf Wunsch der ungarischen Regierung erstellt worden. Diese Bereitschaft begrüßen wir. Ich möchte hier auch noch mal ganz deutlich betonen: Der ungarischen Regierung ist konstruktive Kritik nicht egal. Sie hat sie sich in vielen Fällen zu Herzen genommen, Änderungen geprüft und auch mehrere Gesetze geändert. Diese Bereitschaft zu mehr Beweglichkeit nehme ich auch in meinen zahlreichen Gesprächen wahr. Es gibt aber nach wie vor Bereiche, zu denen keine Berichte vorliegen. Die Opposition beklagt sich zum Beispiel regelmäßig, dass sie nicht ausreichend Zeit bekomme, um sich mit Gesetzesvorlagen zu befassen. Die ungarische Regierung habe ein Gesetz durchgebracht, das es ihr 24-mal im Jahr erlaube, die Zeitspanne zwischen der Einbringung und der Verabschiedung von Gesetzen auf 24 Stunden zu verkürzen! Aus unserer Sicht ist das eine ganz klare Beschneidung der Rechte der Opposition. Auch für diesen und andere Bereiche wünschen Zu Protokoll gegebene Reden wir uns eine Übersicht der Veränderungen und eine objektive Einschätzung. Daher halten wir einen umfassenden Bericht der Venedig-Kommission noch immer für notwendig. Vonseiten der Koalition wird uns vorgeworfen, dass wir zu viel über Ungarn und nicht mit Ungarn reden. Wenn sie denn stimmen würde, wäre die Kritik angebracht. Sie stimmt aber nicht. Wir stehen in regelmäßigem Dialog mit allen demokratischen Kräften und der Zivilgesellschaft in Ungarn. Ungarn ist für uns ein guter und verlässlicher Freund. Wir blicken inzwischen auf eine 20-jährige Freundschaft zurück. Ich habe in den letzten Monaten schätzen gelernt, dass die ungarische Seite sich auch kritischen Debattenbeiträgen nicht verschließt. Wir müssen diesen offenen Dialog weiter führen. Zu dieser Offenheit gehören aber auch mitunter Kritik und ehrliche Worte.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10004, den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9032 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Die Koalitionsfraktionen waren dafür, Bündnis 90/Die Grünen und SPD dagegen. Die Linke hat sich enthalten. Ich rufe Tagesordnungspunkt 45 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Krüger-Leißner, Anette Kramme, Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken - Rahmenfrist verlängern Regelung für kurz befristet Beschäftigte weiterentwickeln - zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Lukrezia Jochimsen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeitslosengeld statt Hartz IV - Zugang zur Arbeitslosenversicherung erleichtern - zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Agnes Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Flexibel Beschäftigte in der Arbeitslosenversicherung besser absichern - Drucksachen 17/8574, 17/8586, 17/8579, 17/9612 Berichterstattung: Abgeordneter Paul Lehrieder Die Reden sind hier ebenfalls zu Protokoll genommen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist schon erstaunlich: In Deutschland brummt der Arbeitsmarkt - weniger Arbeitslose, mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, mehr offene Stellen. Jobmotor in Deutschland - diese Bemerkung muss mir als CSU-Abgeordnetem in diesem Zusammenhang erlaubt sein - ist und bleibt Bayern: niedrigste Arbeitslosenzahl seit 20 Jahren, Rekordwert bei der Beschäftigung seit 1974. Aber auch in den übrigen Bundesländern in Deutschland - auch in SPD-geführten Ländern - sieht es blendend aus: Die Zahl der Arbeitslosen ist auf 2,855 Millionen gesunken, die der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse auf 28,76 Millionen angestiegen. Der deutsche Arbeitsmarkt ist robust, auch in Zeiten der Schuldenkrise. Die Bundesregierung ist erfolgreich. Und was macht die Opposition? Sie überbieten sich gegenseitig in Forderungen, wie man den Zugang zum Arbeitslosengeld erleichtern kann. Ihre Anträge passen in die Welt wie der Weihnachtsmann in den Sommer! Das war auch das zentrale Ergebnis der Expertenanhörung von Ende April 2012. Die Sachverständigen haben es Ihnen ins Stammbuch geschrieben: teuer und an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei, so das ganz überwiegende Fazit. „Es stellt sich die Frage, ob anstelle der Diskussion des Zugangs in die Arbeitslosenversicherung nicht viel stärker eine Diskussion geführt werden müsste über den Zugang zu Qualifizierung, Qualifizierungsmöglichkeiten und Ähnliches.