Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Ich möchte Sie zu Beginn unserer Plenarsitzung darauf aufmerksam machen, dass unser Kollege HansUlrich Klose heute seinen 75. Geburtstag feiert.
({0})
Lieber Kollege Klose, mit diesem Beifall des ganzen
Hauses kommen nicht nur die guten Wünsche für die
nächsten Jahre zum Ausdruck, sondern zweifellos auch
die große Sympathie und die große Wertschätzung, derer
Sie sich im ganzen Hause erfreuen. Ich weiß, dass heute
Abend auch aus diesem Anlass die Deutsche Parlamentarische Gesellschaft zu einer besonderen Veranstaltung
zusammentritt, die sicherlich Gelegenheit bieten wird,
dieses besondere Ereignis auch in einer besonderen
Weise zu würdigen. Noch einmal alle guten Wünsche!
({1})
Am 22. Mai hat der Kollege Bernhard Brinkmann,
den wir heute nach längerer Krankheit wieder unter uns
begrüßen können, seinen 60. Geburtstag gefeiert. Auch
ihm möchte ich auf diesem Wege herzlich gratulieren.
({2})
Wir freuen uns, dass Sie wieder dabei sind, und wünschen Ihnen für das neue Lebensjahr alles Gute und eine
stabile Gesundheit.
Wir haben in den zurückliegenden Tagen immer mal
wieder weitere Geburtstage von Kollegen gefeiert. Ich
darf nur die etwas auffälligeren erwähnen: Der Kollege
Hans-Christian Ströbele hat seinen 73., die Kollegin
Helga Daub ihren 70. und der Kollege Wolfgang
Bosbach seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ihnen allen gelten unsere guten Wünsche.
({3})
Bedauerlicherweise hat die Kollegin Nicolette Kressl
mit Wirkung vom 1. Juni 2012 auf die Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag verzichtet. Für sie ist die Kollegin
Annette Sawade nachgerückt. Im Namen des Hauses
darf ich sie herzlich begrüßen.
({4})
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit.
Schließlich müssen wir vor Eintritt in die Tagesordnung noch eine Schriftführerwahl durchführen. Die
SPD-Fraktion schlägt vor, für die Kollegin Aydan
Özoğuz die gerade begrüßte Kollegin Annette Sawade
als Schriftführerin zu wählen. Das ist eine der schnellsten parlamentarischen Karrieren, an die ich mich erinnern kann. Wir wollen einmal sehen, ob das auch die
notwendige Mehrheit findet. Ist jemand gegen diesen
Vorschlag? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? Dann sind Sie gleich am ersten Tag Ihrer Mitgliedschaft
in diesem Hause in dieses wichtige Amt gewählt. Ich
darf die allgemeine Freude auf die Zusammenarbeit um
die besondere Freude auf die Zusammenarbeit hier oben
ergänzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Umstrittene Nutzung des Auslandsnachrichtendienstes für den Transport eines von BM
Niebel privat gekauften Teppichs
({5})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 52
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lieferung von U-Booten an Israel stoppen
- Drucksache 17/9738 21860
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 53
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
- Drucksache 17/9939 ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der
Energiewende
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Tobias Lindner, Nicole Maisch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit im
Wettbewerbsrecht verankern
- Drucksache 17/9956 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silvia
Schmidt ({8}), Anette Kramme, Josip
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit
Behinderung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen
- Drucksache 17/9931 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 29 und
53 e abgesetzt. Darüber hinaus kommt es in der Zusatzpunktliste zu Änderungen im Ablauf, die dargestellt
sind.
Darf ich von Ihrem Einvernehmen ausgehen? - Das
ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum G-20-Gipfel am 18./19. Juni 2012 in Los
Cabos ({10})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({11})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Nächste Woche wird in Los
Cabos in Mexiko der diesjährige G-20-Gipfel stattfinden. Seit Beginn der Finanzkrise 2008/2009 hat sich die
G 20 auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs als
zentrales Forum für die internationale wirtschaftliche
Zusammenarbeit etabliert. Geboren ist dieses Forum aus
der Erfahrung der wechselseitigen Abhängigkeit, in der
wir auf der Welt zusammenleben, insbesondere nach
dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Seither ist
die Agenda der G 20 von der allein akuten Krisenbewältigung hin zu einer wirklich breiten globalen Zusammenarbeit erweitert worden. Internationale wirtschaftliche
Zusammenarbeit ist deshalb heute umfassend zu verstehen. Alle Themen, die auf der Tagesordnung stehen, ordnen sich dieser gemeinsamen internationalen Zusammenarbeit unter.
Erstens wird es um das sogenannte Green Growth gehen. Es steht auf der G-20-Agenda der diesjährigen mexikanischen Präsidentschaft ganz oben. Ich begrüße,
dass Mexiko hier einen Schwerpunkt setzt, auch mit
Blick auf den danach stattfindenden Gipfel Rio+20 in
Brasilien. Grünes Wachstum ist ein Thema für alle G-20Staaten, egal ob sie Schwellen- oder Industrieländer
sind; denn nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit gilt
das Prinzip der gemeinsamen, wenn auch im Einzelfall
unterschiedlichen Verantwortung. Es müssen Wege gefunden werden, mit denen Wirtschaftswachstum, Klimaund Umweltschutz weltweit in Einklang gebracht werden können. Das kann nur geschehen, wenn wir die
Wachstumsdynamik so gestalten, dass sie von Innovationen und grünen Technologien, Verfahren und Produkten
getragen wird. Es geht also darum, ökonomische, ökologische und soziale Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen. Das Ganze wird dann Inclusive Green Growth
genannt. Das Ergebnis, wenn dieser Grundsatz beherzigt
wird, ist das, was unter dem Stichwort Nachhaltigkeit
diskutiert wird.
Es geht hier allerdings um sehr konkrete Dinge. Wir
dürfen nicht vergessen, dass von den 7 Milliarden Menschen, die auf der Welt leben, 1 Milliarde akut von Hunger bedroht ist. Das heißt, es geht darum, Hunger zu
bekämpfen, die Biodiversität zu erhalten, dem Klimawandel zu begegnen. Wir wissen, dass Fortschritte,
wenn es um verbindliche internationale Abkommen
geht, in diesem Bereich eher im Schneckentempo erzielt
werden. Es ist ein gutes Signal, dass es in Durban gelungen ist, wenigstens die Absicht zu verfestigen, dass wir
ein weltweit bindendes Klimaabkommen brauchen.
Aber der Weg ist mühsam. Doch genau das liegt im Interesse des gesamten Deutschen Bundestages bzw. der
Bundesrepublik Deutschland. Deshalb wird sich die
deutsche Delegation, geführt von Umweltministerium
und Entwicklungsministerium, bei Rio+20 genau dafür
einsetzen.
In Los Cabos werden wir darüber beraten, welchen
Beitrag die grüne Ökonomie für eine nachhaltige Entwicklung leisten kann, auch und gerade im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung und der Sicherung der
Ernährung. Es geht um nachhaltige Produktion und Produktivität im Agrarsektor. Es geht darum, die Situation
der Kleinbauern zu verbessern. Wir werden insbesondere über spezielle Finanzierungsmechanismen für
Kleinbauern beraten. Es ist deshalb sehr wichtig, dass es
vor kurzem gelungen ist, eine Einigung über die freiwilligen Leitlinien zu den Landnutzungsrechten zu erzielen.
Das mag uns aus unserer Perspektive hier heute Morgen
sehr fern vorkommen. Für Millionen von Menschen
kann es aber eine Zukunft bedeuten. Wir haben über die
entsprechende Agenda schon beim G-8-Gipfel in Camp
David diskutiert und dort eine neue Allianz zur Ernährungssicherung geschaffen. Dies soll im Rahmen der
G 20 fortgesetzt werden. Ziel ist es, in den nächsten zehn
Jahren 50 Millionen Afrikanern aus der Armut zu helfen ich glaube, ein zutiefst menschliches Anliegen.
({0})
Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit leistet
die G 20 auch bei einem zweiten Thema, nämlich der
Beschäftigung. Gerade dieses Ziel wird im Rahmen der
G 20 von der Gruppe der Gewerkschaftsvertreter und
der Internationalen Arbeitsorganisation sehr intensiv
verfolgt. Es geht hier vor allen Dingen um den Kampf
gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Das ist nicht nur ein
Problem in Europa, sondern ein weltweites Problem. Es
wird deshalb auch in Los Cabos diskutiert. Es gibt eine
Vielzahl von Vorschlägen zur Förderung der Jugendbeschäftigung. Da geht es um den reibungslosen Übergang
von der Schule in den Beruf, praxisorientierte Ausbildung, die Förderung von beruflicher Ausbildung. Ich
glaube, Deutschland kann und wird hier seinen Erfahrungsschatz aus dem dualen Berufsausbildungssystem
sehr gut einbringen.
({1})
Die Erfahrung zeigt, dass, wenn wir das schaffen wollen,
wir es nur gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften schaffen werden. Wir in Deutschland haben gerade in der Krise 2008/2009 gute Erfahrungen mit der
sozialen Marktwirtschaft gemacht. Dieses Beispiel kann,
glaube ich, weltweit Schule machen.
Drittens gehört zu dem Thema der internationalen
wirtschaftlichen Zusammenarbeit der freie Handel. Hier
ist ein deutliches Wort notwendig, und ich werde dort
auch entsprechend auftreten. Das Bekenntnis zum freien
Handel ist zu oft nur ein Lippenbekenntnis. Die Monitoringberichte der internationalen Organisationen zeigen,
dass die G 20 ihre Selbstverpflichtung in Sachen Protektionismus bislang nicht immer ernst genug genommen
hat. WTO, OECD und UNCTAD haben zuletzt Ende
Mai mit Sorge darauf hingewiesen, dass mittlerweile fast
4 Prozent des Handels der G-20-Staaten von solchen
handelsbeschränkenden Maßnahmen betroffen sind. Es
führt deshalb kein Weg daran vorbei, wirksame Instrumente zu schaffen, um dieser Entwicklung entschieden
zu begegnen. Protektionismus verhindert Wachstum.
Wir brauchen nicht tagelang über Wachstum zu sprechen, wenn wir anschließend nicht bereit sind, im Sinne
von freiem Handel alles zu tun, um Wachstum zu fördern.
({2})
Das Thema wird in Los Cabos sehr konkret werden;
denn wir haben bei der G 20 ein sogenanntes Stillhalteabkommen zur Begrenzung des Protektionismus, das
Ende 2013 ausläuft. Wir müssen es in Los Cabos verlängern, und zwar möglichst weit in die Zukunft hinein,
weil internationaler Handel Impulse für Innovation,
Wachstum und Beschäftigung schafft. Wir wissen, dass
die Doha-Runde stockt. Deshalb müssen wir vor allen
Dingen regionale und bilaterale Ansätze voranbringen.
Die Europäische Union führt hierzu strategische Gespräche mit wichtigen Partnern in Asien und Lateinamerika.
Deutschland ist bei diesen Verhandlungen immer ein
konstruktiver Partner.
Internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit verlangt viertens und nicht zuletzt die Stärkung der Institutionen. Wir haben seit 2009 eine erstaunliche, auch sehr
schnelle Entwicklung gehabt, bei der internationale Organisationen gestärkt wurden. Das gilt insbesondere für
den Internationalen Währungsfonds. Der Internationale
Währungsfonds muss zu jedem Zeitpunkt in der Lage
sein, seine überaus wichtige Aufgabe zugunsten aller
Mitgliedsländer wahrzunehmen. Deshalb war es wichtig,
dass es auf der Frühjahrstagung des IWF gelungen ist,
die Ressourcen aufzustocken. Wir erinnern uns: Zusätzliche finanzielle Mittel in Höhe von 430 Milliarden USDollar, davon allein rund 150 Milliarden Dollar aus der
Euro-Zone, sprechen hier eine eigene Sprache.
Jetzt geht es aber auch um die Umsetzung der 2010
beschlossenen IWF-Quotenreform. Hier geht es um die
neue Machtbalance, die letztlich widerspiegelt, wie sich
die ökonomischen Verhältnisse weltweit verändert haben. Das heißt, die Schwellenländer werden einen größeren Einfluss im IWF bekommen. Deutschland hat diese
Quotenreform national fristgerecht umgesetzt, aber das
haben noch nicht alle gemacht. Ich meine, es ist eine
Frage der Glaubwürdigkeit auch für die internationale
Zusammenarbeit, dass alle Mitgliedstaaten dieser Quotenreform gerecht werden, damit der IWF auch arbeiten
kann.
({3})
Der IWF hat nicht nur die Rolle, finanzielle Mittel in
Notfällen bereitzustellen, sondern er entwickelt sich
auch immer mehr zu einem Überwachungs- und Beratungsgremium. Er hat ja bei der Bekämpfung der europäischen Schuldenkrise eine ganz wichtige Aufgabe im
Rahmen der Troika. Ich will an dieser Stelle noch einmal
daran erinnern, meine Damen und Herren, dass es die
Troika war - der IWF an vorderster Stelle mit dabei -,
die die Programme für Griechenland, für Portugal und
für Irland ebenso wie Programme für andere europäische
Länder, die wie zum Beispiel Lettland nicht im EuroRaum sind, entwickelt hat, und dass deshalb diese Programme auf internationalem Fundament ruhen und aus
diesem Grunde auch umgesetzt werden müssen.
Die Themen grünes Wachstum, Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, freier Handel, Stärkung der Institutionen sind von größter Bedeutung. Aber machen wir
uns nichts vor: So wichtig all diese Themen sind, so sehr
werden sie in Los Cabos alle im Schatten eines Themas
stehen, das seit gut zwei Jahren auch uns, Deutschland,
Europa und die Welt nahezu unablässig beschäftigt,
nämlich die Staatsschuldenkrise in Europa. Sie wird zentrales Thema in Los Cabos sein. Sie wird die Beratungen
- so sehe ich voraus - auch dominieren.
({4})
Damit - daran gibt es nicht den geringsten Zweifel wird gerade auch unser Land, wird Deutschland einmal
mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen.
({5})
Es ist so: Alle Augen richten sich auf Deutschland, weil
wir die größte Volkswirtschaft im europäischen Raum
und weil wir eine große Exportnation sind. Deshalb
möchte ich noch einmal daran erinnern: Es ist zwar viel
passiert seit dem letzten Gipfel in Cannes - Aufstockung
des Rettungsschirms, strukturelle Reformen in vielen
Ländern, Verhandlungen um den Fiskalvertrag; wir sind
auf dem Weg, uns in Europa intensiver als jemals zuvor
abzustimmen und die Union weiter zu vertiefen -, aber
das wird nichts daran ändern, dass die aktuelle Situation
dort auf der Tagesordnung steht.
Wir beachten immer, dass die Stärkung des Wachstums und die Haushaltskonsolidierung Hand in Hand gehen müssen. Im Übrigen sind alle Programme, die von
der Troika verabschiedet wurden, genau diesem Ziel geschuldet. Diese beiden Säulen gehören in der Krise in
Europa zusammen. Beide Säulen sind unverzichtbar.
Beiden Säulen liegt die Überzeugung zugrunde, dass wir
die Krise nur nachhaltig überwinden können, wenn wir
an ihren Wurzeln ansetzen: an der massiven Verschuldung und vor allem an der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit einzelner Mitgliedstaaten wie auch an der mangelnden Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit Europas,
die entsteht, wenn es seine eigenen Regeln nicht einhält.
({6})
Ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur eine schonungslose Analyse unserer eigenen Erfahrungen in Europa
weist uns den Weg aus der Krise.
({7})
Immer wieder haben wir in Europa unsere Ziele nicht
eingehalten. Im Jahre 2000 wurde von den Staats- und
Regierungschefs beschlossen, dass man 2010 der dynamischste Kontinent der Welt sein wolle. Wir haben dies
erkennbar nicht erreicht.
Ich sage auch: Angefangen hat diese Entwicklung bei
der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion vor
20 Jahren. Eigentlich sollte sie auf dem Fundament einer
politischen Union aufgebaut werden.
({8})
Es gab damals zwei große Konvente bzw. Gruppen, die
zwei Aufgaben hatten: Die eine hatte die Aufgabe, die
Währungsunion zu schaffen, die andere die Aufgabe, die
politische Union zu schaffen. Anschließend hat man die
Währungsunion beschlossen, die politische Union aber
nie realisiert.
Deshalb ist es unsere Aufgabe, heute das nachzuholen, was damals versäumt wurde, und den Teufelskreis
von immer neuen Schulden, von nicht eingehaltenen Regeln zu durchbrechen. Ich weiß, dass das mühsam ist,
dass das schmerzhaft ist, dass das langwierig ist. Es ist
eine Herkulesaufgabe, aber sie ist unvermeidlich. Alles
andere wäre Augenwischerei und würde uns in noch
schwierigere Probleme führen - vielleicht nicht morgen,
aber mit aller Sicherheit in ziemlich kurzer Zeit, meine
Damen und Herren.
({9})
Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal die
Frage stellen, die uns beschäftigen muss, mit der man
sich ja auch weltweit beschäftigt: Wie konnte eigentlich
die internationale Finanzkrise 2008/2009 entstehen?
({10})
Sie konnte entstehen und fatale Wirkungen entfachen,
weil immer wieder Fakten ignoriert wurden, Wechsel auf
die Zukunft gezogen wurden, Kräfte überschätzt wurden
und riskante Instrumente finanzieller Art angewandt
wurden. So ist die Immobilienkrise entstanden, so wurde
zu viel Liquidität bereitgestellt, so konnten neue Finanzprodukte entwickelt werden - ein Teufelskreis, den wir
für die Zukunft durchbrechen müssen.
Wir müssen verstehen: Erfolgreich werden wir nur
sein, wenn alle - ich betone: wirklich alle -, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die europäischen
und internationalen Institutionen genauso wie die Gesellschaften unserer Länder, bereit und in der Lage sind,
die Fakten anzuerkennen und die Kräfte jeweils realistisch einzuschätzen und sie zum Wohle des Ganzen auch
wirklich einzusetzen. All denen, die in diesen Tagen in
Los Cabos wieder auf Deutschland schauen, die von
Deutschland den Paukenschlag und die Lösung erwarten, die Deutschland von Euro-Bonds, Stabilitätsfonds,
europäischen Einlagensicherungsfonds, noch mehr Milliarden und vielem mehr überzeugen wollen, sage ich
deshalb: Ja, Deutschland ist stark, Deutschland ist Wirtschaftsmotor, und Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa. Und ich sage: Deutschland setzt diese Stärke und
diese Kraft auch ein, und zwar zum Wohle der Menschen nicht nur in Deutschland, sondern auch im Dienste der
europäischen Einigung und auch im Dienste der Weltwirtschaft.
({11})
Warum tun wir das? Weil wir überzeugt sind: Europa
ist unser Schicksal und unsere Zukunft. Und weil wir
überzeugt sind: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Aber wir wissen ebenfalls: Auch Deutschlands
Stärke ist nicht unendlich; auch Deutschlands Kräfte
sind nicht unbegrenzt. Deshalb besteht unsere besondere
Verantwortung als größte Volkswirtschaft in Europa darin, unsere Kräfte glaubwürdig einzuschätzen, damit wir
sie für Deutschland und Europa mit voller Wirkung einsetzen können. Das gelingt nur, wenn wir unsere Kräfte
nicht überschätzen, sondern wenn wir glaubwürdig
Schritt für Schritt unseren Weg zu einer politischen
Union gehen.
Alle Mittel, alle Maßnahmen, alle Pakete wären am
Ende Schall und Rauch, wenn sich herausstellen sollte,
dass sie über Deutschlands Kräfte gehen, dass sie
Deutschland überfordern. In dem Moment würden alle
Maßnahmen, die jetzt gefordert werden, ihre Wirkung
sofort verlieren, und wir würden von den Märkten wieder abgestraft. Deshalb sage ich: Wir sind verpflichtet,
zum Wohle unseres Landes, aber auch zum Wohle Europas zu arbeiten. Das heißt, wir dürfen uns nicht nach
dem Mittelmaß richten, nach der schnellen Lösung suchen, sondern wir müssen das Beste für unser Handeln
versuchen.
({12})
Diese scheinbar einfachen Vergemeinschaftungsüberlegungen, ganz abgesehen davon, dass sie verfassungsrechtlich gar nicht machbar sind, sind somit völlig kontraproduktiv. Sie würden das Mittelmaß für Europa zum
Maßstab erklären. Wir würden damit unseren Anspruch
aufgeben, unseren Wohlstand im weltweiten Wettbewerb
zu halten. Wir würden die Fehler der Anfangszeit des
Euro, als die Märkte uns mit fast einheitlichem Zins beurteilt haben, jetzt politisch wiederholen. Damit würden
wir eben nicht an der Wurzel unseres Problems ansetzen,
sondern die Probleme allenfalls kurzfristig verschleiern.
({13})
Manchen Marktteilnehmern mag das recht sein - das
kann ich verstehen -; aber wir machen Politik doch nicht
im Auftrag der Märkte, sondern wir machen sie für die
Zukunft der Menschen in unserem Lande.
({14})
Wir haben unverändert das Ziel, dass Europa stärker
aus dieser Krise hervorgeht, als es in sie hineingegangen
ist. Deshalb müssen wir umfassend unsere Strukturen reformieren. Es gibt ganz einfache Ausarbeitungen, zum
Beispiel der Weltbank, wo beschrieben steht, wie Europa
seinen Glanz wiederherstellen kann: „Restoring the
lustre of the European economic model“. Allein schon in
diesem Titel drückt sich aus, dass bei uns etwas nicht
richtig gelaufen ist.
Wir müssen mehr Innovationen haben. Wir brauchen
mehr neue Technologien. Wir müssen den Binnenmarkt
vervollständigen. Wir müssen einen Arbeitsmarkt in Europa schaffen, auf dem mehr Mobilität herrscht. Wir
müssen unsere Mittel, die Strukturfondsmittel, die Kohäsionsfondsmittel, besser einsetzen. Wir müssen Bürokratie abbauen. Über alles das sprechen wir jetzt auch im
Zusammenhang der Vorbereitung des Rates mit den Vertretern der Oppositionsfraktionen. Ich glaube, das sind
gute Gespräche. Dass wir all das nicht ausreichend getan
haben, dass wir die Regeln immer wieder nicht eingehalten haben, hat Europa Vertrauen gekostet - Vertrauen auf
den Märkten und bei den Investoren. Dieses Vertrauen
muss schnellstmöglich wiederhergestellt werden.
Meine Damen und Herren, nehmen wir Spanien. Spanien macht - nach langer Zeit - die richtigen Reformen.
Der spanische Ministerpräsident tut dies mit großem
Mut und großem Engagement.
({15})
Aber Spanien sitzt auf den Folgen einer Immobilienblase, die durch unverantwortliches Handeln in den letzten zehn Jahren entstanden ist. Deshalb war es auch richtig, dass Spanien sich anschickt, einen Antrag zu stellen,
um die Solidarität Europas in Anspruch zu nehmen, damit die Folgen dieser Vergangenheit bewältigt werden
können. Denn wir wissen: Banken müssen vernünftig
kapitalisiert sein, um den Wirtschaftskreislauf am Laufen zu halten. Das ist die Lehre von 2008/2009.
Natürlich wird dies auch eine Konditionalität für die
Zukunft des spanischen Bankensektors beinhalten. In
diesem Zusammenhang erinnere ich daran, dass wir in
Deutschland ebenfalls relativ leidvolle Erfahrungen mit
der Umstrukturierung einiger Banken sammeln mussten.
Je schneller der Antrag von Spanien gestellt werden
kann, umso besser ist es.
Am Fall Spanien können wir aber auch noch ein Weiteres sehen. Vor einem halben Jahr hat die neu geschaffene europäische Bankenaufsicht einen Stresstest für alle
Banken in Europa durchgeführt. Bei diesem Stresstest
damals haben die nationalen Bankenaufseher sehr viel
mitgesprochen. Meine Damen und Herren, das Ergebnis
können wir heute besichtigen: Die spanischen Banken
befinden sich in einer anderen Lage, als es der Stresstest
erscheinen ließ.
({16})
Deshalb geht es - das kann man an diesem Beispiel exemplarisch sehen - in Europa um unabhängige Aufsicht,
zum Beispiel im Bankensektor. Ich hätte nichts dagegen,
wenn die Europäische Zentralbank hier künftig eine stärkere Rolle einnimmt, damit sie auch Aufsichtsbefugnisse bekommt, die uns davor schützen, dass nationale
Einflüsse uns Probleme verschleppen lassen.
({17})
Wir brauchen eine glaubwürdige Bankenaufsicht. Wir
brauchen auf der Ebene der EU eine klarere Beurteilung,
wie wir Strukturfondsmittel besser in Maßnahmen und
Investitionen lenken, um Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu stärken. Die Tatsache - das ist
bereits ein Schritt dessen, was wir im sogenannten SixPack miteinander beschlossen haben -, dass die Europäische Kommission heute Länderberichte für jedes Land
vorlegt
({18})
und darin die Wettbewerbsschwächen schonungslos analysiert, ermöglicht es uns natürlich auch, die Strukturfondsmittel in Zukunft sehr viel zielgerichteter einzusetzen.
Es ist vollkommen richtig: Auch Deutschland werden
Hausaufgaben aufgegeben. Herr Trittin, wenn wir dann
über die bessere Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie
sprechen, werden wir sicher ganz schnell zusammenkommen; denn gerade im Dienstleistungsbereich wird
Deutschland immer mangelnde Wettbewerbsfähigkeit
vorgeworfen.
({19})
Ich weiß, dass das uns allen schwerfällt. Ich sage aber
auch: Wenn wir ein glaubwürdiger Partner in Europa
sein wollen, müssen auch wir unsere Hausaufgaben machen und können nicht immer sagen, dass uns das gerade
nicht passt.
({20})
Meine Damen und Herren, der Fiskalpakt ist auch
deshalb von so großer Bedeutung, weil er ein erster
Schritt ist, mehr Gemeinsamkeit mit mehr Kontrolle auf
europäischer Ebene zu verbinden. Es wird ganz wichtig
sein, zu berücksichtigen, dass nationale Kompetenzen
nur dann abgegeben werden können, wenn klar ist, dass
Vergemeinschaftung auch immer mit unabhängiger Kontrolle der europäischen Institutionen verbunden ist. Haftungen und Kontrollen gehören zusammen. Alle anderen
Diskussionen führen nur zu einer Scheinlösung unserer
Probleme.
({21})
Europa hat sich aufgemacht, die Wirtschafts- und
Währungsunion zu vollenden. Wir sind hier mit Sicherheit in einem Wettlauf mit den Märkten. Das spüren wir
jeden Tag. Ich kann uns aber nur dringend raten - und
ich werde in Los Cabos dafür eintreten -, dass wir diesen
Weg Schritt für Schritt weitergehen, damit das Fundament, auf dem wir unsere Zukunft aufbauen, ein ehrliches und ein vernünftiges Fundament ist. Es ist unsere
gemeinsame politische Verantwortung vor den Bürgerinnen und Bürgern Europas und vor der Geschichte unseres Kontinents, diesen Weg erfolgreich zu gehen. Das
Ergebnis wird darüber befinden, wie die zukünftigen
Generationen leben können, ob weiter in Wohlstand oder
ob Europa als Ganzes zurückfällt. Deshalb ist dies eine
wahrhaft historische Aufgabe, meine Damen und Herren.
({22})
Diese Aufgabe können wir nicht mit weniger Europa
lösen - darum geht es in diesem Parlament bei den allermeisten glücklicherweise auch nicht -, sondern nur mit
mehr Europa, aber mit Europa auf einem guten Fundament.
Wenn die G 20 als G 20 überzeugend agieren wollen,
dann muss in Los Cabos auch klar werden, dass nicht die
Euro-Zone allein die Voraussetzung für ein starkes und
nachhaltiges Wachstum weltweit schaffen kann. Die
G 20 insgesamt haben eine Verantwortung. Dann muss
klar werden, dass alle Partner in der G 20 alle Anstrengungen unternehmen müssen, um zu einem stabileren,
stärkeren und nachhaltigeren Wachstum zu kommen.
Alle müssen wir der Versuchung widerstehen, Wachstum erneut mit mehr Schulden zu finanzieren. Wenn wir
in Los Cabos einen Aktionsplan verabschieden, der aufbauend auf den Ergebnissen der G-20-Gipfel in Seoul
und Cannes kurz- und mittelfristige Maßnahmen einzelner Länder zur Stärkung und Stabilisierung auflisten
wird, muss genau das unser Credo sein. Es ist unverzichtbar, dass die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte wesentliches Element dieses Los-Cabos-ActionPlans sein wird. Ich werde das sehr deutlich machen.
Deutschland hat sich eindeutig zum Schuldenabbau und
zu einer nachhaltigen Wirtschaft bekannt. Deutschland
geht mit Blick auf die Einhaltung der sogenannten
Toronto-Ziele - auch ein G-20-Beschluss, nämlich die
Halbierung des Defizits bis 2013 zu erreichen - mit
gutem Beispiel voran.
Wenn der Los-Cabos-Aktionsplan dazu beitragen
soll, dass wir als G 20 das Vertrauen in eine stabile weltwirtschaftliche Entwicklung tatsächlich stärken, dann
müssen alle Staaten daran mitwirken. Alle müssen bereit
sein, ihre spezifischen Schwachpunkte zu überwinden:
die Europäische Union - ich habe darüber gesprochen durch die Überwindung der Konstruktionsmängel der
Wirtschafts- und Währungsunion; die USA, indem sie
ihr Haushaltsdefizit reduzieren; China und die anderen
Schwellenländer müssen ihre Verantwortung wahrnehmen, indem sie eine höhere Wechselkursflexibilität zulassen.
Die Ursachen der schwächelnden Weltwirtschaft liegen wahrlich nicht nur in der Euro-Zone. Ausgangspunkt der Krise waren die weltweiten Turbulenzen an
den Finanzmärkten vor gut vier Jahren, die deutliche
Regulierungslücken offenbarten. Das Vertrauen der
Menschen in das weltweite Finanzsystem ist dadurch
erheblich erschüttert worden.
Seitdem haben wir in der G 20 eine Reihe von wichtigen Maßnahmen beschlossen und auch umgesetzt: stärkere
Kapitalausstattung für Banken, Regulierung der Derivatemärkte, Regeln für Ratingagenturen, eine Beaufsichtigung
aller Fondsmanager und die Neuordnung und Stärkung
der Finanzmarktaufsicht. Dass es nicht gelungen ist, global den Schwung zu nutzen und zu sagen: „Wir müssen
auch die Akteure der Finanzmärkte einheitlich und global besteuern“ als Lehre aus der Finanzmarktkrise,
gehört zu dem, was ich als negativ sehe.
({23})
Deshalb werde ich auch weiter darauf drängen, dass
die Agenda zur Regulierung der Finanzmärkte nicht aus
den Augen verloren wird. Wir haben noch wichtige Aufgaben, zum Beispiel bei der Beaufsichtigung und Regulierung der Schattenbanken, zu erledigen. Wir müssen
sicherstellen, dass überall auch die Hedgefonds erfasst
werden. In Europa haben wir sie einer Aufsicht unterworfen, aber nicht weltweit. Auch die konsequente Umsetzung der Konkretisierung der G-20-Beschlüsse zur
Regulierung der systemisch wichtigen Finanzinstitute,
der sogenannten SIFIs, ist unerlässlich.
Meine Damen und Herren, es ist gut und es ist wichtig, dass wir uns in der G 20 zu allen Fragen austauschen, die unsere Welt bewegen. Wir haben in diesem
Gremium entschieden, gemeinsam Verantwortung zu
übernehmen. Nur mit einem solchen kooperativen Ansatz wird es gelingen, Lösungen für die vielen Herausforderungen unserer Zeit zu finden: von der Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit und dem Schuldenabbau über die
Strategien zum Schutz der Umwelt und des Klimas bis
hin zur Bekämpfung des Hungers und der Armut.
Wir sind eine Welt. Los Cabos wird das in diesen
Tagen einmal mehr unter Beweis stellen. Ich füge hinzu:
Los Cabos wird es unter Beweis stellen müssen, wenn
wir den Menschen weltweit dienen wollen. Deutschland
nimmt seinen Teil dieser gemeinsamen Verantwortung
wahr.
Herzlichen Dank.
({24})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
zwei Sitzungswochen haben wir eine Regierungserklärung zum G-8-Gipfel gehört. Heute gibt es eine zum
G-20-Gipfel. Beide Regierungserklärungen wurden mitten in der tiefsten europäischen Krise gehalten: Rezession in weiten Teilen Europas, Einbrüche im globalen
Wachstum. Vielleicht hat vor zwei Wochen der eine oder
andere im Hause gedacht: Das alles hat mit uns nichts zu
tun. - Das war ein großer Irrtum. Wenn ich das sage, ist
es kein Schlechtreden der gegenwärtigen Lage, aber wir
müssen auf die eigenen Wachstumszahlen dieses Jahres
und insbesondere des vierten Quartals im letzten Jahr
schauen.
Meine Damen und Herren, die Krise kommt bei uns
an. Sie bedroht uns. Die Menschen haben Angst, sogar
Wut, weil zum x-ten Mal Milliarden in die Hand genommen werden, um Banken zu retten. Sie haben Zweifel,
ob die höchsten Erwartungen, die sie an die Politik
haben, erfüllt werden. Ich frage Sie, Frau Merkel: Welche Bedrohungen und welche Ängste der Menschen
spiegeln sich in Ihrer Regierungserklärung wider? Ich
werfe Ihnen nicht vor, dass Sie nicht von vornherein mit
allen G-20-Partnern einer Meinung sind. Aber wo sind
die deutschen Vorschläge, wo sind die deutschen Initiativen, wo ist die deutsche Vorreiterrolle bei der Regulierung von Finanzmärkten?
({0})
Ich sage Ihnen: Wer soll die Verantwortung für mutige
Wege nach vorn übernehmen, wenn nicht ein Land mit
über 80 Millionen Einwohnern und der stärksten Volkswirtschaft in Europa? Sie legen sich in die Furche und
warten ab. Das ist nicht genug. Genau das werfen wir
Ihnen vor, Frau Merkel.
({1})
Ginge es allein um Wachstumsraten und Arbeitsplätze, wäre das in der Tat dramatisch genug. Aber die
Menschen - das sage ich Ihnen - verzweifeln an der
schieren Ungerechtigkeit. Machtlos haben sie mit ansehen müssen, wie Verantwortungslosigkeit und grenzenlose Bereicherung eine Finanzwelt zum Einsturz gebracht haben. Millionen von Träumen, zum Beispiel
vom eigenen Haus und von der Altersversorgung, sind
dabei untergegangen. Die Menschen haben mit Empörung gesehen, dass für die Milliardenkatastrophen, die
angerichtet worden sind, nicht die dafür Verantwortlichen, sondern die Steuerzahler in Anspruch genommen
worden sind. Ein Jahr nachdem Staaten mit Milliardenhilfen die Wirtschaft vor dem Zusammenbruch bewahrt
haben, gibt es plötzlich keinen Schuldigen mehr. Jetzt
sollen wir alle über unsere Verhältnisse gelebt haben.
Die Krise ist plötzlich eine Staatsschuldenkrise, obwohl
alle wissen könnten, dass gerade die Staatsschulden
unmittelbar vor der Pleite von Lehman Brothers in fast
allen europäischen Staaten historisch niedrig waren. Wer
heute unterschiedslos von Staatsschuldenkrise redet, der
verhilft den Akteuren auf den Finanzenmärkten zur
Flucht aus der Verantwortung.
({2})
Noch schlimmer für unser Land und die Situation in
Europa ist: Wer angesichts einer so unzureichenden und
deshalb notwendigerweise falschen Diagnose handelt,
kann nur zu einer falschen Therapie kommen. Deshalb,
Frau Merkel, greifen Ihre Erklärungen hier im Deutschen Bundestag zu kurz.
({3})
Was die Menschen jenseits von Empörung schlicht und
einfach zur Verzweiflung treibt, ist, dass das Desaster in
der Finanzwelt alles verändert hat: zum Beispiel die
Hoffnung, dass die Reformrendite bei uns ankommt und
sie endlich dazu führt, dass nach Jahren des Verzichts
wieder etwas zu verteilen ist, und anderswo - vielleicht
nicht in Deutschland - die Hoffnung auf Arbeit und Ausbildung.
Für alle in Europa steht in dieser Krise wieder fast
alles auf dem Spiel, nur auf den Finanzmärkten geht es
weiter wie gehabt. Da wird nicht nur wieder kräftig verdient, sondern so, als sei nichts geschehen, spielen diejenigen, die über Jahre hinweg Geldschöpfung mit immer
windigeren Produkten und völlig verantwortungslosen
Bewertungen betrieben haben, jetzt Schicksal für die
Volkswirtschaften, und zwar ausgerechnet mit denen, die
das Schlimmste zu verhindern versuchen.
Wenn wir das alles so weiterlaufen lassen, dann reden
wir sehr bald nicht mehr über verloren gegangenes Vertrauen der Märkte, sondern dann werden wir über das
verloren gegangene Vertrauen der Menschen in die
Demokratie reden müssen. Die Zweifel sind doch schon
jetzt übergroß, ob die Politik gegen die globalen Finanzmärkte etwas ausrichten kann. Wie soll das erst werden,
wenn wir den Menschen vermitteln, dass wir nicht einmal mehr den Ehrgeiz, den Anspruch dazu haben?
Frau Merkel, ich unterstelle nichts. Ich zitiere nur
einen Satz aus dem aktuellen Pressebriefing der Bundesregierung zum G-20-Gipfel. Dort heißt es ganz lapidar:
Bei der Finanzmarktregulierung sind keine neuen Initiativen zu erwarten. - Frau Bundeskanzlerin, vor knapp
drei Jahren beim Gipfel in Pittsburgh, als alle noch unter
dem Schock der Lehman-Brothers-Pleite standen, haben
sich die G-20-Staaten ein sehr ambitioniertes Versprechen gegeben. Das haben Sie alle hier in guter Erinnerung: kein Markt, kein Akteur, kein Produkt auf den
internationalen Finanzmärkten ohne Regulierung und
ohne Aufsicht. Verkehrsregeln sollten dort geschaffen
werden, wo sie nicht bestehen oder wo sie in der Vergangenheit beiseitegeräumt worden sind. Das war damals in
Pittsburgh nicht nur ein hoher Anspruch, sondern das
war das, was die Menschen von der Politik erwartet hatten und was Sie den Menschen in Deutschland - als
Lehre aus der Krise - versprochen haben.
Und jetzt, meine Damen und Herren, heißt es: Es sind
keine neuen Initiativen zu erwarten. - Ich hoffe inständig, dass das nicht wahr ist. Deutschland war einmal
Taktgeber auf der Ebene der G 20. Wir können und wir
dürfen diesen Teil der Krisenaufarbeitung nicht einfach
links liegen lassen. Es gibt dort noch riesige Baustellen.
Wir brauchen mehr Transparenz und Stabilität auf den
Finanzmärkten. Wir haben noch weitgehend unregulierte
Bereiche wie den Schattenbankensektor. Wir haben die
Gefahr nicht gebannt, dass die Pleite einzelner Institute
zur Krise der gesamten Weltwirtschaft führt. Noch
immer gibt es jede Menge hochspekulativer Finanzinstrumente, die keinen vernünftigen Zweck erfüllen und
allenfalls als Brandbeschleuniger in der jetzigen Krise
wirken.
Frau Merkel, es mag sein, dass in Ihrem Pressebriefing durchaus zu Recht formuliert ist, dass Initiativen
von anderen nicht zu erwarten sind. Aber genau das
muss doch hier im Deutschen Bundestag unser Thema
sein. Weil solche Initiativen von anderen nicht zu erwarten sind, müssen wir da ran. Nicht andere, sondern wir in
Deutschland sind in der Verantwortung. Genau das
erwarten wir von Ihnen.
({4})
Nicht nur wir haben etwas anderes erwartet, zum Beispiel von dieser Regierungserklärung, sondern auch diejenigen, die uns beim Kampf gegen die Zügellosigkeit
auf den Märkten unterstützen und die wir an unserer
Seite wissen, haben etwas anderes erwartet von einer
Kanzlerin, die noch vor zwei Jahren nichts dagegen
hatte, sich überall in der Welt als Klimakanzlerin zu präsentieren. Aber die medialen Meriten in diesem Bereich
sind zurzeit - das wissen wir alle - eher rückläufig. Wir
haben verstanden: Nach Rio fahren Sie nicht.
Aber das ist nicht das Einzige, was auffällt: Das Klima
spielt auch beim G-20-Gipfel eine Rolle; Green Growth
ist das Stichwort dort, Sie haben es eben selbst erwähnt.
Wir waren auch deshalb auf diese Regierungserklärung
gespannt, weil wir wissen wollten, wie die deutschen
Vorschläge zu diesem Thema aussehen. Wir haben
gehört: Sie „begrüßen“ die Überlegungen der G-20-Partner. Aber was heißt das? Auch hier: Passivität statt Ehrgeiz. Wir Deutsche hätten zu diesem Thema doch wirklich etwas zu sagen gehabt. Wo können Investitionen zu
mehr Energieeffizienz führen, wenn Energie in den kommenden Jahren stetig teurer und knapper wird? Von wem
erwarten wir denn solche Vorschläge dazu? Etwa von
den Amerikanern, die sich gerade mit billigem Shell-Gas
von dieser Debatte abkoppeln? Oder von Brasilien,
Russland oder Mexiko - den Förderländern, die ein Interesse an der Knappheit und an den hohen Preisen haben?
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Bundeskanzler, hier sind wir gefragt und niemand anders; hier
müssen unsere Vorschläge kommen.
({5})
Ich vermute, am Ende mangelt es gar nicht an Vorschlägen aus Ihren Fachministerien. Ich glaube, Sie
selbst hadern mit solchen Überlegungen zur Wachstumspolitik. Sie haben sich in einer Vorstellung von der Gesundschrumpfung der Wirtschaft so eingegraben, dass
Ihnen die Umkehr im Augenblick besonders schwer
fällt. Ich weiß, Sie bestreiten das, und Sie sagen, dass
wir seit zwei Jahren in Europa, auch auf den europäischen Räten, über Wachstum reden. Es wundert mich
nicht, dass dort darüber geredet wird. Aber genau in diesen zwei Jahren sind wir hier im Deutschen Bundestag
nicht vorangekommen. Ich darf doch daran erinnern,
dass die Versuche von Opposition und Regierung, gemeinsame Entschließungsanträge zu formulieren, genau
an diesen Unterschieden gescheitert sind.
({6})
In der Vergangenheit habe ich versucht, das zu verstehen: Es hat Ihnen sogar in den Kram gepasst, die Opposition als diejenigen darzustellen, die als Verletze eines
rigorosen Sparkurses in der Öffentlichkeit zu brandmarken sind. Aber das, Frau Merkel, ist Ihnen weder gelungen, noch hatten Sie recht. Dass die Merkel-SarkozyArznei nicht wirkt, sagen Ihnen inzwischen auch die
Experten, die Sie lange auf Ihrer Seite hatten.
Um das in aller Deutlichkeit zu sagen: Wenn eine
Lehre aus der Krise ist, dass wir uns langfristig unabhängiger von den Finanzmärkten machen müssen, dass wir
die Neuverschuldung zurückfahren müssen, dann ist
Konsolidierung in der Tat Pflicht. Ich habe es hier beim
letzten Mal gesagt: Wir streiten nicht über die Notwendigkeit von Konsolidierung; aber wir streiten sehr wohl
und sehr grundsätzlich darüber, wie Konsolidierung zu
erreichen ist. Da bleibt mein Credo, was ich seit zwei
Jahren von dieser Stelle aus vertrete: Haushaltsdisziplin
und Ausgabenkontrolle sind unverzichtbar. Aber genauso wahr ist: Wenn das die ganze Antwort auf die
europäische Krise ist, wenn 27 europäische Staaten
gleichzeitig nichts anderes tun, als ihre Haushalte zusammenzustreichen, dann ist das eben kein Weg aus der
Krise, sondern der direkte Weg in die Rezession; das ist
der falsche Weg.
({7})
Sparen, Haushaltsdisziplin: Das ist eine ganz wichtige
Säule eines richtigen Ansatzes, um aus der Krise zu
kommen; aber es ist eben nur eine Säule. Strukturreformen gehören dazu, aber eben auch Maßnahmen und
Instrumente zum Erhalt von Wachstum. Das ist kein
Teufelswerk. Vielmehr können wir - das empfehle ich Anleihe bei unseren eigenen Erfahrungen nehmen:
Zweimal im vergangenen Jahrzehnt haben wir eine tiefe
Krise durchschreiten müssen; wir haben das erfolgreich
getan, weil wir einen klugen Mix aus Einsparen, Strukturreformen, aber auch Maßnahmen zum Erhalt des
Wachstums gefunden haben. Das haben wir nicht zufällig getan, sondern deshalb, weil wir die Erfahrung
hatten, dass das, was in der Krise an Arbeitsplätzen und
industriellen Kapazitäten wegbricht, nach der Krise eben
nicht automatisch wiederkommt. Die zweite Erfahrung
ist: Wir haben über Jahre versucht, erfolglos gegen eine
Krise anzusparen. Ohne Wachstum steigen die Schulden,
und ohne Wachstum gelingt der Weg aus der Krise nicht.
({8})
Ich unterschreibe alle Alltagssätze, die in solchen Fällen gesagt werden. Dass jeder Staat innerhalb des gemeinsamen Währungsraums seine Aufgaben zu erfüllen
hat: ja, natürlich. Ich unterschreibe den Satz, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist; auch das stimmt. Aber
zur ganzen Erfahrung gehört doch, meine Damen und
Herren: Immer neue Rettungsschirme helfen nicht, wenn
wir das Wachstum in Europa komplett abwürgen. Diese
Politik ist jedenfalls gescheitert; wir stehen gerade vor
deren Ruinen.
({9})
Nun sind wir vielleicht auf dem Weg, in den Verhandlungen, die wir gerade führen, zu Annäherungen zu
kommen. Wir haben uns gestern auf die Besteuerung der
Finanzmärkte geeinigt. Damit nehmen wir eine Hürde
- ich betone: eine wichtige Hürde -, die einer Ratifizierungsentscheidung jedenfalls für uns im Wege stand.
Wir wissen auch - Frau Merkel, Sie haben das angedeutet -: Noch nicht alle Hürden sind überwunden. Lassen
Sie uns deshalb mit einigem Ehrgeiz und auch mit einigem Anspruch in den nächsten Tagen an dem Thema
Wachstumsinstrumente arbeiten.
Das sage ich deshalb, weil wir wissen und ahnen können, dass unsere Gespräche in den nächsten Tagen wieder unmittelbar überlagert werden durch Nachrichten
aus Griechenland und vielleicht aus Spanien, die sich auf
die Titelseiten drängen. Gerade dann, wenn andere
Themen unsere Verhandlungen überlagern, könnte ein
kluges Signal aus Deutschland zeigen, dass Konsolidierung und Wachstum nicht getrennt zu sehen sind, dass
wir sie nicht als Gegensatz behandeln dürfen, sondern
dass sie zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.
Das könnte ein gelungener Beitrag zur europäischen
Krisenstrategie sein. Wir sind jedenfalls bereit, daran
mitzuwirken.
({10})
Ein Letztes. Wenn die Krise so dramatisch ist, wie wir
sie in unseren öffentlichen Reden, auch hier im Deutschen Bundestag, beschreiben, dann ist meine Bitte:
Hören Sie auf mit der Strategie der roten Linien! Diese
Strategie hat uns nach meiner Überzeugung in den letzten zwei Jahren viel Glaubwürdigkeit geraubt. Es gibt
keine rote Linie, die Sie - das zeigen die Geschehnisse
der zurückliegenden zwei Jahre - nicht innerhalb von
sechs Monaten überschritten und scheinbar eherne
Grundsätze dabei über Bord geworfen hätten.
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig.
Wir müssen uns nicht heute über das weitere Vorgehen einigen, aber klar ist: Die europäische Krisenstrategie wird auf zwei Säulen ruhen müssen, nämlich
kurzfristige Krisenintervention und langfristiger Wiederaufbau des Vertrauens. Dazu wird ein Vorschlag gehören, mit dem wir zeigen, wie wir mit den Altschulden
umgehen müssen. Deshalb ist der europäische Schuldentilgungsfonds ein Thema, das wir auf der Tagesordnung
halten müssen,
({0})
auch wenn wir kurzfristig nicht zu gemeinsamen Vereinbarungen kommen wollen. Wir werden darüber sprechen
müssen, in Europa, im Europäischen Parlament, auch
hier im Deutschen Bundestag. Auch ich habe vor zwei
Jahren nicht geahnt, über was wir alles in diesem Parlament mit Blick auf die europäische Krise nachdenken
und entscheiden müssen. Ich weiß nur: Wir sind noch
lange nicht am Ende, und Sie werden dieses Parlament
in seiner Gesamtheit noch mehr brauchen, als Sie heute
ahnen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der G-20Gipfel wird viele Themen auf der Tagesordnung haben.
Die wichtigsten werden die Währungsfragen sein. Währungsfragen sind immer auch Machtfragen. China
schließt fast im Monatsrhythmus neue Währungsabkommen ab, vor allem mit den anderen BRICS-Staaten und
mit Japan, dem Konkurrenten in Asien. Das Ziel ist klar:
mehr Unabhängigkeit vom Dollar. China stellt den Leitwährungsstatus der Amerikaner schon seit langem infrage. Russland favorisiert eine Kunstwährung über den
IWF.
Europa ist einen anderen Weg gegangen. Wir haben
den Dollarstatus mit unserer Gemeinschaftswährung
infrage gestellt. Europa spürt jetzt den rauen Wind der
internationalen Finanzmärkte.
({0})
- Ach, Herr Trittin. - Wir müssen nun unsere hausgemachten Probleme lösen; denn sie waren Ursache der
Schwierigkeiten, in denen wir uns befinden: hohe Staatsverschuldung und fehlende Strukturreformen in einer
Reihe von Mitgliedstaaten.
Aber es gibt auch interessierte Kräfte von außerhalb,
etwa Ratingagenturen, die manchmal einen sehr patriotischen Knick in ihrer Optik haben. Die Angelsachsen
diesseits und jenseits des Atlantiks raten uns: Macht mehr
Schulden und lockert die Geldpolitik, das rettet eure
Währung! Die angelsächsische Finanzlobby und ihre
Verbündeten bei den Linken in Europa und in Deutschland - das ist eine unheilige Allianz der Inflation.
({1})
Banklizenz für Rettungsschirme und Euro-Bonds sind
die Vermögensvernichtungswaffen dieser Inflationsallianz aus Wall Street und europäischen Sozialisten.
({2})
Wir machen das anders. Die christlich-liberale Koalition mit Bundeskanzlerin Frau Merkel an der Spitze
steht für Stabilität.
({3})
Die christlich-liberale Koalition steht für gutes Geld. Sie
steht für Wachstum und Beschäftigung. Deutschland ist
so gut wie kein anderes Land der westlichen Welt durch
die Krise gekommen. Das hat Gründe.
({4})
Wir sind den Stabilitätsweg gegangen. Wären wir den
Ratschlägen der weniger Erfolgreichen gefolgt, würde
die Inflation schon galoppieren.
Seit Samstag ist klar: Spanien wird wegen seiner Bankenkrise unter den Rettungsschirm gehen. Anders als
Griechenland hat Spanien seine sonstigen Strukturprobleme ernsthaft angepackt. Deshalb ist es derzeit sinnvoll, von einer umfassenden Troika-Mission abzusehen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich unserem
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble danken. Er
hat durchgesetzt, dass die spanischen Banken keine
Direktzahlung erhalten, sondern das Land unter den
Schirm muss. Das hat er mit viel Geschick gemacht.
({5})
Europa wird harte Auflagen machen, was die Restrukturierung der Institute angeht.
Die Euro-Zone ist noch nicht über den Berg. Vom
kleinen Zypern und vom großen Italien kommen in dieser Woche sehr gemischte Signale. Deshalb ist es so
wichtig, dass wir zügig den ESM und den Fiskalpakt auf
den Weg bringen. Die Welt wartet auf ein starkes Signal
von Europa. Wir wollen nicht, dass es mit der Unsicherheit so weitergeht. Deutschland muss eine Führungsrolle
übernehmen. Die Zeiten des Kalten Krieges und des
Sonderstatus von Deutschland sind vorbei.
({6})
Russland übernimmt nächstes Jahr die G-20-Präsidentschaft. Es will besonders eng mit Deutschland zusammenarbeiten und eine Strukturreform auf den Weg
bringen. Uns wird die Führungsrolle in Europa zugetraut. Wir müssen sie annehmen.
Wir stehen als christlich-liberale Koalition für eine
Politik von Maß und Mitte. Maß und Mitte haben andere
verloren. Ich fand das, was der frühere Außenminister
von den Grünen letzte Woche zur Schuldenkrise erklärt
hat, wirklich unsäglich. Er ruft: Es brennt! Es brennt! Das ist an Schäbigkeit und Selbstgefälligkeit nicht zu
überbieten.
({7})
Joschka Fischer hat die währungspolitischen Brandsätze
selbst gelegt. Der 5-Millionen-Arbeitslose-JoschkaFischer,
({8}): Oh!)
der Nullwachstum-Joschka-Fischer, der Stabilitätsvertragsbrecher Joschka Fischer erzählt uns großzügig, wie
die Welt funktioniert. Er hat die damalige Aufnahme von
Griechenland in die Euro-Zone zu verantworten, obwohl
Griechenland die Voraussetzungen nicht erfüllt hatte.
Wir löschen jetzt das Feuer, das die Wachstumsfeinde
von den Grünen gelegt haben.
({9})
Das Schlimme ist: Die Kassandra aus dem Grunewald
gibt bei den Grünen immer noch die Richtlinien vor.
({10})
Er fordert schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme.
Herr Trittin widerspricht nicht. Herr Trittin kuscht.
Dafür war Herr Kollege Trittin kürzlich auf einer Konferenz der Hochfinanz. Ihren Parteifreunden haben Sie das
verschwiegen. Sie haben offenbar Angst vor der Kritik
aus dem eigenen Verein. Links unten anfangen und
rechts oben ankommen - das ist das Motto von Herrn
Trittin.
({11})
Es ist offenbar ein langer Weg vom Kommunistischen
Bund Westdeutschland zur Bilderberg-Konferenz der
Hochfinanz.
({12})
Ihre neuen Freunde von der Hochfinanz haben mir etwas ins Ohr geflüstert: Herr Trittin fordert jetzt die Bankenunion für Europa. Die Einlagensicherung soll nach
seinem Willen europäisiert werden. Herr Trittin will,
dass die deutsche Oma mit ihrem Sparbuch für ausländische Investmentbanker haftet. Das ist Ihre Politik.
({13})
Das ist grüne Politik der sozialen Kälte, nicht mehr,
aber auch nicht weniger. Das steht in einer Linie mit
Ihrer armutsfördernden Energiepolitik. 5 Mark für einen
Liter Benzin, Dauersubventionen in Milliardenhöhe für
Solardächer, die in China produziert werden, Dosenpfand, Handypfand, Plastiktütenverbot - Sie sind die
Partei der Bioschickeria in Deutschland.
({14})
Bisher zeigen Sie auch einen wenig verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema Fiskalpakt. Herr Trittin
will vielleicht noch mitmachen, aber Ihre linksgrüne
Basis sieht das wohl anders. Für die Grünen kommt der
Strom aus der Steckdose und das Geld aus dem Automaten.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lassen
Sie sich von dieser grünlackierten Schickimicki-Partei
nicht in Geiselhaft nehmen.
({16})
Wir haben Verantwortung für Deutschland und für
Europa. Ich bin dem Kollegen Müntefering sehr dankbar; denn er hat zur rechten Zeit die Augenbrauen mahnend hochgezogen. Herr Gabriel hatte etwa ein Jahr lang
für die Euro-Bonds die Trommel gerührt. Ich habe eine
Liste mit vielen Zitaten von Herrn Gabriel dabei, in denen er sich mit Vehemenz für die Einführung von EuroBonds ausspricht. Seit neuestem findet er die Idee skurril, weil es dabei um eine Vergemeinschaftung der
Schulden geht. Herzlichen Glückwunsch zu dieser
Erkenntnis!
({17})
„Erst grübeln, dann dübeln“, hätte ich früher gesagt.
Jetzt sage ich im Gabriel-Format: Erst Münte fragen,
dann twittern.
({18})
Der Weg in den Zinssozialismus ist nun also zu. Wir
sollten jetzt auch nicht den Weg in den Schuldensozialismus gehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD
den Facharbeitern bei Volkswagen und bei Daimler
erklären will, dass sie mit ihren Steuern die Altschulden
von Italien, Spanien und Griechenland tilgen sollen. Das
wäre nämlich der Weg in den Schuldensozialismus.
({19})
Aber ich habe wahrgenommen, dass die Leidenschaft für
diese Schuldenvergemeinschaftungsstrategie bei den
Sozialdemokraten nicht sehr ausgeprägt ist. Ihnen geht
es jetzt um die Beteiligung der Hochfinanz an den Krisenkosten. Das wollen auch wir.
({20})
Wir sind uns einig: Die Riester-Vorsorge, die Kleinanleger und die Finanzierungsbedingungen für den Mittelstand dürfen nicht negativ betroffen sein. Verlagerungswirkungen wollen wir ausschließen.
({21})
Sie als Opposition wollen das Wünschbare, wir als
Regierungskoalition bieten Ihnen das Machbare. Machen
Sie mit, und verknoten Sie sich nicht in kleinlicher Parteipolitik. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung
für Deutschland und für Europa. Es ist wahr, was Herr
Steinmeier sagt: Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, leidet auch die Demokratie. - Deshalb: Schluss mit
den Illusionen, wir könnten durch Zinssozialismus und
Schuldensozialismus die Probleme Europas lösen! Hier
ist jetzt die Stunde der Wahrheit. Zwei plus zwei bleibt
vier, auch für Sozialisten.
({22})
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muss
Ihnen sagen, Herr Brüderle: Ihr Internationalismus ist
wirklich unter Stammtischniveau. Das, was Sie hier
geboten haben, geht einfach nicht.
({0})
Ich sage Ihnen auch: Ich verstehe Ihren Versuch, die
FDP zu retten, aber Sie retten die FDP nicht mit Pöbeleien gegen die Grünen. Das ist so nicht zu erreichen.
Machen Sie eine eigenständige Politik!
({1})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Anfang Ihrer
Rede über Armut und über Hunger auf der Erde gesprochen. Sie haben auch wichtige ökologische Projekte
genannt, über die auf dem G-20-Gipfel gesprochen werden soll. Das alles sind wichtige Themen. Ich würde
gerne zu all diesen Themen etwas sagen. Aber ich habe
nur elf Minuten Redezeit. Deshalb konzentriere ich mich
auf das, was Sie zur Krise, zur Finanzkrise, zur EuroKrise und zum diesbezüglichen Verhalten der Bundesregierung gesagt haben.
Sie haben den schönen Satz gesagt - er ist wirklich
einmalig -, Sie machen keine Politik für die Märkte. Ich
bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin: Die Finanzmärkte ziehen Sie und Ihre gesamte Regierung am Nasenring durch
Europa. Das ist die Wahrheit. Sie machen exakt das, was
die wollen.
({2})
Aus Italien hören wir Horrormeldungen. Es gibt die
Bankenkrise in Spanien. Sie fürchten die Wahlen in
Griechenland. Was kommt denn dabei heraus? Wie auch
immer die Wahlen in Griechenland ausgehen: Die Linken werden dort gestärkt. Was haben wir in Frankreich
erlebt? Dass Präsident Sarkozy, der Ihre Politik betrieb,
abgewählt und Präsident Hollande gewählt wurde. Merken Sie denn nicht, was passiert, Frau Bundeskanzlerin?
Ihre Europapolitik wird in Europa abgewählt. Sie nehmen das aber nicht zur Kenntnis.
({3})
Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerungen, und Sie
korrigieren sich auch nicht, obwohl es dafür höchste Zeit
wäre. Ich sage Ihnen: Diese Art der Ignoranz halte ich
für nicht hinnehmbar.
Kommen wir zur Bankenkrise in Spanien. Der Ministerpräsident von Spanien hat zunächst gesagt, er wolle
auf gar keinen Fall Geld vom Rettungsschirm. Warum
hat er das gesagt? Weil er die Troika fürchtet und weiß:
In dem Moment, in dem der Internationale Währungsfonds, die Europäische Zentralbank und die EU-Kommission bei ihm das Sagen bekommen, schränkt dies die
Souveränität Spaniens unheimlich ein. Aber er hat dies
nicht durchgehalten und musste sich dann doch an den
Rettungsschirm wenden. Gerade erst hörten wir, dass
auch Herr Monti, der Ministerpräsident von Italien,
sagte, er werde sich nicht an den Rettungsschirm wenden. Ich sage Ihnen: Auch er wird umfallen, und wir
werden dasselbe erleben.
Immerhin macht die Bankenkrise in Spanien eines
deutlich: dass der von Ihnen verwendete Begriff „Schuldenkrise“ falsch ist. „Schuldenkrise“ heißt nämlich, dass
die Staaten zu viel Geld ausgeben. Durch die Verwendung dieses Begriffs wollen Sie erreichen, dass die
Leute in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal und
auch in Deutschland sagen: Ja, wahrscheinlich haben wir
zu hohe Löhne. Wahrscheinlich haben wir zu hohe Renten. Wahrscheinlich haben wir in den verschiedenen
Bereichen zu hohe Ausgaben.
({4})
- Sie sagen ja sogar, dass es so ist. - Genau das ist aber
falsch. Denn was zeigt die Bankenkrise in Spanien? Die
Banken und Hedgefonds sorgen dafür, dass die Staatsschulden der Länder immer weiter steigen.
({5})
Deshalb muss man diese Krise „Finanzkrise“ nennen
und darf nicht von einer „Schuldenkrise“ sprechen. Alles
andere ist eine Vernebelung.
Diese Krise beweist noch etwas. Sie beweist ganz
klar: Nicht zu hohe Renten, zu hohe Löhne, zu hohe
Sozialleistungen oder zu hohe Investitionen in anderen
Ländern sind die Ursachen der hohen Schulden, sondern
das vollständige Versagen der Banken und Hedgefonds.
({6})
Jetzt passiert Folgendes: Spanien werden aus dem
Rettungsschirm etwa 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Spanien gibt dieses Geld dann den Banken, damit sie wieder liquide sind und wirtschaften können.
An dieser Stelle möchte ich jedoch auf zwei Aspekte
hinweisen:
Erstens. Wenn diese 100 Milliarden Euro nicht zurückgezahlt werden, dann haften - Herr Schäuble, da
müssen Sie mir zustimmen - auch die deutschen SteuerDr. Gregor Gysi
zahlerinnen und Steuerzahler, und zwar für 27 Prozent
dieses Geldes.
({7})
Sie nehmen die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler also in Haftung. - Das ist das eine.
Zweitens. Die spanischen Banken bekommen diese
100 Milliarden Euro, weil sie nicht mehr liquide sind.
Erklären Sie doch einmal dem Inhaber einer kleinen
GmbH in Deutschland, an wen er sich wenden soll,
wenn er nicht mehr liquide ist. Er hat keine Chance. Die
Banken und Hedgefonds hingegen bekommen so viel
Geld, wie sie brauchen. Die Großaktionäre haben es
besonders bequem; denn für Schulden haften sie nicht.
Das übernehmen ja immer die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler. Wenn die Unternehmen aber Gewinn
machen, dann verteilen die Großaktionäre diesen unter
sich. Deshalb sage ich: Wenn 100 Milliarden Euro an die
privaten Banken fließen, dann müssen sie vergesellschaftet werden, damit die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht nur haften, sondern endlich auch am
Gewinn beteiligt werden.
({8})
Im Übrigen: Die Linken in Griechenland haben doch
recht. Sie wollen das Spardiktat beenden. Es wird dafür
auch höchste Zeit. Schauen Sie sich doch einmal an, wie
die Situation der Rentnerinnen und Rentner und der
Facharbeiterinnen und Facharbeiter in Griechenland ist.
Das geht so nicht! Ich frage Sie: Was wollen Sie dagegen
unternehmen?
Die Aussage, die Sie in diesem Zusammenhang
immer wieder verbreitet haben, stimmt nicht. Sie sagen,
Tsipras wolle die Schulden nicht zurückzahlen. Das ist
völlig falsch. Er will nur einen anderen Weg gehen. Er
will Steuergerechtigkeit herstellen. Er will die Steuerhinterziehung bekämpfen. Dafür ist es wirklich höchste
Zeit, übrigens nicht nur in Griechenland - dort allerdings
in besonderem Maße -, sondern auch in Deutschland.
({9})
Er will investieren. Wenn er investiert, dann hat er
höhere Steuereinnahmen, und wenn er höhere Steuereinnahmen hat, dann kann er auch die Schulden zurückzahlen. So wie Sie es den Griechen vorgeben, indem Sie sagen: „Löhne runter, Renten runter, Sozialleistungen
runter, immer weniger investieren“, geht es nicht. Wo
sollen denn dann die Steuern herkommen? Sie ruinieren
das Land. Das ist der völlig falsche Weg, wenn wir den
Euro retten wollen.
({10})
Interessant ist auch, dass Sie sagen, mit den Linken
dort wollen Sie gar nicht verhandeln. Zum Glück hat die
EU-Kommission gesagt, sie wolle doch mit denen verhandeln. Sie ist einen Schritt weiter als unsere Bundeskanzlerin.
({11})
- Na ja, mit mir schon.
({12})
Das liegt aber nur daran, dass Sie dazu gezwungen sind.
Sonst würden Sie das ja nicht machen, Herr Kauder. Den
anderen, Herrn Tsipras, wollten Sie ja nicht empfangen.
Abgesehen davon könnten wir Griechenland doch
folgenden Vorschlag machen: Die Rüstungsausgaben,
die bei den Griechen über 2 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung und bei uns nur über 1 Prozent der Wirtschaftsleistung betragen, in einem ersten Schritt halbieren!
Dann müssten allerdings auch die Kieler Werke auf ihre
Einnahmen aus dem Verkauf von U-Booten, die sie nach
Griechenland liefern wollen, verzichten. Das ist auch
vertretbar, meine ich.
({13})
Es gibt noch etwas, was mich in ganz Europa - in
Griechenland genauso wie in Deutschland - ärgert. Deshalb schlage ich Ihnen hier einmal US-Recht vor. Das ist
doch auch selten! Dieses US-Recht galt sogar unter
Bush, der wirklich vieles, aber kein Linker war.
Welche Situation haben wir? Die Reichen in Europa
entziehen sich all ihrer Steuerpflichten. In Griechenland
gibt es zum Beispiel 2 000 reiche Familien, denen
80 Prozent des Vermögens gehören. Aber sie bezahlen
natürlich keine Steuern, weil sie das Vermögen nach
außen verlagert, ihren Wohnsitz woanders haben usw.
Wir kennen das aus Deutschland. Die reichen Deutschen
haben ihren Wohnsitz in Österreich, in der Schweiz, in
Liechtenstein, in Monaco oder auf den Seychellen etc.,
nur um hier keine Steuern zu bezahlen.
({14})
Ich sage Ihnen: Hier müssen wir US-Recht einführen.
Wir müssen die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft
binden. Das brauchen wir in ganz Europa.
({15})
Das heißt Folgendes: Sie können hinziehen, wohin sie
wollen. Aber sie müssen ihren Einkommensteuerbescheid und, wenn es die Vermögensteuer endlich wieder
gibt, ihren Vermögensteuerbescheid an ein einziges in
Deutschland zuständiges Finanzamt schicken. Die griechischen Familien müssen dies an ein einziges in Griechenland zuständiges Finanzamt schicken. Dort rechnet
man aus, ob sie in dem jeweiligen Land mehr bezahlen
müssten. Hinsichtlich der Differenz erhalten sie dann
einen Steuerbescheid. So machen das die USA. Dadurch
haben sie beachtliche Einnahmen. Wer diese Bescheide
nicht einreicht, der begeht eine Straftat. Das müssen wir
endlich in ganz Europa und auch hier in Deutschland
durchsetzen.
({16})
Vor kurzem hat Joschka Fischer - das ist von Herrn
Brüderle ja aufgegriffen worden - die gesamte Politik
kritisiert. Er hat zu Recht gesagt: Mit der drastischen
Sparpolitik wird die Euro-Zone gegen die Wand gefah21872
ren. Die Brände werden nicht mit Wasser, sondern mit
Kerosin gelöscht. - Er kritisiert damit die Bundesregierung, aber nicht nur die Bundesregierung, sondern auch
SPD und Grüne. Sie haben bisher jedem Schritt der Bundesregierung zugestimmt. Sie halten hier immer kritische Reden und machen dann bei allem mit. Das ist doch
das Problem, das auch von Joschka Fischer kritisiert
wird.
({17})
Ich sage Ihnen noch etwas: Der Fiskalpakt ist nicht
nur - ich habe das hier schon einmal begründet - grundgesetzwidrig, sondern er zementiert auch Sozialkürzungen, einen Wettbewerb nach unten und Hartz IV für
Europa und zerstört den europäischen Sozialstaat.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie fahren
heute ja zu Hollande.
({18})
- Sie sind schon wieder zurück. Umso besser! - Ich sage
Ihnen nur Folgendes: Die französische Sozialdemokratie
will nachverhandeln. Wenn Sie der Ratifizierung des
Vertrages zustimmen, dann zerstören Sie den Plan des
französischen Präsidenten, nachzuverhandeln.
({19})
Sie haben anfangs von einem Wachstumspakt geredet. Dann ging es nur noch um ein Wachstumspaket,
jetzt geht es nur noch um Wachstumsimpulse. Mein
Gott, lassen Sie sich doch nicht so durch Europa ziehen,
sondern machen Sie diesbezüglich endlich einmal eine
eigenständige Politik!
({20})
Ich komme jetzt noch einmal zu Hollande, weil Sie
mir nicht glauben. Er hat gesagt: Die französischen
Truppen müssen bis Ende 2012 aus Afghanistan abgezogen werden. - So einen Satz habe ich von der deutschen
Sozialdemokratie noch nie gehört.
({21})
Er hat gesagt, er nehme den späteren Renteneintritt zurück, man solle in Frankreich wieder Rente ab 60 Jahre
beziehen.
({22})
Ich darf Ihnen dazu sagen: Die Durchschnittsrente bei
voller Erwerbstätigkeit beträgt in Deutschland 1 100
Euro und in Frankreich 1 700 Euro. Sie haben dafür
gesorgt, dass wir eine so niedrige Rente haben und dass
wir die Rente erst ab 67 beziehen können. Mein Gott, wären Sie doch wenigstens so wie die französische Sozialdemokratie! Dann hätten wir in Deutschland endlich wieder eine Sozialdemokratie.
({23})
Was müssen wir in Europa wirklich machen?
Erstens. Wir brauchen ein Ende der Spardiktate. Die
Spardiktate sind falsch, ungerecht und gescheitert.
Zweitens. Wir brauchen stattdessen ein Programm für
Investitionen und Wachstum; denn nur mit Wachstum
lassen sich die Haushaltsdefizite abbauen. Wir sorgen
auf diese Art und Weise auch für mehr Beschäftigung.
Dadurch haben wir dann mehr Steuereinnahmen. Dadurch können auch die Schulden getilgt werden. Das gilt
für alle Länder, auch für Deutschland.
Der Teufelskreis aus Banken- und Staatsschuldenkrise muss beendet werden. Warum kann denn nicht eine
staatliche europäische Bank bei der EZB Geld aufnehmen und zum gleichen niedrigen Zinssatz direkt an Spanien oder andere Länder weitergeben? Dann hätten wir
endlich ein Ende der Spekulation um den Euro. Warum
müssen wir zwischendurch immer wieder private Banken reichmachen, wie Sie das ständig betreiben?
Ich sage ganz klar: 1 Billion Euro hat die Europäische
Zentralbank den großen privaten Banken in Europa zur
Verfügung gestellt: 1 Billion Euro für drei Jahre für
1 Prozent Zinsen! Was machen die Banken mit dem
Geld? Sie geben es Italien, Spanien und anderen Ländern für 5 Prozent Zinsen. Zwischendurch machen sie
die Großaktionäre reich. Erklären Sie doch einmal dem
Facharbeiter oder dem Bäckermeister in Deutschland,
wieso er letztlich für dieses Geld haftet.
({24})
Ich sage Ihnen: Wir brauchen außerdem Steuergerechtigkeit; das wird höchste Zeit. Wir brauchen eine
Millionärssteuer. Die Zahl der Millionäre nimmt zu.
Diese könnten sich eine solche Steuer leisten. Mit welcher Begründung bleiben die eigentlich verschont? Was
haben denn die Hartz-IV-Empfängerin, der Facharbeiter
oder der Bäckermeister falsch gemacht, sodass es zu dieser Krise gekommen ist? Nichts!
Herr Kollege.
Die Großaktionäre haben etwas falsch gemacht. Sie
haben die falschen Geschäfte gemacht und verdienen
daran. Sie werden nicht zur Kasse gebeten. Das müssen
Sie endlich beenden.
({0})
Ich weiß, Herr Präsident. Ich komme zum letzten
Satz.
Sie wissen, dass ich Ihnen fast immer länger zuhören
könnte, als Ihre Fraktion überhaupt Redezeit hat. Aber in
einem gewissen Umfang bin ich an die Einhaltung unserer Geschäftsordnung gebunden.
({0})
Herr Präsident, ich stimme Ihnen völlig zu. Das zeigt,
dass die Linke schon deswegen ein besseres Wahlergebnis braucht, damit wir hier längere Redezeiten bekommen.
({0})
Aber abgesehen davon, sage ich Ihnen noch eines,
Frau Bundeskanzlerin: Sie wollen jetzt eine politische
Union in Europa. Das kommt sehr spät. Das war schon
bei der Einführung des Euro dringend erforderlich. Aber
was für eine politische Union wollen Sie? Eine der
Spaltung! Wir kämpfen weiter gegen ein Europa der
Knebelung, der zerstörerischen Sparpolitik,
({1})
gegen ein Europa der Banken und für ein friedliches, demokratisches und soziales Europa. Anders wird es nicht
gehen.
({2})
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Gysi, nur eine Anmerkung zu Ihnen: Ich glaube, Sie brauchen nicht mehr Redezeit hier
im Deutschen Bundestag, sondern Sie bräuchten mehr
Redezeit auf den Parteitagen der Linken, um noch einmal deutlich zu machen, worum es bei Ihnen wirklich
geht. Sich hier hinzustellen und zu behaupten, man sei
handlungsfähig, in der eigenen Truppe aber Hass festzustellen, das passt einfach nicht zusammen.
({0})
Aber jetzt zur Sache. Dieses G-20-Treffen findet in
einer außergewöhnlich schwierigen Zeit statt, in der
viele Menschen aufgewühlt sind und sich die Frage stellen: Wie soll es weitergehen, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt? Sie hören dann zwei Strategien,
die grundsätzlich richtig sind und die auch von der SPD
und von Frank Steinmeier als richtig dargestellt worden
sind: auf der einen Seite Konsolidierung, weniger Schulden, also Solidität, und auf der anderen Seite Wachstum,
Solidarität mit denen, die in Schwierigkeiten sind. Dies
ist zunächst unbestritten. Darum wird es jetzt in Mexiko
gehen.
Aber da die Volkswirtschaft keine mathematische
Formel ist, bei der eins plus eins gleich zwei ist, sondern
zu der auch Einschätzungen gehören, zu der es gehört,
Menschen davon zu überzeugen, dass man einen bestimmten Weg gehen muss, versucht eine ganze Reihe
von Politikern wieder einmal, den schweren Teil des Weges, nämlich die Solidität, nicht so ernst zu nehmen und
stattdessen etwas Leichteres vorzuschlagen, nämlich
Wachstumsperspektiven zu formulieren.
Wir haben aber in den Krisensituationen 2008 und
2009 gesehen, wie schwer es ist, eine Krise zu bewältigen, Solidität herzustellen und Wachstumsimpulse zu
geben. Natürlich haben wir in der Krise 2008, 2009 und
2010 auch Wachstumsimpulse gegeben. Aber wir haben
dafür auch einen Preis bezahlen müssen.
Der letzte Haushalt in dieser Krisensituation wies bei
der Neuverschuldung einen Ansatz von über 80 Milliarden Euro aus. Danach war eine wirklich sparende Politik notwendig. Wenn wir auf dem Weg weitergemacht
hätten, von dem Sie, Herr Steinmeier, jetzt sprechen
- immer weiter neue Schulden, um das Wachstum zu
fördern -,
({1})
dann müssten Sie mehr Zinsen zahlen, als Sie Einnahmen an Steuern haben. Das kann nicht funktionieren.
({2})
Das ist an Ihrem Weg grottenfalsch.
Deswegen müssen wir sagen: Ja, zwei Dinge gehören
zusammen. Erstens geht es um die Perspektive: Es muss
konsolidiert werden.
Die Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen, wie die
Weltwirtschaftskrise 2008 entstanden ist. Aus dieser
Weltwirtschaftskrise ist all das gekommen, womit auch
wir uns jetzt auseinanderzusetzen haben. Es war damals
die Entscheidung der amerikanischen Politik, dass jeder,
unabhängig davon, ob er es sich leisten kann oder nicht,
eine Immobilie haben soll. Dafür wurde Geld in den
Markt gegeben. Wachstum - auf Pump - wurde vorgetäuscht. Das geht eine Zeit lang gut, aber dann kommt
der Tag, an dem zurückgezahlt werden muss. Wenn das
dann nicht geht, dann bricht das Ganze so zusammen,
wie es in Amerika und Spanien der Fall war.
Deswegen kann ich nur vor dem warnen, was jetzt andiskutiert wird. Wachstum auf Pump löst kein einziges
Problem und ist ungerecht gegenüber den nachwachsenden Generationen. Deswegen kann das so nicht sein.
({3})
Die Botschaft daraus heißt also zweitens: Wir dürfen
bei der Lösung der Probleme kein einziges Signal geben,
das in Richtung Wachstum auf Pump weist. Das Signal,
das Sie immer wieder geben wollen, heißt: Schwamm
drüber, was in der Vergangenheit war, Vergemeinschaftung der Schulden! - Diejenigen, die etwas besser gewirtschaftet haben, zahlen dann die ganze Veranstaltung.
Diese Botschaft ist falsch, weil daraus die Konsequenz gezogen wird: Wir brauchen gar nicht wirklich zu
konsolidieren; am Schluss wird immer eine Lösung gefunden, bei der diejenigen zahlen, die sich angestrengt
haben, und die anderen, die sich nicht angestrengt haben,
davonkommen. Das ist keine Lösung. Deswegen war der
Weg immer richtig, zu sagen: Wir wollen Konsolidierungsmaßnahmen, und wir unterstützen durch Rettungsschirme, aber das alles muss auch Konsequenzen haben.
Jetzt erwarte ich natürlich, dass diese Konsequenzen
dann auch eingehalten werden. Es gibt den einen oder
anderen Hinweis aus Europa, noch einmal mit Griechenland zu reden. Ja, von mir aus können wir mit Griechenland reden. Aber was einmal als Bedingung dafür, dass
geholfen wird, vereinbart worden ist, muss eingehalten
werden; sonst hält sich niemand mehr daran.
({4})
Das erwarte ich auch. Deshalb dürfen keine anderen Signale gegeben werden.
Auf dem Gipfel in Mexiko werden große Themen angesprochen, beispielsweise die Nachhaltigkeit in der
Umweltpolitik. Wir in Deutschland und in Europa haben
gravierende Entscheidungen in der Energiepolitik und
darüber hinaus getroffen, damit der Klimawandel bekämpft wird und der CO2-Ausstoß reduziert wird. Aber
einige derjenigen, die uns tagtäglich große Ratschläge
erteilen, was gemacht werden muss, weigern sich, sich
auch an diese Verpflichtungen zu halten. Das geht nicht.
Es kann unmöglich sein, dass große Wachstumszentren
in der Welt den Umweltschutz nicht so ernst nehmen wie
diejenigen, die nicht so groß sind. Dabei hilft es nichts,
zu sagen: Wir haben über viele Jahre hinweg gar nicht so
hohe CO2-Ausstöße gehabt.
Es geht doch um die Beurteilung der jetzigen Situation. Deswegen kann ich die Vereinigten Staaten von
Amerika nur auffordern, für Nachhaltigkeit nicht nur in
der Finanzpolitik, sondern auch im Umweltschutz zu
sorgen. Da haben die Amerikaner noch einiges zu leisten. Ich bitte die Bundeskanzlerin daher, dies ernsthaft
einzufordern.
({5})
Ein Thema, das sich gerade auf dem bevorstehenden
Gipfel in Mexiko anbieten würde, steht nicht auf der
Tagesordnung. Wenn es um Wachstum und Armutsbekämpfung geht, dürfen wir nicht vergessen, dass ein
Grund, warum Armut nicht in ausreichendem Maße bekämpft werden kann, das internationale Verbrechen ist.
Gerade mit Blick auf Mexiko müssen wir überlegen, wie
wir international agierende Drogen- und Verbrecherbanden bekämpfen können. Vieles in Afrika ist nicht möglich, weil Bürgerkrieg herrscht. Vieles in Südamerika ist
nicht möglich, weil Banden Kriege führen. Daher bitte
ich herzlich, dass wir uns beim nächsten internationalen
Gipfel damit befassen. Ein Teil der Armutsproblematik
sind Bürgerkriege und Kriege, die von Banden angezettelt werden, um sich persönlich zu bereichern. Auch das
gehört auf die Agenda.
({6})
Ich glaube, dass wir in Europa auf dem richtigen Weg
sind. Aus Europa muss nun ein starkes Signal kommen.
Herr Steinmeier und Herr Trittin, wir können in Gesprächen durchaus eine gute Lösung finden. Wir sollten Ihre
Vorstellungen und das, was wir verantworten können,
zusammenbringen, um ein gemeinsames Ergebnis im
Zusammenhang mit dem ESM und dem Fiskalpakt hinzubekommen.
Ich bitte allerdings darum, sich auf das zu konzentrieren, was jetzt machbar ist. In Europa haben wir nämlich
das Problem: Kaum ist ein Problem richtig gelöst,
kommt schon wieder ein ganzer Wust an neuen Vorschlägen. Ich sage Ihnen daher: Ein Altschuldenfonds ist
zurzeit überhaupt kein Thema. Wenn Sie ständig über
neue Themen diskutieren und dann sagen: „Das machen
wir aber nicht“, dann tragen Sie nicht zur Beruhigung
der Märkte bei, sondern sorgen für Irritationen. Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns das, was jetzt auf der
Tagesordnung steht, verabschieden und so den Märkten
ein gutes Signal geben. Erst dann sollten wir darüber reden, wie wir Europa weiterentwickeln können. Aber den
Märkten ständig etwas hinzuhalten und dann zu sagen:
„Das machen wir aber nicht“, macht den Appetit der
Märkte immer größer und die Handlungsfähigkeit immer
kleiner. Deswegen: Beschränken wir uns jetzt auf die
Entscheidungen zu ESM und Fiskalpakt; denn diese sind
notwendig, um voranzukommen.
({7})
Ich habe die Bitte, die entsprechenden Entscheidungen rasch zu treffen. Ich weiß, Herr Kollege Trittin, dass
es auch Überlegungen gibt, die Vorlagen zu ESM und
Fiskalpakt erst zu verabschieden, nachdem der europäische Gipfel zu Ende gegangen ist, also nicht Ende Juni,
sondern erst, wenn die Bundeskanzlerin vom Gipfel zurückgekommen ist.
Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt und sage es
hier noch einmal: Eine solche Position stellt einen
schlimmen Rückfall in die Zeit vor den Regelungen dar,
die wir für die Parlamentsbeteiligung beschlossen haben.
Herr Trittin, Sie fordern doch vor jedem großen Gipfel
eine Regierungserklärung, damit wir hier im Deutschen
Bundestag unsere Wünsche und Vorstellungen formulieren können, die die Bundesregierung bei solchen Gipfeln
vertreten soll. Dazu kann ich nur sagen: Ja, genau richtig. Deswegen wollen wir, bevor die Bundeskanzlerin zu
dem entscheidenden Gipfel nach Brüssel fährt, hier im
Deutschen Bundestag unsere Bedingungen für ESM,
Fiskalpakt und ein Wachstumsprogramm formulieren
und nicht erst, wenn in Europa bereits einstimmig beschlossen worden ist. Parlamentsbeteiligung kann nicht
nur bedeuten, dem, was auf europäischer Ebene beschlossen wurde, einfach zuzustimmen. Deswegen sage
ich: Wer sich den anstehenden Entscheidungen im Juni
verweigert, nimmt die Parlamentsbeteiligung in diesem
Hohen Haus nicht ernst.
Ich bitte Sie daher, dies zu berücksichtigen und gemeinsam mit uns ein starkes Signal zu geben.
({8})
Der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung wünschen wir viel Erfolg und eine glückliche Hand bei dem,
was in Mexiko zur Entscheidung ansteht.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, jetzt ist doch wohl die Stunde der Wahrheit
und der Verantwortung, auch für diesen Deutschen Bundestag, was die weiteren Entscheidungen in Europa betrifft. Jetzt ist der Sommer gekommen, in dem es auch
darum geht, Europa und den Euro zu verteidigen. Es ist
die Stunde der Wahrheit. Ich muss an dieser Stelle einmal auf die Karnevalsrede von Herrn Brüderle eingehen.
Sie halten hier eine Veräppelungsrede, während woanders in Europa, in Griechenland zum Beispiel, sich die
Leute fragen, was mit ihrem eigenen Geld geschieht.
Dass Sie diese Stunde für eine Karnevalsrede nutzen,
finde ich ehrlich gesagt nicht angemessen.
({0})
Sie haben uns zugerufen, die Stunde der Wahrheit sei
jetzt gekommen. Dazu sage ich: Für die FDP ist die
Stunde der Wahrheit schon 2008 gekommen. Wir haben
angesichts der Bankenkrise eine Finanztransaktionsteuer
gefordert, damit auf dem Finanzmarkt das passiert, was
auch in der realen Wirtschaft üblich ist, nämlich dass bei
Transaktionen Steuern anfallen. Seit dieser Zeit wehren
Sie sich wie die Zicke am Strick. Das ist die Wahrheit.
Wir hätten schon vor vier Jahren weiter sein können.
({1})
Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit und der Verantwortung für diesen Deutschen Bundestag. Ich sage Ihnen
und auch der Bundeskanzlerin: Das heißt aber nicht,
dass wir einfach irgendeiner Vorlage der schwarz-gelben
Bundesregierung zustimmen; denn zur Wahrheit gehört
die Verantwortung. Dieser Bundestag hat die Verantwortung, mit der Austeritätspolitik, mit dem Kaputtsparen
endlich Schluss zu machen; er muss sich für Investitionen einsetzen und Solidarität in Europa organisieren.
Darin liegt unsere Verantwortung.
({2})
Es geht nicht darum, über irgendetwas abzustimmen,
sondern in dem Paket, das unter der Überschrift „Solidarität“ verabschiedet werden soll und bei dem es darum
geht, Europa und den Euro zu retten, muss auch tatsächlich Solidarität und Zukunft drin sein.
Ihre Rede, Frau Merkel, bestand aus vielen warmen
Worten. Sie reden über die neue Agenda der G 20. Man
müsse Wege finden, das Soziale, das Ökologische und
das Ökonomische miteinander zu verbinden. Tun Sie es
doch einfach! Entscheiden Sie doch endlich über Programme, die dies inhaltlich umsetzen! Wir wollen mehr
als Worte wie die, dass das Wachstum von Innovation
und grüner Ökonomie getragen werden müsse. Ich bin
davon überzeugt, dass von Innovationen und grünen
Technologien die größten Wachstumsimpulse ausgehen.
Effizienz, Einsparung, neue Energien sind die Stichworte, und zwar nicht nur für Europa, sondern auch zum
Beispiel für Afrika.
Frau Merkel hat darüber geredet, dass im Rahmen der
G-20-Programme zur Förderung der Kleinbauern beschlossen werden sollen. Es gehe darum, 50 Millionen
Afrikaner aus der Armut zu befreien. Das ist eine große
Zahl. Jeder Einzelne dieser 50 Millionen Afrikaner wird
sagen, dass ihm dies wichtig ist. Ich muss Ihnen aber
ehrlich sagen: Es reicht nicht, nur Investitionen von außen für 50 Millionen Afrikaner zu tätigen. Das Problem
des Hungers auf der Welt hat sich doch verschärft. Vor
zehn Jahren wollten wir die Zahl von 500 Millionen
hungernden Menschen halbieren. Was ist geschehen?
Nach zehn Jahren hat sich die Zahl verdoppelt. Wir
haben heute 1 Milliarde hungernde Menschen. Jetzt
kommen Sie mit einem Programm zur Förderung von
Kleinbauern.
({3})
Ich sage Ihnen: Wer wirklich nicht auf Kosten anderer
leben will, wer wirklich Green Growth will und im
Rahmen der G 20 und auf europäischer Ebene Verantwortung trägt, der muss auch einmal an das Eingemachte
gehen. Das haben Sie an keiner Stelle getan, selbst an
dieser nicht. Sie müssten sich in diesem Zusammenhang
einmal zur europäischen Agrarreform und zu den
Exportsubventionen äußern.
({4})
Sie können in die G 20 einbringen, dass der Norden
nicht mehr auf Kosten des Südens leben sollte, auch was
die Ernährung und die Landwirtschaft betrifft. Sie haben
keine konkreten Maßnahmen an dieser Stelle genannt.
Sie reden über Protektionismus; ja, den gibt es. Aber
dann reden Sie doch mal über den Protektionismus, den
Europa selbst und Deutschland an der Stelle auf Kosten
anderer auslösen.
({5})
Sie haben gesagt - Frank-Walter Steinmeier hat das
schon angesprochen -, wir bräuchten Initiativen zur
Regulierung der Finanzmärkte, auch für Los Cabos.
Aber da ist nichts gekommen. Wo ist denn eigentlich
Ihre Initiative zur Regulierung der Finanzmärkte?
Sie haben mal gesagt, es sollten kein Markt und kein
Instrument unreguliert bleiben. Aber dann muss man das
Thema doch sowohl in der EU als auch international jedes Mal wieder auf die politische Agenda bzw. auf die
Tagesordnung setzen. Dazu habe ich von Ihnen an dieser
Stelle kein Wort gehört.
Als Sie davon redeten, wir bräuchten jetzt eine schonungslose Analyse, bin ich zunächst zusammengezuckt,
jedoch bezog sich Ihre „schonungslose Analyse“ fast nur
auf die Staatsschuldenkrise. Aber ich sage Ihnen: Es
geht auch um eine Bankenkrise; es geht um das Verhalten der Finanzmärkte. An der Stelle müssen Sie auch
Angebote machen, und zwar auf europäischer und auch
auf internationaler Ebene. Das hat gefehlt.
({6})
Meine Frage bzw. unsere Frage an Sie ist: Wann wollen Sie eigentlich angesichts der Situation in Spanien, in
Italien und in Griechenland, die man kaum zu beschreiben braucht, sowie angesichts der Jugendarbeitslosigkeit
dort endlich aktiv werden? In bestimmten Jugendaltersgruppen sind 50 Prozent arbeitslos. Die jungen Leute
kommen gut ausgebildet von den Unis und gehen quasi
über lange Zeit ins Nichts. Diese Jugendlichen sind Europas Zukunft. Was bieten wir diesen Jugendlichen an?
Ich meine, dass jetzt die Verantwortung des Bundestages und der Bundesregierung darin liegt, Europa in
dieser Stunde der Wahrheit und Verantwortung zu sagen:
Ja, jetzt strengen wir uns an. Jetzt hören wir endlich auf,
immer nur auf Sicht zu fahren. Jetzt hört Deutschland
endlich auf, die Handtasche und das Portemonnaie darin
geschlossen zu halten sowie hier nur eine Rede über die
begrenzten deutschen Fähigkeiten zu halten.
Für meine Begriffe ist hier eines entscheidend, nämlich die Sorge. Ich finde, dass wir und auch Sie, Frau
Merkel, die Aufgabe haben, angesichts der Sorge der
Menschen, wie viel sie noch zahlen können - diese
Sorge verstehen wir -, nicht nur das Portemonnaie zuzuhalten, sondern in diesem Land wirklich offen zu erklären: Wir dürfen Europa nicht kaputtsparen. Deutschland
hat ein Interesse an einem prosperierenden Europa und
an der Hilfe für die Krisenländer jetzt, weil es auch um
unsere eigene Zukunft geht, die in Europa liegt. So
müssen wir handeln! - Diese Sätze habe ich von Ihnen
vermisst.
({7})
Treten wir doch einmal für eine Europäische Union
ein! Frau Merkel, es reicht nicht, nur hin und wieder mal
davon zu sprechen, wenn die Kritik an Ihnen zu scharf
wird. Ich meine, dass man jetzt klar sagen muss: Schluss
mit der einseitigen Fokussierung lediglich auf Konsolidierung! - Das ist nicht die einzige Antwort. Wir wollen
die Konsolidierung nicht aufgeben, aber wir müssen ein
zweites Standbein haben, wenn wir nicht im Laufe dieses Sommers den Euro endgültig gefährden wollen.
Ich will zu meinem Kollegen, Herrn Kauder, sagen:
Sie führen an der Stelle aus, es ginge uns nur um Wachstum auf Pump. Das ist - ehrlich gesagt - Quatsch.
({8})
Es geht uns nicht darum, die Konsolidierungsbemühungen aufzugeben. Es geht uns auch nicht darum, dass
Haushalte nicht konsolidiert werden, sondern dass wir
wirklich am Kern der Probleme anfangen und dass wir
zum Beispiel die Themen der europäischen Bankenaufsicht und der Kontrolle der Eigenkapitalsicherung anpacken.
Es geht uns darum, zu sehen - das weiß auch jeder
Privathaushalt -: Du kannst nicht nur sparen, sondern du
musst dich auch um die Einnahmeseite der Zukunft
kümmern.
({9})
Man muss ermöglichen, dass etwas wächst. Hier nenne
ich nur etwa grüne Technologien, moderne Automobile
sowie die chemische Industrie. Man muss ermöglichen,
dass der Anlagenbau modern wird, meine Damen und
Herren.
({10})
Dann dürfen wir uns nicht getrennt betrachten, sondern wir sind Deutschland in Europa. Wenn es Europa
schlechtgeht, geht es Deutschland nicht sofort schlecht,
aber der Tag kommt, an dem es sich tatsächlich auch in
den Auftragsbüchern Deutschlands zeigt. Deshalb haben
wir das Interesse, gemeinsam vorzugehen. Und deshalb
haben wir das Interesse, nicht nur Sparpakete aufzulegen, sondern - das sage ich ganz klar - Spanien, Italien
und anderen Ländern den enormen Zinsdruck zu nehmen. Wir brauchen einen Schuldentilgungsfonds, wie
Ihr Sachverständigenrat ihn vorgeschlagen hat.
({11})
Das hat im Übrigen auch das Europäische Parlament
mit den Stimmen Ihrer Kolleginnen und Kollegen von
der FDP gestern beschlossen. Denn nur bei reduziertem
Zinsdruck gibt es auch in diesen Staaten einige Möglichkeiten mehr, nach vorne zu gehen, zu investieren und
etwas Neues zu entwickeln.
Wir brauchen als zweites Standbein einen Investitionspakt für Europa. Die Eigenkapitalmittel der EIB
müssen erhöht werden, und darüber hinaus müssen immer mehr Mittel gebunden werden für die Modernisierung der Wirtschaft, für ökologisch sinnvolle Investitionen - in Schiene, Stromnetz, Breitbandausbau -, weil
dort die Jobs der Zukunft - auch für andere Wirtschaftszweige - geschaffen werden. Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer. Wir müssen weitere Schritte hin zu einer Bankenunion vollziehen. Das alles gehört dazu, dass
wir tatsächlich zu einer politischen Union kommen und
die Defizite aufarbeiten.
Lassen Sie mich einen letzten Satz zu Rio sagen. Ich
finde es schon bedauerlich, Frau Bundeskanzlerin, dass
Sie nicht zur Rio-Folgekonferenz fahren. Wer über
Nachhaltigkeit redet, darf nämlich nicht nur grüne Luftblasen produzieren, sondern sollte in Rio zeigen, dass es
mit einer anderen Wirtschaft wirklich ernst gemeint ist.
Herr Kauder redete so schön über Fortschritt und Nachhaltigkeit.
({12})
Wissen Sie: Dann muss man auch Taten folgen lassen.
Hollande fährt nach Rio. Auch wenn Sie dahin nur kurz
fahren würden, wäre es ein politisches Zeichen, dass
man auf dieser Ebene ernsthaft weitermachen will.
({13})
Es wäre im Übrigen längst richtig, wenn auch Ihre
Koalition die Blockaden aufgäbe. Fangen Sie nicht bei
Rio an, sondern fangen Sie damit an, einzusehen, dass es
ein Elend war und die deutsche Wirtschaft zurückwirft
Frau Kollegin Künast.
- mein letzter Satz -, dass Sie zum Beispiel bei der
EU-Effizienzrichtlinie so lange blockieren, wie Sie es
getan haben. Da hätte man für Privathaushalte jede
Menge Energie einsparen können.
({0})
Lassen Sie uns endlich die Bremsen lösen und losgehen.
Was wir brauchen, sind ein Deutschland in Europa
und ein Europa, das wirklich an sich selber glaubt, das
eine Vision hat, dass wir in Europa zusammenleben wollen, das solidarisch Schulden miteinander trägt
Frau Kollegin!
- und das dafür sorgt, dass es wirklich eine wirtschaftliche Entwicklung gibt, aus der Jobs entstehen und
in der nicht nur die alten Industrien gepampert werden.
Sie haben eine lange Rede gehalten, Frau Bundeskanzlerin. Aber Sie haben nicht die Zeichen für den Weg
nach vorne gesetzt.
({0})
Frau Künast, Sie haben bereits vor längerer Zeit Ihren
letzten Satz angekündigt.
({0})
- Na ja, es kann sich bislang keine Fraktion über mangelnde Großzügigkeit in der Bewirtschaftung der Redezeit beklagen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Wissing für
die FDP-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Künast, was Sie uns mit dem Bild der
„Zicke am Strick“ sagen wollten, weiß ich nicht.
({0})
Was ich aber weiß, ist, welchen Titel eine Ausgabe des
Spiegels im Frühjahr 2010 hatte: „Grüne kämpfen gegen
die Wunderwaffe Wachstum“. Dabei hat er sich auf ein
Papier von Ihnen, Frau Künast, und von Herrn Trittin bezogen. Darin haben Sie Folgendes gesagt: „Wir halten
den Abbau des Wachstumszwangs … für erforderlich“.
Das war Ihre Politik. Damit lagen Sie zu 100 Prozent
falsch.
({1})
Das haben Sie damals gesagt, und Sie haben damit den
Eindruck geschaffen, eine schicke Truppe zu sein. Sie
haben der Welt eingeredet, mit Wachstum müsse Schluss
sein und es gebe mittlerweile einen ganz anderen Weg,
wie man den Wohlstand in Europa in Zukunft sichern
könne.
Als der Bundeswirtschaftsminister im Frühjahr dieses
Jahres an alle Vernünftigen in Europa appelliert hat:
„Wir brauchen wieder Wachstum, um aus dieser Krise
herauswachsen und gleichzeitig unseren Sozialstaat
stabilisieren zu können“, da hat Herr Trittin in der ihm
eigenen Art bescheiden gelächelt. Inzwischen haben Sie
erkannt, dass in ganz Europa das Thema Wachstum als
zentraler Bestandteil der Hoffnung erkannt worden ist.
({2})
Sie fahren durch Europa - auch die Sozialdemokraten und reden plötzlich von Wachstum, nachdem wir dieses
Thema vorgegeben haben.
({3})
Nur: Weil Sie von grüner Seite sich jahrelang den Kopf
darüber zerbrochen haben, wie man Wachstum am besten abbauen sollte, und nicht darüber, wie man Wachstum schaffen kann,
({4})
fällt Ihnen heute nichts dazu ein, wie man ein Wachstumskonzept für Europa entwickeln kann.
Als Herr Trittin letzte Woche gefragt worden ist, ob
denn ein neues Wachstumskonzept mit neuen Schulden
einhergehen solle, hat er geantwortet, das sei für ihn
keine dogmatische Frage.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns ist das eine
Frage der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes. Selbstverständlich können Wachstumsprogramme
nicht durch neue Schulden in Europa finanziert werden.
({5})
Dass ein solcher Unsinn von den Grünen immer noch
in der Öffentlichkeit vertreten wird, zeigt doch, dass sie
sich in Wahrheit nicht dem Kern des Problems in Europa
zugewandt haben.
({6})
Auch die Sozialdemokraten müssen in dieser Frage
Ehrlichkeit an den Tag legen. Sich hinzustellen und zu
fordern, Europa dürfe nicht so viel sparen, aber gleichzeitig zu sagen, Deutschland spare nicht genug, passt
irgendwie nicht zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Deswegen laden wir Sie ein, unseren Kurs des Fiskalpakts und der Stabilisierungspolitik in Europa zu unterstützen. Diese Politik hat aber immer zur Voraussetzung,
dass Schuldenbremsen so, wie wir sie in der deutschen
Verfassung implementiert haben, für ganz Europa gelten
müssen. Der Ausstieg aus dem Schuldenstaat muss für
ganz Europa eine Selbstverständlichkeit werden
({8})
und darf nicht von Ihnen durch Hintertüren immer wieder infrage gestellt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Zur Wachstumsfrage: Wir können mit einer Besteuerung der Realwirtschaft, sei es durch eine Finanzmarktbesteuerung oder durch höhere Ertragsteuern, keinen
Beitrag für Wachstum in Europa leisten.
({10})
Deswegen haben wir gemeinsam gesagt - ich bin auch
sehr froh, dass die Sozialdemokraten sich auf diesen
Kompromiss der Vernunft verständigen konnten -:
({11})
Wer Wachstum schaffen will, darf nicht die Realwirtschaft zusätzlich belasten. Bleikugeln am Bein der Wirtschaft und des Mittelstandes in Europa schwächen Europa und stärken Europa nicht.
({12})
Deswegen sagen wir gemeinsam: Wir wollen einen Weg
zu einer solchen Steuer gehen. Wir wollen diesen Weg
aber nicht zulasten von Wachstumschancen in Europa
gehen, weil wir wissen, dass das uns alle schwächen
würde.
Deswegen stehen wir zu diesem Kompromiss.
Herr Kollege.
Ich glaube, es ist ein Kompromiss der Vernunft. Er
wird gemeinsam auszufüllen sein. Wir werden darüber
auch noch im Konkreten zu diskutieren haben. Wir sollten uns aber nicht auseinanderdividieren lassen. Wachstum schafft man nicht durch Belastung der Wirtschaft,
sondern Wachstum schafft man, indem man neue Kräfte
der Freiheit in Europa mobilisiert.
({0})
Dazu laden wir Sie ein; dafür stehen wir zur Verfügung und nichts anderes.
Wir sollten dankbar sein, dass die Bundeskanzlerin
mit Härte einen Konsolidierungskurs in Europa einfordert. Das muss der erste Schritt sein. Deswegen appelliere ich an Sie: Sagen Sie Ja zum Fiskalpakt. Sagen Sie
Ja zum Europäischen Stabilitätsmechanismus. Wir haben es in der Hand, die gemeinsame Währung schon im
nächsten Monat mit einem klaren Signal zu stabilisieren.
Herr Kollege, jetzt müssen Sie wirklich zum Abschluss kommen.
Ich komme zum Ende, Herr Präsident. - Wir sollten
uns nicht auf die Ebene von politischem Klein-Klein begeben und damit die Märkte zusätzlich verunsichern.
Die Lösung liegt auf dem Tisch. Greifen wir zu. Gemeinsam schaffen wir das.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Gerda Hasselfeldt
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist unbestritten, dass die weltwirtschaftliche Entwicklung die Dynamik der vergangenen Jahre noch nicht erGerda Hasselfeldt
reicht hat. Genauso unbestritten ist, dass die Konsequenzen der internationalen Finanzkrise immer noch in der
Konjunktur-, in der Wachstumsentwicklung spürbar
sind. Darum ist es auch richtig, dies alles jetzt beim
G-20-Gipfel gemeinsam zu diskutieren. Schließlich erleben wir als Folge dieser Finanzkrise, dass nicht nur in
den europäischen, sondern auch in vielen anderen Industriestaaten die Staatsverschuldung zu hoch ist. In manchen europäischen Ländern haben wir zusätzlich mit den
Gefahren der Rezession zu kämpfen.
Meine Damen und Herren, das alles macht deutlich:
In dieser Zeit ist es nicht angebracht, irgendwelche
Schuldzuweisungen von einem Staat zum anderen Staat
vorzunehmen. Was wir jetzt brauchen, ist vielmehr, dass
jeder Staat seine Hausaufgaben auch selber macht und
sich der Probleme bewusst ist, die im eigenen Land bestehen, diese auch angeht und gemeinsam mit anderen
verantwortungsvoll diskutiert.
({0})
In Deutschland stehen wir noch vergleichsweise gut
da. Deutlich wird das an den Arbeitslosenzahlen, an der
Erwerbstätigenentwicklung insgesamt. Wir sind wieder
Konjunkturlokomotive in Europa.
Meine Damen und Herren, das kommt nicht von allein. Das ist immer noch zurückzuführen auf die Politik
der letzten Jahre, auf die Politik, die schon in der letzten
Legislaturperiode Markenzeichen unter Bundeskanzlerin
Angela Merkel war, nämlich den Dreiklang „Konsolidieren, Reformieren und Investieren“. Alles drei war gleichermaßen wichtig. Keines der drei Ziele darf allein stehen.
({1})
Daran ist auch deutlich geworden, dass Haushaltskonsolidierung, solides Wirtschaften, sparsames Wirtschaften kein Gegensatz zu Wachstumsimpulsen ist. Das haben wir in Deutschland bewiesen, und das ist auch der
Kurs in Europa. Dieser Kurs muss uns in Europa und darüber hinaus weiter tragen. Deshalb ist auch der Fiskalvertrag so bedeutend und wichtig für uns. Damit wird
der Grundstock für eine Stabilitätsunion in Europa gelegt mit einer rechtlichen Fixierung, die wesentlich weiter geht als das, was bisher auf europäischer Ebene vereinbart wurde. Mit dieser rechtlichen Fixierung eines
soliden Haushaltens in den einzelnen europäischen Staaten kann auch wieder Vertrauen geweckt werden, was
notwendig ist: Vertrauen der Finanzmärkte in die Politik
der einzelnen europäischen Staaten. Deshalb ist es ein
Akt der staatspolitischen Vernunft und nichts anderes,
diesem Fiskalvertrag nicht nur zuzustimmen, sondern
ihn auch schnell zu verabschieden.
({2})
Natürlich ist es dabei nicht nur legitim, sondern auch
geboten, über notwendige Wachstumsimpulse zu reden.
Das tun wir übrigens nicht erst seit wenigen Tagen und
Wochen, sondern schon seit langem. In dem ganzen Prozess der Entscheidungen über die Stabilisierung der europäischen Währung, bei jedem Gipfel war das ein
Thema. Nun sind wir in einer Phase, in der wir diese Gespräche konkretisieren, in einer Phase, in der konkret
nachgedacht wird beispielsweise über höheres Kapital
bei der Europäischen Investitionsbank, über Projektanleihen, über Änderungen und Verschiebungen beim EUHaushalt, bei den Kohäsionsfonds und bei vielem anderen mehr. Das alles ist nicht nur legitim, sondern auch
notwendig.
Das, was bei der Wachstumsdiskussion aber auf keinen Fall zielführend ist, ist die Diskussion über Programme - Wachstumsprogramme oder wie auch immer
sie genannt werden -, die durch zusätzliche Schulden finanziert werden. Es muss uns immer klar sein: Konsolidierung und Wachstum gehören zusammen. Zu Wachstum kommt es nicht, wenn nicht die erste Stufe, nämlich
die Haushaltskonsolidierung, stattfindet.
({3})
Zu Wachstum kommt es auch nicht, wenn nicht die notwendigen Strukturreformen im Arbeitsmarktbereich und
im sozialpolitischen Bereich getätigt werden.
Wenn jetzt in einigen europäischen Ländern die Diskussion darüber aufkommt, schon vorgenommene Strukturreformen im Arbeitsmarktbereich und im sozialpolitischen Bereich wieder zurückzunehmen
({4})
oder auch notwendige Reformen gar nicht anzugehen,
dann, meine Damen und Herren, versündigt man sich an
dem Ziel der Wachstumsimpulse, an dem Ziel, die Staaten voranzubringen und für eine solide wirtschaftliche
Entwicklung zu sorgen.
({5})
Wenn es so kommt, dann wird man auch die Zeche
dafür bezahlen müssen, nämlich in Form fehlender oder
schlechterer Bonität, höherer Zinsen für die Staaten und
nicht zuletzt sinkenden Vertrauens in die Finanzpolitik
und in die Politik dieser Staaten. Das, meine Damen und
Herren, ist das Allerschlimmste;
({6})
denn Vertrauen in die Politik, Vertrauen in ein solides
Wirtschaften, das ist die Grundlage dafür, dass sich die
Wirtschaft gesund entwickeln kann.