“ Das war der Befund des Vertreters der Bundesagentur für Arbeit. Diese Aussage kann ich voll und ganz unterschreiben. Um es politisch zu übersetzen: Was Sie vorschlagen und was so sozial daherkommt, ist in der Wirkung eine Stillhalteprämie ganz überwiegend für Personen ohne Berufsabschluss. Denn circa 50 Prozent aller Zugänge in die Grundsicherung für Arbeitsuchende sind Personen ohne Berufsabschluss. Diese Menschen müssen wir in den Blick nehmen, keine Frage. Aber wir dürfen sie nicht mit Geld abspeisen. Unser Ziel muss es sein, in ihre Vermittlung zu investieren und sie wieder in Arbeit zu bringen, ihre Beschäftigung zu verstetigen und zu stabilisieren. Wir dürfen keine Anreize setzen, wie man nach Kurzzeitbeschäftigung auch wieder schnell zu Entgeltersatzleistungen kommen kann. Genau das tun Sie aber mit Ihren Anträgen. Für viele Menschen sind Ihre Forderungen auch nur Scheinlösungen. Nehmen Sie die alleinstehende Kassiererin, die zu ihrem geringen Verdienst aufstockend Arbeitslosengeld II bezieht. Wird sie arbeitslos und hätte künftig leichter einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, würde diese Leistung komplett auf ihr Arbeitslosengeld II angerechnet. Sie hätte unter dem Strich keinen Cent mehr in der Tasche als heute. Fazit: Diejenigen, die es am schwersten haben und denen ich persönlich eine finanzielle Verbesserung von Herzen gönnen würde, fallen bei Ihren Anträgen hinten herunter. Durchdacht ist das nicht und sozial gerecht erst recht nicht. Wer Forderungen aufstellt, die Geld kosten, muss auch sagen, woher er das Geld nehmen will. Der Kollege Paul Lehrieder hat darauf bereits Anfang Februar 2012 in der ersten Lesung der Vorlagen völlig zu Recht hingewiesen. In Ihren Anträgen sucht man dazu aber vergebens nach Antworten. Was haben die Sachverständigen in der Anhörung gesagt? „Der Antrag von SPD und Linken würde 1,4 bis 1,7 Milliarden Euro zusätzliche Leistungsausgaben kosten. Wenn man das in Beitragssatzpunkte übersetzt, wären das 0,2 Prozent.“ Ich stelle fest: Die SPD steht für höhere Sozialabgaben! Die SPD will weniger Netto vom Brutto! Herr Gabriel hat letzte Woche eine Anhebung des Beitrags zur Pflegeversicherung auf 2,5 Prozent in die Diskussion gebracht. Elke Ferner möchte Entlastungen beim Rentenbeitrag nicht an die Beitragszahler weitergeben. Und nun nehmen Sie einen Anstieg des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung billigend in Kauf. Das ist Politik auf dem Rücken der Beitragszahler! Es reicht nicht, soziale Gerechtigkeit nur auf Fahnen oder Plakate zu schreiben; man muss soziale Gerechtigkeit auch inhaltlich unterfüttern. Die Kassiererin bei Aldi oder den mittelständischen Betrieb mit steigenden Lohnnebenkosten zu belasten, ist nicht sozial gerecht. Dazu bekommen Sie nicht die Stimmen der Union. Wir wollen mehr Netto vom Brutto für die Beitragszahler, die Monat für Monat mit ihren Beiträgen die solidarische Absicherung in Deutschland finanzieren. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie wissen es doch besser. Sie waren es doch, die zusammen mit den Grünen im Jahr 2003 im Rahmen der sogenannten Hartz-Reformen die Rahmenfrist für den Anspruch auf Arbeitslosengeld von drei Jahren auf zwei Jahre gesenkt und damit den Zugang zum Arbeitslosengeld erschwert haben. Was damals in Zeiten, in denen Deutschland wirtschaftlich am Boden lag, richtig war, soll heute in Zeiten, in denen unser Land trotz Schuldenkrise prima dasteht, falsch sein? Diesen Sinneswandel müssen Sie den Menschen erklären; das versteht doch niemand! Richtig ist, dass die Anpassungslasten des Arbeitsmarkts in den letzten Jahren vor allem von bestimmten Beschäftigungsgruppen getragen worden sind, zum Beispiel Zeitarbeiter, befristet Beschäftigte und Niedriglohnverdiener. Die Diagnose mag richtig sein, aber Ihre Medizin ist falsch. Denn eher als an der Rahmenfrist für das Arbeitslosengeld zu drehen, sollten wir für diese Beschäftigtengruppen die Brückenfunktion für höherwertige Beschäftigungen stärken und versuchen, nachhaltige Beschäftigungsverhältnisse hinzubekommen. Wir wollen nicht die Arbeitslosigkeit der Betroffenen finanzieren, sondern sie in Beschäftigung bringen. Auch bei der sogenannten Anwartschaftszeit sehen wir keinen Änderungsbedarf. Heute muss innerhalb von zwei Jahren mindestens zwölf Monate ein sogenanntes Versicherungspflichtverhältnis bestanden haben, um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erwerben. Was steckt hinter dieser Regelung? Bei kurzfristiger Beschäftigung soll kein Anspruch auf Arbeitslosengeld bestehen. Und was wollen die Antragsteller? Sie möchten diese Anwartschaftszeit auf sechs bzw. vier Monate verkürzen. Künftig soll sich nach viermonatiger Beitragszahlung ein zweimonatiger Anspruch auf Arbeitslosengeld ergeben, so heißt es im Antrag der Grünen. Auf den ersten Blick mag das populär klingen. Motto: Wer in die Arbeitslosenversicherung einzahlt, möchte auch Leistungen bekommen und seine Beiträge nicht umsonst eingezahlt haben. Allerdings ist die Arbeitslosenversicherung keine Sparkasse. Sie ist eine Versicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit. Solche Risikoversicherungen verlangen typischerweise eine bestimmte Vorversicherungszeit. Der Gesetzgeber hat sich für zwölf Monate entschieden. Ich halte diese Grenze für richtig. In keinem Fall trägt das Argument, man habe seine Beiträge umsonst gezahlt, wenn man kürzer als ein Jahr Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt habe. Denn was sagen wir dann umgekehrt demjenigen, der 45 Jahre durchgehend gearbeitet, Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt hat und nie arbeitslos geworden ist? Pech gehabt, alle Beiträge zur Arbeitslosenversicherung umsonst gezahlt? Wohl kaum. Daran wird deutlich, dass eine Verkürzung der Anwartschaftszeit weder sozialpolitisch notwendig noch sachlich begründbar ist. Aus diesem Grunde lehnen wir Ihre entsprechenden Forderungen ab. Am Ende meiner Rede möchte ich dann doch noch versöhnlich werden. Denn in einem Punkt sehe ich durchaus Überschneidungen zwischen Ihren Forderungen und den Vorstellungen innerhalb der Koalition, und zwar bei der Schaffung einer Sonderregelung in der Arbeitslosenversicherung zur verkürzten Anwartschaftszeit für unstetig Erwerbstätige, die wechselnde Anstellungen von bis zu zehn Wochen haben. Bisher durften solche Kurzanstellungen nicht länger als jeweils sechs Wochen dauern. Von dieser Änderung profitieren in erster Linie Kunst- und Kulturschaffende. Uns als CDU/ CSU-Fraktion war das Anliegen der Betroffenen schon immer sehr wichtig. Wir haben keine Nachhilfe vonseiten der Opposition nötig. Ihre Schaufensteranträge - Anfang Februar 2012 pünktlich zum Auftakt der 62. Berlinale gestellt - hätten Sie sich schenken können. Die Änderung war zu diesem Zeitpunkt längst verabredet und in trockenen Tüchern. Sie waren damals zu spät dran, genauso wie Sie jetzt der Zeit hinterherhinken. Während wir hier heute debattieren, hat die Koalition längst gehandelt und heute im Rahmen des sogenannten Psych-Entgeltgesetzes die Änderung zugunsten der Beschäftigten im Künstlerbereich - zeitlich begrenzt zunächst bis Ende 2014 - verabschiedet. Das zeigt: Die Koalition ist handlungs- und entscheidungsstark.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Noch vor wenigen Jahren war es eine Selbstverständlichkeit: Wer arbeitslos wurde, nachdem er mindestens ein Jahr lang beschäftigt war, hatte Anspruch auf Arbeitslosengeld. Dafür hat er schließlich Beiträge abgeZu Protokoll gegebene Reden führt. Mit dem Arbeitslosengeld soll die Zeit überbrückt werden, bis wieder eine Anstellung gefunden ist. Das ist die zentrale Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung. Dafür haben wir sie geschaffen. Aber heute sieht das ganz anders aus: Jeder Vierte, der arbeitslos wird, bekommt kein Arbeitslosengeld - und das, obwohl er regelmäßig Sozialbeiträge gezahlt hat. Stattdessen ist er gleich auf die Grundsicherung angewiesen. Für jeden vierten Arbeitnehmer kann die Arbeitslosenversicherung also keinen Schutz mehr bieten - und die Tendenz ist steigend. Das ist ein alarmierender Befund für unser Sozialversicherungssystem als Ganzes. Das können wir nicht hinnehmen. Wir können nicht zulassen, dass immer mehr Menschen gleich auf das Grundsicherungsniveau absinken. Und wir können nicht zulassen, dass Beiträge eingezogen werden, ohne dass die Beschäftigten eine realistische Chance auf Leistungen haben. Hier ist etwas faul im System, und das muss behoben werden. Sonst geht das Vertrauen