Zur Finanztransaktionsteuer ist schon vieles gesagt
worden; ich brauche das nicht zu vertiefen. Ich darf für
die CSU nur sagen: Bei uns rennen all diejenigen, die
eine Besteuerung der Finanzmärkte auf europäischer
Ebene wollen, offene Türen ein. Wir werden den Bundesfinanzminister bei seinen Bemühungen, hier europaweit voranzukommen, mit aller Tatkraft unterstützen.
({7})
Nun hat sich in den Oppositionsparteien mittlerweile
erfreulicherweise eine doch etwas skeptische Haltung
gegenüber Euro-Bonds, die früher immer gleich als Erstes thematisiert wurden, eingestellt. Ich begrüße das
sehr. Es zeigt, dass durchaus Lernbereitschaft vorhanden
ist. Der Vorschlag eines Schuldentilgungsfonds ist letztlich jedoch nichts anderes als die Einführung von EuroBonds durch die Hintertür.
({8})
Wenn man meint, damit die Probleme zu lösen, dann ist
man auf einem völlig falschen Weg. Mit einer Vergemeinschaftung der Schulden nehmen wir den einzelnen
Ländern jeden Druck, selbst etwas dagegen zu tun. Es ist
volkswirtschaftlich sinnlos. Es ist rechtlich nicht möglich. Es ist ein Verrat an den deutschen Interessen. Deshalb werden wir dieses nicht zulassen.
({9})
Wir brauchen ein hohes Maß an Verantwortung in unserem politischen Handeln: Verantwortung bei den Krisenländern, Verantwortung bei allen Industrieländern,
nicht nur bei den europäischen, Verantwortung in besonderer Weise auch von Deutschland. Die Erwartungen
Europas in unser Land sind groß. Diese Erwartungen
sind nicht nur von der Regierung und den Koalitionsfraktionen zufriedenzustellen, sondern sie gehen das
ganze Haus an. Ich stelle mit Zufriedenheit fest - das
möchte ich ausdrücklich anerkennen -, dass wir bei der
Vorbereitung der Entscheidung über ESM und Fiskalvertrag in guten Gesprächen sind.
Bei dieser Gelegenheit betone ich vor allem: Das, was
die Bundeskanzlerin in den vergangenen Monaten und
Jahren an Verantwortung unter Beweis gestellt hat, war
und ist eine großartige Leistung.
({10})
Sie hat mit Durchsetzungskraft und Hartnäckigkeit nicht
nur deutsche Interessen immer vertreten, sondern sie hat
auch dazu beigetragen, dass wir auf einem guten Weg zu
einer nachhaltigen und dauerhaften Stabilitätsunion in
Europa sind. Deshalb werden wir sie auf diesem Weg
weiterhin unterstützen.
({11})
Der Kollege Poß erhält nun das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Hasselfeldt, ich gebe gerne zu, dass die Frau
Bundeskanzlerin in einem Fach eine Meisterin ist: Sie ist
eine Meisterin in der Feindbildpflege. Das hat sie heute
Morgen wieder bewiesen, indem Sie einen Popanz über
die schuldenhungrigen Sozis und Grünen an die Wand
gemalt und nichts Sachliches zu dem Thema berichtet
hat.
({0})
Damit wird ein Thema tabuisiert, das uns alle - auch
Sie - einholen wird. Im Bericht der sogenannten Viererbande zum Europäischen Rat Ende des Monats wird dieses Thema auftauchen.
Und Sie sollten sich ganz grundsätzlich wegen der
Schulden hier nicht so aufblasen, egal ob Herr Kauder
oder Herr Brüderle - Sie und alle anderen Fraktionsvorsitzenden treffen sich jetzt mit der Kanzlerin; das ist in
Ordnung -; denn dazu haben Sie doch keinen Anlass.
Schließlich beschließen Sie heute Nachmittag eine Neuverschuldung, die fast doppelt so hoch ist wie in diesem
Jahr.
({1})
Was reden Sie da von Verschuldung? Reden und Handeln fallen auch hier wieder total auseinander. Das ist sozusagen Ihr Markenzeichen. Daran ändert sich nichts.
({2})
Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung, und wir setzen sie auch durch. Offenkundig hat sich die Bundeskanzlerin dazu entschlossen, den gelben Koalitionspartner - Herr Wissing, ein besonders berüchtigter
Protagonist, will die Steuer verhindern - zu domestizieren, um das Vernünftige durchzusetzen.
({3})
Frau Merkel hat zweieinhalb Jahre gebraucht, um ein
Stück Vernunft in der Koalition durchzusetzen. Es ist
doch kein Grund, auf diese überfällige Leistung stolz zu
sein.
({4})
Wir wollen die Finanzmarktbesteuerung durchsetzen,
alleine schon deshalb, um nicht mehr Schulden machen
zu müssen. Wir brauchen sie für die Konsolidierung wie
auch für Wachstumsinitiativen; auch das ist der Sinn dieser Finanzmarktbesteuerung.
Also: Sie haben keinen Anlass zu irgendeinem Stolz.
Das, was Frank-Walter Steinmeier hier festgestellt hat,
nämlich dass von Ihnen null Initiative im Hinblick auf
den nächsten G-20-Gipfel kommt - es wären viele Initiativen zu ergreifen; diese wurden thematisiert -, ist vollkommen richtig.
Ihnen ist die Initiative abhandengekommen. Und warum? Weil Sie in Ihrer eigenen Koalition in wichtigen
zentralen Fragen wie der Finanzmarktbesteuerung eben
nicht einer Meinung waren. Welche Position sollte die
Bundeskanzlerin denn dann auf internationalen Gipfeln
nachhaltig vertreten? Ein nachhaltiges Auftreten war ja
gar nicht möglich.
Es ist schon beschämend, dass in diesem Parlament
von der Koalition bei der Frage der Finanzmarktbesteuerung bis in den heutigen Morgen hinein taktiert, verweiJoachim Poß
gert und blockiert worden ist. Es ist beschämend, dass es
Frau Merkel zweieinhalb Jahre lang nicht gelungen ist,
in dieser Frage eine klare Linie in ihrer Koalition durchzusetzen, und dass sie sich vom kleinen Koalitionspartner FDP hat auf der Nase herumtanzen lassen. Damit ist
jetzt Schluss!
({5})
Auf unseren Druck und weil es anders einfach nicht
geht,
({6})
musste die FDP jetzt klein beigeben. Das ist Fakt. Die
FDP musste klein beigeben und nichts anderes. Das
hätte man viel eher haben können.
({7})
Deswegen ist die aktuelle Entwicklung gut. Sie ist
auch noch aus einem anderen Grunde gut: Für die Menschen in unserem Lande ist mit den krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre einiges gehörig in Schieflage geraten. Die Menschen empfinden es als zutiefst
ungerecht, wie die Lasten der Krise verteilt worden sind
und dass die Krisenverursacher in der Finanzbranche
viel zu gut davongekommen sind. Das muss korrigiert
werden.
({8})
Das meinen im Übrigen nicht nur die Anhänger der Oppositionsparteien, das meinen auch Ihre eigenen Anhänger. Das erfährt man, wenn man einmal mit ihnen
spricht. Diejenigen, die normalerweise FDP oder CDU
bzw. CSU wählen, sagen: So kann das nicht weitergehen.
In diesen Tagen erleben wir, dass die Lobbyisten wieder mobil machen, auch in den Medien. Davon darf man
sich nicht beeindrucken lassen. Die Finanztransaktionsteuer kann so konstruiert werden, dass schlimme Effekte auf Altersversorgung usw. eingedämmt und in
Grenzen gehalten werden können. Es ist das alte Spiel:
Die vermeintlichen Interessen der Kleinen werden vorgeschoben, damit diejenigen, die bisher kassiert haben,
auch weiterhin gehörig kassieren können. Dieses Spiel
läuft hier ab, meine Damen und Herren!
({9})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Wir machen dieses Spiel nicht mit. Wir hoffen, dass
wir gemeinsam - auch wenn Sie dabei Bauch- oder
andere Schmerzen haben - zu einer vernünftigen Lösung
in der Bundesrepublik Deutschland,
({0})
in Europa, möglichst in der Euro-Zone kommen werden
und zusammen mit anderen Partnern zu einer verstärkten
Zusammenarbeit finden werden.
({1})
Mal sehen, wie Sie sich weiter verhalten werden.
({2})
Das Wort hat nun Frank Steffel für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe, wie
auch Sie, zwei Stunden lang dieser abwechslungsreichen
Debatte gelauscht. Am Ende einer Debatte frage ich
mich immer: Was sind denn die Erkenntnisse für die hoffentlich zahlreichen Zuschauer an den Fernsehgeräten
und für die Damen und Herren, die unsere Debatte hier
mit hoffentlich großem Interesse unmittelbar verfolgen?
Nach meiner Einschätzung gibt es drei wesentliche
Erkenntnisse.
Erstens spüren die Menschen, dass auch wir Politiker
nicht auf alle Fragen, nicht auf alle Herausforderungen
der weltweiten Zukunft perfekte, allumfassende Antworten haben. Sie merken, dass auch die Politik um den
richtigen Weg ringt. Ich hoffe aber, die Menschen spüren
auch, dass es einen wesentlichen Fortschritt in unserer
politischen Generation gibt.
Ich will einmal 25 Jahre zurückblicken: Vor 25 Jahren
herrschten der Kalte Krieg, Sprachlosigkeit und Feindschaft. Auf dieser Welt standen sich Blöcke gegenüber.
Heute sprechen wir über den G-20-Gipfel, auf dem die
führenden 20 Nationen dieser Erde vertreten sind - sie
generieren 90 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts -: Australien, natürlich die Vereinigten Staaten
von Amerika, Russland, China, Indien, Brasilien, Argentinien, die Türkei, Saudi-Arabien, Südafrika. Ich will das
bewusst auch einmal den jungen Zuhörern sagen. Man
könnte sagen, dass die ganze Welt miteinander spricht.
Die Nationen sprechen miteinander über drei Ziele
- ich habe das einmal herausgesucht; auch das sollten
wir deutlich machen -: Sie sprechen über das Ziel, ökonomische Stabilität und nachhaltiges Wachstum für unseren Planeten zu organisieren. Sie sprechen gemeinsam
über das Ziel, Risiken zu reduzieren und zukünftige
finanzielle Krisen zu vermeiden. Sie sprechen gemeinsam über das Ziel, eine neue internationale Finanzarchitektur zu errichten. Meine Damen und Herren, da hat
sich auf diesem Planeten doch Gott sei Dank etwas geändert.
John F. Kennedy hat gesagt:
Unsere Probleme sind von Menschen gemacht.
Deshalb können sie von Menschen gelöst werden.
Wenn er mit diesen Sätzen recht hatte, dann sollte eine
wesentliche Erkenntnis des heutigen Tages sein: Es wäre
doch gelacht, wenn die 20 bedeutendsten Staats- und
Regierungschefs, die 20 unterschiedlichen, aber größten
Nationen dieser Erde es nicht gemeinsam schaffen, die
Probleme dieses Planeten auch in der Zukunft für kommende Generationen gemeinsam zu lösen.
({0})
Ich glaube, die Menschen spüren ein Zweites: Ja,
Sparen und Konsolidieren sind unpopulär und schwierig.
Es fordert Opfer, und wir reden über Verteilung: Wen
belastet das mehr? Wen belastet das weniger? Was ist
gerecht? - Aber, meine Damen und Herren, die Menschen spüren auch, dass Wachstum nur wenige Voraussetzungen haben kann:
Eine Voraussetzung ist relativ einfach - einige Länder
dieser Erde verzeichnen es -: Bevölkerungszuwachs.
Wir müssen leider zur Kenntnis nehmen: In Europa, insbesondere in Deutschland, ist das nicht der Fall.
Eine zweite Möglichkeit, für nationales Wachstum zu
sorgen, ist Verschuldung, also Wachstum auf Pump. Wir
stellen wahrscheinlich gemeinsam fest: Das ist ein Teil
- wahrscheinlich die wesentliche Ursache - der Probleme, über die wir heute reden.
Dann bleibt nur ein dritter Weg für Wachstum übrig.
Ich will ihn in dieser Debatte deutlich herausarbeiten,
weil er eine Stärke der Bundesrepublik Deutschland ist:
Es bleibt der Weg übrig, Wachstum durch Innovation,
Ideen, Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit zu
erreichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns da einmal
zufrieden und stolz sein: Was der deutsche Mittelstand
und deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
den letzten Jahren bewiesen haben, sind Innovationsfähigkeit, Ideenreichtum, Wettbewerbsfähigkeit und
Leistungsbereitschaft. Das ist weltweit ein Statussymbol
dieser Bundesrepublik Deutschland. Also lassen Sie uns
bei anderen stolz und zufrieden für unseren Weg werben.
Im Übrigen will ich an dieser Stelle eines ausdrücklich sagen: Auch die Qualifikation und die Einsatzbereitschaft unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sind Standortvorteil dieser Bundesrepublik Deutschland,
auf den wir stolz sein sollten. Denn das ist die Grundlage
unseres Wachstums; momentan sind wir Stabilitätsanker
in Europa.
Wer glaubt, fehlende Wettbewerbsfähigkeit mit der
Reduzierung des Renteneintrittsalters bekämpfen zu
können, der ist noch nicht wirklich in diesem Jahrhundert mit seinen demokratischen, medizinischen und anderen Entwicklungen angekommen. Wer glaubt, durch
die Vergemeinschaftung von Schulden die richtigen Anreize für einen verantwortungsvollen Umgang mit Geld
zu setzen, der schätzt die Motive der Menschen wieder
einmal falsch ein. Darüber ist übrigens Ihr Sozialismus,
lieber Herr Gysi, schon einmal gestolpert: Er hat schlicht
und ergreifend die Motive von Menschen falsch eingeschätzt. Wenn wir ehrlich über die Motive von Menschen reden, dann müssen wir feststellen, dass es natürlich Anreize zum Sparen, zum verantwortungsvollen
Umgang mit Ressourcen geben muss. Insofern ist die
Vergemeinschaftung von Schulden genau der falsche
Weg.
({1})
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass gestern die Troika der SPD im Élysée-Palast Vorwahlkampf
veranstaltet hat.
({2})
- Ja, das habt ihr gut organisiert. - Ich hätte mir nur
eines gewünscht: Zur Ehrlichkeit hätte es auch gehört,
dem neuen französischen Präsidenten zu sagen, dass
seine Rücknahme der Anhebung des Renteneintrittsalters genau das falsche Signal der zweitwichtigsten
Volkswirtschaft der Euro-Zone an die Märkte ist. Auch
hier müsste die SPD sich ehrlich machen und nicht parteitaktisch argumentieren.
({3})
Die dritte Erkenntnis ist, dass gerade in krisenhaften
Zeiten die Menschen ihrer politischen Führung vertrauen
möchten - auch wenn sie wissen, dass es nicht auf alles
eine perfekte Antwort gibt - und dass sie Ehrlichkeit und
Verlässlichkeit erwarten. Es wundert mich deshalb nicht,
dass alle Umfragen unter der Bevölkerung ergeben, dass
die Bundeskanzlerin gerade in Bezug auf diese Werte
hohes Ansehen genießt. Man spürt, dass Angela Merkel
mit Sachkunde, Ehrlichkeit und Berechenbarkeit auf internationaler Ebene versucht, für Deutschland und für
Europa den richtigen Weg auch in das kommende Jahrzehnt zu organisieren.
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass auch die Opposition bereit ist, den Fiskalpakt und die notwendigen
Schritte in Europa zu unterstützen; denn wenn es um historische Fragen geht, dann sollte es in Deutschland keinen Unterschied zwischen Opposition und Regierung
geben. Ich wünsche mir nicht nur, dass die Bundesregierung uns auf dem G-20-Gipfel gut vertritt, sondern ich
wünsche mir auch, dass insbesondere die Sozialdemokraten der europäischen Rettung, dem Fiskalpakt zustimmen und von Deutschland das klare Signal an die internationale Staatengemeinschaft ausgeht: Wir stehen zu
unserer Verantwortung, wir wollen konsolidieren und
trotzdem wachsen, und wir denken dabei insbesondere
an die Menschen, die jeden Tag fleißig für unseren gemeinsamen Wohlstand arbeiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Joachim Pfeiffer für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland ist solidarisch. Deutschland ist solidarisch,
wenn es darum geht, den freien Handel weltweit zu fördern, weil er allen hilft. Deutschland ist solidarisch bei
der wirtschaftlichen und technologischen ZusammenarDr. Joachim Pfeiffer
beit. Deutschland ist auch beim Klimaschutz solidarisch;
denn hier gehen wir voran.
Deutschland ist auch in Europa solidarisch. Deutschland kann aber nur so lange solidarisch sein, solange es
selbst stark ist, und wir sind stark, weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben.
({0})
- Wir in Deutschland. Auch die rot-grüne Bundesregierung hat mit der Agenda 2010 unsere Bemühungen auf
dem Arbeitsmarkt unterstützt, indem sie Rahmenbedingungen geschaffen hat, die dazu beigetragen haben, dass
unser Arbeitsmarkt so stark ist wie nie zuvor. Während
andere Staaten in Europa mit der höchsten Arbeitslosigkeit aller Zeiten zu kämpfen haben, verzeichnet
Deutschland die höchste Beschäftigungsquote der Nachkriegszeit. Das ist das Ergebnis einer Politik, die auf
Konsolidierung und Wachstum setzt. Wir haben uns
nicht nur auf einen der beiden Aspekte konzentriert, sondern wir haben sie in Übereinstimmung gebracht,
({1})
und zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch
auf den Gütermärkten.
Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen,
deutscher Produkte und deutscher Dienstleistungen ist so
gut wie nie. Wir sind gut aufgestellt. Wir haben auch in
den Bereichen Finanzmarkt und Haushaltskonsolidierung gehandelt. Wir haben sowohl für die Häuslebauer
als auch für die deutsche Wirtschaft, vor allem für den
Mittelstand, Kredite bereitgestellt, damit er seine Investitionen weiter vorantreiben kann.
In Europa sieht es anders aus. In Europa brennt es
zum Teil offen, zumindest schwelt es. Deutschland ist
bereit zur Solidarität. Deutschland ist bereit, sich an dem
Feuerwehreinsatz zu beteiligen und zu löschen. Aber
auch beim Löschen gilt es, den alten Feuerwehrgrundsatz des Selbstschutzes zu beachten. Wachstum darf
nicht auf Pump finanziert werden. Um für Wachstum zu
sorgen, braucht man die richtigen Instrumente. Ich gebe
Herrn Steinmeier zwar recht, wenn er sagt, dass
Deutschland mutig vorangehen soll. Aber wir dürfen
nicht kopflos handeln; denn das wäre der direkte Weg in
den Abgrund. In diesem Zusammenhang möchte ich auf
die Euro-Bonds verweisen. Sie sind - wie es der Kollege
Brüderle sehr treffend ausdrückt - Zinssozialismus, sie
sind süßes Gift. Durch sie wird kein einziges Problem
gelöst; vielmehr werden notwendige Maßnahmen zur
Restrukturierung verzögert. Sie verhindern, dass notwendige Strukturreformen auf den Weg gebracht werden. Das haben mittlerweile offensichtlich selbst die Sozialdemokraten erfreulicherweise eingesehen.
Euro-Bonds sind nicht das, wofür sie manche halten.
Der EU-Kommissionspräsident sagt immer, dass wir
Euro-Bonds brauchen, weil die Anleger sich dann am
Stärksten orientieren würden. Genau das ist aber nicht
der Fall. Das wissen wir spätestens, seitdem der Chef des
chinesischen Investitionsfonds CIC in der letzten Woche
gesagt hat, dass China nicht in Euro-Bonds investieren
würde, weil man sich dann nicht am stärksten, sondern
am schwächsten Glied der Kette orientieren würde.
({2})
Das sollten wir uns einmal vergegenwärtigen: EuroBonds hätten nicht nur zur Folge, dass Strukturreformen
nicht durchgeführt würden, sie würden uns auch nicht
hinsichtlich der Finanzierung während der Krise helfen.
({3})
Ernst Hinsken und ich waren in der letzten Woche mit
dem Wirtschaftsminister in Saudi-Arabien. Auch der
saudi-arabische Finanzminister hat uns in aller Deutlichkeit gesagt, dass man in deutsche Anleihen investiert,
weil man Vertrauen in Deutschland hat. Man würde
nicht in Euro-Bonds investieren, weil man im Moment
nicht sehe, dass die Probleme in Europa in der Form gelöst werden, wie das notwendig ist. Das sollte ein Alarmsignal für uns sein. Wir sollten das Thema Euro-Bonds
nicht weiterverfolgen, weil Euro-Bonds das Problem
nicht lösen. Sie sind das Gegenteil: Sie sind Brandbeschleuniger und nicht zum Löschen der Krise in Europa
geeignet.
({4})
Das Gleiche gilt für den Altschuldentilgungsfonds. Die
Kollegin Hasselfeldt hat das Thema vorhin angesprochen. Das wäre die Einführung von Euro-Bonds durch
die Hintertür.
Ich glaube, jeder sollte seine Hausaufgaben machen.
Auch wir haben noch genug Hausaufgaben zu machen.
Wir haben 2 Billionen Euro Schulden, 2 000 Milliarden Euro Schulden, die wir selber abzutragen haben.
Das entspricht nach wie vor 80 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts. Wir sind auf dem richtigen Weg, weil
die Wirtschaft bei uns schneller wächst, als die Verschuldung ansteigt. Deshalb konnten wir die Verschuldungsquote im letzten Jahr um 1 bis 2 Prozentpunkte nach unten fahren. Das wird erfreulicherweise auch in diesem
Jahr der Fall sein. Insofern stimmt die Richtung.
Wir können und wollen auch keine Bankenunion einführen, die im Augenblick von manchen vorgeschlagen
wird. Wir wollen eine europäische Bankenaufsicht. Insofern wollen wir eine Bankenunion, und diesbezüglich
gibt es in der Tat noch einiges zu tun. Es kann nicht sein,
dass die nationale Bankenaufsicht nur für national tätige
Banken zuständig ist und die europäische Bankenaufsicht nur für grenzüberschreitende Tätigkeiten. Hinsichtlich der Finanzmarktregulierung gibt es da noch das eine
oder andere zu verbessern.
Genauso wenig sinnvoll wie die Vergemeinschaftung
von Schulden ist es, durch eine europäische Einlagensicherung das europäische Vermögen zu vergemeinschaften. Weder eine Vergemeinschaftung von Schulden
noch eine Vergemeinschaftung von Vermögen ist die Lösung. Im Moment versucht man an allen Ecken und Kanten in Europa, uns in die Transferunion zu locken oder
zu zwingen. Dass dieser nicht erfolgversprechende Weg
nicht eingeschlagen wird, das garantieren die CDU/
CSU- und die FDP-Fraktion in diesem Haus sowie die
Bundesregierung, die die notwendigen Schritte bisher
immer durchgesetzt hat.
({5})
Wir freuen uns über jede Unterstützung. Die Grünen
fordern aber leider zum Großteil das Gegenteil und sagen, dass sie Euro-Bonds wollen. Ich bin mir noch nicht
so richtig sicher, was die SPD will. Ich weiß nicht, was
am Ende herauskommt, wenn das Trio Infernale öfter
nach Paris fährt. Ich bin mir nicht sicher, ob man dann
am Ende nicht doch wieder umfällt und Euro-Bonds fordert, in welcher Form auch immer.
Für meine Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit
auch: Wir wollen, dass der ESM und der Fiskalpakt
zusammen verabschiedet werden, weil sie zusammengehören.
({6})
Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Auf der einen
Seite steht ein dauerhaftes Rettungsinstrumentarium für
schwierige Situationen, und auf der anderen Seite stehen
klare Regeln, was Haushalt, Wachstum und Konsolidierung in Europa anbelangt. Beides gehört untrennbar zusammen. Wir werden nie und nimmer das eine ohne das
andere verabschieden. Beide Dinge gehören untrennbar
zusammen.
({7})
Bei aller Freude über die deutsche Situation: Wer
nicht immer besser wird, hört auf, gut zu sein. Wir sollten aufhören,
({8})
die Agenda 2010 schlechtzureden. Die SPD und andere
ihrer Kameradinnen distanzieren sich davon oder wollen
sie rückgängig machen. Die Agenda 2010 war notwendig. Wir brauchen jetzt aber keine Agenda 2010, sondern
eine Agenda 2020 oder eine Agenda 2030, die Wachstumsfesseln löst, die Technologieoffenheit, Technologiebegeisterung schafft, die den Arbeitsmarktmotor in Fahrt
hält,
({9})
die die Rahmenbedingungen für Gründungen verbessert,
die bei Innovationstätigkeit, bei steuerlicher Förderung
von Forschungsfinanzierung und anderem entsprechend
positiv wirkt. Nur dann haben wir die Chance, dass
Deutschland weiterhin so stark bleibt, wie es ist, und
seine Solidarität in Europa und weltweit leisten kann.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Josip Juratovic,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebotes für
Frauen und Männer ({0})
- Drucksache 17/9781 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Andrea Nahles
für die SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte mit einem Blick in die Zukunft beginnen. Anlässlich des Equal Pay Day am 10. März 2015
gibt das Statistische Bundesamt eine Pressemitteilung
heraus. Die Überschrift lautet: Verdienstunterschiede
von Frauen und Männern gehen erstmals zurück. Weiter
heißt es in der Pressemitteilung: Wiesbaden - Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von Frauen war in
Deutschland im Jahr 2014 um 15 Prozent niedriger als
der von Männern. Damit hat sich der unbereinigte Gender Pay Gap erstmals seit Jahren verringert. Dies ist das
messbare Ergebnis des Entgeltgleichheitsgesetzes, das
am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist. - Das ist doch
einmal eine schöne Nachricht.
({0})
Sie haben es hier heute in der Hand. Sie können dafür
sorgen, dass diese schöne Nachricht tatsächlich den Weg
in die deutschen Zeitungen findet, indem Sie heute dem
Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zustimmen.
Wir müssen in Deutschland endlich mit dem Skandal
aufräumen, dass es einen Lohnunterschied zwischen
Männern und Frauen gibt. Diesen Lohnunterschied gibt
es aus einem einzigen Grund: weil die Frauen Frauen
sind. Das ist Entgeltdiskriminierung. Das muss man so
benennen, und das muss man beseitigen.
({1})
Wir erleben in dieser Frage vonseiten der Bundesregierung vor allem Appelle. Im Hintergrund wird dieses
Thema auch noch wie eine heiße Kartoffel von einem
Ministerium zum anderen geschoben.
({2})
Es im Grunde genommen egal, ob sich Frau von der
Leyen der Sache mal wieder wildernd im Ressort ihrer
Kollegin annimmt oder ob Frau Schröder es selbst
macht, unter dem Strich bleibt leider folgende Botschaft
für die Frauen in Deutschland: Eine schlechtere Interessenvertretung für Frauen in dieser Frage hat es in
Deutschland noch nicht gegeben. Das ist das Ergebnis
Ihrer Politik.
({3})
Ich sage Ihnen: Frau von der Leyen ist wirklich sehr
gut darin - ich muss das loben -, alle zentralen Probleme
des Arbeitsmarktes anzusprechen. Konkrete Lösungen
werden aber nicht angeboten, geschweige denn umgesetzt.
({4})
Einer der zentralen Gründe für schlechte Löhne von
Frauen in Deutschland ist schlicht und ergreifend - das
ist ganz simpel -, dass es zu viele Frauen gibt, die in prekären Teilzeitbeschäftigungen festhängen und keinen
Weg finden, dort herauszukommen. Das ist eines der
Probleme.
Das zweite Problem ist, dass einige Tätigkeiten
- meist sind es Dienstleistungen - insgesamt schlechter
bewertet bzw. entlohnt werden. Dies geschieht nicht zufällig; denn zu 70 oder 80 Prozent werden diese Tätigkeiten von Frauen ausgeführt. Viele Tätigkeiten von
Frauen werden also schlichtweg weniger hoch bewertet.
Das sind zentrale Gründe für die Entgeltungleichheit.
Wir legen hier und heute einen Gesetzentwurf vor, der
einen gesetzlichen Rahmen schafft. Dieser gesetzliche
Rahmen verpflichtet die Tarifpartner und die Verantwortlichen in den Betrieben, sich um dieses Problem zu
kümmern. Wir, die Politik, können dieses Problem in
den Betrieben vor Ort nicht selbst lösen. Aber wir können wenigstens einen gesetzlichen Rahmen schaffen, der
sie dazu verpflichtet, dieses Thema regelmäßig auf die
Tagesordnung zu setzen, damit die vorhandenen Probleme gelöst werden können. Das ist mehr als die warmen Worte und die Appelle seitens dieser Bundesregierung. Das ist der große Vorteil unseres Gesetzentwurfs.
({5})
Frau Schröder hat Lohnmessmethoden ausprobieren
lassen. Ich sage Ihnen klipp und klar: Darüber freuen wir
uns. Es handelt sich dabei allerdings um Lohnmessmethoden, die immer wieder zu einer „überraschenden“
Erkenntnis führen. Viele Firmen, die diese Lohnmessmethoden anwenden, stellen doch tatsächlich fest: Ups,
bei uns gibt es eine Lohndiskriminierung.
({6})
Jetzt kommt der spannende Punkt: Danach passiert
nichts mehr. Genau das ist das Problem, das wir mit unserem Gesetzentwurf anpacken. Dass nichts getan wird,
haben wir nämlich lange genug erlebt.
Jetzt komme ich zu einem Punkt, an dem diese Regierung etwas tun will; das ist wirklich wunderbar und
großartig. Einer der Hauptgründe für die schlechtere
Entlohnung von Frauen sind bekanntlich familienbedingte Erwerbsunterbrechungen. Was macht diese Bundesregierung?
({7})
Sie legt ein Programm zur Förderung familienbedingter
Erwerbsunterbrechungen vor.
({8})
Es nennt sich Betreuungsgeld.
({9})
Da, wo diese Bundesregierung endlich einmal konkret
wird und etwas tut, geht es voll in die Hose.
({10})
Das Betreuungsgeld wird nämlich weitere Lohndiskriminierung und -ungleichheit in Deutschland zur Folge
haben. Ich kann Ihnen nur sagen: Es gab seit Jahrzehnten
keine Regierung in Deutschland, die die Interessen der
Frauen schlechter vertreten hat als die jetzige. Auch dass
diese Regierung von einer Frau angeführt wird, bringt
den Frauen in Deutschland unter dem Strich nichts.
({11})
Ich kann Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie unserem
Gesetzentwurf zu! Die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen ist kein Kavaliersdelikt, sondern ein
echtes Problem. Sie ist nicht nur ein Problem der Gleichstellung, sondern betrifft auch die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, die dadurch empfindlich gestört wird.
({12})
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie, liebe Bundesregierung, herzlich darum bitten, endlich Butter bei die
Fische zu tun.
({13})
Das Wort hat nun Nadine Schön für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich geht:
Wenn ich von einer Lohndifferenz zwischen Frauen und
Männern in Deutschland in Höhe von 23 Prozent spreche und zu diesem Thema Pressemitteilungen verfasse,
dann stoße ich bei vielen Menschen auf Unverständnis.
Viele sagen: 23 Prozent? Das kann doch gar nicht sein.
Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein Mann 23 Prozent mehr verdient als die Frau, die zum Beispiel neben
Nadine Schön ({0})
ihm am Fließband steht. - Tatsächlich: Diesen Fall wird
man selten antreffen.
({1})
Denn bei der Lohnlücke von 23 Prozent handelt es sich
nicht um einen individuellen Lohnunterschied, sondern
um den Unterschied zwischen dem durchschnittlichen
Bruttostundenverdienst aller Männer und dem durchschnittlichen Bruttostundenverdienst aller Frauen.
({2})
Der Unterschied ist deshalb so groß, weil Männer viel
öfter als Frauen Vollzeit arbeiten und weniger oft familienbedingt auf Berufstätigkeit verzichten, weil also mehr
Männer als Frauen erwerbstätig sind.
({3})
Man kann sich fragen: Ist die Lohndifferenz die Konsequenz individueller Entscheidungen? Ist sie also unproblematisch? Müssen wir uns mit diesem Thema also
nicht beschäftigen? Nein, wer so argumentiert, der
macht es sich zu einfach.
({4})
Es gibt tatsächlich bestimmte Diskriminierungstatbestände. Ein Beispiel ist der Fall einer Berufseinsteigerin,
die trotz des gleichen Studienabschlusses schlechter bezahlt wird als ihr männlicher Kollege. Man kann vermuten, dass eine mögliche Schwangerschaft und eine
potenzielle Familienzeit schon eingepreist werden. Hier
hat die junge Frau ganz individuell ein Problem.
Besonders problematisch wird diese Lohnlücke von
23 Prozent im Alter. Dann nämlich entwickelt sich die
Lohndifferenz zu einer Rentendifferenz von über 59 Prozent. Das ist logisch, weil Frauen, die weniger verdient
haben, später geringere Rentenansprüche haben. Genau
das, die fehlenden eigenen Rentenansprüche, sind der
Grund für die drohende Altersarmut von Frauen. Vor
diesem Hintergrund sind das Fehlen von Entgeltgleichheit und vor allem die Ungleichheit der Renten große
Probleme, sowohl auf individueller Ebene als auch deshalb, weil wir alle davon betroffen sind.
({5})
Über die Ursachen haben wir in diesem Haus oft diskutiert.
({6})
Für den größten Teil der Lohnlücke gibt es objektive
Gründe, nämlich die horizontale und die vertikale Segregation des Arbeitsmarktes. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie müssen nicht so überrascht tun.
Ich denke, diese Fakten sind Ihnen bekannt: Frauen sind
in den besser bezahlten Berufen und auf den höheren
Stufen der Karriereleiter schlechter vertreten.
({7})
Das führt zu schlechterer Bezahlung. Hinzu kommt, dass
Frauen mehr und längere Erwerbsunterbrechungen haben. Sie arbeiten meist Teilzeit mit wenigen Stunden. Das
erklärt 15 Prozent der Entgeltlücke. Die anderen 8 Prozent ergeben sich tatsächlich durch Diskriminierung und
eine ungerechte Bewertung von Frauenarbeit.
Ansatzpunkte dafür, wie man diese Lohnlücke schließen kann, gibt es zahlreiche.
({8})
Bei vielen ist auch die Politik gefragt,
({9})
und vieles wird auch bereits getan. Das fängt bei dem
Bemühen an, Mädchen und Frauen auch für die besser
bezahlten technischen Berufe zu gewinnen, und geht bis
zu den Initiativen gegen die langen Erwerbsunterbrechungen und die hohe Teilzeitquote,
({10})
etwa durch den Ausbau der Krippenplätze, durch den
Ausbau von Ganztagsschulen und durch den Ausbau der
nachschulischen Betreuung. Das ermöglicht nämlich
eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und
führt dazu, dass es weniger Erwerbsunterbrechungen
und weniger Teilzeitarbeit, also auch bessere Einkommen gibt.
Hier ist jetzt das Stichwort Betreuungsgeld gefallen.
({11})
Liebe Kollegin Frau Nahles, Sie haben das gesagt. Ich
bin, wie Sie wissen, nicht der größte Verfechter des
Betreuungsgeldes,
({12})
aber wie Sie sich in den letzten Wochen über junge
Familien geäußert haben,
({13})
die im ersten und zweiten Lebensjahr ihres Kindes gerne
mehr Zeit mit ihm verbringen und nicht nach wenigen
Wochen wieder Vollzeit ins Berufsleben einsteigen wollen,
({14})
Nadine Schön ({15})
ist wirklich empörend und schlimm. Das kritisiere ich
hier wirklich deutlich.
({16})
Es muss doch, wenn man ein einjähriges Kind hat,
möglich sein, die Arbeitszeit etwas zu reduzieren, um
mehr Zeit mit dem Kind verbringen zu können. Für Sie
ist jede Person, die nicht gleich wieder Vollzeit einsteigt,
eine schlechte Mutter bzw. ein schlechter Vater.
({17})
Ich bin die Letzte, die sagt, dass Kitabetreuung schlecht
für ein Kind ist, aber das, was Sie fordern, nämlich
Frauen und Männer direkt wieder in den Arbeitsmarkt,
ist nicht das, was sich die meisten jungen Familien wünschen.
({18})
Es muss doch möglich sein, auch einmal stundenweise auf die Berufstätigkeit zu verzichten, und zwar für
Männer und für Frauen. Wenn wir das den Männern und
Frauen ermöglichen,
({19})
dann haben wir an diesem Punkt auch kein Problem
mehr mit Entgeltungleichheit. Das wünschen sich junge
Familien. Hier tun wir wirklich aktiv etwas gegen Entgeltungleichheit.
({20})
Das beste Erfolgsmodell ist das Elterngeld. Mit dem
Elterngeld und den Partnermonaten ermöglichen wir
jungen Familien nämlich genau das.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kollegin,
würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass es sachlich falsch
ist, wenn Sie - wie wiederholt getan - der SPD-Fraktion
unterstellen, dass sie Familien unterschiedlich behandeln
will und dass sie vorschreibt, wo ein Kind besser betreut
wird, und dass dies eine bösartige Unterstellung in Bezug auf unsere Position ist?
Ich stelle fest, dass es eine bösartige Unterstellung in
Bezug auf unsere Position ist, zu behaupten, die CDU/
CSU-Fraktion wolle junge Familien vom Arbeitsmarkt
fernhalten.
({0})
Diese bösartige Unterstellung wiederholen Sie regelmäßig. Sie vermitteln den Eindruck, dass nur die Person
eine gute Mutter oder ein guter Vater ist, die Betreuungseinrichtungen in Anspruch nimmt.
({1})
Wer das nicht tut, ist ein Heimchen am Herd und nimmt
die „Fernhalteprämie“ in Anspruch. Das ist nicht das,
was junge Familien heute wollen.
({2})
Gestatten Sie noch eine weitere Nachfrage, liebe Kollegin?
Ich würde gerne zum Thema Entgeltgleichheit zurückkommen, weil ich glaube, dass wir über das andere
Thema in den nächsten Wochen noch ausgiebig diskutieren werden. Wir reden heute über Entgeltgleichheit, und
ich glaube, auch an diesem Punkt gibt es vieles zu tun.
Ein maßgeblicher Punkt ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, über die wir gerade diskutieren.
({0})
Auch hier gibt es viele Initiativen der Bundesregierung,
etwa die Initiative familienbewusste Arbeitszeiten, das
„audit berufundfamilie“, die Familienpflegezeit.
({1})
All das führt dazu, dass die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie möglich ist.
Jetzt sind aber die Politiker nicht die Einzigen, die
Verantwortung tragen.
({2})
Wie es in Ihrem Gesetzentwurf richtig anklingt, haben
auch die Tarifparteien und die Unternehmen eine Verantwortung; denn die Lohnlücke von 23 Prozent setzt sich
eben aus vielen kleinen Lohnlücken zusammen, aus ein
bisschen Entgeltungleichheit in vielen Betrieben. Deshalb gilt es, Unternehmen für das Thema Entgeltungleichheit zu sensibilisieren. Das Bundesfamilienministerium hat das aus der Schweiz kommende Tool Logib-D
weiterentwickelt und bietet es den Unternehmen an.
Hiermit kann man erkennen, wo im Betrieb Entgelt21888
Nadine Schön ({3})
unterschiede bestehen, und diese Probleme gemeinsam
angehen.
Die SPD greift dieses Thema in ihrem Gesetzentwurf
auf - was ich grundsätzlich begrüße -, dass sich viele
Unternehmen mit diesem Thema beschäftigen. Was Sie
aber vorschreiben wollen, ist, dass jedes einzelne Unternehmen mit mehr als 15 Mitarbeitern ein Lohnfeststellungsverfahren durchführt.
({4})
Das sind über 300 000 Unternehmen in Deutschland. All
diese 300 000 Unternehmen sollen ein Lohnfeststellungsverfahren durchführen und dann das Ergebnis der
Antidiskriminierungsstelle melden. 300 000 Berichte an
die Antidiskriminierungsstelle - ich frage mich, ehrlich
gesagt, was das bringen soll.
({5})
Mit 300 000 Datensätzen wird die Antidiskriminierungsstelle schlecht arbeiten können. Deshalb bin ich sehr
skeptisch, ob dies der geeignete Weg ist.
Ich erkenne an, dass Sie von dem Willen getragen
sind, dafür zu sorgen, dass sich mehr Unternehmen mit
diesem Thema beschäftigen. Ich erkenne auch an, dass
Sie die Tarifpartner in die Pflicht nehmen wollen.
({6})
Ich finde allerdings, man muss früher ansetzen. Die
Tarifpartner haben nämlich schon bei den Verhandlungen über Gehälter bzw. über Tarifverträge die Verantwortung, sich zu fragen: Was ist eine angemessene
Bezahlung für eine gewisse Qualifikation? Wie bewerten wir frauenspezifische Tätigkeiten? Legen wir hier
überhaupt gute und vergleichbare Kriterien an? Diese
Verantwortung haben die Tarifparteien schon bei den
Verhandlungen über Tarifverträge und Löhne.
({7})
An diesem Punkt haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer
wirklich eine Verantwortung, der sie gerecht werden
müssen.
Ich freue mich auf die Beratungen im Ausschuss;
denn ich finde, das Thema Entgeltgleichheit in Deutschland ist für unser Land ein wirklich wichtiges Thema.
({8})
Ich erkenne in diesem Gesetzentwurf Ihren guten Willen
an. Aber zustimmungsfähig ist er aus den genannten
Gründen nicht. Sie sind etwas über das Ziel hinausgeschossen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam zu konstruktiven, besseren Lösungen kommen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun Cornelia Möhring für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch aus Sicht der Linken ist es natürlich unbedingt erforderlich, dass wir endlich gesetzliche Regelungen treffen, um die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern zu beseitigen. Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD, mit Ihrem Gesetzentwurf machen Sie
zwar durchaus einen Schritt in die richtige Richtung,
aber er ist, wie ich finde, nicht ausreichend.
({0})
Sie können mit Ihrem Vorschlag zwar Ungleichheiten in
den Betrieben aufzeigen, aber konsequent beseitigen
können Sie damit die Ungleichheit nicht.
Problematisch finde ich, dass Sie damit die Forderung
nach einem Verbandsklagerecht, zum Beispiel für die
Antidiskriminierungsstelle, faktisch aufgeben. Betroffene müssen auch nach Ihrem Vorschlag weiterhin in
mühseligen Einzelklagen gegen Diskriminierungen dieser Art vorgehen. Das dauert viele Jahre, verschlingt viel
Geld der Betroffenen und ist kein wirksamer Ersatz für
die Möglichkeit, als Verband im Rahmen eines Bußgeldverfahrens - was Sie vorhaben - zu klagen. Es wäre aber
bitter nötig, hier wirkliche Schritte konsequent zu gehen.
Wir haben hier schon gehört: Frauen erhalten auch im
Jahre 2012 durchschnittlich immer noch ein Viertel
weniger Lohn als ihre männlichen Kollegen, obwohl sie
exakt das Gleiche tun, die gleiche Ausbildung und den
gleichen Verantwortungsbereich haben. Das ist ungeheuerlich und gehört genau wie die ungleiche Bezahlung
gleichwertiger Tätigkeiten endlich auf den Müllhaufen
der Geschichte.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Ihnen
an dieser Stelle Lilly Ledbetter vorstellen bzw. diejenigen, die sie kennen, an sie erinnern. Auf ihre Geschichte
geht der Equal Pay Day zurück, mit dem seit 2008 auf
die ungleiche Bezahlung aufmerksam gemacht wird. Wir
wissen, dass auch in diesem Jahr Frauen 84 Tage länger
arbeiten müssen, bis sie auf den gleichen Lohn wie die
Männer kommen.
Lilly Ledbetter war Angestellte einer Reifenfirma in
den USA und stellte kurz vor ihrer Pensionierung fest,
dass sie während der 19 Arbeitsjahre für dieselbe Arbeit
rund 200 000 Dollar weniger Gehalt bekommen hat. Sie
zog mit ihrer Klage bis zum obersten Gericht. Präsident
Obama unterzeichnete wenige Tage nach seinem Amtsantritt ein Gesetz, den Lilly Ledbetter Fair Pay Act, mit
dem Entgeltdiskriminierung aufgrund von Geschlecht,
Herkunft und Hautfarbe unterbunden werden soll. Das
brauchen wir auch,
({2})
und zwar ohne Schlupflöcher und zusätzlich mit dem
Recht auf einen Diskriminierungsausgleich versehen.
Denn auf ähnliche Differenzen kommen wir auch hierzulande.
Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen, wie viel
weniger eine Frau über 35 bis 40 Berufsjahre mit gleicher Ausbildung und bei gleicher Arbeit bekommt als
ein Mann. Eine Großhandelskauffrau erhält circa
564 Euro weniger Monatsgehalt. In 40 Jahren kommen
wir auf eine Summe von knapp 271 000 Euro. Bei einer
Köchin beträgt die monatliche Differenz 210 Euro. Das
sind nach 40 Jahren immerhin stattliche 100 000 Euro.
Einer Ärztin entgehen in 35 Jahren 441 000 Euro, nur
weil sie eine Frau ist. Wenn wir gleichwertige Arbeiten
vergleichen, nämlich die einer Erzieherin und die eines
Maschinenschlossers, muss die Kollegin, die sich um
unser aller Nachwuchs kümmert, für 231 000 Euro weniger Gehalt arbeiten als der Mann.
100 000, 231 000, 270 000, 440 000 Euro: Ich meine,
das sind schon stattliche Summen. Dabei sind die entgangene Altersvorsorge und die geringere Lebensqualität noch nicht einmal mit eingerechnet.
Das ist schlicht Lohnraub.
({3})
Liebe Frauen im ganzen Land, wenn wir überlegen, was
uns durch diesen Lohnraub entgangen ist und noch entgeht, muss ich sagen: Es ist viel zu viel, um nett „Bitte,
bitte macht das nicht wieder!“ zu sagen.
({4})
Für Raub müssen Räuber eigentlich lange in den
Knast, für Diebstahl und Betrug übrigens auch. Wir
könnten doch in diesem Falle von so einer schweren
Strafe absehen und den vorenthaltenen Lohn in ein zinsloses Darlehen verwandeln. Wenn Frauen in Rente
gehen, gibt es die Rückzahlung cash oder auf die schwäbische Art: als Häuschen.
Bis wir das erkämpft haben, streiten wir auch weiterhin für ein Gesetz, das Entgeltungleichheit gar nicht erst
entstehen lässt. Damit es eine echte Durchsetzungschance gibt und nicht die Einzelnen den mühseligen Klageweg beschreiten müssen, brauchen wir zusätzlich das
Recht der Verbände, zu klagen. Dem Antrag der Linken
dazu dürfen Sie dann im Oktober gerne zustimmen,
wenn Sie es ernst meinen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Nicole Bracht-Bendt für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Grundgesetz bestimmt in Art. 3 Abs. 2 und 3, dass niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden
darf. Trotzdem wissen Sie und ich, dass Frauen in
Deutschland außerhalb des öffentlichen Dienstes im
Durchschnitt 23 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen. Das wollen wir nicht nur ändern; das müssen wir
ändern.
({0})
- Wartet mal ab!
Dass die SPD-Fraktion zu ihrer Allzweckwaffe greift
und sagt: „Ein Gesetz muss her“, ist nichts Neues.
({1})
Zudem ist der Gesetzentwurf widersprüchlich. In der
Begründung heißt es, der Staat als Handelnder solle sich
so weit wie möglich zurückhalten. So weit, so gut: Diesen Satz können wir Liberalen mittragen. Dagegen heißt
es aber schon im nächsten Absatz der Begründung wörtlich:
Die Verpflichtung zur Untersuchung betrieblicher
Entgeltsysteme kann allerdings nicht ohne staatliche Einwirkung durchgesetzt werden.
Denn die SPD-Fraktion glaubt, ohne Gesetz funktioniert
in unserem Lande nichts. Das ist der elementare Unterschied zwischen uns und Ihnen.
({2})
Gerade die Tarifautonomie ist ein wichtiger Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft und ein Grund, warum
unser Land wirtschaftlich erfolgreich ist. Ein Gesetz, das
die Tarifhoheit der Tarifpartner untergräbt, kommt für
die FDP-Fraktion nicht infrage.
({3})
Außerdem käme auf die Unternehmen ein neues
Bürokratiemonster zu. Das steht im krassen Gegensatz
zu den Bemühungen der christlich-liberalen Koalition
um den Bürokratieabbau. Anstatt die Tarifautonomie
auszuhebeln, sollte die SPD-Fraktion mit den Gewerkschaften reden.
({4})
Typische Frauenberufe werden trotz individueller Lohnverhandlungen ja bekanntlich häufig schlechter bewertet
und vergütet als klassische Männerberufe. Hier können
die Gewerkschaften gegensteuern.
Wir haben schon in den vorausgegangenen Debatten
festgestellt: Um Entgeltgleichheit herzustellen, müssen
wir die Ursachen für die Unterschiede aufdecken und
entsprechend handeln. Wir sind dabei, dies zu ändern;
das wissen Sie. Stichwort Logib-D: Hinter diesem sperrigen Begriff steckt ein sehr wichtiges Instrument. Es
geht um Transparenz. Offenlegung der Gehälter ist der
beste Weg zu fairen Gehaltsstrukturen.
({5})
Ich bin sicher: Wenn klar ist, in welchen Bereichen und
auf welcher Ebene Differenzen bei den Gehältern bestehen, schafft dies nicht nur für das Unternehmen Klarheit.
({6})
Unter Bewerbern wird sich schnell herumsprechen, welches Unternehmen Männer besser bezahlt als Frauen.
Um die Lohnlücke zu schließen, müssen wir drei
Ursachen im Blick behalten. Erstens. Frauen sind in
Berufszweigen, in denen es nur wenige Aufstiegsmöglichkeiten gibt, überrepräsentiert.
Zweitens. Frauen entscheiden sich häufig für Berufe
im unteren Einkommensniveau. Eine Diplompädagogin
verdient heute durchschnittlich 2 500 Euro, während ein
Absolvent eines Studiengangs für Umwelttechnik schon
beim Einstiegsgehalt mit 1 000 Euro darüber liegt. Die
Berufswahl ist noch immer eines der entscheidenden
Kriterien für die Gehaltsentwicklung.
Die dritte Ursache ist hinlänglich bekannt. Je länger
die Familienphase, in der die Frau aus dem Beruf aussteigt, desto schwieriger wird auch der Wiedereinstieg.
Junge Frauen müssen sich die Konsequenzen klarmachen; darauf müssen wir hinwirken. Die Lohnlücke, die
während der Familienphase entsteht, wird häufig nicht
mehr geschlossen; darauf wurde schon mehrmals hingewiesen. Abgesehen davon bedeutet weniger Gehalt automatisch weniger Rente. Nach Berechnungen des DIW
klafft die Einkommensschere in höheren Positionen am
meisten auseinander. Das ist ein Skandal. Hier sind die
Unternehmen und auch die Frauen in der Pflicht.
Am Dienstag veröffentlichte das Forsa-Institut das
Ergebnis einer Umfrage, das die Situation widerspiegelt.
„Der Frauenanteil bei Weiterbildungen ist hoch“, ist das
Ergebnis. Schön! Aber die Männer ziehen aus ihrem
Weiterbildungsengagement einen größeren Nutzen.
Während über die Hälfte von ihnen aufgrund ihrer Fortbildung mehr Verantwortung oder eine Beförderung erhalten hat, sind es bei den Frauen deutlich weniger. Der
Auftraggeber der Studie, die Fernschule ILS, kommt zu
dem Schluss - ich zitiere -:
Daher sollten insbesondere Frauen Initiative zeigen
und ihr persönliches Engagement stärker in den
Vordergrund stellen …
Dass Frauen selbstbewusster ihre Rechte einfordern
und ihre Karriere verfolgen, ist nicht das einzige Ziel,
das wir gemeinsam verfolgen müssen, wohl aber ein
wichtiges. Die Politik der Liberalen folgt dem Grundsatz: Frauen und Männer arbeiten auf Augenhöhe.
Gleiches Gehalt für gleiche Arbeit muss deshalb selbstverständlich sein. Politik, Unternehmen und Frauen
müssen gemeinsam an einem Strang ziehen.
({7})
Ein weiteres Gesetz ist aus Sicht der FDP-Fraktion nicht
der richtige Weg; da sind wir wieder einmal anderer
Meinung als Sie. Deshalb werden wir dem Gesetzentwurf der SPD nicht zustimmen.
Danke schön.
({8})
Beate Müller-Gemmeke für Bündnis 90/Die Grünen
hat nun das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zahlen und Fakten sind bekannt.
Wir müssen nicht mehr beweisen, dass Frauen weniger
verdienen als Männer. Auch die Ursachenforschung liegt
bereits hinter uns. Wir wissen: Es geht hier um Entgeltdiskriminierung. Das ist auch kein neues Phänomen. Seit
Jahren diskutieren wir über die Ungerechtigkeit der mittelbaren und unmittelbaren Diskriminierung von Frauen
auf dem Arbeitsmarkt. Wir Grüne haben Lösungen und
Konzepte entwickelt sowie einen entsprechenden Antrag
eingebracht. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf der SPD vor,
den wir sehr begrüßen. Trotzdem müssen wir in den
Debatten hier im Bundestag immer und immer wieder
bei Adam und Eva beginnen. Die Beharrlichkeit, das
Thema auszusitzen, nervt einfach und wird diesem
Thema wahrlich nicht gerecht.
({0})
An die Regierungsfraktionen gerichtet kann ich nur
sagen: Wenn Sie weiterhin meinen, dass der Verweis auf
mehr Kinderbetreuung und auf die Tarifautonomie ausreicht, Frau Schön, oder wenn Ministerin Schröder vorschlägt, Frauen sollten einfach mehr technische Berufe
erlernen, damit sie mehr verdienen, haben Sie das Problem in seiner Reichweite einfach nicht verstanden.
({1})
Es geht nicht allein darum, dass Arbeit gleich bezahlt
wird, sondern auch darum, gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit durchzusetzen. Es geht darum, die Kriterien,
nach denen Arbeit bewertet wird, geschlechtsneutral
auszugestalten. Anders ausgedrückt: Es geht um den gesellschaftlichen Wert von Arbeit von Frauen, also auch
um Wertschätzung.
Realität in Deutschland ist aber: Die schlecht bezahlten Berufe sind noch immer Frauensache. So werden
beispielsweise in den typischen Frauenberufen im sozialen Bereich die dort unentbehrlichen Fähigkeiten wie
soziale Kompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und Teamgeist ganz selbstverständlich
erwartet. Die Anforderungen sind hoch, und die Frauen
tragen viel Verantwortung für Menschen. Dennoch wird
ihre Arbeit nicht ausreichend wertgeschätzt. Das ist
nicht fair und schon gar nicht gerecht.
({2})
Aber die Entgeltdiskriminierung ist nicht allein ein
Nischenproblem der klassischen Frauenberufe; sie zieht
sich vielmehr quer durch alle Beschäftigungsfelder. Wieder an die Adresse der Ministerin Schröder: Natürlich
verdient eine studierte Bauingenieurin mehr als eine
Altenpflegerin, aber - und hier liegt das Problem - sie
verdient dennoch weniger als ihr männlicher Kollege.
Das soll die Ministerin erst einmal den vielen gut ausgebildeten und motivierten jungen Frauen erklären. „Augen zu und durch“ ist einfach zu wenig.
({3})
Um den Dornröschenschlaf, in dem Sie sich offenbar
befinden, noch ein wenig mehr zu stören, hier ein paar
Zahlen: In Baukonstruktionsberufen verdienen Frauen
rund 30 Prozent weniger als Männer, Physikerinnen
erhalten 24 Prozent weniger und Grafikerinnen in der
Regel 33 Prozent. Die Lohnlücke in der Gebäudereinigung liegt bei 26 Prozent und selbst für Callcenter ist
eine weibliche Beratung 22 Prozent günstiger. Zudem
bekommen Frauen weniger Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und Gewinnbeteiligung, und sie werden seltener befördert als Männer. Diese traurige Realität gilt es endlich
zu ändern.
({4})
Wem diese Aufzählung immer noch nicht reicht, für
den habe ich noch folgende Zahlen: Frauen mit Hochschuldiplom verdienen durchschnittlich 3 534 Euro,
Männer hingegen 4 590 Euro. Das ist eine unvorstellbare Differenz von satten 1 056 Euro. Je älter die Akademikerin ist, desto größer ist der Gehaltsunterschied. Sollten diese Zahlen den Regierungsfraktionen bislang nicht
geläufig sein, so kann ich diese zur Horizonterweiterung
gerne zur Verfügung stellen.
({5})
Mittlerweile müsste also klar sein, dass freiwillige
Regelungen zu nichts geführt haben. Die Strategie ist gescheitert;
({6})
denn die alten Strukturen sind beharrlich. Notwendig ist
eine faire Bewertung von Arbeitsanforderungen und Tätigkeiten, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei
um typische Frauen- oder Männerberufe handelt. Wir
brauchen endlich gesetzliche Regelungen.
({7})
Ein Gesetzentwurf und ein Antrag liegen jetzt vor. Ich
freue mich auf die weiteren Beratungen in den Ausschüssen und auf die Anhörung. Natürlich werde ich
auch einige Fragen an die SPD haben: Wie soll beispielsweise die kursorische Prüfung aussehen? Können
damit wirklich ausreichend Verdachtsmomente aufgedeckt werden? Warum sollen die Prüfungen der Tarifverträge nicht mehr im Mittelpunkt stehen? Sind die sogenannten sachverständigen Personen wirklich überall
notwendig? Kurzum: Wir werden eine interessante
Diskussion haben. Ganz wichtig: Wir werden endlich inhaltlich über Konzepte diskutieren können.
({8})
Mit Blick auf die Regierungsfraktionen möchte ich
diese Diskussion heute mit einem Satz Goethes beschließen. Ich zitiere:
Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug, zu wollen, man muss
auch tun.
Liefern Sie also nicht nur Lippenbekenntnisse! Beschäftigen Sie sich endlich ernsthaft mit der Entgeltdiskriminierung und vor allem mit Lösungen! Vorschläge,
wie das gehen kann, liegen ja auf dem Tisch. Damit die
Arbeit von Frauen nicht länger zum Schnäppchenpreis
zu haben ist. Es muss Schluss sein mit dem Dauerrabatt
von 23 Prozent.
Vielen Dank.
({9})
Nun ist Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion
an der Reihe.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Müller-Gemmeke hat Goethe zitiert. Dem will ich
nicht nachstehen.
({0})
Es gibt ein sehr schönes Zitat von Goethe, das für Ihre
Rede genauso zutrifft wie vermutlich für den Gesetzentwurf. Es lautet:
Wo viel Licht ist, ist starker Schatten.
({1})
Meine Damen und Herren, ich bin kein Jurist.
({2})
Aber wenn ich so einen Gesetzentwurf zu beurteilen
habe, schaue ich mir zunächst das Recht, die Gesetze,
an, um eine gewisse Grundorientierung zu bekommen.
Dann stößt man natürlich - die Kollegin Bracht-Bendt
hat das schon erwähnt - auf Art. 3 des Grundgesetzes.
({3})
Weiterhin stößt man auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, in dem es ganz deutlich heißt: Benachteiligungen sind unzulässig, auch mit Bezug auf das Arbeitsentgelt.
({4})
Hinzu kommen eine Reihe von europäischen Regelungen, die deutlich sagen: Bei gleicher Arbeit ist gleiches
Entgelt für Männer und Frauen eine Selbstverständlichkeit.
({5})
Die Rechtslage ist zunächst einmal eindeutig. Verehrte Frau Ferner, das hat die rot-grüne Bundesregierung
im Jahre 2002 offensichtlich auch so gesehen. Sie zitieren den Bericht zur Berufs- und Einkommenssituation
aus dem Jahr 2002. Sie malen die tarifliche Entgeltdiskriminierung dort in relativ drastischen Farben.
Ich habe mir diesen Bericht angeschaut und mich
gefragt: Was hat denn die rot-grüne Bundesregierung damals gemacht?
({6})
Hat sie mutig Initiativen ergriffen? Hat sie Gesetzgebungsverfahren eingeleitet? Nein, das hat sie nicht gemacht.
({7})
Die rot-grüne Bundesregierung hat gesagt: Wir machen
mal eine Konferenz darüber und schauen dann weiter.
({8})
Dann habe ich mich gefragt: Woher kommt denn das?
Das kommt nicht zuletzt daher, Frau Ferner, dass im Bericht steht - ich zitiere jetzt -:
Nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen Rechtslage
sind unmittelbare Lohndiskriminierungen heute so
gut wie nicht mehr festzustellen.
({9})
Meine Damen und Herren, natürlich gibt es ein geschlechtsspezifisches Lohngefälle; das ist doch ganz
klar. Frauen sind in besser bezahlten Positionen unterrepräsentiert und überrepräsentiert in Berufen, in denen
weniger bezahlt wird. Sie unterbrechen aufgrund familiärer Verpflichtungen ihre Berufstätigkeit häufiger und
arbeiten öfters in geringfügiger Teilzeit mit langfristig
negativen Folgen für die Einkommensentwicklung.
({10})
Rund zwei Drittel der geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede, also der Großteil, gehen auf diese strukturell
unterschiedlichen arbeitsplatzrelevanten Merkmale von
Männern und Frauen zurück.
({11})
Ein Drittel der Lohnlücke lässt sich nicht auf diese
sozialstrukturellen Ursachen zurückführen. Hier ist von
geschlechtsspezifischer Entgeltdiskriminierung auszugehen. Auf dieses Drittel fokussiert im Grunde genommen
der Gesetzentwurf der SPD.
Was wollen Sie? Vereinfacht: mehr Staat.
({12})
Da ist die Rede von Antidiskriminierungsverbänden und
von der Antidiskriminierungsstelle, die sowohl Antidiskriminierungsverfahren als auch sachverständige Personen nach etwas unklaren und wenig eindeutigen Kategorien zertifizieren soll. An dieser Stelle fühle ich förmlich
schon bei den Arbeitgebern eine gewisse Unruhe, was
die Folgekosten und bürokratischen Auflagen angeht.
({13})
Aber auch die Gewerkschaften bekommen etwas ab:
Tarifverträge sollen einer Überprüfung unterzogen werden können - beinahe mit einem Generalverdacht gegen
die Sozialpartner.
({14})
Dabei sind die Tarifvertragsparteien zu diskriminierungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohnfindungsverfahren verpflichtet. - Glauben Sie ernsthaft, dass es in
Deutschland eine einzige Gewerkschaft gibt, die eine
Diskriminierung beim Entgelt in ihren Tarifverträgen zulässt? Ich glaube das nicht. Als überzeugter Gewerkschafter kann ich nur sagen: Wir brauchen keinen Staatskommissar für Tarifverträge.
({15})
Das alles soll dann auch kaum Folgekosten verursachen. Für die Betriebe ab 15 Personen könnten - das
schreiben Sie verschämt in Ihrem Gesetzentwurf - Kosten nicht beziffert werden. Die Bürokratiekosten setzen
Sie mit 2 Millionen Euro an, was grotesk niedrig ist. Die
Kosten für die Sachverständigen werden komplett unterschlagen.
Dann wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf die betrieblichen Interessenvertretungen gesetzlich verpflichten, sich um die Herstellung von Entgeltgleichheit zu
kümmern. Ein Blick ins Gesetz hilft ja bisweilen bei der
Klärung der Rechtslage; denn genau diese Verpflichtung
ist bereits im Betriebsverfassungsgesetz festgeschrieben:
Der Betriebsrat hat die Einhaltung des Diskriminierungsverbotes zu überwachen und sich aktiv für eine
tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern
einzusetzen.
An dieser Stelle bringt es also nichts, wenn Sie mit Ihrem Gesetzentwurf alten Wein in neue Schläuche fließen
lassen. Es wird vielmehr ein ganz anderes Problem deutlich: Immer weniger Beschäftigte in unserem Land werden von einem Betriebsrat vertreten. In der Privatwirtschaft waren dies im Jahr 2009 nur noch 44 Prozent der
Beschäftigten. Dabei wurde in mehreren Studien nachgewiesen, dass in Betrieben mit Betriebsrat die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern über
das gesamte Einkommensspektrum hinweg geringer sind
als in Betrieben ohne Betriebsrat. Daher mein Petitum:
Lassen Sie uns die betriebliche Mitbestimmung weiter
befördern!
({16})
Lassen Sie uns vor allem dort aufklären, wo Belegschaften aus Angst vor Repressalien keinen Betriebsrat gründen!
Ihr Gesetzentwurf dagegen führt für die Betriebe und
für die öffentliche Hand zu mehr Verwaltung und Kosten
und gefährdet Arbeitsplätze. Das ist angesichts der Bedeutung des Themas bedauerlich. Der Gesetzentwurf
enthält auch eine Überlegung, die ich sinnvoll finde,
nämlich die Stärkung der Individualrechte.
({17})
Wichtig ist gerade ein Recht auf Auskunft darüber, welche Kriterien für die Bemessung des Entgelts bzw. die
Entgeltfindung herangezogen worden sind. Eine solche
Transparenz erhöht den Druck zur Schaffung von mehr
Gerechtigkeit beim Arbeitsentgelt für Männer und
Frauen beinahe natürlich. Ich denke aber auch, dass dies
in Betriebsvereinbarungen durchaus festgeschrieben
werden kann. Dazu bedarf es keiner gesetzlichen Regelung.
Meine Damen und Herren, die gesetzlichen Regelungen sind weitgehend vorhanden. In der Bildung dient die
Wiederholung der Stofffestigung, in der Gesetzgebung
nicht. Wir brauchen kein neues Gesetz, das mehr Bürokratie hervorbringt. Wir müssen die bestehenden Regelungen besser umsetzen.
({18})
Deswegen brauchen wir auch diesen Gesetzentwurf der
SPD nicht, der zwar die Denkungsart der SPD trefflich
illustriert, zur Problemlösung aber kein wirklich konstruktiver Beitrag ist.
({19})
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon seltsam: Immer wenn es darum geht, die grundgesetzlich verankerten Rechte von Frauen Realität werden zu lassen, ist das Geschrei auf der rechten Seite des
Hauses wirklich groß. Eingriff in die unternehmerische
Freiheit, zu viel Bürokratie - das hören wir immer an
dieser Stelle. Aber was ist das denn für ein Freiheitsverständnis, insbesondere liebe Kollegen von der FDP? Unternehmerische Freiheit bedeutet doch nicht, dass es dem
Unternehmer überlassen ist, Frauen schlechter zu bezahlen als Männer, wenn sie dieselbe oder eine gleichwertige Arbeit machen.
({0})
Wir leben hier in einem Rechtsstaat und nicht in einer
Bananenrepublik. Weil wir in einem Rechtsstaat leben,
haben wir als Gesetzgeber die Pflicht, das Gleichheitsgebot und das Diskriminierungsverbot, beide verankert in
Art. 3 Grundgesetz, durchzusetzen. Es reicht eben nicht
aus, liebe Frau Schön, am Equal Pay Day zu beklagen,
dass der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen
bei uns 23 Prozent beträgt. Wir müssen am Tag danach
auch etwas dagegen tun, zuallererst Frau Schröder und
Frau von der Leyen. Aber auch da kommt leider im Moment überhaupt nichts.
Frau Schröder macht das Angebot, das völlig untaugliche Logib-D-Verfahren gerade einmal 200 Unternehmen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Das reicht bei
weitem nicht aus. Wie ich höre, rennen die Unternehmen
Frau Schröder auch nicht gerade die Tür ein, um in den
Genuss dieses Verfahrens zu kommen. Es lohnt sich
nämlich für die Unternehmen, Frauen schlechter zu bezahlen als Männer. Solange Unternehmen mit Lohndiskriminierung Geld verdienen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, werden sie auch nicht von selber damit aufhören.
({1})
Eine der ersten Forderungen der Frauenbewegung
Ende des vorletzten Jahrhunderts war „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“.
({2})
Es ist ein Armutszeugnis, dass wir weit über 100 Jahre
später immer noch so gewaltige Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern haben. Nach Estland und der
Slowakei liegen wir in der EU an drittletzter Stelle.
({3})
Ich finde, dass man die Frauen in unserem Land mit
dieser Ungerechtigkeit nicht alleinlassen darf. Wir wollen ihnen helfen, zu ihrem Recht zu kommen. Wer eine
gesetzliche Regelung wie die, die wir hier vorschlagen,
ablehnt, muss auch sagen, wie er oder sie die Entgeltgleichheit auf anderem Weg durchsetzen will.
({4})
Das habe ich von Ihnen bisher aber nicht gehört - weder
von einem Mitglied der Regierungsfraktionen noch von
der Arbeitsministerin noch von der sogenannten Frauenministerin. Frau Merkel empfiehlt den Frauen schon einmal, einfach besser zu verhandeln, wenn es um ihr Geld
geht. Ich kann dazu nur sagen: Was für ein Zynismus!
Solange Frauen ihr gutes Recht vor Gericht gegenüber ihrem Arbeitgeber einklagen müssen, wird sich
nichts ändern. Eine Frau, die ihren Job behalten will,
wird auch wohl kaum gegen ihren Arbeitgeber vor Gericht ziehen. Deshalb ist das Erste, was geleistet werden
muss, Transparenz in die Lohn- und Gehaltsstrukturen in
den Betrieben zu bringen. In Österreich gibt es dazu bereits ein Gesetz. Das EU-Parlament hat am 24. Mai in einer Entgeltinitiative mehr Transparenz und vor allen
Dingen auch die Möglichkeit von Sammelklagen gefordert. Nur die Bundesregierung und CDU/CSU und FDP
weigern sich bisher, die Lohndiskriminierung von
Frauen zu beseitigen. Sie werden nächstes Jahr mit Sicherheit bitter zu spüren bekommen, dass das so nicht
geht.
({5})
Die Lohndiskriminierung - das haben wir eben gehört steigt mit dem Lebensalter. Trotz des Diskriminierungsverbots werden viele Teilzeitbeschäftigte und insbesondere Minijobberinnen schlechter bezahlt als Vollzeitkräfte. Die Lohndiskriminierung findet auch bei
akademischen Berufen statt, genauso wie bei Fachkräften oder bei ungelernten Kräften. Manchmal ist sie auch
in Tarifverträgen angelegt, wie man aus dem Tarifvertragsregister ersehen kann.
Eines ist klar: Das regelt sich nicht von alleine. Wir
legen diesen Gesetzentwurf heute vor, damit wir mehr
Transparenz bekommen. Vor allen Dingen legen wir diesen Gesetzentwurf vor, damit sich etwas ändert.
({6})
Wir sagen ganz klar: Es muss geprüft werden. Wie soll
man Entgeltdiskriminierung denn anders feststellen, als
dass man einmal schaut, wie die Gehaltsstrukturen sind?
Wir geben Regelungen vor, die zunächst einmal auf innerbetriebliche Maßnahmen setzen. Wir vertrauen da
auch sehr auf die Betriebsräte und die Gewerkschaften.
Natürlich bleibt dabei am Ende auch das Individualrecht
erhalten, Frau Kollegin.
Frauen können es sich nicht mehr leisten, während ihres Erwerbslebens mehrere Hunderttausend Euro - das
wurde angesprochen - liegen zu lassen. Wir können es
uns nicht mehr leisten, so viel Geld liegen zu lassen und
im Alter eine schlechtere Rente zu haben, im Fall der
Arbeitslosigkeit weniger Lohnersatzleistungen zu bekommen oder eine Grundsicherung beziehen zu müssen,
obwohl wir unser Leben lang genauso hart gearbeitet haben wie die männlichen Kollegen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, nehmen Sie sich dieses Themas endlich an. Hören Sie endlich auf, auf Analysen zu verweisen, die wir alle kennen,
und nichts zu tun. Wir müssen das Problem angehen.
Weit über 100 Jahre nach der erstmaligen Erhebung dieser Forderung ist jetzt die Zeit gekommen, etwas zu verändern, damit Frauen endlich denselben Lohn für dieselbe Arbeit bekommen wie Männer.
({8})
Das Wort hat nun Jörg von Polheim für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, wie so oft bei Ihnen gilt auch hier: Gut gemeint ist
das Gegenteil von gut gemacht.
({0})
Sie wollen - das ist bekanntlich eine Ihrer besten
Übungen - mit Ihrem sogenannten Entgeltgleichheitsgesetz wieder eine neue Bürokratieebene einziehen. Damit,
glauben Sie, ist das Problem gelöst.
({1})
Als Familienunternehmer kann ich Ihnen aus der Praxis
berichten, dass der Mittelstand als Rückgrat unserer Gesellschaft in seiner Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden muss.
({2})
Ihre komplizierten und überflüssigen Regeln erreichen
das Gegenteil. Die unternehmerische Handlungsfreiheit
muss erhalten bleiben.
({3})
Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD zur Durchsetzung des Entgeltgleichheitsgebots widerspricht dem
Gedanken der unternehmerischen Freiheit grundlegend
und ist auch ordnungspolitisch völlig verfehlt.
({4})
Vertragsfreiheit und Tarifautonomie sind unabdingbare
Grundlagen einer funktionierenden Marktwirtschaft.
({5})
Typisch für Sie ist der Reflex, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in die Pflicht zu nehmen. Sie sprechen
von sogenannten sachverständigen Personen, denen eine
wesentliche Rolle bei der Behebung von Informationsdefiziten zukäme. Aber Sachverständige sollten in erster
Linie von den Tarifparteien kommen, auch von den Unternehmen. Damit sind wir wieder beim alten Hut der
SPD: Sie fordern eine staatliche Bevormundung der Tarifparteien.
({6})
Hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen auf die
Haushalte machen Sie sich einen schlanken Fuß. Außerdem bemühen Sie sich noch nicht einmal, eine seriöse
Gegenfinanzierung vorzulegen. Der Etat der Antidiskriminierungsstelle soll einfach belastet werden.
({7})
- Wenn Ihnen sonst nichts mehr einfällt, dann fällt Ihnen
noch Mövenpick ein. Das ist typisch.
({8})
An dieser Stelle will ich noch einmal bekräftigen,
dass wir Liberale die Koalitionsfreiheit und die Tarifautonomie als absolut schützenswert erachten. Wir sind bewusst gegen einen gesetzlichen Eingriff. Wir treten für
Chancengleichheit und transparente Gehaltsstrukturen
von Männern und Frauen ein,
({9})
für welche vor allem die Qualifikation entscheidend ist.
({10})
Es mangelt auch nicht an einer Rechtsgrundlage zur
Entgeltgleichheit.
({11})
- Wer brüllt, hat nicht unbedingt recht; das wissen Sie. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz legt bereits
umfassend und eindeutig fest, dass für gleiche Arbeit
gleicher Lohn zu zahlen ist. Woran es mangelt, ist die
Umsetzung dieser gesetzlichen Regelung. Die wollen
wir allerdings ohne staatlichen Zwang erreichen.
Recht gibt uns auch die gestern in den Medien veröffentlichte Erhebung der Wirtschaftsberatungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers. Darin wird festgestellt,
dass der Frauenanteil in den Aufsichtsräten der Dax-30Unternehmen seit Anfang 2011 um mehr als ein Drittel
gestiegen ist ({12})
und das alles ohne staatlich verordnete Frauenquote, nur
durch freiwillige Vereinbarung. Sie sehen, meine Damen
und Herren: Nicht alles muss Vater Staat regeln.
({13})
Der erste Gleichstellungsbericht hat das auch gezeigt.
Darin wird insbesondere auf die strukturellen Unterschiede im Lebensverlauf von Frauen und Männern hingewiesen. Zentraler Punkt, der Frauen im Wettbewerb
mit Männern in der Karriereplanung noch immer benachteiligt, ist die nicht ausreichende Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Frauen nehmen noch immer den
weitaus größeren Teil der Elternzeit.
({14})
Wer über Jahre nicht im Betrieb ist, verpasst Karrierechancen, die später im Lebensverlauf nicht wiederkommen und schließlich zu Entgeltungleichheit führen.
Unsere Antwort darauf ist nicht die Zwangsquote,
sondern der Ausbau der Kinderbetreuungsmöglichkeiten
({15})
und die Einrichtung familienfreundlicher Unternehmen.
({16})
So hat die Bundesregierung unter anderem dafür gesorgt, dass 4 Milliarden Euro in die U-3-Betreuung fließen. Modellprojekte wie die „Kommunale Familienzeitpolitik“ führen zu einer besseren Verzahnung der
regionalen Kinderbetreuungsangebote und damit letztlich zu einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung.
({17})
Ich wiederhole: Entgeltgleichheit ist kein rechtliches
Problem, sondern eines der Umsetzung der vorhandenen
Möglichkeiten. Der Staat kann nicht die Aufgaben der
Wirtschaft und der Gesellschaft übernehmen. Sie sorgen
mit Ihrer Vorlage nur dafür, dass der deutsche Amtsschimmel immer besser im Futter steht und immer lauter
wiehert. Wir Liberalen jedenfalls werden dazu nicht die
Hand reichen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat nun Yvonne Ploetz für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum verdient eigentlich eine Grafikdesignerin rund
ein Drittel weniger als ein Grafikdesigner? Warum verdient eigentlich eine Buchhalterin rund ein Viertel weniger als ein Buchhalter? Das sind nicht die Ausnahmen;
das ist die Regel. Arbeitnehmerinnen wird in Deutschland rund ein Viertel ihres Lohns vorenthalten, und das
ist einfach völlig inakzeptabel. Jeder und jede hat das
Recht auf eine faire Bezahlung.
({0})
Nirgendwo in Europa geht die Lohnschere derart weit
auseinander wie in Deutschland: nicht in Frankreich,
nicht in Griechenland, nicht in Bulgarien. Sie wird sich
auch nicht schließen lassen, wenn wir nicht endlich Unternehmen gesetzlich dazu verpflichten, gleiche Löhne
für gleiche Arbeit zu zahlen.
({1})
Das kann mit einem Entgeltgleichheitsgesetz passieren,
wie es von der SPD im Entwurf vorgelegt wurde. Unsere
Diskussionspunkte hat meine Kollegin schon genannt.
Ich möchte etwas weiter gehen, weil die Lohnungleichheit zwischen Mann und Frau nur die Spitze des
Eisbergs ist. Im Laufe eines Arbeitslebens kommen bei
Frauen sehr viele Diskriminierungen am Arbeitsmarkt
zusammen. Bekäme man nach dem gesamten Erwerbsleben, also für die Zeit vom Schulabschluss bis zur Rente,
einen Lohnzettel, dann stünde bei den Frauen unter dem
Strich im Vergleich zu den Männern nicht ein Minus von
23 Prozent, sondern ein Minus von 50 Prozent. Das liegt
an der unfairen Bezahlung. Das liegt daran, dass meist
immer noch Frauen die Erziehung von Kindern und die
Pflege der Eltern übernehmen. Das liegt daran, dass
Frauen viel zu oft in Minijobs ohne soziale Absicherung
arbeiten. Das liegt daran, dass Frauen mit Dumpinglöhnen abgespeist werden.
Vor zwei Tagen wurde bekannt, dass in Kitas immer
mehr Erzieherinnen als Leiharbeitnehmerinnen zu
1 000 Euro brutto beschäftigt werden.
({2})
Diese Frauen bringen eine unglaublich hohe Qualifikation mit. Sie tragen eine große Verantwortung bei der
Erziehung unserer Kinder. Sie müssen Vertrauen aufbauen. Diese Frauen kann man nicht beliebig ausleihen
und mit Hungerlöhnen unterhalb des Existenzminimums
abspeisen.
({3})
Das Mindeste, was ich von Ihnen als Regierende erwarte, ist ein Verbot der Leiharbeit in diesem sensiblen
Bereich.
Für die Frauen steigt übrigens auch das Risiko, im
Alter arm zu werden. Arbeitet eine Frau ein Leben lang
in einem 400-Euro-Job - das sind in Deutschland derzeit
5 Millionen Frauen -, dann hat sie einen Rentenanspruch
von 139,95 Euro monatlich. Es kann nicht Ihr Ernst sein,
dass Sie die 5 Millionen Frauen, die heute nicht wissen,
wie sie über die Runden kommen sollen, morgen sehenden Auges in die Altersarmut schicken wollen.
({4})
Mit welchem politischen Konzept wollen Sie diese
Frauen auffangen? Ich kann keines erkennen. Wir haben
eines: Wir wollen eine Mindestrente von 1 050 Euro und
gute Arbeit für jeden und jede.
({5})
Streiten Sie doch endlich mit uns gegen Hungerlöhne!
Jede Frau und jeder Mann muss für eine Stunde Erwerbstätigkeit mindestens 10 Euro erhalten. Diese Verrohung und diese Entsicherung am Arbeitsmarkt müssen
endlich ein Ende haben.
({6})
Nun kommt die Sommerzeit. Dies ist eigentlich die
Urlaubszeit. Haben Sie sich einmal auf der Straße umgehört, wie viele Menschen sich noch einen Urlaub leisten
können? Welche Familie mit Kindern, welche Frau, die
weniger Urlaubsgeld erhält als ein Mann, oder welche
Alleinerziehende mit zwei Kindern kann sich einen
Urlaub leisten? Es ist doch so: Die, die einen Urlaub am
dringendsten nötig haben, um endlich eine Woche der
Existenznot und der Armut zu entfliehen, können von
einem Urlaub nur träumen. Das ist wirklich eine
Schande.
({7})
Stellen Sie sich endlich auf die Seite von Alleinerziehenden! In Deutschland gibt es eine unglaubliche Armut
bei Kindern und Jugendlichen. Das hängt in vielen Fällen mit der Existenznot der Mütter zusammen. Um Kindern und Jugendlichen eine Perspektive für ihr Leben zu
bieten, müssen Sie die finanzielle Existenz ihrer Mütter
sichern. Sie müssen dafür sorgen, dass aus Überlebensstrategien, die wir häufig beobachten, endlich wieder
Strategien des Lebens werden.
({8})
Dabei ist das Thema „Vereinbarkeit von Familie und
Beruf“ immer aktuell. Nur wenn die Kinderbetreuung
wirklich stimmt, müssen die Frauen keine prekäre
Beschäftigung annehmen, um Familie und Beruf unter
einen Hut zu bekommen. In Deutschland werden aber
nur 20 Prozent der Kinder unter drei Jahren ganztags
betreut. In Dänemark sind es 64 Prozent. Dort geht die
Gleichung „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ auf.
Trotz dieser ernüchternden Zahlen veranstalten Sie ein
selbstherrliches Theater um das Betreuungsgeld. Ich
sage Ihnen: Unser Widerstand ist Ihnen sicher, wenn Sie
Milliarden verschwenden, statt Kitaplätze auszubauen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen Sie, was ich
denke? Wenn wir die Diätenerhöhung aller Abgeordneten im Bundestag einmal an die Erhöhung der Löhne von
Frauen in der Gesellschaft koppeln würden, dann hätten
wir bald die Entgeltgleichheit. Darauf wette ich.
({10})
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir uns Deutschland im europäischen Vergleich
anschauen, werden wir feststellen, dass wir in bestimmten Punkten weit zurückliegen: Wir liegen zurück bei der
Kinderbetreuung. Wir liegen zurück bei der Vollerwerbstätigkeit von Frauen. Wir liegen zurück bei
Frauen in Führungspositionen. - Nur in einem Punkt
sind wir Europameister: bei der Entgeltungleichheit von
Frauen und Männern.
({0})
Dass eine Frau im Schnitt ein Vierteljahr länger arbeiten
muss, um dasselbe Jahresgehalt wie ein Mann zu erhalten, ist ein politischer Skandal in diesem Land.
({1})
Die Zahlen sind genannt worden. Ich will sie nicht wiederholen.
Die Position der Familienministerin ist ein weiterer
Skandal.
({2})
Sie sagt: Die Frauen sind selber schuld. Entweder verhandeln sie nicht richtig oder arbeiten Teilzeit. Demzufolge sind sie die Urheber der Lohnungleichheit. - Das
ist die Antwort der Familienministerin. Sie kämpft jetzt
dafür, dass sie die Federführung bei diesem Thema bekommt; aber sie hält es ja noch nicht einmal für notwendig, an der Debatte teilzunehmen. Das ist die Wertschätzung, die sie diesem Thema zukommen lässt: Sie bezieht
noch nicht einmal Position dazu.
({3})
Schlimmer noch: Sie macht die Lohnungleichheit zu
einem Privatproblem der Frauen; demnach sind die
Frauen anscheinend selber schuld daran. Sie privatisiert
ein gesellschaftliches, ein politisches Problem. Deswegen wollen wir nicht, dass sie hier die Federführung
erhält; dann wäre wirklich Hopfen und Malz verloren.
({4})
Herr Kollege, ja, wir wollen die Aufwertung der typischen Frauenberufe. Wir wollen nicht, dass Frauen massenweise Männerberufe ergreifen, um auf ein gleiches
Entgelt zu kommen, sondern wir wollen die Aufwertung
der Frauenberufe, weil unsere Gesellschaft diese Berufe
braucht. Wir brauchen auch mehr Männer in diesen
Berufen.
({5})
Ich nenne Ihnen ein aktuelles Beispiel: den Erzieherinnenmangel. In Deutschland fehlt es uns nicht nur an
Betreuungsplätzen, sondern auch an Personal, auch an
männlichem Personal. Wenn wir es nicht schaffen, den
Beruf der Erzieherin qualitativ aufzuwerten und besser
zu entlohnen, dann werden Sie keinen einzigen Mann für
diesen Beruf gewinnen, und schon jetzt ist die Suche
nach qualifizierten Frauen extrem schwierig. Vermutlich
wird in Zukunft überhaupt keine Frau mehr diese Ausbildung machen. Wozu drei und mehr Jahre lernen, wenn
man dafür den schlechtesten Lohn erhält? Das ist der
Grund, warum wir Entgeltgleichheit in diesem Land
wollen. Wir benötigen diese Berufe, und dort wird überaus anspruchsvolle Arbeit geleistet. Darum müssen wir
sie aufwerten und besser anerkennen.
({6})
Es geht - das hat meine Kollegin Beate MüllerGemmeke bereits gesagt - um die Wertschätzung der
Arbeit, die die Frauen gerade in diesen Dienstleistungsberufen erbringen.
Wenn wir über Lohnungleichheit reden, dann beschränkt sich das nicht auf das aktuell bezogene Gehalt,
sondern es geht auch um die Konsequenzen. So führt die
Lohnlücke zu einer durchschnittlichen Rentenlücke von
59 Prozent. Das können Sie doch nicht ignorieren! Sie
ignorieren den Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Sie wollen noch nicht einmal darüber reden.
({7})
Warum? Weil Ihnen die Ergebnisse nicht passen. Heutige Lohnungleichheit führt zu späterer Altersarmut.
Auch diesem Problem müssen wir uns stellen, und zwar
heute und nicht erst in der Zukunft.
({8})
Was wollen wir Grüne? Wir wollen gleichen Lohn für
gleiche und gleichwertige Arbeit. Wir wollen die Quote
und ein Gleichstellungsgesetz; denn flexibel waren wir
in diesem Land schon lange genug. Jetzt wollen wir kon21898
krete Taten und verbindliche Regelungen sehen. Dafür
stehen die Grünen ein.
({9})
Ich will noch ein letztes Argument bringen. Wir reden
über Wertschätzung, über Anerkennung der Arbeit, über
die Anerkennung der Erziehungsleistungen von Eltern,
die ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte bringen.
Wer in diesem Land redet aber über die Anerkennung
und Wertschätzung der Arbeit von Müttern, die arbeiten,
um ihre Existenz zu sichern, und gleichzeitig Kinder
erziehen?
({10})
Wer redet über die Anerkennung der Arbeitnehmerinnen, die das Ganze deshalb auf sich nehmen, weil sie
nicht von Hartz IV leben wollen? Wer redet über diese
Doppelbelastung von Frauen? Sie definitiv nicht. Diese
Belastung ist jedoch ein Problem in unserer Gesellschaft. Darum müssen wir uns kümmern.
({11})
Das Wort hat nun Katharina Landgraf für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frauen werden in Deutschland durchschnittlich
schlechter bezahlt und seltener befördert als Männer. Das
ist eine Tatsache, die leider nicht zu leugnen ist. Frauen
erhalten auch seltener Sonderzahlungen wie Urlaubsund Weihnachtsgeld oder Gewinnbeteiligungen. Das
zeigt die neueste Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung.
Bei den Frauen spielt auch der Freizeitausgleich für
Überstunden eine deutlich größere Rolle, sicher familienbedingt; denn eine Barauszahlung erhalten eher die Männer. Die Summe der Ergebnisse dieser Umfrage lässt
vermuten, dass weibliche Beschäftigte auch in naher Zukunft den Lohnabstand kaum aufholen werden. 31 Prozent der Männer, aber nur 21 Prozent der Frauen gaben
an, dass sie in ihrem gegenwärtigen Betrieb schon einmal
befördert worden sind.
Lassen Sie mich kurz die Gründe für dieses Dilemma
erläutern. Meiner Ansicht nach gibt es drei wesentliche
Ursachen für die Entgeltungleichheit zwischen Frauen
und Männern: Erstens. Frauen fehlen in bestimmten
Berufen, Branchen und auf den höheren Stufen der Karriereleiter. Zweitens. Frauen haben häufigere und längere
familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und -reduzierungen als Männer. Drittens. Typische Frauentätigkeiten
werden trotz individueller und kollektiver Lohnverhandlungen immer noch schlechter bewertet und bezahlt.
In einigen Fällen werden Frauen aber auch schlechter
bezahlt, weil sie einfach Frauen sind. Ein Teil des Lohnunterschieds lässt sich nicht mit den eben genannten Ursachen erklären; das ist eben einfach Diskriminierung.
({0})
Beispielsweise werden Frauen im Hinblick auf eine
potenzielle Schwangerschaft oft schon zu geringeren
Einstiegsgehältern angestellt. Das ist ein unhaltbarer Zustand, nicht nur, weil es ungerecht ist, sondern auch aus
wirtschaftspolitischer Sicht.
({1})
- Beschweren Sie sich doch nicht, wenn Sie mit mir
einig sind.
({2})
Wir versuchen zusammen mit Akteuren aus der Wirtschaft, die Ursachen der Entgeltungleichheit mit konkreten Maßnahmen zu bekämpfen. Durch bessere Rahmenbedingungen wollen wir die Karrierechancen von Frauen
und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern.
({3})
Hier einige Beispiele: die Initiative „Familienbewusste
Arbeitszeiten“, das Programm „Perspektive Wiedereinstieg“,
({4})
der Girls’ Day, die MINT-Initiativen, der stetige Ausbau
der Kinderbetreuung und die Partnermonate beim
Elterngeld. Wir müssen über die Konsequenzen des
Berufswahlverhaltens der Mädchen informieren und helfen, Erwerbsunterbrechungen zu vermindern.
Weil Frauen besonders häufig für Dumpinglöhne
arbeiten müssen, ist die Forderung nach einem Mindestlohn als Lohnuntergrenze in diesem Zusammenhang ein
wichtiges Thema.
({5})
Da sind wir seit unserer letzten Debatte im März zum
Equal Pay Day ein gutes Stück vorangekommen: Ende
April hat die Unionsfraktion ein Konzept für die Einführung einer Lohnuntergrenze vorgestellt. Das Eckpunktepapier sieht vor, eine tarifoffene, allgemeine Lohnuntergrenze einzuführen. Über deren Höhe entscheidet nicht
der Staat, sondern entscheiden die Tarifpartner. Somit
bleibt die Tarifautonomie gewahrt.
({6})
Die Kanzlerin wird das Thema in den Koalitionsausschuss einbringen, und ich bin zuversichtlich, dass wir
uns noch in dieser Legislaturperiode einigen werden.
({7})
Das wird ein guter Schritt auf dem Weg zu einer gerechteren Entlohnung für Frauen sein.
Ein weiteres Problem ist der schon erwähnte geringe
Anteil von Frauen auf höheren Leitungsebenen. Frauen
liegen derzeit bei der Besetzung von gut dotierten Führungspositionen in der Wirtschaft weit zurück; das ist
schon gesagt worden. Es ist zwar zu begrüßen, dass die
30 Dax-Unternehmen den Frauenanteil in Spitzenpositionen erhöhen wollen; doch die Wirklichkeit sieht anders aus.
({8})
Um tatsächliche Erfolge verzeichnen zu können, ist ein
Gesetz
({9})
- dieses Mal wirklich ein Gesetz - mit verbindlichen und
messbaren Vorgaben nötig.
({10})
Die entsprechenden Diskussionen und Beratungen laufen derzeit. - Die Diskussionen laufen doch!
({11})
Beim Abbau der Lohnunterschiede sind alle gefordert, nicht nur wir in der Politik. Vor allem Arbeitgeber
müssen dazu beitragen, und zwar rasch, damit nicht wieder etliche Jahre ins Land ziehen, in denen nichts passiert. Ein wichtiger Helfer für die Unternehmen ist dabei
das Analyseprogramm Logib-D. Damit kann die Höhe
des durchschnittlichen Unterschieds der Monatsgehälter
von Frauen und Männern in Unternehmen ermittelt werden,
({12})
außerdem auch die Ursache des Unterschiedes. Die Teilnahme ist freiwillig und kostenlos.
({13})
Deshalb appelliere ich heute an dieser Stelle wieder an
die Unternehmen, sich möglichst alle an der Selbstkontrolle zu beteiligen.
({14})
Im Rahmen der Gesamtstrategie müssen wir die
Frauen stark und selbstbewusst machen, damit sie die
Lohnverhandlungen für sich nutzen können. Es wird
zwar von Ihnen immer wieder abgestritten, aber das ist
ein ganz persönlicher Fakt. Starke und selbstbewusste
Frauen werden angesichts des Fachkräftemangels gerade
jetzt ihre Qualifikationen nutzen.
({15})
- Von Schuld rede ich hier gar nicht, Frau Ferner. Die
Frauen sollen ihre Qualifikationen nutzen. - Dazu gibt
es Hilfestellungen und Programme aus dem Familienministerium. Denn Männer haben weniger Probleme damit,
sich gut zu präsentieren und für eine angemessene Vergütung zu streiten.
({16})
Besonders vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels und, wie erwähnt, des Fachkräftemangels können und dürfen wir auf qualifizierte und hochmotivierte
Frauen nicht verzichten.
({17})
Weil diese entsprechend entlohnt werden müssen, brauchen wir gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit.
({18})
Das ist nicht nur im Sinne der Gleichberechtigung, sondern auch im Interesse der Wirtschaft.
({19})
Ich teile also das Anliegen der SPD, aber nicht den
Lösungsansatz. Der Einsatz von sachverständigen Personen, die aufklären und das bestehende Entgeltsysteme
in den Betrieben prüfen sollen, führt zu einem bürokratischen Monster. Im Streitfall müssen dann trotzdem
wieder die Gerichte entscheiden. Damit haben wir nichts
gewonnen und nur eine weitere Instanz dazwischengeschaltet.
Der bessere Weg ist die kreative Einsicht, prinzipiell
alle leistungsbezogen zu bezahlen. Das ist der beste Weg
für die gewünschte Entgeltgleichheit.
({20})
Daher rate ich von einem solchen Gesetz, wie es die
SPD-Fraktion hier vorgelegt hat, ab.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat nun Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Willy
Brandt hat einmal sehr gut auf den Punkt gebracht, wie
es um Gleichberechtigung in unserem Land steht: Emanzipation komme voran wie eine Schnecke auf Glatteis.
Recht hat er, vor allem, wenn ich mir diese schlappe Regierung und die Regierungsfraktionen anschaue.
({0})
Wir werden dieser Schnecke mit unserem Gesetzentwurf
Flügel verleihen, damit sich endlich was bewegt. Wir haben es nämlich satt, weitere Jahrzehnte auf die Durchsetzung von gleichen Löhnen für gleiche und gleichwertige
Arbeit zu warten.
({1})
Meine Damen und Herren, schauen Sie mich an!
Frauen meiner Generation erhalten fast 60 Prozent weniger Lebenserwerbseinkommen als Männer. Sie verdienen weniger, sie haben im Alter deshalb nur halb so viel
Rente.
({2})
Lohndiskriminierung zieht sich durch das ganze Leben.
Diese Ungerechtigkeit dürfen wir nicht länger zulassen.
({3})
Mit unserem Gesetzentwurf können wir Entgeltdiskriminierung aufdecken und diesen Rechtsbruch wirksam bekämpfen. Worauf warten wir also noch? Wir wollen Taten sehen!
({4})
Frauen haben in Bezug auf ihre Bildungsabschlüsse
die jungen Männer längst überholt. Beruflicher Erfolg ist
ihnen wichtig. Trotzdem werden sie auch heute noch auf
alte Rollenbilder zurückgeworfen. Sie, meine Damen
und Herren von CDU/CSU und FDP, machen genau das:
mit Ihrem Betreuungsgeld,
({5})
mit der Flexiquote und mit den unwirksamen Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Sie bekämpfen die Lohnlücke nicht und nageln Frauen so in überholten Mustern
fest.
({6})
- Natürlich stimmt das! - Frauen sind aber schon lange
keine Zuverdienerinnen mehr. Sie sind auf eigene existenzsichernde Löhne angewiesen, und sie haben ein
Recht darauf.
({7})
Traurige Tatsache ist: Frauen haben in Deutschland nach
wie vor ein Viertel weniger Lohn als Männer, und sie haben auch immer noch deutlich schlechtere Karrierechancen. In Führungspositionen muss man Frauen mit der
Lupe suchen.
Klar ist doch: Die Freiwilligkeitsvereinbarungen mit
der Wirtschaft sind gescheitert. Wir haben daraus gelernt. Schon in der Großen Koalition haben wir Ihnen
gemeinsam mit unserem damaligen SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz ein Entgeltgleichheitsgesetz vorgelegt.
Sie haben das blockiert und bis heute keinen wirksamen
Weg zur Lösung des Problems aufgezeigt.
({8})
Wir machen jetzt wieder Nägel mit Köpfen. Erstens.
Wir schaffen mit unserem Gesetz Transparenz. Solange
Frauen nicht wissen, was ihre Kollegen verdienen, wie
sollen sie da erkennen, dass sie benachteiligt werden?
Das ändern wir.
Zweitens. Wir lassen Frauen nicht länger im Regen
stehen. Natürlich können Frauen schon heute gegen
Lohndiskriminierung klagen. Aber wer macht denn das,
immer mit dem Risiko im Nacken, zu verlieren und
möglicherweise nie wieder einen guten Arbeitsplatz zu
finden? Wir lösen dieses Problem.
({9})
Drittens. Wir stärken Unternehmensverantwortung.
Wir schaffen den gesetzlichen Rahmen und überlassen
es den Unternehmen und Tarifparteien, Entgeltdiskriminierung aufzudecken und zu beheben. Besser geht es
doch nicht.
Viertens. Wir legen das Bürokratiemonster an die
Kette. Wir brauchen keine neuen staatlichen Stellen, um
Lohngerechtigkeit durchzusetzen. Unser Gesetzentwurf
sieht ein Minimum an Bürokratie vor. Unternehmen, die
gerechte Löhne zahlen, müssen dies nur offenlegen, und
fertig sind sie.
({10})
Verstoßen Unternehmen allerdings gegen das Lohngleichheitsgebot, hat das Konsequenzen. Wir haben in
unserem Gesetzentwurf Bußgelder bis zu 500 000 Euro
festgeschrieben. Das ist richtig so; denn ansonsten wäre
das Gesetz ein zahnloser Tiger.
({11})
Und wie sieht es mit der finanziellen Belastung der
Unternehmen aus?
({12})
Keine Frage, durch unser Gesetz werden Kosten anfallen
für die Berichte und möglicherweise für Sachverständige
und natürlich auch durch die Zahlung gerechter Löhne,
wenn vorher diskriminiert wurde. Das Tolle an unserem
Vorschlag ist aber, dass nur die tief in die Tasche greifen
müssen, denen unsere Grundrechte egal sind, und das ist
auch richtig so.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, mit unserem Gesetzentwurf ist uns ein guter Wurf gelungen. Wir
schaffen Gerechtigkeit, und wir machen Schluss mit der
beschämenden 23-Prozent-Lücke zwischen Männer- und
Frauenlöhnen. Unterstützen Sie deshalb unseren Gesetzentwurf!
({14})
Das Wort hat Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Frau Kollegin
Hiller-Ohm, Sie werden nicht überrascht sein: Wir tun
uns schwer, Ihren Gesetzentwurf zu unterstützen.
({0})
Ich will Ihnen auch sagen, warum: Es ist Tatsache, dass
Frauen in ganz Europa weniger verdienen als Männer
- da brauchen wir gar nicht um den heißen Brei herumzureden -,
({1})
und in Deutschland ist die Quote höher als im europäischen Durchschnitt. Dass Frauen im Schnitt 23 Prozent
weniger verdienen als Männer - bereinigt sind es 8 Prozent -, wurde von den Kollegen bereits angesprochen.
({2})
Aber Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität.
({3})
Wir haben gemeinsam das Ziel, die Entgeltungleichheit
abzuschaffen.
({4})
- Doch, Frau Kollegin. - Aber der Weg dahin unterscheidet uns ganz gewaltig. Statt ein bürokratisches
Monster zu schaffen, das allenfalls geeignet ist, dem von
den Grünen vorgelegten Entwurf eines WhistleblowerSchutzgesetzes, über den wir heute Nachmittag diskutieren werden, eine Grundlage zu geben, halten wir es für
sinnvoller, uns erst einmal die Ursachen anzuschauen:
Woran liegt die Entgeltungleichheit,
({5})
und wie schaffen wir es, diese abzubauen?
Die Ursachen sind vielfältig. Es ist nicht damit getan,
festzustellen, dass der böse Arbeitgeber sagt: Das ist
eine Frau; die bekommt deshalb weniger Geld. - Ursache ist, dass die Qualifikation und das Berufsverhalten
bei vielen jungen Frauen anders ausgeprägt sind.
({6})
In diesen Tagen fand die 50-Jahr-Feier der Bundes der
technischen Beamten statt. Dort wurde ausgeführt: Wir
tun uns schwer, Frauen für sogenannte MINT-Berufe Mathematik, IT, Naturwissenschaften, Technik - zu begeistern. Wenn sie ein entsprechendes Studium oder eine
entsprechende Lehre absolviert haben, sind die weiblichen Bewerber aber vielfach besser, wenn sie sich um einen Arbeitsplatz bewerben. Das heißt, die Frauen können das.
({7})
Warum stellen Arbeitgeber sie trotzdem nicht ein
bzw. zahlen ihnen etwas weniger?
({8})
Das liegt schlichtweg daran - die Kollegin hat das bereits ausgeführt -, dass die Möglichkeit der Familienplanung eingepreist wird. Da wird gesagt: Ja, es kann sein,
dass sie ausfällt.
({9})
- Frau Kollegin Ferner, Sie brauchen sich gar nicht so
aufzublasen.
({10})
Wir haben vor vier Jahren in der Großen Koalition mit
dem Ausbau der Kinderkrippenangebote und mit dem
Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der im nächsten
Jahr in Kraft tritt, Möglichkeiten zur Verbesserung der
Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf den Weg gebracht. All das ist Ihnen doch bekannt.
Die Qualität bzw. der Wert der weiblichen Arbeit
- die mangelnde Wertschätzung haben Sie, Frau Kollegin Müller-Gemmeke, zu Recht moniert - wird dadurch
gewaltig erhöht werden, dass die Frauen sagen können:
Wenn ich schwanger werde, muss ich nicht drei Jahre zu
Hause bleiben, sondern ich kann, wenn ich will, bereits
nach einem Jahr wieder meinem Beruf nachgehen. - All
dies haben wir gemeinsam mit Ihnen von der SPD auf
den Weg gebracht.
({11})
Das sollten Sie doch noch wissen.
Um den Unterschieden wirksam begegnen zu können,
({12})
müssen wir uns die Ursachen genau anschauen. Wir haben derzeit - auch das wird zur Herstellung von Entgeltgleichheit beitragen - etwa 1 Million Arbeitsplätze in
Deutschland, die nicht besetzt werden können. Das hat
Kollege Brauksiepe erst gestern im Ausschuss ausgeführt. Das heißt, wir werden die qualitativ hochwertige
Arbeit der Frauen in Zukunft noch viel stärker brauchen
als vor fünf oder zehn Jahren.
({13})
Auf dem Markt hat sich einiges getan, Frau Ferner; da
sind wir ganz gut dabei. Wir müssen auch in Deutschland aufpassen, dass wir die Frauenerwerbsquote erhöhen, dass wir die Möglichkeiten für Frauen, berufstätig
zu sein, verbessern. Das werden wir tun.
({14})
Die Arbeitgeber werden merken, dass wir hier qualifizierte, gut ausgebildete Frauen haben, und sie werden
sich bemühen, diese verstärkt einzustellen. Darum sollten wir uns kümmern, bevor wir über Zuwanderung und
andere Maßnahmen nachdenken.
({15})
Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursachenorientierter Lösungsansätze. Es gilt - ich habe bereits
darauf hingewiesen -, das Berufswahlverhalten zu beeinflussen, aber natürlich auch die Erwerbsunterbrechungen zu vermindern.
({16})
- Nein, das Betreuungsgeld ist - das wissen Sie so gut
wie ich, Frau Kollegin - keine Fernhalteprämie, wie Sie
es stigmatisieren.
({17})
Natürlich kann das Betreuungsgeld auch dann gezahlt
werden, wenn eine junge Frau berufstätig ist. Sie sollten
der Bevölkerung keine Unwahrheiten erzählen; denn so
kommen wir nicht weiter.
({18})
Individuelle und kollektive Lohnverhandlungen haben die traditionell schlechtere Bewertung der typischen
Frauenberufe bislang noch nicht nachhaltig überwinden
können. Schließlich unterbrechen und reduzieren Frauen
ihre Erwerbstätigkeit familienbedingt häufiger und länger als Männer. Nach längeren familienbedingten Erwerbsunterbrechungen und damit verbundenen Einbußen
beim Gehalt können Frauen den Einkommensvorsprung
ihrer männlichen Kollegen oft nicht mehr aufholen; darauf wurde bereits hingewiesen.
({19})
Ob die Garantie auf ein Familienhäuschen am Ende des
Berufslebens der richtige Weg ist, Frau Kollegin Ploetz,
wage ich zu bezweifeln. Das wird die Einstellungsquote
von Frauen wohl nicht merklich erhöhen. Ich halte das
eher für problematisch. Lange Familienphasen und eine
hohe Teilzeitquote sind daher typisch für Frauenerwerbsverläufe.
({20})
Die Entgeltungleichheit ist ein Kernindikator der
Gleichstellung. Ihre Überwindung ist unser zentrales
gleichstellungspolitisches Anliegen. Wie bereits dargelegt, sind die Ursachen komplex und vielfältig und eng
miteinander verbunden.
({21})
- Wir haben schon etwas gemacht. - Daher liegen die
Möglichkeiten der Überwindung der verschiedenen Ursachen bei unterschiedlichen Akteuren. Um hier etwas
zu erreichen, reicht es nicht aus, diesem Problem mit der
gesetzgeberischen Keule, noch dazu - dies hat Frau Kollegin Landgraf völlig zu Recht ausgeführt - mit einem
bürokratischen Monster in Form von Überwachung und
Entgeltberichten zu begegnen. Wichtiger ist vielmehr,
die Beschäftigungsmöglichkeiten von Frauen, angefangen bei der Ausbildung bis hin zur Vermittlung, entsprechend zu verbessern. Das ist das geeignetere Mittel.
Ich habe mir Ihren Antrag angeschaut, liebe Frau Kollegin Nahles.
({22})
- Gesetzentwurf, Entschuldigung. - Dort steht unter
„B. Lösung“:
Der Staat als Handelnder soll sich hier hingegen so
weit als möglich zurückhalten. Das Handeln derjenigen, die für die Entgeltsysteme zuständig sind,
soll durch behördliches Eingreifen nicht ersetzt
werden.
Das klingt gut. Wenige Seiten weiter, in § 12 Ihres Gesetzentwurfes, lese ich:
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unterzieht auf Veranlassung Tarifverträge, die Entgelte
betreffen, einer kursorischen Prüfung …
({23})
- Ja, dazu komme ich gerade. -
Veranlassung besteht insbesondere
a) bei Abschluss eines neuen Tarifvertrages, der
Entgelte betrifft. …
Die meisten Tarifverträge betreffen Entgelte.
({24})
b) auf Verlangen von Beschäftigten aus einem Betrieb ohne Betriebs- oder Personalrat, deren Entgelt
durch die Anwendung dieses Tarifvertrages bestimmt wird;
({25})
Die meisten Entgelte werden durch die Anwendung ei-
nes Tarifvertrages bestimmt.
c) auf Verlangen einer zuständigen Tarifvertragspartei oder eines Antidiskriminierungsverbandes.
({26})
Ich kann Sie nur bitten, sich einmal das Grundgesetz
aus der Schublade vor Ihnen zu holen. In Art. 9 Abs. 3
Satz 2 steht zur Koalitionsfreiheit:
Abreden, die dieses Recht einschränken …, sind
nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.
({27})
Ich glaube, es ist allemal richtiger und wichtiger, dass
sich die Tarifvertragsparteien tatsächlich um die Aushandlung von gleichen Lohnbedingungen kümmern.