in unsere Sozialversicherung weiter verloren. Betroffen sind zum einen die prekär Beschäftigten. Bei ihren Niedriglöhnen fällt das Arbeitslosengeld so gering aus, dass es unterhalb der Grundsicherung liegt. Die andere Gruppe sind die immer wieder kurz befristet Beschäftigten. Das sind die Saisonbeschäftigten, die Leiharbeitnehmer oder diejenigen, die immer wieder projektgebunden arbeiten. Vor allem in der Kultur- und Kreativwirtschaft breiten sich diese Anstellungsverhältnisse aus. Aufgrund der vielen Unterbrechungen können diese Beschäftigtengruppen die Anwartschaft innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist nicht erfüllen. Festzuhalten bleibt: Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Jahren rasant verändert, und unsere Sozialversicherung hat damit nicht Schritt gehalten. Das müssen wir ändern. Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt. Wir fordern die Verlängerung der Rahmenfrist auf drei Jahre und den Wegfall der bisher geltenden komplizierten Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der kleinen Anwartschaft. Die Experten der Anhörung im Ausschuss haben unsere Forderungen breit unterstützt. Wir wollen die Frist, innerhalb der die Anwartschaft nachgewiesen werden muss, ausweiten: von jetzt zwei auf künftig drei Jahre. In diesem Zeitraum haben die kurz befristet Beschäftigten dann die realistische Chance, dass sich ihre einzelnen Arbeitsverhältnisse auf die erforderliche Anwartschaft addieren. Der Antrag der Grünen geht einen anderen Weg, kommt aber mit der weiteren Verkürzung der Anwartschaft bei gleicher Rahmenfrist zum gleichen Effekt. Alle Sachverständigen haben bestätigt, dass die Verlängerung der Rahmenfrist mehr Versicherte in den Versicherungsschutz einbeziehen würde. Bedenken wurden hinsichtlich der damit verbundenen Kosten geäußert. Allerdings stehen die entsprechenden Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, auf äußerst wackeligen Füßen. Das haben einzelne Sachverständige herausgestellt. Nicht nur, dass bisherige Schätzungen extreme Abweichungen aufweisen. Auch wurde kritisiert, dass keine Gesamtbilanz aufgemacht wurde. Die Einsparungen bei der Grundsicherung und bei den Kosten der Unterkunft aufseiten der Kommunen gingen nicht in die Rechnung ein. Und ich möchte daran erinnern, dass das IAB schon einmal kräftig daneben gegriffen hat, als die Kosten für die Inanspruchnahme der Sonderregelung für die kurze Anwartschaft viel zu hoch angesetzt wurden. Prognostiziert waren jährlich 50 Millionen Euro. Tatsächlich aber hat die Bundesagentur einschließlich Sozialabgaben nur 1,7 Millionen Euro ausgeben müssen. Diese Milchmädchenrechnungen sollen uns immer nur davon abhalten, sinnvolle Entscheidungen für die Arbeitnehmer zu treffen. Mit einer weiteren Maßnahme wollen wir die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken. Die seit knapp drei Jahren geltende Sonderregelung für kurz befristet Beschäftigte hat ihr Ziel klar verfehlt. Der Grund: Die Hürden für die Inanspruchnahme der kurzen Anwartschaft von sechs Monaten sind viel zu hoch gesetzt. Die Anhörung hat das eindrucksvoll bestätigt. Derzeit werden für die Klärung des Arbeitslosengeldanspruchs aufgrund der kurzen Anwartschaft nur Beschäftigungsverhältnisse von bis zu sechs Wochen berücksichtigt. Die Koalition will das nun auf zehn Wochen erhöhen. Die Experten der Anhörung haben anschaulich geschildert, dass auch das an den Beschäftigungsrealitäten, zum Beispiel in der Filmbranche, vorbeigeht. Selbst der von der Unionsfraktion benannte Sachverständige vom Bundesverband der Film- und Fernsehschauspieler, BFFS, hat eine Mindestdauer von drei Monaten gefordert und dem Wegfall jeder Befristung den Vorzug gegeben. Genau das entspricht unserer Forderung an die Bundesregierung: Wegfall der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der kurzen Anwartschaft. Auch nach der Anhörung hält die Koalition wider besseres Wissen an ihrem Vorschlag fest. Das zeugt von erschreckender Ignoranz gegenüber dem Rat der Experten und vor allem gegenüber den Betroffenen. Aber es ist nicht nur die Wirkungslosigkeit des Koalitionsvorschlags, auch die bürokratisch komplizierte Regelung stand bei der Anhörung in der Kritik. Auch dem Bundesrechnungshof war das aufgefallen. Er empfiehlt der Bundesagentur