Dies sollte nicht durch ein Gesetz geschehen, das durch
die Überprüfung ein bürokratisches und sicher nicht mit
2 Millionen Euro bezahlbares Monster aufbauen würde.
Im Übrigen - auch dazu bedarf es eines ausdrücklichen Hinweises - sind die Tarifvertragsparteien bereits
heute
({28})
- Frau Ferner, hören Sie zu, dann können Sie noch etwas lernen ({29})
zu diskriminierungsfreien Arbeitsbewertungs- und Lohnfindungsverfahren verpflichtet. Die Bundesregierung,
das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bietet umfangreiche Arbeitshilfen für Tarif- und
Betriebspartner zur Überprüfung bestehender Regelungen an. Soweit Betriebsräte und Tarifvertragsparteien in
den Gesetzentwurf einbezogen werden, werden nach
meiner Auffassung die verfassungsrechtlichen Grenzen
der kollektiv- und individualvertraglichen Regelungsebenen nicht beachtet. Insofern halte ich verfassungsrechtliche Bedenken an Ihrem Gesetzentwurf durchaus
für gegeben.
({30})
Lassen Sie einmal Ihre Juristinnen - Kollegen Kramme
ist leider nicht mehr anwesend - einen Blick darauf werfen; diese können Ihnen sagen, ob der Gesetzentwurf
verfassungsrechtlich korrekt ist.
Meine Damen und Herren, Ihr Lösungsansatz ist
falsch. Die unterschiedlichen Ursachen bedürfen ursachenorientierter Lösungsansätze. Es gilt, wie ich bereits
ausgeführt habe, das Berufswahlverfahren zu beeinflussen und die Attraktivität der MINT-Berufe mit entsprechender Bezahlung zu steigern. Dass wir in der christlich-liberalen Koalition erst vor eineinhalb Jahren im
Bereich der Pflege einen Mindestlohn eingeführt haben
- in der Pflege arbeiten ja sehr viele Frauen -, gehört im
Übrigen auch zur politischen Korrektheit und zur Ehrlichkeit.
({31})
Die Vorschläge Ihres Gesetzentwurfs - die Verpflichtung zur Prüfung der Entgeltsysteme, die Erstellung von
Entgeltberichten, der massive Stellenausbau bei der Antidiskriminierungsstelle und die Einführung und Qualifizierung sogenannter sachverständiger Personen - tragen
nach meiner Auffassung dazu bei, eine überbordende
Bürokratie aufzubauen. Außerdem weisen Sie der Antidiskriminierungsstelle mit Ihren Vorschlägen zu weitreichende Befugnisse zu.
Darüber hinaus - das hatte ich bereits ausgeführt halte ich einen Verstoß gegen die Tarifvertragsfreiheit
für gegeben. Ich glaube, Sie geben den Frauen in puncto
Entgeltgleichheit mit diesem Gesetzentwurf Steine statt
Brot. Wir sollten daran arbeiten, die Qualifizierung, die
Vermittlung und natürlich auch den Wert der Arbeit der
Frauen für die Arbeitgeber - da bin ich bei Ihnen, Frau
Müller-Gemmeke - gerade angesichts des in Zukunft
drohenden Fachkräftemangels stärker herauszustellen.
Dadurch werden wir mehr erreichen, als wenn wir mit
einem bürokratischen Monster versuchen, die unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen gesetzlich zu unterbinden.
Herzlichen Dank.
({32})
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Wer diese Debatte bis jetzt verfolgt hat, stellt eines fest:
Wir sind uns im Parlament alle einig, dass bei der Entlohnung von Männern und Frauen schreiende Ungerechtigkeit herrscht. Aber es gibt hier eine Fraktion und eine
Regierung, die kein Konzept haben, daran etwas zu ändern.
({0})
Insofern bin ich sehr stolz, Ihnen mit unserem heute vorliegenden Gesetzentwurf eine Lösung anbieten zu dürfen. Ich glaube, wir können die bestehende Ungerechtigkeit nur durch gesetzliche Regelungen beseitigen.
({1})
Die Vertreter der Regierungsfraktionen sagen: Die
unterschiedliche Entlohnung von Männern und Frauen
hat viele Ursachen. Zum Beispiel fehlen Frauen in technischen Berufen. - Ich sage Ihnen: Auch die Frauen, die
so mutig sind, Maschinenbauingenieurinnen zu werden,
verdienen im Monat 750 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen. Das ist eine Ungerechtigkeit. Wenn Sie
sagen: „Je älter die Frauen sind, desto größer ist ihr
Karriereknick“ - ich glaube, Herr Lehrieder hat das gesagt -, dann muss ich Ihnen entgegnen: Das ist falsch.
Sehen wir uns doch einmal die Zahlen zu den Berufsanfängern und Berufsanfängerinnen an: Der Gehaltsunterschied zwischen Männern und Frauen, die drei Jahre Berufserfahrung haben, beträgt 19 Prozent. Das heißt, in
Deutschland besteht für Frauen immer noch das Risiko,
schlechter bezahlt zu werden als Männer.
({2})
Das ist die traurige Realität, die wir zur Kenntnis nehmen müssen.
Herr Zimmer - Sie dürfen mir ruhig zuhören -, Sie
haben gesagt, es gebe genug Gesetze. Ja, ich gebe Ihnen
recht. Das Grundgesetz gibt es seit über 60 Jahren. Seit
1994 ist der Staat verpflichtet, die Gleichstellung durchzusetzen und für gleiche Entlohnung zu sorgen. Trotzdem tut sich nichts. Die Entgeltgleichheit ist bei uns in
Deutschland ein Prinzip ohne Praxis.
({3})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich habe mich gefreut, als das Europäische Parlament vor drei Wochen,
am 24. Mai dieses Jahres, beschlossen hat, dass Unternehmen mit mehr als 30 Mitarbeitern in Zukunft ihre
Gehaltsstrukturen offenlegen sollen. Wir sind gespannt,
was daraus wird. In unserem Gesetzentwurf haben auch
wir den Ansatz gewählt, zuerst einmal Transparenz herzustellen.
Wie sieht die Arbeitswirklichkeit denn aus? Frauen
können nicht für bessere Löhne streiten, weil sie nicht
wissen, wie viel ihre männlichen Kollegen verdienen.
Viele Männer nennen die Höhe ihres Gehaltes nicht. Sie
verstecken sich hinter der Aussage: Das darf ich nicht. Wir brauchen, wie in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, Transparenz. Darum verpflichten wir private und öffentliche Unternehmen, Entgeltberichte zu erstellen und
ihre Entgeltstrukturen offenzulegen.
Mir haben viele Frauen, die einem Betriebsrat angehören, beispielsweise bei Thyssen, aber auch in anderen
Unternehmen, gesagt: Bitte macht ein Gesetz, das Transparenz herstellt. Wenn Transparenz herrscht, sind wir
nämlich in der Lage, vieles im Interesse der Frauen
schon früher zu verbessern. - Unser Gesetzentwurf sieht
nicht nur vor, Transparenz herzustellen. Vielmehr wollen
wir auch für den Fall, dass es zu Ungerechtigkeiten
kommt, ein Verfahren vorsehen, mit dem eine Lösung
gefunden werden kann.
Die Ministerin Schröder sagt: Ich stelle die LogibD-Software im Internet zur Verfügung. Die Unternehmen können sie freiwillig herunterladen. 200 Unternehmen erhalten eine kostenlose Beratung.
({4})
Glauben Sie denn wirklich, dass das zu einer Veränderung führen wird? Ich glaube das nicht. Darum ist es
richtig, die Unternehmen mit unserem Gesetzentwurf zu
verpflichten, ein Lohnmessverfahren anzuwenden, damit
sich gleicher Lohn einstellt.
({5})
Last, not least müssen wir natürlich für die Durchsetzung sorgen. Hier gibt es die Möglichkeit eines Bußgelds.
Wir brauchen durch diesen Gesetzentwurf einen kleinen,
sanften Druck; das ist ganz wichtig. Wir haben aber gesagt - das ist vollkommen richtig, Herr Lehrieder -: Der
Staat soll sich so weit wie möglich heraushalten. So wenig Staat wie möglich, aber so viel Staat wie unvermeidlich! Darum sehen wir auch ein Bußgeld vor.
Herr Lehrieder, Sie sagen, das sei zu bürokratisch. Ich
sage Ihnen: Das Tabu, über Löhne zu sprechen, nützt in
erster Linie dem Arbeitgeber. Er kann, wenn es keine
Transparenz gibt, mit einzelnen Personen Löhne aushandeln, die unter dem durchschnittlichen Lohnniveau liegen. Ich frage mich: Warum nennen Sie es Bürokratie,
wenn wir die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die selbstverständlichen Grundrechte stärken wollen? Ich sehe das nicht als Bürokratie, sondern
als Selbstverständlichkeit an.
({6})
Genauso ist es keine Bürokratie, wenn wir Unternehmen
auffordern, endlich das zu tun, was schon in den Gesetzen steht. Im Gegenteil: Die Unternehmen müssten eigentlich schon heute Entgeltberichte erstellen, damit sie
keine Ungerechtigkeit bei der Entlohnung zulassen können. Dies müsste selbstverständlich sein. Sie tun es aber
nicht. Darum, glaube ich, müssen wir sie per Gesetz
dazu verpflichten.
Frau Schön, Sie haben natürlich recht: Dieses Gesetz
alleine wird die Welt nicht verändern. Weil es bei uns in
Deutschland so viele strukturelle Diskriminierungen
gibt, brauchen wir zusätzliche, flankierende Maßnahmen. Dazu gehören natürlich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die partnerschaftliche Aufteilung von
Elternzeit, der Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit und
der gesetzliche Mindestlohn. Ich sage Ihnen aber: Auf
keinen Fall gehört das Betreuungsgeld dazu.
Schönen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9781 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe-
derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/
CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Fraktion
der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Ar-
beit und Soziales.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD abstimmen, also Federführung beim
Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für die-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
sen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Fe-
derführung beim Familienausschuss. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenom-
men.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte nun um ein
wenig Geduld und Aufmerksamkeit.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 52 a bis g sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
52 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 8. April 1959
zur Errichtung der Interamerikanischen Entwicklungsbank
- Drucksache 17/9697 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 18. Oktober
1969 zur Errichtung der Karibischen Entwicklungsbank
- Drucksache 17/9698 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens vom 19. November
1984 zur Errichtung der Interamerikanischen
Investitionsgesellschaft
- Drucksache 17/9699 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesbesoldungsund -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/2013
({3})
- Drucksache 17/9875 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten
- Drucksache 17/9932 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck ({6}), Memet Kilic, Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Visapolitik liberalisieren
- Drucksache 17/9951 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Ulrich Schneider, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zweckgebundene und steuerfreie Übungsleiterpauschalen und Aufwandsentschädigungen
für bürgerschaftliches Engagement nicht auf
Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch anrechnen
- Drucksache 17/9950 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lieferung von U-Booten an Israel stoppen
- Drucksache 17/9738 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 53 a bis d und 53 f
bis m sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 53 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 21. Oktober 2010 zur Änderung des Übereinkommens
vom 9. Februar 1994 über die Erhebung von
Gebühren für die Benutzung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen
- Drucksache 17/9343 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({10})
- Drucksache 17/9843 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9843, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9343 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Markenrechtsvertrag von Singapur
vom 27. März 2006
- Drucksache 17/9691 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({11})
- Drucksache 17/9991 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Stephan Thomae
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9991, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9691 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 c:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher
Vorschriften
- Drucksache 17/9692 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({12})
- Drucksache 17/9953 Berichterstattung:
Abg. Martin Burkert
- Bericht des Haushaltsausschusses ({13})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/9995 Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Johannes Kahrs
Dr. Claudia Winterstein
Roland Claus
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt auf Drucksache 17/9953, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9692 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP
und Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 d:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 4. Oktober 2003
zur Gründung des Globalen Treuhandfonds
für Nutzpflanzenvielfalt
- Drucksache 17/9696 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({14})
- Drucksache 17/9955 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Harald Ebner
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt auf Drucksache 17/9955,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/9696 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 f bis m: Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 53 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 437 zu Petitionen
- Drucksache 17/9760 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 437 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 438 zu Petitionen
- Drucksache 17/9761 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 438 ist bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 439 zu Petitionen
- Drucksache 17/9762 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 439 ist bei Enthaltung der
Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 440 zu Petitionen
- Drucksache 17/9763 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 440 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 441 zu Petitionen
- Drucksache 17/9764 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 441 ist bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 442 zu Petitionen
- Drucksache 17/9765 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 442 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 443 zu Petitionen
- Drucksache 17/9766 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 443 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 53 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 444 zu Petitionen
- Drucksache 17/9767 -
Dazu liegt eine Erklärung zur Abstimmung gemäß
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor.1)
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Sammelübersicht 444 ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Verlängerung der Arbeit der Enquete-Kom-
mission „Internet und digitale Gesellschaft“
- Drucksache 17/9939 -
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Artikel 45 d des
Grundgesetzes
- Drucksache 17/9918 -
1) Anlage 4
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Bei dieser Gelegenheit können wir hier vorne wechseln. Viel Glück bei der Abstimmung, liebe Kolleginnen
und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Tagesordnungspunkt 6 ist eben gerade vom Präsidentenkollegen
Thierse aufgerufen worden.
Die Fraktion der CDU/CSU schlägt auf Drucksache 17/9918 den Kollegen Michael Grosse-Brömer
vor.
({0})
- So viel Zeit muss sein, die Ovation zu geben.
Bevor wir zur Wahl kommen, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren:
Nach § 2 Abs. 3 des Gesetzes über die parlamentarische
Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit ist gewählt,
wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereint.
Die Wahl erfolgt mit rosa Stimmkarte und rosa Wahlausweis. Den Wahlausweis können Sie, soweit noch
nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach in der Lobby
entnehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der
Wahlausweis auch wirklich Ihren eigenen Namen trägt.
Die Stimmkarten wurden verteilt. Sollten Sie noch
keine Stimmkarte haben, besteht jetzt noch die Möglichkeit, diese von den Plenarassistenten zu erhalten. Gültig
sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei „ja“, „nein“
oder „enthalte mich“. Ungültig sind demzufolge Stimmkarten, die kein Kreuz oder mehr als ein Kreuz, andere
Namen oder Zusätze enthalten.
Diese Wahl findet offen statt. Sie können Ihre Stimmkarte also an Ihrem Platz ankreuzen. Bevor Sie die
Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben
Sie bitte den Schriftführern an den Wahlurnen Ihren rosa
Wahlausweis. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl
kann nur durch Abgabe des Wahlausweises erbracht
werden.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze
an den Urnen besetzt?
({1})
- Nein, noch nicht. Ein Schriftführer der Koalition fehlt
hier vorne, oben rechts fehlt ein Schriftführer der Oppo-
sition. Ich darf die Schriftführerinnen und Schriftführer
bitten, ihr Ehrenamt einzunehmen.
Ich weise noch einmal darauf hin, dass das Amt des
Schriftführers ein Ehrenamt ist, das alle immer sehr
gerne wahrnehmen. Insofern bitte ich nun, die Pflicht zu
erfüllen.
Sind jetzt alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das
scheint der Fall zu sein. Ich eröffne somit die Wahl.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein
Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht
abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe so-
mit die Wahl.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit
der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl
wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor dem Eintritt in
den nächsten Tagesordnungspunkt müssen wir die
Sitzung kurz unterbrechen, bis die Vorbereitungen zu der
gleich stattfindenden Wahl abgeschlossen sind. Die
Sitzung ist unterbrochen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Ihrer Planung
darf ich Ihnen mitteilen, dass die Sitzungsunterbrechung
noch etwas länger dauern wird. Ich bitte um Ihr Verständnis. Die Sitzung wird noch für etwa 15 weitere
Minuten unterbrochen. Dann geht es mit der Wahl der
Mitglieder des Sondergremiums weiter.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir nehmen die
unterbrochene Sitzung wieder auf.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 7 auf:
Wahl der Mitglieder des Sondergremiums ge-
mäß § 3 Absatz 3 des Stabilisierungsmechanis-
musgesetzes
- Drucksache 17/9919 -
Hierzu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf
Drucksache 17/9919 vor.
Dieses Gremium ersetzt das am 26. Oktober 2011
nach früherem Recht gewählte Gremium gleichen
Namens, das sich jedoch nie konstituiert hatte.
Ich darf Sie erneut um Ihre Aufmerksamkeit für ei-
nige erforderliche Hinweise zum Wahlverfahren bitten,
das von dem der soeben durchgeführten Wahl abweicht.
Wir wählen jetzt gleich neun ordentliche Mitglieder
sowie neun Stellvertreter. Gewählt ist, wer die Stimmen
der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält.
Für diese Wahl benötigen Sie Ihren blauen Wahlaus-
weis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, den Stimm-
kartenfächern in der Lobby entnehmen können. Weiterhin
benötigen Sie zwei Stimmkarten sowie einen Wahlum-
schlag. Diese Unterlagen erhalten Sie von den Schrift-
führerinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen
vor den Wahlkabinen. Zeigen Sie dort bitte Ihren Wahl-
ausweis vor.
Die blaue Stimmkarte ist für die Wahl der neun or-
dentlichen Mitglieder; die gelbe Stimmkarte ist für die
Wahl der neun stellvertretenden Mitglieder. Auf jeder
der beiden Stimmkarten können Sie jeweils neun Kreuze
machen. Für jeden Kandidaten, also in jeder Zeile, dür-
1) Ergebnis Seite 21936 D
Vizepräsident Eduard Oswald
fen Sie nur ein Kreuz bei „ja“, „nein“ oder „Enthaltung“
anbringen. Eine Stimmabgabe ist ungültig, wenn neben
dem Kandidatennamen mehr als ein Kreuz oder kein
Kreuz markiert wurde oder der Name durchgestrichen
wurde. Ungültig sind Stimmkarten, die Zusätze enthalten.
Die Wahl ist geheim. Das heißt, Sie dürfen Ihre beiden Stimmkarten nur in der Wahlkabine ankreuzen und
müssen beide Stimmkarten ebenfalls noch in der Wahlkabine in den Umschlag legen. Anderenfalls wäre die
Stimmabgabe ungültig. Die Wahl kann in diesem Fall
vorschriftsmäßig wiederholt werden. Die Schriftführerinnen und Schriftführer werden darauf achten.
Bevor Sie den Wahlumschlag in die Wahlurne werfen,
müssen Sie dem Schriftführer an der Wahlurne Ihren
Wahlausweis übergeben. Die Abgabe des Wahlausweises dient als Nachweis für die Beteiligung an der Wahl.
Kontrollieren Sie daher bitte, ob der Wahlausweis Ihren
Namen trägt.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ist das geschehen? - Nein, das ist noch nicht geschehen. Es fehlen
noch Schriftführerinnen und Schriftführer. Ich darf noch
einmal darum bitten, dass alle Schriftführerinnen und
Schriftführer ihr Amt wahrnehmen.
({0})
- Am Ausgabetisch fehlt noch ein Schriftführer aus der
Koalition. Ich darf die Parlamentarischen Geschäftsfüh-
rer um Hilfestellung bitten. - Kollege Paul Lehrieder
übernimmt das. Ich bedanke mich sehr herzlich.
Jetzt sind alle Plätze besetzt. Ich eröffne nun die
Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses - jetzt frage ich
vorsichtshalber auch die von mir heute schon humorvoll
erwähnten Schriftführerinnen und Schriftführer - ihre
Stimmkarten abgegeben? - Das ist der Fall.
Ich schließe die Wahl und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die
Ergebnisse der Wahlen werden Ihnen später bekannt ge-
geben1).
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Beratungen fort.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der
Energiewende
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Joachim Pfeiffer. Bitte schön, Kollege Dr. Joachim Pfeiffer.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Umbau der
Energieversorgung, den wir uns vorgenommen und
wozu wir im letzten Jahr große politische Pakete beschlossen haben, ist bekanntlich kein Sprint, sondern ein
Marathonlauf.
({0})
Mancher hat vielleicht gedacht, mit dem Verabschieden
der Gesetze sei schon alles getan. Das Gegenteil ist aber
der Fall. Es geht jetzt erst richtig los, und die Mühen der
Ebene kommen jetzt auf uns zu.
Aus meiner Sicht gibt es bei diesem Thema drei große
Herausforderungen:
Die erste ist, die notwendigen Erzeugungskapazitäten
zur Verfügung zu stellen, und zwar sowohl Kapazitäten
aus erneuerbaren Energieträgern als auch Back-up-Ka-
pazitäten aus klassischen, konventionellen Kraftwerken.
Das soll heute nicht unser Thema sein.
Die zweite Herausforderung ist die Speicherung, da
die erneuerbaren Energien ja bekanntlich fluktuierend
sind, weil die Sonne auch bei fortschreitendem Klima-
wandel nachts nicht scheinen wird und der Wind auch
nicht immer bläst.
Die dritte ganz zentrale Herausforderung sind die
Netze. Die Netze bilden das Nervensystem des Umbaus
der Energieversorgung. Diese Netze sind intelligent zu
gestalten, das heißt, die Fluktuation muss zukünftig im
Rahmen der Netze berücksichtigt werden können. Vor
allem müssen wir die Netze nachfrageorientiert steuern
können, damit die Energieverbraucher intelligent mit
dem erzeugten Strom beliefert werden können. Das klas-
sische Thema ist selbstverständlich der Transport, der
dort ansteht. Last, but not least leisten die Netze auch ei-
nen entscheidenden Beitrag zur Vollendung des Binnen-
marktes im Energiebereich; denn solange wir, ökono-
misch ausgedrückt, die Elastizität der Nachfragekurve
nicht erhöhen, wir die Nachfrage also nicht flexibler ma-
chen und Wettbewerb nur auf der Angebotsseite besteht,
wird der Wettbewerb nicht so funktionieren, wie wir alle
uns das gemeinsam wünschen.
Der Netzentwicklungsplan, der jetzt vorgestellt wird,
ist quasi die Generalanleitung für den Umbau der Netze,
so wie wir ihn uns vorstellen.
Es ist nicht so, dass bisher nichts passiert ist. Mit
Stand von heute wurden immerhin 214 Kilometer der
wichtigsten Vorhaben umgesetzt. Das bedeutet erfreuli-
cherweise eine gewisse Beschleunigung gegenüber dem,
was wir noch im letzten Jahr zum Teil befürchtet haben.
Die Lage ist aber komplex. Es gibt nämlich verschiedene
Planungsebenen.
Die klassische Planung obliegt den Ländern. Wir ha-
ben schon vor Jahren die Herausforderungen gesehen. In 1) Ergebnis Seite 21936 D
der letzten Legislaturperiode haben wir mit dem Energieleitungsausbaugesetz festgelegt, dass die Verfahren
im Hinblick auf 24 prioritäre Maßnahmen beschleunigt
werden. Im letzten Jahr haben wir mit dem NABEG die
Möglichkeit zu einer weiteren Beschleunigung der jetzt
neuen Projekte geschaffen.
Der Netzentwicklungsplan ist also nicht nur die Anleitung, sondern er soll vor allem auch Transparenz bei
dem schaffen, was dort vorgesehen ist, sodass die Bürger
das auch nachvollziehen können. Es soll Transparenz geschaffen werden, um dann hoffentlich auch bezüglich
der Planungen Akzeptanz zu erreichen, die zwingend
notwendig ist, weil wir bekanntlich Schwierigkeiten haben, diese Planungen so schnell umzusetzen, wie es nötig ist.
Wir brauchen Transparenz aber auch bezüglich der
Kosten, weil das, was wir dort unternehmen, keine billige Veranstaltung werden wird. Ich möchte die Herausforderungen nur einmal von der Größenordnung her
skizzieren, um zu verdeutlichen, worüber wir reden und
was wir vor uns haben:
Nach dem Netzentwicklungsplan brauchen wir allein
für das Übertragungsnetz einen Neubau in einer Größenordnung von rund 3 800 Kilometern. 4 000 Kilometer
müssen modernisiert werden. Das verursacht Kosten von
20 Milliarden Euro.
Das Verteilnetz, das den Strom in der Fläche verteilen
soll, muss um 195 000 Kilometer erweitert werden. Das
verursacht Kosten in einer Größenordnung von 27 Milliarden Euro.
Die Einführung sogenannter Smart Meterings, womit
die Netze intelligent gemacht werden sollen, verursacht
5 Milliarden Euro.
Ein anderes Projekt ist die bis 2020 geplante Offshoreanbindung. Wenn wir hier eine Leistung von 13 Gigawatt realisieren wollen, brauchen wir dafür mindestens noch einmal 13 Milliarden Euro. Zur Erzeugung
einer Leistung von 1 Gigawatt benötigen wir etwa 1 Milliarde Euro.
Zum Bau der Interkonnektoren nach Norwegen fällt
demnächst die Entscheidung. Wir hoffen, dass wir den
Zuschlag für den Bau des ersten Interkonnektors bekommen, also nicht die Briten, sondern wir Deutsche.
Insgesamt reden wir also über eine Größenordnung
von mindestens 70 Milliarden Euro, die bis 2020 allein
in den Netzausbau zu investieren sind. Das ist eine gigantische Herausforderung. Dafür brauchen wir alle.
Dafür brauchen wir auch die Länder, die sich zwar bisher verbal vor Begeisterung überschlagen haben. Aber
sie müssen parteiübergreifend auch in dem Sinne Gas
geben, dass sie bei der Planung vor Ort Ressourcen, und
zwar Personal und Geld, zur Verfügung stellen. Sie müssen vor allem auch mithelfen, dass das NABEG so ausgefüllt wird, dass es tatsächlich zu einer Planungsbeschleunigung kommt, sodass die Projekte, die ich gerade
genannt habe, auch umgesetzt werden können.
({1})
Kollege Pfeiffer, Sie wissen, was das rote Licht vor
Ihnen bedeutet?
Diese Aufgabe ist noch ambitionierter als all die Aufgaben, die ich versucht habe in fünf Minuten darzustellen.
Es waren fast sechs Minuten.
Das war fast nicht möglich. Aber es wird morgen bei
einer ähnlichen Debatte die Gelegenheit zur Fortsetzung
bestehen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Pfeiffer. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der Sozialdemokraten unser Kollege Garrelt Duin. Bitte
schön, Herr Kollege Garrelt Duin.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Als wir von dem Titel dieser Aktuellen
Stunde erfahren haben,
({0})
waren wir schon ein bisschen erstaunt - das ist wohl
wahr -,
({1})
besonders aber nach der ersten Rede in dieser Aktuellen
Stunde, die von Ihnen beantragt worden ist.
Den ersten Schritt zur Netzentwicklung haben wir gemeinsam getan. Die hier anwesenden Minister werden
gleich an der Ministerpräsidentenkonferenz teilnehmen,
die zwar ein ganz wichtiger Termin - heute ist diesbezüglich ein ganz wichtiger Tag - für unser Vorhaben ist.
Aber das Wort „Meilenstein der Energiewende“
({2})
ist einfach eine Nummer zu groß für das, was Sie in den
letzten 13 Monaten für Deutschland getan haben. Das
passt überhaupt nicht zusammen.
({3})
Lieber Herr Minister Rösler, ich habe heute Ihr Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen.
Ich zitiere daraus drei kurze Sätze: Erster Satz: Wir brauchen „Markt, Wettbewerb und Transparenz“. Zweiter
Satz:
Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbedingungen … festzulegen …
Dritter Satz:
Das ist ein Ausgangspunkt mehrerer Optionen. Wir
stehen erst am Anfang unserer Überlegungen.
Das ist vollkommen nichtssagend. Wir befinden uns
seit einem Jahr in diesen Diskussionen. Wir könnten
schon viel weiter sein, wenn Sie nicht diese doppelte
Ausstiegsnummer hingelegt hätten. Das, was Sie heute,
im Juni 2012, zu diesem Thema zu sagen haben, ist verdammt dünn und zu wenig, um der Herausforderung in
diesem Bereich gerecht zu werden.
({4})
Ich möchte ganz kurz ein paar Punkte nennen, von denen ich überzeugt bin, dass wir sie gemeinsam mit den
Ländern über eine möglichst breite Mehrheit hier im
Hause hinbekommen müssen.
Das Erste ist in der Tat die Verabschiedung eines
Bundesbedarfsplangesetzes im Jahre 2012 auf der
Grundlage der vorliegenden Szenarien.
Das Zweite, das wir miteinander klären müssen, ist,
dass wir ein ganz intensives Monitoring des Netzausbaus
brauchen, aber nicht nur bezogen auf die Übertragungsnetze, sondern auch unter Einbeziehung der Verteilnetze.
Hierüber wird oft sehr einfach diskutiert. Wir müssen
eine Anpassung der Anreizregulierungsverordnung vornehmen, um gerade auch im Bereich der Verteilnetze
- Stichwort „Smart Grids“ - voranzukommen.
({5})
Wenn das in Ihren Überlegungen nicht enthalten ist,
springen Sie zu kurz.
Das Dritte ist die Deckung des Kapitalbedarfs zur
Finanzierung des Netzausbaus. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. In einer Fragestunde habe ich den
Parlamentarischen Staatssekretär Otto gefragt, wie er
denn zum Thema „deutsche Netz AG“ stehe. Darauf hat
er, wie ich finde, sehr vernünftig geantwortet, auch das
könne man nicht ausschließen.
Es geht in dieser Zeit aber nicht mehr darum, was
man nicht ausschließen kann, sondern es geht darum,
dass man klare Bekenntnisse abgibt. Die aktuellen Probleme sind doch offensichtlich. Deswegen brauchen wir
parteiübergreifend das klare Bekenntnis und auch das Signal an die Marktteilnehmer: Wir wollen eine deutsche
Netz AG. Wir beteiligen uns daran. Wir gehen mit in
diese Verantwortung. Aber wir wollen nicht nur Geld geben, sondern wir wollen auch etwas zu sagen haben. Das ist der entscheidende Punkt, über den wir uns noch
verständigen müssen.
({6})
Ein reiner Renditewettlauf nach dem Motto „Wer
kann das meiste Geld mit welchem Netz verdienen?“
wird nicht zum Ziel führen. Der Markt allein, wie Sie es
heute noch einmal zum Ausdruck gebracht haben, wird
es nicht bringen.
({7})
Im Übrigen brauchen wir zwingend eine Intensivierung der Aktivitäten zur Erforschung und Entwicklung
innovativer Netztechnologien. Denn es geht auch im
Sinne der Akzeptanz, um die wir gemeinsam in ganz
Deutschland an den verschiedenen Orten ringen, darum,
nicht einfach nur zu übernehmen, was dort an Vorschlägen vorliegt, sondern durch kluge Politik dafür zu sorgen, eine Überdimensionierung des Ausbaus zu vermeiden. Es muss nicht jeder Kilometer, der bisher zur
Diskussion steht, am Ende gebaut werden, wenn man bei
der Speichertechnologie und bei intelligenten Netzstrukturen vorankommt und sehr viel stärker auf Dezentralität
setzt, als es in vielen Überlegungen zurzeit der Fall ist.
({8})
Lassen Sie mich - weil Sie gleich zur Ministerpräsidentenkonferenz fahren - abschließend sagen: Wir alle
im Bundestag sind mit unseren Parteien mehr oder weniger stark in den Landesregierungen vertreten. Wir haben
dort alle miteinander Verantwortung. Aber aus diesem
Hause muss als Rückendeckung an Sie das Signal ausgehen, dass wir uns auch in dem Sinne dessen, was unser
Kommissar in Brüssel, Herr Oettinger, sagt, nicht
16 völlig verschiedene Pläne für den Ausbau der Netze
leisten können. Das muss gebündelt werden.
Die Skepsis in den Ländern ist dadurch verursacht,
dass die beiden Häuser, deren Vertreter hier sitzen
- Herrn Altmaier will ich dafür noch nicht in Verantwortung nehmen -, diese Bündelungsfunktion und das stringente Vorgehen bisher nicht dargestellt haben. Es ist viel
Zeit ins Land gegangen, ohne die notwendigen Erfolge
zu erzielen.
Nehmen Sie deswegen auch aus dieser Aktuellen
Stunde die Botschaft mit: Wir brauchen ein einheitliches
Vorgehen über die Grenzen hinweg, vor allen Dingen
über die 16 Ländergrenzen hinweg. Sonst werden wir
uns hier wiedertreffen, ohne die Ziele beim Netzausbau
erreicht zu haben, die für den Industriestandort, aber
auch für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
dringend notwendig sind.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank, Kollege Garrelt Duin. - Nächster Redner ist für die Bundesregierung Herr Bundesminister
Philipp Rösler. Bitte schön, Herr Bundesminister Rösler.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Vor einem Jahr haben
wir hier gemeinsam die Gesetze zur Umsetzung der
Energiewende in Deutschland verabschiedet. Wir wollen
den Ausstieg aus der Kernenergie. Wir wollen als Ersatz
einen starken Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber
wir unterscheiden uns,
({0})
die Opposition auf der einen Seite und die Regierungskoalition auf der anderen Seite.
Sie wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien,
koste es, was es wolle. Ihnen ist es vollkommen egal,
wer am Ende die Zeche zu zahlen hat.
({1})
Sie denken nicht eine Sekunde an die 80 Millionen Menschen, die 40 Millionen Haushalte und die 4 Millionen
kleine und mittelständische Unternehmen, die all das bezahlen müssen. Wir denken auch an die Bezahlbarkeit
von Energie in Deutschland.
({2})
Es geht nicht nur um die umweltfreundliche Produktion durch erneuerbare Energien, sondern auch um Versorgungssicherheit. Es geht um das Thema Netzstabilität. Deswegen brauchen wir große, neue Netzstrukturen
in unserem Land.
Wir haben das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das
Energiewirtschaftsgesetz und auch die Anreizregulierungsverordnung auf den Weg gebracht. Wir haben für
Investitionssicherheit gesorgt, die wirtschaftliche Effizienz auch beim Ausbau der Netze weiter gesteigert und
Planungen beschleunigt.
Entgegen Ihrer Unterstellung ist der Bund in Bezug
auf den Netzausbau in Deutschland absolut im Zeitplan.
Ende Mai haben wir den Netzentwicklungsplan vorgelegt bekommen.
({3})
Alle beteiligten Akteure - der Bund, die Übertragungsnetzbetreiber, die zivilgesellschaftlichen Gruppen und
die Bundesländer - haben innerhalb von zwölf Monaten
aus dem Nichts heraus einen völlig neuen Plan auf den
Weg gebracht: 3 700 Kilometer Fernübertragungstrassen
in Deutschland.
({4})
Jetzt kennen wir den Bedarf, um den Strom aus dem
Norden in den Süden zu transportieren. Jetzt haben die
Menschen einen sichtbaren und greifbaren Erfolg in den
Händen, der beweist: Wir sind beim Umsetzen der Energiewende in Deutschland absolut im Zeitplan.
({5})
- Die Menschen brauchen auch Ehrlichkeit, Frau Höhn.
({6})
Denn angesichts einer Gesamtstrecke von 3 700 Kilometern müssen wir mit den Menschen vor Ort intensiv sprechen, wenn es darum geht, die Trassen durch die Regionen zu führen.
({7})
Wir brauchen daher Ehrlichkeit. Die legen Sie schon
längst nicht mehr an den Tag. Sie verleugnen die Notwendigkeit neuer Netze. Überall da, wo es konkret wird,
stellen Sie sich auf die Seite der Demonstranten, die gegen neue Netze protestieren. Das ist doch die Wahrheit.
Das ist unehrlich und unseriös.
({8})
Wir brauchen nicht nur Ehrlichkeit, sondern auch die
Zwillingsschwester der Ehrlichkeit, die Transparenz, gerade wenn es um die Beteiligung der Bürgerinnen und
Bürger geht. Schon sehr frühzeitig, im ersten Entwicklungsstadium, sind die Menschen eingeladen, wenn es
darum geht, gemeinsam über die konkreten Trassenführungen zu diskutieren. Aber ich sage Ihnen auch: Wenn
die Trassen feststehen, wenn die Entscheidungen gefallen sind, dann müssen wir auch alles dafür tun, dass die
Entscheidungen umgesetzt werden können. Wir können
uns nicht mehr leisten, dass Klagewelle auf Klagewelle
gegen Netzentscheidungen läuft.
({9})
Deswegen fordere ich hier genauso wie bei anderen
Infrastrukturgroßprojekten: Es reicht eine gerichtliche
Instanz aus, um neue Netze in Deutschland auf den Weg
zu bringen. Deswegen habe ich vorgeschlagen, beim
Netzausbau künftig nur noch das Bundesverwaltungsgericht als Entscheidungsinstanz gelten zu lassen.
({10})
Dass das funktionieren kann, haben die Großprojekte
im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung gezeigt.
Das zeigt auch das Energieleitungsausbaugesetz; Sie
haben es eben selber angesprochen.
({11})
- Es stimmt, es geht nicht voran. 1 800 Kilometer neue
Leitungen sind geplant gewesen. Nur 200 Kilometer
Leitungen sind bislang gebaut worden. Aber vergessen
wir einmal nicht die Verantwortlichkeit!
({12})
- Fachlich liegen Sie total daneben, Herr Kollege. - Die
Zuständigkeit für das EnLAG liegt ausschließlich und
alleine bei den Bundesländern.
({13})
Überall da, wo Trassen über Ländergrenzen hinweg geführt werden sollen, geraten diese Projekte ins Stocken.
Ich sage Ihnen: Wir müssen mit der Kleinstaaterei
Schluss machen. Keine 16 eigenständigen Energiekonzepte!
({14})
Wir können es nur gemeinsam schaffen - Bund, Länder
und Kommunen -, und zwar nur unter Einbeziehung der
europäischen Ebene. Wir brauchen Grenzkuppelstellen
an der Grenze zu Frankreich genauso wie an der Grenze
zu Polen. Deswegen muss man die Energiewende auch
europäisch denken, übrigens nicht nur, wenn es um den
konkreten Netzausbau, sondern auch, wenn es um die
Regulierung geht.
({15})
- Herr Duin, ich verstehe Ihren Einwurf so, dass Sie fest
an unserer Seite stehen, wenn es darum geht, erneut über
Umweltschutzvorgaben nachzudenken.
({16})
Wir müssen darüber reden, wie wir Planung und Bau
beschleunigen können, genauso wie damals bei der Realisierung von Autobahnen im Zuge der deutschen Einheit. Viele Maßnahmen konnten wir damals umsetzen,
weil Regeln zeitweilig außer Kraft gesetzt wurden. Dies
brauchen wir heute wieder. Die Zuständigkeit liegt nicht
mehr alleine auf Bundesebene, sondern auch auf europäischer Ebene. Deswegen ist es richtig, dass wir mit der
Europäischen Kommission darüber reden, wie es ermöglicht werden kann, Umweltstandards für einen bestimmten Zeitraum außer Kraft zu setzen, damit Netzplanung
und Netzausbau schneller vorangetrieben werden können. Wir brauchen nämlich beides: Naturschutz und
neue Netze, sowohl in Deutschland als auch in Europa.
({17})
- Ganz konkret können Sie sich künftig den Netzentwicklungsplan ansehen, Herr Kollege.
Entsprechend den Vorgaben des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes, das wir gemeinsam verabschiedet haben, werden wir weiter vorangehen. Jetzt liegt der Plan
vor. Wir werden gemeinsam auf seiner Grundlage ein
Bundesbedarfsplangesetz und eine Verordnung entwickeln, um künftig erstmalig bundesweit Netze planen
und bauen lassen zu können. Wir werden mit den Menschen vor Ort sprechen. Wir werden auch mit unseren
europäischen Partnern reden, um Planungserleichterungen auf europäischer Ebene um- und durchzusetzen. Anders wird die Energiewende nicht zu machen sein.
Aber der Netzentwicklungsplan, den Sie jetzt in
Händen halten, ist in der Tat - ob es Ihnen nun gefällt
oder nicht - ein Meilenstein, wenn es darum geht, die
Energiewende gleichermaßen für die Menschen und die
Unternehmen in Deutschland umzusetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Die
Linke unsere Kollegin Johanna Voß. Bitte schön, Frau
Kollegin Johanna Voß.
({0})
Danke schön. - Sehr geehrte Damen und Herren!
Nach dieser Rede fange ich erst einmal damit an, zu sagen, was diesem Netzentwicklungsplan ganz entscheidend fehlt: Er steht unter ganz falschen Vorgaben. Das,
sehr geehrter Herr Rösler, ist sehr transparent.
Bei der zugrunde liegenden Marktsimulation gab es
ein Ziel, nämlich die Minimierung der Erzeugungskosten. Der Fokus dieses Plans liegt also auf dem rein betriebswirtschaftlichen Aspekt. Man will folglich nicht
das bestmögliche Netz bauen, sondern das kostengünstigste. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Selbst die Netzbetreiber sagen: Dieser Plan bildet nicht das einzig mögliche Netz ab; er bildet vielmehr das Netz ab, das unter
diesen gesetzten Prämissen nötig ist. - Natürlich müssen
die Kosten betrachtet werden; sie dürfen jedoch nicht
das einzige Kriterium für alle Planungen sein.
({0})
Außerdem steht nirgends im Netzentwicklungsplan, was
denn nun „kostengünstig“ ist. Das Wirtschaftlichkeitskriterium wird im ganzen Netzentwicklungsplan nirgends
definiert, obwohl es Grundlage aller Berechnungen ist.
Damit sind die Berechnungen nicht nachvollziehbar. Wir
stellen fest: Unter dieser Prämisse bleibt die Sinnhaftigkeit auf der Strecke.
({1})
Reden wir über ein weiteres Problem: Es fehlt eine
Koordination von Stromerzeugung und Stromverbrauch.
Die Strombörse versagt hier. Die Koordination ist aber
ein zentraler Faktor für den Stromnetzausbau. Dieses
Problem kann der Netzentwicklungsplan allein auch
nicht lösen. So treibt dann die Planlosigkeit den Stromnetzausbaubedarf in schwindelerregende Höhen. Weiterer
Treiber des Ausbaubedarfs im Plan ist, dass das Anfahren und Abregeln von Kraftwerken durch die Netzbetreiber, der sogenannte Redispatch, und das Einspeise- und
Lastmanagement nicht einbezogen werden. Diese Maßnahmen können aber einen ganz entscheidenden Einfluss
auf das Einsparen von Stromtrassen haben. Dieses Einsparpotenzial gilt es zu nutzen.
({2})
Kommen wir damit zum Kernpunkt. Der Netzausbaubedarf hängt davon ab, wo welche erneuerbaren Energien geplant werden und welche Strategie der Erzeugung
und des Verbrauchs von Energie überhaupt gefördert
werden soll. Ein sinnvoller Bundesfachplan „Stromnetze“ muss daher konsequent vom Endpunkt her, von
100 Prozent Versorgung mit erneuerbaren Energien, gedacht und geplant werden. Der Auf- und Ausbau zukünftiger Stromspeicher muss berücksichtigt und einbezogen
werden. Das alles leistet dieser Netzentwicklungsplan
nicht.
Ein weiterer Punkt: Die Großverbraucher - Alu-,
Stahl-, Auto- und Chemieindustrie - müssen ihren Beitrag zur Netzstabilität leisten. Dazu braucht es gezielt
Anreize für mehr Energieeffizienz.
({3})
Die wichtigste Forderung bleibt aber: Stromnetze zurück in die öffentliche Hand. Nur so überlässt man den
Bau der großen Stromautobahnen und der kommunalen
Verteilnetze nicht der Willkür und den alleinigen Interessen privater Unternehmen. Das hätte schon längst erkannt werden müssen. Eine öffentliche Netzgesellschaft,
wie auch Garrelt Duin sie gefordert hat, kann leisten,
was die vier Netzbetreiber auch bei noch höheren Renditen nicht leisten können. Strom gehört zu unserer Grundversorgung, und der Zugang dazu muss demokratisch organisiert sein.
({4})
Eine öffentliche Netzgesellschaft mit Vertreterinnen
und Vertretern von Umweltverbänden, Gewerkschaften
und weiteren relevanten Gruppen kann das leisten. Nur
wenn die Netze wirklich wieder in öffentlicher Hand und
demokratisch organisiert sind, muss nicht mehr lange
über die Offenlegung von Daten gestritten werden. Dann
werden die Netze wirklich nur dort gebaut, wo sie volkswirtschaftlich und ökologisch nötig sind. Dann wird eine
sinnvolle Gesamtplanung zur Integration der erneuerbaren Energien möglich. Die fehlende Koordination des
Ausbaus erneuerbarer Energien führt sonst unwiderruflich zu unwirtschaftlichen Netzstrukturen. Selbst die
Netzbetreiber bemängeln immer wieder, dass ein Masterplan für den Ausbau der erneuerbaren Energien fehlt.
Das sind also noch nicht einmal linke Spinnereien.
Es geht hier also um eine wichtige politische Weichenstellung. Die Frage ist: Für welche Art der Stromerzeugung sollen die Netze geplant werden? Der Aufschwung
dezentraler, erneuerbarer Stromerzeugung muss fortgesetzt werden. Orientiert sich die Politik aber weiter an den
alten, ineffizienten und gesellschaftlich teuren Interessen
privater Konzerne, fördert sie vor allem zentrale Offshoreparks und andere fossile Großprojekte, so wird die
Energiewende verhindert. Eine Versorgung mit Strom aus
zu 100 Prozent erneuerbaren Energien rückt dann in
weite Ferne. Genau diese Entscheidungen stehen an.
Der Netzentwicklungsplan krankt an falschen und
fehlenden Voraussetzungen. Solange kein Masterplan
vorliegt, solange Wirtschaftlichkeit oberstes, vages
Kriterium bleibt, solange Redispatch, Last- und Einspeisemanagement nicht berücksichtigt werden, so lange
werden wir Netze bekommen und bezahlen, die wir eigentlich nicht brauchen. Umweltverbände und Bürgerinitiativen haben allen Grund, weiter zu kämpfen. Die
Linke wird dabei an ihrer Seite stehen.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Voß. - Nächster Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Oliver Krischer. Bitte
schön, Kollege Oliver Krischer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Wirtschaftsminister Rösler, ich habe von Ihnen jetzt
neun Minuten lang Phrasen und Plattitüden zum Thema
Energiepolitik gehört. Sie sind sich nicht zu billig, hier
noch die Plattitüde zu verbreiten, die Opposition würde
im Land herumlaufen und den Netzausbau verhindern.
({0})
Wenn ich vor Ort in Sachen Konfliktfälle unterwegs
bin, stoße ich auf schwarze Bürgermeister und Ihre gelben Parteikollegen, die sich in Populismus ergehen und
Netzausbau verhindern.
({1})
Das ist die Realität.
({2})
Ich will hier mit einem Gerücht aufräumen. Es entsteht immer der Eindruck, als ob Bürgerinitiativen und
Bürgerengagement den Netzausbau in Deutschland verhindern würden. - Ja, es gibt Diskussionen, es gibt Kritik, es gibt auch Auseinandersetzungen. Doch die wahren Probleme beim Netzausbau liegen darin, dass es
Intransparenz und fehlende Steuerung gibt. Weiterhin ist
das alles bisher als „Geheime Kommandosache“ der
Übertragungsnetzbetreiber gelaufen. Dagegen hätten Sie
schon lange etwas tun können. Da waren Sie in der Verantwortung. Beim EnLAG hätten Sie etwas tun können.
Da ist von Ihnen nichts gekommen.
Sie haben es eben selbst gesagt: Sie haben diesen
Netzentwicklungsplan aus dem Nichts gemacht. Das
zeigt doch, dass Sie drei Jahre lang hier überhaupt nichts
zustande gebracht haben.
({3})
Dann sage ich Ihnen: Sie verbreiten Horrorzahlen im
Zusammenhang mit dem Netzausbau und argumentieren
dann, deshalb sei die Energiewende nicht finanzierbar.
Das ist Ihre Botschaft, die Sie als Minister streuen.
({4})
Dazu sage ich Ihnen: Netzausbau müsste in Deutschland auch ohne Energiewende stattfinden. Bis in die
70er-Jahre hinein sind große Investitionen getätigt worden. Aber danach ist in Übertragungsnetze im Wesentlichen nicht mehr investiert worden. In Deutschland stehen Masten, die noch aus Kaisers Zeiten stammen und
die irgendwann einmal erneuert werden müssen, Energiewende hin oder her. Ich glaube, so manche Horrorzahl, die verbreitet worden ist, würde sich relativieren,
wenn man betrachten würde, was auch ohne Energiewende investiert werden müsste.
({5})
Aber es ist völlig richtig: Wir brauchen den Ausbau
und die Optimierung der Netze im Rahmen der Energiewende. Denn wir müssen natürlich von der zentralen zur
dezentralen Erzeugung kommen. Dabei ist das Verteilnetz ein ganz entscheidender Punkt. Herr Rösler, auch
dazu habe ich von Ihnen keine einzige Silbe gehört. Das
einzige, was Sie im Kopf haben, sind große Übertragungsnetze, die zwar ein wichtiger Teil, aber eben nur
ein Teil sind. Die Verteilnetze haben Sie überhaupt nicht
auf dem Schirm.
({6})
Dann haben Sie uns jetzt einen Plan vorgelegt, den
Sie „Meilenstein“ nennen. Das ist aber bestenfalls ein
erster Schritt, den Sie ein Jahr, nachdem Sie das Gesetz
verabschiedet haben, gehen. Ich finde: schnell ist anders.
Auch finde ich es hochinteressant, welche verschiedenen
Szenarien mit den entsprechenden Berechnungen und
welchen Erzeugungsmix Sie beim Ausbau der erneuerbaren Energien zugrunde gelegt haben. Aber interessanterweise berücksichtigen Sie zum Beispiel Ihre eigenen
Effizienzziele und Einsparungen nicht. Das kommt in
Ihrem Plan nicht vor.
({7})
Auch der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung fehlt,
den Sie immer propagieren und über den Sie in der letzten Sitzungswoche erzählt haben, dass Sie dazu jetzt ein
ganz tolles Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz gemacht
haben.
({8})
Es fehlen die Aspekte Speichertechnologie und Lastmanagement. All das taucht in diesem Netzentwicklungsplan überhaupt nicht auf. Das kann in der Konsequenz doch nur bedeuten: Entweder glaubt Ihre eigene
Bundesnetzagentur nicht daran, dass Sie die Ziele umsetzen, oder Sie verfolgen sie überhaupt nicht. Das ist
doch eine Bankrotterklärung sondergleichen.
({9})
Dann zum Thema Öffentlichkeitsbeteiligung: Wir alle
wissen und es ist völlig klar, dass man den Netzausbau in
Deutschland auf allen Verteilungsebenen nur mit den
Menschen machen kann, indem man mit ihnen redet. Sie
haben nun den Plan vorgelegt. Danach sagen Sie per Pressekonferenz aus Bonn: Liebe Bürgerinnen und Bürger, ihr
habt jetzt sechs Wochen Zeit, eine Stellungnahme zu einem Konvolut von 300 Seiten abzugeben. - Das ist keine
Bürgerbeteiligung, das ist ein Witz. Das sage ich Ihnen
ganz klar.
({10})
- An dieser Stelle, Herr Kollege, wäre es richtig, vor
Ort, also dezentral, Veranstaltungen durchzuführen und
zu kommunizieren, was Sie zu tun gedenken, und nicht
von oben herab zu verkünden, was jetzt stattfinden soll.
Aber das finde ich in Ihren Planungen nicht.
Es wird am Ende so sein, dass Sie das Ganze hier
schnell durchpeitschen. Aber dann haben Sie tatsächlich
an vielen Stellen Menschen gegen sich, dann wird es
schwierig mit der Umsetzung, und dann jammern Sie
wieder über die Bürgerinitiativen und wahrscheinlich
über die Opposition, die das Ganze angeblich weltverschwörungsmäßig zu verhindern versucht. Das ist Ihre
Politik, und die wird am Ende, glaube ich, scheitern.
({11})
Zum Schluss will ich nur eines sagen: Dieser Netzentwicklungsplan beinhaltet etwas Positives, etwas, was vor
zwei Jahren noch unvorstellbar war. Da haben wir HGÜTrassen durch Deutschland gefordert, um den Strom
schnell transportieren zu können. Damals haben uns die
Netzbetreiber und die Regierung gesagt: Das geht gar
nicht. Jetzt auf einmal ist das machbar. Das ist ein Erfolg, und das ist vor allen Dingen ein Tiefschlag für die
Verantwortlichen der dena-Netzstudie II, mit der Sie uns
hier im Zusammenhang mit dem Netzausbau immer wieder traktiert haben. Dies zeigt, dass das, worauf Sie sich
bisher berufen haben, nicht das Papier wert ist, auf dem
es steht. Wenn wir den Netzausbau voranbringen wollen,
dann werden wir hier klare Prioritäten setzen und uns
vor allen Dingen für HGÜ-Trassen entscheiden müssen.
Sie haben diese Trassen bisher immer bekämpft, während wir sie mit vorangebracht haben. Mit der Politik,
die Sie hier begonnen haben, wird es, fürchte ich, im
Endeffekt nichts werden.
Danke schön.
({12})
Vielen Dank, Kollege Krischer. - Nächster Redner in
unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/
CSU unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte schön, Kollege Dr. Georg Nüßlein.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Man
muss sich schon einmal die Frage stellen, wem es hier
eigentlich um die Sache und wem es um die Frage der
parteipolitischen Profilierung geht.
({0})
Ich glaube nicht, dass es zielführend ist, ein so wichtiges
Thema wie dieses, bei dem es wirklich um den Flaschenhals unserer Energiewende geht - bisher habe ich gemeint, wir alle miteinander wollen sie -, einen derart
scheinheiligen Parteienstreit vom Zaun zu brechen und
so zu tun, als ob man dem politischen Gegner Zeitverzug
und Ähnliches vorhalten könnte, und das auch noch,
Kollege Krischer, in einer so offenkundig platten Art.
Ich kann doch nicht auf der einen Seite sagen: „Sie
sind zu spät; das geht zu langsam“, und mich auf der anderen Seite hinstellen und sagen: „Ja, wir wissen schon;
Sie wollen es am Ende durchpeitschen.“ - Was wollen
wir denn jetzt? Es wäre schön, wenn Sie einmal sagen
würden, was Sie sich an dieser Stelle vorstellen. Ich
glaube, wir sind an dieser Stelle auf einem sehr guten,
sehr soliden Weg. Wir haben einen Netzentwicklungsplan. Dem ging keine staatliche Planwirtschaft voraus,
kein Oktroi von oben; vielmehr wurde miteinander etwas entwickelt. Es wurden drei Szenarien aufgezeigt;
man hat verschiedene Ausbaualternativen skizziert. Auf
dieser Basis ist man im Rahmen einer Konsultation mit
der Bundesnetzagentur zu dem Punkt gekommen, dass
man gesagt hat: So wollen wir das Ganze ausbauen.
({1})
Ich habe nicht vernommen, dass uns das im Raum stehende Maximum an Investitionskosten, 27 Milliarden
Euro, irgendwie verleiten könnte, zu sagen „Das wird zu
teuer“ oder: „Das geht nicht.“ Es handelt sich um eine
Planung; da sind Schlussfolgerungen unangemessen.
Das, was der Kollege Krischer vorhin abgeleitet hat, ist
ganz seltsam. Er sagte, der Bundeswirtschaftsminister
sei aufgrund der Kosten dagegen, die Energiewende fortzuführen. Das ist eine unglaubliche Unterstellung, und er
wird der Sache so nicht gerecht.
Man wird in diesem Rahmen deutlich die Notwendigkeiten ausloten und feststellen müssen, wie viel Geld
man braucht. Ja, in der Tat gibt es Maßnahmen, um die
Strecken, die jetzt in Planung sind, zu reduzieren, um dafür Sorge zu tragen, dass das Ganze kostengünstiger
wird. Warum denn auch nicht? Herr Kollege Duin, wir
werden die Frage klären: Wer wird das am Schluss machen? Ich als Ökonom sage Ihnen ganz offen: Ich halte
sehr viel davon, die deutschen Übertragungsnetze in einer unabhängigen Netzgesellschaft zusammenzuführen.
So steht es übrigens auch in unserem Koalitionsvertrag.
({2})
Ich halte sehr viel davon, zumindest die neuen Netze,
mit denen wir in der Tat Probleme bekommen könnten,
im Rahmen einer solchen Gesellschaft aufzubauen. Es
spricht gar nichts dagegen, in diesem Rahmen beispielsweise die HGÜ auszubauen und die Frage zu klären, wer
was macht.
Nun sind da aber mehr Akteure als nur die Netzbetreiber betroffen. Ich habe die Bundesnetzagentur schon angesprochen und möchte betonen, dass wir auch da, Herr
Wirtschaftsminister, noch einmal über die Frage der investitionsorientierten Regulierung diskutieren müssen.
Die Bundesnetzagentur braucht natürlich noch eine klarere Definition von unserer Seite, was wir damit meinen.
Das heißt, dass wir andere Voraussetzungen insbesondere für den Ausbau der Verteilnetze schaffen müssen,
sodass dieser letztendlich auch geschieht.
Ich möchte abschließend noch einmal ganz klar an die
Politik appellieren. Der Appell an die Bundesländer, den
ich hier gehört habe, war richtig. Man kann hier aber
nicht einseitig nach Farben aufteilen, sondern
({3})
- da gebe ich Ihnen recht - da sitzen alle in einem Boot.
({4})
Alle müssen sich überlegen, wie sie mit dieser Frage
umgehen und wie sie die Energiewende beschleunigen
können.
({5})
Da gehören natürlich die rot-grün regierten Länder genauso dazu.
Ich bitte Sie noch einmal ganz deutlich: Hören Sie
auf, Zeithorizonte auszumalen, von denen Sie genau
wissen, dass sie nicht realistisch sind. Man kann hier
doch nicht auf der einen Seite sagen, alles müsse noch
schneller gehen, es gehe nicht schnell genug, und auf der
anderen Seite noch mehr Bürgerbeteiligung und weiß
Gott noch was fordern.
({6})
Sie müssten vielmehr über Ihren Schatten springen
und sagen, was Sie tun wollen, um die Verfahren zu beschleunigen. Ich glaube nicht, dass das mit mehr Instanzen und noch mehr Bürgerbeteiligung, als in Deutschland ohnehin schon institutionalisiert ist, geht, sondern
ich bin der Überzeugung, dass dieselben Maßstäbe gelten müssen, die damals bei dem Infrastrukturausbau im
Zusammenhang mit der deutschen Einheit zu Recht galten.
({7})
Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum diese nicht
auch die Maßstäbe bei diesem für diese Republik wirtschaftspolitisch so wichtigen Projekt sein sollten. Ich
bitte da um ein bisschen Unterstützung und Großmut
vonseiten der Opposition.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. - Nächster Redner
ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Rolf Hempelmann. Bitte schön, Kollege Rolf Hempelmann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! „Der Netzentwicklungsplan als Meilenstein der Energiewende“ - das klingt so, als müsste jemand sich selbst loben, weil er von niemand anderem
mehr gelobt wird. Dafür, muss ich ganz ehrlich sagen,
habe ich eine Menge Verständnis.
Wir hatten in dieser Woche den EU-Kommissar
Oettinger - übrigens immer noch eingeschriebenes Mitglied der CDU - im Wirtschaftsausschuss zu Gast. Sein
Zeugnis über das, was Sie Energiewende nennen, klang
doch ein bisschen anders als das, was aus dem Titel dieser heutigen Veranstaltung herausklingt.
({0})
Er sprach sehr deutlich von einer komplett fehlenden
Koordination der Energiepolitik sowohl innerhalb der
Bundesregierung als auch zwischen Bund und Ländern.
Er beklagte ganz ausdrücklich das energiepolitische
Chaos von 16 Bundesländern, das eben nicht bundespolitisch koordiniert wird. Er beklagte den deutschen Alleingang in Europa und die Verstimmung, die Sie bei den
europäischen Nachbarn ausgelöst haben. Er beklagte das
ambitionslose Vorgehen der Koalition und dieser Bundesregierung beim Thema Energieeffizienz und Energieeinsparung; das sind mit Sicherheit gerade im Rahmen
einer Energiewende zentrale Herausforderungen. Außerdem beklagte er die fehlende Abstimmung Ihrer Einzelmaßnahmen, das fehlende Gesamtkonzept.
Wenn Sie heute einen Netzentwicklungsplan vorstellen, dann ist das im Grundsatz ein richtiger Schritt. Aber
wir - und nicht nur wir, sondern offenbar auch der Energiekommissar in Brüssel - erkennen nicht, dass dieser
Netzentwicklungsplan in ein Gesamtkonzept eingebettet
ist. Sie haben ja auch keines. Wie sollte er dann darin
eingebettet sein?
In einem Gesamtkonzept würde sehr deutlich werden,
wie viel Netzausbau wir brauchen, wie viel wir auf der
Verteilnetzebene und auf der Übertragungsnetzebene
machen können, was wir mit dem intelligenten Ausbau
der Netze erreichen können und was wir erreichen können, indem wir bei dem Speicherausbau oder auch bei
dem Lastmanagement vorankommen, also bei dem Abrufen von Flexibilitäten auf der Nachfrageseite, sowohl
privat als auch in der Industrie.
In einem solchen abgestimmten Gesamtkonzept hat
dann ein Netzentwicklungsplan einen Platz. Sie liefern
einen isolierten, von diesen Fragen völlig losgelösten
Plan, der wahrscheinlich schon deswegen zukünftig immer wieder einer Überarbeitung bedarf.
({1})
Die beiden Herren haben offenbar privaten Diskursbedarf.
({2})
Das muss ja nicht schlecht sein; das kann uns vielleicht
auch weiterhelfen.
Sie haben gesagt, dass Sie das alles so wunderbar mit
den Ländern abgestimmt haben. Dazu muss man heute
nur einmal in die Zeitungen schauen. Da stellt man fest,
dass Herr Rösler beispielsweise Vorgaben für den Naturund Vogelschutz außer Kraft setzen will, an die FloraFauna-Habitat-Richtlinie heranwill. Gleichzeitig äußert
sich der energiepolitische Sprecher der CDU im Landtag
Thüringen wie folgt:
Schutzgüter wie Fauna und Flora und das Landschaftsbild dürfen bei der Abwägung nicht permanent ins Hintertreffen geraten.
So viel zu Ihrer Abstimmung zwischen Bund und Ländern, so viel auch zur Einigkeit in der Koalition.
Sie werfen anderen vor, Projekte zu behindern. In
Wirklichkeit ist es so, wie Kollege Krischer gerade
schon gesagt hat, dass Sie nicht in der Lage sind, bei Ihrem Projekt Ihre eigenen Leute mitzunehmen.
({3})
Das, was wir vor uns haben, meine Damen und Herren, ist hochkomplex. Wir haben zehn Jahre verloren,
({4})
weil Sie der Fantasie einer Laufzeitverlängerung nachgehangen haben. Wir müssen jetzt alles gleichzeitig und
in sehr viel kürzerer Zeit schaffen. Denken Sie daran:
Der NEP, der Netzentwicklungsplan, ist ein Plan. Denken Sie daran: Es gibt im Energieleitungsausbaugesetz
Trassen, die einer Vollendung bedürfen. Wenn wir uns
die Realität und nicht nur Ihren Plan anschauen, dann
stellen wir fest: Von den 900 Kilometern sind 200 Kilometer realisiert. Wir brauchen aber die Pilotprojekte,
weil wir von denen lernen wollen, weil wir für die weiteren Trassen die Erfahrungen brauchen, zum Beispiel
dazu, wie es sich mit den unterirdischen Kabellösungen
auf längeren Strecken verhält und welche technologischen Vorkehrungen wir dort zu treffen haben.
Es ist einiges zu den Herausforderungen im Bereich
der Regulierung und der Finanzierung der Netze gesagt
worden; ich will das nicht wiederholen, sondern nur
deutlich machen: Viele Fragen haben Sie heute unbeantwortet gelassen, so wie wir das von Ihnen gewöhnt sind.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Rolf Hempelmann. - Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der FDP unser Kollege Klaus Breil. Bitte schön, Kollege
Klaus Breil.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Ende Mai ist der Netzentwicklungsplan unter
www.netzentwicklungsplan.de veröffentlicht.
({0})
Dieser Netzentwicklungsplan ist ein bedeutender Schritt
für die Energiewende.
({1})
Herr Kollege Hempelmann, ich weiß nicht, ob Sie auch
mit der Industrie reden; ich jedenfalls tue das sehr intensiv
({2})
und erfahre da sehr viel Zustimmung.
({3})
Ich möchte Sie alle noch einmal daran erinnern, dass
es sich hier um eine gigantische Aufgabe handelt. Bis
2022 werden wir alle Kernkraftwerke in Deutschland abgeschaltet haben.
({4})
Bis dahin werden wir 35 Prozent unseres Stroms aus erneuerbaren Energien produzieren. 2050 soll dieser Anteil bei 80 Prozent sein.
Alle diese neuen Anlagen entstehen keineswegs nur
an ehemaligen Kraftwerksstandorten. Viele neue Einspeisepunkte verändern die Anforderungen an unsere
Energieinfrastruktur. Das Stromnetz war ursprünglich
für wenige große Stromerzeugungsanlagen konzipiert.
Jetzt muss ein flexibles und leistungsfähigeres Stromnetz her, und zwar mit Hochdruck. Ich glaube und hoffe,
dass Sie erkennen, dass es sich hier um eine gigantische
Aufgabe handelt.
Im letzten Jahr haben wir den Übertragungsnetzbetreibern deshalb mit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes einen Auftrag erteilt. Bereits jetzt haben
die Übertragungsnetzbetreiber geliefert. Das Ergebnis
kann sich sehen lassen. Mit dem Entwurf des Netzentwicklungsplans legen sie den für die nächsten zehn Jahre
benötigten Netzausbaubedarf dar.
Vier Szenarien geben uns einen Überblick über das,
was auf uns zukommt, wohin wir wollen, und wofür wir
uns einsetzen. Ein funktionierendes Stromnetz ist Garant
für Versorgungssicherheit und Netzstabilität sowie für
das Funktionieren des Industriestandorts Deutschland.
Wie beim Kraftwerksbau oder den Kosten für Energie
ist auch beim Netzausbau eines besonders wichtig: Wir
dürfen die Akzeptanz nicht aus den Augen verlieren. Daher gilt bei der Arbeit am Netzentwicklungsplan: Optimierung und Verstärkung des Netzes geht vor Neubau
von Leitungen. Das spart Geld und verringert die Reibungsverluste vor Ort durch Widerstände von Bürgerinnen und Bürgern. Auch damit müssen wir bei dieser
Mammutaufgabe rechnen. Deshalb müssen wir die Bürger mitnehmen und sie einladen, mitzumachen.
Auf der genannten Internetseite können sich Bürgerinnen und Bürger, Kommunen und Verbände unter dem
Titel „Neue Netze für neue Energien“ bis zum 10. Juli zu
den veröffentlichten Eckpunkten der Stromnetzausbauplanung äußern. Bis gestern sind 120 Stellungnahmen
eingegangen. Das ist für den Anfang ein respektabler
Zwischenstand.
({5})
- Kollege Krischer, welchen Vorschlag hätten Sie zu machen? Sie bemängeln Dinge, aber Sie machen keinen
Vorschlag. Sie nennen keine Zahlen. Wir haben Sie
mehrfach gefragt. Sie kritisieren nur, machen aber keine
konkreten Vorschläge.
({6})
Wir ermuntern die Bürgerinnen und Bürger, diese
Chance noch mehr zu nutzen. Auch an dieser Stelle
möchte ich das betonen.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, diese
Idee der christlich-liberalen Regierung ist bisher einmalig in der Energiepolitik. Der Netzentwicklungsplan ist
ein Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen und
nachhaltigen Energieinfrastruktur.
({7})
In ähnlicher Form kennen wir das aus der Verkehrspolitik: Der erste Bundesverkehrswegeplan stammt bereits
aus dem Jahr 1973.
({8})
In der Energiewirtschaft hat sich bisher noch niemand
da herangetraut. Doch jetzt endlich, im Jahr 2012, zieht
Schwarz-Gelb beim Stromnetzausbau nach.
({9})
Ende Oktober erhalten wir nach Überprüfung durch
Wissenschaft und Bundesnetzagentur eine Empfehlung
für einen Bundesbedarfsplan. Das heißt: Noch in diesem
Jahr werden wir uns in diesem Haus sehr konkret mit
dem Verlauf der Stromtrassen beschäftigen. Im Winter
werden wir den notwendigen Netzausbau in einem Gesetz festlegen. Damit werden konkrete Trassen justiziabel, also auch gerichtlich durchsetzbar. Umso wichtiger
ist es daher, sich jetzt einzubringen, Herr Krischer. Die
Übertragungsnetzbetreiber laden jetzt dazu ein; die Bundesnetzagentur in ein paar Wochen. Dafür werden wir
dann beschlossene Leitungsneubauprojekte besser und
schneller umsetzen. Das ist vorbildliche Bürgerbeteiligung.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Klaus Breil. - Nächster Redner
in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Thomas Bareiß. Bitte schön,
Kollege Thomas Bareiß.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Lieber Kollege Duin, Sie haben Ihre Rede mit
der Verwunderung über die jetzige Debatte, unsere Aktuelle Stunde, eingeleitet. Mich erstaunt es nicht, dass
Sie verwundert sind. Sie haben in den letzten Monaten
eine Debatte über das Ausstiegsszenario geführt.
({0})
Wir aber sprechen nicht über den Ausstieg, sondern über
den Einstieg.
({1})
Wir müssen über den Einstieg sprechen, damit wir eine
Energiewende vollziehen können. Deshalb ist diese Debatte auch so wichtig.
({2})
Ich bin dankbar dafür, dass wir diese Debatte führen und
zeigen können, welche Konzepte Schwarz-Gelb hat.
({3})
Wir haben in den letzten Monaten die Energiewende
Schritt für Schritt vorangetrieben. Wir haben die Projekte, die notwendig sind, vorangebracht. Wir haben
schon vor drei Jahren mit dem EnLAG gezeigt, dass wir
das Thema Leitungsausbau für wichtig erachten.
({4})
Wir haben 24 konkrete Projekte genannt und gehen mit
diesen Projekten Schritt für Schritt voran. Wir haben vor
einem Jahr das Energiewirtschaftsgesetz mit einer großen Novelle vorangebracht. Wir haben dafür gesorgt,
dass wir trotz schnellen Zubaus von erneuerbaren Energien eine gewisse Netzstabilität erhalten und garantieren
können. Wir haben vor einem Jahr das Netzausbaubeschleunigungsgesetz, das NABEG, auf den Weg
gebracht; der Minister hat es vorhin ausgeführt. Jetzt wiederum bringen wir auf seiner Basis den Netzentwicklungsplan voran und setzen damit einen weiteren Meilenstein im Rahmen unserer Energiewende. Wir schaffen
es damit auch, einen Fehler von Rot-Grün beim damaligen Kernenergieausstieg auszubügeln.
Mit dem jetzigen Gesetz versuchen wir, ein Stück
weit den Zubau von erneuerbaren Energien mit der Infrastruktur und mit dem Netzausbau zu synchronisieren.
Das gilt in einem nächsten Schritt auch für den Speicherausbau, der ebenfalls dazugehört. Das ist nur eine von
zwei Seiten einer Medaille. Wir müssen beides im Auge
behalten, und mit dem jetzigen Netzentwicklungsplan
wird uns das gelingen.
({5})
Damit können wir in den nächsten Jahren verhindern,
dass wir Windstrom, den wir teilweise schon jetzt abregeln müssen, nicht nutzen können, weil es nicht genügend Infrastruktur gibt und weil die Netze nicht vorhanden sind. Wir benötigen Stromautobahnen, um den
Strom abfließen zu lassen; nur so schaffen wir es, die
Windströme aufzufangen und im Netz zu integrieren.
Auf diese Weise sorgen wir dafür, dass der Strom in
Deutschland nach wie vor bezahlbar bleibt. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt. Die Energiewende wird nur dann
gelingen, wenn wir den Menschen zeigen, dass wir das
Ganze richtig angehen und dass Strom bezahlbar bleibt.
Auch deshalb ist der Ansatz, den wir heute diskutieren,
so wichtig. Daran müssen wir weiter festhalten.
Wir müssen es schaffen, dort in erneuerbare Energien
zu investieren, wo sie am sinnvollsten und am wirtschaftlichsten sind. Herr Krischer, Sie sagen, die Energieversorgung der Zukunft werde komplett dezentral
sein. Sie irren sich. Die Energieversorgung wird teilweise dezentral sein, aber in vielen Bereichen wird sie
auch sehr zentral sein. Denn in der Zukunft müssen wir
die Windräder dort aufbauen, wo am meisten Wind vorhanden ist und wo der Windstrom am kostengünstigsten
produziert werden kann.
({6})
Deshalb wird die Gewinnung des Windstroms in den
nächsten Jahren im Norden unseres Landes dramatisch
aufgebaut werden, und deshalb brauchen wir die Stromautobahnen vom Norden in den Süden. Sie irren in Ihrer
Annahme; denn wir brauchen diese Leitungen dringend.
In den nächsten Jahren werden wir erleben, dass der Abstand zwischen Produzent und Verbraucher im Bereich
der Infrastruktur in vielen Bereichen nicht abnehmen,
sondern eher zunehmen wird.
Daher ist es dringend notwendig, diese Stromautobahnen zu bauen. In den nächsten zehn Jahren benötigen
wir 3 800 Kilometer Leitungen. Darüber hinaus haben
wir noch EnLAG-Projekte fertigzustellen; das betrifft
900 Kilometer Leitungen. Das heißt: In den nächsten
zehn Jahren benötigen wir 4 700 Kilometer Stromautobahn; wir müssten also jeden Werktag 2 Kilometer Leitungen bauen. Wenn man sich die bisherige Geschwindigkeit - inklusive der Altlasten von Rot-Grün - von bis
zu 14 Tagen Bauzeit für 2 Kilometer Leitungen vergegenwärtigt, dann erkennt man: Wir haben noch ein ordentliches Stück Wegstrecke vor uns, um unser Ziel tatsächlich zu erreichen.
Mein letzter Punkt. Wir können viel über Rahmenbedingungen oder technische Stellschrauben diskutieren.
Ob die Leitungen dann tatsächlich gebaut werden können, hängt damit zusammen, ob wir vor Ort die notwendige Akzeptanz erhalten. Für unsere politische Führung
bedeutet es eine Mammutaufgabe, vor Ort dafür zu sorgen, dass die Kommunen in dieser Frage mitziehen. Die
zu bauenden 4 700 Kilometer Leitungen müssen vor Ort
entsprechende Akzeptanz finden. In dem Zusammenhang habe ich, wie meine Vorredner, oft die Erfahrung
gemacht, dass diejenigen, die hier die großen Sprüche
bezüglich des Ausbaus der Erneuerbaren klopfen, vor
Ort wiederum die Durchsetzung der Projekte verhindern.
({7})
Deshalb kann ich Sie nur immer wieder auffordern:
Machen Sie von Rot-Grün mit bei unserer Energiewende. Sorgen Sie mit dafür, dass in Deutschland die
entsprechende Infrastruktur gebaut und so in unsere Zukunft investiert wird.
Herzlichen Dank.
({8})
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen Ulrich
Kelber für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Praktisch alle Vorrednerinnen und Vorredner haben
zu Recht auf den hohen Zeitdruck bei der Netzmodernisierung hingewiesen. In diesem Zusammenhang ist es
interessant, zu überlegen, wodurch der Zeitdruck entstanden ist.
Es ist ziemlich genau sechs Jahre her, da haben in einem Raum gut 50 Meter von hier, auf der gleichen
Ebene des Reichstagsgebäudes, die Koalitionäre von
CDU/CSU und SPD zusammengesessen. Herr Pfeiffer,
ich weiß nicht, ob Sie damals ebenfalls in diesem Raum
waren. Bundesumweltminister Gabriel schlug vor, dass
wir in Deutschland Leitungen zur HochspannungsGleichstrom-Übertragung, gerade von den meisten mit
HGÜ abgekürzt, also Stromautobahnen bauen sollten.
Daraufhin lachte der Koalitionspartner der CDU/CSU:
Ihm sei von den Energiekonzernen gesagt worden, so etwas bräuchte man in Deutschland nicht;
({0})
man wolle das nicht in die Arbeit der Koalition aufnehmen. Was, glauben Sie, habe ich gedacht, als ich den
neuen Netzentwicklungsplan bekommen habe, dessen
Kern der Bau von vier Stromautobahnen ist?
({1})
Man sollte auch darüber sprechen, was da passiert ist.
Ich habe zu diesem Netzentwicklungsplan auch Fragen. Erstens: Wir brauchen Kostentransparenz. Wir haben jetzt gelesen, dass über einen Zeitraum von zehn
Jahren Kosten in Höhe von 20 Milliarden Euro anfallen.
Ich frage auch die Übertragungsnetzbetreiber: Wie viele
dieser Investitionen sind denn ohnehin notwendige Ersatzinvestitionen bei einem 35 Jahre alten Netz? Ich bin
nicht bereit, zu akzeptieren, dass man jede Ersatzinvestition, die man in den 90er-Jahren und den frühen Jahren
des vergangenen Jahrzehnts unterlassen hat, jetzt den erneuerbaren Energien zuschiebt, nachdem man damals
die großen Gewinne gemacht hat.
({2})
Auch dazu gehört Ehrlichkeit. Wer gestern beim Frühstück der Übertragungsnetzbetreiber dabei war, hat mitbekommen, dass auf meine Nachfrage hin zugestanden
wurde, dass man nicht zwischen solchen notwendigen
Ersatzinvestitionen und dem Zubau, den die Erneuerbaren notwendig machen, differenziert hat. Es bleibt dabei:
Nach 1999, nach der Liberalisierung, sind die Netzinvestitionen halbiert worden. Was wir jetzt benötigen, ist in
etwa die Investition, wie sie die Volkswirtschaft der
Bundesrepublik Deutschland in den 70er-Jahren bereits
einmal gestemmt hat, für eine sichere Energieversorgung.
Nehmen wir die Ersatzinvestitionen heraus und verwenden wir die Zahlen, die laut Netzentwicklungsplan
ohne das sogenannte Startnetz entstehen, unterhalten wir
uns in Deutschland über eine jährliche Abschreibungsrate - es sind ja immerhin Investitionen, die für 40 Jahre
getätigt werden - von 250 bis 375 Millionen Euro.
50 Hertz, einer der vier Übertragungsnetzbetreiber, hat
gesagt: Durch diese Investition werden allein in Thüringen Kosten für den Netzbetrieb in Höhe von 130 Millionen Euro im Jahr eingespart. Es gibt weitere Regionen in
Deutschland, in denen damit Kosten eingespart werden.
Auch diese Nettorechnung sollten wir aufmachen.
Ich erwarte eine differenzierte Betrachtung auch der
Bundesnetzagentur dazu, ob wir mit einem dezentraleren
Ausbau an bestimmten Stellen auch noch Kosten einsparen
können. Es geht am Ende darum, die Systemkosten zu
optimieren, und es wäre Aufgabe der Ministerien, nicht
immer nur Einzelbetrachtungen vorzunehmen, nicht nur
zu sagen: Jetzt versuchen wir, bei den Netzkosten herunterzukommen; jetzt versuchen wir es mit dieser Fördergeschichte; jetzt geben wir hier einen Zuschuss. - Am
Ende müssen die Systemkosten auf dem Weg zu
100 Prozent erneuerbaren Energien optimal sein.
({3})
Ich habe in den letzten Wochen die geschätzten Kollegen von der FDP- und der CDU/CSU-Fraktion - Breil,
Pfeiffer, Bareiß - genauso wie den Minister Rösler gehört, die gesagt haben: Man muss den Ausbau der Erneuerbaren an die Netzentwicklung anpassen. Was ich
vermisst habe, ist die Frage: Muss man nicht die gesamte
Energieversorgung und die Netzentwicklung einander
anpassen? Da hat keiner davon gesprochen, dass man
den Neubau von fossilen Kraftwerken an der Küste, der
dort stattfindet, weil die Gasanlandung und die Kohleanlandung etwas preisgünstiger als im Südwesten der Republik sind, verbieten sollte. Die Kraftwerke nutzen aber
die gleichen Netze, Herr Kollege Breil. Sie wollen also
die Netze mit fossiler Energie verstopfen und dann sagen: Für die Erneuerbaren brauchen wir jetzt noch mehr,
und das ist viel zu teuer.
({4})
Das sind die Fragen zum Netzentwicklungsplan, die
man auch stellen kann. Aber wer die Äußerungen der
Übertragungsnetzbetreiber verfolgt hat, wer weiß, dass
es um 250 bis 375 Millionen Euro pro Jahr geht, der
weiß eines: Dieser Netzentwicklungsplan liefert kein Argument gegen 100 Prozent erneuerbare Energien. Wir
wissen, dass es auch mit fossilen Energien immer teurer
würde: Ersatzinvestitionen in Kraftwerke, Ersatzinvestitionen in Netze müssten auch dann stattfinden, weil alles
veraltet ist. Dieser Netzentwicklungsplan zeigt: 100 Prozent Erneuerbare dezentral sind machbar, bezahlbar und
ökonomisch sinnvoll.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU Ulrich Kelber [SPD], an den Abg. Dr. Joachim
Pfeiffer [CDU/CSU] gewandt: Kollege Pfeiffer,
Sie erinnern sich noch genau an die Besprechung mit der HGÜ! - Gegenruf des Abg.
Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Ach,
schwätzt doch keinen Scheiß aus! Wirklich! Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber ({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kelber, wenn Sie sich einmal kurz zu mir richten
könnten: Das Problem ist doch vielmehr, dass wir insgesamt ein Problem mit den verschiedenen Ländern haben.
Das ist das Entscheidende. Das sage ich auch Herrn
Krischer und all den anderen, die jetzt erklären: Ihr habt
doch mit eurer schwarz-gelben Bundesregierung - - Das
spielt keine Rolle. Die verschiedenen Landesregierungen haben immer etwas andere Interessen, als wir sie auf
Bundesebene haben. Deswegen sollten wir doch gemeinsam so ehrlich sein, festzustellen, dass eine gemeinsame Entwicklung der Netze und eine gemeinsame
Energiepolitik unser gemeinsames Ziel sein sollten und
wir deswegen in der Opposition genauso wie in der Koalition dafür sorgen müssen, dass wir unsere Länder
dazu bewegen, es gemeinsam hinzubekommen. Da hilft
es nicht, zu erklären: Ihr habt die gleichen Probleme. Ich
würde gerne darauf verzichten, dass wir uns in Bezug
auf die Vergangenheit gegenseitig den Schwarzen Peter
zuschieben. Vielmehr sollten wir uns endlich um die Zukunft kümmern und darum, dass es vorangeht.
({0})
- Herr Kelber, schauen wir uns doch einmal an, was Sie
gemacht haben. Solange Sie an der Regierung waren, ist
doch gar nichts passiert.
({1})
Sich zu beschweren, dass es so langsam geht, und herumzumeckern, ist wirklich lächerlich. Bleiben wir doch
bei den Fakten, das gilt auch für Sie. Sie haben kein
Netzausbaubeschleunigungsgesetz vorgelegt. Auch in anderen Bereichen waren Sie untätig.
({2})
Ich bin der Meinung, dass es jetzt vorwärtsgehen muss.
Wir müssen das gemeinsam schaffen. Ich glaube auch,
dass es gelingen kann.
Die Hochspannungsleitungen, also die 380-kV-Leitungen, werden wir auf jeden Fall brauchen. Es nützt
nichts, darüber nachzudenken, ob wir dezentral produzieren sollten, weil klar ist, dass gerade der Offshoreund der Onshorewindbereich im Nordosten in den
nächsten Jahren zunehmen wird. Das ist doch unser gemeinsames politisches Ziel. Gleichzeitig wissen wir,
dass wir im Süden und im Südwesten an der Rheinschiene den meisten Strom brauchen. Darum müssen wir
uns kümmern.
Die Maßnahmen hätten von Anbeginn parallel laufen
müssen. Es ging von vornherein nicht um die Frage, ob
man erneuerbare Energie fördern soll, sondern darum, zu
klären, ob man die gesamte Stromversorgung statt auf
zentralen auf dezentralen Kraftwerken aufbauen will;
denn wenn ich eine dezentrale Versorgung will, dann
muss ich dafür sorgen, dass die Infrastruktur rechtzeitig
zur Verfügung steht. In der Vergangenheit wurde für
manche Netze bis zu 20 Jahre gebraucht. Eine Photovoltaikanlage kann innerhalb weniger Stunden auf dem
Dach installiert werden, falls die nächste Kürzung ins
Haus stehen sollte. All das zeigt, dass man frühzeitig mit
dem Ausbau der Netze beginnen muss;
({3})
hier hinken wir hinterher. Leider wurde das von allen
Vorgängerregierungen versäumt. Inzwischen sind wir
uns alle einig, dass es jetzt schneller gehen muss.
Wir müssen den Netzausbau beschleunigen. Natürlich
wissen wir, dass die Menschen vor Ort Probleme haben,
wenn hinter ihrem Grundstück eine Großleitung verlegt
werden soll, die den Wert des Grundstücks reduzieren
wird. Ihnen ist dann auch egal, wer welches Parteibuch
hat. Die Probleme sind grundsätzlicher Art. Deswegen
wird es wichtig sein, dass wir die Menschen frühzeitig
einbeziehen. Stuttgart 21 beispielsweise hat bewiesen,
dass es nicht unbedingt ein Vorteil ist, wenn man lange
über ein Thema debattiert, sondern dass es sogar kontraproduktiv sein kann. Wenn ich 10 oder 15 Jahre über die
gleiche Infrastrukturmaßnahme debattiere, dann hat das
zur Folge, dass irgendwann einmal die Akzeptanz in der
Bevölkerung sinkt. Darum bin ich der Meinung, dass wir
die Menschen sehr viel früher als in der Vergangenheit
einbeziehen müssen, wir müssen allerdings auch schneller Entscheidungen treffen. Das wird dazu führen, dass
wir schneller handeln können als in der Vergangenheit.
Das bedeutet natürlich auch, dass man den Instanzenweg
nicht ausweitet, sondern verkürzt. Das ist die andere
Seite der Medaille. Wenn man das will, dann muss man
offen damit umgehen und die Probleme benennen. Will
man das nicht, dann muss man eine Alternative aufzeigen, wie man den Netzausbau sonst noch beschleunigen
kann. Dazu habe ich von Ihnen leider noch keine Antwort gehört. Ich würde mich freuen, etwas darüber zu
hören.
Wir müssen uns nicht nur über die Hochspannungsnetze Gedanken machen, sondern auch über Niederspannungs- und Verteilnetze vor Ort. In diesem Zusammenhang gehört es zur Wahrheit dazu, zuzugeben, dass wir
grundsätzlich die Debatte über die Einspeisung von erneuerbaren, volatilen Energien anders führen müssen.
Das heißt für mich nicht, dass wir das EEG abschaffen
müssen, sondern das heißt, dass wir das EEG schneller
beenden als in der Vergangenheit vorgesehen, und zwar
ohne dass wir das System durch ein anderes ersetzen,
sondern indem man sagt: Die Menschen müssen weniger
einspeisen - übrigens nicht weniger produzieren - und
gleichzeitig mehr selber verbrauchen. Wenn uns das gelingt, dann sparen wir zumindest im Verteilungsbereich
an den Netzausbaukosten, und zwar riesige Summen.
Wenn man bedenkt, was wir in den letzten Jahren für
die erneuerbaren Energien ausgegeben haben, dann sieht
man, dass wir so nicht weitermachen können. Hier im
Bundestag sollte es Common Sense sein, dass wir die
Summe von 150 Milliarden Euro - wir haben uns 2011
verpflichtet, im Bereich erneuerbare Energien so viel zu
investieren - nicht einfach so fortlaufend erhöhen können.
({4})
- Oder sogar bis 185 Milliarden Euro, Hans-Josef Fell.
Das hängt davon ab, wie es weitergeht. Mittlerweile sind
wir vielleicht auch schon bei 200 Milliarden Euro. Es
spielt keine Rolle.
({5})
Wir müssen dafür sorgen, dass diese Summe in Zukunft
deutlich weniger wird. Das wird uns gelingen, wenn die
Menschen weniger Einspeisevergütung erhalten, als sie
selber für Strom bezahlen; denn dann lohnt es sich natürlich, den Strom selbst zu verbrauchen. Da müssen wir
hinkommen. Hier brauchen wir Unterstützung.
Für die Menschen soll der Anreiz geschaffen werden,
den Anteil am Eigenverbrauch zu erhöhen, nicht 0 bis
20 Prozent, sondern vielleicht auf bis zu 50 Prozent.
Wenn sie einen höheren Eigenverbrauch haben, erhalten
sie einen höheren Einspeisesatz. Wenn sie mehr als
50 Prozent einspeisen wollen, könnten wir die Vergütung senken. All das schafft Anreize, das Netz zu entlasten und den Strom dezentral zu verbrauchen. Es müssen
Anreize dafür geschaffen werden, dass die Leute, die
Strom produzieren, ihn endlich auch verbrauchen und
ihn nicht nur zur Verfügung stellen.
({6})
- Hören Sie doch einmal zu. Dann kommen wir vielleicht endlich mal vorwärts. Dieser ständige Protest
- nein, nein, nein! - und die Forderung, die Förderung
nicht so stark zu kürzen, wird uns keinen Zentimeter
weiterbringen.
({7})
Deswegen sinkt doch die Akzeptanz in der Bevölkerung.
Der Grund, warum wir Geld zum Fenster hinausschmeißen, ist doch, dass keiner von Ihnen bereit ist, nach links
und rechts zu schauen, solange die Lobbyisten aus der
Photovoltaikindustrie Nein sagen.
({8})
Das ist genau das Problem. Ihr müsst innovativer werden. Ihr müsst euch zum Beispiel überlegen, wie man es
schafft, dass diejenigen, die volatilen Strom produzieren,
sich jemanden für das Back-up suchen, zum Beispiel
einen Biogaskraftwerks-, einen Wasserkraftwerks- oder
einen Gaskraftwerksbetreiber. Nichts dergleichen kommt
von Ihrer Seite. Wenn es die richtigen Innovationen gibt,
dann geht es, glaube ich, voran.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Herr Präsident, liebe Kollegen, herzlichen Dank für
die Aufmerksamkeit. Ich merke, es gibt auch hier noch
Investitionsbedarf. Sie sollten ein bisschen Herzblut und
Hirnschmalz investieren.
({0})
Wenn wir das gemeinsam aufbringen, dann können wir,
glaube ich, das Problem lösen.
Vielen Dank.
({1})
Letzter Redner in der Debatte ist Jens Koeppen für
die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist heutzutage kein Problem mehr,
Strom aus erneuerbaren Energien zu gewinnen. Die
Herausforderung besteht darin, ihn an die richtige Stelle
zu bekommen bzw. ihn dort zu produzieren, wo man ihn
braucht. Deswegen ist eine gute Netzinfrastruktur selbstverständlich notwendig.
Ich erinnere an die Ethik-Kommission, die wir vor
rund einem Jahr gemeinsam gelobt haben. In dem
Schlussbericht heißt es, dass die Stromnetze und ihr
Ausbau der wichtigste Prüfstein für das Gemeinschaftswerk sind. Dort steht auch, dass entscheidend ist, dass
der erzielte Konsens auf Dauer angelegt ist. Das will ich
unterstreichen. Ich muss sagen, dass Ihre heutigen Attacken gegen den Netzausbau nicht zu dem Lob von
damals passen. Diese Debatte erinnert mich eher an das
Verhalten der brandenburgischen Landesregierung, die
den Konsens hinsichtlich des Atomausstiegs bereits wenig später infrage gestellt hat, weil einige brandenburgische Kommunen aufgrund des Atomausstiegs geringere
Steuereinnahmen von Vattenfall bekommen. Kann man
mit einem solchen Politikverständnis in der Energiepolitik vorankommen? Ich bin da skeptisch.
({0})
- Herr Kelber, Fakt ist doch, dass wir mehr Netze brauchen. Wir müssen erkennen, dass die Netze Lebensadern
der Energiewende sind. Für den Netzausbau ist nicht die
Anzahl der Kilometer entscheidend. Herr Krischer, diesbezüglich können wir einen Konsens herstellen. Wir
brauchen uns gar nicht darüber zu streiten, ob das 4 600,
3 800 oder 2 500 Kilometer sind. Das ist aus meiner
Sicht nicht relevant. Relevant ist die Qualität des Ausbaus: Wie schaffen wir es, technologieoffen und innovationsfreudig Kapazitätserweiterungen zu organisieren,
die sich zum Beispiel aus der Verwendung von Hochtemperaturseilen, einer dezentralen Stromeinspeisung
oder Speichermöglichkeiten für die fluktuierenden Energien ergeben?
({1})
Erkenntnisse hinsichtlich der Machbarkeit laufen komplett unter dem Radar. Wir müssen feststellen, dass einige, statt Netze zu errichten, Energiekapazitäten nur am
Ort erzeugen wollen. Das wird nicht funktionieren. Das
ist eine Vision, die wir haben sollten und haben; für die
zügige Umsetzung der Energiewende brauchen wir aber
gute Netze.
Stellen Sie sich einmal vor, Berlin wäre gekrönt mit
Windrädern. Ich denke, das ist eine städtebaulich relativ
abscheuliche Vorstellung. Solche Experimente können
wir uns wahrlich nicht leisten. Die Idee, sich autark zu
versorgen, ist schön. Kollege Meierhofer hat das bereits
gesagt. Ich selbst habe eine Photovoltaikanlage auf
meinem Dach. Laut installierter Leistung könnte ich
mich selbst versorgen. Das ist gar keine Frage. Wenn es
aber um Leistung mal Zeit geht, also um die elektrische
Arbeit, dann sieht das schon anders aus.
({2})
Selbst wenn ich mich zu 80 oder sogar 90 Prozent selbst
versorgen könnte, brauchte ich für die restlichen 20 oder
10 Prozent ein Netz, das sicherstellt, dass die Energie zu
jeder Zeit zu mir kommt. Das gilt nicht nur für mich,
sondern für die ganze Wirtschaft. Wir brauchen eine gute
Netzinfrastruktur, und zwar auch dann, wenn man sich
vor Ort bzw. in einem Bundesland durch die installierte
Leistung selbst versorgen könnte.
Der Netzausbau ist nicht zum Nulltarif zu haben. Deswegen müssen wir den Leuten sagen, dass Eingriffe in
die Natur und das Landschaftsbild stattfinden werden.
Aber im Gegenzug werden wir auch etwas bekommen:
Wir bekommen den von einem Großteil der Bevölkerung geforderten Umbau der Energieversorgung, also
den Atomausstieg. Wir bekommen dafür, dass ein Großteil der Energie aus regenerativen Energiequellen stammt.
Wir bekommen dafür, dass wir die gefährliche Energieabhängigkeit von unsicheren Drittstaaten reduzieren
können. Wir bekommen dafür auch, dass unsere Energieversorgung wesentlich klimafreundlicher und umweltverträglicher wird. Das sollte uns die Investitionen
in die Netzinfrastruktur wert sein.
({3})
Deshalb ist für mich der Netzentwicklungsplan ein
Meilenstein. Ich unterstütze die Aussage von Umweltminister Altmaier, der gesagt hat: Nicht der einzelne
Kilometer ist für den Erfolg der Energiewende relevant,
sondern dass das System funktioniert. In diesem Sinne
müssen die am Erfolg interessierten Bundesländer mit
uns gemeinsam an einem Strang ziehen, und zwar in die
richtige Richtung. Das pure Festhalten an und das Pflegen von Landesegoismen wie zum Beispiel bei CCS, bei
der PV-Vergütung und der Gebäudesanierung helfen uns
nicht weiter.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass wir
aufgrund der Detailprobleme beim Netzausbau, die es
natürlich gibt, nicht den gesamten Netzausbau infrage
stellen sollten. Von Deutschland geht eine Signalwirkung aus. Ein solches Megaprojekt gab es noch nicht in
einem Industrieland mit solch einem hohen Energiebedarf. Wir können die Energiewende in Deutschland nur
mit der notwendigen Infrastruktur meistern. Wir sehen
den Netzentwicklungsplan daher wirklich als Meilenstein der Energiewende an. Viele in Europa und in der
Welt warten ab und schauen auf uns. Ich bin ganz sicher:
Deutschland wird es packen. Wenn es einer packen
kann, dann Deutschland. Wenn wir es dann geschafft haben, werden viele unserem Beispiel folgen.
Herzlichen Dank.
({4})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 9 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes
im Recht der Sicherungsverwahrung
- Drucksache 17/9874 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten
- Drucksache 17/9389 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 17/9990 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Stephan Thomae
Jens Petermann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Max Stadler.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es war eine der bleibenden Leistungen des großen
Liberalen Thomas Dehler in seiner Amtszeit als erster
Bundesminister der Justiz, dass er 1953 das Jugendgerichtsgesetz in der Tradition des großen Gustav
Radbruch gestaltet hat. Der damals formulierte Vorrang
des Erziehungsgedankens hat das deutsche Jugendstrafrecht zu einem der modernsten der Welt gemacht. Dieses
Jugendstrafrecht hat sich über die Jahrzehnte hinweg
sehr gut bewährt. Bei der Grundkonzeption bleibt es
selbstverständlich, auch wenn wir heute die jugendrichterlichen Handlungsmöglichkeiten punktuell erweitern.
Seit langem wird darüber diskutiert, ob das Höchstmaß der Jugendstrafe von zehn Jahren bei Mord ausreichend definiert ist. Ich bin überzeugt: Es gibt Einzelfälle,
bei denen dieses Höchstmaß nicht angemessen ist. Ich
nenne ein Beispiel: Zwei Täter im Alter von 20 und
22 Jahren begehen gemeinschaftlich einen Mord. Wenn
nun der 20-jährige Haupttäter, auf den noch Jugendstrafrecht anwendbar ist, zu einer Jugendstrafe von maximal
zehn Jahren verurteilt werden kann, für den 22-jährigen
Mittäter hingegen zwingend lebenslange Freiheitsstrafe
vorgeschrieben ist, dann besteht offenkundig eine
Diskrepanz.
({0})
Deshalb ist die Anhebung des Höchstmaßes der Jugendstrafe für Heranwachsende bei Mord auf 15 Jahre richtig, wobei wir als einschränkende Voraussetzung vorsehen, dass dies nur bei besonderer Schwere der Schuld
gilt. Diese Änderung betrifft nicht die jugendlichen Täter, also die Altersgruppe der 14- bis 17-jährigen Täter,
sondern ausdrücklich nur die Heranwachsenden, also die
Gruppe der 18- bis 20-jährigen Täter, falls auf diese
noch Jugendstrafrecht angewendet wird.
Strittiger war in den Ausschussberatungen ein weiteres Dauerthema aus der jugendrechtlichen Diskussion
der letzten 20 Jahre: die Ermöglichung des Jugendarrestes neben einer auf Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe. Entgegen bekannten Bedenken im Schrifttum
halten viele Praktiker diese zusätzliche Reaktionsmöglichkeit für erforderlich, um zu vermeiden, dass ein zu
einer Bewährungsstrafe verurteilter Täter den falschen
Eindruck aus der Gerichtsverhandlung mitnimmt, seine
Straftat sei quasi sanktionslos geblieben. Ich sage noch
einmal, Herr Kollege Montag: Das ist ein falscher Eindruck. Aber viele Praktiker meinen aufgrund ihrer Erfahrung, dass das bei den Verurteilten manchmal so ankommt. Wir entsprechen heute diesem Wunsch aus der
Praxis, in der Erwartung, dass von der neuen Sanktionsmöglichkeit zielgenau, in den richtigen Fällen und damit
wirksam Gebrauch gemacht wird.
({1})
Meine eigene persönliche Erfahrung als Jugendrichter
hat mich gelehrt, dass der erstrebte pädagogische Erfolg
eines kurzzeitigen Freiheitsentzugs sehr stark von der
praktischen Durchführung abhängt. Insbesondere muss
der Jugendliche die Verbindung zwischen der Ahndung
und seiner Tat erkennen können. Dies setzt einen raschen Vollzug des Arrestes und dessen sinnvolle Ausgestaltung voraus. Davon wird der Erfolg dieses neuen
Instruments abhängen. Hierfür tragen die Länder die
Verantwortung.
Auch unser zweites heutiges Thema berührt sehr stark
die Bundesländer, die für den Vollzug der Sicherungsverwahrung zuständig sind. Bei der grundlegenden Reform dieses schwierigen Bereichs zum 1. Januar 2011
haben wir diese Kompetenzzuweisung beachtet. Wir
haben damals als Bundesgesetzgeber bewusst keine Vorgaben gemacht, wie sich der Vollzug der Sicherungsverwahrung von der Strafhaft unterscheiden muss.
In seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch gerade die Verletzung des
sogenannten Abstandsgebotes zwischen dem Vollzug
von Sicherungsverwahrung und Strafhaft gerügt. Vor allem aus diesem Grund beschäftigt uns diese Thematik
heute erneut, während die Grundgedanken der von diesem Hohen Hause im Dezember 2010 mit breiter Mehrheit gebilligten Reform in Karlsruhe unangetastet geblieben sind. Vor allem das Ultima-Ratio-Prinzip, dem wir
mit der damaligen Reform zu einer stärkeren Geltung
verholfen haben, wurde von den Karlsruher Richtern
ausdrücklich hervorgehoben.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Bund in dieser
Entscheidung beauftragt, bundesrechtlich die wesentlichen Leitlinien zum Abstandsgebot zu formulieren, die
dann konkret in Vollzugsgesetzen der Länder münden
und durch die Vollzugspraxis ausgefüllt werden müssen.
Die Bundesregierung hat nach intensiven Beratungen
mit den Ländern einen Gesetzentwurf hierzu vorgelegt,
der vom Bundesrat schon im ersten Durchgang behandelt worden ist. Die Länderkammer ist offenbar der Auffassung, dass der Regierungsentwurf seine Aufgabe sehr
gut erfüllt. Nennenswerte Änderungswünsche im Hinblick auf die Regelungen zum Abstandsgebot gibt es
vom Bundesrat nämlich praktisch nicht.
Allerdings möchte der Bundesrat die Neubezeichnung „Sicherungsunterbringung“ einführen.
({2})
Das ist meiner Meinung nach nicht notwendig. Entscheidend ist nicht ein neues Etikett, sondern entscheidend ist,
dass der Vollzug der Sicherungsverwahrung verfassungs- und menschenrechtskonform ausgestaltet wird.
Genau dies leistet unser Gesetzentwurf.
({3})
Meine Damen und Herren, bedeutsamer ist ein inhaltlicher Änderungswunsch des Bundesrates. Wir haben
- mit den Stimmen der SPD und mit Unterstützung der
Grünen - zum 1. Januar 2011 ein neues Konzept der
Sicherungsverwahrung beschlossen. Es sah vor, die im
Urteil vorbehaltene Sicherungsverwahrung auszubauen,
und zwar zulasten der aus verschiedenen Gründen nicht
die Anforderungen erfüllenden sogenannten nachträglichen Sicherungsverwahrung. In Abweichung von diesem unserem Konzept hat der Bundesrat nun erneut eine
nachträgliche Unterbringungsmöglichkeit vorgeschlagen, die sogenannte nachträgliche Therapieunterbringung. Ich sage ganz deutlich: Im Regierungsentwurf
bleiben wir bei der Konzeption von 2011, die die Koalition von CDU/CSU und FDP mit den Stimmen der SPD
und mit Unterstützung der Grünen beschlossen hat,
({4})
und zwar aus wohlerwogenen fachlichen Gründen.
Unser Konzept - ich betone das noch einmal - ist
vom Bundesverfassungsgericht in seiner wirklich wegweisenden Entscheidung vom 4. Mai 2011 gerade nicht
beanstandet worden. Gegen die nachträgliche Sicherungsverwahrung bestehen dagegen offenkundig sowohl beim Bundesverfassungsgericht als auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhebliche
Bedenken.
({5})
Der Regierungsentwurf sieht daher pro futuro keine
nachträgliche Sicherungsverwahrung und keine nachträgliche Unterbringung vor.
In der Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates hat die Bundesregierung lediglich ausgeführt,
diesen Vorschlag des Bundesrates im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen. Man braucht kein Prophet zu
sein, um zu vermuten, dass dieser Komplex in den Ausschussberatungen ein Schwerpunkt der Diskussionen
sein wird.
Für heute möchte ich mit der Feststellung schließen:
Bei einem so komplexen und derart grundrechtssensiblen
Thema wie dem weiteren Freiheitsentzug, obwohl die
verhängte Freiheitsstrafe schon vollstreckt ist, führt der
Entwurf der Bundesregierung das Sicherheitsbedürfnis
der Allgemeinheit auf der einen Seite und die verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Anordnung von Sicherungsverwahrung und zu einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung in überzeugender Weise zusammen. Daher bitte
ich Sie um breite Unterstützung für unseren Entwurf, wie
Sie sie auch im Dezember 2010 gezeigt haben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Endlich liegt zu diesem rechtspolitisch wichtigen Thema
ein Entwurf der Bundesregierung vor. Wir mussten lange
darauf warten und freuen uns darauf, jetzt endlich darüber diskutieren zu können. Das müssen wir zügig, aber
auch mit der gebotenen Intensität tun; denn die Sicherungsverwahrung - Sie haben es gerade am Ende noch
einmal beschrieben, Herr Stadler - muss wegen des tiefen Eingriffs in das Leben eines Verurteilten, der seine
Strafe ja bereits verbüßt hat, streng rechtsstaatlich ausgestaltet sein und das letzte Mittel der Kriminalpolitik, also
die Ultima Ratio, bleiben. Auch das nehmen wir sehr
ernst.
Aber das berechtigte Anliegen der Bevölkerung, vor
höchstgefährlichen Straftätern geschützt zu werden, nehmen wir genauso ernst. In diesem Zusammenhang gilt
es, streng rechtsstaatliche Regelungen zu treffen.
Sie haben es angesprochen: Die SPD hat in diesem
Zusammenhang immer eine konstruktive Zusammenarbeit angeboten. Das galt beim Therapieunterbringungsgesetz, und das gilt auch beim vorliegenden Entwurf.
Aber zu einer konstruktiven Zusammenarbeit gehört
eben auch, dass wir den einen oder anderen Punkt benennen, den wir in dem vorliegenden Entwurf für kritisch halten.
Dazu gehört zum Beispiel der Katalog der Anlasstaten; denn wir waren uns einig, dass wir die Verhängung
einer Sicherungsverwahrung aufgrund der Tiefe des Eingriffs auf Taten gegen Leib und Leben, gegen körperliche Unversehrtheit und gegen die sexuelle Selbstbestimmung beschränken wollen. Es geht also wirklich um
schwerste Straftaten, vor denen die Bevölkerung zu
Recht geschützt werden muss, Straftaten, die begangen
werden könnten, wenn solche Täter rückfällig würden.
Deswegen kann ich es nicht nachvollziehen, dass in Ihrem vorliegenden Entwurf, der § 66 Abs. 1 StGB noch
immer unangetastet lässt, darauf nicht Rücksicht genommen wurde.
Wenn man das jetzt einmal zu Ende spinnt, dann sieht
man: Die Sicherungsverwahrung ist weiterhin bei einem
schweren Fall von Landfriedensbruch, unter bestimmten
Umständen beim gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr und bei Vollrausch möglich. Das kann doch
nicht Ihr Ernst sein, und Sie können doch auch nicht
glauben, dass das einer Überprüfung beim Bundesverfassungsgericht standhalten würde.
({0})
Deswegen haben wir schon vor einigen Monaten einen entsprechenden Antrag eingebracht, der fordert, dass
der Anlasskatalog für die Sicherungsverwahrung tatsächlich auf die von mir genannten schwersten Delikte
beschränkt wird. Der Antrag liegt vor, und ich gehe davon aus, dass wir in den anstehenden Beratungen darüber auch noch zu sprechen haben.
In diesem Antrag haben wir auch gefordert, eine Lücke zu schließen, die, wie wir finden, ein großes Gefahrenpotenzial in sich birgt, in dem Entwurf aber - Sie haben es ausgeführt - keine Rolle spielt: Es geht um die
nachträgliche Therapieunterbringung.
Der Herr Kollege Heveling - er ist ja anwesend - hat
hierzu in der Debatte zu unserem Antrag im März ehrlich bejaht, dass es in diesem Bereich eine Schutzlücke
gibt. Da frage ich mich, warum Sie diese Lücke mit Ihrem Entwurf nicht schließen.
({1})
- Aber Sie sind doch in den Beratungen dabei. Ich habe
Herrn Stadler so verstanden, dass es hier wenig Änderungsmöglichkeiten gibt. Wir sind gespannt, ob Sie bereit sind, etwas gegen diese Schutzlücke, deren Vorhandensein Sie bejaht haben, zu tun.
({2})
Sie können doch nicht sehenden Auges das Risiko
eingehen wollen, dass dann, wenn sich die psychische
Störung eines Gewalttäters erst im Strafvollzug ergibt,
dieser trotzdem nach Ablauf der Strafhaft entlassen werden muss, obwohl von ihm die Gefahr ausgeht, dass er
erneut schwerste Straftaten begehen wird. Dieses Risiko
akzeptieren Sie sehenden Auges, wir als SPD-Fraktion
nicht.
({3})
Deswegen fordern wir mit unserem Antrag die nachträgliche Therapieunterbringung.
({4})
Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zum zweiten
Thema sagen, das heute ja auch in dieser Debatte behandelt wird, nämlich der Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten, hier insbesondere zum
sogenannten Warnschussarrest für jugendliche Straftäter.
Diese Erweiterungen werden immer damit begründet,
dass Jugendkriminalität angeblich immer brutaler wird
und zunimmt. Das mag vom Bauchgefühl her so sein,
aber die Zahlen der Kriminalitätsstatistik sprechen eine
völlig andere Sprache. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik 2011 ist bei Jugendlichen ein Rückgang der
Gewaltdelikte um 10,7 Prozent, bei gefährlicher und
schwerer Körperverletzung sogar ein Rückgang um
11,4 Prozent zu verzeichnen. Lassen Sie sich also bei
solchen rechtspolitischen Vorhaben besser von Zahlen
und Fakten, aber nicht von Gefühlen leiten.
Dass ein solcher Warnschussarrest sogar schädlich ist,
schreiben Ihnen wirklich fast alle Fachleute ins Stammbuch. Sie haben zwar gesagt, dass die meisten Fachleute
dieses Instrument begrüßen. Wenn ich die Ergebnisse
aus der Anhörung zusammentrage, habe ich aber einen
anderen Eindruck.
({5})
Es mag ein paar wenige Befürworter geben, die Sie hervorgeholt haben, aber ich hatte von den meisten Stellungnahmen her einen anderen Eindruck. Gerade Jugendliche, die eigentlich für eine Bewährung geeignet
wären - das ist ja das Kriterium -, lernen durch die Verhängung eines Warnschussarrests im Gefängnis erst das,
was man alles für eine kriminelle Karriere braucht. Herr
Professor Dr. Pfeiffer hat Ihnen das noch einmal mehr
als deutlich bestätigt, als er von einer „Fortbildung in der
Anwendung krimineller Methoden“ sprach.
Es verwundert schon sehr, dass ausgerechnet aus dem
Hause der Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger
ein solcher Entwurf vorgelegt wird.
({6})
Diese Ideen sind ja nicht neu, sondern werden ständig
wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt, das letzte Mal
2008 vom damaligen Ministerpräsidenten Koch, der
meinte, im Wahlkampf ganz schnell etwas auf den Tisch
legen zu müssen. Damals hat Frau LeutheusserSchnarrenberger, allerdings noch in der Opposition, die
Vorschläge, über die wir heute abstimmen, wie folgt bewertet: Der „erzieherische Nutzen“ des Warnschussarrests sei zu bezweifeln. Ich zitiere:
Sie hält auch eine angestrebte Verlängerung der maximalen Haftdauer von 10 auf 15 Jahre für überflüssig, weil schon heute der Strafrahmen so gut wie nie
voll ausgeschöpft werde. 2006 wurden gerade einmal 17 Jugendliche und Heranwachsende zu 10 Jahren Jugendstrafe verurteilt. Das entspricht einem
Anteil von 0,1 Prozent der Verurteilten. LeutheusserSchnarrenberger: „Es besteht kein Bedarf, das Jugendstrafrecht zu ändern.“
({7})
Ich weiß nicht, in welch wesentlicher Weise sich die
Situation von damals zu heute geändert hat. Aber vielleicht bestimmt einfach das Sein das Bewusstsein; das
kann in diesem Fall sein. Es wird einem aber angesichts
der Pirouetten, die die Ministerin in dieser Frage gedreht
hat, schwindlig. Wir werden sie nicht drehen. Wir bleiben bei unserer ursprünglichen Position und werden diesen Möglichkeiten nicht zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Andrea Voßhoff für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Lambrecht, das, was Sie gesagt haben
- ich glaube, in einer Debatte hat Ihr Kollege Lischka
die Ministerin in dieser Frage zitiert -, macht doch keinen Sinn.
({0})
Auch Sie sind doch koalitionserfahren und wissen, dass
Koalitionspartner durchaus unterschiedliche Positionen
haben dürfen, sich aber im Ergebnis zu einem Beschluss
durchringen können.
({1})
Das ist so. Daran wird sich auch nichts ändern.
Es ist schon von den Vorrednern gesagt worden, dass
wir heute nicht nur den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung in erster Lesung debattieren, sondern auch
abschließend den Gesetzentwurf zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. Das sind
zwei sicherlich sehr unterschiedlich zu gewichtende und
auch in Teilen kontroverse kriminalpolitische Vorhaben.
Beide haben eine lange Vorgeschichte.
Ich will zur Sicherungsverwahrung nur einige Anmerkungen machen. Sie hat uns - viele, die schon länger
im Bundestag sind, wissen das - in diesem Hohen Hause
schon in nahezu konstanter Regelmäßigkeit beschäftigt.
Immer wieder sahen wir uns gezwungen, mit der Sicherungsverwahrung den Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern, die ihre schuldangemessene Strafe
bereits verbüßt hatten, gegen das Freiheitsrecht der Betroffenen auszutarieren. Der Staatssekretär hat es erwähnt: Zuletzt im Dezember 2011 haben wir mit einer
durchaus überzeugenden Mehrheit in diesem Hause die
Sicherungsverwahrung neu ausgerichtet und, wie ich
finde, im Grundsatz eine gute Reform der Sicherungsverwahrung auf den Weg gebracht.
Warum steht das Thema heute auf der Tagesordnung?
Wir reagieren mit dem Gesetzentwurf, wie Sie wissen,
auf das bekannte Urteil des Bundesverfassungsgerichts,
in dem sämtliche Vorschriften der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärt wurden, aber nicht in
ihrem materiellen Inhalt, sondern weil das Abstandsgebot, das heißt der Abstand zwischen dem Vollzug der
Strafe und der anschließenden Sicherungsverwahrung,
nach Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht eingehalten worden ist. Es war also allein die Verletzung des
sogenannten Abstandsgebots, weshalb die Normen für
verfassungswidrig erklärt wurden.
Um diesem Anspruch des Bundesverfassungsgerichts und der Pflicht zur Umsetzung gerecht zu werden,
hat die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur ersten
Beratung vorgelegt. Wir werden ihn intensivst beraten.
Es ist sowohl vom Staatssekretär als auch von der
Kollegin Lambrecht angesprochen worden: Im Rahmen
der anstehenden Beratungen müssen wir tatsächlich über
die Frage der Notwendigkeit einer nachträglichen Therapieunterbringung reden und sie intensivst prüfen.
Ich begrüße es, dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme einen entsprechenden Formulierungsvorschlag
dazu vorgelegt hat. Der Bundesrat initiiert damit, dass
psychisch gestörte Täter, deren hochgradige Gefährlichkeit erst nach dem Strafurteil erkennbar wird, zum Schutz
der Allgemeinheit unterzubringen sind. Ich weiß, das ist
eine sehr kritische Frage. Aber ich finde sie notwendig
und geboten, auch im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das nach unserer Auffassung für eine
solche Regelung eine Tür offengelassen hat, und dies sicherlich aus guten Gründen. Wir wissen alle: Es wird
ganz, ganz wenige Fälle geben. Aber die Anzahl der Fälle
spricht nicht dafür, zu sagen: Das ist nicht notwendig. Vielmehr ist jeder Einzelfall umso gravierender. Wir wissen von einigen Beispielen aus Bayern, um welche Fälle
es sich handelt.
({2})
Es ist umstritten und fraglich, in welcher Weise wir
das umsetzen können und wollen. Die Bundesregierung
hat Prüfungen vor dem Hintergrund des Entwurfs des
Bundesrates zugesagt. Diese Prüfungen werden wir in
den anschließenden Beratungen auch vornehmen, Frau
Kollegin Lambrecht. Es wird auch eine kritische und
kontroverse Prüfung geben, völlig klar. Dieser Entwurf
ist aber ein Entwurf der Bundesregierung. Das Parlament hat jetzt das Wort und wird dazu beraten, und natürlich - das haben Sie gemerkt - gibt es auch in der Koalition unterschiedliche Positionen dazu. Wir werden
sehen, welches Ergebnis die Beratungen ergeben werden.
Lassen Sie mich noch auf den zweiten Punkt eingehen, den wir heute beschließen wollen und der bereits
diskutiert worden ist, nämlich den Warnschussarrest. Ja,
es ist richtig - das hat auch die Anhörung gezeigt -, dass
vonseiten der Wissenschaft und von Verbänden der
Warnschussarrest abgelehnt wird. Die Anhörung hat
aber auch gezeigt, dass viele Praktiker
({3})
- nein, es waren vier - diese Regelung begrüßen.
({4})
- Vier von acht. - Dann müssen Sie das auch zur Kenntnis nehmen. Ich respektiere das und weiß auch um die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Analysen.
Das ist völlig unstreitig. Ich habe aber ebenso auch großes Vertrauen in die Auffassung der Praktiker und Jugendrichter. Ich kann nicht einsehen, warum deren Haltung nicht auch gefolgt werden sollte, und wir tun dies ja
auch.
Mit dem Gesetzentwurf zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten wollen wir die
Möglichkeit eröffnen, neben der Jugendstrafe, die zur
Bewährung ausgesetzt ist, einen Warnschussarrest von
maximal vier Wochen Dauer verhängen zu können. Wir
meinen, das Jugendkriminalrecht wird damit flexibler.
Der Kollege van Essen - er ist heute leider nicht anwesend - hat das, finde ich, sehr prägnant beschrieben: Mit
dem Instrument des Warnschussarrests fügen wir sozusagen der Klaviatur des Jugendrichters eine weitere
Taste hinzu.
({5})
Das halten wir auch vom Ergebnis der Anhörung her für
durchaus vertretbar. Die Praktiker haben uns Fälle geschildert, in denen es durchaus sinnvoll und geboten ist,
den Warnschussarrest einzusetzen. Der Staatssekretär
hat es bereits gesagt: Wichtig ist, dass der Warnschussarrest zeitnah erfolgt. - Wir hoffen und wünschen, dass die
Länder dazu den notwendigen Beitrag leisten.
Da hier immer die Statistiken bemüht werden: Ja, es
ist richtig, dass die Jugendkriminalität zurückgeht. Aber
ausweislich der bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik 2010 bewegt sich die Jugendkriminalität nach wie
vor auf hohem Niveau. Über alle kurz- und langfristigen
Veränderungen hinweg bleiben zwei Faktoren konstant
mit erhöhter Kriminalitätsbelastung verbunden: das Geschlecht und das jugendliche Alter. Das heißt, der Anteil
junger männlicher Straftäter ist im Verhältnis zu ihrem
Anteil an der Bevölkerung dauerhaft überproportional
hoch.
({6})
Das Jugendstrafrecht weiterzuentwickeln und den aktuellen Lebenswirklichkeiten anzupassen, bleibt daher
eine Daueraufgabe. Der Erziehungsgedanke und Prävention müssen dabei natürlich an erster Stelle stehen. Der
Ausbau von Erziehungsangeboten kann in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden. Die Erfolge, die damit erzielt werden, sprechen natürlich für
sich. Das stellt hier keiner in Abrede.
Wir können aber die Augen nicht davor verschließen,
dass es junge Straftäter gibt, die mit ambulanten Maßnahmen nicht oder jedenfalls nicht mehr zu erreichen
sind, und dass es Taten gibt, die nun einmal einer nachdrücklichen und repressiven Reaktion bedürfen.
({7})
Hier wollen wir den Warnschussarrest als zusätzliches
Instrument unterhalb einer zu vollstreckenden Jugendstrafe in das Jugendgerichtsgesetz einbauen, dem Jugendrichter ein weiteres Instrument an die Hand geben.
Nach den Gesprächen, die ich dazu geführt habe, kann
ich nur sagen: Die Jugendrichter werden damit sehr verantwortungsvoll umgehen. Es bleibt zu hoffen und zu
wünschen, dass die Länder weiterhin dem Anspruch an
den Jugendarrest gerecht werden. Der Jugendarrest als
soziales Training muss - ich glaube, Herr Professor
Kreuzer hat das in der Anhörung erwähnt - weiter ausgebaut werden, um mit dem Warnschussarrest den gewünschten Effekt zu erzielen.
Über die Vorbewährung will ich nicht reden; das werden sicherlich meine Kollegen noch tun. Mich erfreut es
auf jeden Fall, dass Sie mitmachen. Ich stimme dem
Staatssekretär zu, der die Anhebung des Höchstmaßes
der Jugendstrafe auf 15 Jahre bei Heranwachsenden als
ein gutes Beispiel genannt hat. Es ist vertretbar, die
Höchststrafe in diesem Bereich anzuheben.
Ich würde mich freuen, wenn Sie unserem Gesetzentwurf zum Warnschussarrest zustimmen könnten. Ansonsten gehe ich davon aus, dass wir im Rechtsausschuss intensive Debatten im Zusammenhang mit der
Sicherungsverwahrung führen und über die Problemfelder gemeinsam diskutieren werden.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Halina Wawzyniak für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren in der Debatte über diesen Tagesordnungspunkt über die Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung auf der einen
Seite und abschließend über die Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten auf der anderen
Seite. Da fragt man sich: Was hat das eine mit dem anderen zu tun, dass beides im Rahmen eines Tagesordnungspunkts behandelt werden muss?
({0})
Das ist ganz einfach: Beide Gesetze sind ein Beleg für
eine repressive, populistische und an den Stammtischen
orientierte Rechtspolitik. Das kann man dann auch im
Rahmen eines Tagesordnungspunkts behandeln.
Ich will mit der Erweiterung jugendgerichtlicher
Handlungsmöglichkeiten mit dem Schwerpunkt Warnschussarrest beginnen. Mein Kollege Wunderlich hat
dazu bereits alles Richtige gesagt. Natürlich muss man
dem Kollegen Wunderlich nicht folgen. Aber was man
machen könnte, ist, Schlussfolgerungen aus der Anhörung zu ziehen. In der Anhörung gab es - darauf wurde
schon hingewiesen - nicht ein einziges wissenschaftlich
fundiertes Argument für die Einführung eines Warnschussarrests. Es gab lediglich Praktiker, die gesagt haben: Aus unserer Praxis heraus wünschen wir uns, dass
es einmal einen Warnschussarrest gibt, Punkt. Den hätten wir jetzt gerne mal.
({1})
Das war es schon. Aber es gab kein wissenschaftliches
Argument. In der Anhörung haben sich alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegen eine Anhebung der Höchststrafe und gegen die Einführung eines
Warnschussarrests ausgesprochen.
({2})
Das Gesetz zeigt: Sie ignorieren die Ergebnisse der
Anhörung und die Aussagen von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern. Wenn Ihnen das nicht genügt, verweise ich an diese Stelle auf Christian Pfeiffer - eine
Koryphäe in diesem Bereich -, der von einer Rückfallwahrscheinlichkeit von bis zu 70 Prozent beim Warnschussarrest spricht. 70 Prozent derjenigen, die Sie in
den Warnschussarrest stecken wollen, werden also wieder zu Straftätern. Das heißt, Sie produzieren weiter
Straftäterinnen und Straftäter, anstatt etwas gegen Straftaten zu tun.
Kommen wir zum Gesetz zur Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung. Vielleicht muss man noch einmal sagen, worum es bei der
Sicherungsverwahrung eigentlich geht. Bei der Sicherungsverwahrung geht es darum, dass Straftäterinnen
und Straftäter, die für ihre Tat bereits eine Freiheitsstrafe
verbüßt und damit auch für die Tat gebüßt haben, aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose präventiv weiter im
Knast einsitzen.
({3})
- Ich sage bewusst „im Knast“, weil Sicherungsverwahrung letztendlich Freiheitsentzug ist. Demjenigen, der
einsitzt, ist es egal, ob das eine Therapieunterbringungsanstalt oder ein Knast ist.
({4})
Deswegen wiederhole ich: Die Linke lehnt das Institut
der Sicherungsverwahrung ab.
({5})
Deswegen haben wir die Einsetzung einer Expertenkommission aus Praktikerinnen und Praktikern, aus
Gesellschaftswissenschaftlern, aus Straf-, Polizei- und
Verfassungsrechtlern, aus Kriminologen, Psychiatern,
Psychologen und natürlich auch Vertretern von Opferverbänden vorgeschlagen, die sachlich und im Rahmen
dieses Expertenstatus darüber diskutieren sollen, ob wir
das Institut der Sicherungsverwahrung überhaupt brauchen. Dass eine Versachlichung der Debatte zum Thema
Sicherungsverwahrung notwendig ist, zeigen doch aktuelle Vorgänge. Ich möchte Sie daran erinnern, dass der
gesamte Landtag von Sachsen-Anhalt - das ist sehr zu
begrüßen - letztes Wochenende nach Insel gefahren ist.
Insel ist ein Ort in Sachsen-Anhalt, wo entlassene Sicherungsverwahrte versuchen, ein neues Leben anzufangen.
Es gibt massive Ängste in der Bevölkerung und Versuche, die Entlassenen wieder zu vertreiben. Man muss die
Ängste der Bevölkerung ernst nehmen, man darf sie aber
nicht übernehmen. Man muss sich vielmehr mit ihnen
auseinandersetzen.
({6})
Ich will im Rahmen der Debatte über die Sicherungsverwahrung auf zwei Dinge sehr deutlich hinweisen.
Erstens. Sie alle wissen - Herr Heveling hat es in der
letzten Debatte gesagt -, dass es in einer offenen Gesellschaft keine absolute Sicherheit gibt. Wir wissen: Jede
Straftat ist eine zu viel, und jedes Opfer ist eines zu viel.
Aber wir dürfen nicht suggerieren, es gäbe ein Mittel,
das verhindert, dass Straftaten überhaupt begangen werden. Das ist eine Grundtatsache, und das müssen wir immer wieder betonen. Zweitens. Die Ursachen für die
Entstehung von Kriminalität sind so vielfältig und umfassend, dass eine sichere Prognose - auf das Wort „sicher“ kommt es in diesem Zusammenhang an - darüber,
ob weitere Straftaten begangen werden, einfach nicht
möglich ist. Deswegen bleibt es dabei, dass die Sicherungsverwahrung eine präventive Sicherungshaft ist, die
nichts mehr mit der Schuld des Täters zu tun hat.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird - das will
ich zugestehen - ein Spagat zwischen der Versachlichung der Debatte und der Beibehaltung des Populismus
versucht. Es ist richtig und zu begrüßen, dass der Anspruch besteht, dass die Unterbringung einer individuellen und intensiven Betreuung bedarf. Es ist richtig und
unterstützenswert, dass ein Rechtsanspruch auf Therapie
zumindest angedeutet wird. Und es ist richtig, dass eine
Entlassung durch die Gerichte dann ansteht, wenn keine
angemessene Betreuung stattfindet. Das ist zu begrüßen.
Aus unserer Sicht aber völlig absurd ist, dass die Sicherungsverwahrung auf das Jugendstrafrecht ausgedehnt wird. Man muss sich einmal fragen, ob es überhaupt
noch ein Verständnis dafür gibt, was der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht bedeutet und dass dem Entwicklungsstand entsprechende Reaktionen erfolgen sollen. Zudem ist es völlig absurd, den ganzen Katalog der
Anlassstraftaten beizubehalten. Die Kollegin Lambrecht
hat darauf hingewiesen, was in diesem Zusammenhang
alles möglich ist. Es ist ausdrücklich zu unterstützen, was
sie gesagt hat. Ich will aber eine kleine Fußnote nicht unerwähnt lassen: dass nämlich auch die SPD dem Gesetzentwurf mit dem riesigen Katalog von Anlassstraftaten
damals zugestimmt hat.
({7})
Kurz und gut: Das Gesetz bleibt trotz weniger guter
Ansätze schlecht. Es kann auch nur schlecht sein, weil es
sich um die Umsetzung eines noch schlechteren Gesetzes kümmert. Was wir statt solcher Gesetze brauchen, ist
eine Offensive für eine rationale Kriminalpolitik, die
sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen und nicht an
Stammtischparolen orientiert. Dazu leistet der Gesetzentwurf alles in allem keinen Beitrag.
({8})
Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Stadler, Ihren Ausführungen zu den Änderungen des Jugendgerichtsgesetzes
habe ich bei jedem Wort Ihr Unbehagen entnommen, das
Sie bei der Formulierung dieses Teils Ihrer Rede hatten.
Ich kann das ehrlich gesagt auch nachvollziehen.
Einige Zahlen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
wir in der Sachverständigenanhörung erfahren haben:
Wir haben in Deutschland seit 1995 den niedrigsten
Stand der Jugendkriminalität - und zwar nicht deswegen, weil die Anzahl der Jugendlichen abnimmt, sondern
gemessen pro 100 000 Jugendliche. Dieser Rückgang
beträgt 20 Prozent. Auf dem besonderen Feld der Jugendgewalt beträgt der Rückgang zwischen 2007 und
2011 sogar 22 Prozent. Bei von Jugendlichen begangenen Tötungsdelikten haben wir von 1993 bis 2011 einen
Rückgang von 31 Prozent.
Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen, die besonders
valide ist, weil sie praktisch kein Dunkelfeld hat, weil
fast alle Fälle von der Versicherung erfasst werden: Bei
Körperverletzungen unter Jugendlichen auf dem Schulhof haben wir zwischen 1997 und 2012 einen Rückgang
der Kriminalität um über 50 Prozent.
Was ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich
der Grund für diesen, über einen langen Zeitraum nicht
nur marginalen, sondern ganz erheblichen Rückgang der
Jugendkriminalität? Man könnte denken, ein scharfes
und hartes Jugendstrafrecht hätte dazu beigetragen. Das
Gegenteil ist aber richtig. Wir haben in den letzten zehn
Jahren, zwischen 2000 und 2010, 25 Prozent weniger
verhängte Jugendhaftstrafen pro 100 000 Jugendliche.
Wir haben zwischen 2003 und 2010 bei Freiheitsstrafen
gegen Jugendliche von über fünf Jahren, also bei höchster Jugendkriminalität, einen Rückgang von rund 50 Prozent von 102 auf 53 Fälle. Der Einsatz des Jugendarrestes ist signifikant rückläufig. Das alles sind Erfahrungen
aus unserem Fachgespräch; ich fand das phänomenal
gut, was wir da gemacht haben.
Aus einem europäischen Forschungsprojekt über die
Entstehung von Jugendgewalt, das im Übrigen vom damaligen Bundesinnenminister Schäuble bezahlt wurde,
wissen wir, dass ein Jugendlicher mit fünf und mehr kriminellen Kontakten ein 20- bis 30-faches Risiko hat,
selbst Gewalttäter zu werden.
Es gibt also bei Jugendlichen eine kriminologische
„Ansteckungsgefahr“ in Cliquen, in Gangs, aber eben
auch im Straf- und im Arrestvollzug - trotz bester Sozialprogramme. Die Rückfallquoten sind umso höher, je
intensiver die Inhaftierung ist. Schon beim Arrest ist
diese Quote hoch; beim Jugendstrafvollzug ist sie noch
höher. Deshalb, meine Damen und Herren: Präventionspolitik, Jugendhilfe und ein mildes Jugendstrafrecht senken die Kriminalität. Diese wissenschaftliche Erfahrung
konnten wir aus der Anhörung gewinnen.
({0})
Wie sollen wir vor diesem Hintergrund den Gesetzentwurf einschätzen, der uns jetzt vorliegt? Was sagen
eigentlich die in Ihren Reihen noch vorhandenen vernünftigen Jugend- und Rechtspolitiker dazu, dass Sie
völlig populistisch gegen wissenschaftliche Vernunft das
Gegenteil dessen vorschlagen, was richtig wäre?
({1})
Der Vorsitzende des Rechtsausschuss, Siegfried
Kauder, CDU, hat uns während der Sachverständigenanhörung Folgendes gesagt - im Protokoll nachlesbar -:
Seien Sie froh über dieses Gesetz. Es hätte noch
viel schlimmer kommen können mit einer Heraufsetzung der Mindeststrafen und mit Erwachsenenstrafrecht für alle 18-Jährigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir lassen uns aber
nicht erschrecken. Wir bleiben bei unserem Nein zu Ihrem Gesetzentwurf zur Verschärfung des Jugendstrafrechts.
({2})
Nun noch einige Worte zu dem Gesetzentwurf zur Sicherungsverwahrung. Der heute vorliegende Entwurf
wahrt den Dreiklang der Reform - mit der Kritik, die Sie
völlig zu Recht angebracht haben und die wir auch teilen -: Beschränkung auf schwerste Kriminalität im Gewalt- und Sexualbereich, Ausbau des Vorbehalts und
Wegfall der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Wir
haben im Grundsatz der Reform von 2010 zugestimmt.
Wir sagen auch heute Ja zu diesem Reformansatz. Sie,
Kollegen von der SPD, haben der damaligen Reform
ebenfalls zugestimmt und somit auch der ersatzlosen
Streichung der nachträglichen Sicherungsverwahrung,
({3})
ohne den Bedarf nach alternativen Formen nachträglichen Wegsperrens angemeldet zu haben.
({4})
Zu Ihren heutigen Ausführungen sage ich Ihnen: Sie
haben von Schutzlücken gesprochen, Frau Kollegin
Lambrecht. Das ist in hohem Maße gefährlich, und Sie
wissen das auch.
({5})
Wer von Schutzlücken spricht, der insinuiert, dass man
alle Lücken schließen könnte.
({6})
In Wirklichkeit behaupten Sie damit, Sie wollten absolute Sicherheit.
({7})
Wenn Sie unsere Auffassung teilen - das haben Sie jahrelang gemacht -, dass es eine absolute Sicherheit nicht
gibt, dann müssen Sie Schutzlücken in Kauf nehmen.
({8})
Die Fragestellung ist nicht, ob man Schutzlücken zulässt
oder nicht, sondern ob es mit rechtsstaatlichen Mitteln
möglich ist, Schutzlücken zu schließen.
({9})
Frau Lambrecht, Sie haben beim Thema Arrest die
Fachwelt bemüht. Sie haben gesagt: Alle Fachleute sind
dagegen. - Auch das ist ein gefährliches Argument. Die
Fachwelt, die Psychiatrieverbände, alle erfahrenen Psychologen und Psychiater warnen uns eindringlich vor der
Einführung des Begriffs der psychischen Störung ins
Strafrecht.
({10})
Das wissen Sie ganz genau.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ja. - Wir werden über diese Frage sehr kontrovers
und sehr ernsthaft in der Anhörung und auch weiterhin
zu diskutieren haben. Auch wir sichern Ihnen von der
Koalition eine konstruktive Debatte über den Gesetzentwurf zu, weil wir die Reform des Vollzugs begrüßen.
Wir werden uns mit diesem ganz schwierigen Punkt, der
durch den Bundesrat nachträglich in den Gesetzentwurf
eingebracht werden soll, kritisch auseinandersetzen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion. - Entschuldigung, wir sollten die Reihenfolge
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
einhalten. Zunächst spricht Ansgar Heveling für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, Herr Kollege Lischka, in einem Punkt werden
wir durchaus etwas Ähnliches zu sagen haben, und zwar
im Kontext der Sicherungsverwahrung.
Die heutige Debatte ist zugleich Auftakt und Schlusspunkt zweier kriminalpolitischer Gesetzgebungsvorhaben. Der Gesetzentwurf zum sogenannten Warnschussarrest wird heute in zweiter und dritter Lesung beraten
und beschlossen. Für die Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung nehmen wir heute die parlamentarischen Beratungen auf.
Ohne Frage ist die Regelung des Rechts der Sicherungsverwahrung das rechtspolitisch bedeutsamere Vorhaben, weshalb ich mir erlaube, darauf zuerst einzugehen.
Mit seiner Entscheidung vom 4. Mai 2011 und dem
damit verbundenen Verdikt, alle Bestimmungen zur Sicherungsverwahrung seien verfassungswidrig, hat das
Bundesverfassungsgericht seinerzeit zunächst einmal für
einen Paukenschlag gesorgt. Mit der Verpflichtung, bis
Mai 2013 für eine Neuregelung zu sorgen, hat es den
Gesetzgeber unter möglicherweise heilsamen Zugzwang
gesetzt. Gleichzeitig hat Karlsruhe durch die weitreichende Entscheidung aber auch die Möglichkeit eröffnet, die Materie tatsächlich grundlegend neu zu regeln.
Denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich das
Recht der Sicherungsverwahrung durch die zahlreichen
Änderungen in den Jahren 1998, 2002, 2003, 2004, 2007
und 2008 zu einem nur noch schwer zu durchschauenden
Konglomerat von Regelungen entwickelt hatte.
Ich will nicht verhehlen, dass es eine Reihe von Aspekten gibt, die man sowohl in den Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als auch
in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kritisch betrachten kann. So findet die verfassungsrechtlich
gebotene Verpflichtung des Staates zum Schutz seiner
Bürgerinnen und Bürger in der Karlsruher Entscheidung
mit keinem Wort Erwähnung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte führt demgegenüber diesen auch
im Regime der Menschenrechtscharta zu berücksichtigenden Aspekt zwar an, wägt ihn aber nicht erkennbar
ab.
Gleichzeitig aber muss man anerkennen, dass es dem
Bundesverfassungsgericht gelungen ist, einerseits eine
dogmatisch stimmige Integration der Vorgaben des
EGMR in das deutsche Rechtssystem vorzunehmen,
ohne andererseits grundlegende Prinzipien der deutschen
Strafrechtssystematik im Hinblick auf die Sicherungsverwahrung gänzlich aufzugeben. Das beginnt damit,
dass das Bundesverfassungsgericht - wie im Übrigen der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch - das
Instrument der Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich infrage stellt. Des Weiteren - und hier hat sich
Karlsruhe eindeutig anders positioniert als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte - sieht das Bundesverfassungsgericht die Sicherungsverwahrung nach
wie vor nicht als Strafe an. Es hält damit an der Zweispurigkeit unseres deutschen Strafrechtssystems fest.
Summa summarum haben EGMR und Bundesverfassungsgericht aber die Spielräume des Gesetzgebers sehr
eingegrenzt. Zu Beginn der Beratung des Gesetzentwurfs
der Bundesregierung lässt sich allerdings bereits festhalten, dass im vorliegenden Entwurf viele dieser Spielräume tatsächlich genutzt und alle wesentlichen durch
das Bundesverfassungsgericht aufgegebenen Handlungsaufträge abgedeckt werden.
({0})
Da ist vonseiten der Bundesregierung, vonseiten des
Bundesjustizministeriums zunächst einmal in einem
politisch wie justiziell nicht einfach zu beackernden Feld
gute, strukturierte und stimmige Arbeit geleistet worden.
Auch wenn der Zeitplan im Hinblick auf die Regelungsfrist bis Mai 2013 straff ist, lässt die jetzige Beratung auch den Ländern noch ausreichend Zeit, ihren Teil
der Umsetzung eines freiheitsorientierten und therapiegerechten Gesamtkonzepts zu regeln.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bund und den
Ländern die Regelung gemeinschaftlich aufgegeben.
Das mag verfassungsrechtliche Bedenken herausfordern;
diese sind aber praktisch zunächst einmal unbeachtlich.
Damit ist zwingend ein kooperatives Vorgehen von
Bund und Ländern erforderlich.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in den
nächsten Wochen erwartet uns sicher viel Arbeit mit und
an dem Gesetzentwurf. Die Sachverständigenanhörung
ist schon für die nächste Woche terminiert. Trotz des ambitionierten Zeitplans möchte auch ich bereits an dieser
Stelle ausdrücklich anbieten: Wir sind zur Diskussion
und zum Austausch über die Fraktionsgrenzen hinaus
bereit,
({1})
und wir sollten das, was beispielgebend bereits beim
Therapie- und Unterbringungsgesetz praktiziert wurde,
auch hier fortführen. Wir haben seinerzeit ja auch schon
sehr intensiv über die Frage der Anlasstaten beraten.
Frau Kollegin Lambrecht, Sie haben das eben angesprochen. Ihre Sorge im Hinblick auf das Bundesverfassungsgericht teilen wir an dieser Stelle allerdings nicht,
weil es sich in seinen bisherigen Entscheidungen nicht
weiter zu den Anlasstaten geäußert hat.
({2})
Dass wir über die Fraktionsgrenzen hinweg zu Gesprächen bereit sind, hat sicherlich auch damit zu tun,
dass die Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung für die gesamte Gesellschaft so wichtig und bedeutsam ist. Auch wenn der Gesetzentwurf bereits viele Aspekte abdeckt, gibt es noch einige Punkte, über die wir
uns sehr ernsthaft und intensiv austauschen, die wir beraten und klären müssen.
Oberstes Ziel muss es natürlich sein, eine verfassungsfeste Neuregelung zu beschließen; denn - ohne
Frage - auch das zu beschließende Gesetz wird sicherlich den Weg zum Bundesverfassungsgericht nach
Karlsruhe finden. Unser Ziel ist daher, ein sauberes und
ordentliches Fundament für die Sicherungsverwahrung
zu finden. Dies ist aufgrund des gebotenen Abstands
zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung nicht einfach. Die Kriterien der europäischen Menschenrechtscharta sind dabei der taugliche Anknüpfungspunkt. Die
Berührung juristischer und medizinischer Begrifflichkeiten, wie es bei der „psychischen Störung“ zum Ausdruck
kommt, ist dabei ganz besonders in den Blick zu nehmen.
Schließlich gibt es aber auch noch einen aus unserer
Sicht gänzlich offenen Punkt: die nachträgliche Sicherungsanordnung. Hierzu werden in dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf überhaupt keine
Aussagen getroffen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die nachträgliche
Sicherungsverwahrung nicht grundsätzlich infrage gestellt, skizziert aber, dass es hierfür strengerer Anforderungen als bisher bedarf. Das macht eine gesetzliche Regelung zwar nicht einfacher, schließt sie aber eben auch
nicht aus. Die Bundesregierung hat zugesagt, die Regelung der nachträglichen Sicherungsanordnung im weiteren Verfahren zu prüfen.
Zahlreiche Bundesländer sprechen sich ebenfalls dafür aus,
({3})
auch in Zukunft die Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung vorzusehen. Dementsprechend hat
sich der Bundesrat bereits für eine nachträgliche Therapieunterbringung ausgesprochen. Auch wir als CDU/
CSU sind nach wie vor der Auffassung - das wiederhole
ich gern, Frau Kollegin Lambrecht -, dass wir auf dieses
Instrument nicht verzichten sollten. Wir müssen uns daher mit dieser Frage in der weiteren Beratung sehr ernsthaft und intensiv auseinandersetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung von Mai 2011
ganz besonders die Rechte der in der Sicherungsverwahrung befindlichen Personen in den Blick genommen und
vor diesem Hintergrund ein freiheitsorientiertes und
therapiegerechtes Gesamtkonzept eingefordert. Dieser
Therapieoptimismus wird zwar auch in der Fachwelt
durchaus kritisch gesehen, aber er wird aufgrund der
Verfassungsgerichtsentscheidung ohne Frage die Neuregelung prägen.
Aber bei alledem dürfen wir als Gesetzgeber einen
zweiten Auftrag nicht vernachlässigen: Wir stehen in der
Pflicht, für Regelungen zu sorgen, die helfen, die Menschen, die Bevölkerung vor gefährlichen Straftätern zu
schützen. Diesen Schutzanspruch haben wir im Blick,
und wir werden ihn mit in die weiteren Beratungen tragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für das zweite Vorhaben, den sogenannten Warnschussarrest, bleibt mir
nun nicht mehr viel Zeit, eigentlich überhaupt keine. Wir
haben darüber aber auch schon sehr ausführlich und kontrovers debattiert. Gerade aus den Reihen der Praktiker
wurde die Einführung des Warnschussarrests durchaus
positiv bewertet; das hat aus unserer Sicht die Sachverständigenanhörung ergeben. Ohne Frage: Das Instrument ist weder Allheilmittel noch für alle jugendlichen
Straftäter geeignet. Das hat aber auch von unserer Seite
niemand behauptet. Wir sehen den Warnschussarrest als
Ergänzung zu den bereits bestehenden vielfältigen und
differenzierten Sanktionsmöglichkeiten des Jugendstrafrechts, mit denen verantwortungsvolle Jugendrichter
schon jetzt im Einzelfall die individuell richtigen Maßnahmen anordnen können.
Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Ende kommen.
Bislang war es den Jugendgerichten dabei versperrt,
neben der Bewährungsstrafe weitere Weisungen zu erteilen. Das wird in Zukunft möglich sein. Dafür öffnen wir,
wenn wir das Gesetz gleich beschließen, die Tür.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, zunächst
einmal das Positive vorweg: Sie von Schwarz-Gelb haben zur Abwechslung zwei Gesetzentwürfe zur Rechtspolitik auf einmal auf den Weg gebracht. Das ist nicht
ganz selbstverständlich. Ansonsten herrscht ja gerade in
der Rechts- und Innenpolitik zwischen Ihnen viel Streit.
({0})
Sie glänzen durch Nichtstun, siehe Vorratsdatenspeicherung. Den Hinweis will ich mir jetzt doch nicht verkneifen: Das kostet den deutschen Steuerzahler demnächst
eine Menge Geld,
({1})
voraussichtlich 315 000 Euro pro Tag, 120 Millionen
Euro im Jahr.
({2})
Sie verpulvern durch Nichtstun und Streit das Geld der
Steuerzahler. Das hat in der Größenordnung noch keine
Bundesregierung hinbekommen; das will ich Ihnen einmal deutlich sagen.
({3})
In der Politik - den Vorteil haben Sie - gibt es für ein
solches Versagen keinen Warnschuss; aber auf die richtige Bahn müssen Sie eigentlich auch einmal gebracht
werden.
({4})
Das gilt übrigens auch für die beiden Gesetzentwürfe,
die wir heute hier debattieren. Die sind auch noch nicht
auf der richtigen Bahn. Frau Voßhoff hat das angedeutet;
Herr Heveling hat das im Bereich der Sicherungsverwahrung angedeutet.
({5})
Herr Krings von der Unionsfraktion hat vor ein paar Wochen sehr deutliche Worte gefunden. Er hat am 7. März
2012 eine Presseerklärung herausgegeben, aus der ich
zitieren darf:
Das Bundesjustizministerium hat es leider versäumt, den geringen Spielraum
- des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
und des Bundesverfassungsgerichtes komplett auszuschöpfen. Daher bleibt eine Schutzlücke bestehen. Derjenige, dessen besondere Gefährlichkeit sich erst während der Haft zeigt, kann
nach dem Entwurf nicht untergebracht werden.
Jetzt kommt es:
Die Union wird die Länder bei der Durchsetzung
einer nachträglichen Unterbringungsmöglichkeit
für hochgradig gefährliche und psychisch gestörte
Straftäter unterstützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich
kann nur sagen: Nur zu, machen Sie das! In diesem Gesetzentwurf befindet sich bisher überhaupt nichts, was
eine nachträgliche Therapieunterbringung ermöglichen
würde. Im Klartext bedeutet das: Wird dieser Gesetzentwurf so verabschiedet, müssten in Zukunft höchstgefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter mit extremem Rückfallrisiko in die Freiheit entlassen werden, wenn sich die
Gefährlichkeit erst nach der Verurteilung zeigt. Das ist
unverantwortlich und inakzeptabel. Das werden wir als
SPD auch nicht mitmachen; denn für uns hat der Schutz
unserer Bevölkerung oberste Priorität.
({6})
Deswegen sage ich an die Adresse der Union: Wenn Sie
es wirklich ernst damit meinen, diese eklatante Schutzlücke schließen zu wollen, dann lassen Sie uns den Gesetzentwurf der Länder verabschieden. Der liegt doch
vor. An den Stimmen der SPD wird es jedenfalls nicht
scheitern; denn die Sicherheit unserer Bürgerinnen und
Bürger, so finden wir, eignet sich nicht für parteitaktische Spielchen. Lassen Sie Ihren Worten endlich auch
einmal Taten folgen!
Die Vorschläge, die Sie uns mit dem zweiten Gesetzentwurf präsentieren - Warnschussarrest und Heraufsetzung der Höchststrafe für Heranwachsende -, sind
Vorschläge aus der strafrechtlichen Mottenkiste. Richterbund, Strafrichter, Strafverteidiger, Jugendrichter, Jugendanstaltsleiter, Bewährungshelfer, Polizeigewerkschaft sie alle schütteln bei diesen Vorschlägen nur noch mit
dem Kopf. Es hört sich ganz toll an, einen Jugendlichen
mit einem Warnschuss auf die richtige Bahn bringen zu
wollen. Aber ein Jugendlicher, der zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden ist - und um die
geht es doch hier -, hat Kriminalitätserfahrung. Er hatte
auch schon mehrere Warnschüsse; er hat sie nur überhört. Es ist geradezu naiv, zu glauben: Dem gebe ich ein
paar Tage oder zwei, drei Wochen Stubenarrest, und alles wird gut. Den stecke ich mit einem Haufen anderer
krimineller Jugendlicher zusammen, und sie denken
dann gemeinsam darüber nach, was in ihrem Leben
schiefgelaufen ist, und kommen als geläuterte Menschen
aus dem Knast und begehen fortan keine Straftaten
mehr. - Das ist doch die reinste Voodookriminalpolitik,
die Sie hier betreiben.
({7})
Wir alle wissen, dass bei diesen Jugendlichen meistens nur eines hilft: eine schnelle Verfolgung und eine
schnelle Verurteilung. Zudem brauchen sie häufig eine
Schadenswiedergutmachung - gemeinnützige Arbeit, Interventionsmaßnahmen -, zur Not auch einen Bewährungshelfer, der ihnen auf die Füße tritt. Das senkt die
Rückfallquote. Das zeigen alle Erfahrungen und Statistiken.
Jugendliche in einen Arrest zu stecken, der eine Kontaktbörse für Kriminelle ist, von denen fast 70 Prozent
wieder rückfällig werden, das hat mit einer erfolgreichen
Bekämpfung der Jugendkriminalität überhaupt nichts zu
tun
Genauso unsinnig ist die von Ihnen geplante Heraufsetzung der Höchststrafe für Heranwachsende von 10 auf
15 Jahre. Wäre die Bundesjustizministerin hier, würde
sie sich schütteln, dass sie diesen Unsinn mitmachen
muss. Ganze sechs bis sieben Jugendliche und Heranwachsende erhalten in Deutschland jedes Jahr die
Höchststrafe von 10 Jahren. Für diese Handvoll Straftäter machen Sie ein Gesetz, und das verkaufen Sie als erfolgreiche Rechtspolitik; das ist doch lächerlich. Wen
Sie nach 10 Jahren im Knast nicht zur Besinnung gebracht haben, den werden Sie auch nach 15 Jahren nicht
auf die vernünftige Bahn bekommen.
({8})
Sie werden diesen Gesetzentwurf gleich verabschieden, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und
FDP. Aber auch die FDP weiß: Mit einer vernünftigen
und guten Rechtspolitik hat das überhaupt nichts zu tun.
({9})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute zwei Gesetzentwürfe, die eines gemeinsam haben: In beiden Fällen geht es um die Frage der Angemessenheit und der
Ausgestaltung von staatlichen Sanktionen für strafbares
Verhalten.
Zur Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes. Gerade
in diesem Bereich ist es aus meiner Sicht ganz wichtig,
dass der Staat deutlich und bestimmt reagiert, wenn
junge Leute gegen die Rechtsordnung und gegen die
Wertegemeinschaft verstoßen. Mit der Implementierung
des Warnschussarrests in das Jugendgerichtsgesetz wird
eine langjährige Forderung, insbesondere der CSU, umgesetzt.
({0})
Ich kann nicht verstehen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie das als
„Instrumente aus der strafrechtlichen Mottenkiste“ titulieren.
Worum geht es denn ganz konkret? Es geht darum,
dass jugendliche Straftäter, die eine Freiheitsstrafe erhalten haben, welche zur Bewährung ausgesetzt wird, das in
der Praxis leider Gottes häufig als „Freispruch zweiter
Klasse“ empfinden und vielleicht sogar sich dessen rühmend den Gerichtssaal verlassen. Ich nehme es sehr
wohl ernst, wenn uns Praktiker sagen, sie sähen das konkrete Bedürfnis, derartigen Straftätern neben der zur Bewährung ausgesetzten Strafe einen temporären Warnschussarrest aufzubrummen, damit verhindert wird, dass
sie rückfällig werden.
({1})
Ich bin der festen Überzeugung, dass das Instrument des
Warnschussarrests in bestimmten Fällen geeignet ist, den
Beginn einer strafrechtlichen Karriere von vornherein zu
verhindern.
({2})
Deswegen halte ich es für richtig, dass dieser Warnschussarrest eingeführt und das bisher geltende Koppelungsverbot, normiert in § 8 Abs. 2 Satz 1 JGG, aufgehoben wird.
Mit der Implementierung des Warnschussarrests in das
Jugendgerichtsgesetz verknüpfe ich auch die Hoffnung,
dass die Länder dafür sorgen, dass die Verfahren gegen
jugendliche und heranwachsende Straftäter schneller
durchgeführt werden als bisher. Auch hier gilt der
Grundsatz: Schnelles Recht ist gutes Recht. Gerade für
junge Menschen, die in manchen Bereichen vielleicht
noch nicht über die notwendige geistige Reife verfügen,
ist es wichtig, ihnen sehr schnell und unmittelbar vor
Augen zu führen, welche Folgen es hat, wenn sie sich
strafrechtlich signifikant verhalten und gegen unser
Strafrecht verstoßen. Des Weiteren habe ich die Hoffnung, dass die Jugendrichter sehr maßvoll, in Einzelfällen aber durchaus dezidiert von der Möglichkeit des
Warnschussarrests Gebrauch machen. Dieser Arrest ist
eine flexible und zeitgemäße Ausweitung des Instrumentenkastens im Jugendgerichtsgesetz.
Gleiches gilt für die Erhöhung des Strafrahmens von
10 auf 15 Jahre, zumindest in einigen Ausnahmefällen.
Solche Fälle gibt es leider auch bei jugendlichen oder
heranwachsenden Straftätern. Manche von ihnen lassen
sich derart gravierende, hochkriminelle Straftaten zuschulden kommen, dass die Möglichkeit der Verhängung
einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren erforderlich wird, um
ein gerechtes Unwerturteil bezüglich dieser Strafe zu fällen.
Ich möchte auch einige durchaus positive Beispiele
aus der Praxis erwähnen, zum Beispiel das Neuköllner
Modell hier in Berlin oder das Bamberger Modell in
Bayern. Bei diesen Modellen werden den jugendlichen
Straftätern die Folgen ihres strafbaren Verhaltens sehr
schnell und konsequent vor Augen geführt.
({3})
Ich komme zum zweiten Gesetzentwurf, der heute in
erster Lesung beraten wird, nämlich zur Umsetzung des
Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung.
Wir setzen konsequent und meines Erachtens sehr
schnell, Frau Kollegin Lambrecht - wir hätten sogar
noch ein Jahr mehr vom Bundesverfassungsgericht eingeräumt bekommen -, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai letzten Jahres um.
Ich persönlich bin der Meinung, dass die Forderung
und der Wunsch des Bundesrates, das Instrument der
nachträglichen Therapieunterbringung noch in das Gesetz aufzunehmen, ernsthaft und ausführlich geprüft
werden sollte. Mit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wird man sicherlich nicht allen Fällen gerecht. Es
gibt durchaus Fälle, in denen es erforderlich ist, daneben
auch die nachträgliche Therapieunterbringung verhängen zu können. Im Freistaat Bayern ist die nachträgliche
Sicherungsverwahrung in den Jahren 2005 bis 2010 in
genau vier Fällen verhängt worden. Man sieht: Von dieser Möglichkeit wird sehr maßvoll und sehr dezidiert
Gebrauch gemacht. Wenn man sich das Ganze an einem
konkreten Fall verdeutlicht, wird jeder sehr schnell Verständnis dafür haben, dass es dieses zusätzlichen Instruments im Strafgesetzbuch auch weiterhin bedarf.
Ich möchte Ihnen einen Fall nennen: Ein männlicher
Straftäter hat verschiedene weibliche Familienangehörige in vielen Fällen - insgesamt über 1 000; das ist
wirklich unvorstellbar - sexuell belangt; er hat sich des
sexuellen Übergriffs strafbar gemacht, teilweise auch der
Vergewaltigung. Er ist zu Recht zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im Laufe des Strafvollzugs und
Stephan Mayer ({4})
der dabei unternommenen Therapieversuche ist dann erkannt worden, dass er eine Schizophrenie aufweist, dass
also durchaus die Gefahr besteht, dass er nach Beendigung seines Strafvollzugs neben Familienangehörigen
auch Dritte belangen wird. In dem Fall ist - meines Erachtens richtigerweise - die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet worden.
Es gibt immer wieder einmal Fälle, in denen im Rahmen des Strafvollzugs und entsprechender Therapieunterbringungen Fälle von Schizophrenie, aber auch multipler sexueller Übergriffe auftreten, weshalb aus meiner
Sicht die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunterbringung aufrechterhalten werden muss und ins Gesetz
aufgenommen werden sollte. Wir haben am 27. Juni eine
Sachverständigenanhörung. Ich hoffe, dass dieser Punkt
im Rahmen der Sachverständigenanhörung vonseiten
der Experten intensiv beleuchtet wird.
Ich möchte einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen, den der Bundesrat ebenfalls in seine Stellungnahme aufgenommen hat. Hier geht es um die Neufassung des § 67 a Abs. 2 Satz 2 StGB. Wenn der Satz so
bliebe, wie er jetzt im Entwurf steht, bestünde die konkrete Gefahr, dass es zu einer Erhöhung der nicht unerheblichen Zahl an Überweisungen von höchstgefährlichen,
nicht therapiefähigen und teilweise nicht therapiewilligen Straftätern in den psychiatrischen Maßregelvollzug
kommt. Das bedeutet ganz konkret, dass zum Beispiel in
Bezirkskrankenhäusern einerseits Menschen, die nicht
oder nur teilweise schuldfähig sind, therapiert werden,
andererseits ein paar Türen weiter voll schuldfähige
Straftäter, die überhaupt nicht therapiewillig und auch
gar nicht therapiefähig sind. Dies ist aus meiner Sicht
schon aus Sicherheitserwägungen nicht hinnehmbar. Ich
sage aber ganz offen: Ich glaube, dass mit dieser Regelung der Intention des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht entsprochen wird. Es kann nicht sein, dass
Personen, die gar keine psychische Erkrankung aufweisen, in psychiatrisch-forensischen Kliniken untergebracht werden. Ich glaube, dass dringender Änderungsbedarf gegeben ist, was § 67 a Abs. 2 Satz 2 im Entwurf
anbelangt.
Insoweit steht uns insbesondere im Rahmen der jetzt
anstehenden Sachverständigenanhörung durchaus noch
einiges an Arbeit bevor. Zum einen hoffe ich, dass unser
Gesetzentwurf zur Aufnahme des Warnschussarrests und
zur Erhöhung der Höchststrafe für Jugendliche von
10 auf 15 Jahre in diesem Haus eine möglichst große
Mehrheit findet. Zum anderen freue ich mich auf intensive und konstruktive Verhandlungen und Gespräche zu
unserem zweiten Gesetzentwurf, was die Novellierung
der Sicherungsverwahrung anbelangt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9874 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9990, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/9389 in der
Ausschussfassung anzunehmen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt,
über Art. 1 Nr. 9 einerseits und über den Gesetzentwurf
im Übrigen andererseits getrennt abzustimmen.
Ich rufe also zunächst Art. 1 Nr. 9 in der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die dem zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Art. 1 Nr. 9 ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in
der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Alle Teile des Gesetzentwurfs
sind damit in zweiter Beratung mit der Mehrheit der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei
Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, möchte ich Ihnen die von den Schriftführerinnen
und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen,
die wir vorhin vorgenommen haben, übermitteln. Zunächst zur Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen
Kontrollgremiums gemäß Art. 45 d des Grundgesetzes:
abgegebene Stimmen 576, ungültige Stimmen 3, gültige
Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 516, mit Nein haben gestimmt 19, Enthaltungen 38. Der Abgeordnete
Michael Grosse-Brömer hat 516 Stimmen erhalten. Die
erforderliche Mehrheit wurde erreicht. Er ist damit gewählt.
Wir kommen zum Ergebnis der Wahl der ordentlichen
Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des
Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene Stimmkarten 580, davon gültig 579, ungültige Stimmen 1. Nun
kommen wir zu den einzelnen Personen. Von den gültigen Stimmen entfielen wie folgt auf die Abgeordneten
Norbert Barthle: Ja 492, Nein 38, Enthaltungen 33,
Bartholomäus Kalb: Ja 500, Nein 33, Enthaltungen 36,
Eckhardt Rehberg: Ja 489, Nein 42, Enthaltungen 36,
Michael Stübgen: Ja 479, Nein 45, Enthaltungen 43,
Lothar Binding: Ja 514, Nein 27, Enthaltungen 23, Petra
Merkel: Ja 510, Nein 33, Enthaltungen 19, Florian
Toncar: Ja 483, Nein 49, Enthaltungen 30, Dietmar
Bartsch: Ja 434, Nein 70, Enthaltungen 35, Priska Hinz:
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ja 488, Nein 35, Enthaltungen 30. Diese neun Abgeordneten haben also die erforderliche Mehrheit erreicht. Sie
sind damit als ordentliche Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes gewählt.
Wir kommen zum Ergebnis der Wahl der stellvertretenden Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3
des Stabilisierungsmechanismusgesetzes: abgegebene
Stimmen 580, davon gültig 579, ungültige Stimmen 1.
Die gültigen Stimmen entfielen wie folgt auf die Abgeordneten Norbert Brackmann: Ja 506, Nein 25, Enthaltungen 36, Klaus-Peter Flosbach: Ja 498, Nein 30, Enthaltungen 39, Alois Karl: Ja 493, Nein 30, Enthaltungen
43, Bernhard Schulte-Drüggelte: Ja 496, Nein 27, Enthaltungen 42, Michael Roth: Ja 496, Nein 35, Enthaltungen 25, Rolf Schwanitz: Ja 478, Nein 49, Enthaltungen
24, Joachim Spatz: Ja 486, Nein 43, Enthaltungen 37,
Roland Claus: Ja 403, Nein 86, Enthaltungen 39, Manuel
Sarrazin: Ja 471, Nein 42, Enthaltungen 40. Diese neun
Abgeordnete haben also auch die erforderliche Mehrheit
erreicht, und sie sind damit als stellvertretende Mitglieder des Sondergremiums gemäß § 3 Abs. 3 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes gewählt.
Das war noch nachzutragen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Risiken der Riester-Rente offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln
- Drucksache 17/9194 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Matthias W.
Birkwald für die Fraktion Die Linke das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Vor mehr als elf Jahren haben SPD
und Grüne eine einschneidende Rentenreform auf den
Weg gebracht. Am 16. November 2000 sagte der damalige Bundessozialminister Walter Riester hier im Plenum
- ich zitiere -:
Wir haben das Ziel, das Versorgungsniveau im Alter insgesamt zu erhöhen.
Und er behauptete - Zitat -:
Wir ergänzen die gesetzliche Rente mit einer zusätzlichen kapitalgedeckten Rente und werden damit das Rentenniveau insgesamt dauerhaft anheben.
Heute ist klar: Dieses Versprechen war heiße Luft. Es hat
nichts mit der Wirklichkeit zu tun, heute nicht, morgen
nicht und übermorgen auch nicht. Das ist die traurige
Wahrheit.
({0})
Um die Beiträge im Interesse der Arbeitgeber niedrig
und stabil zu halten, wurden das Rentenniveau gesenkt
und die Riester-Rente eingeführt. Das bedeutet eine dramatische Kürzung der gesetzlichen Renten. Wer im Jahr
2001 eine Rente von 1 000 Euro hatte, wird sich im Jahr
2030 mit 765 Euro bescheiden müssen. Um den einmal
erreichten Lebensstandard auch im Alter halten zu können, sollten die Menschen fortan privat vorsorgen, beschloss Rot-Grün. Heute wissen wir, wer die Gewinnerin
ist. Es ist die Versicherungswirtschaft. Sie kann sich über
Mehreinnahmen in Milliardenhöhe freuen. Ebenfalls
freuen können sich die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen. Sie müssen nämlich weniger in die Rentenkasse
zahlen, weil sie sich nicht an der privaten Riester-Vorsorge beteiligen müssen. Wir wissen aber auch, wer die
Verliererinnen und Verlierer sind. Es sind die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie sollen einen Teil der
Altersvorsorge ganz allein tragen. Das ist sozial höchst
ungerecht und durch nichts zu rechtfertigen.
({1})
Aber es kommt noch schlimmer. Derzeit spricht nämlich alles dagegen, dass mit der privaten Vorsorge die
politisch willkürlich gerissene Altersvorsorgelücke tatsächlich geschlossen werden könnte. Das heißt, die Versiche-rungswirtschaft und die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber profitieren garantiert, Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer werden bestenfalls mit ungedeckten Versprechen entlassen. Hier liegt der sozialpolitische Skandal. Da müssen wir heran. Da will die Linke heran, als
einzige bisher.
({2})
Die Riester-Rente steht seit langem völlig zu Recht in
der Kritik. Sie ist intransparent; denn die hohen Kosten
und die schmalen Renditen sind durch die Sparerinnen
und Sparer kaum zu erkennen. Sie ist unwirtschaftlich;
denn die Verwaltungskosten sind viel zu hoch. Das ist
ein Grund dafür, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung klar und deutlich sagt - ich zitiere -:
Riestern ist oft nicht besser, als das Geld in den
Sparstrumpf zu stecken.
Nicht zuletzt versagt die Riester-Rente in sozialpolitischer Hinsicht auf ganzer Linie; denn die Riester-Reformen sorgen weder für eine Lebensstandardsicherung und
schon gar nicht für ein Leben im Alter frei von Armut.
Das heißt: Die Riester-Rente löst die Probleme nicht. Sie
ist ein Irrweg.
({3})
Die staatlichen Subventionen in Milliardenhöhe fließen ganz zuverlässig in die Taschen der Versicherungsunternehmen. Aber was kommt davon bei den Sparerinnen und Sparern an? Was trägt die Riester-Rente dazu
bei, den Lebensstandard zu sichern? Was trägt die
Riester-Rente dazu bei, im Alter ein Leben frei von Armut führen zu können? Auf diese wichtigen Fragen gibt
es von der Bundesregierung bisher kaum brauchbare
Antworten. Das muss sich ändern. Darum fordern wir
Linken die Bundesregierung auf, einmal im Jahr einen
umfangreichen Riester-Bericht vorzulegen.
({4})
Nach Auskunft der Bundesregierung sind seit 2001
15,5 Millionen Riester-Verträge abgeschlossen worden.
Doch das ist keine Erfolgsstory. Diese absolute Zahl hat
nur dann Aussagekraft, wenn die Gesamtzahl der potenziellen Riester-Sparerinnen und -Sparer bekannt ist.
Aber diese Zahl kann die Bundesregierung nicht nennen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt
die Zahl der Riester-Berechtigten auf ungefähr 37,5 bis
42 Millionen. Das heißt, dass nur etwa 37 bis 41 Prozent
von denen, die eigentlich riestern dürften, dies überhaupt
tun. Aber Vorsicht! Die Anzahl der Verträge sagt nichts
aus über die tatsächliche Zahl der Menschen, die riestern, da einzelne Personen mehrere Verträge haben, und
es ist zu bedenken, dass nur diejenigen eine theoretische
Chance haben, ihre Versorgungslücke zu schließen, die
eine volle Zulagenförderung erhalten. Die bekamen
2010 aber gerade einmal 5,4 Millionen oder 13 bis
14 Prozent der möglichen Riester-Sparerinnen und -Sparer. Noch nicht einmal diese kleine Gruppe hat von den
staatlichen Zulagen etwas; denn laut Zeitschrift Öko-Test
fressen die Vertragskosten fast die gesamten Zulagen
auf. So sieht es aus! Hinschauen statt Schönreden ist hier
gefragt. Deshalb müssen solche Daten regelmäßig auf
den Tisch gelegt werden.
({5})
Das, was wir aus dem Rentenversicherungsbericht
2011 über die Riester-Rente erfahren können, reicht für
eine Bewertung nicht aus. Nicht von ungefähr kritisiert
das DIW, dass die ganze Riesterei eine „Politik ohne
Marktbeobachtung“ sei, dass es sich bei den Jubelmeldungen der Bundesregierung um „Erfolgsmeldungen
ohne Fundament“ handele. Nur aus der unabhängigen
Forschung gibt es immer wieder Studien, die nachweisen: „Die Riester-Reform ist ein Flop“, und das gilt insbesondere für Menschen mit wenig Geld.
Das Mindeste, das alle Bürgerinnen und Bürger von
der Regierung erwarten können, ist, dass sie regelmäßig
die Folgen ihrer Rentenpolitik überprüft und transparent
macht. In Sachen Riester gehört aus unserer Sicht zum
Beispiel Folgendes dazu: Wie wirken sich die Rentenkürzungen und die Riesterei auf Menschen mit geringem
Einkommen aus? Warum glaubt die Versicherungswirtschaft, dass die Menschen so viel länger leben, als es das
Statistische Bundesamt annimmt? Wie entwickelt sich
das Rentenniveau nach Steuern und Abgaben aus der gesetzlichen Rente und aus der Riester-Rente? Die Linke
will, dass in Sachen Riester endlich Klarheit und Wahrheit herrschen.
({6})
Das, was bisher bekannt ist, kann nur zu einer Forderung führen: Die Riester-Subventionen für die Versicherungswirtschaft müssen endlich in die Kassen der gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt werden. Dorthin
gehören sie. Dort helfen sie, den Lebensstandard zu sichern. Dort tragen sie dazu bei, im Alter frei von Armut
leben zu können.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Mathias Middelberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Birkwald, das Bild, das Sie hier
eben gezeichnet haben, war aus unserer Sicht - ich
glaube, da spreche ich für einen Großteil dieses Hauses ein Zerrbild. Wir haben Defizite bei Riester; darüber darf
man nicht hinwegreden. Diese Defizite betreffen die Effizienz, die Rendite dieser Verträge. Auch wir sehen,
dass der Verwaltungskostenanteil, die Vermittlergebühren und andere Posten zu hoch sind. Wir sehen auch,
dass wir da zu deutlich mehr Transparenz kommen müssen. Wir brauchen auch mehr Transparenz für die Verbraucher, um Verträge vergleichbarer zu machen, um
mehr Wettbewerb in diesem Markt zu erzeugen und um
es für die Verbraucher einfacher zu machen.
Aber wir ziehen daraus eine andere Schlussfolgerung
als Sie. Wir sagen deshalb nicht, die private Zusatzvorsorge, Riester oder Rürup, ist Mist und muss weg,
({0})
sondern wir sagen: Das ist ein wichtiges zusätzliches
Standbein der Altersvorsorge. Uns kommt es darauf an,
diesen grundlegenden Schritt weiterzugehen, nämlich
das Bewusstsein dafür zu wecken, für die eigene Altersversorgung zusätzlich privat vorzusorgen und auch zusätzlich private Mittel zu mobilisieren. Es wäre nicht damit getan, wenn wir die Zulagen, wie Sie es fordern,
einfach in die normale Rentenkasse geben würden. Wir
hätten dann eine noch wesentlich größere Rentenlücke;
denn all die zusätzliche private Sparleistung, all das, was
wir zusätzlich mobilisiert haben, würde dann von heute
auf morgen wegfallen. Das würde die Probleme mitnichten lösen.
({1})
Es kommt also darauf an, das System effizienter zu
gestalten. Ich will alle drei Säulen ansprechen; denn man
muss die Altersvorsorge insgesamt betrachten. Zum System insgesamt hat ein bekannter und erfahrener Politiker
in diesem Haus gesagt: „Wenn man sich die Rentenversicherungssystematik insgesamt anschaut, weiß man:
Das Wichtigste, das man tun kann, ist, für Bildung, Qualifizierung und Arbeit zu sorgen.“ Die spätere Entwicklung hänge davon ab, wie sich Arbeitslosigkeit in diesem
Lande entwickele. Das sagte Franz Müntefering 2006.
Ich finde, er hatte recht.
Damals, im März 2006, als Franz Müntefering das
sagte, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose. Heute haben
wir - das ist Ergebnis der Politik dieser Bundesregierung, aber durchaus auch Ergebnis der Politik der Großen Koalition - nur noch 2,7 Millionen Arbeitslose. Wir
haben die gesetzliche Rentenversicherung deutlich stabilisiert, weil wir deutlich mehr Beitragszahler und wesentlich weniger Arbeitslose haben.
Auch die Lohnsumme insgesamt und die durch Beiträge zur Verfügung stehende Summe sind erheblich gestiegen. 2006 hatten wir 26 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Im März 2012 hatten wir
29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
und damit mehr Einzahler in das gesetzliche System.
Damit haben wir einen entscheidenden Beitrag für eine
stabilere Altersvorsorge geleistet.
({2})
Es ist mir wichtig, dieses Grundlegende vorweg festzustellen.
Ich möchte die zweite Säule, die betriebliche Altersvorsorge, ansprechen. Auch da, glaube ich, haben wir das sage ich für die Große Koalition - einen Schritt zur
Stabilisierung getan; denn wir haben die steuerliche Begünstigung, die wir dort ursprünglich befristet eingerichtet hatten, 2008 entfristet und verlängert, sodass die betriebliche Altersvorsorge jetzt auf wesentlich stabileren
und verlässlicheren Füßen steht als vorher.
Die dritte Säule ist die private Zusatzvorsorge, also
Riester und Rürup. Insofern begrüße ich den Antrag, den
Sie gestellt haben, weil er uns die Gelegenheit gibt, über
das System der privaten Zusatzversicherungen zu sprechen. Man sollte allerdings sachlich und vernünftig darüber diskutieren, was man an diesen Systemen optimieren kann.
({3})
Aus unserer Sicht sollten die Fördergrenzen angepasst
werden, und man sollte sie mit der wirtschaftlichen Entwicklung mitlaufen lassen. Außerdem sollte man ein
einheitliches Produktinformationsblatt zur Verfügung
stellen, um endlich - davon haben auch Sie gesprochen Transparenz und Klarheit herzustellen; in diesem Punkt
sind wir uns sehr einig. Wir brauchen Vergleichbarkeit;
die jeweiligen Produkte müssen für den Normalverbraucher also leicht vergleichbar sein. Forderungen wie
„Weg mit Riester!“ oder „Weg mit Rürup!“ helfen uns
nicht. Was wir brauchen, sind Klarheit und Transparenz
beim Vergleich der jeweiligen Produkte.
({4})
Erforderlich ist außerdem eine Deckelung der Wechselkosten, also der Kosten, die bei einem Anbieterwechsel anfallen. Ich halte es für sinnvoll, dass wir darüber
hinaus eine Produktkontrolle durch die BaFin einrichten.
Notwendig sind ferner Verbesserungen beim Erwerbsminderungsschutz; diesen Aspekt haben Sie gerade zwar
nicht angesprochen, aber in Ihrem Antrag ist er erwähnt.
Auch dieses Thema muss bei Rürup und Riester eine
größere Rolle spielen.
Uns, den Koalitionsfraktionen, schwebt außerdem
vor, den altersgerechten Umbau in die Riester-Förderung
einzubeziehen und damit den Wohn-Riester zu ertüchtigen. Ich glaube, wenn wir bei diesem Thema konstruktiv
zusammenarbeiten - das sollten wir -, dann können wir
Riester deutlich effizienter gestalten. Zugegeben - um
das klar festzustellen -: Die Renditen bei Riester sind
aus unserer Sicht nicht zufriedenstellend. Hier muss es
zu Verbesserungen kommen. Das heißt aber nicht, dass
man, wie es das DIW andeutet, das ganze System zurückschrauben und umbauen sollte.
({5})
Vielmehr geht es darum, Riester und Rürup effizienter
zu gestalten.
Ich glaube auch nicht, dass wir einen gesonderten Bericht über die private Altersvorsorge brauchen. Ich
meine, dass wir dieses Thema in den Altersvorsorgebericht, den die Bundesregierung ohnehin abgibt, integrieren können. Auch über die zusätzlichen Daten, die
im Bereich der privaten Altersvorsorge von Bedeutung
sind, kann dort berichtet werden. Das erspart uns, denke
ich, zusätzliche Bürokratie.
Ich komme zum Schluss und weise auf das hin, was
die OECD in der letzten Woche festgestellt hat. Sie hat
die Rentenpolitik dieser Regierung und die Festlegungen, die die Große Koalition getroffen hat, durchaus gelobt. Die OECD hat zwei zentrale Feststellungen getroffen. Erstens hat sie festgestellt, die Anhebung des
Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sei ein sinnvoller
Schritt gewesen, um das Rentensystem tragfähiger zu
machen. Die OECD geht sogar noch einen Schritt weiter
und fordert die Schaffung eines Automatismus - in
Dänemark beispielsweise gibt es einen solchen Automatismus schon -, und zwar dahin gehend, dass das
Renteneintrittsalter im Zuge der steigenden Lebenserwartung automatisch steigt. Hier gab es für unsere politische Richtung also durchaus Lob. Zweitens macht die
OECD deutlich, dass man die private Altersvorsorge
nicht verdammen soll. Vielmehr sollte die private Altersvorsorge noch stärker und zielgerichteter gefördert
werden.
Ich stelle an dieser Stelle fest: Es gibt Verbesserungsbedarf. Aber der Kurs ist richtig.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Über den vorliegenden Antrag freue ich mich
sehr. Im Rahmen meiner Vorbereitungen auf die heutige
Debatte bin ich das gesamte Gesetz zur Einführung der
Riester-Rente aus dem Jahre 2002 durchgegangen. Ich
habe jeden Antrag - auch jeden Antrag der Linken - und
jede Kleine Anfrage zu diesem Thema gelesen. Außerdem habe ich mir Gutachten und zusätzliche Informationen beschafft, zum Beispiel von Finanztest, von Ökotest
und vielen anderen, die sich mit diesem Thema befassen.
Insbesondere Finanztest hat im Jahr 2005, im Jahr 2008
und im Jahr 2012 bescheinigt, dass sich das Riestern und
eine entsprechende Zusatzversicherung lohnen; im letzten Heft vom Mai 2012 kam dies erneut sehr deutlich
zum Ausdruck.
Ich muss dazusagen - das ist dann die andere Seite
der Medaille -, dass es, wie die Kollegen hier gerade
auch beschrieben haben, einen Nachbesserungsbedarf
gibt. Das Gesetz wurde vor über zehn Jahren verabschiedet. Es wurde immer wieder nachgefragt, und es wurden
Erfahrungswerte festgestellt. Ich möchte den hier im
Plenum erleben, der nicht sagt, dass es noch einen Nachbesserungsbedarf gibt. Das stelle ich hier und heute anhand des Antrages auch fest. Insofern freue ich mich
sehr, dass sich die Finanzer nach der Überweisung an
den Finanzausschuss mit diesem Thema beschäftigen
sollen. Überall da, wo Probleme auftauchen oder wo es
einen Verbesserungsbedarf gibt, müssen wir entsprechend vorgehen.
Ich gehe einmal gedanklich in die Zeit um das Jahr
2000 zurück. Damals haben wir zum ersten Mal erlebt,
dass 15 Millionen Menschen darüber geredet und sich
Gedanken darüber gemacht haben, wie ihr Leben nach
dem Erwerbsleben aussehen wird. Wer hätte damit gerechnet, dass sich junge Erwachsene, die sich gerade in
einer Ausbildung befinden oder nach dem Studium ihren
ersten Job erhalten haben, damit beschäftigen, wie es
nach dem Erwerbsleben sein wird, wo sie dann stehen
werden und wie sie ihren Standard halten können? Dazu
kam es damals zum ersten Mal, und zwar auch durch die
Diskussion über Riester und Rürup, und diese Diskussion ist auch richtig.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Vielleicht hinkt das
Beispiel, wie das mit Beispielen nun einmal so ist, aber
vielleicht trifft es doch zu: Jede Patentante und jeder
Patenonkel schließt zur Taufe des Patenkindes einen
Bausparvertrag ab oder eröffnet ein klassisches Sparbuch. Das ist selbstverständlich und normal. Niemand
redet darüber und stellt das infrage. Warum wird es demgegenüber als fraglich angesehen, wenn wir darüber
nachdenken, wie wir das Zeitfenster nach unserem
Erwerbsleben gestalten? Warum ist das ein Problem?
Warum stellen Sie die drei Säulen infrage? Warum sagen
Sie, dass die drei Säulen nicht richtig sind?
Der Antrag Ihrer Fraktion wird heute überwiesen. Ich
sage es vorweg: Würde heute darüber abgestimmt, dann
würden wir uns sehr gerne enthalten, weil zwar einige
kritische Elemente darin richtig sind, wir den Grundtenor, die drei Säulen abzulehnen, allerdings nicht teilen.
Diesen Grundtenor Ihres Antrags bedauere ich. Wir
möchten gerne mit Ihnen gemeinsam konstruktiv und
nach vorne gerichtet für die Menschen an Verbesserungsvorschlägen arbeiten. Insofern wäre der Diskussionsprozess in den Fachausschüssen sehr wichtig. Ich
würde mich sehr freuen, wenn Sie es tatsächlich ernst
meinen würden, wenn Sie vom Zuhören, Mitgestalten
und Gestalten sprechen, und wenn Sie dies auch tatsächlich tun würden.
Wenn wir von Standards reden, dann müssen wir
natürlich sagen, dass gerade die staatlich geförderte
Altersvorsorge höheren Standards und strengeren Kriterien entsprechen muss. Deswegen müssen gerade diese
Anlagen konservativ sein und stärker kontrolliert werden. Ich möchte nicht, dass sie spekulativ sind, was
möglicherweise zu einer höheren Ausschüttung führen
kann, sondern sie sollen lieber konservativ gehalten werden; denn es ist ja gerade der Sinn und der Reiz von
Riester, dass man zumindest das herausbekommt, was
man tatsächlich einbezahlt hat.
({0})
Dies ist auch eine ganz eindeutige Feststellung von
Finanztest. Die gesetzliche Garantie sorgt dafür, dass am
Ende zumindest das Eingezahlte gesichert ist.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt
nicht die weiteren Vorzüge ansprechen. Ich glaube, wer
sich intensiv damit beschäftigt, der weiß, wie notwendig
es war, dass wir 2002 in dieser Form vorangegangen
sind.
Ich möchte jetzt gerne auch über die Nachbarländer
sprechen, die ebenfalls Erfahrungen damit haben, und
darüber, wie sie damit umgehen. Schauen Sie sich die
Niederlande, Schweden oder die anderen Nachbarländer
an, die sich intensiv damit beschäftigt haben. Diese Länder haben genau das getan, was Sie vorhin angesprochen
haben: Sie haben die Höhe der Gebühren gedeckelt und
für ein konservatives Portfolio gesorgt. Durch die Aufsichtsgremien wird immer wieder kontrolliert, sodass
dort keine Spekulation stattfinden kann. Es gibt dort eine
große Transparenz, und sie haben ein einfaches Informationsblatt erstellt, das für jeden nachvollziehbar und
transparent sein muss. Eine Altersvorsorge bedeutet
nämlich nicht, dass man das Geld, das man nicht konsumieren, sondern anlegen möchte, spekulativ anlegt; denn
diese Anlage dient der Altersvorsorge.
({2})
Das, was unsere Nachbarländer gemacht haben, sollten
wir im Rahmen der weiteren Beratungen auf jeden Fall
aufgreifen.
Ich begrüße die Überweisung an den zuständigen
Ausschuss. Ich hoffe, der Antrag wird an den Finanzausschuss überwiesen, weil die Überschrift „Risiken der
Riester-Rente offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln“ eindeutig für eine Überweisung an
den Finanzausschuss spricht. Wir müssen stärker dafür
werben, dass nicht nur junge Menschen, sondern alle
Petra Hinz ({3})
Menschen für ihr Leben im Alter entsprechend Vorsorge
treffen.
Zum Schluss: Ja, es ist nicht alles richtig, aber es ist
auch nicht alles verkehrt. Wir sollten zukünftig im Rahmen der Beratungen über mehr Transparenz und über
niedrigere und gedeckelte Gebühren sprechen; denn es
kann in der Tat nicht sein, dass beim Abschluss einer
Riester-Rente zum Teil über 16 Prozent Gebühren
({4})
- ich beziehe mich auf Finanztest - anfallen. Es ist egal,
ob es nun 16 oder 20 Prozent sind: Diese Gebühren sind
auf jeden Fall zu hoch und dürfen nicht sein. Es sollte
beim Abschluss einer Versicherung generell nicht der
Fall sein, dass man erst eine gewisse Zeitspanne einzahlt, bevor man eigentlich anspart. Darüber können wir
uns gern unterhalten.
Regelungen zu niedrigeren Gebühren und besseren,
einfacheren und einheitlichen Informationen sollten sich
in jedem Fall in diesem Gesetz wiederfinden und es weiterentwickeln. Wenn wir gemeinsam an diesen Zielen arbeiten, dann kommen wir zusammen. Ich wünsche mir
das. Meine Fraktion hat in diesem Fall schon eine Enthaltung in der Abstimmung signalisiert. In diesem Sinne
wünsche ich uns eine gute Beratung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und, wie wir
im Ruhrgebiet sagen, ein herzliches Glückauf!
({5})
Das Wort hat nun Frank Schäffler für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Hier geht es eigentlich nicht so sehr um diesen
Antrag, sondern hier geht es um eine grundsätzlich unterschiedliche Auffassung zur Rolle des Staates und zur
Rolle von privaten Sparern. Sie sind der Auffassung,
dass die Altersvorsorge über eine gesetzliche Umlageversicherung unter Berücksichtigung des demografischen Wandels geregelt und weiter vorangebracht werden muss, die aber am Ende vor die Wand fährt. Das ist
nicht unsere Auffassung. Wir wollen die Sparkultur in
Deutschland fördern.
Ich will den rot-grünen Entwurf der Riester-Rente
durchaus loben. Das war ein großer Schritt zur Steigerung der Sparkultur in diesem Land. Am Ende hat die
Riester-Rente dazu geführt, dass es beim Sparen nicht
nur gerecht zugeht, sondern auch sozial gerecht. Sie ist
deshalb gerecht, weil derjenige, der spart, zumindest
wenn er in Riester-Verträge spart, steuerlich genauso behandelt wird wie jemand, der heute konsumiert. Letztendlich ist der Riester-Vertrag nur eine Verlagerung der
Steuerlast in die Rentenphase, zumindest für diejenigen,
die normal Einkommensteuer zahlen. Gleichzeitig ist sie
sozial gerecht, weil man ebenfalls diejenigen fördert, die
keine Steuern zahlen. Das geschieht über die Zulagen.
Das heißt, es handelt sich um ein sozial gerechtes Vorsorgesparen.
Deshalb ist es schlecht, wenn man das jetzt schlechtredet. Das machen Sie.
({0})
Sie schüren Unsicherheit beim Sparer. Das sorgt am
Ende dafür, dass weniger Menschen vorsorgen.
({1})
Aber die Vorsorge ist genau das, was wir wollen. Wir
wollen, dass die Menschen im Alter unabhängig vom
Staat sind. Wir wollen, dass sie selbst vorsorgen und ihr
Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das ermöglicht
eben ein Riester-Vertrag.
Angesichts der aktuellen Finanzkrise ist das Positive
in Deutschland, dass wir eine hohe Sparquote haben,
dass die Menschen vorsorgen. Die Sparquote im ersten
Quartal beträgt 14,4 Prozent. Das ist im internationalen
Vergleich eine sehr hohe Sparquote. Die Voraussetzung
dafür, dass es wirtschaftliches Wachstum gibt, ist, dass
gespart wird. Das ist die Voraussetzung dafür, dass investiert wird. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür,
dass Wachstum entstehen kann. Das ist die Voraussetzung, dass Arbeitsplätze in diesem Land entstehen. Das
ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass der Staat
Einnahmen über Steuern und über Sozialversicherungsbeiträge generieren kann. Diesen Zusammenhang setzen
Sie außer Kraft, indem Sie quasi diese Produkte und diesen Weg diskreditieren und schlechtreden.
({2})
Sie wollen am Ende - da müssen Sie ganz ehrlich
sein - das alte sozialistische Motto durchsetzen: Allen
soll es gleich schlechtgehen. Das ist nicht unsere Vorstellung von Politik.
({3})
Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde den Antrag der Linken auch nicht wahnsinnig toll,
aber ich glaube, die Kritik von Herrn Schäffler geht ein
bisschen an der Sache vorbei.
({0})
Mit Argumenten aus der Mottenkiste braucht man,
glaube ich, nicht zu kommen.
Ich fand den Antrag der Linken in seiner Gesamtheit
eher lustig. Am Anfang wird auf die Riester-Rente
draufgehauen, teilweise mit richtigen Argumenten, teilweise überzogen und teilweise mit aus unserer Sicht falschen Argumenten. Dann folgt die Schlussfolgerung; ich
dachte, jetzt kommt: Weg mit Riester! Hau weg den
Mist! - Was aber kam? Sie fordern einen Bericht. Das ist
großartig. Wenn das so weitergeht, kann ich nur sagen:
Die Linken sind mittlerweile ziemlich harmlos.
({1})
Zum Inhaltlichen: Es ist völlig richtig, dass man die
Alterssicherung im Ganzen sehen muss. Ich habe dabei
ein etwas anderes Bild vor Augen. Ich finde, die Alterssicherung ähnelt der Akropolis. Sie ist inzwischen alt,
war aber einst ein schönes Modell. Es wäre falsch, sie
abzureißen; man muss sie vielmehr stabilisieren bzw.
neu aufbauen. Sie ist durch die Umweltbedingungen ein
bisschen angegriffen und muss entsprechend angepasst
werden.
Wichtig ist bei der Akropolis wie bei der Alterssicherung, dass es ein stabiles Fundament gibt. Als Fundament ist die Riester-Rente nicht geeignet, weil sie zu unsicher ist. Das Fundament muss stabil sein und aus der
umlagefinanzierten Rente finanziert werden; gegebenenfalls muss steuerfinanziert etwas zur Absicherung vor
Armut getan werden. Wir sagen: Die umlagefinanzierte
Rente muss der Kern unseres Rentensystems bleiben,
und das Fundament muss solidarisch finanziert werden.
Nur dann wirken nämlich die Säulen, die darauf aufgebaut werden und den Lebensstandard sichern: die gesetzliche Säule, die private Säule und die betriebliche
Säule.
Die private Säule ist - das ist eben schon richtig gesagt worden - noch nicht so stabil und stark, wie wir uns
das eigentlich damals erhofft haben. Es gibt offensichtliche Mängel, die wir angehen müssen.
Einer dieser Mängel ist, dass wir nicht genau wissen,
was es alles an Mängeln gibt. Einer der Fehler, den wir
damals gemacht haben, ist, dass wir nicht wie bei den
Hartz-Gesetzen gleich eine Evaluation mitbeschlossen
haben. Wir wissen relativ wenig über die Wirkung der
Riester-Rente. Ich glaube, dass an dieser Stelle unbedingt nachgebessert werden muss. Vor diesem Hintergrund, finde ich, ist die Forderung nach einem Bericht
durchaus berechtigt. Darüber kann man diskutieren. Insofern korrigiere ich das „harmlos“ bezogen auf die Linken zu „überwiegend harmlos“.
({2})
Folgende Baustellen gibt es aus unserer Sicht:
Erstens. Die Riester-Rente sollte die durch das abgesenkte Rentenniveau entstandene Lücke schließen, und
zwar bei allen Einkommensgruppen. Das ist leider bisher nicht erreicht. Die entsprechende Zahl ist schon genannt worden: Nach aktuellem Stand gibt es insgesamt
15,5 Millionen Verträge. Da eine kleine Anzahl von Personen mehrere Verträge haben, haben wahrscheinlich
13 Millionen bis 15 Millionen Menschen einen RiesterVertrag. Die genaue Zahl kennen wir in der Tat nicht.
Aber es ist weniger als die Hälfte der Berechtigten. Da
muss also nachgebessert werden. Hinzu kommt: Insbesondere im unteren Einkommensbereich gibt es noch
sehr viel weniger Menschen, die einen Riester-Vertrag
haben. Wir wollen aber, dass auch in diesem Bereich die
Menschen durch die gesetzliche Rente plus RiesterRente ihren Lebensstandard sichern können. Auch da
müssen wir definitiv nachbessern.
Die zweite Baustelle ist ein verbesserter Verbraucherinnen- und Verbraucherschutz. Wer hat wirklich einen
Überblick über die mittlerweile 5 000 Produkte? Ich jedenfalls nicht. Auch für einen funktionierenden Wettbewerb ist es wichtig, eine übersichtliche Zahl von Produkten zu haben. 5 000 sind eigentlich zu viel.
Dann ist es so, dass die Produkte nicht wirklich vergleichbar sind. So etwas wie ein Produktinformationsblatt ist sicherlich wichtig, wobei zu fragen ist, was genau darin enthalten sein soll. Es muss klar sein, wann
sich eine Riester-Rente tatsächlich lohnt. Da gehen die
Meinungen ja sehr auseinander. Die Berechnungen des
DIW bzw. des Bundes der Versicherten zeigen, dass
nicht eindeutig klar ist, dass sie sich für alle lohnt. Wir
haben den Anspruch, dass sich die Riester-Rente auch
ohne Zuschüsse und Zulagen lohnt. Auch das muss aus
einem Produktinformationsblatt hervorgehen.
Darüber hinaus brauchen wir eine Gesamtübersicht
über die gesetzliche, private und betriebliche Alterssicherung. Auch hier herrscht nicht genügend Transparenz. Wir brauchen eine verbesserte und unabhängige
Beratung des Einzelnen. Es gibt gute Projekte wie das
PROSA-Projekt der Rentenversicherung in Baden-Württemberg, bei dem die Betreffenden in einem 90-Minuten-Gespräch über Sicherungslücken und Nachbesserungsbedarf aufgeklärt werden. Auch das wäre für uns
ein wichtiger Punkt.
({3})
Dritte Baustelle ist, zu klären, was denn mit dem Geld
eigentlich gemacht wird. Durch die Finanzmarktkrise ist
uns ja bewusst geworden, dass es im Hinblick auf alle
Finanzmarktprodukte eine wichtige Frage ist, in welcher
Form die Gelder auf den Finanzmärkten angelegt werden. Fragen Sie einmal bei Ihrer Bank nach, was mit Ihrem Geld gemacht wird. Bei meiner Bank würde ich eine
Antwort bekommen. Manche Banken werden darauf
eine Antwort geben, die meisten aber nicht. Aber auch
im Rahmen der Riester-Rente wäre es wichtig, Transparenz darüber zu schaffen, was mit dem Geld tatsächlich
passiert: Ist es sicher angelegt? Ist es nach ethischen, sozialen und ökologischen Kriterien angelegt? - Wir sind
der Meinung: Wenn der Staat viel Geld für die Förderung ausgibt, sollte er auch steuernd tätig werden. Das
heißt, ethische, ökologische und soziale Kriterien sollten
eine größere Rolle spielen, als es bisher der Fall ist. Aber
auch das Kriterium Sicherheit muss berücksichtigt werden. Zudem sollte die BaFin das Ganze kontrollieren.
Darin bin ich mir mit Herrn Middelberg einig.
Zusammenfassend kann ich drei zentrale Baustellen
feststellen: Wir brauchen eine stärkere und gezieltere
Regulierung, um zu wissen, was mit dem Geld gemacht
wird. Wir brauchen einen besseren Verbraucherschutz.
Die Menschen dürfen nicht abgezockt werden und müssen gut informiert werden. Wir müssen die Riester-Rente
so weiterentwickeln, dass sie auch Menschen mit geringem Einkommen den Lebensstandard sichert. Das sind
die Baustellen, die wir anpacken müssen.
({4})
Einen Bericht vorzulegen, reicht nicht aus. Wir müssen
wirklich etwas verändern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Bettina Kudla hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Als ich den Antrag der Linken gelesen habe
({0})
- ich zitiere einmal den Anfang: „Die Altersvorsorge
muss von den Finanzrisiken an den Geld- und Kapitalmärkten entkoppelt werden“ - dachte ich: Schön, jetzt
erfahre ich endlich, wie die Altersvorsorge sicherer gestaltet werden kann.
({1})
Aber weit gefehlt! Gar nichts war dazu in dem Antrag zu
lesen. Erkennbar war nur: Sie verkennen die Finanzierungsfunktion des Geld- und Kapitalmarkts. Und an der
Finanzmarktregulierung haben Sie offensichtlich nichts
auszusetzen. Das zeigt: Die Bundesregierung ist bei diesen Themen auf dem richtigen Weg.
({2})
Eines zeigt der Antrag aber ganz deutlich: Sie wollen
das bewährte Dreisäulenmodell der Rentenversicherung
infrage stellen. Warum ist das Dreisäulenmodell so
wichtig? Wir brauchen das Dreisäulenmodell, um die
Zukunft zu sichern. Ein Haus mit drei tragenden Säulen
ist einfach sicherer, als wenn man nur auf eine tragende
Säule baut. Die drei Säulen sind die gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge
({3})
und die private Altersvorsorge.
Ein paar Worte zur gesetzlichen Rentenversicherung.
Entscheidend ist, dass die Rente - das gilt im Grunde für
jedwede Rentenversicherung - erwirtschaftet wird. Das
hängt von der Zahl der Arbeitnehmer ab. Das macht
deutlich, wie wichtig die Rente mit 67 ist. Das Demografieproblem muss angepackt werden. Das Dreisäulenmodell ist notwendig. Es muss Ausgewogenheit zwischen Beitragssatzstabilität, angemessener Rentenhöhe
und Eigenverantwortung vorhanden sein.
Zur betrieblichen Altersvorsorge: Warum ist diese so
wichtig, und warum stellt diese eine Chance für Unternehmen dar? In Zeiten des Fachkräftemangels ist die Altersvorsorge ein gutes Instrument, Fachkräfte langfristig
an das Unternehmen zu binden. Im Hinblick auf die
Finanzmarktregulierung ist wichtig, dass keine kontraproduktiven Regelungen wie zum Beispiel Solvency II
eingeführt werden, die eventuell die betriebliche Altersvorsorge einschränken könnten.
Die dritte Säule ist die private Altersvorsorge. Diese
muss wirksam sein, und die Menschen müssen sie sich
leisten können.
({4})
Es kann unter Umständen gerade für Menschen mit einem mittleren oder niedrigen Einkommen ein Problem
sein, privat vorzusorgen.
({5})
Das war doch der Grund, warum der Staat 2002 die
Riester-Rente eingeführt hat. Der Staat gibt einen Anreiz, damit die Bürger privat für die Rente vorsorgen.
({6})
Die Vermögensbildung in der Bevölkerung ist gewollt.
Übrigens: Der Schutz des Eigentums und die Möglichkeit der Vermögensbildung sind Eckpfeiler der sozialen
Marktwirtschaft.
({7})
Der im Antrag der Linken erhobene Vorwurf, man
könne sich die Riester-Rente nicht leisten, ist einfach
nicht zutreffend. Die Riester-Rente ist gerade für mittlere und kleinere Einkommen da.
({8})
Sicherlich, Geld ist für den Bürger immer knapp. Aber
der Staat lässt sich die Riester-Rente auch einiges kosten. Rund 2,5 Milliarden Euro pro Jahr gibt der Staat den
Bürgern für den Aufbau der Riester-Rente hinzu. Für einen Haushalt mit zwei Kindern und mittlerem Einkom21944
men können dies bei einem Eigenanteil von 50 Euro immerhin 800 Euro im Jahr sein. Das ist eine ganze Menge.
({9})
Die Riester-Rente steht jedem offen, der förderberechtigt ist. Über 70 Prozent der Zulagenempfänger verfügen über ein beitragspflichtiges Einkommen von weniger als 30 000 Euro. Die Riester-Rente ist für Menschen
mit niedrigem Einkommen lohnend, da hier das Verhältnis zwischen staatlicher Zulage und Eigenleistung besonders günstig ist. Und: Die Anlageformen der RiesterRente - die Vorredner haben es zum Teil erwähnt - unterliegen besonderen Bestimmungen, damit das Geld
auch sicher ist.
Die Stärken des Dreisäulenmodells sind also: Beteiligung der Solidargemeinschaft, Beteiligung der Unternehmen, Selbstverantwortung für eigene Vorsorge und
Risikostreuung wegen mehrerer Säulen. Die Bundesregierung sorgt übrigens auch für Menschen vor, die gar
kein Einkommen haben und im Alter ein Problem mit
der Rente hätten. Der Bund hat dieses Jahr die Grundsicherung übernommen. Das bedeutet, dass ab dem
Jahr 2014 allein der Bund die deutschen Kommunen um
mehr als 10 Milliarden Euro entlastet.
({10})
Bei der rot-grünen Bundesregierung waren es gerade
einmal 409 Millionen Euro.
({11})
Noch ein paar Worte zu einigen Punkten in dem Antrag der Linken:
Sie haben das EuGH-Urteil zu den sogenannten Unisextarifen angesprochen, das heißt, dass keine Unterscheidung zwischen Mann und Frau gemacht werden
darf und man auch nicht mehr auf die unterschiedlichen
Verhaltensweisen, beispielsweise das Fahrverhalten der
Männer, eingehen darf. Ich erwarte von der Versicherungswirtschaft, dass man einigermaßen ausgewogene
neue Verträge anbietet, die, wenn notwendig, Erhöhungen, aber natürlich auch Beitragssenkungen vorsehen.
Die Linke schlägt vor, die Beitragshöhe zur Rentenversicherung zu steigern. Was ist denn das für eine Sozialpolitik? Das trifft doch gerade die Menschen mit geringem Einkommen besonders stark.
({12})
Eine Verschiebung innerhalb der drei Säulen in Richtung
der betrieblichen Altersvorsorge oder der gesetzlichen
Rentenversicherung bedeutet Belastungen für die Wirtschaft und für die öffentlichen Haushalte.
({13})
Nicht vergessen werden darf, dass der Bundeszuschuss
an die Rentenversicherung in Höhe von 80 Milliarden
Euro der größte Posten im Bundeshaushalt ist.
({14})
Daher ist die private Altersvorsorge - sprich: RiesterRente - eine wichtige Säule.
Der Antrag der Linken
({15})
dient nicht den Menschen. Er ist wirtschaftlich nicht
zielführend
Frau Kollegin.
- und daher abzulehnen.
Danke schön.
({0})
Die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren Zuhörer! Wir haben gehört: Es gab eine Vorgeschichte der
Riester-Rente, die man immer vor Augen haben muss.
Man kann die Riester-Rente nicht nur danach beurteilen,
wie sie heute ist, sondern man muss auch überlegen, warum sie überhaupt eingeführt wurde.
Wir haben in den Jahren 2001/2002 nicht nur eine
zweite, sondern auch eine dritte Säule für notwendig gehalten. Neben der gesetzlichen Rentenversicherung und
der betrieblichen Altersvorsorge - für viele, aber längst
nicht für alle - wollten wir eine dritte Säule aufbauen.
Man muss das im zeitlichen Zusammenhang sehen. Die
meisten von uns haben damals auch daran geglaubt, dass
es sinnvoll ist, eine kapitalgedeckte dritte Säule aufzubauen, weil die Anlagevoraussetzungen eigentlich positiv erschienen.
({0})
Wir haben die Situation, dass wir die Riester-Rente
leider - ich bedaure das - nicht verpflichtend für alle gemacht haben, die sie gebraucht hätten oder noch brauchen werden. Wir alle hatten ein bisschen Angst vor
Zwangs-Riester oder Riester-Pflicht und haben gedacht:
Diejenigen, die sie brauchen, werden sie schon annehmen, weil sie attraktiv ist. - Das ist, wie wir gehört
haben, leider noch nicht einmal bei der Hälfte der Berechtigten passiert. Das ist bedauerlich. Man sollte ernsthaft darüber nachdenken, ob man hier etwas ändert.
({1})
In den letzten Jahren wurde die Riester-Rente schon
ein wenig attraktiver gestaltet. Die Kinderzulage wurde
angehoben. Es gab einen Berufseinsteigerbonus. Der
förderfähige Personenkreis wurde auf Erwerbsgeminderte und Geringverdiener erweitert. Trotzdem ist das
alles nicht ausreichend. Das will ich gern zugeben.
({2})
Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man die RiesterRente ad hoc verbessern könnte. Ich komme gleich noch
auf zusätzliche Dinge zu sprechen.
Erstens. Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die
Zulagen dynamisieren. Das heißt, der Inflationsausgleich sollte bei der Zulagenhöhe berücksichtigt werden.
Wir brauchen zweitens natürlich eine Regelung für
Menschen, die am Ende ihres Lebens in der Grundsicherung sind. Ich denke, wir alle finden es nicht gerecht,
dass Menschen, die privat Geld zurückgelegt und eine
Riester-Rente angespart haben, dann, wenn sie keine
auskömmliche Rente haben und in der Grundsicherung
sind, überhaupt nichts von diesen zusätzlich angesparten
Mitteln bekommen.
Es gibt natürlich einen Bruch mit einigen systemischen Voraussetzungen, die wir als Grundlage unserer
Ordnungspolitik heranziehen, aber wir haben diese Brüche auch in anderen Bereichen akzeptiert. Ich erinnere
daran, dass wir auch Hartz-IV-Empfängern eine Kindergelderhöhung haben zukommen lassen. Da haben wir
gesagt, Kindergeld ist nicht nur ein Ausgleich für irgendwelche sachlichen Dinge, sondern es beinhaltet auch
Betreuungsleistungen, die Hartz-IV-Empfänger auch erbringen. Hier müsste es genauso sein: Meiner Meinung
nach müssten Personen, die privat vorgesorgt haben,
mehr als die Grundsicherung erhalten.
({3})
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn
Strengmann-Kuhn zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, ich finde es richtig, zu sagen: Wer geriestert hat, der soll vom Ersparten auch etwas behalten
können und nicht unbedingt gleich in die Grundsicherung fallen. Aber müsste das nicht gleichzeitig auch für
die gesetzliche Rentenversicherung gelten? Auch hierbei
handelt es sich ja um eine Eigenvorsorge: Man zahlt selber Beiträge ein. Müsste es nicht eine Gleichbehandlung
von Riester-Rente und gesetzlicher Rente geben? Ich
denke an den von der Bundesministerin vorgelegten Entwurf einer Zuschussrente. Danach wird die gesetzliche
Rente voll angerechnet, und die Riester-Rente soll hinzukommen. Ist das nicht eine ungerechtfertigte Behandlung der eigentlich notwendigen Umlageversicherung?
Wir haben das Problem, dass wir bei der Rentenversicherung mit zunehmenden Kosten rechnen müssen. Die
demografische Entwicklung geht nämlich dahin, dass
wir immer weniger Beitragszahler und immer mehr
Rentenbezieher haben werden. Wir müssen natürlich
schauen, dass das Gesamtsystem finanzierbar bleibt. Das
heißt, dass wir die aktuellen Steuerzahler nicht über das
Maß belasten. Wir haben nämlich zu wenig Beitragszahler, die uns solche Zugaben zur Grundsicherung finanzieren können. Wir müssen also genau abwägen, was wir
machen und was wir nicht machen.
Der Punkt hier ist: Es gibt Menschen, die zusätzlich
zu ihren Rentenbeiträgen - sie werden von den Arbeitnehmern ja nicht infrage gestellt - Geld ansparen und
davon im Alter überhaupt nichts haben. Inzwischen
empfehlen Verbände: Wer Teilzeit arbeitet, sollte nicht
riestern. Auch das ist aber eine falsche Empfehlung, weil
man nicht weiß, ob man sein Leben lang Teilzeit arbeitet. Man weiß nicht, in welche Lebenssituationen man
kommt. Man fällt aber die Entscheidung, für eine Zusatzrente zu sparen, relativ früh; jedenfalls wäre das
wünschenswert. Man sollte eigentlich schon als Auszubildender anfangen, zu riestern. Man hat also keine
Ahnung, in welche Lebenssituation man kommt. Das
heißt, wenn man in die Situation kommt, dass man vermindert arbeitet, weswegen man später Rente in einer
Höhe bekommt, die unter der Grundsicherung liegt,
dann sollte einem das, was zusätzlich angelegt worden
ist, in irgendeiner Form als Bonus zugutekommen. Das
hat nichts damit zu tun, dass ein Arbeitnehmer vorher
seine normalen Rentenzahlungen geleistet hat.
({0})
Jetzt möchte ich zum Antrag der Linken kommen.
Dieser Antrag hat den Titel „Risiken der Riester-Rente
offenlegen - Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln“. Durch diesen Antrag sind wir Finanzer darauf gekommen, dass wir hier reden sollten. Wenn Sie sagen,
Sie hätten das Ganze lieber bei Arbeit und Soziales angesiedelt, dann hätten Sie, denke ich, einen anderen Titel
für Ihren Antrag wählen müssen. Aber dieser Titel hat
mich schon angesprochen. Ich glaube, es ist richtig, dass
hier Finanzer reden.
Zum Antrag selber: Ich will mit dem Positiven beginnen. Positiv an diesem Antrag ist, dass Sie mehr Berichte wollen. Das möchten wir, glaube ich, alle. Es gibt
Berichte; aber die meisten von uns halten sie für unzureichend. Ob man in den bestehenden Berichten auch die
gewünschte zusätzliche Information unterbringen kann,
weiß ich nicht; das müsste man sich genauer anschauen.
Ich denke, ein Zusatzbericht ist nicht falsch, um das
Ganze plakativer zu machen und so noch mehr zu verdeutlichen.
Ihr Antrag benennt einige Probleme, die wir haben:
Die Grundsicherung - ich habe schon darauf hingewiesen - ist eines dieser Probleme. Ein weiteres Problem
sind Mitnahmeeffekte. Mitnahmeeffekte haben wir bei
vielen Gesetzen. Sie auszuschließen, halte ich für
schwierig. Ich hätte gerne von Ihnen konkretere Auskünfte darüber, wie man solche Effekte verhindern kann.
Hohe Verwaltungskosten sind ein Ärgernis; das ist absolut richtig. Ich glaube nicht, dass das so bleiben muss.
Man kann das Ziel sicher auch anders erreichen. Dass
die Sparer ein hohes Alter erreichen müssen, um in den
Genuss zu kommen, all das zurückzubekommen, was sie
eingezahlt haben, ist ein Problem, das sich, wie ich
glaube, von selbst erledigt, denn der gesundheitliche
Fortschritt wird uns helfen; es gibt ja immer mehr
Ältere.
Negativ an Ihrem Antrag sind ein paar grundsätzliche
Aussagen. Sie sagen: Die Finanzkrise hat dazu geführt,
dass diese Anlageform nicht mehr richtig trägt. - Das ist
richtig. Aber die Riester-Anlagen - 750 Milliarden Euro haben sicher nicht die Finanzkrise ausgelöst. Ich glaube,
dass diese Anlageform nicht dazu beigetragen hat, dass
irgendwelche Banken in Schwierigkeiten geraten sind.
Ansonsten ist es ja so, dass vor allem meine Partei im
Moment versucht, durch Finanzmarktregulierungsvorschläge in das System etwas mehr Verlässlichkeit hineinzubekommen. Aber ich denke, dass das kein grundsätzliches Problem der Riester-Rente ist.
Die Rückkehr zum alten Rentenversicherungssystem
halte ich für problematisch; denn wir haben - ich habe es
schon gesagt - insbesondere ein demografisches Problem. Es gibt zu wenige Nachkommen, um die vielen
Rentner zu finanzieren. Das heißt, wir brauchen weitere
Finanzierungsformen; ansonsten hätten wir eine hohe
Belastung entweder der Beitragszahler oder der Arbeitgeber, oder, wenn wir keine höheren Beiträge wollten,
müssten wir die Renten kürzen. Wenn wir mehr Steuerfinanzierung wollen, müssen wir das auch in irgendeiner
Form auf die Menschen umlegen. Ich denke, wir sind im
Moment aber schon an der Grenze der Belastbarkeit der
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in diesem Bereich
angekommen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Birkwald
zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben gerade gesagt, die RiesterRente sei aus demografischen Gründen notwendig. Sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es Modellrechnungen der Deutschen Rentenversicherung gibt, wonach
wir beispielsweise auf die Rente erst mit 67 komplett
verzichten könnten, wenn der Beitragssatz um einen halben Prozentpunkt angehoben wird? Das würde bedeuten,
dass Beschäftigte in heutigen Werten durchschnittlich
6,76 Euro im Monat mehr zahlen müssten.
({0})
Sind Sie außerdem bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass mit Riester die Belastungen für die Altersvorsorge
ausschließlich bei den Beschäftigten abgeladen werden?
Denn die Beschäftigten sollen ja die Hälfte der gedeckelten Beiträge von 20 Prozent, später von 22 Prozent zahlen, sollen dann 4 Prozent ihres Einkommens für eine
Riester-Vorsorge und dann im Idealfall auch noch 3 Prozent für eine betriebliche Altersvorsorge ausgeben, die
im Osten bisher übrigens nur in 35 Prozent der Betriebe
existiert. Es wird also davon ausgegangen, dass die Beschäftigen bis zu 17 Prozent an Beiträgen zahlen.
Das entspräche im Umlageverfahren einem Beitragssatz von 34 Prozent, aber es wird gesagt: Die Arbeitgeber dürfen nicht mehr bezahlen. Das ist also der eigentliche Grund, warum Riester eingeführt wurde. Es geht
darum, den hälftigen Anteil der Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber an jedem Beitragssatzpunkt - das sind jeweils 11 Milliarden Euro - zu sparen. Was sagen Sie
denn dazu?
Grundsätzlich ist es so, dass die kompletten Beiträge
von den Arbeitnehmern erwirtschaftet werden. Es wird
immer so getan, als erwirtschafte der Arbeitnehmer den
Arbeitnehmerbeitrag und der Arbeitgeber den Arbeitgeberbeitrag. Das ist aber Quatsch. Der Arbeitnehmer erbringt eine Arbeitsleistung und erwirtschaftet im Prinzip
beide Anteile.
({0})
Eigentlich wäre es gerecht, wenn man dem Arbeitnehmer alles, was er erwirtschaftet, einfach auf dem Lohnzettel ausweisen würde. Dann bräuchten wir auch nicht
diese Teilung.
Sie sagen nun, der Arbeitgeberbeitrag solle erhöht
werden. Der fällt aber nicht vom Himmel, sondern muss
erwirtschaftet werden.
({1})
Da können Sie natürlich sagen - vielleicht passt das in
Ihre Ideologie -: Der Arbeitgeberbeitrag schmälert den
Gewinn des Arbeitgebers.
({2})
Vielleicht ist das so. Aber vielleicht - das kann ich entgegnen - bringt das dann die Wettbewerbsfähigkeit zum
Erliegen. Das wäre auch ein Argument. Wir können jedoch nicht ausprobieren, welches Argument stimmt. Wir
können nicht einfach ausprobieren, wie die Betriebe,
wenn wir den Arbeitgeberbeitrag erhöhen, im Wettbewerb dastehen.
Wir hatten den Eindruck, dass die Arbeitgeber ausreichend belastet sind. Die Arbeitnehmer auch. Aber diejenigen, die noch etwas erübrigen können und sollten,
werden mit großzügiger Förderung, vor allen Dingen
wenn sie einen niedrigen Lohn beziehen und Familie
haben, steuerlich gefördert.
({3})
Das war der Ansatz von Riester.
Und zu der anderen Rechnung: Es hört sich immer
ganz toll an, wenn man sagt, wir müssten den Beitragssatz nur um 0,5 Prozentpunkte erhöhen und bräuchten
dann die Rente mit 67 nicht.
({4})
Aber das Problem verschärft sich doch. Das Problem,
dass wir weniger Beitragszahler haben, verschärft sich
mit jedem weiteren Jahr. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge, zu denen ich gehöre, ins Rentenalter kommen,
dann ist oben im Rentenbezieherbereich eine große
Blase entstanden, während unten so gut wie nichts mehr
nachkommt. Wenn wir dieses Problem langfristig lösen
wollen, kommen wir nicht umhin, das Renteneintrittsalter zu erhöhen und auf 67 Jahre zu gehen.
({5})
Die Riester-Rente ist - ich habe es eben schon gesagt verteilungspolitisch korrekt, weil gerade die niedrigen
Einkommen maximal gefördert werden. Außerdem gibt
es eine hohe Förderung pro Kind. Man muss den Leuten
immer wieder sagen, dass es sinnvoll ist, mit einer
Riester-Rente vorzusorgen. Die Auszahlungen aus
Riester-Verträgen sind sozialabgabenfrei - es fallen
keine Krankenversicherungs- und keine Pflegeversicherungsbeiträge an - und bei Hartz IV anrechnungsfrei.
Auch das, finde ich, ist sehr wichtig.
Wir haben eine zusätzliche Sicherheit durch die
Riester-Säule. Wir alle wissen nicht, ob wir uns die
Grundsicherung in 20 Jahren noch leisten können. Wir
gehen immer davon aus: Alle Rentner sind in Zukunft
erst einmal grundsicherungsmäßig versorgt. - Aber wer
weiß, wie in 20 Jahren die Finanzkraft des Staates aussieht? Keiner weiß das!
({6})
Die kapitalgedeckte Anlageform gibt uns eine zusätzliche Sicherheit, wenn vernünftig angelegt wird.
Noch ein Wort zur Rendite. Natürlich ist die RiesterRente nicht renditestark oder renditemächtig. Aber keiner von uns will doch, dass man in irgendwelchen kritischen Anlageprodukten riestert. Deswegen, denke ich,
ist das so sinnvoll.
Frau Kollegin.
Ein Satz noch. - Ich finde es auch sinnvoll, wenn wir
das im Finanzausschuss weiter debattieren. Ich bin sicher: Wir haben eine gute Basis. Wir könnten zu einer
Einigung kommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Bei Ihrem Antrag versuchen Sie sich in
Schwarz-Weiß-Malerei.
({0})
Sie haben sich ein Gut-Böse-Schema zurechtgelegt, in
das Sie dann verfallen sind.
Gut sind laut Antrag ein staatliches Rentensystem,
eine staatliche Fürsorge und eine Umlagefinanzierung;
schlecht ist alles, was irgendwie mit dem Kapitalmarkt
zu tun haben könnte.