für Arbeit, besonders qualifizierte Spezialisten für die Bearbeitung der Anträge einzusetzen, weil die Sachbearbeiter in den Jobcentern damit überfordert sind. Das kann es ja wohl nicht sein. Vielmehr brauchen wir eine einfache und für alle nachvollziehbare Regelung. Unser Vorschlag trägt dem umfassend Rechnung. Damit wollen wir uns nicht auf ein ungewisses Abenteuer einlassen, sondern wir befristen das Ganze auf drei Jahre und begleiten es durch eine wissenschaftliche Evaluation. Dadurch haben wir laufend Erkenntnisse über die Auswirkungen, übrigens auch in finanzieller Hinsicht. Und wir können entsprechend nachsteuern. Lassen Sie mich noch einmal auf die Anhörung zurückkommen. Da wurde vonseiten der Arbeitgeberverbände als Reaktion auf den veränderten Arbeitsmarkt doch tatsächlich gefordert, dass die Politik wieder für mehr feste Beschäftigungsverhältnisse sorgen soll. Und das wurde von den Kollegen der Koalitionsfraktionen mit Zustimmung quittiert. Ich halte das für geradezu zynisch. Wollen Sie denn angesichts der faktischen EntZu Protokoll gegebene Reden wicklungen auf dem Arbeitsmarkt den Kopf in den Sand stecken? Gerade in der Kulturwirtschaft ist der Trend zu projektgebundener Arbeit unumkehrbar. Hier wird kreativ, effizient und innovativ, aber eben häufig befristet im Rahmen von Projekten gearbeitet. Sagen Sie mir bitte: Wie wollen Sie diese Arbeit in Dauerarbeitsverhältnisse überführen, ohne die Dynamik eines ganzen Wirtschaftssektors zu gefährden? Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist eine Branche, die eine gewisse Leitfunktion für den gesamten Arbeitsmarkt hat. Vielfach wird sie als Hoffnungsträger für Wachstum und Beschäftigung präsentiert. Die Kennziffern sprechen für sich. Hier arbeiten hochmotivierte Menschen mit großem Einsatz und persönlichem Risiko. Ideenreichtum, Innovation und Kreativität lassen sich nicht in Dauerarbeitsverhältnisse zwängen. Wir brauchen andere Antworten. Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass diese Menschen sich auf ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit verlassen können. Und dazu gehört es ganz zentral, dass sie wieder Schutz in der Arbeitslosenversicherung finden. Dabei soll unser Antrag helfen. Wenn wir heute keine Mehrheit finden, dann kann ich den betroffenen Beschäftigten zusichern, dass unsere Forderungen Eingang in unser Wahlprogramm finden werden. Ich freue mich, dass die Anträge der Fraktionen von Grünen und Linken in dieselbe Richtung gehen. Der Vorschlag der Regierungskoalition wird sich ganz schnell als ebenso wirkungslos erweisen wie die geltende Regelung. Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Also meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, weil es so viel Spaß macht, wiederhole ich erst einmal die Ergebnisse der Sachverständigenanhörung: Von zwei eingeladenen Forschungsinstituten hielten genau wie viele noch einmal ihre Vorschläge für gut? Richtig, keines der beiden Forschungsinstitute konnte ihren Vorschlägen etwas abgewinnen. Dann war natürlich auch die zuständige Behörde eingeladen. Und wie votierte die Bundesagentur für Arbeit? Ablehnend, auch richtig. Bei den restlichen Verbänden und Einzelsachverständigen gingen die Meinungen dann auseinander, wobei sämtliche Arbeitgebervertreter ihre Vorstellungen ablehnten, die Gewerkschaften ihnen hingegen folgten. Bleibt also im Resultat, dass diejenigen, die sich wissenschaftlich mit der Sache beschäftigen - das IW und auch den von ihnen benannten Einzelsachverständigen, Professor Bosch, lasse ich hier einmal außen vor, auch wenn Letzterer sicherlich durch seine ehemalige, über zehnjährige Tätigkeit für den Deutschen Gewerkschaftsbund seine Kompetenz gestählt haben dürfte -, und diejenigen, die ihre Ideen praktisch umsetzen müssen, davon also schon einmal nichts halten. So, und jetzt sage noch einmal einer, Politiker würden nicht nach ihren Überzeugungen handeln. Im Gegenteil, geradezu blinde Hingabe findet man bisweilen etwa dann, wenn die SPD glaubt, sie hätte einen guten Antrag zur Rahmenfrist geschrieben; denn nach der Anhörung stellen oder vielmehr setzen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich im Ausschuss hin und sagen, dass die Experten ihre Vorschläge begrüßen würden. Unbeirrbar, kann ich da nur sagen. Allerdings