({1})
Aber - ich denke, das hat die Debatte jetzt ergeben - das
Leben ist eben nicht ganz so einfach.
({2})
Es ist grau; es ist nicht digital und lässt sich nicht in entsprechende Schemata pressen. Wer, sehr geehrter Antragsteller, soll denn beispielsweise die Staaten und
Kommunen finanzieren? Sie sägen im Prinzip den Ast
ab, auf dem Sie mit Ihrer Politik sitzen, wenn Sie das,
was im Antrag steht, konsequent zu Ende denken. Wenn
man sich das genau überlegt, ist das möglicherweise gar
keine schlechte Alternative. Aber, ich glaube, es wäre
insgesamt nicht gut für unser Land.
Wer, meine sehr geehrten Damen und Herren, soll
denn in Unternehmen investieren und am Ende Arbeitsplätze schaffen und sichern? Da ist es doch gut, dass wir
die Kapitalsammelstellen auch und gerade der privaten
Altersvorsorge haben.
Man muss sich natürlich auch die Frage stellen: Wie
legt denn die gesetzliche Rentenversicherung ihre Mittel
an? Die hat keinen Geldspeicher irgendwo in Entenhausen, sondern die geht logischerweise auch an den Kapitalmarkt. Die Mittel sind demzufolge ebenfalls gewissen
Risiken ausgesetzt, wenngleich dort natürlich besonders
sicher angelegt wird.
Am Ende des Tages hat natürlich jedes umlagefinanzierte System - auch das klang schon an - das Risiko der
Demografie und natürlich auch das Risiko der konjunkturellen Entwicklung.
Man muss das Risiko für einen Anlagezeitraum von
30 Jahren betrachten. Schauen Sie sich einmal an, wie
sich die Finanzmärkte da entwickelt haben! Denken Sie
einmal 30 Jahre weiter! Dann werden Sie bei einer
Rückschau - ich bin bereit, heute darauf zu wetten - die
Finanzkrise der Jahre 2008 ff. in einer insgesamt nach
oben weisenden Kurve als kleine Delle sehen.
Sie sagen: Die Riester-Rente lohnt sich nicht. - Das
kann sein, kann aber auch nicht sein. Das kommt eben
darauf an, und zwar auf die individuelle Situation desjenigen, der sich mit dem Gedanken trägt, eine RiesterVersicherung abzuschließen. Menschen sind eben unterschiedlich. Die Bedürfnisse der Menschen sind unterschiedlich. Allglückseligmachende Lösungen gibt es nur
für den sozialistischen Einheitsmenschen, und auch der,
meine sehr geehrten Damen und Herren, hat sich gegen
Sie aufgelehnt.
Die Sparbeiträge und Zulagen sind garantiert. Garantien kosten immer, und demzufolge ist die Rendite bei
einem Riester-Vertrag nicht ganz so hoch. Aber am Ende
der Laufzeit bleibt auf jeden Fall nominell mehr übrig,
als eingezahlt worden ist; denn mindestens die Beiträge
und die Zulagen müssen ausgezahlt werden. Wenn wir
uns darüber unterhalten, wie unter dem Aspekt der Demografie möglicherweise eine Rendite in einem umlagefinanzierten System aussieht, dann müssen wir uns fragen, ob sie am Ende so gut ist.
Klar ist: Wir müssen uns über die Probleme der
Riester-Versicherung unterhalten. Kollege Middelberg
hat das angesprochen. Die Koalition wird das tun. Wir
brauchen keine Berichte, die in der Vergangenheit
schwelgen. Sie hingegen wollen Zahlen von heute vergleichen mit einem Rentenversicherungssystem aus der
Zeit vor dem Jahr 2000. Eines sage ich Ihnen: Die Welt
der Jahre vor 2000 werden Sie nicht zurückbekommen,
genauso wenig wie Sie die Welt vor dem Jahr 1989 zurückbekommen werden, auch wenn Sie sich das möglicherweise erhoffen.
({3})
Demzufolge ist dieser Antrag nichts anderes als Klamauk.
Herzlichen Dank.
({4})
Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Auf den ersten Blick geht es bei diesem Antrag
um Riester. Wenn man den Duktus des Antrags zugrunde
legt, Herr Birkwald, dann geht es nicht um Riester, sondern gegen die private Altersvorsorge, und zwar deswegen, weil die private Altersvorsorge nicht in Ihr Weltbild
passt.
({0})
Aus gutem Grund haben wir die Altersvorsorge für
Arbeitnehmer auf drei Säulen aufgebaut. Die erste Säule
ist das umlagefinanzierte gesetzliche Rentensystem. Die
zweite Säule ist die betriebliche Altersvorsorge, und die
dritte Säule ist die private Altersvorsorge.
Sie machen mit Ihrem Antrag Folgendes: Erstens. Sie
jubeln die gesetzliche Rentenversicherung in Höhen, die
sie nicht verdient hat, und ignorieren sämtliche Risiken.
Zweitens. Sie ignorieren die betriebliche Altersvorsorge.
Drittens. Sie versuchen, die private Vorsorge systematisch zu diskreditieren.
({1})
Lassen wir einmal die Fakten zur umlagefinanzierten
gesetzlichen Rentenversicherung sprechen. Wie sieht die
Situation heute aus? Die gesetzliche Rentenversicherung
ist gar nicht umlagefinanziert. Jedes Jahr geben wir dem
Rentenversicherungssystem 80 Milliarden Euro Zuschuss aus unserem Bundeshaushalt. Das sind mehr als
25 Prozent des gesamten Bundeshaushaltes. Sie reden
aber davon, dass die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung funktioniert. Das ist reiner Blödsinn,
Herr Birkwald.
({2})
Heute ist die gesetzliche Rentenversicherung in einem Stadium, dass sie nur noch durch Steuerzuschüsse
funktioniert. Sehen Sie sich die heutige demografische
Situation an. Wir haben heute 20 Millionen Rentner und
30 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte.
Alle, die in diesem Hause sitzen, wissen, wie die Situation in 20 oder 30 Jahren aussehen wird. Dann wird das
System erst recht nicht mehr funktionieren. Dann werden aus den 80 Milliarden Euro Zuschuss - das ist ein
Dreisatz, den jeder durchführen kann - noch wesentlich
höhere Summen werden. Das haben wir hier und heute
zu verantworten.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Die gesetzliche
Rentenversicherung ist - finanziert aus Arbeitgeber- und
Arbeitnehmerbeiträgen und aus Steuereinnahmen höchst konjunkturanfällig.
({3})
Haben wir mehr Arbeitslose, so haben wir weniger Einnahmen durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Haben
wir eine konjunkturelle Delle, so sind wir in der Situation, dass wir Schwierigkeiten haben, den steuerlichen
Zuschuss aufzubringen. Auch das ist eine Schwäche der
gesetzlichen Rentenversicherung, die im Übrigen in dem
Mix aus den drei von mir genannten Säulen durchaus gut
ist.
Kommen wir zur zweiten Säule, zur betrieblichen Altersvorsorge. Sie unterschlagen sie in Ihrem Antrag.
({4})
Wir hingegen setzen uns auf Brüsseler Ebene massiv dafür ein, dass genau diese Säule gestärkt wird. Wir würden uns über Ihre Unterstützung freuen.
Kommen wir zur dritten Säule, zur privaten Vorsorge.
Als Erstes kritisieren Sie, dass diese Art der Vorsorge
von Versicherungen, also von gewerblichen Unternehmen, abgewickelt wird, die damit Geld verdienen wollen. Es ist natürlich ganz schrecklich, Herr Birkwald,
wenn man mit irgendetwas Geld verdienen will. Ich
frage mich nur: Warum essen Sie eigentlich Brötchen
von jemandem, der damit Geld verdienen will? Warum
lassen Sie Ihr Auto von jemandem reparieren, der damit
Geld verdienen will? Warum steigen Sie in Flugzeuge
von Fluggesellschaften, die damit Geld verdienen wollen? Das, was Sie hier vortragen, ist in höchstem Maße
inkonsequent und verbohrt.
({5})
Ein weiterer Punkt. Sie weisen zu Recht darauf hin,
dass eine kapitalgedeckte Vorsorge mit Risiken des Kapitalmarktes verbunden ist. Ich ergänze dies noch: mit
Risiken des Anbieters. Sie können nämlich an einen
schlechten Anbieter geraten. Falsch ist, dass Sie sagen:
Dieses System ist risikobehaftet, und die gesetzliche umlagefinanzierte Rentenversicherung ist total sicher.
({6})
Das ist zu kurz gegriffen. Richtig wäre es, die Menschen
über die Risiken der kapitalgedeckten Altersvorsorge,
aber auch über die Risiken der gesetzlichen Rentenversicherung zu informieren. Das machen Sie in Ihrem Antrag nicht.
Im Übrigen weisen Sie in Ihrem Antrag auch nicht
darauf hin, was diese Koalition und diese Bundesregierung in den letzten Monaten und Jahren dafür getan hat,
um die private kapitalgedeckte Altersvorsorge sicherer
und besser zu machen. Ich nenne hier nur das Anlegerschutzgesetz aus dem Bereich des Verbraucherschutzes.
All die Maßnahmen, die die Solvenz und die Eigenkapitalquote von Finanzinstitutionen, die genau diese Vorsorge anbieten, erhöhen, unterschlagen Sie in Ihrem Antrag.
({7})
Zusammenfassend kritisiere ich an Ihrem Antrag
nicht das Kommunistengeschwätz, dass es schlecht ist,
Gewinne zu machen. Das sind Sie Ihren Wählern schuldig,
({8})
und das sind Sie vielleicht auch Ihrem Selbstverständnis
schuldig. Ich kritisiere an Ihrem Antrag auch nicht, dass
Sie auf die Risiken einer kapitalgedeckten Altersvorsorge hinweisen. Das ist in Ordnung. Ebenso wenig kritisiere ich - das ist auch von meinen Vorrednern schon
gesagt worden -, dass Sie auf die Risiken von Riester
hinweisen. Ich kritisiere jedoch, dass Sie die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung gegenüber der
privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge als das allein
selig machende Instrument hinstellen.
({9})
Ich habe mir lange überlegt, was denn dahintersteckt.
Ist es Dummheit? Nein, das wird es nicht sein.
({10})
Ist es blanker Populismus, um auf Wählerstimmenfang
zu gehen? Nein, das wird es wahrscheinlich auch nicht
sein. Vielmehr ist es Ihre Ideologie. Die Ideologie der
Linken besagt, dass alles Private schlecht ist und dass
nur der Staat in der Lage ist, zu entscheiden, wie man
Altersvorsorge betreibt und was gut und schlecht für den
Bürger ist. Das ist Ihr Menschenbild. Das unterscheidet
uns von Ihnen. Sie müssen sich entscheiden, auf welcher
Seite Sie stehen möchten.
({11})
Mein allerletzter Punkt in dieser Rede: Für Ihren Antrag bin ich Ihnen eigentlich sogar dankbar. Ich bin Ihnen deswegen dankbar, weil ich glaube, dass wir nicht
nur über die kapitalgedeckte Altersvorsorge reden sollten, sondern ganz dringend auch über unsere gesetzlichen Sozialversicherungssysteme, und zwar sowohl über
die Rentenversicherung als auch über die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung. Wenn man seriösen
Berechnungen trauen kann, dann ist die Deckungslücke
in diesen Systemen mindestens ebenso hoch wie unsere
explizite Staatsverschuldung. Das heißt, wir schieben
Billionenbeträge vor uns her, über die kein Mensch redet. Das sollte für uns Anlass genug sein, die Reform in
diesem System weiter voranzutreiben.
Diese Bundesregierung und die Vorgängerregierung
haben eine Menge getan, aber leider noch nicht genug,
um die Rentenversicherung zu reformieren. Bei der
Krankenversicherung fahren wir momentan mit Anlauf
gegen die Wand. Die Pflegeversicherung ist wahrscheinlich schon an die Wand gefahren. Deswegen kann ich Sie
alle nur bitten und auffordern, sich dieses Themas ernsthaft anzunehmen. Insofern war Ihr heutiger Antrag vielleicht gar nicht so sinnlos.
Danke schön.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9194 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Die Feder-
führung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU
und FDP möchten Federführung beim Finanzausschuss.
Die Fraktion Die Linke wiederum wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer ist dafür? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Überweisungsvorschlag mit dieser Federführung abge-
lehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion
und Bündnis 90/Die Grünen. Die anderen Fraktionen ha-
ben dagegen gestimmt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Feder-
führung beim Finanzausschuss. Wer stimmt dafür? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Federfüh-
rung beim Finanzausschuss ist angenommen bei Zustim-
mung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Bündnis 90/Die
Grünen und Linke waren dagegen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung eines Nachtrags zum
Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr
2012 ({0})
- Drucksachen 17/9040, 17/9649 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
- Drucksachen 17/9650, 17/9651 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({2})
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sven-Christian
Kindler, Priska Hinz ({5}), Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energiewende und Klimaschutz solide finanzieren - Nachtragshaushalt nutzen
- Drucksachen 17/8919, 17/9911 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({6})
Dr. Gesine Lötzsch
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, über
den wir später namentlich abstimmen werden, liegen ein
Änderungsantrag der Fraktion Die Linke sowie je ein
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, eine
Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Stefanie Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion.
({7})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Heute haben wir wieder einmal einen Tag, an dem die europäische Staatsschuldenkrise absolut im Mittelpunkt unserer Debatte
und unserer politischen Arbeit steht.
Heute Morgen haben wir uns in der Debatte zur Regierungserklärung unserer Bundeskanzlerin zur Vorbereitung des G-20-Gipfels mit den Diskussionspunkten
auseinandergesetzt, die sie am Montag und Dienstag in
Mexiko erwarten werden. Da geht es um Jugendarbeitslosigkeit, um die Liberalisierung des Handels. Im Mittelpunkt werden auch dort wieder die Staatsschuldenkrise
in Europa und das Vertrauen stehen, das die G 20 und
die ganze Welt in die Bundesrepublik Deutschland als
Anker für Stabilität und als Wachstumsmotor in der Europäischen Union mit ganz starker weltweiter Bedeutung
setzen.
Wir haben uns heute Morgen intensiv mit den unterschiedlichen Positionierungen auseinandergesetzt. Wir
haben Herrn Steinmeier gehört, der immer wieder davon
gesprochen hat, dass die Bundesregierung an diesem
oder jenem Rand rote Linien überschreite. Ich kann bezogen auf die zwei Jahre, in denen wir hier über die europäische Staatsschuldenkrise reden, nur feststellen, dass
die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin ganz klar
einen roten Faden haben, den sie vom Anfang bis zum
Ende, Schritt für Schritt, Stück für Stück verfolgen.
({0})
In ihrer Regierungserklärung Anfang des Jahres 2010,
als wir uns das erste Mal intensiv mit den Herausforderungen aufgrund der griechischen Krise und der Staatsschuldenkrise in Europa beschäftigt haben, hat unsere
Bundeskanzlerin deutlich gemacht, dass wir vorübergehende Rettungsmechanismen brauchen - vorübergehende Schritte, um schnell handeln zu können -, dass wir
aber auch einen auf Dauer angelegten Rettungsmechanismus oder Schutzmechanismus zum Eingreifen innerhalb
der Europäischen Union brauchen. An diesem dauerhaften Rettungsmechanismus ist jetzt zwei Jahre lange gearbeitet worden. Am 2. Februar dieses Jahres haben die
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die
Errichtung des Rettungsschirms beschlossen. Anfang
März haben sie dann deutlich gemacht, dass sie diesen
Rettungsschirm sogar ein Jahr eher dauerhaft in Kraft treten lassen wollen.
Heute haben wir den Nachtragshaushalt auf der Tagesordnung. Dieser Nachtragshaushalt dient einzig und
allein dem Ziel, die haushaltsmäßigen Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass Deutschland auch in der Frage
der Finanzierung des Europäischen Stabilitätsmechanismus das Vertrauen, das unserem Land entgegengebracht
wird, rechtfertigen kann. Damit zeigen wir ganz klar:
Das, was wir zusagen, halten wir ein; das, was wir zusagen, machen wir auch.
({1})
Wir haben die haushaltsmäßigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir den Europäischen Stabilitätsmechanismus, den wir in Europa brauchen, in fünf jährlichen Tranchen mit liquiden Mitteln bedienen können;
von den 80 Milliarden Euro an liquiden Mitteln entfallen
21,7 Milliarden Euro auf die Bundesrepublik Deutschland. Dafür stellen wir jetzt im Nachtragshaushalt
8,7 Milliarden Euro bereit, damit wir die Bedienung des
ESM sofort über unseren Haushalt leisten können, wenn
die Regelungen zum ESM und zum Fiskalpakt in der
nächsten Plenarwoche, so hoffe ich, von uns hier im Parlament ratifiziert worden sind. Ich finde, mit diesem
Nachtragshaushalt im Rücken hat die Bundeskanzlerin
am Montag und Dienstag in Mexiko eine noch stärkere,
eine noch bessere Position, und das ist gut so.
({2})
Meine Damen und Herren, gegenüber dem Regierungsentwurf, den wir im Haushaltsausschuss in Ihrer aller Namen intensiv beraten haben, haben wir die Nettoneuverschuldung, die wegen der Zurverfügungstellung
dieser Mittel notwendig wird, noch einmal gesenkt. Wir
haben aktuelle Steuermehreinnahmen und Steuermindereinnahmen sowie Mehrausgaben und Minderausgaben
miteinander verrechnet. Das führt zu einer Reduzierung
der Nettokreditaufnahme, wie sie im Regierungsentwurf
vorgesehen ist. Damit hat der Haushaltsausschuss einen
positiven Beitrag dazu geleistet, dass wir die Schuldensituation unseres Landes verbessern.
({3})
Wir haben die Ausgaben im Bundeshaushalt erhöht
und liegen jetzt bei Ausgaben in Höhe von 312 Milliarden Euro. Das ist ein riesiger Batzen. Aber wir werden
aller Voraussicht nach nicht erst 2016, sondern schon im
Jahre 2014 die zwingenden Bedingungen der Schuldenregel, die wir in die Verfassung geschrieben haben, einhalten können. Wir setzen mit dem Nachtragshaushalt
das richtige Signal in Richtung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union. Das ist ein gewisses
Maß an Stärke, die die Bundesregierung zum G-20-Treffen nach Mexiko mitnehmen kann.
Im Zuge der Verhandlungen zum Nachtragshaushalt
haben wir uns mit den Argumenten der Opposition auseinandersetzen müssen. Vom Anfang bis zum Ende hieß
es, wir hätten nicht genug gespart, die Sparanstrengungen seien nicht rigide genug, wir müssten mehr Kürzungen vornehmen, in diesem oder jenem Bereich müssten
wir Ausgaben reduzieren. Nun haben wir heute Morgen
hier sozusagen auf offener Bühne von Herrn Steinmeier
gehört, dass wir uns nicht nur mit Sparen, sondern auch
mit Wachstumsdynamiken beschäftigen müssen.
Hier komme ich wieder auf die rote Linie unserer
Bundeskanzlerin zurück. Schon bei der ersten Regierungserklärung zur Griechenlandproblematik im Jahr
2010 ist deutlich geworden, dass wir alle Anstrengungen
unternehmen müssen, um in den strukturschwachen
Ländern der Europäischen Union alle potenziellen
Wachstumskräfte freizusetzen, damit Wohlstand für alle
Menschen in Europa Wirklichkeit werden kann. Zum damaligen Zeitpunkt kam von der Seite der Opposition der
Vorwurf: Ihr könnt euch doch nicht immer nur mit dem
Bruttoinlandsprodukt und mit Wachstum beschäftigen.
Glücklich sein, das ist doch mehr als nur Wachstum. Wir
brauchen eine moderne Politik, in der wir viele andere
zusätzliche Aspekte berücksichtigen müssen. - Später
rückte der Begriff Wachstumserfordernis in den Hintergrund, und wir wurden geradezu verdeibelt, das Bruttoinlandsprodukt, das ein wesentlicher Indikator für die
soziale Sicherung in unserem Lande ist, hintanzustellen.
({4})
Heute hingegen wird von der SPD - von Herrn
Steinmeier und allen, die heute Morgen geredet haben deutlich anerkannt:
({5})
Um soziale Sicherung und gesundheitliche Versorgung
garantieren zu können - wir haben gestern über das marode griechische Gesundheitssystem debattiert -, brauchen wir ein hohes Bruttoinlandsprodukt in den Ländern
der Europäischen Union, und dafür brauchen wir Wachstum.
Sowohl der heute zu verabschiedende Nachtragshaushalt als auch der Haushaltsentwurf, den wir ursprünglich
aufgestellt hatten, sind ein klares Zeichen dafür, dass wir
verstanden haben, dass wir in der Bundesrepublik
Deutschland beide Seiten der Medaille im Blick behalten
müssen: Wir müssen auf der einen Seite Wachstumsimpulse an unterschiedlichsten Stellen setzen und auf der
anderen Seite die Haushaltskonsolidierung - also nicht
länger Wirtschaften auf Pump - mit Blick auf die Kosten, die die künftigen Generationen zu tragen haben, im
Blick behalten.
Wir haben kleine Sondermaßnahmen vorgesehen. Wir
haben es anders gemacht als die SPD, die früher von Anfang an geschönte Zahlen vorgelegt hat und dann billigend in Kauf genommen hat, dass man durch einen
Nachtragshaushalt nachjustieren muss. Wir haben konservativ ermittelte Zahlen zugrunde gelegt, wodurch
man die eine oder andere Schwerpunktsetzung noch
vollziehen kann.
Frau Kollegin.
Ich möchte noch einen kleinen Gedanken formulieren, der mir sehr wichtig ist. Im Haushalt des Staatsministers für Kultur haben wir 25 Millionen Euro Mehrausgaben angesetzt.
({0})
Wir haben 10 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, damit in unserer schönen Hauptstadt ein Museum für klassische Moderne entstehen kann.
Frau Kollegin.
Ein Sammlerpaar hat der Stadt Berlin und der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz eine ganz tolle Ausstellung, ein
wahres Juwel, geschenkt. Wir als Bund leisten unseren
Beitrag und werden unserer Verantwortung für die
Hauptstadt gerecht, indem wir diesen kulturpolitischen
Schwerpunkt setzen. Das ist etwas, was mich neben der
Staatsschuldenkrise stark bewegt hat und worüber ich
mich sehr gefreut habe.
Vielen Dank.
({0})
Carsten Schneider hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Kollegin Vogelsang, Ihrer letzten Äußerung zum kulturellen Erbe Berlins schließe ich mich
an. Diesbezüglich haben wir auch zugestimmt. Abgesehen davon ist aber vieles von dem, was Sie gesagt haben,
nicht durch das gedeckt, was Sie hier beschließen werden.
({0})
Ihre Aussagen zu einer angeblichen Neujustierung
der Finanzpolitik bzw. zu einem Schuldenabbau - dieses
Wort haben Sie hier tatsächlich benutzt; man kann das
im Protokoll noch einmal nachlesen - sind durch die
Realität überhaupt nicht gedeckt; denn mit dem Nachtragshaushalt, den Sie hier zur Abstimmung vorlegen,
wird die Neuverschuldung gegenüber dem Jahr 2011
verdoppelt.
({1})
Die Neuverschuldung steigt von 17 Milliarden Euro im
Jahr 2011 auf 32 Milliarden Euro.
({2})
Das ist Fakt.
Ich gestehe gerne zu: 8 Milliarden Euro davon sind
Mehrausgaben aufgrund des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Trotzdem - das wird auch Ihnen auffalle sind das immer noch 6 Milliarden Euro mehr, und das,
obwohl Sie für 2012 ein stärkeres Wirtschaftswachstum
als 2011 prognostizieren.
Sie haben mehr Steuereinnahmen. Wir hatten wieder
Rekordsteuereinnahmen. Die FDP hat in solchen Fällen
früher immer gefordert, dass die Steuern gesenkt werden; das sagt sie jetzt nicht mehr so laut.
({3})
Außerdem sind die Kosten für die sozialen Sicherungssysteme gesunken, weil sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbessert hat. Das sind die zwei Hauptblöcke.
Dann kommt noch ein dritter Block hinzu: Auch die
Zinsausgaben sind gesunken. Deutschland ist der Profiteur der Euro-Krise.
({4})
So billig, wie wir uns derzeit verschulden können, kann
sich kein anderes Land verschulden. Dadurch sparen Sie
noch einmal 2 Milliarden Euro. Trotzdem steigt die Neuverschuldung gegenüber dem letzten Jahr um 6 Milliarden Euro. Das ist ein Offenbarungseid.
({5})
In der Finanzpolitik sind Sie kläglich gescheitert.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Barthle zulassen?
Ja, natürlich. Ich glaube, er möchte meinem letzten
Satz zustimmen.
Bitte schön.
Herr Kollege Schneider, wenn Sie von einem „Offenbarungseid“ sprechen und sagen, dass die Neuverschuldung steige, dann vergleichen Sie die Sollzahlen des
Jahres 2012 mit den Istzahlen des Jahres 2011. Da Sie
diesen Vergleich anstellen, möchte ich Sie fragen, ob Sie
auch behaupten würden, dass die Verschuldung im Jahr
2011 im Vergleich zur Verschuldung im Jahr 2010 ebenfalls gestiegen ist. Denn wenn man Soll und Ist verNorbert Barthle
gleicht, kann man zu dem Schluss kommen, dass das so
ist.
Tatsächlich ist es aber so, dass wir für das Jahr 2010
eine Neuverschuldung von 80 Milliarden Euro als Soll
geplant hatten. Im Ist lagen wir dann bei 44 Milliarden Euro. Im Jahr 2011 sind wir mit einem Soll von
48 Milliarden Euro gestartet. Gelandet sind wir bei einem Ist von 17 Milliarden Euro. Dieses Jahr starten wir
mit einem Soll von 32 Milliarden Euro. Wo wir am Jahresende landen werden, wissen weder Sie noch ich. Deshalb halte ich diesen Vergleich für nicht redlich.
({0})
Herr Kollege Barthle, eines ist klar: Sie machen jetzt
einen Haushaltsvoranschlag, eine Ermächtigung für die
Regierung.
({0})
Sie wissen aber, dass die Bundeshaushaltsordnung Ihnen
vorschreibt - daran sollten Sie sich halten; ich glaube,
das tun Sie auch -, dass Sie exakt die Mittel einstellen,
die nach Ihrer Ansicht gebraucht werden.
({1})
Dabei geht es um Haushaltswahrheit und -klarheit. Der
entscheidende Punkt ist, dass wir uns schon in der Mitte
des Jahres befinden. Das heißt, wir wissen schon sehr
exakt, wo der Hase langläuft und wo wir in etwa landen
werden.
Die entscheidenden großen Posten habe ich Ihnen genannt: Steuereinnahmen und Sozialausgaben sind die
beiden größten Posten. Die entsprechenden Zahlen stehen fest. In beiden Bereichen gibt es eine Entlastung. Sie
haben nämlich mehr Steuereinnahmen und geringere Sozialausgaben.
({2})
Trotzdem steigt die Neuverschuldung um 6 Milliarden Euro. Das geht einfach nicht. Das zeigt, dass Sie das
Geld verschludern und sich nicht wirklich darum bemühen, sauber und solide zu arbeiten.
({3})
Wenn Sie es nicht einmal in einer Hochphase der
Konjunktur schaffen, den Haushalt auszugleichen, was
soll denn dann passieren, wenn wir wieder einen Einbruch erleben?
({4})
Niemand weiß, wie dieses Jahr laufen wird. Wir haben
hohe Unsicherheiten bezüglich der ökonomischen Lage
in der Euro-Zone, in den USA, in China etc. Keiner
weiß, wie es sich entwickeln wird. Umso wichtiger wäre
es, heute damit zu beginnen, die Schulden des letzten
Konjunkturprogramms zu tilgen, um, wenn es wieder
schlechter läuft, Luft zum Investieren zu haben. Diese
Luft nehmen Sie uns, weil Sie ein Geschäftsmodell fahren, wie es die Hypo Real Estate in ihren schlechtesten
Zeiten getan hat.
({5})
- Woran ist die Hypo Real Estate gescheitert? Sie hat
sich kurzfristig refinanziert und hatte langfristig hohe
Lasten. Was tun Sie? Anstatt die langfristige günstige
Refinanzierung zu nutzen, sich zum Beispiel für
30 Jahre zu verschulden und dafür 3 Prozent zu zahlen,
({6})
nutzen Sie jede Möglichkeit, sich kurzfristig, für nur ein
oder zwei Jahre, bei ganz niedrigen Zinsen - diese liegen
fast bei null - zu verschulden, um mithilfe dieser Zinsersparnis Ihre Klientel zu beglücken.
({7})
Das führt aber dazu, dass die Abhängigkeit des Bundeshaushalts und die Volatilität noch viel größer werden.
Bei einem Wirtschaftseinbruch wären wir auch noch mit
verschlechterten Zinsniveaus konfrontiert.
Daran sehen Sie, dass Sie vollkommen unsolide und
unverantwortlich haushalten und dass Sie der nächsten
Bundesregierung, dem nächsten Bundestag kein gemachtes Nest hinterlassen. Vielmehr türmen sich schon
heute die Probleme vor den Türen.
Deswegen sage ich: Dieser Haushalt ist eine Bankrotterklärung des Bundesfinanzministers. In der Haushaltspolitik hat er seine Ziele bei weitem nicht erreicht.
In der Anhörung, die wir dazu durchgeführt haben, haben Ihre Sachverständigen klar gesagt, dass Sie das
Sparpaket, das Sie vorgelegt haben, gerade einmal zur
Hälfte umgesetzt haben. Der Rest der Konsolidierung,
der Rückgang der geplanten Neuverschuldung, geht einzig und allein auf konjunkturelle Sondereffekte zurück.
Die Konjunktur ist mal gut und mal schlecht.
({8})
Zurzeit ist die Konjunktur gut, aber sie kann auch wieder
schlecht werden. Dann steigt das strukturelle Defizit.
Dann stehen wir vor der Situation, dass die Schulden, die
Sie heute machen, zu Steuererhöhungen oder Minderausgaben bzw. Kürzungen führen werden. Das ist unsolide.
({9})
Das ist überhaupt kein Vorbild für die anderen Länder in
Europa, denen Sie gerne vorhalten, sie würden nicht
richtig sparen. Im Gegenteil: Das tun sie zum großen
Teil. Deutschland hingegen ist das Land, das am meisten
Carsten Schneider ({10})
prasst. Deswegen taugen Sie und die Finanzpolitik
Deutschlands hier nicht als Vorbild.
({11})
- Ich kann Ihnen das klar sagen, Herr Kollege Fricke:
Sie prassen. Sie machen miese Geschäfte.
({12})
Nehmen Sie den letzten Koalitionsgipfel im Kanzleramt als Beispiel. Was ist da vereinbart worden?
({13})
Da ist - entgegen dem geballten Sachverstand und dem
gesunden Menschenverstand - vereinbart worden, dass
in Deutschland ein Betreuungsgeld eingeführt werden
soll. Dies bedeutet 1,2 Milliarden Euro Mehrausgaben.
({14})
Gegenfinanzierung? Null. Was hat die FDP als Gegenleistung dafür bekommen? Dass eine private Pflegeversicherung über Steuervergünstigungen bezuschusst wird.
({15})
Sie können sich ja nur noch einigen, wenn es darum
geht, das Geld fremder Leute auszugeben oder Kredite
aufzunehmen.
({16})
Dazu sind Sie noch in der Lage. Dies ist aber keine angemessene Antwort auf die Situation, in der wir uns befinden. Es ist mehr oder weniger ein Dahinsiechen. Sie
können quasi nur noch existieren, weil die Konjunktur in
Deutschland brummt. Müssten Sie wirklich harte Entscheidungen treffen, wären Sie bereits am Ende. Sie
können nur noch über das Verteilen reden.
({17})
Wir haben dem ein klares und ehrliches Programm
entgegengesetzt. Wir wollen die Risiken, die sich aus
den Krediten, die wir Griechenland aufgrund Ihrer Beschlusslage gegeben haben - diese betragen insgesamt
15 Milliarden Euro -, absichern. In unserem Programm
sehen wir die Tilgung des Konjunkturfonds vor. Dabei
geht es um mehr als 2,3 Milliarden Euro. In guten Zeiten
muss man die Schulden der Vergangenheit zurückzahlen.
Bei Ihnen findet sich dazu gar nichts. Das haben Sie einfach so hingenommen. Darauf zahlen wir Zinsen, und
nichts wird getilgt.
Wir wollen all dies auf zwei Wegen finanzieren, und
zwar über einen konsequenten Subventionsabbau und
eine Verbreiterung der Steuereinnahmebasis. Wir wollen
zum einen ökologisch bedenkliche Subventionen abbauen und zum anderen das von Ihnen, und zwar von der
FDP, eingeführte Hotelsteuerprivileg im Mehrwertsteuerbereich abschaffen.
({18})
Sie haben sich zwar davon distanziert, aber immer noch
gilt der verminderte Mehrwertsteuersatz für das Übernachtungsgewerbe.
Meine Damen und Herren, in der Finanzpolitik haben
Sie nichts wirklich Substanzielles geleistet. Die Steuerpolitik des Bundesfinanzministers beschränkt sich auf
Nichtstun. Die Hände werden in den Schoß gelegt. Wenn
ich mir vor Augen führe, wie Sie früher getönt haben
- ich erinnere nur an Ihr Sparbuch -,
({19})
muss ich feststellen: Nichts davon haben Sie tatsächlich
umgesetzt. Von daher ist dies ein verlorenes Jahr für
Deutschland, ein Jahr, das uns später noch teuer zu stehen kommen wird.
({20})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nichts von dem, was Carsten Schneider eben vorgetragen hat, entspricht der Realität.
({0})
Ich will das an einem Punkt deutlich machen. Es ist
schon starker Tobak, zu behaupten, dieser Nachtragshaushalt sei die Bankrotterklärung des Bundesfinanzministers. Ich halte Ihnen Folgendes vor: Vor einem Monat wurde Wolfgang Schäuble der Karlspreis der Stadt
Aachen verliehen. Das ist eine sehr große Auszeichnung,
zu der wir als FDP-Fraktion dem Bundesfinanzminister
recht herzlich gratulieren.
({1})
Er ist damit für sein Engagement zur Stabilisierung der
Währungsunion ausgezeichnet worden. Der Vorsitzende
der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, bezeichnete
Schäuble in seiner Laudatio
({2})
- das werden Sie sich ja wohl anhören können - als
deutschen und europäischen Patrioten. Er sagte: „Er
schindet sich, er bemüht sich, er kämpft.“ Das ist eine
große Anerkennung, und das gilt für die gesamte Regierung.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Aussage belegt noch etwas anderes - hier sind Sie nämlich auf dem
falschen Dampfer -: Man muss nicht deutsche Interessen
aufgeben, um ein leidenschaftlicher Europäer zu sein.
Heute steht der Nachtragshaushalt 2012 zur Abstimmung. Erneut sieht man den Unterschied zwischen dieser Koalition und Rot-Grün. Wie war die Situation denn
unter Rot-Grün? Sie haben mehrfach Nachtragshaushalte vorgelegt. Sie haben sich jedes Mal bis zum Jahresende durchgewurstelt, um Ihren Nachtragshaushalt dann
irgendwann im November oder Dezember, wenn es nicht
mehr anders ging, vorzulegen. Das war Ihre Politik. Wir
hingegen beachten die Prinzipien der Haushaltswahrheit
und der Haushaltsklarheit. Die Zahlen in den von Ihnen
zu verantwortenden Bundeshaushalten waren immer geschönt. Deswegen mussten Sie immer wieder Nachtragshaushalte vorlegen. Bei uns wird nichts geschönt.
({4})
Jeder Bürger kann erkennen, dass die Grundsätze der
Haushaltswahrheit und der Haushaltsklarheit eingehalten werden. Selbstverständlich hat auch unser Nachtragshaushalt unangenehme Inhalte. Die Begeisterung ist
natürlich nicht allzu groß. In diesem Nachtragshaushalt
sind zum Beispiel 8,7 Milliarden Euro für die Ausstattung des ESM enthalten. Das ist notwendig, und das machen wir.
Außerdem - auch das hat mit der Krise in einigen europäischen Staaten zu tun - fällt der Bundesbankgewinn
leider nicht so hoch aus wie erwartet. Auch dies ist im
Nachtragshaushalt berücksichtigt worden. Positiv ist,
dass die Zinslast im Hinblick auf die Bundesanleihen um
über 1 Milliarde Euro reduziert werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass wir von der Euro-Krise profitieren.
({5})
Das, was der Kollege Schneider hier erzählt hat, ist wirklich dummes Zeug. Das kann er doch selbst nicht glauben.
Ich frage die Opposition: Warum können Sie diesem
Nachtragshaushalt nicht zustimmen? Warum wollen Sie
ihn ablehnen? Ich sage Ihnen, warum: weil Sie einen
ganz anderen Kurs einschlagen wollen. Sie wollen, dass
sich der Bund wieder stärker verschuldet, wie es Ihr Parteivorsitzender angedeutet hat.
({6})
- Ihr Parteivorsitzender hat doch von uns gefordert, über
12 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen, um die
Kommunen zu entlasten. Wo würden Sie diesen Betrag
im Bundeshaushalt unterbringen? Oder wollen Sie etwa
Steuererhöhungen?
({7})
Sie wollen, dass sich Europa weiter verschulden darf
und Deutschland dafür zahlt.
({8})
Das ist Ihre Politik. Dabei machen wir aber nicht mit.
({9})
Sie wollen Steuermehreinnahmen durch Steuererhöhungen generieren. Auch wir wollen Steuermehreinnahmen erzielen; das ist klar. Wer will das nicht? Aber wir
wollen das durch gute Wirtschaftspolitik
({10})
und durch gute Rahmenbedingungen vor allem für den
Mittelstand erreichen. Das bringt Geld in die Kasse, aber
nicht Steuererhöhungen, wie Sie sie teilweise fordern.
({11})
Die SPD hat einen recht witzigen Entschließungsantrag eingebracht. Darin fordern Sie uns auf, die Schuldenbremse auch im Geiste und Sinn des Gesetzes einzuhalten.
({12})
Wissen Sie was? Diesen Antrag sollten Sie mal nach
Nordrhein-Westfalen und nach Schleswig-Holstein schicken.
({13})
Nordrhein-Westfalen muss für die WestLB in diesen Tagen zusätzlich 1 Milliarde Euro in die Hand nehmen.
Woher nehmen sie dieses Geld? Sie werden den Steuerzahler damit belasten, niemand anderen. In der Kasse
des Landes ist dieses Geld jedenfalls nicht vorhanden.
Ein anderes Beispiel: Schleswig-Holstein. Sie beklagen, dass die Situation der Kommunen teilweise schlecht
ist. Kollegin Hagedorn - in Schleswig-Holstein gibt es ja
jetzt eine Dänen-Ampel -, ich habe Ihnen ein Zitat mitgebracht. In der Zeitung war zu lesen: „Entsetzen in Lübeck: Albig streicht … 250 Millionen Euro.“ Da geht es
um kommunale Finanzen.
Hier machen Sie den Biedermann, und draußen machen Sie den Brandstifter und rufen nach der Feuerwehr.
Das ist Ihre Politik. Das machen wir nicht mit.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr angetan
von diesem Nachtragshaushalt, weil er eines dokumentiert
({15})
- das sollten Sie nicht vergessen; kein positives Wort haben Sie darüber verloren -: Die Konjunktur in Deutschland läuft gut.
({16})
Wir haben weniger Arbeitslose, und die Jugendarbeitslosigkeit ist auf einem niedrigen Niveau. Darüber sollten
wir uns alle einmal freuen, statt nur zu mäkeln, wie Sie
es tun. Diesem Nachtragshaushalt können Sie gerne zustimmen.
({17})
Die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit diesem Nachtragshaushalt soll
der deutsche Beitrag für den Europäischen Stabilitätsmechanismus, ESM, bereitgestellt werden. So wurde es ja
schon vorgetragen. Es geht aber um viel mehr. Es geht
um die Frage, ob der Euro dieses Jahr überleben wird.
Die Bundesregierung wird von Regierungen und
Währungsexperten aus der ganzen Welt aufgefordert,
endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden, mutig
zu handeln und den Euro zu retten. Doch alle Hilferufe
und Ermahnungen prallen an dieser Regierung ab. Sie
handelt engstirnig und verantwortungslos. Das muss
endlich ein Ende haben.
({0})
Nicht nur wir als Linke halten den ESM und den Fiskalpakt für völlig ungeeignet, die Euro-Krise zu lösen;
Fiskalpakt und ESM sind nun einmal zwei Seiten einer
Medaille. Nein, ganz im Gegenteil: Der Fiskalpakt führt
Europa noch tiefer in die Krise. Wir sehen doch in Griechenland, welche verheerenden Auswirkungen die Kürzungspolitik hat, wie die Menschen dort unter ihr leiden
müssen.
Das Kürzungsdiktat führt in Griechenland gerade
dazu, dass die medizinische Versorgung zusammenbricht. Trotzdem - so wollen Sie es - sollen die Griechen
in diesem Jahr noch 1,1 Milliarden Euro bei den Ausgaben für Medikamente kürzen. Diese unglaubliche Brutalität gegen Griechenland hat doch nur eine Funktion: Sie
soll nicht den Griechen aus der Krise helfen, sondern es
soll eine Drohkulisse für alle anderen Krisenländer aufgebaut werden, und das ist verantwortungslos.
({1})
Durch die Bankenkrise in Spanien wird doch nur zu
deutlich, dass der ESM nicht funktionieren wird. Marode
spanische Banken wollen nun 100 Milliarden Euro haben. Hat uns die Bundesregierung nicht immer erklärt,
dass wir keine Bankenkrise, sondern eine Staatsschuldenkrise haben?
({2})
Mit dieser Begründung wurden drastische Kürzungsmaßnahmen in Spanien beschlossen. Seit 2011 wurden
die Renten eingefroren, Löhne und Investitionen gekürzt.
Ich frage Sie: Haben der Sozialabbau in Spanien und
die Kürzung der öffentlichen Investitionen irgendetwas
zur Gesundung der Banken dort beigetragen? Nein, natürlich nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wirtschaftskrise in Spanien verschärft sich täglich. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Die Menschen haben
dort keine Zukunft. Hier können wir doch nicht länger
zusehen.
({3})
In diesen Tagen verhandeln die Bundesregierung und
die Opposition über den Fiskalpakt. SPD und Grüne wollen dem Fiskalpakt - so haben wir es gelesen - zustimmen, wenn die Bundesregierung einen Beschluss über die
Einführung einer Finanztransaktionsteuer fasst. Wir glauben den vagen Absichtserklärungen der Bundesregierung
nicht. Wir wollen Klarheit und Verbindlichkeit. Darum
hat unsere Fraktion den Antrag eingebracht, die Finanztransaktionsteuer im Nachtragshaushalt aufzunehmen.
Wenn Sie es mit der Umsatzsteuer auf Finanzprodukte
also ernst meinen, meine Damen und Herren von Union
und FDP, dann dürfte die Zustimmung zu unserem Antrag
doch kein Problem sein.
({4})
SPD und Grüne haben unseren Antrag im Haushaltsausschuss unterstützt. Die Regierungskoalition hat ihn
abgelehnt. Was soll man davon halten? Ist es Ihnen ernst
mit der Finanztransaktionsteuer oder nicht?
Meine Damen und Herren, wir als Linke fordern diese
Steuer schon sehr lange. Wir wissen aber auch, dass der
Fiskalpakt dadurch kein bisschen besser wird. Wir sagen
Ja zur Finanztransaktionsteuer, wir sagen Ja zur Regulierung der Finanzmärkte, aber wir sagen ganz deutlich
Nein zum Fiskalpakt.
({5})
Und Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, kann ich vor windigen Geschäften mit der
Bundesregierung nur warnen. Lassen Sie sich nicht auf
krumme Geschäfte mit dieser Teppichhändlerkoalition
ein. Lehnen Sie nicht nur den Nachtragshaushalt, sondern auch den Fiskalpakt ab.
({6})
Nach Auskunft der EU-Kommission von Dienstag
kann übrigens die Finanztransaktionsteuer noch im Jahr
2012 eingeführt werden, wenn im Juli mindestens neun
Länder einen entsprechenden Antrag einbringen. Da sowohl die Bundeskanzlerin als auch Herr Schäuble so oft
davon gesprochen haben, dass sie persönlich doch für
diese Steuer seien, fordere ich Sie auf: Bringen Sie noch
heute den Antrag zur Einführung der Finanztransaktionsteuer bei der EU ein. Dann wissen wir, dass Sie es ernst
meinen.
({7})
8,7 Milliarden Euro, die heute für den Rettungsschirm
beschlossen werden sollen, sind nicht nur viel Geld für
ein falsches Projekt, sondern sie bedeuten auch ein Weniger an Demokratie. Glaubt hier wirklich jemand im
Ernst, dass der Bundestag oder irgendein anderes ParlaDr. Gesine Lötzsch
ment in der Lage sein wird, den ESM so zu überwachen,
wie es nötig wäre? Ich glaube es nicht. Wenn Sie diesen
Beschluss fassen, werden wir alle am Ende eines Besseren belehrt werden.
In Anbetracht der dramatischen Situation, in der sich
die Europäische Union befindet, brauchen wir sehr mutige
Entscheidungen des Deutschen Bundestages. Wir müssen endlich damit aufhören, marode Banken zu retten.
Wir müssen gesunde Unternehmen und damit Millionen
von Arbeitsplätzen retten. Dafür brauchen wir ein starkes europäisches Investitionsprogramm. Das wäre der
richtige Weg.
({8})
Erinnern wir uns gemeinsam an das Jahr 2008. Damals wurde, übrigens auch auf Drängen der Fraktion Die
Linke, ein Konjunkturprogramm, ein Investitionsprogramm, aufgelegt. Die Banken hatten damals total versagt. Eine Kreditklemme drohte gesunde Unternehmen
zu zerstören. Direkte staatliche Hilfe hat damals unzählige Unternehmen und Arbeitsplätze in Deutschland gerettet. Ein solches Programm brauchen wir für ganz Europa und keine Kürzungspolitik!
({9})
Deutschland kann einen Beitrag zu einem solchen Programm leisten.
Wir haben es schon gehört - diese Aussage ist völlig
richtig -: Deutschland profitiert im Augenblick von der
Euro-Krise. Die Financial Times Deutschland schätzt,
dass wir in den nächsten fünf Jahren wegen der günstigen Zinssituation für Deutschland 100 Milliarden Euro
weniger ausgeben müssen.
({10})
Damit zieht die Bundesrepublik Deutschland, gewollt
oder ungewollt, aus der Notlage der anderen Länder einen Gewinn.
Aber ich sage Ihnen: Es ist nicht nur die moralische
Pflicht der Bundesrepublik Deutschland, dieses Geld zu
nutzen, um den Krisenländern zu helfen, sondern es
wäre auch eine Tat zu eigenem Nutzen; denn wenn wir
den Krisenländern jetzt nicht helfen, dann werden wir eines Tages selbst ein Krisenland sein. Das will die Linke
verhindern. Wir lehnen den Nachtragshaushalt ab.
Vielen Dank.
({11})
Sven-Christian Kindler hat das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Vogelsang von der Union hat vorhin davon gesprochen, Angela Merkel verfolge in der Europapolitik eine rote Linie. Ich kann mich erinnern, wie es
die letzten drei Jahre hier im Bundestag war: Das, was
diese Koalition gemacht hat, war immer zu spät und immer zu wenig. Das war ein Zickzackkurs. Dies und die
Austeritätspolitik haben die Krise in Europa verschärft.
Das war keine rote Linie, das war ein schwarz-gelber Irrweg in der Europapolitik.
({0})
Das zeigt auch dieser Nachtragshaushalt. Bestehende
Chancen wurden mit diesem Nachtragshaushalt nicht genutzt.
Ich stelle für die Grünen fest: Wir sind dafür, dass das
Inkrafttreten des ESM vorgezogen wird. Das haben wir
auch beantragt. Denn wir halten einen dauerhaften Rettungsmechanismus für sinnvoll; dies kann ein erster
Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Währungsfonds sein. Deswegen unterstützen wir, dass die Gelder
eingezahlt werden.
Das Problem ist jetzt aber, dass die Bereitstellung dieser Mittel vollständig über eine Neuverschuldung finanziert wird, obwohl die Konjunkturlage extrem gut ist und
die Zinsen historisch niedrig sind. Dieser Nachtragshaushalt zeigt eben auch: Es gibt keine Verbesserung bei
den Ausgaben. Es gibt keine strukturellen Einsparungen.
Es gibt keine Konsolidierung. Es gibt keine Mehreinnahmen. Auch dieser Nachtragshaushalt ist ein Irrweg.
({1})
- Ich komme gleich zu den Sparvorschlägen, Schorsch.
Die Konsequenz muss sein: Wir müssen jetzt die
Schulden begrenzen und sie abbauen. Die fiskalische
Verschuldung müssen wir angehen. Wir müssen zum
Beispiel Subventionen abbauen. Es gibt eine Reihe von
klimaschädlichen Subventionen, die wir abbauen können.
({2})
Wir müssen strukturelle Einsparungen im Haushalt
vornehmen und zum Beispiel die konjunkturellen Effekte nutzen. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass
die durch diese Krise verursachten Schulden gerecht abgebaut werden. Wir haben als Grüne dafür ein Konzept
vorgelegt. Wir wollen eine Vermögensabgabe. Für die
nächsten zehn Jahre wollen wir von den Millionären in
diesem Land 100 Milliarden Euro einnehmen, um die
durch die Bankenkrise verursachten Schulden finanzieren zu können. Wir wollen, dass es in diesem Land gerecht zugeht. Deswegen müssen die Millionäre ihren
Beitrag leisten.
({3})
Wir haben gemeinsam mit der SPD eine Anhörung
zum Nachtragshaushalt beantragt. Kollege Schneider hat
es schon gesagt: Die Bundesbank und der Bundesrechnungshof haben Vorschläge gemacht. In den Stellungnahmen gab es vernichtende Kritik an der Koalition.
({4})
- Gucken wir uns das Sparpaket doch einmal an, Kollege Koppelin. Was ist aus dem Sparpaket geworden? Es
gab die unsozialen Einschnitte beim Elterngeld für
ALG-II-Empfängerinnen. Die Eingliederungshilfe für
arbeitslose Menschen wurde rasiert. Was gab es noch?
Es wurde fast nichts umgesetzt.
({5})
Was war denn? Einnahmen aus der Finanztransaktionsteuer sind bisher nicht geflossen. Dazu mussten wir Sie
im Bundestag immer treiben. Einnahmen aus der Brennelementesteuer sind nicht so geflossen wie geplant.
Was ist denn mit den Einsparungen im Rahmen der
Bundeswehrreform? Da haben Sie nichts gemacht und
haushaltspolitisch versagt.
({6})
Beim Nachtragshaushalt kann man auch noch einmal
feststellen, wie Sie Haushaltspolitik machen. Es gab im
Berichterstattergespräch eine Einigung, für das Arbeitslosengeld II 200 Millionen Euro weniger anzusetzen,
weil man davon ausgeht, dass sich der Arbeitsmarkt besser entwickeln wird. Dann haben Sie sich in der Koalition noch einmal beraten. Sie haben dann im Haushaltsausschuss einen Antrag eingebracht, in dem Sie von
230 Millionen Euro ausgehen. Es ging also noch einmal
um 30 Millionen Euro. Das ist aber nicht seriös. Die Arbeitsmarktdaten geben das nicht her. Sie wissen gar
nicht, ob sich der Arbeitsmarkt tatsächlich besser entwickelt. Auch das zeigt, wie unseriös Ihre Finanzpolitik ist.
({7})
Des Weiteren haben wir den Energie- und Klimafonds
im Verfahren zum Nachtragshaushalt beraten. Wir haben
Ihnen schon damals vorgerechnet, was sich ergeben
wird. Der Bundesrechnungshof hat es bestätigt. Sie haben beim Klimafonds einen Schattenhaushalt eingerichtet. Sie haben bei der Finanzierung der Energiewende
den Grundsatz der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit nicht beachtet. Sie haben damals den Preis für
die CO2-Zertifikate mit 17 Euro kalkuliert. Der Fonds ist
von den Einnahmen abhängig. Jetzt sind es noch
7,50 Euro. Das heißt, hier musste im Bereich der Energiewende massiv gekürzt werden. Wichtige Programme
der Energiepolitik und für den Klimaschutz fallen weg.
Sie haben den Nachtragshaushalt nicht genutzt, um das
zu korrigieren.
Wir haben konkrete Vorschläge gemacht, wo wir bei
klimaschädlichen Subventionen, zum Beispiel bei
schweren Dienstwagen, im Flugverkehr und bei Ausnahmen im Zusammenhang mit der Ökosteuer, Geld einsparen und damit die Energiewende, den Klimaschutz, zum
Beispiel durch Gebäudesanierung, oder auch die Forschung zu erneuerbaren Energien finanzieren können.
Das haben Sie nicht umgesetzt. Auch hier zeigt sich das
klimapolitische, aber auch das haushaltspolitische Versagen dieser Koalition.
({8})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Vogelsang?
Ja, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Erinnern Sie sich eigentlich daran, dass Sie in Ihrer Rede zum Haushalt
2011 die gleichen Behauptungen aufgestellt haben wie
jetzt und dass rein gar nichts von dem, was Sie gesagt
haben, eingetroffen ist?
({0})
Ich verstehe die Frage nicht ganz,
({0})
weil kein konkreter Inhalt darin enthalten war. Aber ich
will gerne darauf eingehen. Ich habe schon in der Haushaltsrede 2011 klar gesagt: Der Energie- und Klimafonds
ist schlecht konstruiert;
({1})
es wird nicht zu dem Preis von 17 Euro kommen. Es ist
nicht dazu gekommen; es waren 7,50 Euro. Jetzt mussten Sie die Mittel für den Energie- und Klimafonds fast
um die Hälfte kürzen. Das ist schlecht für die Energiewende und für den Haushalt, und es zeigt, wie unseriös
Ihre Politik ist. Das ist alles eingetreten.
({2})
Auch bei der Frage, wie es mit Europa weitergeht, ist
diese Koalition auf dem Holzweg. Wir haben klargemacht: Man hätte schon mit dem Nachtragshaushalt Vorbereitungen treffen können. Wir brauchen für Europa ein
Investitionsprogramm. Wir brauchen soziale und ökologische Investitionen, damit auch die Krisenländer eine
Chance haben. Auch eine Kapitalerhöhung bei der Europäischen Investitionsbank hätte man in den Nachtragshaushalt aufnehmen können. Wir brauchen an dieser
Stelle mehr Investitionen, damit Europa aus der Krise
herauskommt. Die verheerende Austeritätspolitik muss
beendet werden, damit es auch für die Krisenländer eine
Chance gibt. Eine gerechte und ökologische Krisenpolitik wäre für Europa angebracht.
({3})
Natürlich wollen wir das auch finanzieren. Hierbei
geht es um die Gerechtigkeitsfrage. Das heißt, die Finanztransaktionsteuer muss kommen, weil sie die Finanzmärkte reguliert und dafür sorgt, dass wir mehr Einnahmen haben. Wir brauchen auch höhere Steuern, zum
Beispiel bei der Einkommensteuer und für Vermögende,
weil es gerecht ist, dass sie ihren Anteil an der Krise tragen. So können wir auch in Deutschland und in Europa
gerecht investieren.
({4})
Das haben Sie alles abgelehnt. Sie bleiben auf Ihrem
Holzweg. Das ist ein schwarz-gelber Schuldennachtragshaushalt. Sie haben hier nicht konsolidiert und nicht
strukturell eingespart. Sie haben diesen Haushalt im
Sinne der Gerechtigkeit nicht verbessert. Deswegen lehnen
wir ihn ab und werden weiter dafür streiten, dass es eine
gerechte und solidarische Krisenlösung für Deutschland
und Europa gibt.
Danke.
({5})
Der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter
hat jetzt das Wort für die Bundesregierung.
({0})
Danke schön, Frau Präsidentin. - Eine der Grundregeln der Opposition lautet, wie diese Debatte zeigt:
Wenn du keine guten Argumente hast, dann musst du
sprachlich aufrüsten.
({0})
Die sprachliche Maßlosigkeit, mit der die Redner der
Opposition heute hier vorgetragen haben, steht in einem
scharfen Kontrast zu dem sachlichen Gehalt und der
Qualität ihrer Aussagen.
({1})
Da wird in allen Superlativen Kritik geäußert. Ich will
mir hier einmal den Kollegen Schneider als den Sprecher
der größten Oppositionsfraktion vornehmen, dessen
Kernaussage lautet, wir machen zu viele Schulden. Herr
Kollege Schneider, Sie als Sprecher der SPD stehen damit vor der Gefahr eines Ausschlussverfahrens aus der
Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, glaube ich;
denn wenn ich die Medien richtig verfolge,
({2})
sind diejenigen, die wir als Troikaner kennen, gestern in
Paris gewesen, um gemeinsam mit den französischen
Sozialdemokraten für Frankreich, aber wohl auch für die
deutsche Sozialdemokratie die Botschaft nach Europa zu
senden, Deutschland solle mehr Schulden machen.
({3})
Ich bekomme nicht zusammen, wo denn da die Richtlinienkompetenz in der SPD in Deutschland liegt: Bei
den Troikanern, die gemeinsam mit Frankreich nach
mehr Schulden rufen, oder beim haushaltspolitischen
Sprecher, der uns unter Verwendung schärfster sprachlicher Formulierungen hier geißeln will, weil wir angeblich zu viele Schulden machen? Das geht nicht. SPD in
Paris und SPD in Deutschland müssen schon das Gleiche
sagen. Sonst sind Sie unglaubwürdig, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({4})
Herr Kollege Schneider, ich will Sie außerdem darauf
hinweisen, dass wir auch noch sozialdemokratische Ministerpräsidenten haben,
({5})
die im Zusammenhang mit der Frage des Fiskalpakts
Briefe schreiben. - Zu diesem Thema komme ich noch.
({6})
- Es gibt auch CDU-Ministerpräsidenten, die Briefe
schreiben. Sie sind sich da ähnlich.
({7})
Jetzt sind wir aber bei Ihrem Vorwurf, wir machten zu
viele Schulden. Diese Ministerpräsidenten fordern, der
Bund solle Lasten in zweistelliger Milliardenhöhe von
den Ländern übernehmen. Jetzt frage ich Sie, Herr
Schneider: Sollen wir, um noch weniger Schulden zu
machen, Ausgaben kürzen? Wenn ja, wo soll das nach
Vorstellung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bitte geschehen? Und welche Steuern sollen in einer Größenordnung von 10, 20 oder 30 Milliarden Euro
erhoben werden? Das müssen Sie dann aber bitte hier
auch konkret sagen. Oder Sie lassen Ihre Klage fallen,
bei dieser Haushaltspolitik würden zu viele Schulden gemacht.
Das Gegenteil ist nämlich richtig. Das ist eine Haushaltspolitik von Maß und Mitte. Sie ist nicht nur national
klug, sondern auch international gut aufgestellt. Wir machen keine Vollbremsung, sondern stehen zu unserer
Verantwortung und machen das, was national wie europäisch notwendig ist.
({8})
Das ist eine wachstumsfreundliche Konsolidierung. Ich
kenne kein Land in Europa, das nicht unsere Probleme
und unsere Haushaltssituation gerne übernehmen würde.
Wir werden mit diesem Nachtragshaushalt einen
wichtigen Beitrag zur Stabilität Europas leisten, indem
wir gleichzeitig deutlich machen, dass wir das Kapital
für den Europäischen Stabilitätsmechanismus einzahlen.
Das steht in überhaupt keinem Widerspruch zu unserer
generellen Linie, im Jahre 2016 einen fast ausgeglichenen Haushalt auch für den Bund vorzulegen. Ich fordere
nicht nur die SPD-Bundestagsfraktion auf, uns bei dem
Anliegen, den Bundeshaushalt zu konsolidieren, zu unterstützen, sondern ich appelliere auch an alle Länderparlamente und Länderfinanzminister, nicht Ausflüchte
zu suchen, sondern bei der Konsolidierungsaufgabe mitzumachen, weil ein ausgeglichener Haushalt für die
nachfolgenden Generationen der beste Beitrag für Zukunftsinvestitionen und Wachstumssicherung ist. Das
gilt nicht nur für Berlin, sondern auch für alle 16 Länderhaushalte.
({9})
Obwohl wir Mehrausgaben haben und obwohl wir einen niedrigen Bundesbankgewinn verkraften müssen,
senken wir die Nettokreditaufnahme; denn die wirtschaftliche Situation ist in Deutschland so, dass erfreulicherweise mehr Steuern fließen, als wir gemeinsam noch
vor wenigen Wochen hier in diesem Hohen Hause angenommen haben. Deutschland kann sich diese Anstrengung nur leisten, weil wir in den vergangenen Jahren
- das waren im Übrigen nicht nur unionsgeführte Bundesregierungen - ein umfassendes Reformprogramm für
mehr Wachstum und Beschäftigung durchgeführt haben.
Es würde mich freuen, wenn die deutsche Sozialdemokratie, anstatt die Austeritätspolitik zu kritisieren, dazu
stehen würde, dass Regierung und Opposition gemeinsam in diesem Hohen Hause in den letzten 10 bis 15 Jahren viel dazu beigetragen haben, dass die wirtschaftliche
Entwicklung so positiv in Deutschland ist. Die Jugendarbeitslosigkeit ist die niedrigste in Europa, wir verzeichnen Nachkriegsrekorde bei der Beschäftigung, und wir
sind ein Stabilitätsanker für ganz Europa. Darauf sollten
wir gemeinsam, Regierung und Opposition, stolz sein.
({10})
Aber ich will auch warnen: nicht vor dem Kollegen
Schneider - der war heute auf der Seite der Konsolidierer -, sondern vor anderen Teilen der politischen Linken
in diesem Land, die fordern, dass Deutschland mehr machen soll. Die Erwartung geht dahin, dass Deutschland
alles machen soll. Die Politik von Maß und Mitte weiß,
dass wir in Deutschland nicht überfordert werden dürfen. Wir können nicht jedes Problem Europas mit deutscher Initiative lösen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Deswegen ist es auch wichtig, deutlich zu machen,
dass nationale Verantwortung die Grundlage für europäische Solidarität ist. Die Vergemeinschaftung von Schulden, die manche in diesem Haus als Ausweg aus der
Krise empfehlen, ist kein Ausweg, sondern ein Irrweg.
({11})
Dieser Haushalt zeigt: Löse deine nationalen Aufgaben in der Budgetpolitik! Er ist eine Aufforderung zu
Reformen auch da, wo eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik notwendig ist. Er zeigt, dass Fiskalpolitik,
also Haushaltsausgleich, kein Widerspruch zu Wirtschaftswachstum ist. Er macht aber ebenso deutlich, dass
im Europa der 27 auch die übrigen 26 Länder sowohl in
der Fiskalpolitik als auch in der Reformpolitik ihre Aufgaben lösen müssen. Nur so wird Europa stark. Wir müssen gemeinsam unsere jeweilige nationale Verantwortung wahrnehmen und so einen Beitrag zu einem starken
Europa leisten.
({12})
Ich will zum Abschluss eines feststellen: Dieser
Haushalt wird ein weiterer Schritt sein
({13})
im Hinblick auf ausgeglichene und stabile Bund-LänderFinanzbeziehungen.
({14})
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten überall den Markstein sehen: Sind wir bereit, auch unseren
Bürgerinnen und Bürgern zu erzählen, was politisch
nicht mehr geht oder welche politischen Schwerpunkte
wir setzen wollen, damit wir mit dem Geld, das wir haben, auch tatsächlich auskommen?
({15})
Deutschland kann von anderen nur Opfer einfordern,
wenn es selbst in der Fiskalpolitik, in der Reformpolitik
und in der Solidarität vorbildlich ist. Dieser Haushalt
zeigt, dass Deutschland seiner Verantwortung vorbildlich gerecht werden wird. Wir werden weiter daran arbeiten, noch besser zu werden. Ich lade uns alle, die Regierung und die Opposition, dazu ein, daran mitzuwirken.
({16})
Der Kollege Lothar Binding hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige Worte zum
Kollegen Kampeter, der gesagt hat, die Troika in Paris
habe vorgeschlagen, mehr Schulden zu machen. Diese
hatte richtig gute Ideen, was man tun muss, um Europa
zu helfen: Sie hat etwas von Wachstum gesagt und Vorschläge zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit gemacht. Sie hat von Strukturhilfen und Investitionsmaßnahmen gesprochen. Sie hat aber auch gesagt: Wir
brauchen eine Finanztransaktionsteuer.
({0})
Wir müssen in Deutschland die Steuersparmodelle, die
Sie erneut aktiviert haben, abschaffen.
({1})
Wir brauchen natürlich die EIB, die Europäische Investitionsbank, die wir mit etwas Eigenkapital motivieren können, enorme Investitionsleistungen zu tätigen.
Wir haben Strukturfonds mit unverbrauchten Mitteln.
Uns stehen also viele Möglichkeiten zur Verfügung,
diese guten Ideen zu finanzieren; man müsste nur die
Ideen aufgreifen und umsetzen.
({2})
Die Zeit hat heute den Redebeitrag von Carsten
Schneider sehr schön zusammengefasst: „Deutschland
fordert Haushaltsdisziplin in Europa, verletzt sie aber
selbst.“ Ich will dazu ein Gleichnis nennen.
({3})
- Ja, das stimmt. Es war ein guter Mann, der die Überschrift formuliert hat. Schönen Dank für den Zwischenruf.
({4})
- Sie hat das aber zitiert. Das war ein kluges Zitat dort.
({5})
- Man merkt aber schon, dass es eine gewisse Aufregung bei der FDP gibt. Denn das wäre ungefähr so, als
würde Herr Niebel in der Welt Good Governance verlangen, um dann jenen die Mittel zu streichen, bei denen es
Korruption und Günstlingswirtschaft gibt.
({6})
- Ich weiß das schon. - Aber das ist nun mal so, als
wenn Herr Niebel in der Welt etwas verlangt, was er zu
Hause nicht zu leisten bereit ist. Mit dieser Logik lässt
sich keine gute Politik machen.
({7})
Stefanie Vogelsang - das wollte ich ursprünglich als
Erstes sagen, denn sie war die erste Rednerin - hat ganz
nett etwa formuliert: Als wir uns vor zwei Jahren erstmals mit der Notlage in Griechenland befasst haben,
dachten wir an einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus. - Ich will erinnern: kein Cent für die Griechen das war Ihr Reflex auf die Notlage in Griechenland.
({8})
Viele haben dazu beigetragen, dass dieser Stabilitätsmechanismus entwickelt werden konnte. Anders wären
wir noch längst nicht da angekommen, wo wir heute
sind. Aber wir sind mit den Ideen noch nicht am Ende.
Jürgen Koppelin hat etwas ganz Interessantes gemacht. Er hat etwa in 90 Prozent seiner Redezeit von der
SPD, von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein
gesprochen. Ich vermute als Laienpsychologe: Dahinter
steckt die heimliche Sehnsucht nach Opposition. Dass
man sich damit so intensiv auseinandersetzt, kann nur
damit zusammenhängen, dass er über den Nachtragshaushalt nicht reden wollte, sondern über etwas ganz anderes.
({9})
Wenn man sich im Zahlenraum von 1 bis 50 relativ
frei bewegen kann, kann man doch sagen: Das ist ein guter Haushalt und auch ein guter Nachtragshaushalt.
Wenn man sich aber klarmacht, dass zum Beispiel 32
eine größere Zahl als 17 ist, kann man diesen Schluss
nicht ziehen. Dann ist es nämlich ein schlechter Nachtragshaushalt.
({10})
Warum ist das so? Das hat Carsten Schneider sehr gut
erklärt: Wenn man Wachstum hat, kommt man nicht auf
die Idee, die Schulden zu erhöhen.
({11})
Wenn man bei der sozialen Sicherung - gegen unseren
Willen - streicht, kommt man doch nicht auf die Idee,
die Kreditaufnahme zu vergrößern.
({12})
Wenn man das aber tut, muss man sich überlegen, wohin
das Geld eigentlich geflossen ist.
Es gibt zwei Antworten. Norbert Barthle hat eben in
einem Zwischenruf gesagt, finanzielle Transaktionen
seien die Antwort. Er müsste das ein bisschen erklären;
denn die Bürger können nicht verstehen, was die finanzielle Transaktion im Hintergrund bedeutet, wenn das
Wachstum steigt, die soziale Sicherung sinkt und die
Schulden steigen.
({13})
Du hast aber noch etwas Schönes erklärt: Bei euch
existiert eine gewisse Systematik in der Haushaltsaufstellung.
Lothar Binding ({14})
({15})
Danach gab es 2010 im Soll 80 - man hat 80 veranschlagt -, es waren tatsächlich aber nur 40. 2011 waren
es im Soll, also veranschlagt, 48, aber es waren tatsächlich nur 17.
({16})
Aber mit dieser Erfahrung könnte man im Jahre 2012
einen vernünftigen Haushalt aufstellen, nachdem man
weiß, wie das funktioniert.
({17})
Wer in der Kommunalpolitik war, kennt die Tricks
der Kämmerer. Diese stellen einen Haushalt auf, ein dickes Werk. Darin sucht der kluge Kommunalpolitiker
die Luftbuchungen, mit denen sich die Verwaltung überall gewisse Mittel verschafft, die sie im Bedarfsfall benutzt. Die Entscheidungskompetenz dafür nimmt sie
dem Parlament weg und holt sie in die Exekutive. Man
könnte sagen: Das systematische Verfahren, immer mehr
Schulden zu veranschlagen, als man tatsächlich machen
will, ist sozusagen der Freibrief für die Exekutive, am
Parlament vorbei zu handeln. Wenn das ein transparenter
und demokratischer Haushalt ist, dann sind wir im
Grunde wieder bei Niebel.
({18})
Der Haushalt ist immer ein Gradmesser für das, was
man in der Vergangenheit gemacht hat. Daran kann man
erkennen, ob die Politik gut oder schlecht war. Man
muss immer ein bisschen schauen, wie die Entwicklung
war. Gehen wir einmal auf den Koalitionsvertrag zurück.
Erinnern wir uns daran, was Sie mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht haben: Zumindest aus diesem Gesetz ist kein Wachstum generiert worden, sondern es ist nur Klientelpolitik betrieben worden.
Schauen wir uns einmal die Ergebnisse Ihrer Kommission zur Reform der Gewerbesteuer an. Kann uns da
jemand ein Ergebnis nennen? Die Antwort ist schnell gegeben: leere Menge; Fehlanzeige. Es gibt eine Kommission zur Reform der Mehrwertsteuer. Wir haben über
200 Ausnahmen vom Regeltarif. Da anzusetzen, das
wäre eine Aufgabe, Herr Kampeter, um Steuermittel zu
generieren. Aber Sie haben keine der 200 Ausnahmen
abgeschafft, sondern Sie haben sogar noch eine zusätzliche geschaffen.
Verlustverrechnung, Gruppenbesteuerung, die EAVFallbeilprobleme bei der Organschaft - Fehlanzeige! Sie
merken, die Vorbereitung dieses Nachtragshaushalts und
auch des nächsten ist - das kann ich Ihnen jetzt schon
versprechen - so miserabel, dass sich genau daraus die
deutliche Zunahme der Neuverschuldung, der exorbitanten Kreditaufnahme, die die Rahmendaten überhaupt
nicht rechtfertigen, erklärt. Darum sagen wir: Dies ist
weder ein sozialer noch ein ökologischer noch ein vernünftiger Nachtragshaushalt. Deshalb werden wir ihm
natürlich nicht zustimmen, sondern wir werden ihn ablehnen.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Vizepräsidentin! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Wir behandeln mit der heutigen Debatte etwas, bei dem ganz Europa auf uns schaut. Ich glaube,
ganz Europa wird in dieser Woche, in der nächsten Woche - auch wenn wir da nicht im Plenum tagen - und in
der übernächsten Woche auf dieses Parlament schauen.
Wenn ich die Reden der Opposition höre, habe ich das
Gefühl, dass sie sich gar nicht bewusst darüber ist,
({0})
was für eine Verantwortung dieses Parlament für Europa
in den nächsten Wochen hat und welche Verantwortung
es bereits heute mit diesem Nachtragshaushalt wahrnimmt.
({1})
Da liegt Ihre Verantwortung, und da sollten Sie genau
aufpassen.
Meine Damen und Herren, kein Redner der Opposition hat in seiner Rede gesagt, warum wir diesen Nachtragshaushalt verabschieden. Wir verabschieden diesen
Nachtragshaushalt, weil wir Europa gesagt haben: Wir
sind bereit, Europa zu stabilisieren und aus unserem
Haushalt Gelder zu geben, wenn Europa auf der anderen
Seite bereit ist, ebenfalls etwas zu tun. Deswegen verabschieden wir den Nachtragshaushalt, und deswegen wäre
es Ihre Verpflichtung, sich diesen Punkt viel genauer anzuschauen.
Herr Binding, Sie haben einen Artikel aus der Zeit zitiert - das empfand ich wirklich als einen ganz billigen
Taschenspielertrick -, der die SPD beschreibt. Dieser
Artikel ist von Peer Steinbrück und hat die Überschrift
„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Dann sagten Sie, Herr
Schneider sei zitiert worden. Billig, wirklich billig! Das
war, Herr Binding, ganz schlecht.
({2})
Ich will Ihnen einmal sagen, was die eigentliche Täuschung ist.
({3})
Es ist heute wieder so gewesen: Die Opposition hat kritisiert, die Grünen, die SPD und die Linken; sie tun das
sowieso immer. Hat der Zuhörer, hat der Zuschauer
heute von Ihnen einen einzigen Ausgabenkürzungsvorschlag gehört?
({4})
Hat er ein einziges Mal gehört, dass Sie bereit sind, den
Bürgern zu sagen, wo wir sparen müssen?
({5})
Nein! Das können Sie nämlich nicht. Das ist weiterhin
kennzeichnend für den Unterschied zwischen der Opposition und der Koalition:
({6})
Wir machen beides. Wir sanieren die Haushalte; aber wir
sind auch bereit, dem Bürger zu sagen: Ja, es gibt Einschnitte. - Das ist der Unterschied zu Ihnen, die Sie hier
eben nicht der Dr. Jekyll sind, sondern Sie sind Mr.
Hyde.
({7})
Was haben wir auch heute wieder erlebt? Schauen Sie
sich doch einmal die Tagesordnung an: Es gab heute keinen einzigen Tagesordnungspunkt in diesem Plenum, wo
seitens der Opposition nicht kam: Hier müssen wir mehr
ausgeben; da müssen wir dem Bürger mehr Geld aus der
Tasche nehmen; dort ist zu wenig Geld vorhanden. Dann
diese Aussage von der SPD: Die Koalition spart nicht
genug.
({8})
Gleichzeitig rennen Sie aber herum und sagen: Die Koalition spart zu viel. Jetzt können wir darüber streiten.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich will Ihnen einmal eines sagen: Ich kenne kein
Land in Europa, außer vielleicht Liechtenstein,
Luxemburg und die Schweiz, das nicht gern unsere
Haushaltszahlen hätte. Ich kenne die Bestätigung durch
die OECD, dass wir die richtigen Sparmaßnahmen
durchführen. Dann hier zu sagen, wir machten es nicht
richtig, ist lächerlich, wenn man auf der anderen Seite
Ihre weiteren Ausgabenwünsche sieht.
({9})
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Schauen Sie sich das
schöne rot-grüne Papier „Europa stärken - Weichen für
nachhaltiges Wachstum stellen“ noch einmal an. Steht
darin etwas von „Ausgaben kürzen“? Nein! Da steht:
Ausgaben erhöhen. Da ist von der Einrichtung eines Altschuldentilgungsfonds die Rede, also von etwas, was zu
nichts anderem als zu einer Zinserhöhung führen würde.
({10})
Sie, ganz besonders die Grünen, sagen immer, man
müsste den schwachen Ländern Europas doch einmal ein
bisschen helfen und ihre Zinsen senken.
({11})
- Ja. Gut. Das hat aber zur Folge, liebe Grüne - weil ihr
das immer noch nicht ganz kapiert -, dass woanders die
Zinsen steigen.
({12})
Sagen wir einmal, die Zinsen sinken in den schwachen
Ländern um 2 Prozent und steigen bei uns um 2 Prozent.
Habt ihr, liebe Grüne, eigentlich einmal ausgerechnet,
was ein Anstieg der Zinsen um 2 Prozentpunkte für den
Bundeshaushalt bedeuten würde? - 25 Milliarden Euro
Mehrausgaben. Das ist der Wunsch von Grünen und
SPD, wenn sie einen Altschuldentilgungsfonds fordern,
der hier die Zinsen und damit die Steuerlast erhöhen
würde.
({13})
Es geht bei diesem Nachtragshaushalt um eine Sache:
Es geht darum, die haushalterischen Voraussetzungen
dafür zu schaffen, dass wir in den nächsten Tagen, in den
nächsten zwei Wochen Europa stabilisieren können. Es
geht nicht darum, unterschiedliche Meinungen zu
Europa zu haben. Es geht darum, das zu haben, was wir
von Ihnen noch erwarten, was wir aber haben: eine Haltung zu Europa.
Herzlichen Dank.
({14})
Bartholomäus Kalb spricht jetzt für die CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich darf gleich da anknüpfen, wo Kollege
Otto Fricke aufgehört hat. Ich hatte manchmal den Eindruck, von der Opposition redet hier niemand über den
Nachtragshaushalt und schon gar nicht über den Anlass
des Nachtragshaushaltes.
({0})
Otto Fricke hat gerade deutlich gemacht, dass der
eigentliche Anlass ist, dass wir als Bundesrepublik
Deutschland unserer Verantwortung in und für Europa
nachkommen wollen, und zwar in einem parlamentarisch sauberen Verfahren. Der ESM, der dauerhafte
Europäische Stabilitätsmechanismus, soll nach den Vertragsentwürfen mit einem Grundkapital von 80 Milliarden Euro ausgestattet werden. Davon haben wir rund
22 Milliarden Euro zu erbringen. Weil wir wollen, dass
der ESM möglichst schnell aktiv werden kann - und
niemand kann bezweifeln, dass dies dringend notwendig ist -, sind wir bereit, bereits jetzt zwei Tranchen von
insgesamt fünf Tranchen einzuzahlen.
Deswegen haben wir diesen Nachtragshaushalt vorgelegt, haben ihn parlamentarisch beraten und wollen ihn
heute beschließen - nicht mehr und nicht weniger.
({1})
Wenn wir entgegen den ursprünglichen Planungen
bereits jetzt 8,7 Milliarden Euro einzahlen, dann ist die
logische Konsequenz, dass dies in einem Nachtragshaushalt nachvollzogen werden muss. Dass die Neuverschuldung trotzdem nicht um jene 8,7 Milliarden Euro steigt,
ist der guten Entwicklung und der wirtschaftlichen und
sparsamen Haushaltsführung des Bundesfinanzministers zuzuschreiben.
Herr Kollege Carsten Schneider, es ist unredlich,
wenn Sie sagen, es würde hier wie seinerzeit bei der Refinanzierung der HRE vorgegangen werden. Sie als Vorsitzender des Finanzierungsgremiums kennen die Struktur der Bundesverschuldung und der Strategie der
verschiedenen Laufzeiten sehr genau.
({2})
Das brauche ich Ihnen hier nicht zu erläutern.
Wir sollten vermeiden, das Vertrauen zu beschädigen,
das die Finanzanleger in die Bundesrepublik Deutschland haben.
({3})
Wir profitieren davon in hervorragender Weise. Das ist
gut für uns, das muss aber - das sage ich auch ganz offen - keineswegs so bleiben. Wir haben allen Grund, darauf zu achten, dass das Vertrauen in Deutschland weiterhin aufrechterhalten bleibt. Das ist zu unserem
Vorteil, das ist aber auch zum Vorteil ganz Europas, der
gesamten Euro-Zone.
({4})
Ich habe schon gesagt, dass die Neuverschuldung
nicht in dem Maße, in dem wir jetzt in den ESM einzahlen, erhöht werden musste, weil wir eine günstige Situation haben. Wir konnten deswegen im Rahmen des
Nachtragshaushaltsverfahrens die Neuverschuldung
weiter reduzieren. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass
wir sparsam und wirtschaftlich mit den Steuergeldern
des Bürgers umgehen.
In Europa wird es darauf ankommen, dass wir anderen Solidarität zuteil werden lassen. Die Bundesrepublik
Deutschland braucht ihr Licht diesbezüglich nicht unter
den Scheffel zu stellen. Aber auch andere müssen ihre
Aufgaben und Verpflichtungen erfüllen.
Deswegen gehören für uns der Europäische Stabilitätsmechanismus einerseits und der Fiskalpakt andererseits eng zusammen.
({5})
Die Stabilisierung Europas kann nur gelingen, wenn beides gemeinsam gemacht wird, wenn auch andere ihre
Aufgaben erfüllen, wenn nicht Wohltaten verteilt werden, wenn nicht mehr konsumtive Ausgaben getätigt
werden, sondern wenn strukturelle Reformen durchgeführt und Zukunftsinvestitionen vorgenommen werden.
({6})
Wir sind diese Politik auch unserer nachkommenden
Generation schuldig. In allen westlichen Industrieländern haben wir ein riesiges demografisches Problem, das
wir nicht aus den Augen verlieren dürfen.
Dann will ich noch ein Wort zu dem Katastrophenszenario sagen, das Kollege Schneider mit dem Begriff
„Bankrotterklärung“ beschrieben hat.
Herr Kollege, Sie denken aber an die Redezeit?
Ich bin sofort am Ende. - Viele Staaten in Europa
wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten, wenn sie
unsere Haushaltszahlen hätten, wenn sie unsere Wirtschaftsdaten hätten, wenn sie unsere Arbeitslosenquote
hätten, wenn sie unsere Beschäftigungsquote hätten,
wenn sie unsere Einnahmesituation hätten und wenn sie
auch die Stabilität unserer Sozialsysteme hätten. Deswegen kann ich es nicht mehr ertragen, wenn man sich
nicht einmal mehr über gute Entwicklungen in Deutschland freuen darf. Es gilt, dies gemeinsam für die Zukunft
zu sichern.
Herr Kollege.
Auch wir sind nicht davor gefeit, dass sich durch konjunkturelle Entwicklungen Situationen ergeben, die uns
noch mehr Kopfzerbrechen machen. Schauen wir, dass
wir die Dinge zusammenhalten - im Interesse unserer
Währung, im Interesse unserer Stabilität.
Herzlichen Dank.
({0})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaus-
halt für das Jahr 2012. Dazu liegen uns persönliche Er-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
klärungen nach § 31 der Geschäftsordnung der Kollegen
Schäffler, Willsch und Manfred Kolbe vor1).
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 17/9650 und
17/9651, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
den Drucksachen 17/9040 und 17/9649 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
über den Änderungsantrag auf Drucksache 17/9960
positiv ab? - Wer stimmt dagegen?
({0})
- Anscheinend ist es hier ein bisschen laut. Ich weiß
auch nicht, wie das kommt.
({1})
Wir machen das noch einmal. Auf Drucksache 17/9960
finden wir einen Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die
Enthaltungen! - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Die
Oppositionsfraktionen haben zugestimmt, die Koali-
tionsfraktionen haben dagegen gestimmt.
Jetzt bitte ich diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! -
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU und FDP angenommen;
SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen
gestimmt.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Über den Gesetzentwurf stim-
men wir in dritter Beratung jetzt namentlich ab. Die
Schriftführerinnen und Schriftführer haben schon begon-
nen, ihre Plätze einzunehmen. Sind denn alle Urnen
besetzt? - Das ist noch nicht der Fall. - Sind jetzt alle
Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Dann
eröffne ich die Abstimmung.
Ist noch jemand anwesend, der, aus welchen Gründen
auch immer, seine Stimmkarte nicht losgeworden ist? -
Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt
gegeben2).
Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zu
den Entschließungsanträgen. - Bitte nehmen Sie Ihre
Plätze ein. Wir beginnen mit dem Entschließungsantrag
der SPD auf Drucksache 17/9961. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Die
Enthaltungen! - Was macht die Linke? Hat die Linke
den Saal verlassen? - Dieser Antrag ist insgesamt abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion.
Abgelehnt haben den Antrag die Koalitionsfraktionen
und die Linke. Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Jetzt kommen wir zum Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9962. Wer stimmt
dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! Der Antrag ist ebenfalls abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion. Alle anderen Fraktionen waren dagegen.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9963. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Damit ist
dieser Entschließungsantrag ebenfalls abgelehnt bei
Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Dagegen
haben die Koalitionsfraktionen und die Linke gestimmt.
Die SPD hat sich enthalten.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Energiewende und
Klimaschutz solide finanzieren - Nachtragshaushalt nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9911, den Antrag auf Drucksache 17/8919 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen.
Dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. SPD
und Linke haben sich enthalten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Hans-Christian Ströbele, Dr. Konstantin
von Notz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von
Transparenz und zum Diskriminierungsschutz
von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern
({2})
- Drucksache 17/9782 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Federführung strittig
Vorgesehen ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Ingrid Hönlinger hat jetzt
das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
1) Anlagen 5 und 6
2) Ergebnis Seite 21967 C
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im Moment findet in Polen und in der Ukraine die Fußball-EM statt. Bei jedem Spiel steht ein Mann mit einer
Pfeife auf dem Platz. Wenn ein Spieler die Regeln verletzt, also ein Foul begeht, dann hat dieser Mann die
Aufgabe, zu pfeifen, das Spiel zu unterbrechen und auf
die Regelverletzung hinzuweisen.
Von dieser Aufgabenstellung, Regelverletzungen hörbar zu machen, leitet sich der Begriff Whistleblowing
ab. Regelverletzungen gibt es nicht nur auf dem Fußballfeld; Regelverletzungen und Missstände gibt es in vielen
gesellschaftlichen Bereichen. Die Öffentlichkeit hat von
Missständen in Pflegeheimen, vom Verkauf von Gammelfleisch oder von Sicherheitsproblemen in Atomkraftwerken oft erst erfahren, nachdem mutige Menschen
- teilweise anonym - darauf hingewiesen haben.
Eines muss klargestellt sein: Diese Menschen sind
keine Verräter - im Gegenteil; diese Menschen zeigen
Mut und Zivilcourage. Sie übernehmen Verantwortung
für das Gemeinwohl und damit für unsere Demokratie.
({0})
Diese Menschen müssen wir vor innerbetrieblichen Repressionen schützen.
Wenn Sie Verantwortliche in Betrieben oder Einrichtungen fragen, ob es dort interne Möglichkeiten für kritische Äußerungen von Mitarbeitern gibt - ComplianceAbteilungen -, so sagen die meisten selbstverständlich
Ja. Bei genauerer Nachfrage wird jedoch klar, dass es
diese Möglichkeit oft nur auf dem Papier gibt. Häufig
werden diese kritischen Menschen drangsaliert oder sogar entlassen. Dem müssen wir vorbeugen.
Wir Grünen legen Ihnen heute einen Gesetzentwurf
vor, der die Anliegen aller Beteiligten optimal miteinander verbindet und der sich gut in die bestehende Gesetzeslage im Arbeits- und Beamtenrecht einpasst. Kernstück unseres Gesetzentwurfs ist ein Anzeigerecht.
Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber können sich zuerst an den Arbeitgeber bzw. an den Dienstherrn oder an
eine vertrauliche interne Stelle wenden - das kann der
Betriebsrat oder der Personalrat sein -, wenn diese Arbeitnehmer oder Beamte konkrete Anhaltspunkte für die
Verletzung von rechtlichen Pflichten haben.
Ausnahmsweise können Hinweisgeber sich auch an
eine externe Stelle wenden, zum Beispiel an eine Strafverfolgungs- oder Ordnungsbehörde, wenn keine Abhilfe erfolgt. Das Gleiche gilt, wenn ein internes Abhilfeverlangen unzumutbar ist, weil Straftaten begangen
werden oder weil ein wichtiges Rechtsgut gefährdet ist;
also beispielsweise Leben, Körper, Gesundheit, Persönlichkeitsrecht, Freiheit der Person, Stabilität des Finanzsystems oder Umwelt.
In ganz besonders extremen Fällen sollen Whistleblower auch direkt an die Öffentlichkeit gehen können.
Hier muss jedoch das öffentliche Interesse am Bekanntwerden der Information das betriebliche Interesse an der
Geheimhaltung erheblich überwiegen. Um es zu verdeutlichen: Wenn Menschen durch Gammelfleisch oder
verdorbene Babynahrung gefährdet werden, so ist es eigentlich nicht nur ein Recht, sondern nachgerade eine
Pflicht, darauf hinzuweisen.
({1})
Der Schutz von Menschen hat Vorrang.
Mit diesem fein abgestuften Verfahren können wir einerseits Missstände zum Schutz der Beschäftigten und
der Öffentlichkeit aufdecken, andererseits aber auch die
Interessen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite angemessen berücksichtigen. Nun werden Sie auf der Regierungsseite vielleicht sagen: Das brauchen wir nicht;
das ist unnötig. - Wenn Sie aber genau hinschauen, dann
werden Sie feststellen, dass es Regelungen nur vereinzelt im Beamtenrecht gibt; der Rest sind Gerichtsurteile.
Das bietet keine ausreichende Rechtssicherheit. Dies
zeigt der Fall der Berliner Altenpflegerin Brigitte
Heinisch ganz plastisch: Ihr wurde gekündigt, weil sie
Missstände in einem Pflegeheim veröffentlicht hatte. Sie
musste bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen, bis festgestellt wurde, dass die Kündigung unrechtmäßig war.
({2})
Das war eine juristische Ohrfeige für die deutsche Justiz.
({3})
Wir Grünen wollen, dass sich die rechtliche Situation
bessert, und zwar schnell.
Jetzt wird es pikant. Diese Bundesregierung hat sich
international mit dem Antikorruptionsaktionsplan der
G-20-Staaten vom November 2010 zum Schutz von
Hinweisgebern bekannt und angekündigt, sie werde bis
Ende 2012 Regeln zum Whistleblowerschutz erlassen
und umsetzen.
({4})
Meine Damen und Herren von der Regierungsbank, es
passt einfach nicht zusammen, international den verbalen Vorreiter zu geben und national zu mauern.
({5})
Da müssen Sie sich schon entscheiden, entweder für eine
nationale Regelung zum Schutz von Hinweisgebern oder
für eine Erklärung auf internationaler Ebene, dass Sie
das in Wirklichkeit gar nicht wollen. Wir Grünen machen dieses doppelte Spiel nicht mit. Wir wollen Taten
sehen.
({6})
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch zu unserer eigenen Sicherheit Menschen mit Zivilcourage und
Verantwortungsgefühl, mit dem Mut, Konflikte anzusprechen und auszuhalten. Diesen Menschen müssen wir
staatlichen Schutz und Rückendeckung geben. Zivilcourage ist ein Qualitätsmerkmal einer lebendigen und gelebten Demokratie.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Nachtragshaushaltsgesetz 2012 bekannt: abgegebene Stimmen 555. Mit Ja haben gestimmt 300, mit
Nein haben gestimmt 254, Enthaltungen 1. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 555;
davon
ja: 300
nein: 254
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Norbert Barthle
Günter Baumann
({0})
Manfred Behrens ({1})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({7})
Dr. Norbert Lammert
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({10})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({15})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({18})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({22})
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({23})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({24})
Michael Link ({25})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({26})
Dr. Martin Neumann
({27})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
({28})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({29})
Nein
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
Manfred Kolbe
Klaus-Peter Willsch
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Lothar Binding ({30})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({31})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({32})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({33})
Hubertus Heil ({34})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({35})
Frank Hofmann ({36})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({37})
Fritz Rudolf Körper
Christine Lambrecht
Christian Lange ({38})
Dr. Karl Lauterbach
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({39})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Michael Roth ({40})
({41})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({42})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({43})
Werner Schieder ({44})
Ulla Schmidt ({45})
Carsten Schneider ({46})
Swen Schulz ({47})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({48})
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Diana Golze
Heike Hänsel
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({49})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({50})
Volker Beck ({51})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Undine Kurth ({52})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({53})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({54})
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Markus Tressel
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Enthalten
CDU/CSU
Wolfgang Bosbach
Als nächster Redner hat nun der Kollege Ulrich
Lange von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({55})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Obergerichtliche Entscheidungen sowohl des Bundesverfassungsgerichts als auch europäischer Gerichte, die
besonders im Fokus der Öffentlichkeit stehen, führen bei
uns hier in diesem Hause nahezu immer zu reflexartigen
gesetzgeberischen Initiativen. Genau so kann man auch
diesen Entwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eines Whistleblower-Schutzgesetzes werten.
Vor knapp einem Jahr sorgte eine Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für mediale Aufmerksamkeit, unter dem Motto: Kündigung
nach Whistleblowing verstößt gegen Grundrecht auf
Meinungsfreiheit. Sofort folgte die übliche politische
Reflexhandlung auf eine Einzelfallentscheidung: Sie
wird quasi zu einer Gesetzeslücke hochstilisiert und
politisch instrumentalisiert.
Worum ging es in diesem Fall konkret? Die Kollegin
hat es schon kurz zusammengefasst: Die Klägerin, in einem Altenheim beschäftigt, hat vermeintliche Missstände festgestellt
({0})
und anwaltlich in einem internen Beschwerdeschreiben
darauf hingewiesen. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung wurde eingeschaltet. Der Arbeitgeber
hat diese Beschwerden zurückgewiesen. Es kam dann
erst - ich sage jetzt einmal: warum auch immer - zu einer krankheitsbedingten Kündigung und später wegen
eines Flugblatts zu einer fristlosen Kündigung. So stellt
sich der Sachverhalt differenziert und im Detail dar.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
stellte in seiner Entscheidung fest, dass er keine Zweifel
an den guten Absichten der Klägerin habe, weshalb ihre
Strafanzeige in den Geltungsbereich des Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention falle, also von
der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Die Vorinstanzen, insbesondere das LAG Berlin, subsummierten - ich betone:
subsummierten - diesen Sachverhalt anders. Betrachtet
man die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
differenzierter, so zeigt sich nämlich eines: Die rechtlichen Kontrollmaßstäbe, die sowohl das LAG als auch
das Bundesverfassungsgericht in dem Fall unter die
Lupe nahmen, waren die gleichen. Die Kontrollmaßstäbe hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte also bestätigt. Er hat damit zum einen festgestellt,
dass kein absoluter Schutz von Whistleblowing jeder Art
besteht.
({1})
Zum anderen hat er festgestellt, dass in seiner Abwägung das öffentliche Interesse und die gute Absicht der
Arbeitnehmerin und der nicht vorhandene Vorsatz einer
falschen Tatsachenbehauptung höher oder anders zu
werten sind, als dies das LAG Berlin gemacht hat.
Wir sprechen lediglich über eine Subsumtion, nicht
über eine Gesetzeslücke.
({2})
Wir sprechen darüber, wie sich die verfassungsrechtlichen Vorschriften, die wir haben - Art. 12 GG, Gewerbebetrieb und Unternehmerfreiheit, Art. 5 GG, Meinungsfreiheit -, gegenüberstehen. Allen beteiligten
Gerichten war in ihrer Abwägung oder Subsumtion immer klar, dass es ein Zusammenspiel zwischen Anzeigerecht auf der einen Seite und Rücksichtnahmepflicht auf
der anderen Seite gibt. Wir bewegen uns also, wie ich
eben aufgezeigt habe, im Rahmen einer Grundrechtskonkordanz. Es stellt sich die Frage: Rechtfertigt dieser
Einzelfall tatsächlich gesetzgeberisches Vorgehen? Wir
sagen deutlich: Nein, das glauben wir nicht,
({3})
weil wir ausreichende Normen in unserem Arbeitsrecht
haben. Ich verweise zum einen auf § 612 a BGB - Sie
wollen einen § 612 b anfügen, in dem Sie die Kontrollmaßstäbe, die die Gerichte bei uns angewendet haben, in
einen normativen Text fassen, zumindest zum Teil -,
({4})
und wir haben zum anderen § 17 Abs. 2 Arbeitsschutzgesetz. Auch hier sehen wir, dass es bereits die Möglichkeit der außerbetrieblichen Anzeige und Beschwerde
gibt. Nichtsdestotrotz haben wir zunächst den Vorrang
des innerbetrieblichen Abhilfeversuchs.
Es bedarf auch keiner gesetzlichen Neuregelung, weil
nur entscheidend ist, dass die Arbeitnehmerin, der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Anzeige von der Richtigkeit der eigenen Tatsachenbehauptung ausgehen durfte.
Ähnliche Regeln müssen - Sie sprechen die Fälle an,
über die verstärkt in den Medien berichtet wurde - auch
für die Fälle gelten, die in den Medien besonders groß
aufgezogen werden. Hier gilt ein strengerer Maßstab;
denn ein mediales, öffentliches Interesse des Arbeitnehmers wird wohl schwer anzunehmen sein.
Anstatt neue gesetzliche Regelungen zu suchen, halten wir interne Hinweisgebersysteme, die in den Betrieben selber geschaffen werden sollen, für sinnvoller;
denn eines hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte klar festgestellt: Die interne Klärung hat
grundsätzlich Vorrang vor der externen. Dies dient nicht
nur der zeitnahen Aufdeckung,
({5})
sondern es dient auch dazu, Rufschädigungen und Strafanzeigen vorzubeugen.
Ein positives Beispiel hatten wir in der Anhörung.
Die Firma Siemens hat ein eigenes, sehr ausgefeiltes
Regelwerk geschaffen. Frau Kollegin, Sie haben das
Thema Korruption angesprochen. In diesem Zusammenhang wird die internationale Komplexität der Angelegenheit besonders deutlich. Der Fall der Altenpflegerin
im Seniorenheim hat nichts mit dem Thema Korruption
zu tun. Wir müssen also genau differenzieren. Korruptionsstraftaten, gerade in internationalen Konzernen, lassen sich mit nationaler Gesetzgebung - ich glaube, darüber sollten wir uns in diesem Hause einig sein sicherlich nicht lösen.
({6})
Meine Fraktion - das gilt auch für mich persönlich hat weiterhin großes Vertrauen in unsere Arbeitsgerichte
und in die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung. Fehlerhafte oder unterschiedliche Abwägungsprozesse oder
Entscheidungen auf der Subsumtionsebene allein rechtfertigen ein neues Gesetz sicherlich nicht. Sie rechtfertigen auch nicht den Reflex, in diesem Hause etwas Neues
zu fordern.
({7})
Es geht um eine Einzelfallentscheidung.
({8})
Die Stärke unseres Rechtssystems besteht aber darin,
Lebenssachverhalte, von denen wir wirklich ausreichend
haben, unter bestehende Normen zu subsumieren, und
zwar mit einer gefestigten Rechtsprechung. Dies kann
man im Rahmen des deutschen Arbeitsrechts bieten.
Deswegen sind wir sicher, dass wir Hinweisgebern den
Schutz bieten können, den sie dringend benötigen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Tack von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich glaube, man muss
sehr weit von der Realität entfernt sein, wenn man meint,
wir würden hier über Einzelfälle reden wollen. Es ist
doch ganz klar - das hat die Anhörung sehr deutlich bewiesen -: Wir reden hier über ein Phänomen. Es gibt
viele Entlassungen bzw. Jobverluste, weil dieser Regelungsbedarf von der Bundesregierung konsequent ignoriert wird.
Nicht ohne Grund hat sich die Bundesregierung im
Rahmen des G-20-Treffens in Seoul vor zwei Jahren verpflichtet - darauf hat meine Kollegin schon hingewiesen -, bis zum Ende dieses Jahres eine Regelung vorzulegen. Ich weiß gar nicht, warum Sie meinen, wir hätten
hier überhaupt keinen Regelungsbedarf. Schließlich hat
die Bundeskanzlerin entsprechende Zusagen formuliert.
({0})
Darüber müssen Sie in Ihren Reihen vielleicht noch einmal diskutieren und erläutern, wie man damit umgehen
möchte, dass man international eine Verpflichtung eingegangen ist, die man auf nationaler Ebene aber nicht sehen will.
Es ist gut, dass wir heute erneut über dieses Thema reden; denn viele Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben warten darauf, dass es Rechtssicherheit gibt und die
Unsicherheit, die im Moment diesbezüglich auf dem Arbeitsmarkt herrscht, beseitigt wird. Wir müssen schnellstmöglich dafür sorgen, dass man, wenn man Missstände
im eigenen Betrieb offenlegt, nicht den eigenen Arbeitsplatz gefährdet.
({1})
In der Anhörung, die wir dazu im März dieses Jahres
durchgeführt haben, hat kein Sachverständiger das ernsthaft bestritten, ganz im Gegenteil. Als wir im September
des letzten Jahres über den Gesetzentwurf der SPD zu
diesem Thema gesprochen haben, haben wir uns alle natürlich auch auf den Fall der Altenpflegerin bezogen.
Aber es gibt auch andere bedeutende Fälle.
Ich will dazu einmal Folgendes sagen: Herr Seehofer
hat im Jahr 2007 den Fahrer des Lkw, der den größten
Gammelfleischskandal in der Geschichte Deutschlands
aufgedeckt hat, mit einer Medaille des Landwirtschaftsministeriums geehrt und als Konsequenz einen Gesetzentwurf zur Regelung des Informantenschutzes initiiert.
Diese Initiative kam bei den eigenen Leuten aber nicht
durch. Im Gegenteil, es wurde sogar gesagt, dass dadurch dem Denunziantentum Vorschub geleistet würde.
Angesichts dessen muss ich sagen: Das ist beschämend.
({2})
- Das ist nicht heute von Ihnen gesagt worden, aber damals ist das gesagt worden. Sie haben das nicht gesagt.
Das ist sogar im September noch gesagt worden. Ich
finde das wirklich skandalös.
({3})
Ihr Innenminister Friedrich hat im Oktober des letzten
Jahres den XY-Preis des ZDF an genau diesen Lkw-Fahrer verliehen, der nach Ihrem Verständnis ein Denunziant ist. Der Innenminister hat ihn als Mensch, der ganz
besonders couragiert handelt, ausgezeichnet. Er sagt:
Genau solche Leute braucht die Zivilbevölkerung.
({4})
Aber dieser Fahrer hat seinen Job verloren. Das zeigt
doch ganz deutlich, dass hier Regelungsbedarf besteht
und dass es eben nicht darum geht, Betriebsgeheimnisse
nach außen zu posaunen, sondern darum, vor Gesundheitsschäden, vor Gefahren für Leib und Leben und auch
vor Gefahren für die Umwelt zu schützen. Wir brauchen
diese Hinweisgeber. Wir sind doch froh um jeden, der
mit offenen Augen durch den Betrieb geht und bemerkt,
dass es eine Situation gibt, die man nach innen gar nicht
kommunizieren kann, weil das viel zu gefährlich ist.
Deshalb brauchen wir Stellen, an die man sich wenden
kann und bei denen man Gehör findet. Dies dient dem
Schutz der Allgemeinheit, aber auch dem Schutz des eigenen Arbeitsplatzes.
({5})
Da sind wir bisher nicht richtig aufgestellt.
Unser Vorschlag unterscheidet sich von dem Vorschlag der Grünen in einigen Punkten ganz erheblich.
Wir halten es nicht für ausreichend, ausschließlich im
BGB Regelungen vorzunehmen, die erst einmal darauf
fußen, dass man nach innen in den Betrieb kommunizieren muss, bevor man sich an externe Stellen, an Aufsichtsbehörden, an die Polizei, die Staatsanwaltschaft
oder wen auch immer wenden darf. Ich glaube, dass
nicht jeder zum Zeitpunkt des Erkennens eines Missstandes schon abschätzen kann, wie groß dessen Tragweite
ist. Deswegen muss es möglich sein - in diesem Punkt
unterscheiden wir uns sehr -, sich auch bei einem Verdacht an externe Stellen zu wenden, ohne eine betriebliche Erstuntersuchung vorzuschalten.
Wir unterscheiden uns auch sehr deutlich in der Beurteilung der Frage, ob es nicht nur Kündigungsschutz,
sondern auch Leistungsverweigerungsrechte und Schadensersatzansprüche geben sollte. All diese Fragen müssen geregelt werden, gerade weil wir nicht in jedem Fall
sicherstellen können, dass Beschäftigte nicht aufgrund
anderer Umstände später im Betrieb Schwierigkeiten bekommen. Deshalb muss der Schutz sehr weitreichend
sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich das noch
sagen darf: Es ist ein bisschen zynisch, dass vonseiten
der Regierungskoalition gesagt wird, dass hier überhaupt
kein Handlungsbedarf besteht, dass wir in Deutschland
in dieser Hinsicht eigentlich ganz prima aufgestellt sind
und dass es bestimmt gute Gründe gibt, wenn Hinweisgeber später ihren Job verlieren. Denn das Bundeskartellamt - immerhin eine Bundesbehörde; das kann man
nicht ganz ignorieren - hat zum 1. Juni dieses Jahres
eine Internetseite für anonyme Hinweisgeber freigeschaltet. Ich finde das interessant. Sie sehen ja keinen
Handlungsbedarf, wieso hat das Bundeskartellamt dann
vor zwei Wochen diese Seite freigeschaltet? Weil man
der Meinung war, dass es hilfreich sein kann, dass das
Bundeskartellamt anonyme Hinweise bekommt.
Vielleicht ist das für Sie als Regierungskoalition eine
Gelegenheit, noch einmal miteinander ins Gericht zu gehen und zu überlegen, ob es nicht doch sinnvoll wäre,
entsprechende Regelungen vorzunehmen. Verdammt
viele Leute in den Betrieben warten darauf. Es ist unsere
Aufgabe, sie vernünftig zu schützen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Golombeck von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Damen und Herren! Anlass unserer heutigen
Diskussion ist ein Gesetzentwurf der Grünen zum
Schutz von Whistleblowern. Dieser Gesetzentwurf soll
Transparenz fördern und Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber vor Diskriminierung schützen. Es ist nicht das
erste Mal, dass wir zu diesem Thema debattieren. Nachdem bereits im September letzten Jahres ein Antrag der
Fraktion Die Linke zum Thema Whistleblowing auf der
Tagesordnung stand, wagte auch die SPD mit einem Gesetzentwurf zum Schutz von Hinweisgebern einen neuen
Vorstoß. Schon damals wurden die gesellschaftliche Anerkennung des Whistleblowings und damit verbunden
ein Schutz von Whistleblowern, also Hinweisgeberinnen
und Hinweisgebern, gefordert. Es ist auch ein großes
Anliegen dieser Regierungskoalition, den sogenannten
Whistleblowern ausreichenden Schutz und eine besondere Wertschätzung einzuräumen.
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass es in Deutschland zunehmend gelungen ist, die große Bedeutung von
Whistleblowern in der Öffentlichkeit und in Unternehmen zu verankern - ein Thema, über das in regelmäßigen Abständen neu diskutiert wird.
({0})
Dabei geht es keineswegs um Lappalien. Das unterstreicht auch das große mediale Echo, wenn Korruptions- oder Gammelfleischskandale aufgedeckt werden.
Positiv gesehen steht der Begriff Whistleblowing für
Verantwortungsbewusstsein und Zivilcourage. Genau
hier möchte ich ansetzen: Das Ziel verantwortungsvoller
Whistleblower besteht darin, Transparenz und Publizität
herzustellen, um bestehende Risiken oder Missstände zu
problematisieren und sie damit letztlich zu beheben. Die
Zivilcourage dieser Menschen steht im Vordergrund; sie
muss ganz klar gewürdigt werden. Als Gegenzug zu ihrem Streben nach Recht und Gerechtigkeit müssen
Whistleblower teilweise soziale Isolation, Anfeindungen
und arbeitsrechtliche Maßnahmen bis hin zur fristlosen
Kündigung hinnehmen. Dies kann zu einer erheblichen
Verunsicherung potenzieller Hinweisgeber führen. Dagegen muss natürlich etwas getan werden.
Wegweisend für eine positive Entwicklung des
Whistleblowings ist das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Juli 2011, das
wir sehr begrüßen. Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat hier eine Abwägung zwischen den
Interessen des Arbeitgebers und der Notwendigkeit, den
Ruf des Arbeitgebers zu schützen, dem Recht des Arbeitnehmers auf Freiheit der Meinungsäußerung und
dem öffentlichen Interesse an der Information vorgenommen. Ebendieser Fall brachte in Deutschland eine
gewisse Wende. Die Kritik an einer fehlenden gesetzlichen Regelung zum Whistleblowing setzt genau hier an
und verdeutlicht, dass unsere Gesetzeslage zum Schutz
von Whistleblowern ausreichend ist.
({1})
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
in seiner Entscheidung die bisherige Rechtsprechung
und die geltende Rechtslage in Deutschland grundsätzlich gebilligt. Er hat ebenso den Grundsatz des Vorrangs
eines innerbetrieblichen Klärungsversuchs bekräftigt.
({2})
Gerade aus Respekt vor den Mitarbeitern und aus Gründen der Achtung der Mitarbeiter untereinander sollte
grundsätzlich eine innerbetriebliche Klärung gesucht
werden. Nur bei Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne oder die Allgemeinheit kann auf eine innerbetriebliche Klärung verzichtet werden. So soll es auch bleiben.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen will diesen Grundsatz ausweiten. So sollen zum Beispiel Strafanzeigen auch ohne vorherige interne Meldung möglich
sein, wenn der Arbeitnehmer aufgrund konkreter Anhaltspunkte gutgläubig vom Vorliegen einer Straftat ausgeht, wobei er seine Gutgläubigkeit insoweit nicht mehr
selbst beweisen muss. Eine Beweislastverteilung zugunsten des Arbeitnehmers zielt hier zwar auf einen
möglichen Whistleblower-Schutz ab.