nicht alleine; denn auch die Linke und die Grünen hatten ja nichts übrig für die Ergebnisse der Anhörung. Darüber hinaus ist es natürlich etwas zweifelhaft, wenn man großzügige Versprechen - ja, wir dehnen die Rahmenfrist aus - dann vorgerechnet bekommt, wie viel das ungefähr kosten würde - immerhin bis zu 1,7 Milliarden Euro pro Jahr - und dann nirgendwo ein Sterbenswörtchen zur Finanzierungsfrage verliert. Wie vertragen sich etwa die Mehrkosten, die hier bei den passiven Leistungen zu erbringen wären, mit unserer Leistungsfähigkeit in der aktiven Arbeitsmarktpolitik? Ist nicht Weiterbildung wichtiger als eine eventuell verlängerte Bezugszeit? Und wie sähe es eigentlich mit dem Beitragssatz aus? Warum sagen Sie den Menschen denn nicht rundheraus, das ihre Vorschläge nicht nur dazu führen würden, dass manche länger etwas kriegen, sondern das alle vorab dafür zahlen müssten, was bei einer Beitragssatzsteigerung ja der Fall wäre? Abgesehen davon, dass Sie uns Antworten auf alle diese Fragen schuldig bleiben, sind Sie auch nicht auf die konkreten Probleme bei der Sonderregelung für überwiegend kurz befristet Beschäftigte eingegangen. Die Verdienstgrenze abzuschaffen, ist und bleibt Unsinn. Ich habe es bei der ersten Lesung getan und tue es jetzt gerne wieder, nämlich den Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der letzten Legislaturperiode zu zitieren, den geschätzten SPD-Kollegen, Klaus Brandner. Er schrieb am 15. Mai 2009 in einem Brief an die Koalitionsfraktionen, also auch an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Folgendes: „Die Sonderregelung greift nur zugunsten von Personen, die zuletzt ein Jahresentgelt erzielt haben, das nicht über dem Durchschnitt aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegt. Damit vermeiden wir, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die … ein überdurchschnittlich hohes Jahreseinkommen erzielen, in ihren beschäftigungsfreien Zeiten zusätzlich Arbeitslosengeld erhalten. Dieses müsste durch die übrigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zum Teil mit einem geringen Jahreslohn auskommen müssen, sowie durch deren Arbeitgeber finanziert werden.“ Das ist einfach korrekt. Da muss man nichts weiter zu sagen. Gleichzeitig ist es richtig, bei der Sonderregelung für überwiegend kurz befristet Beschäftigte besonnen zu handeln. Wir haben bisher nur Sachstandsberichte, die uns die Zahlen nennen, und keine umfassende Evaluation durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Solange diese Evaluation, die ja gerade läuft, noch aussteht, sollte man nicht das große Rad drehen. Dass wir jetzt also die Regelung erst einmal verlängern und die zulässige Beschäftigungsdauer von sechs auf zehn Wochen verlängern, hat den meisten Sinn. Die sechswöchige Frist kann man durchaus als zu kurz bemessen einstufen, auch ohne Evaluation, aber alles was drüber hinausgeht, sollte auf einer soliden empirischen Grundlage stehen. Die ausufernden, teuren und arbeitsmarktpolitisch problematischen Änderungen an der Rahmenfrist, die Sie vorschlagen, sind jedoch der falZu Protokoll gegebene Reden Johannes Vogel ({0}) sche Weg. Unsere Bedenken konnten Sie leider zu keiner Zeit ausräumen. Daher lehnen wir Ihre Anträge ab.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit der Einführung der Hartz-Gesetze vor knapp zehn Jahren hat die Arbeitslosenversicherung einen großen Teil ihrer Schutzfunktion eingebüßt. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit rutscht inzwischen jeder vierte Erwerbslose direkt in Hartz IV. Besonders betroffen sind Beschäftigte mit kurzen, befristeten Arbeitsverhältnissen. Die Ursachen dafür liegen einerseits in der Zunahme der Zahl von prekären Jobs. Für prekär Beschäftigte ist es oft schwer, die erforderlichen Versicherungszeiten zu erwerben. Oft zahlen sie so in die Arbeitslosenversicherung ein, erhalten aber im Falle des Jobverlusts kein Arbeitslosengeld. Verschärft wird diese Problematik durch Einschnitte in der Arbeitslosenversicherung, die ebenfalls mit den Hartz-Gesetzen vorgenommen wurden. So wurde der Zeitraum verringert, in dem Beschäftigte Ansprüche auf Arbeitslosengeld I erwerben können. Die sogenannte Rahmenfrist sank von drei auf zwei Jahre. Zugleich schaffen es viele Beschäftigte nicht, die erforderlichen zwölf Monate sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zusammenzubekommen, die für den Bezug des regulären Arbeitslosengelds I nötig sind. Wegen dieses Problems wurde schon unter der Großen Koalition eine Sonderregelung für kurzzeitig Beschäftigte eingeführt. Sie sollte es den Betroffenen ermöglichen, unter bestimmten Voraussetzungen bereits mit einer Versicherungszeit von sechs Monaten bzw. 180 Tagen Ansprüche auf das Arbeitslosengeld I zu erwerben. Diese Regelung hat sich aber als unzureichend erwiesen. Von den aufgrund dieser Sonderregelung gestellten Anträgen wurde in den zurückliegenden Jahren nur etwa jeder dritte genehmigt. Denn die Zugangsbedingungen bei dieser Sonderregelung sind sehr restriktiv. So dürfen die Beschäftigten überwiegend nur Jobs ausüben, die sechs Wochen oder weniger dauern. Zudem dürfen sie nicht mehr als 2 625 Euro brutto im Monat verdienen. Diese restriktiven Sonderregelungen führen dazu, dass viele Beschäftigte zu kurz beschäftigt sind, um reguläres Arbeitslosengeld I zu beziehen, aber zu lang beschäftigt sind, um das Arbeitslosengeld I nach der Sonderregelung zu beziehen. Sie fallen durch diese Lücke. Der Verband der Film- und Fernsehregisseure machte vor einiger Zeit darauf aufmerksam, dass es in dieser Branche jeden dritten Beschäftigten betrifft, der seine Anstellung verliert. Es geht hier aber nicht um eine spezielle Berufsgruppe, sondern um ein generelles Problem, ein Problem, das durch die Zunahme prekärer Beschäftigung insgesamt an Bedeutung gewonnen hat. Nehmen wir das Beispiel der Leiharbeitskräfte. Die Hälfte von ihnen ist weniger als sechs Monate beschäftigt. War zum Beispiel ein Leiharbeiter in den zurückliegenden zwei Jahren einmal vier Monate und einmal sechs Monate beschäftigt, fällt er im Falle der Arbeitslosigkeit sofort in Hartz IV. Er hat insgesamt keine zwölf Monate Versicherungszeit für das reguläre Arbeitslosengeld erworben, war aber mit mehrmonatigen Arbeitsverträgen zu lange beschäftigt, um das Arbeitslosengeld für kurzzeitig Beschäftigte zu erhalten. Dieser Zustand ist nicht zu akzeptieren. Die Änderungen, die die Regierung jetzt anstrebt, sind nur Flickschusterei. Die Linke will die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung wieder stärken. Dazu ist die Rahmenfrist zum Erwerb von Arbeitslosengeld-I-Ansprüchen wieder auf drei Jahre zu verlängern. Für Beschäftigte mit überwiegend kurzen Beschäftigungsverhältnissen sind die Zugangsbedingungen zum Arbeitslosengeld I darüber hinaus in der Art zu erleichtern, dass die im § 123 SGB III enthaltene Beschäftigungsbedingung gestrichen und die Verdienstgrenze abgeschafft wird. SPD und zum Teil auch Grüne haben ähnlich lautende Anträge vorgelegt. Es freut uns, dass hier die Fehler korrigiert werden sollen, die von Rot-Grün mit den Hartz-Gesetzen begangen wurden. Leider kommt dieser Wandel zu spät. Denn nun haben wir für diese richtigen und notwendigen Korrekturen keine parlamentarische Mehrheit. Die Zukunft wird zeigen, ob es uns gelingt, dies zu ändern, und ob SPD und Grüne dann ebenfalls noch zu ihrem Wort stehen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Regelungen der Arbeitslosenversicherung sind nicht mehr zeitgemäß, denn sie grenzen immer mehr Menschen vom Arbeitslosengeldbezug aus. Zunehmend fallen befristet Beschäftigte, die ihren Job verlieren, durchs Raster: Sie haben zwar Beiträge eingezahlt, aber weil sie nicht lange genug beschäftigt waren, haben sie im Falle von Arbeitslosigkeit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Inzwischen ist jeder vierte Erwerbstätige beim Verlust seines Arbeitsplatzes sofort auf Hartz-IVLeistungen angewiesen, Tendenz steigend - da kann von Gerechtigkeit keine Rede mehr sein. Der Arbeitsmarkt wird zunehmend flexibler. Diejenigen, die die hohen Anpassungslasten dieser Entwicklung tragen müssen, sollten gut abgesichert sein. Aber genau das ist nicht der Fall. Für sie gibt es kein Netz und keinen doppelten Boden, denn sie schaffen es nicht, innerhalb von zwei Jahren zwölf Monate Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Das aber sind zurzeit die Voraussetzungen, um einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erwirken. Betroffen sind nicht nur Kulturschaffende und Beschäftigte in der Wissenschaft, die schon lange