({3})
Fraglich ist jedoch, ob damit auch die gegenseitigen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber geschützt
bleiben. In ihrem Gesetzentwurf sprechen die Grünen
außerdem von dringendem Handlungsbedarf nach dem
Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom letzten Sommer. Diesen Handlungsbedarf sehen wir gerade nicht.
Es gibt bereits eine Vielzahl von Vorschriften, die den
Arbeitnehmer zur Anzeige der Verletzung gesetzlicher
Pflichten durch den Arbeitgeber ermächtigen. Neben bereits existierenden Anzeigerechten und verfassungsrechtlichen Vorschriften - sie wurden schon erwähnt - gilt
§ 612 a des Bürgerlichen Gesetzbuchs als allgemeiner
Schutz für Hinweisgeber. Von der Rechtsprechung werden die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
dabei gleichermaßen berücksichtigt. Sie schützt einerseits die Persönlichkeitsrechte und sichert andererseits
die innerbetriebliche vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Änderungen im Bürgerlichen Gesetzbuch und in anderen
Gesetzen, wie hier gefordert, halten wir daher nicht für erforderlich.
({4})
Wir begrüßen die zunehmend offene Diskussionskultur im Hinblick auf Missstände in Betrieben, die dem
Schutz von Whistleblowern dient. Mittlerweile können
viele Unternehmen Möglichkeiten zur Meldung innerbetrieblicher Missstände vorweisen. Ebenso hat sich eine
Vielzahl von Unternehmen für eine betriebliche Regelung zum Whistleblowing entschieden. Man mag diese
Entwicklung begrüßen, immer wieder Lücken finden
oder die Gesetzeslage kritisieren: Entscheidend ist, das
Whistleblowing in Öffentlichkeit und Unternehmen weiter zu thematisieren und es nicht ins Abseits geraten zu
lassen.
Wichtiger als eine gesetzliche Regelung dürfte es
letztlich sein, dafür zu sorgen, dass Whistleblowing als
Teil einer konstruktiven Unternehmenskultur gelebt
wird. Das können Gesetze ohnehin nur bedingt leisten.
Vielen Dank.
({5})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Karin Binder das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! 2004 deckte eine mutige
Frau unwürdige Zustände in einem Pflegeheim auf.
Hilfsbedürftige Menschen wurden wochenlang nicht
geduscht, waren mangelernährt und ohne Aufsicht. Daraufhin wurde der Altenpflegerin gekündigt - fristlos.
Ende Mai 2012, also acht Jahre später, erstritt sich
diese mutige Frau eine Abfindung - nach einem jahrelangen, kräftezehrenden Prozess und letztendlich nach
dem Gang vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie erstritt sich eine Entschädigung für den
Verlust des Arbeitsplatzes, aber ganz bestimmt keine
Wiedergutmachung für die Anfeindungen und dafür, was
diese Frau noch alles durchmachen musste. Aber sie
erreichte doch noch einiges mehr, nämlich die Feststellung, dass Whistleblowing, das Aufdecken von Missständen in Unternehmen und Behörden, nach Auffassung der EU-Richter ein Grundrecht ist.
Ob die Aufdeckung eines Gammelfleischskandals,
die Veröffentlichung der ersten BSE-Fälle oder die
Bekanntmachung des Versorgungsnotstandes in Krankenhäusern: Trotz der unbestrittenen Verdienste für die
Gesellschaft verloren viele der Hinweisgeberinnen und
Hinweisgeber ihren Arbeitsplatz. Für die Linke ist das
Eintreten dieser mutigen Menschen für die Gesellschaft
Zivilcourage. Die Christliche Union bezeichnet diese
couragierten Leute dagegen als Denunzianten. Da kann
ich nur sagen: Schämt euch!
Wir sagen ausdrücklich: Whistleblowerinnen und
Whistleblower müssen durch das Gesetz geschützt werden. Mit unserem Antrag „Die Bedeutung von Whistleblowing in der Gesellschaft anerkennen - Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützen“ haben wir das schon
im vergangenen Jahr angestoßen. Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Grünen unsere Initiative nun aufgegriffen haben.
Die deutsche Bundesregierung isoliert sich in dieser
Frage allerdings, und zwar europaweit. International besteht längst Einigkeit: Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber brauchen Schutz. Die G-20-Staaten beschlossen
Ende 2011 auf ihrem Gipfel in Cannes, dass alle Mitglieder bis Ende 2012 gesetzliche Vorschriften zum Schutz
von Whistleblowern einzuführen haben. Die Linke fragt:
Wo bleibt der Gesetzentwurf der schwarz-gelben Bundesregierung?
Bei dem Gesetzentwurf muss es aber um einiges mehr
als um den Schutz vor Herabsetzung, willkürlicher Verfolgung und Diffamierung gehen. Unser Ziel muss es
sein, Anerkennung und eine positive Einstellung unserer
Gesellschaft gegenüber Whistleblowerinnen und Whistleblowern aktiv zu befördern. Wir brauchen eine neue Kultur: nicht weggucken und wegducken, sondern hinsehen
und sich einmischen in unserer Gesellschaft, in der Arbeitswelt, in Unternehmen und in Behörden.
Leider machen die Grünen und auch die SPD hier nur
einen halben Schritt. Statt einen eigenständigen Gesetzentwurf vorzulegen, sollen im Wesentlichen das Bürgerliche Gesetzbuch und die Beamtengesetze angepasst
werden.
({0})
Damit bleibt aber die große und stetig wachsende
Gruppe der untypisch Beschäftigten außen vor: alle sogenannten Selbstständigen - die Scheinselbstständigen
und Zwangsselbstständigen, die zum Beispiel als Niedriglöhner mit Werkverträgen bei Paketdienstleistern beschäftigt werden -, Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
und Praktikantinnen und Praktikanten. All diese werden
von den Regelungen, die jetzt vorgeschlagen sind, nicht
erfasst. Aber diese Gruppe wächst.
Wir brauchen darüber hinaus für Whistleblowerinnen
und Whistleblower eine unabhängige und vertrauenswürdige Beratungsstelle. Das ist ein wesentliches Element, mit dem wir die Haltung unserer Gesellschaft verändern und Zivilcourage fördern können. Mit den
Regelungen im Gesetzentwurf der Grünen wird es Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern jedoch schwergemacht, Zivilcourage zu entwickeln, wenn nämlich einfache Beschäftigte erst einmal die Pflicht haben, einen
umfassenden Nachweis zu erbringen und den internen
Beschwerdeweg zu gehen, bevor sie Missstände öffentlich machen dürfen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Fall des Gammelfleischskandals hätte ein betriebsinterner Beschwerdeweg nur sichergestellt, dass die Ekelware, pikant gewürzt, dann doch verzehrt worden wäre. Eine solche
Pflicht widerspricht auch dem Gedanken des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Urteil zum
eingangs erwähnten Fall der Altenpflegerin. Meinungsfreiheit bedeutet auch Wahlfreiheit. Als Linke wollen
wir, dass Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber Mittel
und Wege der Offenlegung von Missständen frei wählen
können. Sie müssen das Recht haben, sich auch an die
Ombudsstelle oder an die Medien wenden zu können,
wenn Eile geboten ist.
Die zehnjährige Erfahrung Großbritanniens mit einem
Whistleblower-Schutzgesetz hat gezeigt: Die große
Mehrheit der Menschen, die auf Missstände hinweisen,
zeigen diese zuallererst intern an, und das, obwohl es in
Großbritannien sehr einfach wäre, öffentliche Stellen
oder die Presse einzubeziehen. Die allermeisten Whistleblower handeln im Interesse ihres Unternehmens, der
Behörden und der Gesellschaft.
Das tat auch die Altenpflegerin Brigitte Heinisch. Ihr
möchte ich für ihren Mut und ihren ganz persönlichen
wichtigen Beitrag für die Allgemeinheit am Schluss meiner Rede ausdrücklich danken.
Ihnen danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort die
Kollegin Gitta Connemann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Brigitte
Heinisch, dieser Name ist heute schon häufiger gefallen,
und zwar zu Recht; denn es war ihre Beschwerde, die zu
der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte geführt hat. Seit dieser Entscheidung ist
das Thema Hinweisgeber - oder neudeutsch Whistleblower - auch in Deutschland in der Diskussion.
Die Opposition, heute übrigens Bündnis 90/Die Grünen, fordert ein Schutzgesetz für Hinweisgeber. Weil wir
uns sehr ernsthaft mit den Anträgen der Opposition auseinandersetzen, gerade bei einem so virulenten Thema,
fragen wir uns: Brauchen wir ein solches Schutzgesetz?
Wir sind der Auffassung: Nein, wir brauchen es nicht.
({0})
Ohne Frage: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die durch ihre Hinweise zur Aufklärung von Straftaten
beitragen, verdienen nicht nur unseren Respekt, sondern
auch unseren Schutz; denn was wären wir ohne ihre
Zivilcourage!
({1})
Gerade die Lebensmittelskandale und die Datenschutzaffäre der jüngsten Zeit haben gezeigt: Ohne die
Hinweise von mutigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern hätten die Rechtsverstöße in den Unternehmen nicht
so oder nicht so schnell aufgeklärt werden können. Deshalb auch ohne Frage: Wer sich für andere einsetzt, muss
vor Nachteilen geschützt werden.
({2})
Aber jetzt die Frage: Gibt es diesen Schutz in diesem
Land nicht? Da kommen wir zu einer anderen Bewertung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Wir glauben, es gibt genau diesen Schutz in unserem Land. Eine Vielzahl von Gesetzen enthalten
Sonderregelungen. Da sind das Arbeitsschutzgesetz, das
Betriebsverfassungsgesetz, das Bundes-Immissionsschutzgesetz und, und, und zu nennen.
Ich weiß, was Sie jetzt sagen werden: Wer soll bzw.
kann diese ganzen Gesetze kennen? Diesen Einwand
lasse ich durchaus gelten; denn auch ich sehe, dass nicht
jeder Arbeitnehmer Jurist ist, der mit einem Gesetzbuch
unter jedem Arm zur Arbeit geht. Das ist übrigens auch
gut so; das sage selbst ich als Juristin.
Das spricht für eine knappe gesetzliche Regelung an
zentraler Stelle. Ja, absolut richtig. Aber, meine Damen
und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, auch diese gibt
es schon, nämlich dort, wo sich die grundsätzlichen
Regelungen für das Arbeitsverhältnis finden, im Bürgerlichen Gesetzbuch, genauer gesagt: in § 612 a BGB. Der
Kollege Lange hat bereits dargestellt, was diese Vorschrift mit sich bringt. Das hat er umfassend und juristisch perfekt getan.
({3})
Die Vorschrift besagt, noch einmal gesagt: Kein Arbeitnehmer darf benachteiligt werden, wenn er seine
Rechte ausübt. Dazu gehört auch das Recht auf freie
Meinungsäußerung.
Schon heute ist ein sich daraus ergebendes Anzeigerecht von der Rechtsprechung anerkannt worden. Die
Arbeitsgerichte haben wiederholt über viele Jahre hinweg entschieden: Arbeitnehmer in Deutschland dürfen
einen Arbeitgeber anzeigen, der das Recht bricht. Ihnen
darf nicht gekündigt werden. Allerdings sind vor einer
solchen Anzeige Spielregeln zu beachten. Denn nur so
kann ein Unterschied zwischen tapferem Hinweisgeben
auf der einen Seite, aber auch der Gefahr des Denunziantentums auf der anderen Seite gemacht werden.
Dafür hat die Rechtsprechung in vielen Jahren folgende Kriterien entwickelt: Erstens. Der Hinweisgeber
muss sich vor einer Anzeige ernsthaft um eine innerbetriebliche Klärung bemüht haben. Er darf sich eben nicht
sofort an die Presse oder an eine öffentliche Stelle wenden. Denn auch eine falsche Anzeige kann einen großen
Schaden nicht nur für einen Betrieb, sondern auch für
einen Menschen hervorrufen. Es gibt Fälle von gescheiterten Existenzen, die durch falsche Anzeigen in Probleme gekommen sind.
Zweitens. Die Anzeige darf nicht leichtsinnig erfolgen.
Drittens. Die Anzeige darf auch nicht mit dem Ziel
erstattet werden, einem Kollegen oder einer Kollegin zu
schaden. Denn ehrlich gesagt - das müssen wir auch
erkennen - handelt nicht jeder immer aus altruistischen
Motiven. Eine Anzeige betrifft häufig auch Kollegen,
die aus Sicht des Arbeitgebers zunächst einmal genauso
schutzwürdig sind wie der Hinweisgeber. Das ist übrigens ein Aspekt, der mir nicht nur in der heutigen DeGitta Connemann
batte, sondern auch in Ihrem Gesetzentwurf zu kurz
kommt. Sie haben eine völlig einseitige Sicht: immer nur
auf den Arbeitnehmer, der den Hinweis gibt, aber niemals auf die Arbeitnehmer, die von diesem Hinweis betroffen sind. Das ist eine absolut verkürzte Sichtweise.
({4})
Ich weiß, welches Gegenargument jetzt kommen
wird. Sie werden sagen: Diese Rechtsprechung führt zu
Unsicherheiten. - Ja, auch das stimmt. Aber auch ein
Gesetz, also auch Ihr Gesetzentwurf, würde nichts daran
ändern. Denn alle Entwürfe, auch Ihrer, arbeiten mit
offenen Rechtsbegriffen, zum Beispiel mit dem Rechtsbegriff „unzumutbar“.
Ich frage Sie: Was ist unzumutbar? Was für mich
nicht unzumutbar ist, ist es vielleicht für Sie, liebe Frau
Kollegin Hönlinger, oder umgekehrt. Wer muss das im
Streitfall entscheiden? Das sind doch wieder die Gerichte. Damit wären wir dann wieder bei der Rechtsprechung. Vor diesem Hintergrund sagen wir: Dann braucht
es auch nicht ein solches Gesetz.
({5})
Im Übrigen hat sich das geschriebene Recht in
Deutschland bewährt. Denn es ermöglicht eine unterscheidende Betrachtung sich unterscheidender Sachverhalte. So kann man Interessen des Betriebes, des Hinweisgebers und der anderen Arbeitnehmer abwägen.
Zu diesem Ergebnis ist übrigens auch der Europäische
Gerichtshof gekommen. Aber auch das hat der Kollege
Lange so brillant ausgeführt, dass ich das in keiner
Weise übertreffen könnte.
({6})
Aber gerade diese Entscheidung, die Sie zitieren, um
ein Schutzgesetz zu fordern, kümmert Sie dann in der
Begründung überhaupt nicht. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat gesagt: Dass die Beweislast
in Deutschland bei dem Hinweisgeber liegt, ist nicht zu
beanstanden. Genau das wollen Sie ändern. Zukünftig
soll nach Ihrem Entwurf derjenige, der beschuldigt wird,
den Gegenbeweis antreten. Das heißt, der alte Grundsatz
der Unschuldsvermutung, in dubio pro reo, wird mit
einem Federstrich getilgt.
Damit stellen Sie nicht nur Unternehmen unter einen
Generalverdacht,
({7})
sondern Sie schaden damit in besonderer Weise dem
Arbeitnehmer, der gegebenenfalls Gegenstand des Hinweises ist. Das hat aus meiner Sicht auch nichts mit
betrieblicher Wirklichkeit zu tun. Inzwischen sind in vielen Betrieben innerbetriebliche Regelungen getroffen
worden.
Auch das hat die Anhörung sehr eindrucksvoll gezeigt. Auf diese Anhörung sind Sie ja eingegangen, Frau
Kollegin Tack. Dort haben auch Unternehmen die Regelungen dargestellt, die sie getroffen haben - übrigens in
Form von Betriebsvereinbarungen.
Solche Betriebsvereinbarungen soll es nach Ihrem
Willen aber gar nicht mehr geben. Das ist etwas, was
mich vollkommen empört.
({8})
- Doch. Dann sehen Sie sich den Gesetzentwurf an, liebe
Frau Kollegin Tack. Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen, dass dort der Satz steht, dass keine Betriebsvereinbarungen mit Betriebsräten zulasten der Hinweisgeber getroffen werden können.
Das ist für mich wirklich ein Armutszeugnis für Betriebsratsmitglieder.
({9})
Offensichtlich halten Sie die Mitglieder von Betriebsräten nicht für geeignet, passende betriebliche Regelungen
zu finden.
Da sage ich Ihnen ganz deutlich: Das ist mit uns nicht
zu machen, meine Damen und Herren von den Grünen.
Wenn ich wählen sollte, wo der gesunde Menschenverstand beheimatet ist, auf den grünen Fraktionsfluren
oder im Betriebsratsbüro, würde ich mich immer für die
Betriebsratsbüros in Deutschland entscheiden.
({10})
Ich persönlich glaube, dass der gesunde Menschenverstand dort beheimatet ist und dass unsere Betriebsräte
sehr viel besser wissen, was für die Kolleginnen und
Kollegen notwendig und angemessen ist.
Sie wissen zu unterscheiden. Das ist auch erforderlich; denn es geht - ich wiederhole das - nicht nur um
den Hinweisgeber selbst, sondern auch um die anderen
Arbeitnehmer. Sie verdienen ebenfalls Schutz.
Deshalb kommen wir zu dem Ergebnis, dass unser
Rechtssystem in ausgewogener Art und Weise genau
diesen Schutz für alle Beteiligten bietet.
({11})
Wir brauchen also keine neuen Regelungen. Schon
Montesquieu hat gesagt: „Wenn es nicht notwendig ist,
ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ So ist es. Deshalb werden wir Ihren
Gesetzentwurf ablehnen.
({12})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun das Wort die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Connemann, wissen Sie, was mich stutzig
macht? Dass Sie den gesunden Menschenverstand auf
den Fluren Ihrer Fraktion erst gar nicht gesucht haben.
({0})
Meine Damen und Herren, wir reden heute über Menschen, die gravierende Missstände entdecken und sich
nicht davor scheuen, sie aufzudecken und öffentlich zu
machen. „Wer auspackt, kann einpacken“, titelte eine
Zeitung.
Ja, das ist unsere Sorge; denn das geltende Recht
reicht nicht aus. Deshalb haben alle drei Oppositionsfraktionen Anträge oder Gesetzentwürfe vorgelegt. Im
Grunde ist es beschämend, dass weder die Bundesregierung noch die sie tragenden Fraktionen in dieser Richtung etwas getan haben.
({1})
Herr Lange, der ob seiner rechtlichen Exkurse so gelobt wurde, macht aus dem Einzelfall die Argumentation, deshalb müsse der Gesetzgeber nicht tätig werden.
Ja, so kann ich vorgehen. Ich kann jedes Problem zu einem Einzelfall erklären und sagen: Prima, wir müssen
als Gesetzgeber gar nicht handeln; hilfsweise haben wir
ja unsere Rechtsprechung.
Ich sehe das anders - und mit mir meine Fraktion.
Deshalb freuen wir uns über den Gesetzentwurf der Grünen. Meine Kollegin Tack hat schon erklärt, dass wir mit
ihnen nicht ganz einer Meinung sind. Aber wir stimmen
deutlich darin überein, dass Handlungsbedarf besteht;
denn wir möchten, dass wir in Deutschland zu einer Kultur kommen, in der jemand, der einen Missstand in seinem Betrieb erkennt, nicht erst überlegen muss: Würde
es mir schaden, wenn ich ihn öffentlich mache? - Darum
geht es. Wir wollen, dass diese Personen, die auch im Interesse der Allgemeinheit handeln, sicher sein können,
dass sie persönlich keinen Schaden davontragen. Dafür
müssen wir unsere Gesetzeslage ändern.
({2})
Ich bin mir sicher, dass das notwendig ist - nicht nur
wegen des Falls in der Altenpflege und auch nicht nur
wegen des Gammelfleischskandals, sondern in vielen
Fällen. Wir dürfen die Zivilcourage von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht nur sonntags beschwören
und nicht nur Orden verleihen, sondern müssen eine
feste Grundlage dafür schaffen, dass jemand, der einen
Missstand entdeckt, auch den Mut haben darf, diesen anzuzeigen.
({3})
Auch wir als SPD haben dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir werden ihn diskutieren und sehen, ob es
möglich sein wird, entsprechende rechtliche Regelungen
zu schaffen.
Worum geht es uns dabei insbesondere? Auch wir,
Frau Connemann, erwarten nicht, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer einen 20 Kilogramm
schweren Rucksack bei sich haben, in dem sie nicht nur
unsere Gesetze, sondern möglicherweise auch noch Gerichtsurteile mit sich herumtragen, um im entscheidenden Moment in eine Lesephase einzutreten und festzustellen:
({4})
Nein, ich kann mir nicht sicher sein, dass mir kein Nachteil erwächst. Ich lasse es lieber. - Genau das wollen wir
nicht. Statt der Rucksäcke und Beschwernisse wollen
wir ein ordentliches Gesetz. Und das muss dieses Haus
vorlegen.
({5})
Ich bin im Übrigen enttäuscht, weil bei dem Antikorruptionsgipfel die Bundeskanzlerin offenbar Handlungsbedarf gesehen hat. Wollen wir hoffen, dass das, was unsere Kanzlerin auf den Gipfeln sagt, von der Regierung
bzw. der rechten Seite des Hauses in Taten umgesetzt
wird.
({6})
Ich wünsche das in diesem Fall, und wir haben Anlass,
uns das auch in anderen Fällen zu wünschen.
({7})
Ich breche eine Lanze für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; denn bei Ihnen klingt es so an, als könnten
wir nicht sicher sein, dass die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer das aus ehrenwerten Motiven tun. Bei Ihnen klingt an: Na ja, da könnten auch Denunzianten unterwegs sein. - Schauen Sie sich den Gesetzentwurf der
Grünen und unseren Gesetzentwurf an! Wir differenzieren fein säuberlich. Wir wollen keine Kultur des Anschwärzens aus niederen Motiven - das wird schnell
unterstellt -; wir wollen vielmehr, dass jemand, der Verantwortung übernimmt, indem er einen Missstand, den
er entdeckt, offenkundig macht, Schutz genießt. Wir
wollen die notwendigen Antworten liefern, die wir aufgrund der geltenden Gesetzeslage nicht haben.
Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland schon Sorge haben müssen, dass sie wegen
eines Brötchens, das sie mal zu sich genommen haben,
oder wegen eines Pfandbons, der nicht ordentlich abgerechnet wurde, entlassen werden, dann verstehe ich jeden und jede, der bzw. die sagt: Es ist ganz bitter, was
ich hier erlebe, aber ich halte meinen Mund, weil ich im
Augenblick nicht weiß, ob ich persönlich Schaden davontrage.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9782 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe-
derführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP wünschen Federführung beim Aus-
schuss für Arbeit und Soziales, die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Rechtsaus-
schuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim
Rechtsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen aller anderen Fraktionen bei Zustimmung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales - abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungs-
vorschlag ist mit den Stimmen aller anderen Fraktionen
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Begleitung der Reform der
Bundeswehr ({0})
- Drucksache 17/9340 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({1})
- Drucksache 17/9954 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck ({2})
Fritz Rudolf Körper
Harald Koch
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/9994 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Willsch
Johannes Kahrs
Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Tobias Lindner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Keul, Agnes Malczak, Monika Lazar, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10 Jahre Frauen in der Bundeswehr
- Drucksachen 17/7351, 17/8496 Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({5})
Burkhardt Müller-Sönksen
Katja Keul
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen je
ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Ernst-Reinhard Beck von
der CDU/CSU-Fraktion.
({6})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Bundeswehrreform-Begleitgesetz, das wir heute verabschieden,
ist ein wichtiger und notwendiger Mosaikstein für die
Entwicklung der Bundeswehr zur Einsatzarmee. Zusammen mit dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz,
das wir im letzten Jahr verabschiedet haben, bildet es einen tragenden Pfeiler für die neue Bundeswehr.
Diese Bundeswehr im Umfang von 170 000 Berufsund Zeitsoldaten, 15 000 freiwillig länger Dienenden sowie 55 000 zivilen Mitarbeitern ist politisch gewollt und
sicherheitspolitisch vertretbar. Wir werden jetzt mit diesem Gesetzentwurf die notwendigen personellen Rahmenbedingungen schaffen.
Ich möchte an dieser Stelle dem Bundesminister der
Verteidigung ein herzliches Dankeschön aussprechen;
denn das war ja nun kein einfacher Weg. Eine Reihe von
nicht ganz populären Entscheidungen sind auf diesem
schwierigen Weg der Neuausrichtung der Bundeswehr
gefällt worden. Sie wurden sorgfältig abgewogen und
sind in einem beeindruckenden Tempo erfolgt - ein
herzliches Dankeschön an Sie, Herr Minister!
({0})
Ich darf kurz die einzelnen Stationen aufzeigen. Mit
den Verteidigungspolitischen Richtlinien verfügen wir
über einen klaren sicherheitspolitischen Rahmen. Über
das Standortkonzept wurde im Oktober 2011 entschieden. Wir haben jetzt die entsprechende Realisierungsplanung. Mit der Feinausplanung haben die Kommunen die
Planungssicherheit, aber auch die Soldatinnen und Soldaten die für ihre Lebensplanung wichtige Orientierung
erhalten.
Ernst-Reinhard Beck ({1})
Die derzeitige Reform, die im Gegensatz zu den Reformen und Strukturreformen der Vergangenheit von
oben nach unten erfolgt und im Ministerium ihren Anfang genommen hat, geht nunmehr in die Fläche. Damit
sind nach notwendigen politischen Grundentscheidungen die Mühen der Ebene bzw. die Mühen der Umsetzung erreicht. Sie werden von allen Führungsebenen
noch erhebliche Anstrengungen erfordern. Komplexe
Prozesse des Abbaus, des Umbaus und des Aufbaus am
Personalkörper der Bundeswehr sind die Aufgaben der
nächsten Jahre.
Der vorliegende Gesetzentwurf wendet sich vornehmlich an die Angehörigen der Bundeswehr, die sich
nach Abwägung in anderen Arbeits- und Tätigkeitsbereichen außerhalb der Bundeswehr bessere Chancen ausrechnen. Für diesen Personenkreis muss der Wechsel in
andere Bereiche unserer Arbeitswelt attraktiv gestaltet
werden.
Wir können nicht erwarten, dass Soldaten und Beamte mit Lebenszeitverträgen die Bundeswehr freiwillig
verlassen und auf viel Geld verzichten. Wie wir mit
Menschen umgehen, die ihre Arbeitskraft viele Jahre der
Bundeswehr gewidmet haben, wirkt auch als Zeichen in
die Streitkräfte hinein. Wir sollten dies bei unseren Diskussionen nicht vergessen.
Die Reform darf nicht dazu führen, dass die Bundeswehr demotiviertes und desillusioniertes Personal ohne
Perspektive zurücklässt. Daher muss jedem Soldaten
und jedem Beamten ein individuelles Angebot zum Verbleib oder zum Verlassen der Armee unterbreitet werden.
Ich glaube, dass unsere Soldatinnen und Soldaten, die
sich dafür entscheiden, aus der Bundeswehr auszuscheiden, gute Chancen in der Wirtschaft haben. Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit hat
kürzlich darauf hingewiesen, dass der Fachkräftemangel
für die deutsche Wirtschaft bedrohlicher als die Finanzkrise ist. Ich finde, das ist ein starkes Wort, das wir
durchaus bei unseren Überlegungen berücksichtigen
sollten. Mit dem Reform-Begleitgesetz werden künftig
gut ausgebildete Fachkräfte für den ersten Arbeitsmarkt
zur Verfügung stehen.
Wir hatten eine sehr instruktive Anhörung. Uns
wurde klar, dass wir, um die Attraktivität dieses Angebots noch zu steigern, den ohnehin schon weitreichenden
Gesetzentwurf der Bundesregierung in einigen Punkten
verbessern müssten.
({2})
Wir haben den Kreis derjenigen Personen, die dieses
Gesetz in Anspruch nehmen können, ausgeweitet. Wir
können jetzt 3 100 Soldatinnen und Soldaten und bis zu
1 500 Beamtinnen und Beamte freisetzen. Des Weiteren
ist die Erhöhung der Einmalprämie für Soldatinnen und
Soldaten, die vor dem 50. Lebensjahr die Bundeswehr
verlassen, auf 10 000 Euro pro Dienstjahr des vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand aufgestockt. Obwohl dieser Betrag steuerlich geltend gemacht werden muss,
kann nun ein hinreichender Anreiz zum Verlassen der
Bundeswehr gesetzt werden.
Kernstück ist die Verbesserung der Hinzuverdienstgrenze. Wir haben mit gemeinsamen Anstrengungen erreicht, dass diese Grenze sowohl für Soldatinnen und
Soldaten wie für Beamtinnen und Beamte aufgehoben
wird. Diese Aufhebung gilt nur für diese fünf Jahre, nur
für diesen besonderen Personenkreis. Ich bin sehr froh,
dass es uns gemeinsam gelungen ist, Soldatinnen und
Soldaten mit NVA-Vordienstzeiten einzubeziehen.
({3})
Hier zeigt sich wieder einmal die Vorreiterrolle der Bundeswehr beim Zusammenwachsen von Ost und West. Ich
darf ein herzliches Dankeschön an alle richten, die dies
möglich gemacht haben.
Die Opposition hat hier von Gesetzgebungschaos gesprochen. Ich weise diesen Vorwurf zurück. Schließlich
geht kein Gesetzentwurf aus dem Gesetzgebungsverfahren so heraus, wie er hineingegangen ist.
({4})
Manchmal ist es auch segensreich, dass wir in gemeinsamer Anstrengung die Dinge verbessern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien wir doch ehrlich: Keiner von
uns hätte am Anfang des Beratungsprozesses gedacht,
dass es uns gelingen würde, die Hinzuverdienstgrenze
abzuschaffen.
({5})
Ich glaube, dass das ein ganz wichtiges Signal ist. Seien
wir doch gemeinsam stolz auf das, was wir geleistet
haben.
Zu Recht wurde die Frage der Gerechtigkeit im Sinne
von Ost und West gestellt. Es ist uns auch hier gelungen
- man kann in Verhandlungen rechtzeitig klüger werden -, juristische Bedenken, die hochmögend begründet
gewesen sein mögen, entsprechend zu entkräften. Wir
können froh sein, dass wir diese Reform jetzt auf den
Weg gebracht haben. Das spricht für die Qualität der Arbeit und auch der Zusammenarbeit im Verteidigungsausschuss.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können
mit dem, was wir jetzt als Ausgangsposition erreicht haben, zufrieden sein. Wir dürfen uns aber nicht erschöpft
zurücklehnen und sagen: Die Dinge werden automatisch
laufen. Das Bundeswehrreform-Begleitgesetz ist eine
Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille muss
ein Attraktivitätsprogramm für diejenigen sein, die in
der Bundeswehr bleiben und die die anspruchsvollen
Aufgaben der Einsatzarmee erfüllen müssen. Da sind die
Stichworte: Attraktivität des Dienstes, Vereinbarkeit von
Dienst und Beruf, Wandel des Berufsbilds. Das ist im
Grunde für die nächste Zeit entscheidend.
Noch eines: Ich glaube, man kann uns nicht vorwerfen, dass wir uns nur auf Strukturen und auf abstrakte
Zahlen konzentriert haben. Wir werden unser Augenmerk auch weiter auf das innere Gefüge der Bundeswehr, auf ihre Führungskultur richten. Dazu sind im
Ernst-Reinhard Beck ({6})
Dresdner Erlass klare Feststellungen getroffen worden.
Auch der Generalinspekteur hat in seiner Broschüre
„Soldat heute“ sehr nachdenkenswerte und bedenkenswerte Dinge dazu geäußert.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. Einen Gedanken
noch.
Es geht nicht ohne Veränderungsbereitschaft und aktive Mithilfe der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter der
Bundeswehr. Ich schließe daher mit dem Dank meiner
Fraktion an die Betroffenen, die es möglich machen,
dass die Bundeswehrreform nicht nur auf den Weg, sondern auch zum Erfolg gebracht werden konnte.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Lars
Klingbeil das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir entscheiden heute über das Herzstück der
Bundeswehrreform. Mit dem BundeswehrreformBegleitgesetz soll der erforderliche Umbau des Personals gelingen. Es geht aber auch darum, Sicherheit in
Zeiten des Umbruchs zu schaffen. Jenseits aller wichtigen Fragen über Standorte, die wir diskutieren, jenseits
aller wichtigen Fragen über die Struktur der Bundeswehr, die wir diskutieren, und jenseits aller Fragen über
die Fähigkeiten der Truppe, die wir diskutieren, geht es
heute um diejenigen, die der Bundeswehr in unserer Gesellschaft ein Gesicht geben: Es geht um die Soldatinnen
und Soldaten; es geht um ziviles Personal. Es geht um
diejenigen, die sich bewusst entschieden haben, ihren
Dienst bei der Truppe zu leisten, und es geht um diejenigen, für die wir als Parlamentarier, als Politik eine Verantwortung tragen.
Herr Minister, das Reform-Begleitgesetz ist vielleicht
der wichtigste Baustein, wenn es um den Umbau der
Bundeswehr geht. Aber leider müssen wir feststellen,
dass das, was Sie heute vorgelegt haben, eine verpasste
Chance ist.
({0})
Es ist eine verpasste Chance, den Angehörigen der Bundeswehr Gewissheit über ihre Zukunft zu geben. Es ist
eine verpasste Chance, die Strukturentscheidungen in
Einklang mit den Personalplanungen zu bringen, und es
ist eine verpasste Chance, die Attraktivität der Bundeswehr endlich in den Mittelpunkt zu stellen.
Vor mehr als zwei Jahren hat diese Bundeswehrreform begonnen. Damals neu im Parlament, hätte ich mir
vorgestellt, dass eine Strukturreform so abläuft, dass
man erst einmal über die sicherheitspolitischen Herausforderungen diskutiert, die die Bundeswehr zu bewältigen hat,
({1})
dass man daraus die Fähigkeiten ableitet und aus den Fähigkeiten dann Aufgaben, Struktur, Umfang und Finanzierung der Bundeswehr entwickelt. Damals war es aber
so, dass Motor dieser Reform der strategische Parameter
der Haushaltskonsolidierung - Zitat zu Guttenberg - und
die Abschaffung der Wehrpflicht waren. Herr Minister,
vor Ihnen ist viel schiefgelaufen. Aber auf Ihnen ruhten
Hoffnungen, dass endlich Ordnung in die Ideen, die Versprechen und die Ankündigungen Ihres Vorgängers
kommt.
Niemand hier im Parlament stellt die Notwendigkeit
einer weiteren Veränderung der Bundeswehr infrage.
Auch in der Truppe spüre ich eine hohe Bereitschaft,
sich diesen Herausforderungen zu stellen und sie zu gestalten. Auch im politischen Raum gibt es einen breiten
Konsens und den Versuch, das Ganze überparteilich zu
gestalten. Aber wenn wir heute ein Reform-Begleitgesetz auf den Weg bringen, von dem wir jetzt schon wissen, dass der Personalüberhang nicht so reduziert werden kann, wie er reduziert werden müsste, und wenn wir
wissen, dass mit diesem Gesetz neue Beförderungsstaus,
neue Verwendungsstaus geschaffen werden, dann, Herr
Minister, können wir als Sozialdemokraten diesem Gesetz nicht zustimmen und diesen Weg nicht mitgehen.
({2})
Das, was vom Kabinett vorgelegt wurde, hat großen
Unmut in der Truppe hervorgerufen. Es war wieder einmal das Parlament, das für Korrekturen gesorgt hat. Mit
dem Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz haben wir
damals ebenfalls wichtige Korrekturen vorgenommen.
Wir haben einen Antrag zur Betreuungskommunikation
eingebracht. Jetzt ist es wieder einmal das Parlament,
das ein deutliches Signal in Richtung Truppe setzt.
({3})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Ihre Änderungen bei dem Reform-Begleitgesetz gehen
uns nicht weit genug. Deswegen können wir ihnen heute
hier nicht zustimmen.
Es muss im Kern darum gehen, die Strukturentscheidungen mit dem Personalkörper in Einklang zu bringen.
Wenn selbst das Verteidigungsministerium sagt, dass
6 200 Dienstposten bei den Soldatinnen und Soldaten
und 3 000 bei den Beamten abgebaut werden müssten,
wir heute aber einen Gesetzentwurf vorliegen haben, mit
dem nur die Hälfte finanziert wird, dann wissen wir, dass
es zu Beförderungsstaus kommen und die Attraktivität
der Bundeswehr darunter leiden wird.
Wir Sozialdemokraten haben immer gesagt: Wir brauchen eine massive Attraktivitätssteigerung. Wir haben
im Ausschuss beantragt, die Planstellenanteile für Unteroffiziere in der Besoldungsgruppe A 9 und für Offiziere
im Bereich A 13 moderat zu erhöhen, um einen Stau bei
den Beförderungen abzubauen. Das haben Sie abgelehnt.
Auch das wäre ein wichtiger Schritt in Richtung mehr
Attraktivität gewesen.
Wir Sozialdemokraten haben eingefordert, dass bei
dem Umbau der Bundeswehr hin zu einer Berufsarmee
ein massives Attraktivitätsprogramm auf den Weg gebracht wird. Herr Beck, Sie haben gerade davon gesprochen, das sei die zweite Seite der Medaille. Aber wir
müssen feststellen, dass diese Seite der Medaille bisher
sträflich vernachlässigt wurde. Es gab Ankündigungen.
Aber wirklich geschehen ist hinsichtlich der Attraktivität
nichts. Das fängt mit der Erhöhung der Vergütung für
mehrgeleisteten Dienst an. Das hat schon Herr zu
Guttenberg angekündigt. Bis heute aber ist nichts geschehen. Mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie
und Dienst wird öffentlichkeitswirksam von ElternKind-Zimmern gesprochen. Aber eine wirkliche Vereinbarkeit ist nur möglich, wenn die Kinderbetreuung ausgebaut wird und es eine Ausweitung flexibler Arbeitsformen gibt. Das wären Antworten, die wir vom
Minister erwarten und die heute notwendig wären.
({4})
Außerdem brauchen wir endlich verbindliche Planungen
für die Pendlerwohnungen.
Herr Minister, wir werden in den kommenden Wochen hinsichtlich der Attraktivität auch über Betreuungseinrichtungen und die Verpflegung reden müssen. Stoppen Sie sämtliche Ideen, die mit Schließungen und
Privatisierungen zu tun haben! Wir alle wissen, wie
wichtig Betreuungseinrichtungen für die Truppe sind.
Sie haben eine wichtige soziale Funktion für die Menschen in der Truppe. Deshalb ist es sinnvoll, von den
geplanten 55 000 Stellen für zivile Beschäftigte abzurücken und mehr darauf zu achten, was wir bei der Truppe
eigentlich brauchen.
({5})
Rücken Sie ab von willkürlichen Zielzahlen, und stellen
Sie die Aufgaben in den Mittelpunkt Ihrer Entscheidungen! Nur so kann die Bundeswehrreform wirklich gelingen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD wäre gern
mit Ihnen den Weg einer gemeinsamen Reform zu Ende
gegangen. Wir hätten heute gern zugestimmt und ein gemeinsames Bundeswehrreform-Begleitgesetz für Soldatinnen und Soldaten sowie Zivilbeschäftigte auf den
Weg gebracht.
({6})
Dafür hätten Sie aber eine realistische und durchfinanzierte Planung, ein demografiefestes Konzept, vor allem
ein durchdachtes und gut konzeptioniertes Attraktivitätsprogramm auf den Tisch legen müssen. Das alles haben
Sie nicht getan. Deswegen können wir nicht zustimmen.
Sie haben heute eine Chance vertan.
({7})
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Elke
Hoff.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der erste Teil Ihrer Rede, Kollege Klingbeil,
war sehr vielversprechend. Sie haben, glaube ich, sehr
gut dargestellt, dass etwas, was wir als Koalitionsfraktionen jetzt hier im Parlament auf den Weg bringen, vernünftig und gut ist. Sie hätten auch den zweiten Schritt
noch machen können. Aber vielleicht schaffen wir die
Gemeinsamkeit ja, wenn dieses Gesetz, das jetzt die notwendigen Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer
sehr ehrgeizigen Bundeswehrstrukturreform schafft, im
Jahr 2014 evaluiert wird. Auch als Koalition wissen wir,
dass das, was wir jetzt machen, ein dynamischer Prozess
ist. Wir werden mit aller Ruhe und Gelassenheit die notwendigen Punkte abarbeiten, um die Entwicklung unserer Streitkräfte hin zu einer attraktiven Freiwilligenarmee - nicht zu einer Berufsarmee, Herr Kollege! - auf
den Weg zu bringen.
({0})
Wie Sie sich als aufmerksamer Teilnehmer an den Sitzungen des Verteidigungsausschusses sicher erinnern
können, hat diese Koalition im Rahmen der Verhandlungen zum Einzelplan 14 und der Verabschiedung bereits
einen gemeinsamen Antrag zur Verbesserung der Attraktivität der Streitkräfte beschlossen. Ich gehe davon aus,
dass dieser jetzt mit allem Nachdruck und mit aller Vehemenz im Bundesministerium der Verteidigung abgearbeitet wird. Viele Punkte, die Sie zu Recht anmahnen,
finden sich auch schon in diesem Koalitionsantrag.
Wir müssen immer wieder auch daran erinnern, vor
welchem Hintergrund die Streitkräftereform stattfindet.
Wir haben eine Armee im Einsatz. Wir haben die demografische Entwicklung; das ist heute schon sehr zu Recht
angesprochen worden. Wir als diejenigen, die für die
Streitkräfte verantwortlich sind, müssen uns auch mit
den Anforderungen des Haushalts auseinandersetzen.
Wir können nicht alles, was wünschenswert ist und worüber in diesem Haus sicherlich auch Konsens bestehen
würde, sozusagen aus dem Ärmel schütteln und finanzieren. Wir können nicht so tun, als ob der Rest der Welt
nicht existieren würde.
Ich glaube, dass wir in der Kürze der Zeit in einem
sehr ordentlichen Verfahren für die Soldatinnen und SolElke Hoff
daten, die ihren Dienst leisten, eine vernünftige Verbesserung erreicht haben. Ich fand es gut, dass gerade der
Kollege der SPD die Punkte noch einmal aufgeführt hat,
weil wir sie zum großen Teil gemeinsam auf den Weg
gebracht haben. Wir hätten uns gefreut, wenn Sie uns
heute auf diesem Weg ein Stück weiter begleitet hätten,
um so auch ein gemeinsames Signal in die Truppe zu
senden. Ich glaube, dass viele Soldatinnen und Soldaten,
wenn wir es richtig kommunizieren, verstehen, dass wir
nicht alles das, was wünschenswert ist, sozusagen auf
einen Streich und in einem Tag auf den Weg bringen
können.
Wir haben große Meilensteine erreicht. Wir haben die
Wehrpflicht ausgesetzt; wir haben sie nicht abgeschafft,
Herr Kollege. Wir haben die Einsatzversorgung verbessert. Wir haben die Betreuungskommunikation verbessert. Wir haben die Ausrüstung und Ausstattung der Soldatinnen und Soldaten verbessert.
({1})
Wir haben jetzt nachhaltige Rahmenbedingungen geschaffen. Kollege Beck, ich kann Ihnen nur zustimmen:
Es ist wirklich ein Paradigmenwechsel, dass es uns gegen erhebliche Widerstände aus vielen Bereichen gelungen ist, die Hinzuverdienstgrenze für freiwillig aus dem
Dienst ausscheidende Soldaten abzuschaffen. Das sind
Signale an unsere Soldatinnen und Soldaten, dass wir
selbstverständlich an ihrer Seite sind.
Auf der anderen Seite erwarte ich von den Betroffenen - das möchte ich an der Stelle sehr deutlich sagen -,
dass sie die Zwänge anerkennen, unter denen wir als
politische Entscheider stehen. Wir können nicht so tun,
als wenn uns eine Haushalts- und Finanzkrise nicht in
vielen Bereichen Fesseln anlegt. Alle gesellschaftlichen
Gruppen müssen hier ihren Beitrag leisten und müssen
aufeinander zugehen.
Ich vertraue darauf, dass die notwendigen Maßnahmen im Ministerium jetzt sehr schnell umgesetzt werden. Sollten wir feststellen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es an einigen Stellen holpert, wird im Jahr
2014 im Rahmen einer Evaluation das Gesetz angepasst.
Ich glaube, das Parlament ist mit an erster Stelle dabei,
wenn es darum geht, das, was nicht funktioniert, zu ändern.
Ich freue mich, dass es uns gemeinsam gelungen ist,
in der Kürze der Zeit einen Rahmen zu setzen, sodass die
Bundeswehr weiß, woran sie ist, und jeder weiß, welche
Möglichkeiten er hat. Erinnern wir uns daran, was die
Vertreter der Bundesagentur für Arbeit in der Anhörung
gesagt haben! Sie haben gesagt, dass sie froh sind, wenn
diese Leute kommen, weil sie sie dringend brauchen.
Wenn diese Kooperation gelingt, bin ich relativ unbesorgt, dass Soldatinnen und Soldaten eine vernünftige
und attraktive Weiterbeschäftigung im zivilen Bereich
finden werden.
Herr Minister, an dieser Stelle Ihnen und Ihrem Haus
ein herzliches Dankeschön für die Arbeit. Sie können
davon ausgehen, dass wir Sie weiterhin konstruktiv begleiten werden.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Harald Koch das Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das vorliegende Bundeswehrreform-Begleitgesetz
ist wieder einmal ein Beispiel dafür, wie man mit Menschen eigentlich nicht umgehen sollte. Ihr Anspruch war
es, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der einen sozialverträglichen Personalabbau in der Bundeswehr ermöglicht.
Abgesehen davon, dass die gesamte Reform der Bundeswehr völlig falsch ausgerichtet und schlecht durchdacht
ist, kann auch von sozialverträglichem Personalabbau
keine Rede sein.
Es ist beispielsweise nicht sozialverträglich, dass Sie
eine Obergrenze für die Anzahl der Ausscheidewilligen
festlegen, mit der Sie noch nicht einmal Ihren selbst gesteckten Rahmen erreichen können. Warum lassen Sie
nicht alle gehen, die gehen wollen?
({0})
Vor allem ist es nicht sozialverträglich, Soldaten mit
Vordienstzeiten in der NVA auch 22 Jahre nach dem
Kalten Krieg, nach der deutschen Einheit noch immer zu
benachteiligen. Da haben Sie von der CDU, im Besonderen Herr Bergner, das Possenstück aufgeführt, ein schon
verabschiedetes Gesetz noch einmal in den Ausschuss zu
bringen, weil Sie die Ungleichbehandlung von Ostbiografien nicht länger hinnehmen wollten. Das hat so auch
in der Zeitung gestanden.
({1})
Aber das ganze Theater ändert nichts daran, dass Sie
diese Ungleichbehandlung auch mit dem jetzt nachgebesserten Gesetzentwurf nicht beseitigen.
({2})
Sie heben zwar die Hinzuverdienstgrenzen auch für ehemalige NVA-Soldaten auf, schaffen aber gleichzeitig
neue Ungerechtigkeiten, weil diese Regelung nur für
eine kleine Gruppe von Soldaten gilt, nämlich für diejenigen, die infolge der Maßnahmen des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes aus dem Dienst ausscheiden.
({3})
Alle anderen ehemaligen NVA-Soldaten, die vielleicht
bereits ausgeschieden sind, ohnehin in den vorzeitigen
Ruhestand versetzt worden wären oder erst nach 2017
ausscheiden wollen, sind auch weiterhin benachteiligt.
Das viel größere Problem ist jedoch, dass selbst der
Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen nur Augenwischerei
ist; denn das eigentliche Problem, die unterschiedlichen
Ruhestandsbezüge zwischen Soldaten mit reiner Bundeswehrbiografie und Soldaten mit NVA-Vorzeiten, wird
überhaupt nicht angegangen. Dies heißt, dass Soldaten
mit NVA-Zeiten auch weiterhin viel kleinere Renten erhalten werden als die Soldaten, die nur in der Bundeswehr gedient haben. Das ist das Problem. Finden Sie das
sozialverträglich und gerecht? Ich finde das skandalös.
({4})
Aus diesem Grund hat die Linke im Verteidigungsausschuss auch einen Antrag vorgelegt,
({5})
mit welchem sie die Bundesregierung auffordert, noch in
dieser Legislaturperiode einen Gesetzesentwurf vorzulegen, mit welchem sämtliche noch verbliebenen Schlechterstellungen von ehemaligen NVA-Soldaten gegenüber
Soldatinnen und Soldaten mit ausschließlicher Dienstzeit in der Bundeswehr beseitigt werden. Wir sind gespannt, ob die Aussagen von Herrn Bergner und Co. mal
wieder nur medienwirksame Lippenbekenntnisse waren
oder ob sie zukünftig wirklich eine Gleichbehandlung
anstreben.
Insgesamt zeigt sich wieder einmal das Problem, welches wir schon so oft kritisiert haben: Wenn es um Ausrüstung, Auslandseinsätze oder millionenschwere Beschaffungen geht, dann kann alles nicht schnell, effektiv
und schlagkräftig genug sein. Wenn es aber um die Versorgung der Soldaten geht, fangen Sie jedes Mal sofort
an, zu knausern.
Herr Kollege Koch, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Koch, darf ich Sie fragen, wie Sie dazu
kommen, in abenteuerlicher Weise neue Ungerechtigkeiten zu konstruieren? Ist Ihnen bekannt, dass alle diejenigen, die bisher von Personalstrukturmaßnahmen betroffen waren - das waren zumeist Soldaten, die in der alten
Bundesrepublik ihren Dienst geleistet haben -, wesentlich schlechtere Bedingungen hatten als die jetzt Betroffenen? Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass es
nicht opportun ist, hier neue Gräben aufzureißen, wo wir
die alten Gräben im Grunde gerade erst gemeinsam zugeschüttet haben? Bitte berücksichtigen Sie, dass dieses
Gesetz lediglich für diejenigen gilt, die von dieser zeitlich und personell begrenzten Maßnahme betroffen sind.
Herr Kollege Beck, es sind keine neuen Gräben, die
hier aufgerissen werden; es sind bestehende Gräben. Wir
sind bestrebt, diese Gräben zuzuschütten. Uns geht es
darum, dass die Soldatinnen und Soldaten, die mit früheren NVA-Dienstzeiten jetzt freiwillig in der Bundeswehr
dienen, die gleiche Anerkennung finden und die gleiche
Absicherung erhalten - insbesondere auf die Rente bezogen - wie die Soldatinnen und Soldaten, die nur in der
Bundeswehr gedient haben. Das wird mit diesem Gesetzentwurf aber nicht erreicht; das wird nicht einmal angegangen. Man weigert sich, und zwar aus rein fiskalischen Gründen, wie ich vermute.
({0})
- Nein, kann ich nicht.
({1})
Ein weiterer äußerst bedenklicher Aspekt des Gesetzes ist die Absicht der Bundesregierung, die zivile Komponente aus der Bundesverwaltung herauszudrängen und
zivile Dienstposten nun mit Militärs zu besetzen.
Art. 87 b Grundgesetz regelt eine klare Aufgabentrennung zwischen zivilen und militärischen Strukturen, und
das nicht ohne Grund. Diese Trennung ist eine Folgerung aus der deutschen Militärgeschichte. Soll diese
wichtige demokratische Errungenschaft nun auf dem Altar der Remilitarisierung geopfert werden? Das ist nicht
akzeptabel, da es nicht nur zu einer weiteren Militarisierung innerhalb der Bundeswehr, sondern auch zu einer
schleichenden Militarisierung der Gesellschaft beiträgt.
({2})
Die Linke lehnt das strikt ab.
({3})
Ebenfalls zu einer schleichenden Militarisierung der
Gesellschaft führt die vermehrte Rekrutierung von
Frauen. Unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung
und einer „menschlicheren“ Bundeswehr wird versucht,
vermehrt Frauen für den Dienst an der Waffe zu gewinnen. Dies ist angesichts der Ausrichtung der Bundeswehr fatal und hat auch nichts mit Emanzipation zu tun.
Die Bundeswehr ist eben kein Arbeitgeber wie jeder andere, und das in jeder Hinsicht.
Glück auf!
({4})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die
Kollegin Agnieszka Brugger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind
uns einig: Die Reform der Bundeswehr ist ein notwendiAgnes Brugger
ger und in weiten Teilen längst überfälliger Schritt. Vom
Erfolg dieser Reform wird abhängen, wer mit welchen
Fähigkeiten und mit welcher Motivation künftig zur
Bundeswehr kommt. Das ist ganz entscheidend. Schließlich wollen wir alle nicht nur zahlenmäßig genug Bewerber und auch Bewerberinnen haben; wir wollen auch,
dass die Bundeswehr ein Spiegel der Gesellschaft bleibt:
pluralistisch und demokratisch.
({0})
Das Gesetz, das heute zur Abstimmung steht, prägt
diese Reform ganz maßgeblich. Mit diesem Gesetz soll
der umfassende Personalabbau sozialverträglich gestaltet werden; mit diesem Gesetz soll die Bundeswehr kleiner und attraktiver werden. Das sind wesentliche Voraussetzungen für den Erfolg der Reform, den auch wir
Grüne wollen.
Herr Minister, die entscheidende Frage ist doch:
Haben Sie genug für die Attraktivität der Bundeswehr
getan - mit diesem Gesetz, aber auch darüber hinaus?
Da habe ich meine Zweifel. Nehmen wir ein Beispiel,
das für die Bundeswehrangehörigen ausgesprochen
wichtig ist - gerade für die jungen Menschen - und für
den Dienstherrn daher nicht weniger Priorität haben
sollte: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In diesem Bereich besteht erheblicher Nachholbedarf. Die Regierung hat eigentlich versprochen, hier umfassend zu
liefern.
Konkret haben Sie unabhängig von diesem Gesetz die
Einrichtung von 300 Eltern-Kind-Zimmern angewiesen.
120 davon sind bereits eingerichtet. Das hört sich zwar
nett an; aber ohne Verbesserungen der Arbeitsstrukturen,
die erst die Nutzung solcher Räumlichkeiten ermöglichen, ist das eine leere Symbolmaßnahme.
({1})
Sie haben mit dem Gesetz zum Beispiel einen Anspruch
auf Kinderbetreuung während der Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen geschaffen. Auch das ist gut und
längst überfällig. Aber zusammengenommen ist das immer noch so, als würden Sie versuchen, mit einer Pipette
den Garten zu gießen. Die Soldatinnen und Soldaten
brauchen keine Symbolpolitik, sondern grundlegende
und umfassende Verbesserungen. Verlässliche Planungen, längere Stehzeiten an einem Standort, flächendeckende Betreuung für Kinder - das sind nur einige Beispiele für die bestehenden Herausforderungen, die Sie
nicht angehen.
Ein weiteres Beispiel ist die Erhöhung des Frauenanteils. Da widerspreche ich ausdrücklich dem Kollegen
Koch, für den das eine Remilitarisierung darstellt. Den
Bedarf an Nachwuchs, vor allem auch an hochqualifizierten Fachkräften, werden Sie auf Dauer nur decken
können, wenn auch mehr Frauen bereit sind, zur Bundeswehr zu gehen.
({2})
Dazu hören wir von Ihnen derzeit außer schönen Worten
nichts. Wir haben Ihnen in einem eigenen Antrag eine
Reihe von Vorschlägen gemacht und laden Sie herzlich
ein, dem nachher zuzustimmen.
Insgesamt untergraben aber nicht nur die fehlenden
Maßnahmen zur Verbesserung der Attraktivität die Erfolgschancen der Reform; auch die Art und Weise Ihres
Vorgehens ist alles andere als hilfreich. Sie bemühen
sich verzweifelt, das Bild eines wohlgeordneten und
durchdachten Prozesses zu beschreiben. Doch was wir
auf den letzten Metern der Beratungen über diesen Gesetzentwurf erleben durften, ist bezeichnend für den gesamten bisherigen Ablauf der Reform: Über die Presseverteiler wurde da von der Unionsfraktion schon der
erfolgreiche Abschluss der Beratungen verkündet. Aber
noch am gleichen Tag war klar, dass in Ihrer eigenen
Fraktion noch nicht alle Fragen geklärt waren, und das
ganze Gesetz ging zurück an den Ausschuss. Dieses Hin
und Her zieht sich durch den ganzen Reformprozess.
In der Abstimmung zwischen den Ministerien wurde
Ihr ursprünglicher Gesetzentwurf zum Zankapfel und in
jeder Hinsicht zerrupft und zerfleddert. Wie bei vielen
Fragen zeigt sich auch bei dieser Reform die tiefe Uneinigkeit der Bundesregierung. Sie verschieben Ihre Konflikte einfach ins Parlament, das dann die gröbsten
Schnitzer ausbügeln soll.
Für die Betroffenen bedeutet diese chaotische Vorgehensweise vor allem ein massives Auf und Ab. Eine
grundlegende Verunsicherung wird zum ständigen Begleiter. Die Soldatinnen und Soldaten und auch die zivilen Mitarbeiter sind doch kein Spielball der regierungsinternen Streitereien.
({3})
So kann eine Mitnahme der betroffenen Menschen einfach nicht gelingen, und das, meine Damen und Herren,
ist eine der größten Schwächen des Reformprozesses.
Was das Bundeswehrreform-Begleitgesetz im Konkreten betrifft: Im Verlauf des Beratungsprozesses wurden erhebliche Schwächen angesprochen. Sie, meine
Damen und Herren von der Koalition, haben sich da
durchaus bewegt, ein wenig zumindest, aber auch nicht
weit genug.
({4})
Bei anderen Gesetzen, die die Bundeswehr betreffen, haben Koalition und Opposition in den vergangenen Jahren
konstruktiv zusammengearbeitet. Hier haben Sie eine
solche Zusammenarbeit nicht wirklich verfolgt. Vor wenigen Wochen haben Sie hier im Plenum vollmundig
eine gemeinsame Arbeit an diesem Gesetz angekündigt.
Das waren allerdings leere Versprechungen. Sie haben
unsere Anträge im Ausschuss einfach niedergestimmt.
Das ist angesichts der Rolle der Bundeswehr als Armee
des gesamten Parlaments wirklich bedauerlich. Wir laden Sie jetzt noch einmal ein, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen, mit dem wir eine Reihe von Vor21984
schlägen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen und
der Attraktivität der Bundeswehr machen.
({5})
Das Gesetz ist jedenfalls immer noch keine runde Sache, auch wenn wir das Ziel einer kleineren und attraktiveren Bundeswehr teilen. Ich will zum Abschluss noch
einmal die drei wesentlichen Kritikpunkte nennen: Mit
den vorgeschlagenen Instrumenten werden Sie erstens
die Zielstruktur nicht erreichen. Sie werden zweitens die
Attraktivität des Arbeitgebers Bundeswehr nicht wirklich verbessern. Das Gesetz ist damit drittens ein weiterer Beitrag zur Verschleppung der Probleme statt zu ihrer
Lösung. Darum können wir dem nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Diese Woche ist eine gute Woche für die Bundeswehrreform: Am Dienstag hat der Minister die Feinausplanung
der Stationierung bekannt gegeben, und heute beraten
und beschließen wir das Bundeswehrreform-Begleitgesetz. Beides sind zentrale Säulen dieser Reform. Seit
Dienstag ist klar, wann die bereits getroffenen Standortentscheidungen umgesetzt werden, und ab heute, unter
welchen auch finanziellen Rahmenbedingungen der erforderliche Personalumbau stattfindet.
Ich sage bewusst „Umbau“, weil es bei dem Gesetz
eben nicht nur um den Personalabbau geht, sondern auch
darum, jungen Menschen ein attraktives Angebot zu machen, damit sie zur Bundeswehr kommen. Das geschieht
beispielsweise durch die bessere Vereinbarkeit von Familie und Dienst, Verpflichtungsprämien oder attraktivere Fortbildungs- und Berufsförderungsmöglichkeiten.
Wir beenden damit in dieser Woche eine Phase der
Unsicherheit, die die Angehörigen der Bundeswehr, ihre
Familien, aber auch die Kommunen, die von Standortschließungen betroffen sind, erheblich belastet hat. Ich
verhehle nicht, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn
wir die Phase der Unsicherheit schon früher hätten beenden können. Ich sage aber auch: Schlimmer, als nichts zu
wissen, ist, etwas zu wissen, auf das man sich einstellt,
das dann aber wieder geändert werden muss, weil
irgendjemand irgendetwas vergessen hat. Deswegen
muss bei Vorhaben wie der Bundeswehrreform der
Grundsatz gelten: Sorgfalt vor Schnelligkeit.
Im Zuge der Beratungen über das Bundeswehrreform-Begleitgesetz haben wir im Parlament die Zeit
genutzt, das Gesetz noch einmal substanziell zu verbessern. Kollege Beck hat die Änderungen im Einzelnen
vorgestellt. Mir persönlich war es ein Anliegen, dass die
Hinzuverdienstgrenzen wegfallen; denn die Hinzuverdienstgrenzen waren für hochqualifizierte ehemalige
Soldaten im Ruhestand nichts anderes als ein Anreiz, zu
Hause zu bleiben, anstatt in die freie Wirtschaft zu
gehen. Das mag in Zeiten, in denen wir 5 Millionen
Arbeitslosen hatten, gerechtfertigt gewesen sein, aber es
passt nicht in die Zeiten des Fachkräftemangels.
Es war richtig, dass wir die Chance genutzt haben, im
Bereich Hinzuverdienst die Ungleichbehandlung der
Soldaten mit NVA-Vergangenheit zu beenden. Es
stimmt, liebe Frau Brugger, es geschah buchstäblich in
letzter Minute, aber wir haben es geschafft. Es ist an der
Zeit, darauf hinzuweisen, wer den Spieß in letzter Minute umgedreht hat. Das war unser kompromissbereiter
CSU-Innenminister Friedrich, aber es waren auch unsere
wirklich hartnäckigen Ost-CDU-Abgeordneten,
({0})
die sich über Wochen hinweg für dieses Thema eingesetzt haben.
({1})
Nur ihnen haben es die Betroffenen zu verdanken, dass
diese Ungleichbehandlung beendet wird. Einer der großen Vorkämpfer dafür sitzt hier: Robert Hochbaum.
({2})
Er wird zu diesem Thema noch sprechen.
Verehrte Damen und Herren von der Opposition, insbesondere der SPD und Grünen, an einem Punkt verstehe ich Sie nicht. Sie müssten dem, was wir in unserem
Änderungsantrag formuliert haben - Wegfall Hinzuverdienst, Ungleichbehandlung von NVA-Soldaten -, inhaltlich eigentlich zustimmen.
({3})
Ich verstehe nicht, warum Sie gestern im Verteidigungsausschuss unseren Änderungsantrag abgelehnt haben.
({4})
Das 08/15-Standardargument der Opposition: „Ja, Ihr
Antrag geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug“, ist an dieser Stelle nicht angebracht.
Herr Kollege Brandl.
Nein, ich mache fertig, und dann.
Was heißt das?
({0})
Die Uhr wird angehalten, wenn Sie die Zwischenfrage
zulassen.
Ich habe jetzt noch fünf Sätze, und die mache ich fertig. Dann können wir eine Kurzintervention machen.
({0})
Also gut, ich lasse die Zwischenfrage zu.
({1})
Frau Keul, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. Sie haben uns gerade gefragt, warum wir Ihrem Änderungsantrag nicht zugestimmt haben. Als es eben in der Rede der Kollegin
Brugger um den Anteil von Frauen in der Bundeswehr
ging, haben Sie alle applaudiert,
({0})
und auch Generalinspekteur Wieker hat sich öffentlich
ähnlich geäußert, wie wir das in unserem Antrag tun.
Deswegen hätte ich an Sie die Frage: Warum stimmen
Sie denn unserem Antrag „10 Jahre Frauen in der Bundeswehr“ nicht zu?
Wir haben uns mit Ihrem Antrag mindestens genauso
intensiv beschäftigt wie Sie sich mit unserem Änderungsantrag. Wir sind zu dem Schluss gekommen: Mit
den konkreten Maßnahmen, die wir im Bundeswehrreform-Begleitgesetz vorgesehen haben, zum Beispiel
die Erstattung von zusätzlichen Kinderbetreuungskosten, die während dienstlicher Qualifizierungsmaßnahmen anfallen, sind wir auf dem richtigen Weg, andere
müssen noch folgen. Verehrte Frau Kollegin Keul, Sie
können sich darauf verlassen, da werden weitere kommen.
({0})
Noch einmal zu unserem Änderungsantrag im Ausschuss und zu meinem Unverständnis darüber, dass Sie
ihm nicht zugestimmt haben. Sie wissen doch ganz genau, dass es für uns nicht so einfach war, all das, was wir
geschafft haben, auch tatsächlich durchzusetzen. In der
Opposition redet es sich leicht. Aber wir in der Regierungskoalition haben Rahmenbedingungen zu beachten,
nämlich Regelungen zu schaffen, die nicht nur für
unsere Soldatinnen und Soldaten und Beamtinnen und
Beamten in der Bundeswehr attraktiv sind, sondern allen
Bundesbediensteten vermittelt werden können. Dazu
gehört auch der Bundesfinanzminister. Die Regelungen
müssen auch der Bevölkerung vermittelt werden können.
Aus meiner Sicht ist uns dies mit diesem Gesetzentwurf gelungen. Wir unterbreiten den Soldatinnen und
Soldaten, die bleiben, den Soldatinnen und Soldaten, die
gehen, und den Soldatinnen und Soldaten, die kommen
wollen, ein faires Angebot. Ich bin stolz auf unseren
Gesetzentwurf.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Karin Evers-Meyer
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Brandl, erlauben Sie mir, zunächst zu sagen:
Wir können Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen,
wenn Sie sich nicht mit unseren guten Anträgen beschäftigen und nicht einmal einige Anregungen aufnehmen.
({0})
Wir hätten das gerne gemeinsam gemacht. Ich glaube
aber, in diesem Fall hat es einmal nicht an SPD und Grünen gelegen.
({1})
Ich möchte mich ein wenig mit der Attraktivität der
Bundeswehr für Frauen beschäftigen. Wir haben seit
zehn Jahren Frauen in der Bundeswehr. Die Bundeswehr
hat dadurch ein ganz anderes Gesicht bekommen. Ich
finde, Frauen in der Bundeswehr sind heute eine Selbstverständlichkeit. Das ist insgesamt sehr erfreulich. Die
Öffnung der Bundeswehr für Frauen hat der Armee gutgetan: mehr Pluralität, mehr Offenheit, mehr Stabilität
und natürlich auch mehr Transparenz. Ich denke, man
muss wirklich sagen: Hier hat die Bundeswehr einen
ganz tollen Job gemacht. Soldatinnen so zu integrieren,
wie die Bundeswehr das gemacht hat, das ist schon ein
Lob wert.
Ich finde aber auch, dass man nicht auf halbem Wege
stehen bleiben sollte. Es gibt immer noch zu wenige
Frauen in der Bundeswehr. Ihr Anteil beträgt heute
knapp 10 Prozent. In manchen Dienstbereichen, beispielsweise bei den Feldjägern, liegt die Quote noch weit
unter der nach dem Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetz angestrebten Quote von 15 Prozent. Da besteht ein ganz schöner Unterschied. Da haben wir noch
viel zu tun. Im Sanitätsdienst hingegen haben wir einen
Frauenanteil von 40 Prozent. An dieser Stelle muss ich
deutlich sagen: Die Quote beim Sanitätsdienst ist nicht
die weiße Salbe für die Defizite in den Dienstbereichen,
in denen Frauen immer noch ganz stark unterrepräsentiert sind.
({2})
Wir müssen wirklich darauf achten, dass der Frauenanteil in den verschiedenen Dienstbereichen möglichst
gleichmäßig verteilt anwächst. Blumige Erfolgsberichte
ändern nichts an mangelnden Fortschritten, auch wenn
die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP
das gerne hätten.
Eines steht aber auch fest: Viel zu wenige Frauen entscheiden sich für den Dienst in der Bundeswehr. Die
Frage ist: Warum ist das so? In der Koalition sind Sie
darüber - wie immer - ein wenig zerstritten. Für die
FDP liegt der Grund in der Verbesserung der Vereinbakeit von Familie und Dienst. Unserer Ansicht nach
stimmt diese Richtung. Für CDU und CSU fehlen die
zeitlichen Voraussetzungen für die Erfüllung der Quote.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion,
wenn ich daran erinnern darf: Frauen stehen seit zehn
Jahren alle Dienstbereiche offen und nicht erst seit zehn
Monaten.
Ein kleines Beispiel dazu: Ich bereise im Moment
meinen Wahlkreis. Dabei treffe ich auf Soldatinnen und
Soldaten. Zum Beispiel in der Nähe von Wittmund habe
ich eine verzweifelte Soldatin getroffen, die ihr Kind erst
um 8 Uhr im Kindergarten abgeben kann, aber um 7 Uhr
Dienstbeginn in Wilhelmshaven hat. Der Vater ist im
Einsatz. In meinem Wahlkreis treffe ich häufig auf solche Fälle. Ich denke, dass wir bisher zwar sehr viel darüber geredet haben, aber nur ganz wenig konkret getan
haben. Die Bundeswehr muss viel offensiver damit umgehen und darf sich nicht darauf verlassen, dass die
Kommunen und andere Einrichtungen genügend Plätze
zur Verfügung stellen. Auf gar keinen Fall!
({3})
Es darf auch nicht sein, dass ein sechsmonatiger Auslandseinsatz auf dem Rücken fürsorglicher Großeltern
ausgetragen wird. Daran ändern die Gesetze aus diesem
Hause gar nichts. Wenn man sich, so wie hier, nicht einig
ist, dann geht das immer zulasten von Eltern und Kindern, in der Regel zulasten von Frauen.
Es kommt jetzt darauf an, dass die Selbstverständlichkeit der Gleichstellung an Bedeutung gewinnt. Nur dann
werden Frauen und Männer gleiche Chancen haben, sich
auch in militärischen Führungspositionen zu beweisen.
Über dieses Thema haben wir heute im Laufe des Vormittags schon lang und breit gesprochen.
Wir werden jedenfalls alles genau beobachten und die
Regierung daran erinnern. Wenn Sie es mit der Gleichstellung von Frauen in der Bundeswehr tatsächlich ernst
meinen, haben Sie sicherlich vorgesehen, demnächst
eine Evaluierung durchzuführen. Mich würde es sehr
freuen, wenn ich ab und zu lesen könnte, welche Fortschritte es gibt.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat das Wort der Kollege Burkhardt MüllerSönksen von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
vor über zehn Jahren die ersten Soldatinnen ihren Dienst
in der Bundeswehr aufnahmen, markierte ihr Antritt für
manche der altgedienten Militärs den gefühlten Anfang
vom Ende ihrer geliebten Bundeswehr. Doch schon nach
kurzer Zeit wurde deutlich, welche Bereicherung engagierte Frauen für die Bundeswehr sind. Mittlerweile leisten mehr als 17 000 Frauen ihren Dienst, Tendenz steigend, und das ist auch gut so.
({0})
Aber die durchaus positiven Zahlen dürfen nicht den
Blick auf die immer noch in Teilen vorherrschenden Problemlagen verstellen. Die Integration von Frauen ist
noch längst nicht abgeschlossen. Sie ist ein langfristiger
Prozess, der die Bundeswehr auch in den nächsten Jahren begleiten wird. Diesen Prozess müssen wir als solchen wahrnehmen. Selbstverständlich dürfen wir ungeduldig sein, aber auch nicht ungerecht gegenüber
denjenigen, die sich bemühen, diesen Prozess zu fördern
und zu beschleunigen.
Die jährlichen Berichte des Wehrbeauftragten machen
deutlich, dass im persönlichen Umgang innerhalb der
Bundeswehr Soldatinnen mitunter nicht die verdiente
Wertschätzung ihrer Arbeit erfahren. Wir nehmen diese
Kritik ernst und sorgen dafür, dass diese Fälle - in der
Vergangenheit wie auch in Zukunft - konsequent verfolgt und aufgeklärt werden. Mein Dank gilt den militärischen und zivilen Gleichstellungsbeauftragten, die dieses wichtige Thema immer wieder ansprechen und mit
ihren Beratungsleistungen die Soldatinnen bei ihrer täglichen Arbeit begleiten.
Im April bin ich zu einem Besuch in Afghanistan gewesen. In Masar-i-Scharif und in Kunduz habe ich das
Gespräch mit Soldatinnen gesucht. Sie berichteten mir,
dass sie häufig eben nicht eine Sonderstellung aufgrund
ihres Geschlechts einnehmen wollen. Sie verstehen sich
als einen gleichberechtigten Teil ihrer Einheit. Für sie
hat manche gut gemeinte Fördermaßnahme den gegenteiligen Effekt, nämlich dass sie sich dem Anschein
einer Bevorzugung ausgesetzt sehen. Das zeigt, dass die
Maßnahmen zur Förderung mit Bedacht gewählt werden
müssen. Gut gemeint kann eben schnell zum Gegenteil
von Gut werden.
Was hilft, ist keine leere Symbolpolitik, sondern konkrete Maßnahmen, die die Bundeswehr als Arbeitgeber
für Frauen attraktiver machen. In vielen Studien wird als
aktuell größte Herausforderung die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie genannt. An diesem Punkt setzen wir
ganz konkret an. Familienfreundlichkeit wird in Zukunft
einer der wichtigsten Faktoren bei der Berufswahl junger
Menschen sein. Dabei ist es entscheidend, dass sich die
Unterstützungsangebote an den realen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Soldatinnen und Soldaten orientieren.
Wir realisieren aktuell - das ist ein ganz konkretes
Beispiel - das Projekt „Zu Hause in der Bundeswehr“,
bei dem neben attraktiven Wohnmöglichkeiten für die
ganze Familie ein umfassendes Familienbetreuungsprogramm angeboten wird. Wir ermöglichen die Kostenübernahme für die Betreuung der Kinder von Soldatinnen und Soldaten, die an Fortbildungsmaßnahmen
teilnehmen. All das sind Maßnahmen, die nicht nur die
Attraktivität der Bundeswehr als Arbeitgeber für Frauen
steigern, sondern generell allen Soldaten mit Familienpflichten helfen. Wir wollen ja ein bestimmtes gesellschaftliches Berufsmodell nicht nur auf die Soldatinnen
projizieren.
Ich komme zum Schluss. Wir nutzen den laufenden
Reformprozess als Chance, um das Ziel eines ausgewogeneren Geschlechterverhältnisses innerhalb der Bundeswehr zu erreichen. „Zehn Jahre Frauen in der Bundeswehr“ ist ein Erfolgsmodell, ein Erfolg keineswegs
nur für die Frauen selbst, sondern auch ein Erfolg für die
Bundeswehr und für unsere Gesellschaft.
Vielen Dank.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute - es wurde schon mehrfach angesprochen - ist ein guter Tag für die Bundeswehr. Heute ist
aber auch ein guter Tag für die Soldatinnen und Soldaten
sowie für die zivilen Angestellten bei unseren Streitkräften, die mit der anstehenden Reform konfrontiert wurden
und werden.
Mit der heutigen Beschlussfassung zum Bundeswehrreform-Begleitgesetz setzen wir einen weiteren zentralen
Meilenstein für eine leistungsfähige und effiziente Bundeswehr der Zukunft. Zusammen mit der von unserem
Minister de Maizière diese Woche vorgestellten Realisierungsplanung geben wir unseren Soldaten und zivilen
Angestellten Entscheidungshilfen, Anreize und feste Daten an die Hand, die sie befähigen, jetzt für sich und ihre
Familien eine zufriedenstellende Zukunftsplanung zu realisieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist nicht
weniger als unsere Pflicht, für die Menschen, die mit den
Auswirkungen unserer Entscheidungen konfrontiert
werden, Planungssicherheit zu schaffen und klare Perspektiven aufzuzeigen.
Der nun final vorliegende Gesetzentwurf gibt Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft, die unser Verteidigungsminister bei der Einbringung des Gesetzentwurfs treffend formuliert hat - ich zitiere -:
Wir brauchen weniger Personal. … Wir müssen das
richtige Personal am richtigen Platz in der Bundeswehr haben. … Wir brauchen neues Personal.
Um diese Ziele zu erreichen, haben auch wir uns im
parlamentarischen Raum eingebracht und einige Ergänzungen in den vorliegenden Gesetzentwurf eingearbeitet. Wichtig waren für uns immer die Fragen: Reichen
die Anreize aus? Ermutigen sie Soldaten und Beamte,
die Bundeswehr freiwillig zu verlassen, einen sicheren
Arbeitsplatz aufzugeben und neue, vielleicht unsichere
Herausforderungen anzunehmen?
Ein besonderer Punkt war dabei aus meiner Sicht vor
allem die Nachbesserung beim Hinzuverdienst für vorzeitig ausscheidende Soldatinnen und Soldaten. Gerade
vor dem Hintergrund der von mir eben aufgeworfenen
Fragen zur Realisierung der Reform war es ein wichtiger
Schritt, die Hinzuverdienstgrenze für Tätigkeiten außerhalb des öffentlichen Diensts aufzuheben. Denn: Erstens. Für den Bundeshaushalt entsteht nach der Aufhebung der Grenze so gut wie keine Belastung. Zweitens.
Ganz im Gegenteil: Durch die Beschäftigungen, die
dann sozialversicherungspflichtig sind, generiert man
Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen. Drittens.
Die vorzeitig ausgeschiedenen Soldatinnen und Soldaten
werden trotz ihres Alters, wie bei der entsprechenden
Anhörung - etliche Kolleginnen und Kollegen waren dabei - durch die Bundesagentur für Arbeit bestätigt
wurde, gute Chancen auf eine Beschäftigung im ersten
Arbeitsmarkt haben.
Sehr geehrte Damen und Herren, nun komme ich zu
einem Punkt, der mir ganz persönlich - man hat es schon
gehört - am Herzen liegt: der Ost-West-Angleichung.
Ich danke dem Bundespräsidenten, der bei seinem Antrittsbesuch bei der Bundeswehr an der Führungsakademie in Hamburg folgenden Satz sagte - ich darf zitieren -:
Ich stehe vor der Bundeswehr, zu der ich seit
22 Jahren auch „meine Armee“ sagen kann.
({0})
Ja, seit 22 Jahren gibt es kein Ost und West mehr. Seit
22 Jahren sitzen Bundeswehrsoldaten mit und ohne
NVA-Vordienstzeit an einem Schreibtisch. Seit 22 Jahren kämpfen sie Seite an Seite im Auslandseinsatz. Sie
kämpfen Seite an Seite für die Sicherheit unseres geeinten Deutschlands.
Aus diesem Grund freue ich mich heute ganz besonders, dass es mit unserem Änderungsantrag gelungen ist,
einen weiteren Schritt in Richtung Gerechtigkeit bei der
Ost-West-Angleichung zu gehen, und wir nun Soldaten
mit NVA-Vordienstzeiten in der Bundeswehr bei einem
Ausscheiden die gleichen Chancen des Hinzuverdiensts
ermöglichen wie ihren Kollegen ohne diese Vordienstzeiten.
({1})
Ich möchte mich darum bei allen bedanken, die dies
ermöglicht haben, besonders natürlich bei unserem Verteidigungsminister Thomas de Maizière, aber auch bei
dem Sprecher der ostdeutschen Abgeordneten der CDU,
Arnold Vaatz, bei unserem Innenminister Dr. Hans-Peter
Friedrich - das ist hier schon angeklungen - und natür21988
lich bei all den anderen Kollegen, die daran beteiligt waren.
({2})
Herzlichen Dank für einen kleinen, aber wichtigen
Schritt zur Ost-West-Gerechtigkeit!
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Begleitung der Reform der Bundeswehr. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9954, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9340 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen
der Linken und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9986. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist bei Zustimmung der SPDFraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9987. Wer stimmt dafür? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der Grünen und
der SPD abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „10 Jahre Frauen in der Bundeswehr“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8496, den Antrag der Fraktion der Grünen auf Drucksache 17/7351 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth ({1}), Marlene Rupprecht ({2}), Christoph Strässer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische
Kinderarbeit durchsetzen
- Drucksache 17/9920 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Marlene Rupprecht von der SPDFraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ich weiß, dass es spät ist, und es tut mir auch leid, dass
wir jetzt noch reden müssen, aber ich denke, es ist notwendig, ab und zu ein Thema anzuschneiden, das im
politischen Geschäft nicht sehr im Vordergrund steht, zumal wir vorgestern, am Dienstag, dem 12. Juni 2012, das
zehnjährige Bestehen des Welttages gegen Kinderarbeit
begangen haben. Diese zehn Jahre sollten wir uns noch
einmal in Erinnerung rufen. Es ist also noch gar nicht so
lange her, dass wir uns weltweit darauf einigen konnten,
dass Kinderarbeit, und zwar ausbeuterische Kinderarbeit, in keiner Gesellschaft, egal wie sie beschaffen ist,
geduldet werden kann.
Für alle Jugendlichen und jungen Menschen: Es ist
gesetzlich klar geregelt, unter Kinderarbeit wird nicht
das Mithelfen im Haushalt verstanden; das vielleicht zur
Klarstellung. Nicht dass ein Kind morgen ankommt und
sagt: Ich bringe den Müll nicht mehr hinaus, weil das
Kinderarbeit ist. - Nein, das ist damit nicht gemeint.
Hier geht es um ausbeuterische Kinderarbeit, vor allem
in Ländern der Dritten Welt.
200 Millionen Kinder werden in ihrem Leben wirklich massiv von Kinderarbeit beeinträchtigt. Sie werden
ausgenutzt: in Fabriken zum Teppichknüpfen, in Steinbrüchen zum Steineschlagen, auf dem Feld zum Ernten,
und zwar in einer Art und Weise, dass ihre körperliche
und seelische Entwicklung massiv darunter leidet und
sie von jeglicher Bildung ferngehalten werden. Darum
geht es.
Marlene Rupprecht ({0})
Ich will mich nicht hier hinstellen - ich glaube, das
wird keiner von uns tun - und sagen: Wir sind die besseren Menschen, und wir wissen, worum es geht. - Nein,
es geht darum, dass ausbeuterische Kinderarbeit eine
ganz massive Menschenrechtsverletzung ist. Wir wissen
auch, dass Kinder nicht deswegen ausgebeutet werden,
weil ihre Eltern sie misshandeln wollen, sondern Kinder
werden ausgebeutet, weil Armut und Not so groß sind.
Deshalb müssen alle eingesetzten Maßnahmen dazu führen, dass Eltern ebenfalls aus ihrer Armut herauskommen, dass Kinder Bildung wahrnehmen können. Das
heißt, es braucht ein ganzes Maßnahmenbündel, damit
Kinderarbeit in diesen Ländern ein Ende hat.
({1})
Das ist die Grundvoraussetzung. Es geht hier nicht
um Gutmenschentum und auch nicht darum, unser Gewissen zu beruhigen. Nein, es geht darum, mit diesen
Ländern Verhandlungen zu führen, Projekte mitzufinanzieren, um Bildung zu ermöglichen, dass Kinder die
Schule besuchen können. Doppelt ausgebeutet sind
Mädchen, die sehr häufig verkauft werden, um in Haushalten als Sklavinnen zu arbeiten.
Was brauchen wir? Nachdem die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland voll ratifiziert und ohne Ausnahme anerkannt ist, ist sie Gesetz. Das heißt, jeder, der
sich nicht daran hält, begeht einen Gesetzesbruch. Es ist
notwendig, dass bei allen Maßnahmen, die wir ergreifen,
die Kinderrechte und die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation eingehalten werden. Auch
das Vergaberecht muss eingehalten werden; denn dort
steht eindeutig, dass all diese Belange zu berücksichtigen sind.
Wenn all das gemacht wird, haben wir eine Chance,
dass keine billigen Produkte auf den deutschen bzw. den
europäischen Markt gelangen, die durch ausbeuterische
Kinderarbeit entstanden sind, das heißt, dass Kinder
dazu benutzt werden, damit es uns gut geht.
Welches Problem haben wir als Verbraucher? Wir haben eine Vielfalt an Zertifikaten. Ich habe heute einmal
im Internet nachgeschaut: Angesichts der vielen Zertifikate und Siegel ist der Verbraucher völlig hilflos und
weiß nicht mehr, welche Zertifizierung dafür steht, dass
dieses Produkt ohne Kinderarbeit gefertigt wurde. Deshalb brauchen wir einen runden Tisch oder Ähnliches;
Versuche dazu sind schon unternommen worden. Die
Wirtschaft, die Politik, Abgeordnete, Regierung und
NGOs, Nichtregierungsorganisationen, die vor allem in
den Ländern aktiv gegen Kinderarbeit tätig sind, müssen
sich zusammensetzen und sich dann auf gemeinsame Label oder Zertifikate verständigen, damit das Ganze für
die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich durchschaubar
ist.
Wir müssen die Menschen aufklären, was Kinderarbeit wirklich bedeutet, statt das Thema beiseitezuschieben. Vor nicht einmal einem Jahrhundert gab es das auch
bei uns in Europa. Denken Sie nur an die Ausbeutung
der Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg, die im
Sommer über die Alpen zogen. Auch dem haben wir einen Riegel vorgeschoben und die Lebenssituation der
Menschen so verändert, dass das nicht mehr stattfindet.
Warum um Himmels willen soll es uns nicht gelingen,
weltweit für Kinder solche Lebensbedingungen zu
schaffen, dass es ihnen besser geht?
({2})
Dies muss die vornehmste Pflicht von Parlamenten und
Regierungen sein. Es muss ein Kernthema sein statt irgendein Nebenthema.
({3})
Dazu müssen wir auch die entsprechenden Organisationen in den Zielländern unterstützen, die versuchen, massiv dagegen vorzugehen. Wir haben die Mittel zurückgefahren, statt sie auszubauen.
Über 200 Millionen Kinder davor zu bewahren, halte
ich für eine richtig große Aufgabe. Deshalb reden wir
heute Abend über dieses Thema. Ich weiß, wie schwer es
Ihnen um diese Uhrzeit fällt,
({4})
zumal noch viele Themen auf der Tagesordnung stehen
und wir bis Mitternacht beraten. Ich hoffe, dass wir
heute Abend einen Konsens erzielen - deshalb haben wir
unseren Antrag vorgelegt - und alle Maßnahmen gemeinsam ergreifen und umsetzen, damit wir die Kinderarbeit künftig nicht mehr zum Thema machen müssen.
Vielen Dank.
({5})
Es spricht der Kollege Eckhard Pols für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Indien knüpfen Kinder bis zu 16 Stunden am Tag Teppiche. In Ägypten verätzen sich Kinder ihre Hände in Gerberlauge. In Kambodscha werden Kinder wie Waren als
Prostituierte oder Farmarbeiter nach Thailand verkauft.
All diese Kinderschicksale sind Beispiele für ausbeuterische Kinderarbeit.
Diese Kinderarbeit hat viele Gesichter: Sie kann in
Familien, in privaten Haushalten, in Form von Zwangsarbeit und Schuldknechtschaft oder kommerzieller sexueller Ausbeutung stattfinden, in der Industrie und in der
Landwirtschaft. Kinderarbeit raubt Kindern nicht nur
ihre Kindheit, sondern auch ihre Würde und ihre Gesundheit. Als Mitglied der Kinderkommission stehen für
mich bei jeder gesetzgeberischen Initiative das Wohlergehen und der Schutz von Kindern stets im Vordergrund.
Maßstab unseres Handelns in der Kinderkommission
sind in erster Linie die in der UN-Kinderrechtskonvention garantierten Rechte. Rechtsklarheit in Bezug auf
Kinderarbeit bringt Art. 32 der Kinderrechtskonvention.
Danach hat jedes Kind das Recht, vor wirtschaftlicher
Ausbeutung geschützt zu werden. Insbesondere dürfen
Kinder nicht zu einer Arbeit herangezogen werden, die
Gefahren mit sich bringt oder die Gesundheit des Kindes
oder seine körperliche, geistige, seelische, sittliche oder
soziale Entwicklung schädigen könnte. Jeder Staat, der
die Kinderrechtskonvention unterzeichnet hat, ist deshalb verpflichtet, Maßnahmen zum Kinderarbeitsschutz
zu ergreifen.
Meine Damen und Herren, unter uns Familien- und
Entwicklungspolitikern herrscht Einigkeit dahin gehend,
dass es ein weltweites Verbot von Kinderarbeit geben
muss. Das ist ein ambitioniertes politisches Ziel vor dem
Hintergrund, dass es für dieses komplexe und vielschichtige Problem keine einfache und schnelle Lösung
gibt. Das werden die Entwicklungspolitiker sicherlich
auch zweifelsfrei bestätigen können.
Es gilt vor allem, die Ursachen von Kinderarbeit zu
bekämpfen statt nur die Symptome. Arme Familien schicken Kinder zur Arbeit, um kurzfristiges Überleben zu
sichern. Das heißt, Armut erzeugt Kinderarbeit, welche
wiederum Armut, Ungerechtigkeit und Diskriminierung
hervorruft: ein wahrer Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.
Ich bin Ihnen eigentlich dankbar, Frau Rupprecht,
dass Sie als Opposition die Gelegenheit genutzt haben,
rechtzeitig zum Welttag gegen Kinderarbeit am 12. Juni
Ihren Antrag auf die Tagesordnung zu setzen. Ich vermisse aber in Ihrem Antrag etwas inhaltlich Neues oder
auch bisher nicht bekannte Forderungen.
({0})
Wenn man sich nämlich Ihren Antrag anschaut, stellt
man fest, dass er weitgehend inhaltsgleich mit Anträgen
aus vergangenen Jahren ist.
({1})
Wenn man dieses sehr wichtige Thema ernst nimmt,
dann muss inhaltlich mehr kommen.
({2})
Die Bekämpfung der weltweiten Kinderarbeit ist bereits seit vielen Jahren ein Schwerpunktthema unserer
Entwicklungspolitik. Ich scheue mich nicht davor, Ihr
Erinnerungsvermögen an dieser Stelle etwas aufzufrischen und Ihnen aufzuzeigen, dass wir bei der Bekämpfung der Kinderarbeit schon auf einem recht guten Weg
sind. In den letzten Jahren hat sich die Bundesregierung
auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene
verstärkt für die Verankerung der UN-Kinderrechtskonvention und der ILO-Übereinkommen 182 - Verbot und
unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit - und 138 - Mindestalter
für die Zulassung zur Beschäftigung - eingesetzt.
Nicht unerwähnt bleiben sollte, weil Sie das auch in
Ihrem Antrag fordern, dass Deutschland neben den USA
und Japan drittgrößter Geber im Rahmen des IPEC-Programms der ILO ist.
({3})
Bereits seit 1999 fördert die Bundesregierung dieses
Programm zur Beseitigung der Kinderarmut mit insgesamt 55 Millionen Euro.
Von elementarer Bedeutung im Hinblick auf jegliche
Maßnahmen ist für mich das Recht des Kindes auf Bildung, das in Art. 28 der UN-Kinderrechtskonvention
festgelegt ist. Wir sprechen somit von einem fundamentalen Recht von Kindern, das durch ausbeuterische Kinderarbeit ausgehebelt wird; denn Kinderarbeit verhindert
Schulbildung. Erst die Bildung von Kindern ermöglicht
ein selbstbestimmtes Leben und ein Ausbrechen aus dem
Teufelskreis der Armut.
Frau Rupprecht, es ist richtig - Sie haben es angesprochen -: Auch vor Ort, auf kommunaler Ebene, kann
gegen ausbeuterische Kinderarbeit aktiv gekämpft werden. Erfreulich ist, dass viele Länder und Kommunen in
den letzten Jahren bereits Maßnahmen ergriffen haben,
um die Beschaffung von Produkten aus ausbeuterischer
Kinderarbeit zu verhindern. Auch das deutsche Vergaberecht - Sie haben es angesprochen, Frau Rupprecht - ermöglicht es, dass öffentliche Auftraggeber zusätzliche
Voraussetzungen für die Ausführung des Auftrags vorschreiben.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich in Deutschland
mittlerweile über 250 Städte, Gemeinden und Landkreise der Kampagne „Aktiv gegen Kinderarbeit“ angeschlossen haben und damit eindeutig bekundet haben,
dass sie Kinderarbeit ablehnen.
Auch wir als Bürgerinnen und Bürger können als Verbraucher aktiv gegen Kinderarbeit werden. Produkte aus
ausbeuterischer Kinderarbeit werden in Deutschland
verkauft. Wir haben es schon gehört; Beispiele sind auch
angeführt worden. Ich nenne nur Textilien, Natursteine,
Kaffee, Kakao und auch Fußbälle.
({4})
In allen diesen und weiteren Waren kann Kinderarbeit
stecken.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Deutschland
entgegen der in Ihrem Antrag vertretenen Auffassung
sehr aktiv im Kampf gegen Kinderarbeit ist. Bund, Länder, Kommunen, Unternehmen und Bürger sind zunehmend sensibilisiert und ergreifen vermehrt Maßnahmen,
um Produkte, die durch Kinderarbeit entstanden sind, zu
ächten.
Kinderarbeit zu tolerieren, ist unvereinbar mit der Investition in Kinder; denn Investitionen in unsere Kinder
sind Investitionen in eine bessere Zukunft eines jeden
Landes.
Vielen Dank.
({5})
Katrin Werner hat für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass aktuell weltweit circa 215 Millionen Kinder arbeiten müssen. Davon werden etwa 115 Millionen unter sklavenähnlichen Bedingungen ausgebeutet.
Die Linke hat vor einem Jahr hierzu einen Antrag in
den Bundestag eingebracht. Nun hat die SPD einen Antrag vorgelegt. Ich finde es richtig, dass wir mit Blick auf
den vorgestrigen Internationalen Tag gegen Kinderarbeit
erneut dieses Thema aufgreifen.
({0})
Die Länder der Dritten Welt sind von ausbeuterischer
Kinderarbeit besonders betroffen. Die wichtigste Ursache ist Massenarmut. Kinder arbeiten überall dort, wo
ihre Eltern bitterarm sind. Die Kinder werden in Steinbrüchen, in der Sexindustrie, auf Plantagen oder in Privathaushalten ausgebeutet. Laut UNICEF bekommen
vier von fünf Kindern für ihre Arbeit noch nicht einmal
einen Lohn. Allein in Indien arbeiten circa 150 000 Kinder als Arbeitssklaven in häufig lebensgefährlichen
Steinbrüchen. Die schwere körperliche Arbeit führt zu
Hauterkrankungen, Atemproblemen, gebrochenen Armen und Beinen, Taubheit und Blindheit. Zahlreiche
Kinder sterben an den Folgen dieser Arbeit. Ausbeuterische Kinderarbeit ist für uns moderne Sklaverei und gehört abgeschafft.
({1})
Die sozialen Ursachen für diese Kinderarbeit müssen
in den betroffenen Ländern bekämpft werden. Hierbei
muss die Bundesregierung die Bekämpfung der Massenarmut weitaus stärker unterstützen. Stattdessen hat
Deutschland aber seit Jahren die vereinbarte Zusage,
0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, bis heute nicht erfüllt. Es werden nur 0,4 Prozent bereitgestellt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, es ist wichtig,
dass Deutschland im Jahr 2002 das ILO-Übereinkommen über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur
Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit
ratifiziert hat. Allerdings zählt Deutschland auch zu den
Absatzmärkten für Produkte aus dieser Kinderarbeit. Die
Linke unterstützt deshalb den Beschluss des Bundesrates
vom 9. Juli 2010, möglichst auch den Marktzugang von
Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu verhindern. So stammen zum Beispiel allein zwei Drittel aller
Grabsteine auf deutschen Friedhöfen ursprünglich aus
Indien, wo die Steine von Kindern abgeschlagen werden.
Was ist mit dem von Kindern abgebauten Marmor?
Was ist mit der Goldkette aus Afrika? In Burkina Faso
arbeiten zwischen 60 000 und 200 000 Kinder in Goldminen. Rund 70 Prozent von ihnen sind unter 15 Jahren.
Schon Fünfjährige müssen beim stundenlangen Goldwaschen im kalten, schlammigen Wasser mithelfen. Daran
verdienen sich internationale Großkonzerne eine goldene Nase. Das müssen wir verhindern.
Wir fordern: Wir brauchen umgehend ein gesetzliches, möglichst EU-weites Verbot für die Einfuhr, den
Handel und die Verwendung von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit.
({2})
Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge durch Bund, Länder und Kommunen muss öffentlich gemacht werden, ob
die ILO-Konventionen gegen Kinderarbeit im Herkunftsland und in der Lieferkette lückenlos eingehalten
werden. Für die Linke gehört beides zusammen: Marktzugangssperren bei uns und Bekämpfung der sozialen
Ursachen der Kinderarbeit in den Entwicklungsländern.
({3})
Nur dann haben Kinder und Eltern eine Zukunft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der weltweite
Schutz der Kinderrechte muss Vorrang vor Profitinteressen von Unternehmen haben. Darüber muss über die
Fraktionsgrenzen hinweg Einigkeit bestehen. Der Antrag der SPD spricht wichtige Punkte an, über die wir in
den Ausschüssen reden müssen. Kinder sind unsere Zukunft und brauchen unseren besonderen Schutz.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Pascal Kober spricht jetzt.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation,
ILO, zufolge sind auch heute noch 215 Millionen Kinder
weltweit gezwungen, zu arbeiten. Rund 115 Millionen
dieser Kinder müssen sogar den schlimmsten, weil besonders gefährlichen Formen von Arbeit nachgehen. Sie
schmuggeln Drogen, sie müssen in Steinbrüchen arbeiten, und sie werden gezwungen, sich zu prostituieren
oder als Soldaten in den Krieg zu ziehen.
Vergangenen Dienstag fand der Welttag gegen Kinderarbeit statt. Angesichts der geschilderten Fakten soll
uns dieser Gedenktag ermahnen, in unseren Bemühungen um eine weltweite Ächtung ausbeuterischer Kinderarbeit nicht nachzulassen.
({0})
Ausbeuterische Kinderarbeit ist in den meisten Fällen
eine Folge der Armut der Eltern. Viele Familien sind darauf angewiesen, dass ihre Kinder zum Einkommen beitragen; denn die allermeisten Eltern - davon bin ich
überzeugt - würden ihre Kinder niemals zur Arbeit schicken, wenn sie nicht äußerste Not dazu zwingen würde.
Wir haben es hier jedoch mit einem Teufelskreis aus
Armut, ausbeuterischer Kinderarbeit und fehlender
Schulbildung zu tun; denn nicht nur kann ausbeuterische
Kinderarbeit bei diesen Kindern zu Traumatisierung und
Krankheiten führen und birgt erhebliche körperliche Gefahren bis hin zum Tod; nein, darüber hinaus mangelt es
diesen Kindern meist auch an Schulbildung. Denn während sie arbeiten müssen, können sie weder eine Schule
besuchen noch eine Ausbildung erhalten. Dadurch verlieren sie ihre späteren Chancen auf einen höher qualifizierten Arbeitsplatz und bleiben selbst in der Armut wie
ihre Eltern gefangen. In der Folge werden ihre eigenen
Kinder wieder Gefahr laufen, arbeiten zu müssen; denn
wenn die Not der Eltern groß genug ist, ist auch die Not
groß, ihre eigenen Kinder als Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. So wird dieser Teufelskreis an die nachfolgende Generation vererbt.
Um dieses Problem anzugehen, müssen wir an vielen
Stellen gleichzeitig ansetzen. Beispielsweise wirken die
Bundesregierung und die Deutsche Botschaft in Taschkent
auf vielen Ebenen auf die Regierung Usbekistans ein, wo
ausbeuterische Kinderarbeit nach wie vor ein drastisches
Problem darstellt. Ich möchte meine Rede auch nutzen,
um auf die kläglichen und unhaltbaren Zustände bei der
dortigen Baumwollernte exemplarisch aufmerksam zu
machen. Zwar hat Usbekistan bereits die ILO-Konventionen zur Abschaffung von Zwangsarbeit und zur Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit ratifiziert, dennoch ist bisher kaum erkennbar, dass den
Unterschriften auch entsprechende Maßnahmen zur Umsetzung folgen. Im Gegenteil: Die usbekische Regierung
weigert sich beharrlich, eine unabhängige ILO-Untersuchungskommission einreisen zu lassen.
Die FDP-Bundestagsfraktion verurteilt diese Arbeitseinsätze unter Zwang und den Einsatz von Kinderarbeit.
Daher möchte ich es begrüßen, dass die Deutsche Botschaft Taschkent die jährliche Baumwollernte nicht nur
genau beobachtet, sondern sich auch bilateral, im Kreise
der Europäischen Union und in internationalen Gremien
mit Nachdruck gegenüber den usbekischen Behörden für
die Beseitigung von Kinderarbeit einsetzt, so im vergangenen Jahr bei den deutsch-usbekischen politischen
Konsultationen, beim EU-Usbekistan-Kooperationsrat
und bei der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO.
Dieses Engagement möchte die FDP-Fraktion durch einen Appell an die usbekische Regierung unterstützen,
noch in diesem Jahr eine ILO-Untersuchungskommission einreisen zu lassen.
({1})
Nicht nur das Auswärtige Amt, sondern auch das Entwicklungsministerium mit Dirk Niebel an der Spitze ist
sehr aktiv bei der Bekämpfung von Kinderarbeit.
({2})
Ein besonders positives Beispiel ist das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung geförderte Programm in Burkina Faso, das
bis 2015 mit voraussichtlich 5,6 Millionen Euro unterstützt wird. Dort nutzen Kinderhändler die weitverbreitete Armut in besonderem Maße aus. Mit der Aussicht
auf ein besseres Leben überzeugen sie Eltern davon, ihre
Kinder wegzugeben. Mehr als 160 000 Kinder sind so zu
Opfern von Kinderhandel und den schlimmsten Formen
von Kinderarbeit geworden.
Das Programm gegen Kinderarbeit des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geht hiergegen vielschichtig vor. Neben Beratungstätigkeit gehören Theateraufführungen zu den
Themen Kinderhandel und Kinderarbeit ebenso dazu
wie die Förderung des Schulbesuchs von Mädchen. Die
ersten Ergebnisse stimmen hoffnungsvoll. In den Dörfern, die in das Programm integriert sind, stieg die Anzahl der Mädchen, die eine Schule besuchen, deutlich
an. Obwohl sich die Kampagne in erster Linie an Mädchen richtet, nahm zugleich auch der Schulbesuch der
Jungen in beachtlichem Maße zu.
Die Arbeit des Programms wird mittlerweile von der
lokalen Bevölkerung anerkannt und geschätzt. Inzwischen sprechen sich 90 Prozent der Bevölkerung in den
Schwerpunktregionen gegen Kinderhandel und gegen
Kinderarbeit aus. Die Medien in Burkina Faso berichten
regelmäßig über die Aktivitäten, was wesentlich dazu
beiträgt, dass sich das Bewusstsein in der Gesellschaft
nach und nach ändert.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
möchte betonen, dass die FDP Ihr Anliegen teilt, ausbeuterische Kinderarbeit weltweit zu ächten. Wie Sie an den
aufgeführten Beispielen jedoch sehen, ist die Bundesregierung bei der Bekämpfung ausbeuterischer Kinderarbeit bereits äußerst aktiv. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten gemeinsam die Bundesregierung auf
Ihrem Weg unterstützen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({3})
Katja Dörner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Es ist absolut alle Energie wert und
auch nötig, ausbeuterische Kinderarbeit zu bekämpfen.
Wir sprechen hierbei über fast eine Viertelmilliarde Kinder und junger Menschen weltweit, davon rund 70 Millionen Kinder, die noch nicht einmal zehn Jahre alt sind.
Wir reden gerade nicht über Zeitungsaustragen oder einen Ferienjob, sondern wir reden über ausbeuterische
Verhältnisse, über Arbeitsverhältnisse, die zum Teil faktische Versklavung darstellen oder der Versklavung sehr
nahekommen. Das Schlimmste ist eigentlich, dass wir
registrieren müssen, dass die Zahlen wieder ansteigen.
Ich muss auch sagen, dass mir persönlich die autosuggestiven Mantras, die wir vonseiten der Regierungsfraktionen nach dem Motto „Wir sind auf einem guten Weg,
und wir machen doch schon alles“ hören, zu wenig sind.
Ich finde, die kleinen Näherinnen, die kleinen Knüpfer,
die elfjährigen Haushaltsgehilfinnen mit 70-StundenWoche, von denen ich in meiner Zeit in Afrika einige
kennengelernt habe, haben mehr Engagement verdient auch und gerade von dieser Bundesregierung.
({0})
Ich finde es gut, dass der Antrag, den wir heute beraten, deutlich macht, dass man auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen muss.
({1})
Ein einheitliches Zertifizierungssystem für die gesamte Produktions- und Lieferkette wäre ein sehr wichtiger Schritt. Mehr Informationen für die Verbraucherinnen und die Verbraucher wären auch ein deutlicher
Fortschritt, weil tatsächlich viele überhaupt nicht wissen,
dass sie es in ihrem Alltag mit Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit zu tun haben. Selbstverständlich
- das sollte wirklich selbstverständlich sein - muss die
Bundesregierung bei ihrer eigenen Auftragsvergabe und
Beschaffung eine Vorreiterrolle einnehmen.
Wir müssen aber vor allem den Blick auf die Ursachen von Kinderarbeit richten. Denn nur so kann dieses
Übel tatsächlich an der Wurzel gepackt werden. Die
Ursache von ausbeuterischer Kinderarbeit ist Armut
- das wurde heute Abend schon mehrfach gesagt -, also
die wirtschaftliche Situation der Familien und der Eltern,
die häufig keine andere Wahl lässt. Deshalb sind simple
Boykottappelle, wie es sie immer wieder einmal gibt,
oder auch Forderungen nach Einfuhrverboten sicherlich
gut gemeint;
({2})
aber ohne flankierende Maßnahmen können sie fatale
Folgen haben, weil sie die Situation der Kinder und ihrer
Familien zum Teil verschärfen.
Es ist von daher ganz wichtig, in der Entwicklungszusammenarbeit den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme viel stärker in den politischen Fokus zu
rücken. Wenn die Eltern in die Lage versetzt werden,
ihre Kinder selbst zu versorgen, und wenn es ein kostenloses Bildungssystem gibt, das es auch den ärmsten Kindern wirklich erlaubt, die Schule zu besuchen, dann kann
der Teufelskreis aus Armut und fehlender Bildung
durchbrochen werden.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Herausforderung ist groß. Nur eine kluge Kombination aus selektiven Verboten und staatlicher Unterstützung von Familien inklusive internationaler Sozialpolitik kann
ausbeuterische Kinderarbeit nachhaltig bekämpfen.
({3})
Aber gerade internationale Sozialpolitik kostet Geld. Für
uns Grüne ist klar - das möchte ich hier noch einmal
deutlich sagen -, dass wir zum 0,7-Prozent-Ziel stehen.
Wir sind bereit, die notwendigen Mittel im Bundeshaushalt umzuschichten.
({4})
Dass die schwarz-gelbe Bundesregierung hinter den finanziellen Zusagen, die Deutschland in der Entwicklungszusammenarbeit gemacht hat, weit zurückbleibt,
zeigt leider, wie wenig ernst es den Regierungsfraktionen mit ihren warmen Worten in Debatten wie der, die
wir heute Abend führen, ist.
Die Bundesregierung ist nicht zuletzt durch die Ratifizierung der ILO-Kernarbeitsnormen verpflichtet, aktiv
gegen ausbeuterische Kinderarbeit vorzugehen. Wenn
Deutschland im Zusammenhang mit der UN-Kinderrechtskonvention seine Vorreiterrolle behalten möchte,
dann braucht es deutlich mehr internationales Engagement. Also: weniger schöne Worte und mehr Taten.
250 Millionen Kinder heute und auch alle, die leider zukünftig wahrscheinlich von ausbeuterischer Kinderarbeit
betroffen sein werden, haben mehr Engagement verdient, auch und insbesondere von dieser Bundesregierung.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Paul Lehrieder spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Vor zwei Tagen war der Internationale
Tag gegen Kinderarbeit - Frau Kollegin Rupprecht hat
darauf hingewiesen -, der Jahrestag der Verabschiedung
der ILO-Konvention 182, in der weitreichende Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarbeit beschlossen wurden. Geht es nach der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, dann sollen bis 2016, also in vier Jahren,
weltweit die schlimmsten Folgen von Kinderarbeit ausgerottet sein - ein ambitioniertes, bei weitem noch nicht
erreichtes Ziel.
Wir alle setzen uns für eine Welt ohne Kinderarbeit
ein; hier herrscht in diesem Haus sicherlich Konsens.
Doch dieses ehrgeizige Ziel wird vor allem in der Dritten
Welt schwer zu erreichen sein. Auch hierauf hat Kollegin Marlene Rupprecht bereits hingewiesen. Ausbeuterische Kinderarbeit ist in den allermeisten Fällen schlicht
eine Folge von Armut. Viele Familien sind schlichtweg
darauf angewiesen, dass ihre Kinder zum Einkommen
beitragen.