mit kurzen Engagements oder befristeten Verträgen arbeiten, sondern auch viele Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer und die meisten Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Insbesondere diejenigen, die es nach langer Zeit und mit viel Mühe geschafft haben, aus dem Grundsicherungsbezug heraus einen neuen Arbeitsplatz zu finden, landen bei einem Jobverlust sofort wieder im Hartz-IV-System. Denn es gelingt Zu Protokoll gegebene Reden bisher kaum, sie nachhaltig in Arbeit zu integrieren. Ihre Beschäftigung bleibt oft nur ein kurzes Intermezzo ohne langfristige berufliche Perspektive. Für diese Menschen brauchen wir eine wirksame Doppelstrategie: Zum einen geht es darum, ihnen über gute Qualifizierung einen besseren Start in eine neue berufliche Zukunft zu ermöglichen; zum anderen brauchen wir für sie einen besseren Schutz durch die Arbeitslosenversicherung, um den sofortigen Rückfall in die Grundsicherung zu vermeiden, wenn sie wieder arbeitslos werden. Beides wird es aber mit Arbeitsministerin von der Leyen nicht geben. Sie kürzt bei der Weiterbildung und zeigt null Engagement für eine Neuregelung der Arbeitslosenversicherung. Dabei sind die Probleme seit langem bekannt. Schon 2009 hatte die damalige Große Koalition einen halbherzigen Versuch unternommen, über eine Sonderregelung in der Arbeitslosenversicherung kurz befristet Beschäftigte besser abzusichern. Aber diese bürokratische, voraussetzungsvolle und bis Ende Juli 2012 befristete Regelung ist kläglich gescheitert. Lediglich 242 Personen konnten im vergangenen Jahr von ihr profitieren. Das ist eine beschämende und ernüchternde Bilanz. Darum wäre es das Gebot der Stunde gewesen, das Auslaufen dieser Sonderregelung zum Anlass zu nehmen, die Arbeitslosenversicherung zu einem echten Schutzschirm für flexibel Beschäftigte auszubauen. Diese Chance hat Arbeitsministerin von der Leyen vertan. Es gibt aus ihrem Haus dazu keinerlei Initiative. Stattdessen sind die Regierungsfraktionen in die Bresche gesprungen, um zu verhindern, dass auch noch die schmalspurige Sonderregelung ersatzlos wegfällt. Aber das, was jetzt dazu als Änderungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf den letzten Drücker eingebracht wurde, ist lächerlich. Denn die alte Sonderregelung wurde lediglich etwas aufgehübscht, ist aber im Kern unverändert geblieben. Es bleibt bei bürokratischen Einkommens- und Beschäftigungsdauerobergrenzen, und ich prophezeie schon jetzt, dass auch zukünftig davon nahezu niemand profitieren wird. Gerechtigkeit muss die oberste Messlatte für die Arbeitslosenversicherung sein. Sie muss daher auch all denjenigen im Falle von Arbeitslosigkeit Schutz gewähren, deren Erwerbsleben durch kurzfristige, befristete und unterbrochene Beschäftigung gekennzeichnet ist. Auch sie zahlen Beiträge und sind somit Teil der Versichertengemeinschaft. Wir haben unsere Vorschläge dazu vorgelegt. Wir fordern, dass zukünftig schon dann Arbeitslosengeld gezahlt wird, wenn für mindestens vier Monate innerhalb von zwei Jahren Beiträge eingezahlt wurden. So könnten nahezu 300 000 Menschen vor dem Abrutschen in die Grundsicherung geschützt werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/9612. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8574 mit dem Titel „Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken - Rahmenfrist verlängern - Regelung für kurz befristet Beschäftigte weiterentwickeln“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen. SPD und Linke waren dagegen, CDU/CSU und FDP dafür. Buchstabe b. Hier empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8586 mit dem Titel „Arbeitslosengeld statt Hartz IV - Zugang zur Arbeitslosenversicherung erleichtern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die Linke war dagegen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8579 mit dem Titel „Flexibel Beschäftigte in der Arbeitslosenversicherung besser absichern“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung durch SPD und Linke angenommen. Dagegen waren Bündnis 90/Die Grünen, die Koalitionsfraktionen hingegen dafür. Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Sie genießen bitte den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. Juni 2012, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.