Anlässlich des Internationalen Tags gegen Kinderarbeit hat die SPD-Fraktion vorgestern einen Antrag mit
dem Titel „Wirksame Maßnahmen gegen ausbeuterische
Kinderarbeit durchsetzen“ vorgelegt. Dazu möchte ich
gern auf die Antwort der Bundesregierung, Drucksache 17/6662, auf Ihre Kleine Anfrage, Drucksache 17/6545, zu diesem Thema verweisen. In dieser
Antwort, bereits vom 25. Juli 2011, ist ausführlich dargestellt, welche vielfältigen Maßnahmen Deutschland
beim Kampf gegen Kinderarbeit bislang ergriffen hat.
Die Bundesregierung unterstützt die ILO seit Jahren
im Kampf gegen Kinderarbeit. So setzt sie sich für die
weltweite Ratifizierung der ILO-Konvention 182 zur
Beseitigung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit
ein. Darüber hinaus setzt sich die Bundesregierung auch
für eine Verankerung dieser Normen in der Arbeit des
Internationalen Währungsfonds und der Weltbankgruppe
ein.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit fördert
bereits seit Anfang der 1990er-Jahre das Internationale
Programm zur Abschaffung der Kinderarbeit, IPEC, der
ILO. Es unterstützt die teilnehmenden Länder bei der
Umsetzung von Strategien zur Bekämpfung der Kinderarbeit. Seit Gründung der für die Beseitigung der
Kinderarbeit zuständigen ILO-Abteilung, IPEC, war
Deutschland eine der größten Geldgeber; die Kollegen
haben bereits darauf hingewiesen.
Nachdem Frau Kollegin Rupprecht sehr viel Richtiges und Richtungsweisendes - ich kann das nicht zu jeder Rede sagen - zu diesem Thema bereits ausgeführt
hat, beziehe ich mich auf die Worte meiner Vorredner,
der Kollegin Marlene Rupprecht, des Kollegen Pols, und
gönne Ihnen die zwei Minuten und 30 Sekunden, die ich
noch an Redezeit hätte. Ich wünsche Ihnen noch einen
schönen Abend und nachher dem einen oder anderen
viel Spaß bei dem Sommerfest der DPG.
Herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Rebmann hat seine Rede netterweise zu
Protokoll gegeben,1) sodass wir am Ende der Aussprache
sind.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9920 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Kauder, Ute Granold,
Erika Steinbach, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Marina Schuster, Serkan Tören, Pascal Kober,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Fortbestand des Klosters Mor Gabriel sicherstellen
- Drucksachen 17/9185, 17/9914 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Angelika Graf ({1})
Katrin Werner
Volker Beck ({2})
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika
Graf ({3}), Klaus Brandner,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Kloster Mor Gabriel weiter schützen
- Drucksache 17/9921 -
Es wird vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu
geben.2) - Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren
wir so und kommen zur Abstimmung.
Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre
Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9914, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/9185 anzu-
nehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung
durch die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Die
Linken haben dagegen gestimmt, die SPD hat sich ent-
halten.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/9921 mit dem Titel „Kloster Mor
Gabriel weiter schützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abge-
lehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion
und Bündnis 90/Die Grünen. Alle anderen waren dage-
gen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rio 2012 - Nachhaltige Entwicklung jetzt um-
setzen
- Drucksache 17/9922 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
1) Anlage 7 2) Anlage 8
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Eva Bulling-Schröter, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rio+20 - Globale Gerechtigkeit statt grüner
Kapitalismus
- Drucksachen 17/9732, 17/9988 Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Heiderich
Dr. Bärbel Kofler
Harald Leibrecht
Ute Koczy
Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Somit eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort
dem Kollegen Dr. Matthias Miersch für die SPD-Fraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Präsidentin, Sie haben sich eben bei einem Kollegen bedankt, weil er seine Rede netterweise zu Protokoll
gegeben hat. Ich will an dieser Stelle sagen, dass ich es
für gerechtfertigt und angezeigt halte, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt nicht zu Protokoll zu geben
und ihm einen Platz in diesem Plenum zu geben.
Warum? In der nächsten Woche trifft sich die Staatengemeinschaft dieser Welt, um in Rio de Janeiro über
Nachhaltigkeit zu diskutieren. 20 Jahre nach dem ersten
Weltgipfel trifft sich die Staatengemeinschaft, um die
großen Probleme dieser Zeit und die großen Probleme
für zukünftige Generationen miteinander zu besprechen
und zu diskutieren.
Ich glaube, es ist ein bisschen symptomatisch, dass
wir diesen Punkt heute erst zu so später Stunde diskutieren. Der Begriff der Nachhaltigkeit findet zwar in mehr
oder weniger jeder Politikerrede seinen Platz. Aber
Nachhaltigkeit ist inzwischen zu einem Begriff verkommen, der beliebig verwendet wird.
({0})
Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Parlament
und dass die deutsche Bundesregierung diesen Begriff
und diese Entwicklung, die 1992 in Rio de Janeiro begann, mit neuem Leben erfüllen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, 20 Jahre nach Rio blicken wir auf
eine Bilanz, angesichts derer wir uns eingestehen müssen, dass wenig von dem erfüllt wurde, was man sich
1992 vorgenommen hat. Wir haben weiter exorbitant
steigende CO2-Emissionen, noch nie lebten so viele unter der Armutsgrenze, und wir haben einen täglichen
Verlust biologischer Vielfalt. All die Dinge, die wir brauchen, um auf diesem Planeten zu leben, reißen wir als lebende Generation tagtäglich nieder. Das darf so nicht
weitergehen. Da müssen wir etwas verändern.
({1})
Es ist symptomatisch, dass die Bankenrettung, die
Rettung des Finanzsystems ganz oben auf der Tagesordnung steht - möglicherweise zu Recht.
({2})
Ich sage Ihnen, Herr Kollege Brand: Ich bin fest davon
überzeugt, dass wir miteinander ein Finanzsystem, ein
Bankensystem retten können. Aber bei den Punkten, die
ich eben aufgezählt habe - da geht es um Schöpfung, um
Ressourcen -, haben wir ein Gegenüber, mit dem wir
nicht verhandeln können. Das müssen wir Politiker,
liebe Kolleginnen und Kollegen, endlich begreifen,
wenn wir das Umsteuern ernst meinen.
({3})
Es kann nicht so sein, dass wir die Ressourcen, von
denen wir heute wissen, dass sie endlich sind - beispielsweise das Öl; da ist der Zenit schon längst überschritten -, weiter verantwortungslos ausplündern, obwohl wir wissen, dass die Weltbevölkerung in den
nächsten Jahren massiv zunehmen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer diesen Pfad nicht erkennt, der
handelt verantwortungslos gegenüber allen Generationen, die nach uns kommen.
({4})
Es ist bedauerlich, dass die Kanzlerin zum G-20-Gipfel nach Mexiko reist, es aber nicht auf sich nimmt, im
Anschluss ein paar Hundert Kilometer weiterzufliegen.
({5})
- Zumindest müsste sie nicht mehr über den großen
Teich, Kollege Kauch; sie ist ja dann schon auf diesem
Kontinent. - Die Kanzlerin bringt es nicht zustande, das
zu machen, was Helmut Kohl 1992 beim ersten Weltgipfel gemacht hat, was Gerhard Schröder beim Weltgipfel
in Johannesburg zehn Jahre später gemacht hat, nämlich
dort im Sinne der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie für
einen anderen Weg zu werben.
({6})
Ich finde, es ist ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung, dass die Kanzlerin diese Kraft nicht aufbringt,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
Worum ginge es? Es ginge darum, Vertrauen herzustellen, Vertrauen bei den Staaten herzustellen, die
augenblicklich noch festhalten am alten Denken, die
festhalten am alten Energiesystem der fossilen Energieversorgung oder an einem Energiesystem, von dem
gesagt wird, das sei die neue grüne Technologie, nämlich
an der Atomkraft. Wir könnten in Rio aktiv und offensiv
für den anderen Weg werben, den wir in diesem Haus
inzwischen in großem Konsens vereinbart haben. Wir
könnten für den Umstieg werben.
Auf der internationalen Ebene hat das viel mit Symbolik zu tun. Wenn die Bundesrepublik Deutschland dort
lediglich mit zwei Ministern vertreten ist - ich sage das
nicht abwertend - und nicht mit der Staatschefin, dann
zeigt das, wie ernst die Bundesregierung diese Entwicklung letztlich nimmt und wie ernst sie letztlich auch den
Weg ins neue Zeitalter, ins nachhaltige Zeitalter, nimmt,
liebe Kolleginnen und Kollegen - ein fatales Signal.
({7})
Ich meine, es geht darum, dass wir den Begriff der
nachhaltigen Entwicklung mit dem versehen, was ihn
ausmacht, nämlich mit Verbindlichkeit. Wir werden
darum kämpfen müssen. Ich bin mir sicher, dass die Parlamentariergruppe und die beiden Bundesminister versuchen werden, dort in großer Einigkeit zumindest dafür
zu werben. Wir werden versuchen, die Verbindlichkeit
durch klare Zielsetzungen bei den unterschiedlichsten
Themen - Armutsbekämpfung, Klimawandel, Erhalt der
biologischen Vielfalt - zu normieren.
Wir werden dafür kämpfen müssen, dass dort ein klares Zeitraster beschrieben wird, dass es möglicherweise
auch länderspezifische Angebote gibt, die auf Stärken
und Schwächen der jeweiligen Länder Rücksicht nehmen. Wir werden aber vor allen Dingen darum kämpfen
müssen, einen institutionellen Rahmen zu schaffen. Das
darf nicht darin münden, dass eine UN-Laberbude entsteht, in der man sich gegenseitig beteuert, wie wichtig
Nachhaltigkeit ist, die aber kein Gremium mit Zähnen
ist, das tatsächlich auch die nationale Politik beeinflussen kann.
Um diese Fragen werden wir ringen. Wir wissen, dass
die Rahmenbedingungen augenblicklich nicht günstig
sind. Umso wichtiger wäre es, unsere Argumente dort
mit großer Schlagkraft vorzubringen, und umso bedauerlicher ist die Nichtteilnahme der Bundeskanzlerin an dieser Konferenz.
Von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD liegt heute
ein Antrag vor, in dem wir sehr viele Punkte aufgeschrieben haben, aus denen sich deutlich ergibt, welche
Handlungsfelder vor uns liegen. Diese Handlungsfelder
betreffen die Existenz der Menschheit. Das muss uns
klar sein.
Ich wünsche mir, dass der Stellenwert der nachhaltigen Entwicklung in der UN, aber vor allen Dingen auch
in diesem Haus mehr Beachtung erfährt. Ich glaube, wir
sind aufgerufen, dort mit möglichst einer Stimme zu
sprechen. Die Weltgemeinschaft braucht eine starke
Stimme der Nachhaltigkeit. Ich verspreche mir von der
Teilnahme der Parlamentarier, dass sich der Spirit, also
der Geist, wie er auf der Rio-Konferenz im Jahre 1992
geherrscht hat, auf die Parlamente dieser Welt auswirkt.
Es sollte nicht nur eine Regierungskonferenz sein. Es
sollten nach dieser Konferenz Gesetze folgen, denen
man entnehmen kann, dass Nachhaltigkeit auch im Gesetz ein Gesicht bekommt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Mir liegt sehr daran, deutlich zu machen, dass es nicht
so ist, dass es mich gefreut hat, als Herr Rebmann seine
Rede zu Protokoll gegeben hat. Ich hätte ihn sehr gerne
gehört, und er hätte sehr gerne geredet. Für den Fortgang
der Sitzung war es aber sehr wichtig, dass sich das Präsidium nicht auflöst. Insofern bitte ich, mich nicht falsch
zu verstehen.
Ich rufe jetzt den Kollegen Göppel für die CDU/CSUFraktion auf.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich teile die Meinung des Kollegen Matthias Miersch,
dass diese Konferenz auch von uns mehr Beachtung verdient. In einem allerdings, lieber Freund Matthias
Miersch, bin ich beruhigter: Nachhaltigkeit kann man
zwar zu einem beliebigen Wort machen. Als Förster sage
ich aber: Die Gesetze der Natur kann der Mensch durch
Nichtbeachtung nicht außer Kraft setzen. Die Natur wird
sich wieder melden. Es ist nur die Frage, wie viel Leid
bis dahin über Menschen in verschiedenen Erdteilen
gebracht wird. Es liegt jetzt in unserer Verantwortung, zu
handeln.
Es macht sich allerorten Ernüchterung breit. Es wird
viel über Klein-Klein geredet. Es wird gesagt, vor
20 Jahren gab es eine große Aufbruchstimmung. Das
stimmt auch. Diejenigen unter uns, die dies damals in
den Medien oder direkt vor Ort verfolgen konnten, wissen, dass nach der Überwindung der Ost-West-Konfrontation eine geradezu euphorische Stimmung herrschte.
Aus diesem Geist heraus war bei der ersten Rio-Konferenz manches möglich. Ich erwähne die Agenda-21Gruppen, die bis in die letzte Gemeinde hinein gewirkt
haben und zum Teil heute noch aktiv sind.
Schaut man sich die vergangenen 20 Jahre an, so stellt
man positive Entwicklungen fest: der rasante Aufwuchs
der erneuerbaren Energien oder das Heranwachsen der
Zivilgesellschaft zu einer mächtigen Bewegung, die über
das Internet die Entwicklungen in dieser Welt beeinflussen kann. Diese Dinge können die Grundlage für eine
neue Bewegung sein, die von dieser Konferenz ausgeht.
Ich halte das Ziel der Rio-Konferenz, weltweit globale Nachhaltigkeitsziele festzulegen - eines von drei
Zielen -, für richtig. Wenn es solche Ziele gibt, dann
können Menschen in verschiedensten Ländern auch darauf Bezug nehmen und sie einfordern. Das ist so ähnlich wie bei der Agenda 21.
Nehmen wir die Wissenschaft. Ich nenne hier den
WBGU, den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung „Globale Umweltveränderungen“. Er spricht von
der großen Transformation, die notwendig ist. Ins Deutsche übersetzt, heißt dies, dass wir unser Leben und
Wirtschaften in Einklang mit der Natur bringen. Eine
solche Entwicklung hat viele Facetten: eine Energieversorgung, die kleinteiliger ist, die auf erneuerbare Quellen
baut und die auch von den Menschen in den Entwicklungsländern gehandhabt werden kann, oder auch eine
Bewegung, die nicht auf das Besitzen von Dingen, sondern auf das Nutzen von Dingen abstellt. Dies bringt
eine ganz andere Art des Wirtschaftens und der Nachhaltigkeit in Gang: Wenn etwa jemand Dinge vermietet,
dann haben der Hersteller und der Vermieter ein Interesse daran, dass diese Sachen möglichst lange genutzt
werden können. Deswegen sehe ich - ich sage es noch
einmal - auch sehr positive Aspekte.
Entscheidend ist aber immer, was wir in unserem
eigenen Land machen. Hier steht die Energiefrage im
Mittelpunkt. Es geht darum, die Energiewende entschlossen weiterzuführen, und zwar in der Weise, dass
wir unsere Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen
vorantreiben.
Die japanische Regierung und das Parlament in Tokio
haben übrigens erst jüngst das Motto ausgegeben, Japan
solle die energieeffizienteste Volkswirtschaft der Welt
werden. Dieses Motto will man dann auf die Märkte der
Welt übertragen, das heißt Exportieren zum eigenen Nutzen.
Minister Altmaier hat im Umweltausschuss betont,
dass bereits im Vorfeld der Konferenz von Rio viele Anfragen an ihn gerichtet wurden, er möge doch über die
deutsche Energiewende berichten. Dieses Experiment
wird in der Welt aufmerksam beobachtet; viele Menschen knüpfen Hoffnungen daran. In der Tat gibt es kein
anderes Land, das einen so entschlossenen Weg geht wie
Deutschland.
In Rio kursiert ein zweites Schlagwort: Green Economy. Manche sagen, Green Economy sei ein Wolf im
Schafspelz.
({0})
Warum? Weil effizientere Autos bei zugleich immer
schwereren Fahrzeugen oder immer intensiverer Nutzung letztlich doch ein Mehr an Umweltbelastungen mit
sich bringen. Wir müssen sicherlich aufpassen, dass es
wirklich zu Entlastungen und nicht zu neuen Belastungen kommt. Trotzdem halte ich den eingeschlagenen
Weg für richtig. Die Richtung stimmt, wenn beispielsweise der Bundesverband der Deutschen Industrie gemeinsam mit dem Bundesumweltminister ein entsprechendes Memorandum unterschreibt.
Ich darf noch einmal auf unsere Verantwortung
zurückkommen. Wir haben den Weg der Energiewende
beschritten. Diejenigen, die auf diesem Weg umkehren
wollen, schaden letztlich unserem Land, weil die fossilen Energien keine dauerhafte Zukunftsperspektive für
unseren Planeten bieten.
({1})
Deswegen ist die deutsche Energiewende richtig. Es
liegt in unserer Verantwortung, diesen Weg erfolgreich
zu gehen. Dann tun wir am meisten für den Gedanken
der Nachhaltigkeit in der Welt.
({2})
Heike Hänsel hat das Wort für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Göppel hat die Aufbruchsstimmung im
Jahr 1992 angesprochen. Ich habe diese Zeit als Studentin miterlebt. Nach der Blockkonfrontation gab es in
ganz Europa oder sogar weltweit die Hoffnung auf die
sogenannte Friedensdividende. Man wollte die Einsparungen, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges
durch die Senkung der Rüstungsausgaben ergeben hatten, für nachhaltige Entwicklung einsetzen.
Damals gab es im Zuge dieser Aufbruchsstimmung
die Idee der lokalen Agenden; das bedeutete, die konkrete Verantwortung in den Kommunen zu organisieren.
Viele Hunderttausende Menschen und etliche Gruppen
haben sich damals auf den Weg gemacht; auch ich habe
mich engagiert. Heute gibt es diese Aufbruchsstimmung
nicht mehr. Wenn wir nach nunmehr 20 Jahren Bilanz
ziehen und prüfen, wo wir heute stehen, dann stellen wir
fest, dass wir die höchsten Rüstungsausgaben zu verzeichnen haben, die weltweit jemals existierten, nämlich
mehr als 1 Billion Dollar jährlich. Das ist das Zehnfache
dessen, was für den Bereich der Entwicklung ausgegeben wird.
Deshalb unterstützen wir zum Beispiel eine Initiative,
die im Vorfeld des Rio-Gipfels von Friedensnobelpreisträgern ins Leben gerufen wurde. Sie heißt „Abrüsten für
nachhaltige Entwicklung“.
({0})
Diese Initiative sieht vor, bei den Rüstungsausgaben mindestens 10 Prozent jährlich einzusparen und diese Ersparnisse in einem Fonds bei den Vereinten Nationen anzulegen, um dadurch Armut und Hunger zu bekämpfen. Das
ist eine sehr gute Initiative. Sie steht natürlich im Gegensatz zu dem, was ansonsten auf dem Gipfel diskutiert
wird.
Es wurde schon erwähnt: Es geht nicht mehr um
Nachhaltigkeit; das neue Schlagwort heißt Green Economy. Wenn wir uns das genau anschauen, erkennen wir
darin eigentlich nichts anderes als grünen Kapitalismus:
Weitere Bereiche des Lebens soll einer Profitlogik unterstellt werden. Mit nachhaltiger Entwicklung war etwas
ganz anderes gemeint. Da ging es auch um die soziale
Dimension der Entwicklung, nicht nur um eine ökologische Erweiterung und Erschließung neuer Märkte mit
sogenannter grüner Technologie. Deswegen sagen wir:
Wir wollen diese Form des grünen Kapitalismus nicht;
wir wollen eine ernsthafte nachhaltige Entwicklung.
({1})
Das heißt eben auch, dass neue Technologien in solidarischer Zusammenarbeit zur Verfügung gestellt werden, dass sie nicht als Exportschlager genutzt werden,
um neue Märkte zu erschließen, sondern dass sie weltweit allen Ländern zur Verfügung gestellt werden, damit
sie sich nachhaltig entwickeln können. Das ist ein anderer Ansatz. Da geht es nicht um das Zu-Tode-Konkurrieren mit den neuesten Solarzellen, sondern darum, das
Wissen untereinander zu teilen, um diesen Planeten zu
retten. Da können wir viel von den Ländern des Südens
lernen: In Lateinamerika wird eine solidarische Ökonomie, eine Wirtschaft des gegenseitigen Ergänzens erprobt.
({2})
Es geht um die Frage: Wo sind Stärken und Schwächen?
In meinen Augen geht es hier um die zentralen Fragen
des 21. Jahrhunderts. Wenn wir die ökologische Herausforderung ernsthaft annehmen wollen, dann können wir
es nicht mit denselben Mitteln tun, mit denen wir überhaupt erst in die ökologische Krise geraten sind. Die
große Frage wird eben sein: Wie organisieren wir den
Zugang zu Ressourcen, zu Rohstoffen? Da sind wir der
Meinung: Wir brauchen weltweit eine ganz neue Verteilung des Reichtums, von Nord nach Süd und innerhalb
der Länder von oben nach unten. Wir müssen die Ressourcen teilen. Wir können nicht mehr so weitermachen.
({3})
Ganz konkret fordern wir deswegen auch einen Kompensationsfonds bei den Vereinten Nationen. Zum Beispiel könnte ein neuer Rat für nachhaltige Entwicklung,
wie er von verschiedenen Beratern von Ban Ki-moon
vorgeschlagen wird, solche neuen Instrumente entwickeln.
Der Rat könnte sich mit den grundsätzlichen Fragen auseinandersetzen. Er könnte all die marktbasierten Instrumente, die wir bisher haben - Emissionshandel, REDD -,
hinterfragen und überprüfen: Dienen sie wirklich einer
nachhaltigen Entwicklung, oder dienen sie nur der
Durchsetzung einer Profitlogik?
Das sind für uns die Herausforderungen. Darüber
wird in Rio vor allem auf einem Alternativgipfel diskutiert. Daran wollen wir uns beteiligen. Wir werden dort
präsent sein, natürlich auch auf dem offiziellen Gipfel,
und hoffen, dass wir mit neuen Antworten zurückkommen, die über die jetzigen hinausgehen.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen bei der Nachhaltigkeitspolitik nicht am Anfang; wir
sind nicht in einer Situation von 1992. Deshalb ist die Situation auch nicht mit der von Helmut Kohl im Jahr
1992 vergleichbar.
({0})
Die Konferenz von Rio hat einen Geist geschaffen,
der viele Prozesse hervorgebracht hat, die heute fortwirken: die lokalen Agendaprozesse in den Kommunen, der
UN-Klimaprozess, die UN-Konferenz über biologische
Vielfalt und die Konferenz über nachhaltige Entwicklung. Das sind die Prozesse, in denen sich unabhängig
von den großen Gipfeln die eigentliche Arbeit in der
Nachhaltigkeitspolitik vollzieht. Denn machen wir uns
doch nichts vor: Eine Konferenz allein wird die Welt
nicht retten. Es geht darum: Was passiert im Alltag des
politischen Geschäfts?
({1})
Deshalb ist der Gipfel in Rio wichtig, aber er ist nicht
das Einzige, was wir in der Nachhaltigkeitspolitik haben.
({2})
Meine Damen und Herren, einer der wesentlichen
Punkte in Rio wird die Organisationsreform der Vereinten Nationen sein. Es geht darum, eine UN-Umweltorganisation zu schaffen, die auf Augenhöhe beispielsweise
mit der Welthandelsorganisation bestehen kann. Es geht
auch darum - das sage ich ein wenig ungeschützt -, die
schrecklichste „Laberbude“ der Vereinten Nationen namens Konferenz für nachhaltige Entwicklung in New
York durch ein sinnvolles Gremium zu ersetzen, in dem
nicht nur jedes Jahr für viel Geld gesprochen wird, sondern das dafür sorgt, dass dabei am Ende etwas für die
Bereiche Umwelt und nachhaltige Entwicklung herauskommt.
({3})
Das zweite große Thema ist die Green Economy. Wir
haben - das macht die Diskussion auf der Konferenz
schwierig - ein unterschiedliches Verständnis davon,
was Green Economy ist. Mit unserem Hintergrund
- führende deutsche Unternehmen in der Umwelttechnik, eine Energiewende, die Deutschland an die Spitze
der Industrieländer, was die Umwelttechnologie angeht,
bringt - denken wir beim Begriff Green Economy zu oft
nur daran, dass wir den Ressourcenverbrauch mindern,
Umwelttechnologien voranbringen und sie vielleicht
auch exportieren wollen. Mit einem solchen Verständnis
alleine werden wir in Rio nicht erfolgreich sein. Vielmehr geht es darum, der sozialen und der wirtschaftlichen Dimension von Entwicklung genauso ein Gewicht
zu geben wie der Frage der Ressourceneffizienz von
Umwelttechnologien; denn es sind die Entwicklungsländer, die am Schluss überzeugt werden müssen, dass das,
was wir an neuen Technologien vorschlagen, gut für ihren Entwicklungsprozess ist. Wir müssen deutlich machen, dass Armutsbekämpfung und Befriedigung von
Grundbedürfnissen in den Entwicklungsländern Teil einer Strategie für nachhaltige Entwicklung ist.
({4})
In diesem Sinne ist das, was im internationalen Kontext gerade in den Entwicklungsländern unter Green
Economy verstanden wird, ganz nah an dem, was in dem
Bericht „The Blue Economy“ an den Club of Rome vorgeschlagen wurde. Wir von der FDP haben das auf unserem Parteitag „blaues Wachstum“ genannt. Ob das
Wachstum nun blau oder grün ist, das ist nicht entscheidend.
({5})
Das Entscheidende ist, dass es um Wachstum und nicht
um Verzicht geht, dass es um Marktwirtschaft und nicht
um Sozialismus geht.
({6})
Deshalb sagen wir Ihnen ganz klar: Natürlich geht es um
einen grünen Kapitalismus; denn die marktwirtschaftliche Ordnung - das hat die Geschichte gezeigt - geht am
effizientesten und am verantwortungsvollsten mit Ressourcen um, jedenfalls im Vergleich zu allen sozialistischen Experimenten der Vergangenheit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken.
({7})
Bei der Green Economy geht es nicht nur um Verzicht
und nicht nur um Teilen, sondern es geht auch darum,
Neues zu erschaffen, nämlich neues Wissen für bessere
Produkte, die weniger Ressourcen verbrauchen. Das ist
das Wachstum von morgen und in Wahrheit das Wachstum, das wir schon heute in großen Teilen haben. Wer sich
als Vertreter der Industrieländer hinstellt und den Menschen in den Entwicklungsländern sagt, dass Wachstum
schlecht ist, weil dadurch die Grenzen unseres Planeten
überstrapaziert werden, der muss sich fragen lassen: Mit
welcher Legitimation halten wir an unserem Wohlstand
fest und wollen ihn anderen verweigern?
({8})
Es geht nicht um Verzicht und um Teilen, sondern es
geht darum, mit neuen Ideen durch weniger Ressourceneinsatz mehr Bedürfnisbefriedigung zu erreichen. Das ist
im Sinne von nachhaltigem Wachstum. Nur dann werden
wir die Entwicklungsländer auf unseren Pfad bringen,
indem sie das Zeitalter der fossilen und nuklearen Entwicklung überspringen und direkt in das Zeitalter beispielsweise der erneuerbaren Energien und der Ressourceneffizienz eintreten.
({9})
Angesichts der Aufgeregtheit der Linken bei dieser
Diskussion vergisst man, dass in diesem Parlament über
die genannten Fragen große Einigkeit herrscht. Vier
Fraktionen - mit Ausnahme der Linken - haben im
Deutschen Bundestag im Herbst letzten Jahres einen Antrag verabschiedet, der die Grundlage für die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung bildet. Ich danke
insbesondere dem Bundesumweltminister - ich sage
ausdrücklich: dem alten Bundesumweltminister und dem
neuen Bundesumweltminister - und dem Bundesentwicklungsminister dafür, dass sie die Positionen des Parlaments sehr aktiv eingebracht haben und die Delegation
des Deutschen Bundestages auf der Konferenz sehr
nachdrücklich unterstützen werden; denn es ist von zentraler Bedeutung, dass die Rolle der Parlamente im internationalen Prozess beim Thema Nachhaltigkeit gestärkt
wird.
Herr Kollege.
Ich komme zum Ende. - Gerade die Parlamente in
den Schwellenländern bringen oft Innovationen ein,
wenn es um die Position ihrer Länder geht. Deshalb ist
es wichtig, dass wir mit unserer Parlamentarierdelegation nach Rio fahren, dort mit anderen Parlamentariern
sprechen und gemeinsam neue Ideen entwickeln.
Vielen Dank.
({0})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Valerie
Wilms das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Rio wird 20. 20 Jahre nach
dem Erdgipfel für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio
de Janeiro lädt Brasilien erneut zum Gipfel, zur UNKonferenz für nachhaltige Entwicklung.
Jubiläen werden in der Regel gefeiert. Zum Feiern
bietet der Gipfel aber keinerlei Anlass. Die Agenda 21
ist vielen Menschen kaum noch ein Begriff. Die internationalen Verhandlungen zum Klimaschutz und zur Biodiversität stagnieren seit langem. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind aber größer geworden:
Auf der Erde wird es deutlich enger, die Bevölkerung
nimmt weiter zu, und die Erderwärmung wird uns wertvolles Land kosten. Besonders dramatisch ist, dass gerade die ärmsten Länder am meisten darunter leiden
müssen, während die hochentwickelten Staaten die Probleme verursachen; denn wir haben diese Erde innerhalb
kürzester Zeit an ihre Grenzen gebracht.
({0})
Im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, dem ich angehöre, sind wir uns über alle Fraktions22000
grenzen hinweg einig, dass wir umdenken und vor allen
Dingen umlenken müssen. Auch die besondere Verantwortung der Industrieländer erkennen wir alle. Wir
Grüne sind aber der Überzeugung, dass weit mehr möglich wäre als das, was bisher gemacht wurde. Unter
Green Economy als einem nachhaltigen Wirtschaften
verstehe ich, dass wir unsere Umwelt nicht weiter zerstören dürfen, die Erde nicht bis an ihre Grenzen ausbeuten dürfen sowie überall auf dieser Welt humane Arbeits- und Lebensbedingungen schaffen müssen. Wer
sonst als wir in der Politik ist in der Lage, einen verbindlichen Rahmen für ein nachhaltiges Wirtschaften festzulegen? Würden uns freiwillige Verpflichtungen helfen,
die die Kanzlerin ständig verteidigt, wären wir schon
längst weiter. Aber das funktioniert nicht, sondern dient
vor allem der Blockade von Entwicklungen. Die unsägliche Verpflichtung der Autoindustrie zur Reduzierung
des CO2-Ausstoßes hat uns das allzu deutlich gezeigt.
Die Kanzlerin fährt, anders als ihre beiden Vorgänger,
nicht einmal selbst nach Rio. Hat sie der Welt nichts zu
bieten?
({1})
So ist es anscheinend. 1992 hatte Helmut Kohl eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent im Gepäck. Er hatte also etwas anzubieten. 2002, in Johannesburg, versprach Gerhard Schröder den Ausbau des
Bereichs der erneuerbaren Energien. Von einer deutschen Selbstverpflichtung, die das schlingernde Schiff
Nachhaltigkeit voranbringt, ist mir dieses Mal nichts bekannt. Aber Überraschungen gibt es ja immer wieder.
Mit dem Weg zum G-20-Gipfel nach Mexiko in der
nächsten Woche legt die Kanzlerin räumlich schon die
halbe Strecke nach Rio zurück. Vielleicht gibt es da ja
noch Überraschungen.
({2})
Wir brauchen kommende Woche in Rio einen konkreten Auftrag, dass weltweit verbindliche Nachhaltigkeitsziele festgelegt werden. Wir müssen endlich verbindliche Ziele für ein umwelt- und sozialverträgliches
Wirtschaften im Jahr 2050 festlegen, und zwar mit Zwischenzielen für die Jahrzehnte davor, also für 2030, 2040
und am besten auch für 2020. Diese Ziele müssen länderspezifisch gelten; denn viele Staaten müssen erst einmal aus ihrer Armutsfalle herauskommen und eine wettbewerbsfähige Wirtschaft aufbauen.
Als rohstoffarmes Land müssen wir in Deutschland
mit ehrgeizigeren Zielen Vorreiter sein. Dabei müssen
wir uns die gesamte Lieferkette vom Abbau der Rohstoffe in den Entwicklungs- und Schwellenländern über
den Transport bis hin zur Produktion und zum Vertrieb
vor Ort anschauen. Dann werden wir deutlich erkennen,
wie wirksam eine weitestgehende Wiederverwertung sowie eine Verlängerung des Lebenszyklus von Produkten
sind.
Noch immer wird Elektronikschrott nur zu rund einem Drittel recycelt. Wir in Deutschland verfügen aber
über ein großes Know-how beim Recycling. Dieses sollten wir endlich nutzen.
({3})
Vor allen Dingen sollten wir die derzeit angewandten
trickreichen Umgehungsmöglichkeiten unterbinden. Ich
möchte nicht mehr alte Computer auf Müllkippen in
Ghana sehen. Wenn wir unseren Unternehmen einen vernünftigen Übergangszeitraum gewähren, um ihre Strategie anzupassen, wird sich das sogar als Wettbewerbsvorteil herauskristallisieren.
In Rio unterstützen wir Grüne die Aufwertung des
Umweltprogramms der Vereinten Nationen zur UNEO,
zur Umweltorganisation, und die Einrichtung eines Rats
für nachhaltige Entwicklung.
({4})
Dieser könnte anstelle der UN-Laberbude - so haben es
schon zwei Vorredner ausgedrückt - die Konkretisierung
der weltweiten Nachhaltigkeitsziele voranbringen und
vor allen Dingen ein wirksames Monitoringsystem erarbeiten. In zehn Jahren möchte ich mich nicht mehr nur
über Ziele unterhalten müssen, sondern stolz auf das Erreichte blicken können.
({5})
Lassen Sie uns, Parlamentarier und Regierung, dafür in
Rio arbeiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Helmut Heiderich hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Konferenz Rio+20 ist ganz eindeutig ein internationales Top
Event. Je näher dieses rückt, umso mehr und umso häufiger bekommen wir Positionspapiere, Stellungnahmen,
Forderungskataloge usw. auf den Tisch. Ich denke, das
ist kein Wunder; denn von den angekündigten 50 000
Teilnehmern will jeder seine Position darstellen und
seine Argumente vortragen.
Das, was vonseiten der Linken jetzt kurz vor Toresschluss vorgelegt worden ist - ich beginne mit diesem
Antrag -, ist aus meiner Sicht weder zutreffend noch
hilfreich. Dort ist eher eine Reihe von Aussagen nach
dem Motto „Wir fallen wieder einmal in die alte Klassenkampfrhetorik zurück“ zusammengeschrieben worden. Ich will ein paar Punkte herausgreifen. Dort steht
zum Beispiel, eine Folge von Rio sei „die tiefste Krise
des Kapitalismus“, die Vermögenden hätten ihren Reichtum in der Krise abgesichert usw.
({0})
Das ist ein Rückfall in die linke Kampfrhetorik. Bei Ihnen scheint das Motto zu gelten: Nur der sozialistische
Mensch ist ein guter Mensch. Wenn Sie uns hier wirklich Hugo Chávez als Vorbild für die Zukunftspolitik
nach Rio präsentieren wollen, sind Sie, glaube ich, auf
dem Holzweg.
({1})
Wir haben eben gehört, dass sich der Deutsche Bundestag bereits im November vergangenen Jahres in einem fraktionsübergreifenden Antrag mit dieser Thematik beschäftigt hat. Deswegen bin ich etwas verwundert,
dass die Sozialdemokraten und die Grünen jetzt noch einen Antrag nachgeschoben haben, in dem sie alles untergebracht haben, was man sich zu diesem Thema vorstellen kann.
({2})
Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal an der Vorbereitung
einer solchen Konferenz beteiligt waren. Ihr Katalog
enthält sozusagen eine Planung der Regierungspolitik in
Deutschland für die nächsten 20 Jahre,
({3})
aber nicht das, was man zur Vorbereitung für Rio
braucht. Nichtsdestotrotz haben Sie sehr umfangreich in
dieses Thema eingeführt.
Rio ist nicht nur ein Event, Rio ist ein Prozess. Ich
habe bereits darauf hingewiesen, dass sich die Fraktionen des Deutschen Bundestages schon im November
vergangenen Jahres mit dieser Thematik beschäftigt haben.
Es geht in diesem Antrag im Wesentlichen um drei
Forderungen:
Erstens - das ist eben schon angesprochen worden geht es um das neue Schlagwort der Green Economy; ich
werde gleich noch etwas dazu sagen.
Zweitens geht es um die Verbesserung der Effizienz
bei internationalen Organisationen; auch das ist, glaube
ich, ein wesentliches Thema.
Drittens - das ist etwas Neues - geht es um eine Initiative zur Armutsbekämpfung und zur Ernährungssicherung. Ich glaube, mit diesem neuen Thema auf der Tagesordnung von Rio haben wir einen entscheidenden
Schritt nach vorne gemacht. Das sollten wir nicht zu gering schätzen.
Sie haben heute Morgen die Bundeskanzlerin gehört.
Sie hat zur Vorbereitung des G-20-Gipfels erklärt, dass
die globale Gerechtigkeit, die Bekämpfung von Armut
und Hunger und die Verbesserung der Ernährungssituation und der ländlichen Entwicklung Topthemen sind,
nicht nur für die G 20, sondern auch für Rio+20.
({4})
Somit haben wir einen großen Erfolg erzielt.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koalition, aber auch die Bundesregierung hat seit Monaten
daran gearbeitet, dieses Thema nach vorne zu bringen.
Ich will nur daran erinnern, dass wir dazu im Laufe des
letzten Jahres vier umfangreiche Anträge eingebracht
haben, die von Ihnen, meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen von den Linken, ausnahmslos abgelehnt worden sind. Insofern sind Ihre heutigen Einlassungen nicht
gerade gut begründet.
({6})
Auch der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat vor
wenigen Tagen bestätigt, dass das eben von mir erwähnte Ziel, den Ärmsten, den Unterentwickelten und
den Hungernden, wie er es formuliert hat, echte Verbesserungen im täglichen Leben zu ermöglichen, eines der
Hauptziele auf der Agenda von Rio+20 ist. Ich glaube,
das ist in diesem Zusammenhang ein entscheidender
Fortschritt.
Die zweite große Aufgabe, vor der wir stehen - ich
will sie ganz kurz anreißen -, ist die Frage der Green
Economy. Davon ist im Moment von allen Seiten wie
von einer Art Zauberformel die Rede. Wichtig wird sein
- das wird in den Verhandlungen ein entscheidender
Punkt sein -, dass klar und eindeutig definiert wird, was
unter Green Economy zu verstehen ist. Im Moment hat
man nämlich den Eindruck, dass jeder etwas anderes darunter versteht, was dazu führt, dass wir am Schluss
nicht zu konkreten Ergebnissen kommen.
Die Bundeskanzlerin hat heute Morgen erklärt, dass
man, wenn man den Klimawandel bewältigen, gleichzeitig die Forderung nach nachhaltigem Wachstum erfüllen
und die Aufgabe, 1 Milliarde Menschen vom Hunger zu
befreien, erfüllen will, eine konkrete gegenseitige Abstimmung braucht und dass wir auch die Mithilfe der
Privatwirtschaft benötigen, um das notwendige nachhaltige Wachstum zu erzielen. Nur mit staatlichen Vorgaben
werden wir das nämlich nicht schaffen.
Deswegen ist der Ansatz, die Privatwirtschaft zu bekämpfen, falsch. Wir brauchen beides: das privatwirtschaftliche Engagement - woher sollen Innovationen
sonst kommen? - und die staatliche Unterstützung, Definition und Begleitung. Dann kann aus Rio+20 ein Erfolg
werden. Daran arbeiten wir gemeinsam mit der Bundeskanzlerin. Dieses Bemühen sollten Sie anerkennen und
unterstützen.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/9922 mit dem Titel „Rio 2012 -
Nachhaltige Entwicklung jetzt umsetzen“. Wer stimmt
für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch
die einbringenden Fraktionen. Die Koalitionsfraktionen
waren dagegen. Die Linke hat sich enthalten.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Rio+20 - Globale Gerechtigkeit statt grüner Kapi-
talismus“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/9988, den Antrag auf
Drucksache 17/9732 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dage-
gen waren Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die SPD
hat sich enthalten.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Michael Grosse-
Brömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub,
Harald Leibrecht, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Tokio-Konferenz zu einem entwicklungspoliti-
schen Erfolg führen
- Drucksache 17/9923 -
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/9923. Wer stimmt für den Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die
Linke war dagegen. Bündnis 90/Die Grünen und SPD
haben sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unseriöses Inkasso zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher stoppen
- Drucksache 17/9746 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft
und Technologie
Auch diese Reden wurden mit Ihrem Einverständnis
zu Protokoll gegeben.2)
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann verfahren wir so.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({1}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({2}) vom
11. August 2006 und folgender Resolutionen,
zuletzt 2004 ({3}) vom 30. August 2011 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/9873 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Es ist verabredet, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Uns alle treibt die Sorge über die Entwicklung in Syrien
und darüber hinaus im ganzen Nahen Osten um. Wir ha-
ben heute gehört, dass die Wahlen in Ägypten annulliert
worden sind. Wir werden sehen, was sich daraus entwi-
ckelt.
Unsere Gedanken gelten in besonderem Maße den
unschuldigen Menschen in Syrien. Ihr Leiden hat ein
schreckliches Ausmaß angenommen. Unsere Aufmerk-
samkeit gilt dieser Region. Längst ist aus dem Konflikt
innerhalb Syriens eine Gefahr für die Sicherheitslage
auch in angrenzenden Staaten geworden.
Der Nahe Osten wurde und wird oft - sicher etwas
vereinfacht - als Pulverfass bezeichnet. Wenn der Nahe
Osten ein Pulverfass ist, dann ist eine Lunte für dieses
Pulverfass auf jeden Fall im Libanon zu suchen. Hier
kommen unterschiedlichste Interessen zusammen. Hier
sind Interessenkonflikte seit Jahrzehnten an der Tages-
ordnung.
1) Anlage 9 2) Anlage 10
Eine militärische Eskalation zu verhindern und das
angespannte Verhältnis zwischen dem Libanon und Israel zu entschärfen, ist der Auftrag der seit 2006 mit einem robusten Mandat ausgestatteten UNIFIL-Mission.
Den im Rahmen von UNIFIL eingesetzten Streitkräften
fällt dabei nach wie vor die wichtige Funktion zu, ausgleichendes Element zu sein und Verständigung zu ermöglichen. UNIFIL erfüllt diese Funktion. Der UNIFILFlottenverband, an dem die deutsche Marine beteiligt ist,
trägt wesentlich dazu bei.
Die Unterstützung der Bundesregierung für UNIFIL
folgt dabei dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Damit
die libanesische Regierung allmählich selbst für Sicherheit auch zur See sorgen kann, muss sie über leistungsfähige Strukturen und Sicherheitskräfte verfügen.
Der vorliegende Antrag der Bundesregierung zeigt
auf, wie vielseitig und umfangreich Deutschland sich am
Aufbau dieser Strukturen und Kräfte beteiligt. Gemeinsam mit anderen Streitkräften sichern und kontrollieren
Einheiten der deutschen Marine den Seeverkehr vor der
libanesischen Küste. Gleichzeitig wird mit unserer finanziellen und organisatorischen Hilfe der Aufbau einer
leistungsfähigen Küstenradarorganisation vorangetrieben, damit die libanesische Marine diese Aufgabe künftig selbst wahrnehmen kann.
Noch in diesem Jahr wird die achte von insgesamt
neun Stationen der landesweiten Küstenradarorganisation in Betrieb gehen, und zwar in Tripoli. Die Aktivierung der letzten Station im Süden des Libanon wird 2013
folgen. Dank der Unterstützung durch die deutsche Marine wird bis dahin auch das für den Betrieb der Station
benötigte Personal ausgebildet sein. Damit verfügt die libanesische Marine ab dem kommenden Jahr über ein
vollständig ausgebautes und funktionsfähiges System für
die Erfassung des Schiffsverkehrs.
Mit der neuen Küstenradarorganisation verfügt der
Libanon gewissermaßen über Ohren und Augen, um Gefahren frühzeitig zu erkennen. Noch fehlen die Hände,
um diese Gefahren auch frühzeitig abwehren zu können.
Noch stellen die Einheiten von UNIFIL Schiffe mit Soldaten zur Verfügung, die Waffenlieferungen unterbinden
und den Seeverkehr ordnen. Unser Ziel ist es, den Libanon so schnell und umfassend wie möglich in die Lage
zu versetzen, in Zukunft auch selbst durchgreifen zu
können.
Zur Erfüllung ihres anspruchsvollen Auftrages werden die an UNIFIL beteiligten Kräfte der Bundeswehr
auch künftig bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten benötigen. Es bleibt bei dieser Mandatsobergrenze.
Die libanesische Marine muss allmählich den Schutz
der seeseitigen Grenzen eigenverantwortlich übernehmen können. Die dafür notwendige personelle und materielle Ausstattung und die dazu erforderliche Ausbildung
sind noch nicht vorhanden. Hier bedarf es der weiter gehenden Unterstützung durch die internationale Staatengemeinschaft.
Die Fortsetzung von UNIFIL wird nicht nur von den
Vereinten Nationen begrüßt, sondern auch von libanesischer und insbesondere von israelischer Seite. Mehr
noch: Sie ist erwünscht. Dies gilt in besonderem Maße
für den deutschen Beitrag zu UNIFIL.
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie um Ihre Unterstützung für den Antrag der Bundesregierung, die deutsche Beteiligung bei UNIFIL für ein weiteres Jahr fortzusetzen.
({0})
Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst ein Wort zu der ungewöhnlichen Uhrzeit. Ich
glaube, das ist der späteste Beginn einer Mandatsdebatte
im Bundestag, den wir jemals hatten. Ich hoffe, das wird
ein Ausnahmefall bleiben. Diese Debatte gehört in das
Zentrum des Parlaments.
({0})
Was wir heute hier praktizieren, ist die klassische Parlamentsbeteiligung, die uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat und die wir mit einem Gesetz geregelt haben, an dem wir festhalten wollen. Es gibt
Diskussionen darüber, was das für die weitere europäische Vertiefung zu bedeuten hat.
Ich glaube, man darf nicht am Parlamentsvorbehalt
rühren, vielleicht aber an der Frage, wann sich das Parlament mit europäischen oder NATO-Fragen befassen
sollte. Denn immer dann, wenn Deutschland einer Mission zustimmt - sei es eine EU-Mission oder eine
NATO-Mission; es ist egal, ob wir uns daran substanziell
beteiligen oder nicht -, findet mit deutscher Legitimation ein internationaler Militäreinsatz statt. Dann ist es
immer ein Fall für das Parlament.
Da brauchen wir keine Angst zu haben, dass dann
vielleicht auch über den Einsatz von Soldaten gesprochen werden könnte, die von uns aus nötig sind, damit
dieses Mandat überhaupt erfolgreich sein kann. Wer
diese Diskussion im Grundsatz führen will, führt eine
Scheindebatte. Wir interessieren uns für alles, was die
EU und was die NATO in militärpolitischer Hinsicht international unternimmt. Auch wir wollen im Regelfall
dabei sein - und nicht nur die Bundesregierung, wenn
sie einer Mission zustimmt.
Hier reden wir über eine UNO-Mission, und zwar
über eine ganz besondere. Dass im Libanon schon über
Jahrzehnte eine UN-Mission an Land existiert, hat die
deutsche Öffentlichkeit erst zur Kenntnis genommen, als
sich die Frage stellte, ob auch wir uns an der seeseitigen
Mission beteiligen wollen. Bis dahin war das nicht auf
dem Radarschirm unserer Öffentlichkeit. Dabei war das
keine einfache Mission. Es hat Tote unter unseren Verbündeten gegeben, die unter dem Dach der UN den Frie22004
den im Libanon und den Frieden zwischen Libanon und
Israel sichern helfen wollten.
Wir interessieren uns dann, wenn es Deutsche betrifft.
Hier war nun die erste UN-Mission zur See auf den Weg
zu bringen. Wir können stolz darauf sein, dass dies mit
substanzieller deutscher Unterstützung gelang. Der erste
Offizier, der diesen UN-Verband zur See, die erste maritime UN-Mission, führte, war ein Deutscher. Wir haben
operative Grundlagen mitgeprägt für das, was die UN
selbst künftig vielleicht auch an anderer Stelle auf See
leisten kann, ohne Rückgriff auf andere Bündnisse zu
nehmen. Dies ist ein UN-geführter und nicht nur ein
UN-mandatierter Einsatz. Ich bin froh, dass Deutschland
dabei eine führende Rolle eingenommen hat.
Der Minister hat es angesprochen: Wir tun das nicht,
weil wir uns vordrängen, sondern weil Libanesen und
Israelis übereinstimmend der Meinung waren, dass
Deutschland dabei sein sollte. Das ist ein Zeichen des
großen Vertrauens, das unser Land sowohl in dieser Region als auch anderswo genießt. Diesen Wünschen sollte
man dann auch nachkommen. Wir können manches tun,
was andere nicht tun, weil uns heute eine gute Rolle zugetraut wird, auch in diesem Konflikt.
Es wird gelegentlich die Frage gestellt: Was hat das
denn gebracht? Wie viele Waffenschmuggler sind denn
gefasst worden? Wie viele Waffen sind eingesammelt
worden? Kann man das wirklich genau überprüfen? Die
FDP hat sich, als dieses Mandat das erste Mal beschlossen wurde, ganz anders ausgelassen - das will ich jetzt
gar nicht zitieren - als heute in der Regierungsverantwortung. Damals war sie dagegen, weil sie skeptisch
war, ob man diese Überprüfung tatsächlich erfolgreich
vollziehen kann.
Der Auftrag der UNIFIL-Mission war ein ganz anderer: Nicht das Einsammeln von Waffen war das Ziel,
sondern das Bilden von Vertrauen, das Herstellen einer
Situation, in der nicht mehr die israelische Marine den
Libanon von der See her blockiert, sondern in der diese
Blockade aufgehoben werden konnte und durch eine internationale Mission abgelöst wurde. Das war Vertrauensbildung in beide Richtungen. Das hat funktioniert. In
dieser Weise ist der militärische Beitrag erfolgreich gewesen.
Ich möchte sagen: Dieser Antrag ist gut formuliert.
Dieser Antrag enthält mehr als nur die Frage: Mit welchen militärischen Beiträgen und mit welchem Finanzaufwand beteiligen wir uns? Vielmehr ist die Frage: Was
tun wir sonst noch in dieser Region? Einige Dinge sind
noch nicht erledigt. Sie werden noch länger dauern müssen als der UNIFIL-Einsatz, der vielleicht in absehbarer
Zeit enden kann.
Was nicht enden kann, ist unser Engagement - das
kann auch ruhig bilateral sein -, ein deutsches Engagement zum Aufbau der sehr kleinen libanesischen Marine.
Wer einmal dort war, wird wissen, dass sie eigentlich
nicht als Marine gestartet ist, sondern als Schlauchbootabteilung des libanesischen Heeres. Das wird jetzt mit
unserer Unterstützung eine Marine. Wir sollten sie so
lange unterstützen, bis sie sich selbst trägt. Das kann
noch eine ganze Weile dauern, aber es ist kein großer
Aufwand. Für uns als großes Land ist es kein großer Aufwand, mit Material und den Ausbildungseinrichtungen,
die Deutschland zur Verfügung stellt, Unterstützung zu
leisten.
Gestatten Sie mir eine kurze Bemerkung zu der Diskussion, die wir vorhin geführt haben: Das ist in der
Bundeswehrreform übrigens auch dienstpostenrelevant.
Ich finde, dass das, was die Bundeswehr hervorragend
macht - nicht nur im Libanon, sondern auch an anderer
Stelle -, nämlich Nationen durch Ausbildungsunterstützung in die Lage zu versetzen, für ihre eigene Verteidigung zu sorgen, ein Beitrag von uns zur Sicherheit in der
Welt ist. Dies sollte sich auch hinsichtlich der Dienstposten in den Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr
niederschlagen und nicht immer nur zusätzlich sein. Es
geht dabei nicht um große Summen.
Wir sehen, dass es hier und da Probleme gibt. Deshalb
muss man ein bisschen nachsteuern und sagen: Das gehört zu der Sicherheitspolitik, die wir wollen und die wir
uns in der Welt, in der wir eine positive Rolle spielen
wollen, wünschen.
Das Mandat bleibt richtig. Es ist vernünftig formuliert, und es ist gut, dass es uns jetzt zur Abstimmung
vorgelegt wird. Es bleibt so lange notwendig, bis die Bedingungen, die das Mandat formuliert, eingetreten sind,
nämlich dass der Libanon selbsttragend für die Sicherheit seiner Seegrenzen sorgen kann. Ich glaube nicht,
dass wir uns mit dem Druck auf die UN, frühzeitig abzuziehen, beeilen müssen. Denn gerade in der unsicheren
Situation im Nahen Osten wird vielleicht ein Stabilitätsanker gebraucht. Ein kleiner Teil des Stabilitätsankers im
Nahen Osten kann die UNIFIL-Mission zur See sein, an
der wir uns beteiligen wollen. Wir werden zustimmen.
Schönen Dank.
({1})
Für die Bundesregierung ergreift der Staatsminister
Michael Link das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung begründet diesen Antrag natürlich
dann, wenn der Bundestag ihn auf die Tagesordnung
setzt, auch zu später Stunde - und dies aus Überzeugung.
Aber einen Wunsch an den Bundestag darf sie schon äußern - darin schließe ich mich dem Kollegen Bartels
ausdrücklich an -, nämlich dass wir das zu einer früheren Tageszeit machen könnten. Wir denken, dass dieses
Thema dort eher hingehören würde.
({0})
Keine Krise beschäftigt uns derzeit mehr als die in
Syrien. Das Leid der Menschen in diesem immer blutigeren Bürgerkrieg und die unerträglichen Grausamkeiten, die das Regime von Präsident Assad Tag für Tag begeht, stellen die internationale Gemeinschaft derzeit vor
extreme Herausforderungen.
Doch als wäre diese Krise für sich genommen noch
nicht furchtbar genug, birgt sie zusätzlich die Gefahr,
sich zu einem regionalen Flächenbrand auszuweiten.
Das Land, das hiervon vermutlich als Erstes betroffen
wäre, ist der Libanon. Seit einigen Wochen bereits beobachten wir die Lage dort mit wachsender Sorge. Die
jüngsten tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Alawiten in Tripoli und zwischen sunnitischen
Gruppen in Beirut haben gezeigt, wie real die Gefahr eines Übergreifens des Konflikts in Syrien auf den Libanon ist, auch wenn die libanesische Armee die Situation
wieder beruhigen konnte.
Außenminister Westerwelle, der letzte Woche in Beirut mit der libanesischen Führung zusammengetroffen
ist, hat dort für eine Politik des inneren Ausgleichs geworben und Deutschlands Interesse an einem stabilen
Libanon bekräftigt. Dieses Ziel verfolgt die Bundesregierung auf vielfältige Weise. Eine sehr wichtige Rolle
kommt dabei auch der deutschen Beteiligung an der maritimen Komponente der VN-geführten Mission UNIFIL
zu.
Die maritime Komponente von UNIFIL hat in den
letzten Jahren einiges erreicht: Die Sicherung der libanesischen Seegrenzen verläuft effizient und zuverlässig.
Die Präsenz der UNIFIL-Schiffe hat erheblich zur Stabilisierung der seeseitigen Grenzen des Libanon beigetragen. Zugleich ist der Ausbildungsstand der libanesischen
Marine deutlich verbessert. Diese ist nun in der Lage, die
Seegrenzen mit neuer Radartechnik zu überwachen, und
hat neue Fähigkeiten auf dem Meer erworben. Dazu haben wir nicht nur entscheidende Ausbildungshilfe geleistet, sondern auch die entsprechende Ausstattungshilfe.
Hier bleibt noch vieles zu tun; das ist unbestritten.
Aber wir haben erhebliche Verbesserungen erzielt. Das
ist besonders das Verdienst der Soldatinnen und Soldaten
der deutschen Marine. Hierfür gilt ihnen Dank, Respekt
und Anerkennung.
({1})
Deshalb beantragt die Bundesregierung die Verlängerung des UNIFIL-Mandats um ein weiteres Jahr. Personalobergrenze, Einsatzgebiet und Aufgabenbeschreibung bleiben unverändert. Es gilt, das bislang Erreichte
zu sichern und darauf aufzubauen. Der bisherige Ansatz
für die maritime Komponente ist weiterhin richtig. Die
deutsche Beteiligung an UNIFIL bleibt eingebettet in
das politische, wirtschaftliche und sozial-ökonomische
Maßnahmen umfassende Engagement der Bundesregierung für den Libanon und die Gesamtregion.
UNIFIL ist mit seiner Landkomponente und auch mit
der maritimen Komponente mehr denn je ein stabilisierendes Element in einer Region, die immer mehr von Instabilität gefährdet wird. Dem Libanon, der in den 80erJahren zum traurigen Inbegriff eines von ethnisch-religiösen Konflikten zerrissenen Landes wurde, droht nun
ein erschreckendes Szenario: Genau diese Art von Konflikten könnte aus dem Nachbarland Syrien wieder über
den Libanon hereinbrechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verurteilen in
aller Schärfe die Verbrechen, die das syrische Regime an
seiner eigenen Bevölkerung begeht und geschehen lässt.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle auf die aktuellen Tickermeldungen verweisen, die uns ganz besonders beunruhigen. Darin ist davon die Rede - bei aller Vorsicht, die bei
Tickermeldungen geboten ist, muss man doch zumindest
die entsprechende Sorge haben -, dass die syrische Armee aktuell widerstandsfreie Gebiete in größerem Maßstab schaffen will. Das lässt Schlimmstes befürchten.
Auch hier müssen wir klar und deutlich auf die Gefahren
hinweisen und das Regime von Assad zum Stoppen bewegen.
({3})
Darüber hinaus dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass Syrien noch mehr droht - nämlich in einen Teufelskreis ethnisch und religiös geprägter Gewalt
zu geraten.
({4})
Die Massaker in syrischen Dörfern, die uns in den letzten Wochen so erschüttert haben, fanden auch an der
Trennlinie zwischen den Konfessionen statt. Der Konflikt zwischen Sunniten und Alawiten wurde erwähnt. Es
ist möglich, dass hier auch untergeordnete lokale Motive
eine Rolle spielen. Das entbindet die Regierung in Damaskus aber in keiner Weise von ihrer Verantwortung,
zumal die reguläre syrische Armee offenkundig an den
Massakern jeweils zumindest beteiligt war.
({5})
Wenn aber das, was als politisches Aufbegehren gegen diktatorische Unterdrückung begonnen hat, nun in
einen Bürgerkrieg entlang konfessioneller Linien führt,
dann wird dieser Konflikt noch viel schwerer zu beenden
sein, als es ohnehin schon der Fall ist.
Dies alles sollte bedacht werden, bevor vorschnell
eine militärische Intervention in Syrien gefordert wird.
({6})
Derartige Forderungen untergraben im Übrigen den
politischen Prozess. Wir brauchen keine Diskussionen
um scheinbare militärische Optionen, sondern verstärkte
Anstrengungen auf dem politisch-diplomatischen Weg.
Er allein kann zu einer Lösung führen.
Wie diese Lösung aussehen wird, lässt sich heute
noch nicht abschätzen. Doch eines ist schon jetzt klar:
Wie immer der Konflikt in Syrien in den nächsten Wochen konkret weitergeht, er wird sich auf die gesamte
Region auswirken. Syrien grenzt unmittelbar an die Türkei, den Irak, an Jordanien, Israel und den Libanon. Allein das zeigt die Dimension des Konflikts - um von anderen schwierigen Nachbarn in der weiteren Region gar
nicht zu reden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung bleibt dem politisch-diplomatischen Weg verpflichtet, auch wenn wir auf diesem Weg nicht so schnell
vorankommen, wie wir uns dies wünschen. Umso wichtiger ist es, dass wir alles in unseren Möglichkeiten Stehende tun, um die Staaten der Region, der unmittelbaren
Nachbarschaft zu unterstützen und zu stabilisieren. Der
Außenminister hat dies in den letzten Wochen bei zahlreichen Reisen in die Region intensiv getan und dafür
auch bereits sehr viel Unterstützung gerade aus der Region heraus erfahren. Die Bundesregierung wird exakt
diesen Weg fortsetzen.
({7})
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Die UNIFIL-Mission leistet einen in der jetzigen Lage nicht ersetzbaren Beitrag.
Deshalb wollen wir sie fortsetzen. Die Vereinten Nationen und in seltener Einigkeit auch alle - ich betone ausdrücklich: alle - regionalen Akteure, einschließlich Israel, haben den deutschen Beitrag zur maritimen
Komponente von UNIFIL immer wieder gewürdigt und
uns gebeten, an diesem Weg festzuhalten. Genau das
werden wir tun. Wir bitten um Ihre Unterstützung.
({0})
Wolfgang Gehrcke hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich war während des Krieges in
Beirut. Ich bin extra mit Kollegen von anderen europäischen Parteien dort hingefahren, um der Bevölkerung
von Beirut und des Libanon ein Stück weit Solidarität
entgegenzubringen und zu zeigen, dass andere Menschen kommen, um sich mit ihnen zu verbünden. Ich
sehe nach wie vor die furchtbaren Bilder, die entstehen,
wenn Raketen in Wohnviertel einschlagen, Häuser plötzlich zusammenbrechen und wenn Gewalt eine hohe
Dimension erreicht. Es war zu beobachten, dass sich die
reichen Libanesen blitzschnell über die Autobahn nach
Syrien - das sind nur 50 Kilometer - absetzten. Wer
nicht aus der Stadt und aus dem Land herausgekommen
ist, das waren vor allen Dingen die Menschen, die in den
Flüchtlingslagern gelebt haben, die Palästinenserinnen
und Palästinenser und andere.
Deswegen war mir klar: Dieser Krieg muss schnell zu
Ende gebracht werden. Notwendig dafür war ein Waffenstillstand. Um einen Waffenstillstand zu erreichen,
war es notwendig, die UNIFIL-Vereinbarung unter dem
Dach der Vereinten Nationen abzuschließen. Das habe
ich hier im Bundestag immer vertreten.
({0})
Das hat für mich eine innere Logik. Gleichzeitig lag in
dieser Logik nicht, dass sich deutsche Militäreinheiten
daran beteiligen.
({1})
Ich fand und ich finde: Es wäre gut, wenn Deutschland
keine Soldaten in die Region des Nahen und Mittleren
Ostens entsendet.
({2})
- Auch wenn es gewünscht wird, ist das noch lange kein
Argument. - Das war meine Entscheidung. Ich finde es
ganz interessant, dass die FDP bis zu dem Zeitpunkt, als
sie in die Regierung eingetreten ist, ähnlich argumentiert
hat. Heute ist das bei euch alles vergessen. Das zeigt,
wie dünnhäutig ihr seid, und das spiegelt auch eure
Außenpolitik wider.
Unsere Sorge war, dass auch deutsche Soldatinnen
und Soldaten aus der Lage heraus in den Konflikt geraten können, zum Beispiel auch gegen israelische Soldatinnen und Soldaten bewaffnet vorzugehen.
({3})
Diese Sorge war nicht unberechtigt. Es lag oft in der
Luft, wenn israelische Einheiten die UNIFIL-Verbände
zumindest kontaktiert hatten, dass ein solcher Vorfall
eintritt. Deswegen haben wir Nein gesagt, und wir bleiben beim Nein.
({4})
Ich finde es recht interessant, dass beim Einbringen
des Antrags durch die Bundesregierung argumentiert
wurde, dass sich die Situation entlang der Grenzen auch
des Libanon durch die furchtbare Entwicklung in Syrien
verändert habe. Der ganze Nahe Osten ist in Gefahr, in
eine große militärische Auseinandersetzung einbezogen
zu werden. Darüber muss man sich doch klar werden.
An der Analyse habe ich gar nicht so viel auszusetzen.
Es ist ein Bürgerkrieg, und man muss schauen, dass man
aus diesem Bürgerkrieg wieder herauskommt. Ich fand
es aber interessant, dass keiner hier die Courage gehabt
hat, zu sagen: Der Vorschlag von Kofi Annan, eine neue
Kontaktgruppe einschließlich Russland, China und Iran
einzusetzen, ist ein vernünftiger Vorschlag, der die Unterstützung des Bundestages finden muss.
({5})
Das wäre eine gute Politik. Warum hat hier keiner
gesagt, dass man der internationalen Syrien-Konferenz
in Russland eine Chance geben muss und wir Politik in
diese Richtung entwickeln müssen? Wenn man sagt,
dass jetzt Diplomatie gefragt ist und nicht Säbelrasseln
und das Rufen nach militärischen Einsätzen, dann muss
man solche Chancen nutzen und aktiv dafür eintreten.
({6})
- Nein, das hat keiner gemacht, aber keiner hat etwas
dazu gesagt. Man kann solche Themen auch einfach verschweigen.
Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich ganz
deutlich machen: Mit militärischen Aktionen wird man
keine Probleme lösen.
({7})
Man muss eine aktive und ideenreiche Nahost-Politik
betreiben. Ich würde gern den alten Gedanken, ob man
nicht aus der europäischen Sicherheitskonferenz
Schlussfolgerungen für den Nahen Osten ziehen kann,
aufgreifen. Es sollte eine politische Initiative zu einer
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten gestartet werden. Das wäre jetzt wichtig, und
eine solche Initiative wäre dem Parlament angemessen.
Herzlichen Dank.
({8})
Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man
kann zum UNIFIL-Einsatz sagen: Das ist ein verhältnismäßig kleiner Einsatz, es handelt sich nur um 300 Soldatinnen und Soldaten. Das ist ein vergessener Einsatz. Der
Debattenplatz heute Abend trägt auch nicht dazu bei,
dass sich das ändert. Man kann sagen: Es gibt keine Zwischenfälle. Man kann aber auch sagen: Es gibt keine
Zwischenfälle, weil es diese Präsenz vor Ort gibt. Nicht
nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch ihren
Familien, die eine sehr schwere private Situation durchmachen müssen, gilt ein herzlicher Dank für das, was sie
dort tun.
({0})
Man kann UNIFIL natürlich auch als Beitrag deutscher Verantwortung in einer der schwierigsten Regionen der Welt sehen. Es ist natürlich nicht unerheblich,
dass die beiden Konfliktpartner, die libanesische und die
israelische Seite, für diesen Einsatz waren und sind. Es
ist natürlich alles andere als unerheblich, dass das ein
UN-geführter Einsatz ist. Es ist natürlich alles andere als
unwichtig - Kollege Gehrcke hat es völlig zu Recht
gesagt -, dass dieser Einsatz den Krieg dort beendet hat.
Das kann man bei der Bewertung des Mandats nicht einfach weglassen. Deshalb, meine Damen und Herren,
werden wir der Fortsetzung von UNIFIL zustimmen.
Jeder Einsatz von Militär ist dafür da, Zeitfenster für
Politik zu schaffen. Die Frage ist, wie die Politik in diesem Zeitfenster tatsächlich tätig wird, damit der Einsatz
überflüssig wird. Ich finde, in diesem Zusammenhang
muss man der Bundesregierung das eine oder andere
vorwerfen. Wir haben darüber bereits im letzten Jahr im
Rahmen der Mandatsdebatte gesprochen.
Die Bundeswehr musste ihre Leadfunktion vor Ort
wegen der von der Bundesregierung beschlossenen Reduzierung aufgeben. Wenn man vor Ort nachgefragt hat,
musste man feststellen, dass die deutschen Soldatinnen
und Soldaten am Ende doch die Leadfunktion operativ
unter deutlich widrigeren Umständen mit ausübten.
Herr Minister, Sie haben gerade völlig zu Recht darauf hingewiesen, wie wichtig die libanesische Armee
ist. Sie ist noch mehr; denn die libanesische Armee ist
eine der wenigen Institutionen im ganzen Lande, die von
allen Seiten wirklich akzeptiert wird.
({1})
Der Gedanke einer Einheit ist ohne die Armee im Libanon gar nicht denkbar. Er wird gerade vor dem Hintergrund des bestehenden Konflikts in Syrien zunehmend
wichtiger.
Angesichts dessen verstehe ich nicht, warum der
Libanon bei der Ausbildungshilfe in der Priorität herabgestuft worden ist. Das wurde von Ihnen nicht korrigiert.
Da gehen Ihre Ausführungen und die Realität, die Handlungen der Bundesregierung, ein Stückchen auseinander.
Weil sich die Region so verändert, wäre es deshalb gut
gewesen, wenn Sie bei diesem Mandat nicht einfach so
weitergemacht hätten. Es reicht auch nicht, dass man
sehr beherzt applaudiert, wenn sich der Bundespräsident
zu Auslandseinsätzen äußert, sondern man muss auch
etwas tun.
({2})
Das ist leider Gottes ein Glied in einer Kette, die zu
außenpolitischer Bedeutungslosigkeit führt. Das ist beim
Südsudan so. Das ist am Horn von Afrika so. Das ist im
Falle von Libyen so gewesen. Hier geht es - das sage ich
noch einmal - nicht um das Engagement der Soldatinnen
und Soldaten, sondern hier geht es um die Begleitung
durch die Politik. Wie es die Bundesregierung macht,
reicht einfach nicht aus.
({3})
- Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen und ich noch
mehr Redezeit bekomme,
({4})
gebe ich Ihnen eine ausführliche Antwort. Aber ich habe
zum Beispiel zur Frage der Ausbildungshilfe und ihrer
Priorität für die libanesische Armee gerade einiges
gesagt.
({5})
- Selbstverständlich, Frau Kollegin. Wir waren schon
einmal zusammen in einem Ausschuss. Sie wissen, dass
man da natürlich die Soldatinnen und Soldaten vor Ort
besucht, um zu schauen, was sie dort leisten. - Jetzt
haben Sie mir viel Redezeit geklaut; das war nicht nett.
Ich möchte noch einige Sätze zum Kollegen Gehrcke
sagen. Ich bin bei Folgendem bei Ihnen: Die Anwendung von militärischer Gewalt ist immer von Übel. Man
muss natürlich hierbei auch die Frage stellen - das war
auch für meine Partei über die Jahrzehnte ein Lernprozess -, ob das nicht manchmal das kleinere Übel ist. Sie
haben eben nicht kategorisch jede Beteiligung ausgeschlossen, sondern Sie haben von der deutschen Beteiligung aufgrund der Geschichte gesprochen.
Aber wie Sie bei einem Einsatz, der explizit und
nachweislich Schmuggel und Proliferation von Waffen
in eine Konfliktregion unterbinden und Gewalt sowie
weitere Gewalt verhindern soll, einfach Nein sagen können, geht mir nicht in den Kopf.
({6})
Ich habe das Gefühl, dass es um das innenpolitische
Vorgärtchen und weniger um Frieden im Nahen Osten
geht.
({7})
Das ist sehr bedauerlich. Ich freue mich auf Ihre Erklärung.
Herzlichen Dank.
({8})
Philipp Mißfelder hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal zu unserem gemeinsamen Bundespräsidenten. Herr Nouripour, ich finde
schon, dass diese Debatte eines zeigt: dass wir das sehr
ernst nehmen, was der Bundespräsident uns mit auf den
Weg gegeben hat. Ich glaube, dass er einen wichtigen
Beitrag geleistet hat. Er hat eine gesellschaftliche Debatte, die die Union schon seit Jahren führt, aufgenommen und fortgesetzt. Es geht darum, dass wir uns bei
allen Mandaten, die wir hier beschließen, hinter die Soldatinnen und Soldaten stellen sollen.
({0})
Deshalb passt das, was wir hier gemeinsam beschließen,
eigentlich sehr gut zu dem von uns gemeinsam vorgeschlagenen und getragenen Bundespräsidenten. Insofern
habe ich die Einlassungen vorhin nicht verstanden.
({1})
Ich möchte mich an dieser Stelle vor allem - es ist
vorhin schon gesagt worden - bei den Soldatinnen und
Soldaten, die einen wichtigen Dienst leisten, bedanken.
Die deutsche Marine arbeitet auf ihren Schiffen effizient
und zielorientiert. Deshalb mein herzlicher Dank, auch
zu dieser Uhrzeit, an die Soldatinnen und Soldaten.
({2})
Drei Punkte sind mir wichtig; einige sind schon genannt worden.
Erstens. Ein Grund, warum wir bei dieser Mission
weiterhin unseren Dienst leisten sollten, ist: Die Region
ist insgesamt in Aufruhr. Das UNIFIL-Mandat ist erwünscht. Die Soldatinnen und Soldaten werden überall
in den beteiligten Ländern willkommen geheißen. Wir
leisten damit einen Beitrag zur Stabilität. Gerade mit
Blick auf die innenpolitische Situation des Libanon ist es
sehr wichtig, dass wir diesen Beitrag auch weiterhin leisten.
Zweitens. Dieser Dienst ist ein Beitrag zur Sicherheit
Israels. Er steht im Einklang mit dem, was die Bundeskanzlerin in ihrer vielbeachteten Rede vor der Knesset
gesagt hat. Es gehört zur deutschen Staatsräson, die
Sicherheit Israels zu schützen. Dies ist ein konkreter
Beitrag und damit auch eine Erfüllung unserer politischen Mission, für die wir als Union ja besonders eintreten.
Drittens. Unsere Beteiligung zeigt auch innerhalb der
Staatengemeinschaft, dass wir uns gemeinsam engagieren. Gerade die Teilnahme an UNIFIL, getragen von
Ländern wie Belgien, Bangladesch, Italien und Indonesien, zeigt, wie wichtig es ist, gemeinsam Lasten zu teilen und gemeinsam zielorientiert einen militärischen
Beitrag zu leisten, der über das rein Militärische hinaus
eine große Bedeutung hat.
Meine Damen und Herren, der Waffenschmuggel vor
der Küste des Libanon muss eingeschränkt werden.
Dazu gehört, die widerstreitenden Gruppierungen im Libanon selbst dazu zu bringen, auf eine weitere Bewaffnung zu verzichten. Dafür ist das UNIFIL-Mandat sehr
wichtig. Ich darf an dieser Stelle auch den Kooperationsgedanken noch einmal hervorheben, den gerade Kapitän
zur See Gerald Koch vor wenigen Wochen in einem Interview erwähnt hat. Deutschland hat durch die Ausrüstungshilfe und Ausbildungsunterstützung eine Vorreiterrolle übernommen. Auch das zeigt, dass wir mit diesem
Mandat eine sehr große Akzeptanz haben. Auf einer
Reise im Libanon, die Ruprecht Polenz und ich kürzlich
unternommen haben, sind wir von allen widerstreitenden
Gruppierungen auf diesen positiven Beitrag angesprochen worden. Ich glaube, das ist Grund genug, auf dieses
erfolgreiche Mandat zurückzublicken.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Deutschen Bundestag der Verlängerung dieses Mandats zustimmen können und dass wir uns darüber hinaus dafür
einsetzen sollten, weitere Aktivitäten in dieser Region zu
starten. Der Übergriff der Unruhen in Syrien auf den
Libanon steht unmittelbar bevor; das ist zu befürchten.
Vor diesem Hintergrund ist all das, was wir diplomatisch
und politisch tun können, um die Unruhen einzugrenzen,
wichtig und sinnvoll. Ich sehe den UNIFIL-Einsatz in
diesem Zusammenhang in einem größeren Rahmen. Ich
glaube, dass es wichtig ist, an diesem Mandat festzuhalten und damit, wenn auch nur mit kleinen Mitteln, zur
Stabilisierung des Libanons und der Region beizutragen.
Einen Flächenbrand im Nahen Osten zu verhindern,
wird ein wichtiger Punkt sein. Insofern empfiehlt unsere
Fraktion, diesem Mandat zuzustimmen. Wir bitten
darum, dass wir in den nächsten Wochen der Beratungen
dieses Mandat gemeinsam weitertragen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9873 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta
Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auskunftspflichten der Europäischen Zentralbank einfordern und für eine ausreichende Eigenkapitalbasis der Kreditwirtschaft sorgen
- Drucksache 17/9585 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1) Es wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9585 an
die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung
stehen. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen ({1})
- Drucksache 17/8986 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 17/9992 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Lothar Riebsamen
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen
in Krankenhäusern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein-
Schmeink, Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einführung eines pauschalierenden psychia-
trischen Entgeltsystems zur qualitativen
Weiterentwicklung der Versorgung nutzen
- Drucksachen 17/5119, 17/9169, 17/9992 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Lothar Riebsamen
Die Reden sind ebenfalls zu Protokoll gegeben.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einfüh-
rung eines pauschalierenden Entgeltsystems für psychia-
trische und psychosomatische Einrichtungen. Der
Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9992,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/8986 in der Ausschussfassung anzunehmen. Diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, bitte ich
um das Handzeichen. - Die Gegenstimmen! - Die Ent-
haltungen! - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung
angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt.
Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthal-
ten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! -
Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit fast dem
gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen,
allerdings hat die SPD jetzt dagegen gestimmt.
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache
17/9992 fort. Unter Buchstabe b wird die Ablehnung des
1) Anlage 11 2) Anlage 12
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5119
mit dem Titel „Ergebnisoffene Prüfung der Fallpauschalen in Krankenhäusern“ empfohlen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die
SPD. Die Linke war dagegen, Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9169 mit dem Titel „Einführung
eines pauschalierenden psychiatrischen Entgeltsystems
zur qualitativen Weiterentwicklung der Versorgung nutzen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, SPD und Linke. Bündnis 90/Die Grünen waren dagegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({4}) zu dem
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
Übersetzungserfordernisse der nationalen
Parlamente in der mehrjährigen EU-Finanzplanung 2014-2020 berücksichtigen - Übersetzungen auch im intergouvernementalen Rahmen sicherstellen
- Drucksachen 17/9736, 17/10003 Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Dörflinger
Michael Roth ({5})
Dr. Stefan Ruppert
Dr. Diether Dehm
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/10003,
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/9736 anzunehmen. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen.
Die Oppositionsfraktionen haben sich enthalten.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Gustav Herzog, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine zukunftsfähige Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und ein modernes Wasserstraßenmanagement
- Drucksache 17/9743 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die Reden sind wiederum zu Protokoll gegeben.2)
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9743 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der
Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden.
Das ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Harald Weinberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tagespflegepersonen stärken - Qualifikation
steigern
- Drucksache 17/9925 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand
des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot
an Kindertagesbetreuung für Kinder unter
drei Jahren für das Berichtsjahr 2011 ({8})
- Drucksache 17/9850 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.3)
Es wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen
17/9925 und 17/9850 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Gabriele Hiller-Ohm, Silvia Schmidt ({11}),
1) Anlage 13
2) Anlage 14
3) Anlage 15
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Barrierefreier Tourismus für alle
- Drucksachen 17/5913, 17/9853 Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Hirte
Jens Ackermann
Markus Tressel
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir erstmals
über den vorliegenden Antrag geredet. Damals wurde
auch gerade der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung
der UN-Behindertenrechtskommission vorgestellt. In
der Zwischenzeit haben wir im Ausschuss das Thema
Barrierefreiheit in vielen Facetten diskutiert. Ich erinnere unter anderem an die Anhörung zum Thema im Februar dieses Jahres. Auch die ITB mit dem Schwerpunkttag des barrierefreien Tourismus liegt hinter uns. Das
zeigt, dass nicht nur die Politik das Thema immer wieder
auf die Agenda setzt, sondern auch die Branche selbst
erkennt, dass das Thema wichtiger wird. Es ist ethisch
wichtig, um Barrieren abzubauen und um mehr Menschen Teilhabe zu ermöglichen. Es ist aber eben auch
ökonomisch eine Chance für Unternehmen, für Hotels,
für Reiseanbieter, kurzum: für die gesamte Leistungskette. Allerdings ist mein Eindruck, dass in der Branche
im Vergleich zur Politik noch der weitaus größere Nachholbedarf zu sehen ist.
Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema, und es gewinnt immer weiter an Bedeutung. Das sehen und erleben wir alle miteinander täglich. Barrierfreiheit geht
uns alle an. Wir haben Kinder oder Enkel, mit denen wir
die Barrieren des Alltags zu meistern haben, etwa mit einem Kinderwagen. Wir werden alle aber auch irgendwann einmal älter und sind nicht mehr so mobil, hören
schlechter, sehen schlechter. All das baut Barrieren auf.
Die demografische Entwicklung kommt hinzu und macht
uns deutlich, dass das Thema immer mehr an Fahrt gewinnt und weiter gewinnen wird.
Dem vorliegenden Antrag werden wir als Union dennoch nicht zustimmen. Uns allen ist klar, dass es immer
noch viel zu tun gibt, nicht zuletzt deshalb, ich habe es
erwähnt, weil die Zahl der Betroffenen größer wird. Der
demografische Wandel setzt uns quasi unter Druck,
nicht stillzustehen und immer wieder das Thema voranzubringen.
Man muss an dieser Stelle auch noch einmal betonen:
Im föderalen System ist Tourismus Ländersache. Gerade
beim barrierefreien Tourismus gilt: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Akteure müssen vor Ort schauen,
wie sie konkret Probleme lösen können, wie im Kleinen
Hilfe geleistet werden kann und Bedingungen verbessert
werden können. Das war ja durchaus auch ein Ergebnis
der Anhörung. Nicht immer braucht es die große Gesetzeskeule. Viel wichtiger ist der Einsatz und das Engagement der Menschen vor Ort.
Sie haben einige Forderungen bezüglich des barrierefreien Reisens aufgestellt. Die Bahn solle etwa die Angebote beim Einsteige-, Umsteige- und Ausstiegsservice
ausbauen. Meine Erfahrung, und das bestätigen zum
Beispiel Behindertenbeauftragte, mit denen ich regelmäßig Kontakt habe, ist die, dass die Bahn hier sehr zuverlässig Hilfsangebote bietet, den Service aber auch
immer weiter ausbaut. Oder denken Sie an die Mittel,
die wir auch als Bund bereitgestellt haben, um barrierefreie Bahnhöfe voranzubringen. Allein hier in Berlin haben wir die Baustellen vor Augen, an denen es vorwärts
geht. Und jeder hat aus seinem Wahlkreis wahrscheinlich Beispiele, die das auch untermauern.
Ich bin sehr dafür, dies immer weiter voranzutreiben.
Aber ich bin skeptisch, wenn wir dies immer mit neuen
Vorgaben aus Berlin tun. Wir wollen immer Bürokratieabbau, aber gleichzeitig fallen uns immer wieder tausend Dinge ein, bei denen der Staat handeln soll, bei denen neue Gesetze her müssen, deren Einhaltung dann
natürlich auch wieder kontrolliert werden muss. Manchmal ist es aber vielleicht tatsächlich ausreichend, auf die
Kreativität und die Intelligenz der Menschen in der Praxis zu vertrauen.
Die SPD hat in der Diskussion im Ausschuss selbst
darauf verwiesen, dass gerade im Tourismus viele Kleinund Kleinstbetriebe am Markt sind, oft genug mit dem
entsprechend geringen Eigenkapital. Ihre Forderung
nach einem KfW-Programm wird das Problem auch
nicht wirklich lösen. Denn so gering wie das Eigenkapital sind auch die Margen und damit die Chancen, diese
Kredite bedienen zu können.
Ich glaube, beim Thema Barrierefreiheit dürfen wir
nicht stillhalten. Aber uns muss auch klar sein, dass wir
Geduld brauchen. Barrierefreiheit im Tourismus und in
der Gesellschaft wird nicht allein im Bundestag entschieden, sondern in der Verantwortung eines jeden Einzelnen vor Ort.
Als Letztes möchte ich daran erinnern, dass die Politik, dass der Bund sich dennoch engagiert. Erwähnen
möchte ich das Projekt des Bundeswirtschaftsministeriums „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus
für alle in Deutschland“. Ich glaube, dass wir mit der
Förderung konkreter Projekte, die ein Zeichen setzen,
die Schule machen und die auch ein Anreiz sind, in den
Wettbewerb um die besten Ideen einzusteigen, gut fahren. Seit September 2011 gibt es zudem die Möglichkeit
für Schwerbeschädigte, kostenlos im Nahverkehr der
Bahn zu fahren. Auch dies war eine konkrete Initiative
des Bundes, die ein unglaublich wichtiger Beitrag ist.
Auch bei anderen Initiativen setzen wir ja genau auf den
Weg konkreter Angebote und Anreize, etwa bei den Anträgen zum Reformationsjubiläum. Das ist auch für den
Bundestag der richtige Weg. Länder haben die Verantwortung beim Tourismus. Wir können immer dann, wenn
wir konkrete Projekte initiieren oder begleiten, in diesen
Bereichen auf das Thema einwirken.
Nehmen Sie aktuell das Beispiel des Berliner Flughafens. Der Bund ist beteiligt und legt natürlich größten
Wert darauf, dass Barrierefreiheit gegeben ist. Das Desaster um die Verzögerungen steht auf einem anderen
Papier. Aber das Beispiel zeigt, dass der Bund mit gutem
Beispiel vorangeht, um beim Bau und im Tourismus
auch Akzente zu setzen. Ich glaube, dass diese Vorbildfunktion eben auch Druck auf die Akteure andernorts
aufbaut und dem Thema hilft. Ich habe jedenfalls großes
Vertrauen, dass wir mit diesem Weg weiter Stück für
Stück Barrieren abbauen.
Der barrierefreie Tourismus hat sich in der vergangenen Dekade grundsätzlich positiv entwickelt. Dennoch
ist die Botschaft „Tourismus für alle“ leider noch nicht
bei allen Unternehmen angekommen. Dabei sind Urlaub
und Reisen für Menschen mit Behinderungen wichtige
Faktoren für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Daher verfolgen alle Fraktionen des Ausschusses für
Tourismus das Ziel, die Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Deutschlandtourismus zu machen. Im
Ziel sind wir uns einig; wie wir das Ziel erreichen können, dazu gibt es in den Fraktionen allerdings unterschiedliche Vorstellungen.
Der vorliegende Antrag ist grundsätzlich nicht falsch,
aber die Vielzahl der in ihm enthaltenen Forderungen ist
so nicht umsetzbar. Es ist in naher Zukunft, um ein Beispiel herauszunehmen, nicht möglich, Großveranstaltungen über die gesamte Servicekette barrierefrei zu organisieren.
Auch die an die Deutsche Bahn gerichteten Forderungen lassen sich nicht von heute auf morgen umsetzen.
Die Umsetzung des Programms zur Barrierefreiheit bei
der Bahn wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen,
auch wenn die Bundesregierung mit dem Konjunkturprogramm schon erste wichtige Schritte angestoßen hat.
Die Bahn und ihr Vorstandsvorsitzender Grube sind auf
einem wichtigen und richtigen Weg. Als Parlament müssen wir ihn dabei ideell, finanziell und politisch weiter
unterstützen. Insgesamt ist die Realisierung der Barrierefreiheit mit sehr viel Geld verbunden. Daher müssen
die Ressourcen realistisch eingeschätzt und bei der Umsetzung Prioritäten gesetzt werden.
Wie bereits eingangs gesagt, sind wir uns einig, dass
so viel Barrierefreiheit wie möglich realisiert werden
muss. In Deutschland sind immerhin 30 bis 40 Prozent
der Bevölkerung mobilitätseingeschränkt. Aufgrund der
demografischen Entwicklung wird der Anteil der älteren
und mobilitätseingeschränkten Menschen an der Gesamtbevölkerung weiter ansteigen. Aber Barrierefreiheit
kommt ja nicht nur Menschen mit Handicaps zugute.
Der Konzeptidee des „Designs für alle“ liegt zugrunde,
dass Barrierefreiheit für 10 Prozent der Bevölkerung
zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 Prozent notwendig und für 100 Prozent komfortabel ist.
Viele mobilitätseingeschränkte Menschen verzichten
aufgrund mangelnder Barrierefreiheit auf das Reisen
oder würden bei einem besseren Angebot häufiger als
bisher in Urlaub fahren. Damit auch diese Menschen
reisen bzw. öfter verreisen, bedarf es einer flächendeckenden barrierefreien Infrastruktur, aber auch spezifischer Tourismusangebote für diese Zielgruppe. Für einen barrierefreien Tourismus ist eine geschlossene
Servicekette mit durchgängig barrierefreien Angeboten
Voraussetzung. Dazu gehört insbesondere die barrierefreie An- und Abreise sowie die Mobilität vor Ort.
Wir werden auch in Zukunft nicht aufhören, immer
wieder in der Tourismusbranche für Barrierefreiheit zu
werben. Gelungene Beispiele sind meiner Meinung nach
die besten Argumente, um noch unentschlossene Unternehmer und Anbieter zu überzeugen. So engagiert sich
die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in
Deutschland“ in der Entwicklung des barrierefreien
Tourismus. In ihr haben sich acht Städte und Tourismusregionen zusammengefunden, und der Erfolg gibt ihnen
recht. Auch meine Heimatregion, die Sächsische
Schweiz, ist als Modellregion mit dabei.
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe erarbeiten vor Ort
barrierefreie Angebote und suchen nach Lösungsmöglichkeiten bei bestehenden Problemen; sie sind Teil eines Netzwerkes mit einer großen Zahl von Beteiligten.
Die Mitglieder beziehen Behindertenverbände in ihre
Arbeit mit ein, sie setzen Marketingprojekte um, und sie
beraten bei Infrastrukturprojekten. Mein Wunsch ist es,
dass die Bundesregierung in den nächsten Monaten die
Arbeitsgemeinschaft durch eine konkrete Projektförderung unterstützt.
Wir werden beim Thema barrierefreier Tourismus
aber nur dann Fortschritte erreichen können, wenn wir
sensibilisieren und Konflikte beseitigen bzw. vermeiden.
Toleranz, Offenheit, Pragmatismus und Kreativität sind
dabei von allen Seiten gefordert. Wir müssen erreichen,
dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr am Rand
der Gesellschaft stehen und falsches Mitleid ernten. Integration im Tourismus beginnt für mich dort, wo wir
Mittel und Wege finden, Menschen mit gleichen Interessen zusammenzubringen. Konkret bedeutet das, dass Familien mit anderen Familien, Naturfreunde mit anderen
Naturfreunden oder Feinschmecker mit anderen Feinschmeckern ihre Freizeit verbringen können, ungeachtet
dessen, ob jemand eine Behinderung hat oder nicht.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie groß Solidarität
und Zusammenhalt zwischen Menschen mit gleichen Interessen werden, wenn sie sich über ihre Erfahrungen
austauschen können. Meines Erachtens hat ein gutes
barrierefreies Tourismusangebot vor allem auch ein hohes sozialpsychologisches Moment, wenn behinderte
Menschen ein Gefühl von Zugehörigkeit erfahren und
nichtbehinderte Menschen das Gleiche spüren. Jeder ist
anders, und trotzdem gehören alle auf eine gewisse Art
zusammen und teilen die gleichen Träume und Freuden,
ob groß oder klein, dick oder dünn, jung oder alt, ob hörend oder gehörlos, ob sehend oder blind.
Aufgrund des demografischen Wandels wird der Anteil der altersbedingt behinderten Menschen weiter steigen. So lässt bei vielen Menschen die Hör- und Sehfähigkeit nach. Touristische Destinationen werden daher
in Zukunft vermehrt in ein Design für alle investieren
müssen. Im Urlaub stehen Spaß, Erlebnis und EntspanZu Protokoll gegebene Reden
nung an erster Stelle, und da behinderte Menschen, wie
die meisten Reisenden, nicht gerne alleine ihren Urlaub
verbringen, muss bei barrierefreien Angeboten der Urlaubsgenuss für alle ({0})Reisenden im Vordergrund
stehen. Hier gilt es, innovative Angebote zu schaffen.
Ich beginne mit einem Zitat, das uns allen bestens bekannt sein müsste: „Um die Teilhabe aller an touristischen Angeboten zu ermöglichen, soll das Ideal des barrierefreien Reisens in der gesamten touristischen
Leistungskette verankert werden. Die Zugänge zu Bahnhöfen, Flughäfen, Verkehrsmitteln sowie zu Kultur- und
Freizeiteinrichtungen, Gaststätten und Hotels sollen
barrierefrei gestaltet sein.“
Diese Forderung steht in den Tourismuspolitischen
Leitlinien der Bundesregierung. Die SPD hat diese gemeinsam mit der CDU/CSU in der Großen Koalition
Ende 2008 im Kabinett beschlossen. Wir haben dann
2009 einen Antrag auf den Weg gebracht, der viele gute
Punkte für barrierefreies Reisen enthielt.
Von der schwarz-gelben Bundesregierung war dann
allerdings sehr lange nichts mehr zu sehen und zu hören
zu diesem wichtigen Thema.
Dabei ist Barrierefreiheit eine zentrale Voraussetzung, damit Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft teilhaben können. Die SPD setzt sich dafür
ein, dass Urlaub und Reisen für alle Menschen möglich
werden.
Warme Worte, wie wir sie immer wieder in Sonntagsreden vernehmen, reichen nicht aus. Es gilt, politisch die
richtigen Weichen zu stellen, um konkret Barrierefreiheit
im Deutschlandtourismus voranzubringen. Deshalb haben wir bereits im Mai 2011 den heute abzuschließenden
Antrag vorgelegt. Die Überschrift „Barrierefreier Tourismus für alle“ ist gleichzeitig das Motto, an dem sich
unsere Maßnahmen orientieren.
Wir haben damit viele gute Ideen auf den Tisch gelegt
und diese auch ausführlich diskutiert, unter anderem im
Rahmen einer Expertenanhörung im Februar im Tourismusausschuss. Die Anhörung hat unseren Kurs klar bestätigt: Alle Sachverständigen waren sich einig, dass
mehr politische Unterstützung für Barrierefreiheit notwendig ist.
In der Beschlussempfehlung kann man nachlesen,
dass Sie selbst, liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU und CSU, festgestellt haben, dass der Antrag nicht
grundsätzlich falsch sei. Ich frage Sie: Warum lehnen
Sie ihn dann ab? Sie stellen in Bezug auf Barrierefreiheit
fest, dies sei „eine Aufgabe, die die Bundesregierung
nicht allein erfüllen“ könne.
Genau, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, deshalb fordern wir, einen Masterplan
für barrierefreien Tourismus in Zusammenarbeit mit den
Ländern und den Kommunen aufzustellen. Die Verantwortung aber allein den Ländern, Kreisen, Städten und
Gemeinden zuzuschieben, wie Sie das machen, bringt
uns nicht voran. Wir stellen erneut fest: Regierungsverantwortung ist nicht Ihre Stärke.
Wir greifen Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Koalitionsfraktionen, gerne unter die Arme. Unser
Forderungskatalog ist umfassend. Wir sagen: Für eine
bundesweite Koordinierung ist professionelle Arbeit nötig. Diese kann die Nationale Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, leisten - allerdings nur, wenn die
Finanzierung über vereinzelte Projekte hinausgeht.
Wir wollen die NatKo zu einer bundesweiten Kompetenzstelle ausbauen. Wie erfolgreich sie arbeiten kann,
hat sich beim ersten Tag des barrierefreien Tourismus
auf der Internationalen Tourismusbörse ITB gezeigt. Die
NatKo hat ihn organisiert und zu einem großen Erfolg
werden lassen. Dies ging jedoch hart an die Reserven
ehrenamtlicher Arbeit. Hier wollen wir, dass der Bund
sich für einen dauerhaften Barrierefreiheitstag auf dem
ITB-Kongress einsetzt und die Arbeit dafür entsprechend unterstützt.
Entscheidend ist, dass die gesamte Servicekette barrierefrei ist. Ansonsten scheitert der Urlaub für viele
Menschen mit Behinderung bereits an der Anreise. Noch
immer sind rund ein Drittel aller Bahnhöfe nicht ansatzweise barrierefrei. Die Bahn hat jetzt ihr zweites Programm für Barrierefreiheit vorgestellt. Es ist dringend
nötig und muss noch deutlich weitergehen.
Die sogenannte 1 000er-Regelung der Bahn führt
dazu, dass Stationen, die von weniger als 1 000 Reisenden am Tag genutzt werden, beim Bau von Aufzügen
oder langen Rampen hinten herunterfallen. Das sind
zwei Drittel aller Bahnhöfe. Wir fordern, dass Bahnhöfe
generell barrierefrei umgebaut werden, auch kleinere
Stationen. Dazu verpflichtet sich Deutschland im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention.
Es gibt zudem sehr unterschiedliche Anforderungen
an Barrierefreiheit in den Nahverkehrsnetzen der Länder und verschiedene Bahnsteighöhen. Auf diesen Baustellen ist der Bund ganz zentral gefordert. Wir müssen
endlich zu bundeseinheitlichen Standards kommen.
Die Tourismuswirtschaft steht ebenfalls in der
Pflicht, mehr barrierefreie Angebote zu schaffen. Immer
noch gibt es viel zu wenig barrierefreie Hotels und Gaststätten. Die Sachverständigen haben in der Anhörung
bestätigt, dass viele Betriebe sich nicht dafür interessieren. Fakt ist auch: Gerade kleinen Familienbetrieben
fehlt oft das Geld für Umbauten. Deshalb fordern wir,
notwendige Investitionen in Hotels und Gaststätten zu
bezuschussen.
Das Potenzial von Barrierefreiheit ist für die Tourismuswirtschaft enorm: 5 Milliarden Euro zusätzlicher
Umsatz wären mit barrierefreiem Tourismus möglich,
90 000 Vollzeitarbeitsplätze könnten zusätzlich geschaffen werden. Und das Potenzial wird in unserer älter werdenden Gesellschaft immer größer.
Ich bin in meinem Wahlkreis Lübeck in unserer wunderschönen Altstadt mit dem örtlichen Behindertenrat
unterwegs, um hautnah zu erfahren, wo es Probleme und
Barrieren für Menschen mit Behinderung gibt. Die BeZu Protokoll gegebene Reden
troffenen wissen am besten, wo es hakt und wie praktische Lösungen auf der Straße, in Bahnhöfen, Restaurants oder Hotels aussehen können. Deshalb fordern wir,
bei allen Maßnahmen für Barrierefreiheit Menschen mit
Behinderungen und ihre Verbände mit einzubeziehen.
Zudem müssen sich die Betroffenen verlässlich über
barrierefreie Angebote informieren können. Wir haben
mit unserem Antrag den Aufbau eines bundesweiten
Qualitätsgütesiegels für barrierefreien Tourismus gefordert. Ich begrüße, dass die Bundesregierung diese Idee
aufgreift und das laufende Projekt des Deutschen Seminars für Tourismus, DSFT, und der NatKo unterstützt.
Um ein erfolgreiches Gütesiegel daraus zu machen,
brauchen wir allerdings einen „TÜV für Barrierefreiheit“. Wir fordern deshalb, unabhängig zu überprüfen,
ob als barrierefrei ausgezeichnete Angebote dies tatsächlich sind. Dass sich Betriebe selbst einschätzen,
reicht nicht aus. Das wird auch ein Knackpunkt des aktuellen Projekts des Wirtschaftsministeriums sein.
Rund 8 Millionen Menschen mit Behinderung sind
auf Barrierefreiheit angewiesen. Für mehr als 30 Millionen Menschen ist Barrierefreiheit hilfreich, gerade für
Ältere oder Familien mit kleinen Kindern. Fest steht
aber auch: Für 80 Millionen Menschen, also für alle, ist
Barrierefreiheit komfortabel.
Für barrierefreien Tourismus können und müssen wir
eine Menge tun. Der Bund steht in der Pflicht, erst recht
durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die in
Deutschland bereits seit 2009 gilt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, unterstützen Sie wie die gesamte Opposition auch
unseren Antrag, wenn Sie es ernst meinen, allen Menschen barrierefreies Reisen ermöglichen zu wollen.
In Deutschland beginnen in wenigen Tagen die Sommerferien, und damit befinden wir uns kurz vor Beginn
der großen Reisewelle. Was man dabei oft übersieht, ist,
dass es für circa 10 Millionen Menschen in unserem
Land, die mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen leben, nicht selbstverständlich und unproblematisch ist zu verreisen. Für Menschen mit einem körperlichen oder geistigen Handicap ist es immer noch
schwieriger als für gesunde Menschen zu verreisen. Das
zu ändern, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Tourismusindustrie, und dementsprechend muss die gesamte
touristische Servicekette barrierefrei gestaltet werden.
Einfach in den Urlaub zu fahren - ohne Angst vor der
Anreise, der Art der Beherbergung etc. -, sollte für behinderte Menschen zur normalen Sache werden, auf die
man sich freut und die man entsprechend genießen kann.
Für uns steht die Herstellung der Barrierefreiheit bei
allen Projekten und Maßnahmen der Bundesregierung
auf dem Gebiet der Tourismuspolitik im Vordergrund.
Der Bundesregierung ist dieses Thema wichtig. Sie setzt
sich dafür ein, dass barrierefreies Reisen im gesamten
Spektrum der touristischen Leistungskette verankert
wird.
Barrierefreiheit erhöht die Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland. Gerade im Hinblick auf die
Sicherung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des
Deutschlandtourismus stehen wir hier vor einer zentralen Aufgabe.
Wir setzen dabei auf Verantwortung und Bereitschaft
in der Tourismusbranche. Jedem Hotelier und Gastwirt
ist doch klar, dass er sich einen Wettbewerbsvorteil verschafft, wenn er auf die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Älteren und Behinderten eingeht. Gerade
angesichts der demografischen Entwicklung ist die Teilhabe aller Menschen am Tourismus von zentraler Bedeutung. Wir begrüßen deshalb jedwede Art von Initiativen und Projekten von Verbänden und Vereinen, um die
Öffentlichkeit und die Tourismuswirtschaft weiter für
das Thema barrierefreier Tourismus zu sensibilisieren.
Zentrale Aufgabe der Bundesregierung ist es, die
Rahmenbedingungen für barrierefreien Tourismus in
Deutschland zu verbessern. Zu diesem Zweck hat das
Bundeswirtschaftsministerium Studien zum Thema Barrierefreiheit gefördert. Die ökonomische Bedeutung des
barrierefreien Tourismus in Deutschland wurde untersucht und Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zu dessen
Qualitätsverbesserung herausgearbeitet.
Die Arbeitsgemeinschaft „Barrierefreie Reiseziele in
Deutschland“ hat von 2008 bis heute mehrere Modellregionen in sich vereint und setzt sich engagiert für die
Entwicklung von Angeboten für behinderte Gäste in den
Regionen ein.
Die Bundesregierung begleitet die Umsetzung der
UN-Behindertenkonvention im Bereich Tourismus mit
flankierenden Projekten. Sie fördert die Entwicklung
und Vermarktung barrierefreier Tourismusangebote und
Dienstleitungen. Im November 2011 konnte der Startschuss für das Projekt „Tourismus für alle: Entwicklung
und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen in Deutschland“ gegeben werden. Am
31. Mai 2012 hat der Tourismusbeauftragte der Bundesregierung, Herr Ernst Burgbacher, das Projekt in Berlin
vorgestellt. Es läuft bis 2013 und trägt zur Erfüllung des
Nationalen Aktionsplans der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention bei. Träger des
Projekts ist das Deutsche Seminar für Tourismus in Kooperation mit der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo. In die Durchführung eingebunden sind die Tourismuswirtschaft, die Deutsche Zentrale
für Tourismus, die Behindertenverbände, Verkehrsunternehmen, Landesmarketingorganisationen sowie eine
Reihe weiterer fachlicher Einrichtungen. Die Bundesregierung unterstützt das Projekt mit knapp 500 000 Euro.
Ziel ist es, eine einheitliche Kennzeichnung zu entwickeln und damit die vielen verschiedenen Kennzeichnungen durch ein einheitliches System zu ersetzen. Damit
fördern wir eine Transparenz der bestehenden Angebote
und Leistungen. Darüber hinaus sollen Führungspersonal und Mitarbeiter der Tourismusbranche für das
Thema sensibilisiert und geschult werden. Außerdem
wird eine Internetplattform erarbeitet, auf der sich Reisende über barrierefreie Angebote informieren können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Eine aktuelle Umfrage des Flughafenverbandes ADV
über die PRM-Leistungen an deutschen Flughäfen belegt, dass die deutschen Flughäfen bei der Unterstützung von Reisenden mit eingeschränkter Mobilität vorbildlich sind. So erhielten im vergangen Jahr mehr als
1 Million mobilitätseingeschränkter Reisender Unterstützung auf den Flughäfen, unter anderem beim Ein-,
Aus- und Umsteigen. Das sind sehr positive Nachrichten
und zeigt, dass die Branche auch hier auf dem richtigen
Weg ist.
Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass Barrierefreiheit zu einem Markenzeichen des Tourismus in
Deutschland werden sollte und vor allem werden kann.
Die Teilhabe aller Menschen am Tourismus muss ermöglicht werden. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam
erreichen, in Absprache mit den Ländern, Regionen,
Kommunen und den verantwortlichen Akteuren der Tourismuswirtschaft.
In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Berliner Fernsehturms steht:
Aufgrund der im Berliner Fernsehturm bestehenden
baulichen Gegebenheiten ist, um die Sicherheit der
Besucher im Evakuierungsfall zu gewährleisten,
Rollstuhlfahrern und Personen mit aktueller Gehbehinderung, d. h. Personen, die sich nicht ohne
fremde Hilfe oder ohne Hilfsmittel, wie Krücken
etc. fortbewegen können, der Zutritt nicht möglich.
Was hat das mit der heutigen Debatte zu tun? Der
Berliner Fernsehturm ist seit 1969 nicht nur das Wahrzeichen der Hauptstadt, sondern auch eine der bekanntesten und beliebtesten Sehenswürdigkeiten für Touristinnen und Touristen aus aller Welt. In einer kürzlich von
der Deutschen Zentrale für Tourismus veröffentlichten
Studie über die 100 Topreiseziele in Deutschland nimmt
der Fernsehturm einen vorderen Platz ein.
Aber es darf eben nicht jede oder jeder hinauf. Dabei
gibt es viele Beispiele, die zeigen, dass es möglich ist,
auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen den Zugang zu solchen Bauwerken zu ermöglichen. Nennen
möchte ich hier stellvertretend die Fernsehtürme in Düsseldorf und Schwerin, den Euromast in Rotterdam, den
Skytower in Toronto sowie seit den jeweiligen Paralympics die Akropolis in Athen und die Chinesische Mauer
in Padaling.
Die fehlende Barrierefreiheit beim Berliner Fernsehturm war auch Thema in einer Kleinen Anfrage der Linken, denn der Bund steht hier als Hauptaktionär bei der
Deutschen Telekom bzw. ihrer Tochtergesellschaft Deutsche Funkturm GmbH direkt in der Verantwortung. Deswegen ist es aus meiner Sicht unakzeptabel, wenn die
Bundesregierung auf die Frage, wie sie sich für die
Schaffung der Barrierefreiheit auf dem Fernsehturm einsetzen wird, am 22. Februar 2010 - Drucksache 17/786 antwortete: „Die Bundesregierung sieht hierfür keine
Veranlassung.“
Auf meine Frage, welche der 100 Topreiseziele
denn barrierefrei seien und welche der 100 Topreiseziele auch mit Blick auf die Schaffung von Barrierefreiheit Fördermittel des Bundes erhielten, antwortete
die Bundesregierung am 3. Mai 2012 - Drucksache
17/9518 -:
Informationen, welche der 100 beliebtesten Sehenswürdigkeiten in Deutschland barrierefrei sind, liegen der Bundesregierung nicht vor. … Bei der Beantwortung der Frage nach bereitgestellten Mitteln
des Bundes für bauliche Investitionen, Marketingmaßnahmen usw. für die 100 beliebtesten Sehenswürdigkeiten kann nicht nach barrierefreien und
nichtbarrierefreien Sehenswürdigkeiten unterschieden werden …
So viel Unkenntnis ist keine gute Grundlage, um den
barrierefreien Tourismus voranzubringen und Fördermittel des Bundes gezielt und effizient einzusetzen. Vor
einem Jahr, am 9. Juni 2011, hatten wir die erste Lesung
zu diesem Antrag im Bundestag. Bereits damals wies ich
darauf hin, dass die Linke bereits am 24. September
2008 einen Antrag mit dem Titel „Barrierefreier Tourismus für alle in Deutschland“ - Drucksache 16/10317 in den Bundestag eingebracht hatte. Unser Antrag
wurde mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
abgelehnt. Der nun zur Abstimmung stehende Antrag
der SPD hat mit unserem Antrag große, teilweise wörtliche Übereinstimmungen. Deswegen wird die Linke dem
Antrag auch zustimmen.
Was hat sich in diesem Bereich im letzten Jahr getan?
In zunehmend mehr Bundesländern, in Kommunen, touristischen Regionen, in der Tourismuswirtschaft und bei
Verkehrsunternehmen steht das Thema „Barrierefreier
Tourismus“ auf der Tagesordnung. Es gibt zunehmend
mehr barrierefreie Angebote und auch bessere Informationen darüber. Wir hatten auf der ITB 2012 erstmalig,
vor allem Dank der Initiative und Beharrlichkeit der
NatKo, einen Tag des barrierefreien Tourismus - wenn
auch noch ohne Unterstützung der Bundesregierung.
Und es gibt ein von der Bundesregierung gefördertes
Projekt „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier
Angebote und Dienstleistungen im Sinne eines Tourismus für Alle in Deutschland“ unter Federführung des
Deutschen Seminars für Tourismus und Mitwirkung der
Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle
e.V., NatKo.
Aber es wird immer noch mehr geredet als getan. Ich
verzeichne auch weiterhin Gleichgültigkeit und Ignoranz. So hat Bundesverkehrsminister Ramsauer immer
noch nicht begriffen, warum Fragen der Barrierefreiheit
im Bundesbaugesetz verankert werden müssen, warum
Förderungen des Bundes mit der Schaffung von Barrierefreiheit verbunden werden müssen oder warum eine
Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes mit der
Verpflichtung zum Einsatz barrierefreier Busse im Fernlinienverkehr verbunden werden muss. Hier wird von einem Bundesminister permanent gegen Bundesgesetze
verstoßen, denn seit dem 26. März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention geltendes Recht in Deutschland.
Mein Fazit: Die Bundesregierung nimmt nur unzureichend den Beschluss des Bundestages aus dem Jahr
Zu Protokoll gegebene Reden
2009, ihre eigenen Tourismuspolitischen Leitlinien sowie ihre in der Koalitionsvereinbarung erklärten Ziele
hinsichtlich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und der Förderung des barrierefreien Tourismus ernst.
Für die Linke hat barrierefreier Tourismus neben der
wirtschaftspolitischen vor allem eine menschenrechtliche und soziale Dimension. Wir wollen die UN-Behindertenrechtskonvention - insbesondere Art. 30 - und
den Ehrenkodex der Welttourismusorganisation, „Tourismus für Alle“, in die alltägliche Praxis überführen.
Das nützt Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in
ihren Kommunen, beim öffentlichen Personenverkehr,
beim Einkaufen, bei Theater-, Sport- oder anderen Freizeitveranstaltungen, schafft neue, moderne Arbeitsplätze - auch für Menschen mit Behinderungen - und ist
nachhaltig innovativ.
Eine barrierefreie Infrastruktur nützt nicht nur allen
Bürgerinnen und Bürgern. Sie ist auch in Art. 3 Abs. 3
Grundgesetz vorgeschrieben. Fehlende Barrierefreiheit
ist ein Wettbewerbsnachteil. Laut der Studie „Barrierefreier Tourismus für Alle in Deutschland - Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zur Qualitätssteigerung“ des Wirtschaftsministerium aus dem Jahre 2008 ist für etwa
10 Prozent der Bevölkerung eine barrierefrei zugängliche Umwelt zwingend erforderlich, für etwa 30 bis
40 Prozent notwendig - das entspricht etwa 25 Millionen Menschen - und für 100 Prozent komfortabel. Demografisch bedingt wird die Zahl derjenigen, die auf
Barrierefreiheit angewiesen sind, weiter zunehmen. Das
zeigt auch ein Blick auf die Zahl der Urlaubsreisenden
zwischen 65 bis 75 Jahren. Hier wird bis 2020 ein Anstieg um 40 Prozent erwartet. In dieser Reisegruppe ist
aber auch ein besonders hoher Anteil an Deutschlandreisen festzustellen. Er beträgt 41,2 Prozent, im Durchschnitt liegt dieser bei 30,5 Prozent. Es handelt sich dabei also keineswegs um eine vernachlässigbare
Marktnische.
Barrierefreiheit muss umfassend gedacht werden von allen Beteiligten. Gebäude für Rollstuhlfahrerinnen
und Rollstuhlfahrer zugänglich zu machen, ist nur ein
Aspekt eines barrierefreien Angebots. Es gilt, auch die
Belange von Menschen mit Sinnesbehinderungen, chronisch-somatischen und psychischen Erkrankungen und
Lernschwierigkeiten zu berücksichtigen. Mögliche Effekte sind laut einer Studie des FUR bis zu 5 Milliarden
Euro zusätzliche Einnahmen in der Tourismusbranche
sowie zusätzliche 90 000 Arbeitsplätze.
Tipps für Maßnahmen und Informationen zum barrierefreien Tourismus bietet die „Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle“. Anbieter können damit ihr
Angebot über Checklisten auf Barrierefreiheit überprüfen und gezielt verbessern. Derzeit steht die NatKo vor
großen Finanzierungsschwierigkeiten. Sie zu erhalten,
ist von großer Bedeutung.
Über das Thema Barrierefreiheit wird häufig debattiert. Der Tourismusbeauftragte Ernst Burgbacher kündigte am 31. Mai 2012 an, dass Barrierefreiheit das
Markenzeichen des Tourismus in Deutschland werden
soll. Dann müssen aber endlich Taten den Worten folgen. Das, was die Bundesregierung liefert, ist mehr als
dürftig und zeigt einmal mehr, wie es um die soziale Dimension der Nachhaltigkeit bei dieser Bundesregierung
bestellt ist!
Der vorliegende Antrag greift viele Punkte auf und
zeigt damit wie umfassend das Thema gedacht werden
muss. Genau hier hat der Antrag aber auch einige kleine
Schwächen, über die wir schon in den Ausschüssen gesprochen haben. Ich möchte noch einmal betonen: Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung haben auch im
Bereich Tourismus ein Recht auf Teilhabe. Darüber hinaus spricht für den Abbau von Barrieren im Tourismus
auch die wirtschaftliche Sicht. Ein Ausbau des barrierefreien Tourismus ist unumgänglich.
Deshalb gilt es folgende Kernfrage zu lösen: Wie
kann sich unsere Tourismuswirtschaft auf diesen Anstieg
älterer Reisender mit ihren Bedürfnissen vorbereiten?
Hier bedarf es erstens zielgruppengerechter Ansprache
und auf Senioren abgestimmte Angebote. Zweitens brauchen wir Barrierefreiheit, um den Senioren von morgen
Deutschland als attraktives Reiseziel zu präsentieren.
Diese Senioren werden reiseerfahren und deshalb anspruchsvoll bei der Ausstattung ihrer Wunschdestination
sein. Der uneingeschränkte Zugang zu touristischer Infrastruktur darf deshalb in Zukunft nicht die Ausnahme
sein, sondern muss zur Selbstverständlichkeit werden.
Drittens muss die Erreichbarkeit von Destinationen mit
öffentlichem Nahverkehr sichergestellt werden. Das
komplette touristische Produkt muss nachhaltig und
barrierefrei gestaltet werden. Dies schließt alle Teilbereiche der Reisevorbereitung und Reisedurchführung
mit ein; unter anderem lesbare Reiseinformationen,
Möglichkeiten des Gepäcktransports, eine adäquate Gesundheitsversorgung vor Ort und vieles mehr.
Auch im internationalen Vergleich ist es für Deutschland wichtig, sich als barrierefreie Tourismusdestination zu positionieren: Der demografische Wandel findet
nicht nur in Deutschland statt. Mit einem Ausbau des
barrierefreien Tourismus können wir für Deutschland im
europäischen Vergleich ein bedeutendes Alleinstellungsmerkmal schaffen und damit auch internationale mobilitätseingeschränkte Gäste ansprechen. Gleichzeitig kann
ein barrierefreier Deutschland-Tourismus zum einen als
Indikator für Innovationsbereitschaft und soziale Nachhaltigkeit stehen und ebenso als Vorbild für den Tourismus des 21. Jahrhunderts dienen.
Ich fasse mich noch einmal zusammen: Auf den Ausbau eines nachhaltigen, barrierefreien Tourismus hat jeder Betroffene ein Recht. Es ist gleichzeitig eine Notwendigkeit und enorme ökonomische Chance für die
Tourismusindustrie in Deutschland. Die Erleichterungen kommen dabei im Endeffekt allen zugute. Die „Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle“, Natko,
bringt den gesellschaftlichen Gewinn mit dem Satz:
„Für 10 Prozent zwingend erforderlich, für über
30 Prozent hilfreich, für 100 Prozent komfortabel“, auf
den Punkt. Hierbei handelt es sich nur um die aktuellen
Zahlen. Die Tendenz ist steigend. Unsere Aufgabe ist es
jetzt, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um der Tourismusindustrie diesen notwendigen Umbau möglichst
schnell zu ermöglichen. Der Antrag schlägt trotz einiger
kleiner Mängel die richtige Richtung ein. Deshalb werden wir zustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Tourismus empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9853, den Antrag der Fraktion der SPD
mit der Drucksachennummer 17/5913 abzulehnen. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen. Die Koalition hat zugestimmt, die Opposition war dagegen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Tankred
Schipanski, Albert Rupprecht ({1}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann
({2}), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Potenziale der Einrichtungen des Bundes mit
Ressortforschungsaufgaben stärken
- Drucksachen 17/7183, 17/9912 Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Dr. Martin Neumann({3})
Krista Sager
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Die Ressortforschung ist ein unverzichtbarer Bestandteil des deutschen Wissenschaftssystems. Seit Jahren verzeichnen wir einen wachsenden Bedarf an qualitativ
hochwertigen wissenschaftsbasierten Erkenntnissen bei
den verschiedenen Ressorts. Weil wir um die große Bedeutung der Ressortforschung wissen, wollen wir die betroffenen Einrichtungen weiterentwickeln und machen
mit unserem Antrag ganz konkrete Vorschläge.
Der Bundesbericht für Forschung und Innovation
2012 weist 40 öffentlich-rechtliche Bundeseinrichtungen mit Forschungs- und Entwicklungsaufgaben aus.
Hinzu kommt die dauerhafte Zusammenarbeit mit sechs
überwiegend privatrechtlich verfassten FuE-Einrichtungen. Zusammen werden sie als Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben bezeichnet. Neben
ihren hoheitlichen Funktionen unterstützen sie das jeweilige Ressort bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben
durch - vereinfacht gesprochen - wissenschaftsbasierte
Politikberatung. Diese erfolgt entweder durch die Einrichtungen selbst, in Kooperation mit anderen Forschungseinrichtungen oder durch die Vergabe von Forschungsaufträgen an externe Forschungsnehmer.
Im Jahr 2004 begann der Wissenschaftsrat auf Bitten
des BMBF, zunächst 13 Ressortforschungseinrichtungen
des Bundes zu evaluieren. Er stellte in seiner 2007 vorgelegten ersten Gesamtstellungnahme fest, dass die
FuE-Leistungen der Einrichtungen „häufig von guter
bis sehr guter Qualität“ seien, gab jedoch auch Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Ressortforschung.
Der Wissenschaftsrat benannte insbesondere das FuEManagement, Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem,
wissenschaftliche Qualitätssicherung sowie personalund haushaltsrechtliche Rahmenbedingungen als Reformfelder. Zwischen 2007 und 2010 begutachtete der
Wissenschaftsrat in einem zweiten Schritt die bis dahin
noch nicht evaluierten Einrichtungen. Die zweite Gesamtstellungnahme bestätigte die Ergebnisse der ersten
Evaluation und mahnte zusätzlich eine stärkere Profilierung sowie eine Verstärkung der internationalen Aktivitäten an.
Seit geraumer Zeit findet in mehreren Ressorts eine
erfolgreiche Umstrukturierung der Ressortforschungseinrichtungen statt. Das BMELV hat diesen Prozess bereits erfolgreich abgeschlossen. Mit unserem Antrag
wollen wir die Bundesregierung bei der Gestaltung dieses Prozesses mit konstruktiven Vorschlägen unterstützen und den Forderungen des Wissenschaftsrats parlamentarischen Nachdruck verleihen.
Lassen Sie mich diese Vorschläge im Einzelnen vorstellen. Zunächst muss zur Verbesserung der wissenschaftlichen Qualitätssicherung und Transparenz überprüft
werden, welche Einrichtungen künftig als Ressortforschungseinrichtung geführt werden sollen. Zentrales
Kriterium für Verbleib und Aufnahme muss sein, dass die
betreffenden Institutionen über eigene wissenschaftliche
Kompetenz verfügen, indem sie entweder eigene Forschung betreiben oder FuE-Projekte extern vergeben.
Im Hinblick auf Qualität und Struktur sind die 46 Einrichtungen höchst heterogen. Ein Blick auf den FuE-Anteil der 46 Ressortforschungseinrichtungen offenbart
dies. Während der FuE-Anteil bei 14 Einrichtungen unter 10 Prozent liegt, beträgt er bei 15 Institutionen
50 Prozent und mehr. Einige Einrichtungen - stellvertretend sei auf die Bundesanstalt für Materialforschung
und -prüfung, BAM, verwiesen - sind zweifellos hervorragend und wissenschaftlich exzellent aufgestellt. Andere müssen sich einer kritischen Überprüfung der wissenschaftlichen Kompetenz stellen. Diese Überprüfung
setzt voraus, dass die Ressorts zunächst ihre Forschungsbedarfe definieren und systematisch klären, welche Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben erforderlich sind.
Zweitens muss die Koordination zwischen den Einrichtungen, aber auch zwischen den übergeordneten
Ressorts verbessert werden. Nur so können wissenschaftliche Synergien optimal genutzt und Doppelarbeit
vermieden werden. Wichtige Voraussetzung hierfür ist
die vom Wissenschaftsrat empfohlene Kartierung der
FuE-Landschaft des Bundes und der Länder. Insbesondere in Politikfeldern, die auf europäischer Ebene koor22018
diniert werden, empfiehlt sich eine verstärkte Zusammenarbeit.
Drittens sehen wir in der wissenschaftlichen Qualitätssicherung eine zentrale Herausforderung. Diese
muss auf mehreren Säulen fußen. Alle Einrichtungen
müssen regelmäßig von erfahrenen externen Experten
evaluiert werden. Zu einem späteren Zeitpunkt muss
selbstverständlich überprüft werden, ob die gegebenen
Empfehlungen auch umgesetzt wurden. Da die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Institutionen maßgeblich vom jeweiligen Leitungspersonal abhängt, müssen
wissenschaftliche Führungspositionen auch ausschließlich durch ausgewiesene Wissenschaftler besetzt werden. Wissenschaftliche Beiräte in den Einrichtungen
können einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung
leisten. Auch erachten wir es als erforderlich, dass passgenaue Qualitätssicherungssysteme entwickelt werden,
die auf validen Indikatoren basieren, zum Beispiel Anzahl und Qualität der Publikationen, Einwerbung von
Drittmittelprojekten, Kundenzufriedenheit etc.
Viertens wünschen wir uns - die Empfehlung der
zweiten Gesamtstellungnahme des Wissenschaftsrats
aufgreifend - eine noch stärkere Vernetzung der Einrichtungen untereinander und mit dem nationalen und
internationalen Wissenschaftssystem. Dies kann beispielsweise durch Personalaustausch oder gemeinsame
Berufungen geschehen. So würde die Sichtbarkeit der
Ressortforschung spürbar erhöht und die notwendige
Internationalisierung vorangetrieben werden.
Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben werden ebenso wie universitäre und außeruniversitäre Einrichtungen an den Maßstäben wissenschaftlicher Qualität gemessen. Daher gilt es, die Einrichtungen mit
Ressortforschungsaufgaben als Teil der Wissenschaftslandschaft zu betrachten und im Hinblick darauf Sorge
für Rahmenbedingungen zu tragen, die einen fairen wissenschaftlichen Wettbewerb mit universitären und
außeruniversitären Einrichtungen ermöglichen. Größere administrative Freiheiten müssen für den jeweiligen Einzelfall geprüft und umgesetzt werden. Im Zuge
der Verabschiedung des Entwurfs für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz am 2. Mai 2012 hat die Bundesregierung
grundsätzlich ihre Absicht hierzu bekundet.
Schließlich fordern wir, dass über die hier vorgestellten Vorschläge zur Weiterentwicklung der Ressortforschung in den künftigen Ausgaben des Bundesberichts
für Forschung und Innovation detaillierter berichtet
wird. Zu einem umfassenden Bericht zählen mindestens
ein Überblick über die Schritte zur Verbesserung der institutionellen Rahmenbedingungen, über Maßnahmen
und Ergebnisse zur Qualitätssicherung, die Forschungspläne einzelner Ressorts sowie Evaluierungsschwerpunkte in den Einrichtungen. 2014 soll erstmals über die
Anpassung der Liste der Einrichtungen des Bundes mit
Ressortforschungsaufgaben berichtet werden.
Insgesamt gesehen ist die Qualität der Forschungsleistungen in Einrichtungen, die weitgehend den
„Wissenschaftlichen Ressortforschungseinrichtungen“ entsprechen, durchgängig gut bis sehr gut, in
einigen Bereichen auch international hervorragend.“
Das schreibt der Wissenschaftsrat selbst in seiner
Stellungnahme vom 12. November 2010. Mit dem „Konzept einer modernen Ressortforschung“ der Bundesregierung aus dem Jahr 2007 wurde in den Ressorts ein
kontinuierlicher Modernisierungsprozess angestoßen,
durch den in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Die Bundesregierung hat auf die
zweite Gesamtstellungnahme des Wissenschaftsrats mit
einem Bericht zur Weiterentwicklung der Ressortforschung reagiert, welcher dem Haushaltsausschuss am
1. Juli 2011 vorgelegt wurde.
Der vorliegende Antrag der Koalition von CDU/CSU
und FDP, den der Kollege Schipanski bereits im Detail
geschildert hat, verleiht den Handlungsempfehlungen
des Wissenschaftsrates nun parlamentarischen Nachdruck und signalisiert, dass die Koalition davon ausgeht, dass die durch den Wissenschaftsrat aufgezeigten
Optimierungspotenziale durch die Bundesregierung
auch konsequent und zügig genutzt werden und der Modernisierungsprozess fortgeführt wird, um die anerkannt
hohe Leistungsfähigkeit der Einrichtungen auch zukünftig zu sichern.
Eine Kernkritik der Opposition ist, dass die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes vorerst nicht vom
Anwendungsbereich des aktuell vorliegenden Wissenschaftsfreiheitsgesetzes, das wir voraussichtlich in der
kommenden Sitzungswoche in erster Lesung beraten
werden, erfasst sind. Es wird befürchtet, dass sich die
Rahmenbedingungen für die Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben von denen der außeruniversitären
Forschungseinrichtungen weiter auseinanderentwickeln. Es stimmt, dass die Ressortforschungseinrichtungen nicht am jährlichen 5-Prozent-Aufwuchs des Pakts
für Forschung und Innovation partizipieren. Allerdings
profitieren die Einrichtungen vom 6-Milliarden-EuroAufwuchs für Forschung in dieser Legislaturperiode.
Ich möchte Sie daran erinnern, das es der schwarzgelben Koalition zu verdanken ist, das Bildung und Forschung höchste Priorität eingeräumt werden.
Um zu verdeutlichen, dass die Ressortforschung hiervon nicht abgeschnitten wird, möchte ich Ihnen noch
einmal die Verteilung der zusätzlichen Forschungsmittel
auf die Ressorts vor Augen führen: 56 Prozent der Mittel
entfallen auf das BMBF, 18 Prozent auf das BMWi,
3 Prozent auf das BMVg, jeweils 2 Prozent auf das AA,
das BMVBS und das BMU, jeweils 1 Prozent auf das
BMELV, das BMG und BMI sowie 14 Prozent auf den
Energie- und Klimafonds. Aus dem aktuellen Bundesbericht Forschung und Innovation 2012 lässt sich
entnehmen, dass die Sollausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung an Ressortforschungseinrichtungen im Jahr 2012 circa 874 Millionen Euro betragen.
Das sind 33 Millionen Euro mehr als im Jahr 2011, was
einer Steigerung von rund 4 Prozent entspricht.
Selbstverständlich muss es unser Ziel sein, dass die
Ressortforschungseinrichtungen im Spannungsfeld von
Politikberatung und wissenschaftsbasierter AufgabenZu Protokoll gegebene Reden
wahrnehmung gleichberechtigte Partner im Wissenschaftssystem sind. Als Haushälter möchte ich Ihnen
jedoch darlegen, warum ich die vorläufige Ausklammerung der Ressortforschung von den Elementen des Wissenschaftsfreiheitsgesetzes als angemessen betrachte.
Vor dem Hintergrund der Heterogenität der Ressortforschungseinrichtungen - 15 Einrichtungen weisen einen
Eigenanteil an Forschung am Tätigkeitsspektrum von
50 Prozent und mehr aus, bei 14 Einrichtungen liegt
dieser Anteil bei 10 Prozent und darunter - und ihren
spezifischen gesetzlich geregelten Aufträgen halte auch
ich die vom Wissenschaftsrat vorgeschlagene Ausdifferenzierung in forschungsintensive und administrative
Einrichtungen nicht für zielführend.
Der Ressortforschung kommt eine Brückenfunktion
zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft zu. Im
Unterschied zu anderen Forschungseinrichtungen unterliegen die Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben als nichtselbstständige Behörden besonderen
rechtlichen Grundlagen; Forschung und Entwicklung ist
in diesen Einrichtung kein Selbstzweck, sondern dient
im Kern der Wahrnehmung hoheitlicher Dienst- und
Amtsaufgaben, wie beispielsweise die Gewährleistung von Sicherheit in Technik und Chemie durch die
Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung oder
die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere der Infektionskrankheiten durch
das Robert-Koch-Institut.
Aufgrund der angesprochenen Heterogenität und des
geltenden Ressortprinzips, welches besagt, dass die
Feststellung des Ressortforschungsbedarf und die Ausrichtung bzw. Weiterentwicklung der Ressortforschung
in den Zuständigkeitsbereich des jeweiligen Ressorts
fallen, ist es folgerichtig, dass die zuständigen Ressorts
aufgefordert sind, zu prüfen, inwieweit entsprechende
Flexibilisierungen in den Bereichen Haushalt, Personal
und Bauverfahren auf ihre Ressortforschungseinrichtungen oder auf einzelne Teile angewendet werden können. Die grundsätzliche Absicht hierzu hat die Bundesregierung durch einen gesonderten Beschluss anlässlich
der Verabschiedung des Entwurfes für ein Wissenschaftsfreiheitsgesetzes im Kabinett am 2. Mai 2012 bekundet.
Im Einzelnen sollten die Ressorts folgende Maßnahmen prüfen: In Anbetracht des Spannungsverhältnisses
zwischen gesetzlichem Stellenabbau und der Erforderlichkeit hoch qualifizierter Experten in den Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben sollte erstens auf
die Angemessenheit der Stellenausstattung im jährlichen
Haushaltaufstellungsverfahren besonders geachtet werden. Zweitens sollte der Flexibilisierungsbedarf bei der
Bezahlung von Beamten und Arbeitnehmern im Bereich
des wissenschaftlichen Personals für die Ressortforschungseinrichtungen geprüft werden. Dies beinhaltet
die Gewährung von Zulagen als auch die Reaktionsgeschwindigkeit bei der Abwehr von Abwerbeangeboten
aus der Wirtschaft oder dem Ausland.
Die ressortspezifische Prüfung von Möglichkeiten zur
Flexibilisierung ist meiner Ansicht nach ein vernünftiger Kompromiss, der den großen Unterschieden zwischen den Einrichtungen Rechnung trägt und auch im
Hinblick auf haushalterische Folgewirkungen das richtige Maß ansetzt. Das Ziel einer gleichberechtigten
Partnerschaft gilt nicht nur im Hinblick auf die außeruniversitären Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen, sondern auch im Hinblick auf die ministerielle
Verwaltungsebene.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Opposition, abgesehen davon, verfügen die Ressortforschungseinrichtungen bereits heute über Möglichkeiten
der Flexibilisierung. Gemäß § 5 des Haushaltgesetzes
stehen den Einrichtungen Möglichkeiten einer weitgehenden Flexibilisierung von Haushaltsmitteln zur Verfügung, womit sie auf neue Entwicklungen und Erkenntnisse im Forschungsbereich schnell und flexibel
reagieren können. Diese werden ressort- und einrichtungsspezifisch genutzt und bei Bedarf angepasst.
Dies gilt auch für den Bereich der Beschaffungen.
Um international konkurrenzfähig zu sein, müssen die
Forschungseinrichtungen wirtschaftlich und zügig die
für die Forschungsvorhaben erforderliche Infrastruktur,
insbesondere die entsprechenden technischen Gerätschaften, beschaffen können. Die Ressortforschungseinrichtungen können Waren und Dienstleistungen bis zu
einem Höchstwert von 25 000 bzw. 30 000 Euro im Rahmen der freihändigen Vergabe einkaufen. Zudem profitieren sie - wie auch andere Forschungseinrichtungen von der sogenannten Forschungsklausel im Vergaberecht, wonach Aufträge bis zum EU-Schwellenwert ohne
förmliche Ausschreibung vergeben werden können.
Insgesamt kann man festhalten, dass die Ressortforschungseinrichtungen schon heute über gute institutionelle Rahmenbedingungen verfügen, unter denen sie
- wie bereits eingangs erwähnt - gute bis international
hervorragende Forschungsleistungen erzielen. Die
Koalition von CDU/CSU und FDP hat mit dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung beauftragt, die
Stärkung der Potenziale der Ressortforschungseinrichtungen weiterhin voranzutreiben und die Leistungsfähigkeit der Ressortforschung stetig weiterzuentwickeln. Ich denke, mit dem vorliegenden Antrag ist es uns
gelungen, den zentralen Empfehlungen des Wissenschaftsrats Nachdruck zu verleihen und somit die starke
Stellung der Ressortforschung in der nationalen und internationalen Wissenschaftslandschaft auch zukünftig zu
erhalten.
Mit den Ressortforschungseinrichtungen des Bundes
beschäftigte sich der Wissenschaftsrat erstmals im Jahr
2004. Bereits in dieser ersten Evaluation hat das Gremium die Rolle der Ressortforschungseinrichtungen
grundsätzlich positiv bewertet, aber auch auf Handlungsbedarfe hingewiesen.
Schon im Jahr 2007, noch zu Zeiten der Großen Koalition und unter aktiver Einflussnahme der SPD, hat
das BMBF ein Papier mit dem Titel „Zehn Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ publiziert, in welchem
die Verbesserungsvorschläge des Wissenschaftsrats aufgegriffen und in konkrete Handlungsvorschläge gefasst
Zu Protokoll gegebene Reden
wurden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass
dieses Papier noch heute über die Website des BMBF
abrufbar ist. Die inhaltlichen Zielvorgaben für eine
politische Weichenstellung hin zu einer zukunfts- und
leistungsfähigen Ausrichtung der Ressortforschungseinrichtungen, die den gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird, sollten daher
auch den Koalitionsfraktionen hinlänglich bekannt sein.
Man könnte demnach annehmen, dass mit einer solchen Vorlage eine politische Umsetzung - vor allem im
parlamentarischen Raum - reine Formsache wäre. Liest
man aber den vorliegenden Antrag von Union und FDP,
muss man mit Enttäuschung feststellen, dass dem nicht
so ist. Vorab sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass zwischen Publikation der Leitlinien und dem
jetzt vorliegenden Antrag knapp fünf Jahre vergangen
sind. Hatte die Union in der letzten Wahlperiode mit der
SPD-Bundestagsfraktion noch einen Koalitionspartner
an der Seite, der sie dazu drängte, in dieser Frage als
ressortführende Partei endlich zu handeln, so muss man
heute feststellen, dass ohne den nötigen Druck offenbar
alles wesentlich länger dauert.
Der Umstand, dass man auf einen Antrag der Regierungsfraktionen in dieser Frage so lange warten muss,
ist an sich schon äußerst unbefriedigend, wäre aber hinnehmbar, wenn der Antrag selbst eine inhaltliche Tiefe
hätte, die eine solche „Bearbeitungszeit“ rechtfertigen
könnte. Mit Ernüchterung muss man aber feststellen,
dass der vorliegende Antrag leider substanziell hinter
den Leitlinien des BMBF zurückbleibt - er es also nicht
vermag, die Mindestzielvorgaben des eigenen Ministeriums zu erfüllen.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Wird in den „Zehn
Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ unter
Punkt fünf explizit eine Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses - einhergehend mit der Schaffung
von Weiterqualifizierungsmaßnahmen des wissenschaftlichen Personals an den jeweiligen Einrichtungen - gefordert, so findet sich dieser wichtige Punkt im Forderungskatalog des Antrags nicht wieder. Zwar wird im
Begründungsteil in dieser Frage noch explizit auf die
Empfehlungen des Wissenschaftsrats hingewiesen und
festgestellt, dass zur optimalen Ausschöpfung der Potenziale der Ressortforschungseinrichtungen die Nachwuchsförderung eine wichtige Rolle spielt. Doch leider
unterlässt es der Antrag, diesen Punkt im Forderungsteil
aufzugreifen. Oder um es anders auszudrücken: Es wird
ein Bedarf identifiziert; allein die logische Schlussfolgerung aus der Analyse hin zu einer Handlungsempfehlung erfolgt nicht. Daher sei an dieser Stelle die Frage
erlaubt, wie die Regierungsfraktionen dem künftigen Bedarf der Ressortforschung Rechnung tragen möchten,
wenn sie den jeweiligen Einrichtungen nicht die Mittel
in die Hand geben, qualifizierten wissenschaftlichen
Nachwuchs für ihre spezifischen Bedarfe auszubilden?
Im Antrag der Koalitionsfraktionen ist zudem die
Rede davon, dass die Ressortforschungseinrichtungen
- insbesondere solche mit einem hohen Forschungsanteil - „im Wettbewerb zu universitären sowie außeruniversitären … Wissenschaftseinrichtungen“ stehen
und sie folglich auch „im Wettbewerb um hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gestärkt werden“ müssen. Zur Bewältigung dieser Aufgabe
müssen diese Einrichtungen jedoch über geeignete Möglichkeiten der akademischen Ausbildung verfügen, um
entsprechend qualifiziertes Personal möglichst frühzeitig zu rekrutieren und an sich zu binden. Denn die Ressortforschungseinrichtungen werden ihren künftigen
akademischen Personalbedarf nicht allein durch die
Anwerbung externen Personals decken können.
Aber selbst inhaltliche Punkte, die tatsächlich von
den „Zehn Leitlinien einer modernen Ressortforschung“ ihren Weg in den Antrag gefunden haben,
werden bei genauer Betrachtung im Spiegel der Regierungsrealität als das enttarnt, was sie sind: reine Lippenbekenntnisse. So findet sich in besagtem Antrag bzw.
in den Leitlinien die richtige Einschätzung wieder, dass
im Sinne einer stärkeren Vernetzung der jeweiligen Ressortforschungseinrichtungen mit dem Wissenschaftssystem gemeinsame Berufungen mit Hochschulen als „geeignetes Mittel“ anzusehen sind. Nach Auskunft der
Bundesregierung auf eine schriftliche Frage des Abgeordneten Klaus Hagemann ist diese Berufungspraxis
seit dem Jahr 2007 - also seitdem diese Forderung erstmals in den Leitlinien der Bundesregierung publik gemacht wurde - in lediglich drei({0}) Ressortforschungseinrichtungen erfolgt. Alle drei Einrichtungen fallen in den
Geschäftsbereich des BMWi, was ebenfalls für eine nur
punktuelle Umsetzung dieser Vorgabe spricht.
Auch wenn der Antrag zu der Erkenntnis kommt, dass
die „wissenschaftliche Leistungsfähigkeit der Einrichtungen … maßgeblich von deren wissenschaftlichem
Leitungspersonal“ abhängt, scheint es die Bundesregierung im Einzelfall besser zu wissen. Als Negativbeispiel
sei an dieser Stelle die Berufungspraxis des Bundesministers Ramsauer bei der Ressortforschungseinrichtung Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, BBSR, genannt. Offenbar scheint ebenjener
Bundesminister wissenschaftliche Expertise und Exzellenz mit Parteizugehörigkeit zu verwechseln. Man weiß
zwar, dass der neue Leiter ein schwarzes Parteibuch
hat; eine einschlägige Publikationsliste dieses neu berufenen Leiters der Ressortforschungseinrichtungen ist
uns zumindest - und wohl auch der Bundesregierung nicht bekannt. Ob auf diese Weise die gewünschte Vernetzung mit der Wissenschaftslandschaft herbeigeführt
werden kann, sei dahingestellt. Dem Ansehen der Ressortforschungseinrichtungen ist eine solche Berufungspraxis jedenfalls nicht dienlich.
Die Mängelliste ist noch viel länger, kann aber
- mangels Zeit - nicht weiter ausgeführt werden. Abschließend sei aber darauf verwiesen, dass wir uns zu
den vom Wissenschaftsrat angeregten wichtigen Fragen
hinsichtlich der künftigen eigenen Einwerbung von
Drittmitteln und der Koordinierung der Forschungsund Entwicklungstätigkeiten der Ressortforschungseinrichtungen handfeste Handlungsvorschläge gewünscht
hätten. Aber bei diesem Wunsch verhält es sich wie bei
so manchen Versprechungen dieser Bundesregierung:
Sie bleiben unerfüllt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Als der Deutsche Bundestag 2004 das Bundesministerium für Bildung und Forschung beauftragte, die Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben
systematisch zu evaluieren, hatte die FDP-Bundestagsfraktion bereits 2001 mit einem Antrag auf die Notwendigkeit einer umfassenden Evaluation hingewiesen. Der
Antrag wurde abgelehnt; drei Jahre später gelangten
SPD und Bündnis 90/Die Grünen dann doch zu der Einsicht, dass eine systemische Evaluation der Ressortforschung notwendig sei. Denn viel zu lange wurden die
Ressortforschungseinrichtungen als Teil des Wissenschaftssystems ignoriert und nur in ihrer dienenden
Funktion für die Bundesministerien wahrgenommen.
Welches wissenschaftliche Potenzial sich tatsächlich dahinter verbirgt, wurde nicht wahrgenommen.
Mit der Forderung nach einer systemischen Evaluation der Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben lösten wir Liberale in vielen Ressorts
auch erstmals einen Denkprozess über die wissenschaftspolitische Stellung ihrer Einrichtungen aus. Als
die Evaluation durch den Wissenschaftsrat 2007 dann in
einer ersten Gesamtstellungnahme veröffentlicht wurde
und die Bundesregierung darauf aufbauend zehn Leitlinien für eine moderne Ressortforschung vorlegte, war
dies ein erster wichtiger Schritt zur Stärkung der Ressortforschung. Ein wichtiger Schritt, den wir Liberale
als Erfolg über die Fraktionsgrenzen hinweg anerkennen.
Für uns Liberale war aber auch klar, dass mit den
zehn Leitlinien für eine moderne Ressortforschung aus
der Zeit der Großen Koalition der Prozess keinesfalls
abgeschlossen sein kann. Denn der Wissenschaftsrat
verdeutlichte 2010 mit der zweiten Gesamtstellungnahme, dass die Ressortforschungseinrichtungen als
Instrument der Politikberatung weiter gestärkt werden
müssen. Dies gelänge, indem sich die Ressortforschungseinrichtungen dem Wissenschaftssystem weiter
öffneten, die Einrichtungen näher an das Wissenschaftssystem herangeführt würden und man einen engen Austausch förderte. Mit unserem Antrag „Potenziale der
Einrichtungen des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben stärken“ greifen wir als christlich-liberale Koalition genau diese Möglichkeit auf. Mit unserem Antrag
zielen wir darauf, die Ressortforschung fortzuentwickeln, damit die jeweils zuständigen Bundesministerien für die Wahrnehmung ihrer hoheitlichen Aufgaben,
für die Erfüllung der Beratungs-, Forschungs- und
Dienstleistungsaufgaben, auf hohe wissenschaftliche
Kompetenz zurückgreifen können.
Um die hohe wissenschaftliche Qualität in den Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben sicherzustellen, muss zuallererst eine grundlegende Überprüfung
aller Einrichtungen erfolgen. Diejenigen, die keine Ressortforschungsaufgaben leisten, können nicht als Ressortforschungseinrichtungen erhalten bleiben, sondern
sollten wie im Antrag gefordert ins Wissenschaftssystem
überführt werden. Alle Einrichtungen, die als Ressortforschungseinrichtungen verbleiben, sollen Forschungsprogramme entwickeln. Darin sollen aktuelle
und erwartbare Forschungsbedarfe dargelegt werden.
Als einen weiteren zentralen Punkt sehen wir eine
stärkere Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem durch
Personalaustausch an. Auch Kooperation mit internationalen Partnern sowie gemeinsame Berufungen mit
Hochschulen führen zur besseren und stärkeren Vernetzung mit dem Wissenschaftssystem. In diesem Zusammenhang ist darauf zu achten, dass wissenschaftliche
Leitungspositionen zukünftig im Rahmen öffentlicher
Ausschreibungen nur noch durch ausgewiesene Wissenschaftler besetzt werden. Für uns Liberale ist dies eines
der wichtigsten Elemente im Antrag. Eine hohe wissenschaftliche Qualität der Ressortforschungseinrichtungen ist vor allem dann möglich, wenn diese ausschließlich durch hervorragende Wissenschaftler geführt
werden. Ein Beispiel, wie die Besetzung wissenschaftlicher Leitungspositionen umgesetzt werden kann, bietet
das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie.
2011 wurde bei der Neubesetzung der Leitungsposition
der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt eine eigens
für diesen Zweck installierte Expertenkommission berufen, deren Empfehlungen Bundesminister Dr. Philipp
Rösler uneingeschränkt gefolgt ist.
Ziel aller Kooperationen und personellen Verschränkungen ist es, Synergien und Kompetenz für die Ressortforschung zu nutzen und auch dem Wissenschaftssystem
einen Zugang zu den Forschungsinfrastrukturen zu
geben, die der Bund vorhält. Denn Kooperation und
Vernetzung ist nicht eindimensional, sondern verläuft in
beide Richtungen. Als Forschungspolitiker sind wir in
der christlich-liberalen Koalition an der Stärkung der
Hochschulen und des gesamten deutschen Wissenschaftsstandorts interessiert. Deshalb müssen wir allen
Akteuren im Wissenschaftssystem Kooperationen und
Synergien, mittels einer Kartierung der FuE-Infrastrukturen über einem Anschaffungswert von 1,5 Millionen
Euro, eröffnen. Eine solche Kartierung entfaltet dabei
eine größere Wirkung, wenn diese gemeinsam mit den
Ländern erstellt wird.
Ein weiterer wichtiger Punkt aus liberaler Sicht ist
die im Antrag adressierte intensiviere Vernetzung der
Ressortforschungseinrichtungen mit Partnern auf europäischer Ebene. Denn die deutschen Ressortforschungseinrichtungen müssen noch stärker als Agendasetter in
einer europäischen und internationalen Gremien- und
Ausschussarbeit auftreten.
Mit dem Antrag zieht diese christlich-liberale Koalition den richtigen Ansatz aus der Evaluation der Ressortforschungseinrichtungen und folgt im Übrigen vielen gemeinsamen überfraktionellen Anliegen, die in den
letzten Jahren über die Fraktionen hinweg adressiert
wurden. Insofern ist die Ablehnung des Antrags durch
Oppositionsfraktionen in den Beratungen des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung bedauerlich. Denn es stellt aus deren Sicht einen
Rückschritt dar, aus nicht nachvollziehbaren Gründen.
Die Punkte, die von SPD und Grünen im Ausschuss angeführt wurden, stechen nicht; denn das Kernanliegen,
die Stärkung der Potenziale, wird außer Acht gelassen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Koalition reagiert mit dem Antrag auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung
der Ressortforschung. Diese umfasst derzeit 46 Einrichtungen mit einem Gesamtausgabevolumen von etwa
2 Milliarden Euro. Das Spektrum der Einrichtungen
reicht vom Umweltbundesamt über die PhysikalischTechnische Bundesanstalt, das Robert-Koch-Institut bis
zum Bundesinstitut für Berufsbildung, BIBB. Der Wissenschaftsrat hat sich in seinen Empfehlungen vor allem
für eine stärkere Internationalisierung der Einrichtungen sowie für mehr Transparenz, Profil und intensivere
Kooperation mit anderen Wissenschaftseinrichtungen
ausgesprochen.
Die Koalition beantragt, dass eine klare Zugehörigkeit von Wissenschaftseinrichtungen zur Ressortforschung anhand konkreter Kriterien definiert wird. Nur
Einrichtungen, die eigene Forschungstätigkeit vollziehen, sollen benannt werden. Dazu gehören auch solche
technisch-administrativen Einrichtungen mit geringeren
eigenen Forschungsanteilen. Der Koalitionsantrag bleibt
leider die Antwort auf die Frage schuldig, welchen Status Einrichtungen bekommen sollen, die nicht auf die
Liste der Ressortforschung aufgenommen werden. Eine
solche Klärung ist jedoch notwendig, wenn die vom Wissenschaftsrat empfohlene Klassifizierung vorgenommen
werden soll. Wir müssen diesen Einrichtungen, die zumeist sinnvolle, oft hoheitliche Aufgaben leisten, eine
Perspektive bieten.
Die Einrichtungen der Ressortforschung sollten nach
der Vorstellung der Koalition Forschungs- und Entwicklungsprogramme erarbeiten und die von ihnen bearbeiteten Fragestellungen konkretisieren. Zudem sollen die
Einrichtungen weiterhin regelmäßig evaluiert werden.
Wir finden es verdienstvoll, dass die Koalitionsfraktionen nicht länger auf die Bundesregierung warten und
sich dieses Themas im gebotenen Umfang angenommen
haben. Fünf Jahre liegen die letzten strategischen Positionierungen der Bundesregierung zurück. Es wird nun
Zeit, der erfolgten Evaluierung der Einrichtungen und
den Empfehlungen des Wissenschaftsrats endlich Taten
folgen zu lassen. Dabei muss natürlich die Rolle des
Wissenschaftsrates, der in erster Linie aus Politik und
universitärer Wissenschaft zusammengesetzt ist, kritisch
berücksichtigt werden.
Die Koalition entlässt jedoch die Bundesregierung zu
weit aus der Verantwortung. Der Wissenschaftsrat hatte
empfohlen, dass nicht die Einrichtungen selbst, sondern
vor allem die Bundesregierung ihre Forschungsbedarfe
regelmäßig und unter Einbezug externen Sachverstands
ermittelt und auch mit dem Parlament diskutiert. Davon
ist bei der Koalition jetzt nichts zu lesen; dabei wäre
eine solche Debatte der erste Schritt zu mehr Transparenz.
Dazu passt leider, dass die Bundesregierung sich aus
der Detailsteuerung der Forschungseinrichtungen in
Fragen der Haushalts- und Personalführung zurückziehen soll. Dies wird aber nicht mit einer entsprechenden
transparenten Steuerung bezüglich der institutionellen
Entwicklung, der Kooperationen und der zu bearbeitenden Forschungsfelder verknüpft. Die Linke fordert, das
spezifische Anforderungsprofil der Einrichtungen präzise zu definieren und dementsprechend auch die Governancestrukturen auszurichten. Wer autonome Einrichtungen will, muss auch sagen, was er von ihnen erwartet.
Erst dann ist es auch möglich, eine nachhaltige Personalpolitik an den Ressortforschungseinrichtungen zu
gestalten. Ein planloser Abbau von Personal, wie an
vielen Einrichtungen in der Vergangenheit geschehen,
ist nicht im Interesse einer zukunftsfähigen Entwicklung
der Institute.
Zudem ist sicherzustellen, dass die Einrichtungen kritische und für die entsprechenden Ministerien unbequeme Ergebnisse veröffentlichen dürfen. Die Wissenschaftsfreiheit sollte auch für die Ressortforschung und
für beauftragte externe Institute ausgelegt werden. Wir
erinnern uns an mehrere Fälle eines unwürdigen Gezerres etwa um Studien aus dem Umweltbundesamt.
Mehr Transparenz ist insbesondere auch in die Ressortforschung des Verteidigungsministeriums zu bringen. Hier forschen allein 14 Institute mit einem Etat von
mehr als 150 Millionen Euro. Das Beispiel der Forschung an Pockenviren im Wehrwissenschaftlichen Institut für Schutztechnologien in Munster zeigt, dass eine
Debatte über Regeln guter wissenschaftlicher Praxis
auch in der Ressortforschung notwendig ist.
Alles in allem: Die Koalition ist gesprungen - leider
zu kurz.
Der Forschungsausschuss hat sich zuletzt im Dezember 2010 mit den Empfehlungen des Wissenschaftsrats
befasst. Damals kündigte die Bundesregierung an, im
Frühjahr 2011 eine ausführliche Stellungnahme zu diesen Empfehlungen vorzulegen. Davon hat man dann
aber nichts mehr gehört.
Die Modernisierung und Neustrukturierung der Ressortforschung ist offensichtlich ins Stocken geraten, das
Engagement der Bundesregierung offenbar erlahmt.
Nachvollziehbar vor diesem Hintergrund, dass die
Koalitionsfraktionen die Bundesregierung jetzt per Antrag dazu auffordern, einige der Vorschläge des Wissenschaftsrats aufzugreifen. Auch ihnen ist aufgefallen,
dass die Regierung zu zögerlich ist, den Empfehlungen
des Wissenschaftsrats von 2007 und 2010 Konsequenzen
und strukturelle Entscheidungen folgen zu lassen.
Ich begrüße das Bemühen, der Bundesregierung
mehr Dampf bei der Reform der Ressortforschungseinrichtungen zu machen. Wenn die Koalition aber bis
heute gebraucht hat, um sich darüber zu verständigen,
welche Empfehlungen des Wissenschaftsrats man überhaupt aufgreifen will: Wie lange wird es dann wohl noch
dauern, bis es zur Umsetzung kommt?
Wir wissen doch alle: Jedes Ressort hockt auf seinen
Ressortforschungseinrichtungen wie die Henne auf ihren Küken. Deshalb ist es schade, dass in Ihrem Antrag
keinerlei Ideen entwickelt werden, wie denn der Prozess
der Umsetzung von Veränderungen in der RessortforZu Protokoll gegebene Reden
schung organisiert werden kann. Denn mit Appellen des
BMBF an die anderen Ministerien ist es sicher nicht getan.
Die Koalition bekennt sich in ihrem Antrag zur regelmäßigen Überprüfung der Forschungsbedarfe. Und sie
ermutigt die Bundesregierung, zu überprüfen, welche
Einrichtungen zukünftig tatsächlich weiter als Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben geführt werden
sollten. Nun hätte ich allerdings erwartet, dass im Antrag konkretere Vorstellungen entwickelt werden, wie ein
solcher Entscheidungsprozess organisiert werden kann.
Dazu schweigt sich der Antrag jedoch aus. Die Koalition ist also keinen Schritt weiter beim zentralen Thema,
innerhalb welcher Strukturen denn nun zukünftig Entscheidungen getroffen werden sollen. Wie kann es da zur
Anpassung der Liste der Ressortforschungseinrichtungen bis 2014 kommen, über die im Bundesforschungsbericht dann berichtet wird?
Der Antrag gibt keine Antwort darauf, wie zentrale
Fragen gelöst werden sollen: Welche Ressortforschungseinrichtungen sollen weitergeführt, welche als Ressortforschungseinrichtungen nicht auf der Liste beibehalten, und welche Empfehlungen des Wissenschaftsrats
zur strukturellen Verbesserung sollen auf welchem Weg
umgesetzt werden?
Auch in anderer Hinsicht greift der Antrag zu kurz.
Bemerkenswerterweise finden zentrale wissenschaftspolitische Entscheidungen der Bundesregierung auf die
Ressortforschungseinrichtungen des Bundes keine Anwendung. Ich nenne hier zum Beispiel das Wissenschaftsfreiheitsgesetz, die forschungspolitische Internationalisierungsstrategie oder die Umsetzung von Gleichstellungsstandards und mehr Chancengleichheit im Forschungsbereich. An der Ressortforschung laufen diese
Strategien vorbei, und Ihr Antrag schweigt dazu.
Auf welche Einrichtungen welche Regelungen des
jetzt im Entwurf vorliegenden Wissenschaftszeitvertragsgesetzes angewendet werden sollten, dazu hätte ich
mindestens etwas von Ihnen erwartet. Das ist doch ein
offenkundiges Defizit.
Wir haben in dieser Woche in einer Anhörung des
Forschungsausschusses gehört, dass es an der Zeit ist,
beim Thema Gleichstellungspolitik in der Wissenschaft
wesentlich mehr Verbindlichkeit und Überprüfbarkeit
der Fortschritte durchzusetzen. In der Ressortforschung,
wo der Bund direkten Einfluss hat, zeigt er aber leider in
dieser Hinsicht bisher wenig Engagement. Der Bund
bleibt hier hinter den Erfordernissen zurück und verpasst Chancen, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Der Wissenschaftsrat plädiert dafür, Hochschulen
und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen stärker
bei Forschungsaufträgen der Bundesministerien zu berücksichtigen. Zukünftig mehr Forschungsaufträge,
Fragestellungen und letztlich auch finanzielle Mittel direkt an Hochschulen, außeruniversitäre Einrichtungen
oder auch unabhängige Forschungseinrichtungen zu
geben, halte auch ich vom Ansatz her für völlig richtig.
Leider fehlt es in dem Koalitionsantrag auch hier an
Ideen, wie das umgesetzt werden kann.
Ich sehe ein Manko darin, dass der Wissenschaftsrat
2004 einheitliche Kriterien an völlig unterschiedliche
Einrichtungen angelegt hat. Dabei macht es offenkundig
keinen Sinn, zum Beispiel einer Einrichtung, die vorrangig Genehmigungs- und Kontrollfunktionen hat, aufzuerlegen, dass sie mehr eigenständige Forschung betreiben oder mehr wissenschaftlich publizieren soll. Erst auf
Basis einer funktionalen Differenzierung ist es möglich,
Forschungsnotwendigkeiten spezifisch zu unterscheiden.
Alle Fragen zu klären: „Wo wäre die Vergabe von
Forschungsaufträgen und wissenschaftsbasierten Dienstleistungen nach außen sinnvoll? Wo ist eigene Forschung in einer eigenen Einrichtung unerlässlich? Und
in welchen Einrichtungen geht es sinnvollerweise vorwiegend um professionelle Beratung, Information und
Entscheidung auf Basis des aktuellen Stands der Forschung?“, würde aber auch voraussetzen, die Einrichtungen stärker nach ihren jeweiligen Aufgabenstellungen und Funktionen zu differenzieren.
Lassen Sie mich zum Schluss einen bislang unterbelichteten Punkt in den Fokus rücken. Die Einbindung
von zivilgesellschaftlichen Stakeholdern in die Entwicklung von Forschungsfragestellungen, der partizipative
Dialog mit der Gesellschaft über Forschungsschwerpunkte und Transparenz bzw. Rechenschaftslegung gegenüber der Öffentlichkeit - das sind Anforderungen,
die gegenüber Forschung, Wissenschaft und Technologiepolitik immer stärker formuliert werden. Dem kann
sich auch und gerade die Ressortforschung nicht entziehen. Ich halte es für nicht zeitgemäß, wenn Ministerien
abgeschottet von gesellschaftlichen Debatten über Arbeits- und Forschungsprogramme der Ressortforschungseinrichtungen entscheiden. Besser wäre es,
wenn solche Entscheidungen im Dialog und unter Einbeziehung von Stakeholdern, gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen selbst vorbereitet würden. Bei einigen Ressortforschungseinrichtungen findet dies sicher
schon statt, es ist aber eine politische Aufgabe, dies zu
systematisieren. Der ausstehende Modernisierungsprozess in den Ressortforschungseinrichtungen sollte auch
in diese Richtung fortentwickelt werden.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/9912, den Antrag auf Drucksache 17/7183 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Die Enthaltungen! - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen. Dagegen war die SPD, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linken.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Dr. Barbara Höll, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wirksamer Schutz für Flüchtlinge, die wegen
ihrer sexuellen Identität verfolgt werden
- Drucksache 17/9193 22024
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Mit dem vorliegenden Antrag beabsichtigt die Fraktion Die Linke eine quasiautomatische Zuerkennung des
Flüchtlingsstatus für alle Lesben, Schwulen, Bisexuelle,
Transgender, Trans- und Intersexuelle, die aus Ländern
stammen, in denen die sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität strafrechtlich kriminalisiert wird.
Nach Auffassung der Antragsteller stößt diese Gruppe
im Asylverfahren auf Vorurteile und sachwidrige Ablehnungsmuster, obwohl diese Gruppe in vielen Staaten
massiv in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und sexuelle Selbstbestimmung verletzt würde.
Als vorbildlich wird die angebliche Rechtslage in Italien
dargestellt, hier genüge „für die Asylanerkennung bereits der Umstand, dass gleichgeschlechtliche sexuelle
Aktivitäten im Herkunftsland kriminalisiert und unter
Strafe gestellt sind“.
Mit dem Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, gesetzgeberische und andere Maßnahmen
zu ergreifen, um wegen ihrer sexuellen Identität Verfolgte wirksam zu schützen. Hierzu soll nach dem Willen
der Antragsteller den Betroffenen ein Schutzstatus verliehen werden, wenn sie aus einem Land kommen, in
dem „die sexuelle Identität ({0}) kriminalisiert wird“; ein Verweis auf staatlichen Schutz bei nichtstaatlicher Verfolgung und innerstaatliche Fluchtalternativen sowie die Verbergung der sexuellen Identität
sollen nicht erfolgen. Die Einschätzung der Glaubwürdigkeit der sexuellen Identität im Asylverfahren solle
nur durch entsprechend geschultes Personal erfolgen.
Außerdem sollen besondere Schutzvorkehrungen für
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und
Intersexuelle in Aufnahme-, Haft- und Unterbringungseinrichtungen geschaffen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion
Die Linke, zum einen halte ich die von Ihnen angeführte
Studie für nicht repräsentativ. So basieren die der Studie
in Bezug auf Deutschland zugrunde gelegten Erkenntnisse auf einem von einer Nichtregierungsorganisation
beantworteten Fragebogen. Die Aussagekraft der Studie
halte ich vor diesem Hintergrund für sehr fraglich. Auch
die Darstellung der italienischen Rechtslage geht fehl,
denn auch in Italien wird nicht jeder als Asylbewerber
anerkannt, der aus einem Land stammt, in dem gleichgeschlechtliche Handlungen mit Strafe bedroht sind.
Insbesondere aber geht der Antrag von der Zielsetzung über das gebotene und in der Praxis realisierbare
Maß an Schutz von Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden, hinaus. In der Konsequenz würde der von
Ihnen vorgelegte Antrag auf eine Asylberechtigung aller
Menschen hinauslaufen, die aus einem Land stammen,
in denen bestimmte „Handlungen“ pönalisiert sind, und
die glaubhaft machen, unter einen der betroffenen Tatbestände zu fallen. Sollte, wie in Ihrem Antrag gefordert,
die Behauptung bzw. Glaubhaftmachung ausreichen, die
von der Asylbehörde im Einzelfall kaum überprüft oder
widerlegt werden kann, würde dies zu einer nahezu beliebigen Ausweitung der Gruppe der Asylberechtigten
führen. Zudem bestünden Wertungswidersprüche, weil
in zahlreichen Ländern auch außer- oder voreheliche
Handlungen mit zum Teil drastischen Strafen bedroht
sind. Von diesem Tatbestand ist potenziell zumindest jeder ehefähige, auch heterosexuelle Mensch betroffen.
Sie selbst stellen in Ihrem Antrag fest, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, den Betroffenen nicht mehr zumutet, Ihre Homosexualität im
Verborgenen zu leben, um dadurch eine drohende Verfolgung zu vermeiden. Dass das Bundesamt weiterhin individuell prüft, ob eine Entdeckung der Homosexualität im
Herkunftsland beachtlich wahrscheinlich ist und deshalb eine Verfolgung droht, finde ich den Betroffenen gegenüber nicht nur zumutbar, sondern auch legitim und
dringend geboten. Wesentliches Element der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus ist immer eine Einzelfallprüfung dahin gehend, ob tatsächlich Verfolgungsgefahr
besteht. Eine pauschale Zuerkennung des Flüchtlingsstatus ohne eine solche individuelle Prüfung kommt
grundsätzlich nicht in Betracht und würde auch gegen
den Gleichheitsgrundsatz verstoßen.
Eine Ausnahme wäre nur denkbar, wenn die Person
einer abgrenzbaren sozialen Gruppe zuzurechnen wäre
- Verfolgungsgrund - und alle Mitglieder dieser Gruppe
im Herkunftsland einer so massiven, tatsächlich stattfindenden Verfolgung - Verfolgungshandlung - ausgesetzt
wären, dass auch die Verfolgung der betroffenen Person
wahrscheinlich wäre. Gleichzeitig dürfte es im Herkunftsland keine zumutbaren Ausweichmöglichkeiten
geben. Für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender,
Trans- und Intersexuelle gibt es in der Asylpraxis solche
Fälle jedoch bislang nicht.
Auch den Verweis auf staatlichen Schutz bei nichtstaatlicher Verfolgung oder der Verweis auf Fluchtalternativen innerhalb der jeweiligen Staaten, in denen Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Trans- und
Intersexuelle kriminalisiert werden, oder darauf, dass
staatliche Behörden homosexuellen-, transsexuellenoder transgenderfeindlich sind, halte ich für zumutbar
und legitim. Diese Praxis steht im Übrigen im Einklang
mit der EU-Qualifikationsrichtlinie. Nach Maßgabe der
EU-Qualifikationsrichtlinie schließt wirksamer staatlicher Schutz die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
aus ({1}). Vergleichbare
Grundsätze gelten für die Asylberechtigung. Wegen der
Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes
- diesen benötigt nur, wer im Heimatstaat keinen Schutz
finden kann -, halten wir daran fest.
Ihre Forderung nach geschultem Personal ist obsolet,
denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bietet umfassende Schulungsmaßnahmen zum Themenkomplex Verfolgung in Anknüpfung an die sexuelle Identität
an. Die Entscheider werden sowohl in den damit verbundenen Rechtsfragen als auch im persönlichen Umgang
mit den Antragstellern geschult ({2}).
Das Bundesamt verlangt grundsätzlich keine sexualwissenschaftlichen Gutachten. Der Asylbewerber muss
glaubhaft machen, dass die begründete Furcht vor Verfolgung an seine tatsächliche oder vermeintliche Homosexualität anknüpft. Bei der Bewertung der Frage, ob
die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen,
sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden. Bei Homosexualität als Verfolgungsgrund kommt es daher nicht darauf an, ob der Betreffende
nach sexualwissenschaftlichen Maßstäben homosexuell
ist oder nicht, sondern darauf, ob er im Herkunftsstaat
als homosexuell angesehen wird. Eine sexualwissenschaftliche Begutachtung ist vor diesem Hintergrund
grundsätzlich nicht zielführend.
Auch lehnt das Bundesamt keine Asylanträge allein
wegen eines späten Vorbringens ab. Es findet immer
eine Prüfung der Gesamtumstände statt.
Das Bundesamt ist bei der Bearbeitung von Asylanträgen darauf angewiesen, dass Antragsteller bei der
Aufklärung des Sachverhalts mitwirken, dabei selbst
ihre Furcht vor Verfolgung begründen und die erforderlichen Angaben machen ({3}).
Es wird jedoch berücksichtigt, dass aufgrund soziokultureller Prägungen oder, aufgrund der Tatsache, dass die
Intimsphäre betroffen ist, es nicht allen Antragstellern
möglich sein wird, von sich aus über Verfolgungen, die
an die sexuelle Orientierung anknüpfen, zu sprechen. In
Fällen, in denen Anhaltspunkte für eine derartige Verfolgung vorliegen, wird daher auch ohne eigenständiges
Ansprechen durch die Antragsteller im Rahmen der Anhörung gezielt, aber mit der gebotenen Sensibilität
nachgefragt.
Die Anhörung wird von besonders geschulten Entscheidern, den sogenannten Sonderbeauftragten, durchgeführt, wenn Antragsteller dies wünschen oder es geboten erscheint. Als Sonderbeauftragte können je nach
Fallgestaltung sowohl weibliche als auch männliche
Entscheider eingesetzt werden.
Soweit im Asylverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die sexuelle Identität als Verfolgungsgrund vorgetragen wird, erfolgt eine individuelle
Prüfung unter Berücksichtigung der bereits vorhandenen oder anlässlich des vorliegenden Einzelfalls recherchierten Erkenntnisse zum Herkunftsland.
Für die Hauptherkunftsländer der Asylantragsteller
verfasst das Auswärtige Amt mindestens jährlich Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage.
In ihnen finden sich jeweils auch Ausführungen zu
geschlechtsspezifischer Verfolgung sowie zu einer möglichen Ahndung homosexueller Handlungen. Das Auswärtige Amt wertet für seine Lageberichte verschiedenste Quellen aus, insbesondere auch Berichte von
Nichtregierungsorganisationen. Zur Lage von Lesben,
Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen berichten zudem die deutschen Botschaften regelmäßig und speziell im Fall aktueller Anlässe.
Zuletzt möchte ich noch kurz auf Ihre Forderung nach
besonderen Schutzvorkehrungen für Lesben, Schwule,
Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuelle in
Aufnahme-, Haft, und Unterbringungseinrichtungen
eingehen.
Die Unterbringung von Asylbewerbern und Abschiebungshäftlingen fällt in die Zuständigkeit der Länder.
Eine gesonderte Unterbringung von Lesben, Schwule,
Bisexuelle, Transgender, Trans- und Intersexuellen erfolgt nach den Informationen der Länder in der Regel
nicht. Eine Befragung nach der sexuellen Identität wäre
diskriminierend und findet daher nicht statt. Infolgedessen ist in der Regel nicht bekannt, ob und wer zum Kreis
der Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender, Transund Intersexuellen gehört. Die Länder haben jedoch
Schutzmaßnahmen vorgesehen für den Fall, dass einzelne Personen Hilfe benötigen. Die Betroffenen können
sich etwa an Sozialarbeiter wenden, erhalten bei Bedarf
Einzelzimmer oder werden in andere Einrichtungen verlegt. In keinem Land wurden bislang nennenswerte Probleme bei der Unterbringung von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen bekannt.
Alles in allem bin ich der Ansicht, dass wir der besonderen Situation und Problematik von Lesben, Schwulen,
Bisexuellen, Transgender, Trans- und Intersexuellen, die
aus Ländern stammen, in denen die sexuelle Orientierung bzw. Geschlechtsidentität strafrechtlich kriminalisiert wird, so gut es überhaupt geht, Rechnung tragen.
Aber ich weise noch einmal darauf hin, dass die in Ihrem
Antrag enthaltenden Forderungen über das gebotene
und in der Praxis realisierbare Maß an Schutz von Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder
ihrer Geschlechtsidentität verfolgt werden, hinausgehen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Politisch Verfolgte erhalten in Deutschland Asyl. Ein
Mensch wird verfolgt, wenn ihm aufgrund seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder aufgrund von für ihn unverfügbaren Merkmalen, die seine Persönlichkeit prägen, gezielt schwere
Rechtsverletzungen zugefügt werden oder zu befürchten
ist, dass ihm solche Verletzungen zukünftig zugefügt
werden. Die sexuelle Orientierung eines Menschen gehört zu den von ihm unverfügbaren Merkmalen. Menschen, die aufgrund dessen in ihren Heimatländern verfolgt werden, können und müssen in Deutschland Asyl
erhalten.
Wenn sie nicht aufgrund von Art. 16 a Grundgesetz
anerkannt werden, haben sie einen Anspruch auf Prüfung des sogenannten kleinen Asyls, also auf Prüfung
der Anerkennung als Flüchtling im Sinne der Genfer
Flüchtlingskonvention ({0}). Dies
wurde durch die 2004 in Kraft getretene QualifikationsZu Protokoll gegebene Reden
richtlinie, auf die § 60 AufenthG deklaratorisch verweist, konkretisiert. In Art. 10 Abs. 1 d heißt es: „Eine
Gruppe gilt insbesondere als soziale Gruppe, wenn die
Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale … teilen, die so bedeutsam für die Identität sind …, dass der
Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu
verzichten. … Je nach Gegebenheit im Herkunftsland
kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten,
die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen
Ausrichtung gründet.“ ({1})
Für die Anerkennung als Asylberechtigter oder als
Flüchtling gibt es bei uns also bereits Gesetze, die dies
ermöglichen. Im Asylverfahren vor dem Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge erfolgt in diesen wie in allen
Fällen politischer Verfolgung eine individuelle Prüfung
unter Einbeziehung der vorhandenen oder anlässlich
des Einzelfalls recherchierten Erkenntnisse aus dem
Herkunftsland ({2}).
Unterschiedlich ist die Haltung der deutschen Gerichte in Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Transgender-, Trans- und Intersexuellen-Fällen ({3}).
In seiner Entscheidung vom 15. März 1988 ({4})
hat das Bundesverwaltungsgericht klargestellt, dass die
Verfolgung wegen Homosexualität ein Asylgrund ist. Allerdings trifft es auch unserer Erkenntnis nach zu, dass
einige deutsche Gerichte die drohende Durchsetzung einer exzessiven Strafe im Herkunftsland für die Zuerkennung des Schutzstatus verlangen - so wie es in dem Antrag der Fraktion Die Linke kritisiert wird -, wogegen
andere den Schutzstatus in korrekter Anwendung der
Qualifikationsrichtlinie gewähren, wenn im Herkunftsland die sexuelle Ausrichtung als solche kriminalisiert
wird.
Auch wenn wir für eine einheitliche, der Qualifikationsrichtlinie entsprechende Entscheidungspraxis der
deutschen Gerichte sind, so sehen wir in diesem Punkt
keinen Handlungsbedarf im Sinne der Schaffung neuer
Gesetze. Sollte sich die Lage jedoch ändern und es Anzeichen für mehr ablehnende, restriktive oder diskriminierende Entscheidungen und Urteile geben, werden wir
diesen Standpunkt überdenken.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag des
Weiteren, die Bundesregierung möge LSBTTI schützen,
indem ihnen nicht entgegengehalten werden könne und
dürfe, sie sollten eine inländische Fluchtalternative nutzen oder ihre sexuelle Identität zur Vermeidung von Verfolgung verbergen.
Der auch von der Fraktion Die Linke zitierten Studie
von Sabine Jansen und Thomas Spijkerboer „Fleeing
Homophobia“ ist zu entnehmen, dass Deutschland insoweit eine „vorbildliche Praxis“ hat, als bei uns nicht
verlangt wird, dass LSBTTI um staatlichen Schutz in
Ländern nachsuchen müssen, in denen Homosexualität
kriminalisiert wird. In der genannten Studie wird auch
gesagt, dass in Deutschland gewöhnlich nicht verlangt
wird, LSBTTI müssen um staatlichen Schutz nachsuchen, wenn bekannt sei, dass die Autoritäten homophob
seien.
Der Verweis eines Antragstellers auf eine bestehende
inländische Fluchtalternative ist allerdings grundsätzlich als solche in der Qualifikationsrichtlinie in Art. 8
vorgesehen. Danach ist eine Verfolgung nicht anzunehmen, wenn in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung „besteht und von dem
Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann,
dass er sich in diesem Landesteil aufhält.“ Dies sind allgemeine Grundsätze, die so auch bei der Prüfung eines
Antrags auf politisches Asyl ohne LSBTTI-Bezug gelten
und geprüft werden.
Wenn die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert,
LSBTTI dürfe nicht entgegengehalten werden, sie sollten
sich in ihrem Heimatland diskret verhalten, um so einer
drohenden Verfolgung zu entgehen, so stimmen wir dem
zu.
In der Qualifikationsrichtlinie (Art. 10 Abs. 1 d wird
- wie bereits gesagt - bestimmt, dass eine Gruppe insbesondere dann eine soziale Gruppe ist, wenn die Angehörigen dieser Gruppe Merkmale teilen, die so bedeutsam
für die einzelnen Gruppenmitglieder sind, dass sie nicht
gezwungen werden sollten, darauf zu verzichten. Ein
Diskretionsgebot würde von LSBTTI aber genau das
verlangen: den Ausdruck ihrer sexuellen Orientierung
oder Geschlechtsidentität zu verleugnen. Mithin würde
ein solches Erfordernis gegen die Qualifikationsrichtlinie verstoßen.
Die Bundesregierung hat die diesbezügliche Frage
der Fraktion Die Linke nicht deutlich beantwortet in
dem Sinne, ob sie das Erfordernis erhebt, sich im Herkunftsland diskret zu verhalten, oder nicht: „Bei glaubhaft gemachter Homosexualität stellt das BAMF im
Rahmen einer Prognoseentscheidung fest, ob eine Entdeckung der Homosexualität im Herkunftsland wahrscheinlich ist und ob der Betreffende deshalb mit asylerheblicher Verfolgung rechnen muss.“ Das ist nicht
eindeutig. Allerdings sind es die gleichen Maßstäbe, die
bei der Prüfung eines Antrags auf Schutz aufgrund einer
praktizierten religiösen Überzeugung gelten.
Kernstück eines Asylverfahrens ist die Glaubhaftmachung der Verfolgung. Hauptbezugspunkt ist die Aussage des Antragstellers. Aufgrund dieser Aussage hat
der Entscheider zu beurteilen, ob die behaupteten Ereignisse stattgefunden haben und was voraussichtlich passieren wird, wenn der Antragsteller wieder in seine Heimat zurück muss.
Von LSBTTI wird hier verlangt, dass die begründete
Furcht vor Verfolgung an die tatsächliche oder vermeintliche sexuelle oder geschlechtliche Orientierung
anknüpft. Entsprechend der Qualifikationsrichtlinie
kommt es dabei nicht auf die „Irreversibilität“ der Homosexualität an, was die Bundesregierung genauso sieht
({5}). Laut der
Bundesregierung verlangt das BAMF von LSBTTI auch
Zu Protokoll gegebene Reden
keine sexualwissenschaftlichen Begutachtungen. Wenn
solche Begutachtungen jedoch vom Antragsteller selbst
vorgelegt werden, dann werden sie natürlich zugelassen.
Da grundsätzlich der Nachweis der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität auf den Angaben des
Antragstellers beruht, sollten die Einzelentscheider entsprechend geschult sein, so auch eine in dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke enthaltene Forderung. Hierzu hat die Bundesregierung in der genannten
Entscheidung angeführt, dass das BAMF umfassende
Schulungen zum Themenkomplex „Verfolgung im Zusammenhang mit der sexuellen Identität“ anbietet und
durchführt. Dabei werden die Entscheider sowohl in
Rechtsfragen als auch im persönlichen Umgang mit den
Antragstellern geschult.
Die Frage einer inländischen Fluchtalternative, nach
einem diskreten Verhalten und die Kriterien und Maßstäbe, die an die Glaubhaftmachung angelegt werden,
sind keine speziell auf LSBTTI bezogenen Fragen. Die
zugrunde liegenden Probleme sind verallgemeinerungsfähig und deshalb in Verfahren der Anerkennung und
Glaubhaftmachung in Bezug auf jeden Verfolgungsgrund mehr oder weniger vorhanden.
Wir brauchen eine allgemeine Debatte über die Ausgestaltung des Anerkennungsverfahrens, innerhalb derer wir darüber sprechen sollten, ob sich die Standards
bei der Glaubhaftmachung und der Nachweispflicht ändern sollten; dass man Menschen - zumal wenn sie zum
Beispiel traumatisiert sind, und das müssen nicht nur
LSBTTI sein - vielleicht auch Zeit geben muss, Dinge zu
einem späteren Zeitpunkt vorzubringen, da es ihnen aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit schwerer
fallen könnte, bei der ersten Anhörung alles für den Entscheider Wesentliche zu sagen und glaubhaft zu machen.
Das Grundanliegen, die Anerkennung der sexuellen
oder geschlechtlichen Orientierung als Asyl- und
Fluchtgrund, teilen wir, ebenso die Forderung nach einer diskriminierungsfreien Behandlung von LSBTTI im
Verfahren. Aus unserer Sicht bedarf es dazu jedoch keiner gesetzlichen Änderung; das „Werkzeug“ ist vorhanden.
Ich empfehle daher, sich dem Antrag gegenüber zu
enthalten.
Der Antrag der Linken ist, wie so viele dieser offenbar zur Glaubenssekte verkommenden Partei, bizarr.
Zur Begründung - aber auch in den Forderungen stützt er sich vollständig auf eine niederländische Studie, die unwissenschaftlich und keinesfalls repräsentativ
ist. Wenn die Linken den Bundestag auffordern, sich
solch ein Elaborat unkritisch zu eigen zu machen, ist es
mit der politischen Gestaltungskraft der Linken wohl
nicht mehr allzu gut bestellt.
Die Linken zitieren in ihrem Antrag nicht zu Unrecht
die deutsche Rechtsprechung. So habe das Bundesverfassungsgericht festgestellt, das Asylrecht habe nicht die
Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles
Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen.
Warum die Linken in ausdrücklicher Bezugnahme auf
die Verfassungsgerichtsrechtsprechung nicht gleich einen Verfassungsänderungsantrag einbringen, wäre ein
Rätsel, wenn wir nicht alle wüssten, dass der Bekenntnisakt im Sektierertum das Entscheidende ist.
In einer poltischen Partei dagegen kommt es auf politische Gestaltung an. Davor hat die Linkspartei offenbar
längst kapituliert. Dass die Linken einmal mehr statt der
individuellen Prüfung eines Verfolgungsschicksals
gleich pauschal die Bürger ganzer Länder für in
Deutschland asylberechtigt anerkennen wollen, ist inakzeptabel.
Man kann nur hoffen, dass die vielen gutgläubigen
Wählerinnen und Wähler der Linkspartei sich die absehbaren Konsequenzen solcher Forderungen konkret für
ihren Wohnort deutlich vor Augen führen.
Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die
Flüchtlings- und Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und auch die EU-Planungen auf diesem Gebiet kritisch und konstruktiv
begleiten.
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transund Intersexuelle - ich möchte sie im Folgenden, entsprechend einem in Fachkreisen geläufigen Kürzel,
LSBTTI nennen - werden in zahlreichen Ländern der
Welt wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt. In einigen
Ländern nimmt die Bedrohungslage sogar noch zu. Ich
nenne beispielhaft Uganda, wo ein Gesetz zur Einführung der Todesstrafe für „schwere Homosexualität“ im
Gespräch ist, und Russland, wo das St. Petersburger
Stadtparlament erst vor wenigen Monaten ein Gesetz
gegen die „Propagierung“ von Homosexualität verabschiedet hat. Die gesetzliche Verfolgung von einvernehmlicher Homosexualität geht häufig einher mit tief
verwurzelten Vorurteilen und Ablehnungen von Homosexualität innerhalb der Bevölkerung. Die Fraktion Die
Linke legt nun einen Antrag vor, um den Menschen, die
wegen ihrer sexuellen Identität verfolgt werden und aus
ihren Ländern fliehen müssen, einen möglichst wirksamen Schutz in Deutschland zu bieten.
Dass Handlungsbedarf besteht, hat unlängst eine wissenschaftliche internationale Studie - „Fleeing Homophobia“ - umfassend belegt. Dass wir etwas tun müssen,
wird aber auch offenkundig, wenn man sich aktuelle
Behördenentscheidungen, vor allem aber eine zum Teil
skandalöse Asylrechtsprechung in Bezug auf LSBTTI
konkret ansieht. In unserem Antrag nennen wir zur Illustration beispielhaft ein Urteil des Verwaltungsgerichts
Augsburg vom April letzten Jahres. Das Gericht hielt allen Ernstes eine dreijährige Gefängnisstrafe für einen
homosexuellen Soldaten in Syrien für legitim und nicht
asylrelevant, weil sie dem „Schutz der öffentlichen
Moral“ diene und eine dreijährige Haft auch keine „unmenschliche Strafe“ sei. Das ist leider kein Einzelfall.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viele Gerichte berufen sich auch heute noch auf ein
völlig antiquiertes Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts, BVerwG, aus dem Jahr 1988. Darin wird
ausgeführt, dass Gesetze zum „Schutz der öffentlichen
Moral“ und „der Zwang, sich entsprechend den in dieser Hinsicht herrschenden sittlichen Anschauungen zu
verhalten und hiermit nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen“, „keine politische Verfolgung“ darstellten. Das Asylrecht habe auch „nicht die
Aufgabe, möglicherweise gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles
Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen“. Die homosexuellenfeindliche Rechtslage im Iran wurde vom Bundesverwaltungsgericht sogar mit einem Verweis darauf
relativiert, dass ja auch in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 eine entsprechende Verbotslage geherrscht habe - die wiederum der im Jahr 1935 ({0}) geänderten Fassung des § 175 im Wesentlichen entsprach,
fügten die Richter kommentarlos hinzu. Aber es ist doch
unerträglich, wenn verfolgten LSBTTI ein Schutz in
Deutschland versagt wird mit dem Argument, dass ihnen
im Faschismus und in der Bundesrepublik Deutschland
bis vor wenigen Jahrzehnten ein vergleichbares Unrecht
angetan wurde! Unerträglich ist auch, dass das Bundesverwaltungsgericht schließlich vorgab, dass eine politische Verfolgung nur dann vorliege, wenn Homosexuellen Strafen drohten, die nicht nur „besonders streng“,
sondern „offensichtlich unerträglich hart und unter jedem denkbaren Gesichtspunkt schlechthin unangemessen“ seien. Strafgesetze, die einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen
verbieten, sind schlicht und ergreifend diskriminierend
und stellen eine schwerwiegende Verletzung eines
grundlegenden Menschenrechts dar. Das Recht auf freie
Entfaltung der Persönlichkeit und auf Schutz der Privatsphäre gilt uneingeschränkt auch für LSBTTI und darf
nicht im Rahmen einer auf Abwehr bedachten Asylrechtsprechung relativiert werden.
Das Bundesverwaltungsgericht berief sich bei seiner
Entscheidung im Übrigen zu Unrecht auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR. Zwar
hieß es im Dudgeon-Urteil des EGMR von 1981 tatsächlich, dass „eine gewisse Regelung des männlichen homosexuellen Verhaltens“ „in einer demokratischen Gesellschaft“ gerechtfertigt werden könne. Das BVerwG
unterschlug jedoch einen entscheidenden Einschub des
EGMR; denn im Originalurteil lautet der Satz wie folgt:
„Es lässt sich nicht bezweifeln, dass eine gewisse Regelung des männlichen homosexuellen Verhaltens, wie in
der Tat jeder Form sexuellen Verhaltens, mit dem Mittel
des Strafrechts als notwendig in einer demokratischen
Gesellschaft gerechtfertigt werden kann.“ Der EGMR
rechtfertigte also strafrechtliche Regelungen jeglichen
sexuellen Verhaltens - allerdings nur zum Schutz derjenigen, „die besonders ungeschützt sind, weil sie jung,
geistig oder körperlich schwach oder unerfahren sind
oder sich in physischer, amtlicher oder wirtschaftlicher
Abhängigkeit befinden“, und nicht „zum Schutz der Moral“, wie das BVerwG freihändig hinzugefügt hatte.
Schließlich lautete das Urteil des EGMR im Ergebnis,
dass die damaligen Strafbestimmungen in Irland zu einvernehmlichen homosexuellen Beziehungen zwischen
Erwachsenen ungeachtet der dort bestehenden rigiden
moralischen Normen einen nicht zu rechtfertigenden
menschenrechtswidrigen Eingriff in das Recht des
schwulen Klägers auf Achtung seines Privatlebens darstellten, unabhängig davon, wie wahrscheinlich es war,
dass diese Gesetzesvorschriften in der Praxis auch tatsächlich zur Anwendung kamen - was im Umgang mit
LSBTTI-Flüchtlingen ebenfalls von Bedeutung ist.
Ich habe die Bundesregierung gefragt, inwieweit das
überkommene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
aus dem Jahr 1988 zeitbezogen und unter Berücksichtigung des öffentlichen Wandels im Umgang mit Homosexualität interpretiert und angewandt werden müsse.
Die Antwort war, dies gehe nur durch eine neuerliche
höchstrichterliche Entscheidung - „es sei denn, der Gesetzgeber regelt die Frage durch Gesetz“. Genau das
will die Linke jetzt anstoßen; denn auf eine höchstrichterliche Entscheidung werden wir lange warten müssen,
nachdem ein Vorlageverfahren beim Europäischen Gerichtshof zur Klärung dieser Fragen „geplatzt“ ist: Der
Kläger wurde als Flüchtling anerkannt, nachdem das
Verfahren vom EuGH wie üblich unter Nennung seines
Namens öffentlich bekannt gemacht wurde.
Der EuGH sollte unter anderem eine ganz entscheidende Frage klären: Ist es zumutbar, Schutz suchende
LSBTTI dazu aufzufordern, sich im Herkunftsland „bedeckt“ zu halten, um eine Verfolgung wegen ihrer sexuellen Identität zu vermeiden, und mit dieser Begründung eine Asylanerkennung zu verweigern? Eine solche
Zumutung mag für unbefangene Ohren absurd klingen denn wer käme schon auf die Idee, politisch Verfolgten
anzuraten, sich politisch diskret zu verhalten, um nicht
verfolgt zu werden? Aber bis heute ist genau dies im
Umgang mit LSBTTI in Teilen der Asylrechtsprechung
üblich. Auch die Bundesregierung war noch bis vor kurzem dieser Auffassung. Umso mehr hat mich gefreut,
dass sie auf Anfrage der Linksfraktion bestätigt hat, dass
ein solches Ablehnungsargument jedenfalls nach Inkrafttreten der EU-Qualifikationsrichtlinie nicht mehr
angewandt werden darf.
Erfreulich ist die Antwort der Bundesregierung auf
Bundestagsdrucksache 17/8357 auch deshalb - zu einer
solchen Einschätzung gibt mir die Bundesregierung übrigens nur sehr selten Anlass -, weil sich die Regierung
von weiteren alten Zöpfen der Rechtsprechung trennt,
etwa wonach drohende Strafen besonders hart und unerträglich streng sein müssten, wonach das Asylrecht
nicht hiesige Grundrechtsvorstellungen auf andere Länder übertragen wolle oder wonach eine „irreversible“
Homosexualität nachgewiesen werden müsse. Nur waren die Antworten der Regierung zu den konkreten
Handlungsvorschlägen der Studie „Fleeing Homophobia“ nicht so erfreulich, und leider gibt es, wie dargelegt, viele Gerichte, die anders entscheiden.
Deshalb haben wir uns zu dem vorliegenden Antrag
entschlossen, und zu allen weiteren Details möchte ich
Sie auf diesen verweisen. Ich empfehle zudem die sehr
gute Überblicksdarstellung zur internationalen Rechtsprechung von Frau Dr. Annegret Titze in der „Zeitschrift
für Ausländerrecht und Ausländerpolitik“ Nr. 4/2012.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich hoffe, dass wir auf dieser Grundlage dann zu einer
ernsthaften und sorgfältigen Beratung unseres Anliegens im weiteren parlamentarischen Verfahren kommen.
Ich lade alle anderen Fraktionen ein: Sie müssen ja
nicht alle unsere Forderungen im Detail übernehmen,
aber im Interesse der Menschen bitte ich Sie, daran mitzuwirken, die geltenden Gesetze, Bestimmungen und
Praktiken so zu ändern, dass allen Menschen, die wegen
ihrer sexuellen Identität verfolgt werden und nach
Deutschland fliehen müssen, hier ein wirksamer Schutz
gewährt wird.
In 75 Staaten werden schwule Männer verfolgt und
wird schwule Liebe mit Freiheitsentzug oder sogar mit
der Todesstrafe bestraft. Für lesbische Frauen ist es in
den meisten dieser Staaten nicht zum Besseren bestellt:
Wo die ausdrückliche Bestrafung nicht genannt wird,
werden sie häufig mit gemeint und mit verfolgt. Diese
Verfolgungen sind Menschenrechtsverletzungen, wie
auch die Bundesregierung nicht müde wird zu betonen.
Ich habe mit Außenminister Westerwelle viele Briefwechsel geführt, in denen der Minister wiederholt auf
Einzelfälle von Verurteilungen reagiert hat und beispielsweise im Fall eines schwulen verfolgten Paares in
Malawi auch erwogen hat, den beiden Betroffenen Asyl
nach § 22 Aufenthaltsgesetz anzubieten. Dieser Fall
hatte international hohe Aufmerksamkeit erzeugt, für die
beiden Männer ist eine andere Lösung gefunden worden.
Leider haben viele Menschen nicht das Glück, dass
internationale Medien über ihr Schicksal berichten.
Schwule und Lesben, die in Deutschland Asyl suchen,
werden dagegen mit der unbarmherzigen Maschine des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge konfrontiert.
Denn unbarmherzig ist es, wie dieses Amt mit Menschen
umgeht, die aufgrund ihrer Homosexualität verfolgt
wurden. Gerade aktuell liegt mir ein Ablehnungsbescheid einer lesbischen Iranerin vor, der an diskriminierender Sprache und absurden Forderungen nicht zu
übertreffen ist. So könnten „Homosexuelle, die sich im
Ausland aufhielten, unbeschadet wieder nach Iran zurückkehren, falls nicht eine sexuelle Verfehlung erfolgt
und nachgewiesen sei“. Die Rückkehr sei unproblematisch, falls die Homosexuellen mit „ihren Neigungen
nicht auf offener Straße provozierten“. Fazit des Amtes,
das dem Bundesinnenminister untersteht: „Die Homosexuellen könnten im Iran ein sicheres Dasein führen.“
Das steht im eklatanten Widerspruch zu der Tatsache,
dass im Iran Homosexualität mit der Todesstrafe
bedroht wird und diese Strafe auch angewandt wird. Die
Menschenrechtsorganisation Hrana spricht von zwei bis
fünf Fällen im Jahr 2011, wobei die Dunkelziffer hoch
ist; denn im Iran gibt es eben keinen Rechtsstaat wie in
Deutschland mit klarer Statistikführung und einer breiten Zivilgesellschaft, die den Staat kontrollieren kann.
Herr Außenminister, das BAMF bezieht sich bei all
diesen zitierten Äußerungen auf eine Stellungnahme des
Auswärtigen Amts aus dem Jahr 2008. Ich frage mich
doch, welche Äußerungen in Bezug auf die Sicherheit
von homosexuellen Menschen im Iran eigentlich gelten:
die offiziell gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit vorgetragenen menschenrechtlichen Bedenken
oder die geheim gehaltenen Stellungnahmen gegenüber
dem BAMF? Wir werden prüfen müssen, wie solche Einschätzungen zustande kommen und wer dafür Verantwortung trägt.
Diese eben zitierten Stellen aus dem Bescheid machen aber auch deutlich, wie lebensfremd und menschenfeindlich die Entscheidungen des Bundesamts
sind. De facto wird hier gesagt: Homosexuelle sollen
doch einfach aufhören, homosexuell zu sein, dann passiere ihnen schon nichts. Damit wird der Sinn des Asylrechts und des Flüchtlingsschutzes ausgehöhlt und ins
Gegenteil verkehrt. Denn nach derselben Logik könnten
verfolgte Christen im Irak einfach aufhören, ihre christliche Religion zu praktizieren, und könnten politisch
Verfolgte aufhören, ihre Meinungsfreiheit zu nutzen. Die
Menschenrechte sind aber unteilbar. Es ist deswegen
richtig, wenn die Linkspartei in ihrem Antrag fordert,
dass eine Abschiebung von homosexuellen Menschen in
Länder, die Homosexualität kriminalisieren, generell
unterbunden werden muss. Ich begrüße den vorsichtigen
Positionswechsel der Koalition in dieser Frage, wie er
sich in der Antwort der Bundesregierung in Drucksache
17/8357 andeutet. Ich erwarte, dass wir hier in den weiteren Beratungen zu einer besseren Verständigung kommen.
Der Antrag behandelt auch Fragen, die den Umgang
mit homosexuellen Flüchtlingen im Zuge des Verfahrens
thematisieren. Es ist richtig, dass die Glaubhaftmachung von Homosexualität nicht immer einfach nachzuprüfen ist. Eine Beweiserhebung im Herkunftsland wäre
verfassungswidrig, ein Beweis über Gutachten medizinischer Art ist nicht möglich. Deswegen müssen wir zu einem Verfahren kommen, dass besonders auf entsprechend
geschultes Personal hier in Deutschland abstellt. Dabei
sollten die Lesben- und Schwulenverbände und -beratungsstellen eine Schlüsselfunktion erhalten, denn sie
können vorurteilsfrei und präzise entsprechende Fragen
stellen und überprüfen.
Mich freut, dass in diese Debatte wieder Bewegung
kommt. Die Koalition hat an verschiedenen Stellen angedeutet, zu Änderungen im Asylverfahren kommen zu
wollen. Ich hoffe, dass wir in den Ausschüssen zu konkreten Ergebnissen kommen, um den Umgang mit homosexuellen Flüchtlingen zu verbessern.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind einverstanden. Das ist
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg ({0}), Michael Kretschmer, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Sylvia Canel, Dr. Martin
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Neumann ({1}), Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Initiative zur Stärkung der Exzellenz in der
Lehrerausbildung
- Drucksache 17/9937 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Haushaltsausschuss
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Die Qualität eines Bildungssystems hängt entscheidend von der Qualifikation der Lehrerschaft ab. Gute
Schule und gute Lehrer bewirken guten Unterricht! Lehrer fungieren als Vermittler zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und der jungen Generation. Insbesondere sind
sie es, die jungen Menschen neben den Eltern das Rüstzeug mitgeben, dass diese sich in die Gesellschaft einbringen und einen erfolgreichen Berufsweg beschreiten
können. Und nicht zuletzt sollen sie Motivator sein, um
die Lebensgestaltung junger Menschen positiv zu beeinflussen. Wir alle in diesem Hause haben hier unsere persönlichen Erfahrungen und könnten sofort eine Lehrerin
bzw. einen Lehrer nennen, der uns im Leben motiviert
hat. Wir haben gute bis sehr gute Lehrer. Sie sind zu einem großen Teil sehr engagiert und verstehen es, ihre
Schülerinnen und Schüler zu motivieren.
Aber das Anforderungsprofil an die Lehrerschaft hat
sich besonders in den vergangenen Jahren gewandelt.
Verschiedene internationale und nationale Vergleichsstudien haben die enormen Herausforderungen beschrieben, denen sich die deutschen Schulen und damit
vor allem die Lehrerschaft gegenübersehen. Insbesondere die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen in
Verbindung mit den Herausforderungen der Integration
sowie die verstärkt differenzierten Anforderungen von
Wirtschaft und Gesellschaft machen eine Anpassung der
Lehrerausbildung erforderlich.
Ebenso ist belegt, dass die Qualität des Unterrichts
durch die Lehrkräfte ein entscheidender Faktor für das
Kompetenzniveau und die Entwicklung von Schülern mit
unterschiedlichen Voraussetzungen ist.
Eine weitere Herausforderung liegt in der Zusammensetzung der Lehrerschaft: Über die Hälfte sind älter
als 50 Jahre. Die unter 40-Jährigen bilden mit 27 Prozent hingegen eine relativ kleine Gruppe. Unter 30 Jahre
sind lediglich 6 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer.
Eine ältere Lehrerschaft bedeutet zwar nicht automatisch einen Verlust an Unterrichtsqualität, doch eine gut
durchmischte Zusammensetzung in der Altersstruktur
der Lehrer verstärkt auch einen größeren Erfahrungsund Kompetenzaustausch. Es ist erstrebenswert, den
Lehrerberuf attraktiver zu machen, um mehr Abiturienten für ein Lehramtsstudium zu gewinnen. Der Lehrerberuf muss für junge Menschen wieder erstrebenswerter
werden!
Eine weitere Herausforderung ist die begrenzte Mobilität von Lehramtsstudierenden und aktiv tätigen Lehrkräften zwischen den einzelnen Bundesländern. Durch
die nach wie vor uneinheitliche Anerkennung von Studienleistungen und Abschlüssen der verschiedenen Bundesländer existieren unnötige Hemmnisse, die einen
konstruktiven bundesweiten Austausch didaktischer und
fachlicher Expertise innerhalb der Lehrerschaft erschweren. Daher sollte es auch Ziel sein, die Mobilität
angehender und aktiver Lehrer zu fördern. Dies im Einklang mit dem föderalen Bildungssystem zu gestalten, ist
Herausforderung und Chance zugleich.
Dem Wandel dieser Anforderungen und den aktuellen
Herausforderungen muss die Bildungspolitik Rechnung
tragen. Die kontinuierliche Verbesserung Deutschlands
im PISA-Ranking spricht zwar dafür, dass in den Schulen vieles gut läuft, aber es gibt Verbesserungsbedarf.
Daher müssen auch Strukturen und Inhalte der Lehrerbildung überprüft und verbessert werden, sei es im fachlichen, didaktischen oder auch im methodischen Bereich.
Für eine Verbesserung der Lehrerbildung bedarf es
eines Steins des Anstoßes, der die Öffentlichkeit und die
Lehrer der Zukunft für die Notwendigkeit exzellenter
Lehrerbildung sensibilisiert. Ein solcher erster Schritt
und Impuls kann - wie bei den Hochschulen bereits bewiesen - in einer Exzellenzinitiative liegen. Die von uns
auf den Weg gebrachte „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ hat zum Ziel, die Lehrerausbildung und -weiterbildung fortzuentwickeln. Ziel ist es, durch Förderung
universitärer Initiativen, die in einem Wettbewerb bewertet und gefördert werden, nachhaltige Impulse zu
setzen - Impulse dafür, die Bedeutung der Lehrerbildung
an Hochschulen aufzuwerten und sie aus der „Nische“
ins Zentrum der universitären Profilbildung zu rücken.
So soll ein Qualitätsschub in Forschung und Lehre erreicht werden. Damit soll die Lehrerbildung in ihrer
ganzen Breite weiterentwickelt werden, und das Schulsystem soll ebenso profitieren.
Die Exzellenzinitiative soll im Rahmen eines Wettbewerbs stattfinden. Dabei können einzelne Hochschulen
oder Hochschulen im Verbund Zukunftskonzepte einreichen, die eine praxisorientierte und forschungs- bzw.
evidenzbasierte Lehrerbildung zum Inhalt haben. Die
Auswahl erfolgt anhand verschiedener Kriterien wie
dem aktuellen Stand der Forschung oder klarer Berufsfeldorientierung. Ebenso soll das Konzept die Fachdidaktik stärken und, damit einhergehend, eine fundierte
Wissensbasis für die angehenden Lehrer schaffen.
Die Bewertung erfolgt durch eine externe Jury. Die
ausgewählten Hochschulen können für fünf oder zehn
Jahre gefördert werden und sollten sich dazu verpflichten, das Konzept nach Auslaufen der Förderphase institutionell zu sichern. Die ausgewählten Konzepte werden
so zu Leuchttürmen der Lehrerbildung und können als
solche flächendeckend wahrgenommen werden.
Gerade von einem Leuchtturmprojekt wie einer Exzellenzinitiative für die Lehrerbildung kann eine Strahlkraft für die gesamte Schullandschaft ausgehen, von der
eine positive Wirkung für das gesamte Bildungswesen
ausgehen kann. Wir wollen sehr gute Schüler, sehr gute
Lehrer, sehr gute Bildung - mit der Exzellenzinitiative
für Lehrerbildung kommen wir diesem Ziel wieder ein
Stück näher. Die Bildungsrepublik Deutschland nimmt
langsam Gestalt an.
Guter Unterricht ist und bleibt das Kernziel von
Schulentwicklung. Er muss strukturiert sein, herausfordernde Lerninhalte bieten und in einem unterstützenden
Klima stattfinden. Dies belegen zahlreiche Ergebnisse
der Bildungsforschung. Der demografische Wandel und
eine bessere Integration von Kindern und Jugendlichen
mit Migrationshintergrund sowie die Verwirklichung
eines inklusiven Bildungssystems sind nur einige der
Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Auch der
ausgeprägte Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft
und Bildungschancen bleibt eine große Herausforderung.
Die Hälfte aller befragten Lehrer beklagt, dass sie
durch ihre Ausbildung nur unzureichend auf den Unterricht vorbereitet werden. Das ist das Ergebnis einer Studie des Allensbach-Instituts, die im April 2012 veröffentlicht wurde. 20 Prozent dieser Befragten empfanden den
Einstieg ins Berufsleben als sehr schwierig.
Die Qualität des Unterrichts durch die Lehrkräfte ist
jedoch ein entscheidender Faktor für das Kompetenzniveau, die Herausbildung von Schülerinteressen und
insbesondere für die Förderung von Schülerinnen und
Schülern mit unterschiedlichen sozialen und ethnischen
Hintergründen. PISA hat gezeigt, dass sich die unterschiedliche Lehrerausbildung in den einzelnen Bundesländern mit einem Leistungsunterschied der Schüler von
bis zu einem ganzen Schuljahr auswirkt. Die COACTIVStudie hat des Weiteren bewiesen, dass es einen signifikanten Zusammenhang zwischen fachlichem, fachdidaktischem und pädagogischem Wissen von Lehrern einerseits und der Effektivität ihres Unterrichts auf der
anderen Seite gibt. Um die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems zu steigern, muss somit das Wissen und
das Know-how des Lehrerberufs in allen Abschnitten
der Ausbildung erhöht werden.
Zunächst ist es wichtig, geeignete und motivierte Studienanfänger zu finden. Leider ist das Berufsbild des
Lehrers in den letzten Jahren mit einer Abnahme des
Ansehens und Respekts bei gleichzeitiger Zunahme der
Anforderungen konfrontiert. Dies muss sich ändern - die
Profilbildung des Berufs muss gestärkt werden. Zweitens müssen die Studierenden früh mit der Realität des
Klassenzimmers konfrontiert werden. Es kann nicht sein,
dass ein zukünftiger Lehrer erst am Ende seiner Studienzeit Praxiserfahrung sammelt. Daher ist es essenziell,
dass die vom Bund geförderten Projekte immer in engem
Austausch mit einer oder mehreren Schulen stehen.
Zuletzt muss dafür gesorgt werden, dass Lehrer durch
Fort- und Weiterbildungsangebote im Sinne eines lebenslangen Lernens gefördert werden. Deshalb sprechen wir
uns in unserem Antrag für einen Qualitätswettbewerb
für eine exzellente Lehrerbildung aus. Dabei sollen
besonders herausragende Konzepte der Lehrerausbildung ausgezeichnet werden und dadurch die Einführung
der prämierten Ideen oder die Stärkung bereits vorhandener Strukturen ermöglicht werden. Die Hochschulen
konkurrieren um eine Fördersumme von insgesamt
16 Millionen Euro im Jahr. Dabei ist uns wichtig, dass
sich nicht nur bereits exzellente Hochschulen bewerben,
sondern auch solche Hochschulen eine Gelegenheit
bekommen, die über gute Entwicklungspotenziale verfügen. Es sollen auch nicht nur vereinzelte Fakultäten
gefördert werden, sondern die Hochschulen können sich
mit ihren Konzepten zu Verbünden zusammenschließen.
Daher läuft der Vorwurf der Grünen, die Regierung
würde nur Exzellenz fördern und nicht auf eine Breitenwirkung setzen, meines Erachtens ins Leere. Selbstverständlich bleiben die Länder in der Verantwortung, die
Hochschuen in vollem Umfang zu unterstützen. Dabei
können Sie aber auf die geförderten Best-PracticeModelle des Bundes zurückgreifen. Es liegt dann in ihrer
Hand diese in voller Bandbreite zu implementieren.
Ich möchte nochmal daran erinnern, dass die Bundesregierung so viel für die deutschen Hochschulen tut
wie keine Regierung zuvor. Durch die Hochschulpakte I
und II sowie den Qualitätspakt Lehre werden die Forschungs- und Lehrbedingungen an deutschen Hochschulen nachhaltig verbessert.
Worauf ich zuletzt noch eingehen möchte und was mir
als Bildungspolitiker aus Bayern wirklich am Herzen
liegt, ist die länderübergreifende Angleichung der Lehramtsstudien. Bayern kann dabei als Vorbild für einen
sehr hohen Standard, wie es die TUM School of Education beweist, dienen.
Mit dem Antrag „Initiative zur Stärkung der Exzellenz
in der Lehrerausbildung“ nehmen die Koalitionsfraktio-
nen auf, was seit längerem in der deutschen Kultus-
ministerkonferenz und auch der gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz von Bund und Ländern erarbeitet wird,
und bringen es in die parlamentarische Mitberatung ein.
Wir begrüßen es, dass es hierzu jetzt eine parlamentari-
sche Diskussion gibt, zumal wir zu etlichen Punkten,
was die Analyse und auch die Bewertung der Aufgaben-
stellung angeht, Übereinstimmungen haben.
Erstens. Natürlich stimmen wir darin überein, dass
entscheidend für die Qualität von Schulbildung die Qua-
lität der Lehrkräfte ist. Lehrkräfte sind entscheidende
pädagogische Bezugspersonen, sie wirken als Persön-
lichkeit, sie organisieren Lern- und Sozialprozesse, sie
vermitteln Wissen und Fertigkeiten auf möglichst hohem
Niveau in kind- und jugendgerechter Form. Gute Schule
muss gute Lehrkräfte gewinnen, gute Hochschule den
Lehrkräften in Aus- und Weiterbildung das optimale
Rüstzeug mitgeben und gute Lehrkräfte auch zur Koope-
ration im engeren schulischen Umfeld mit anderen Pro-
fessionen, mit Eltern wie Schülern verhelfen. Sie müssen
auch darauf vorbereitet und darin unterstützt werden,
Schule als Teil eines kommunalen, eines sozialen Umfel-
des gut zu organisieren.
Zweitens. Der Lehrerberuf ist ein ausgesprochen
schöner Beruf. Er ist auch ein ausgesprochen fordernder
Beruf, weshalb wir nachdrücklich unterstreichen, was
Zu Protokoll gegebene Reden
auch an Anerkennung gegenüber den Lehrkräften in der
Öffentlichkeit wieder stärker aufgebaut werden muss.
Gute personale Autorität, Zufriedenheit mit dem Beruf,
die dann auch auf Schüler, Kolleginnen und Kollegen
und Eltern ausstrahlen kann, fordert auch von uns als
politische Meinungsträger und Multiplikatoren, diesem
Beruf immer wieder zur Anerkennung zu verhelfen. Das
muss erst recht auch dafür gelten, der Aus-, Fort- und
Weiterbildung von Lehrkräften, nicht zuletzt an den
Hochschulen, ein wesentlich höheres Gewicht zu geben.
Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der Hochschulen,
hervorragende Lehrkräfte auszubilden. Es ist keine Ne-
benaufgabe, es ist nicht etwas, das die wissenschaftliche
Leistungsfähigkeit von Hochschulen einschränkt, son-
dern ganz im Gegenteil: Eine gute Hochschule ist auch
eine gute Lehrerausbildungsstätte.
Drittens. Die Analyse, die von den Koalitionsfraktio-
nen dem Antrag vorangestellt worden ist, weist auch auf
eine quantitative Problematik hin. Allerdings kommt der
Antrag an dieser Stelle mit einer gewissen Verzögerung,
denn nicht zuletzt die Gewerkschaft Erziehung und Wis-
senschaft oder auch einzelne Bildungsökonomen und
Wissenschaftler wie Klaus Klemm und andere weisen
schon seit Jahren darauf hin, dass in Deutschland zu we-
nig Lehrkräfte ausgebildet werden und wir von daher in
ein dramatisches Nachwuchsproblem an den Schulen
hineinlaufen werden. Will man allerdings guten Nach-
wuchs gewinnen, müssen nicht nur die materiellen und
ideellen Rahmenbedingungen stimmen, was die öffent-
liche Anerkennung und Motivierung angeht, sondern
auch die Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen
vorgehalten werden und dieses rechtzeitig, mit langem
zeitlichen Vorlauf und in der entsprechenden Qualität.
Viertens. Übereinstimmung besteht schließlich darin,
dass der Beruf der Lehrkraft immer anspruchsvoller
wird aus pädagogisch-psychologischen Gründen, im ge-
sellschaftlichen Umfeld und auch in der Neuorgani-
sation von Schule. Sie weisen in Ihrem Antrag richtig
darauf hin, dass die Umsetzung der UN-Behinderten-
rechtskonvention erfordert, die stärkere Inklusion als
wesentlichen Gegenstand von Lehrerausbildung für alle
verpflichtend aufzubauen. Sie haben auch in Ihrem An-
trag ganz in Übereinstimmung mit der sozialdemokrati-
schen Betrachtung aufgeführt, dass die alten Strukturen
der Lehrerausbildung für die Zukunft nicht mehr ausrei-
chen, was die Rekrutierung und Motivierung von Studie-
renden angeht, die studienbegleitende Beratung, die
Verstärkung der Praxisbezüge und den Ausbau der Pra-
xisphasen bis hin zu neusten Erkenntnissen in der Di-
daktik und Methodik, die für moderne Lernarrange-
ments in Schule einzubringen sind und schließlich auch
die soziale und personale Kompetenz. An dieser Stelle
haben wir Übereinstimmungen, so wie es sie auch in der
Kultusministerkonferenz und der gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz gibt.
Wenn diese Übereinstimmungen langsam gewachsen
sind, so sind Wegmarken hierfür sicherlich die ersten
großen Studien zur empirischen Bildungsforschung, die
sich mit Kürzeln wie TIMMS und PISA verknüpfen. Im-
merhin sind das Studien, die zum Teil bereits über ein-
einhalb Jahrzehnte zurückliegen. Als der sogenannte
PISA-Schock ausgelöst wurde, hatte sich die damalige
Kultusministerkonferenz auf acht Handlungsfelder ver-
ständigt, an denen in Zukunft gemeinsam und länder-
übergreifend auch im Zusammenwirken mit dem Bund
vorrangig gearbeitet werden müsste, um die evident ge-
wordenen Schwächen des deutschen Schulsystems auf-
zuarbeiten und zu verändern. Die Lehrerausbildung ist
hierbei allerdings ein großer Restant geblieben, und es
ist deshalb höchste Zeit, dass auf der Kultusminister-
ebene, aber eben auch auf der Bundesebene diesem
wichtigen und zentralen Handlungsfeld mehr Aufmerk-
samkeit gewidmet wird. Erste Verabredungen in der
KMK aus dem Jahr 2004 über gemeinsame Standards
sollen hier nicht verschwiegen werden, aber auch dies
ist schon acht Jahre her und die Probleme sind gewiss
nicht kleiner geworden. Weshalb?
Erstens. Zum einen gibt es immer noch keine ausrei-
chende Konsensbildung und Konvergenz in Bezug auf
die verschiedenen Schulstrukturen, die in den einzelnen
Bundesländern angeboten werden, sondern im Gegen-
teil erleben wir in Teilen sogar noch eine weitere Ausdif-
ferenzierung. Grundsätzlich muss Lehrerbildung aber
auf eine Praxis ausgerichtet sein, die sich nicht an erster
Stelle über Schulstrukturen definiert, sondern über Al-
tersphasen, das heißt Entwicklungsphasen von Kindern
und Jugendlichen und bestimmte pädagogisch-schu-
lische Leitprinzipien. Diese Betrachtung darf deshalb
unseres Erachtens auch in der Zukunft einer länderüber-
greifend ausgerichteten Lehrerausbildung nicht ausge-
spart werden. Allerdings gibt es hier Tabus, und Tabus
führen bekanntlich dazu, dass sich Entscheidungen auch
hinziehen bzw. verdrängt werden und letztlich rudimen-
tär bleiben.
Zweitens. Gute Lehrerbildung erfordert einen hohen
Einsatz an den Universitäten wie in den Praxiseinrich-
tungen. Und in einer Situation, in der die Hochschulen
nicht zuletzt wegen der begrüßenswerten Zuwächse an
Studienanfängerzahlen sowieso schon eine starke zu-
sätzliche Bildungsleistung erbringen, gibt es auch unter
dieser Überlastungswahrnehmung eine gewisse Distanz
zu einer deutlichen qualitativen Verbesserung und auch
einem quantitativen Ausbau von Lehrerbildung. Nur kann
diese Überlastungssituation nicht der Maßstab bleiben,
unter dem wir in Zukunft diese zentrale Rolle der Lehrer-
ausbildung weiterhin bewerten. Gerade weil die Hoch-
schulen schon so viel leisten, müssen sie an dieser Stelle
noch eine besondere Unterstützung erfahren.
Drittens. Niemand soll ja drumherumreden: Gerade
im Schulbereich und in Verbindung damit auch in der
Lehrerausbildung gibt es noch eine Kleinstaaterei in
Deutschland, die, historisch gewachsen, dennoch nicht
mehr in diese Zeit passt: Statt der Konkurrenz muss es
hier zur Kooperation kommen, dies aber eben nicht nur
in Bezug auf die Schulen unmittelbar, sondern auch auf
die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer. Weil aber
der Abschied von einem konkurrierenden Föderalismus
hin zu einem kooperativen Föderalismus vielen Beteilig-
ten nicht leicht fällt, ist hier sicherlich zu viel Zeit ins
Land gegangen, die guten Einsichten der PISA-Reform
auch schnell in Taten umzusetzen. Kooperation heißt
hier aber auch, sich offen zu zeigen gegenüber den in-
Zu Protokoll gegebene Reden
haltlich wie materiell - sprich haushalterisch - gegebe-
nen Möglichkeiten des Bundes als einem weiteren Mit-
verantwortlichen, damit Bildung in Deutschland und
speziell Lehrerbildung zu einem guten Ergebnis ge-
bracht wird. Das gute Ergebnis wird sich dann auch da-
ran bemessen, dass es für die Lehrkräfte selbst keine aus
der Zeit gefallenden Einschränkungen gibt und eine
wechselseitige Anerkennung ihrer Qualifikation zwi-
schen den einzelnen Bundesländern sowie die Möglich-
keiten ihrer Mobilität in Deutschland und mit einer
langfristigen Perspektive auch über Deutschland hinaus
Standard wird.
Nun zu Ihrem Antrag im Einzelnen, wobei hier sicher-
lich auch Differenzierungen und kritische Bewertungen
stärker deutlich werden.
Erstens. Sie beziehen sich bei Ihrem Antrag, dem von
daher auch nur eine begrenzte Originalität zuzuspre-
chen ist, im Wesentlichen auf die Eckpunkte für die in-
haltliche Ausrichtung der Bund-Länder-Initiative Leh-
rerbildung, wie sie von der Kultusministerkonferenz,
KMK, bis hin zur Gemeinsamen Wissenschaftskonfe-
renz, GWK, vorbereitet worden ist. Dort ist davon die
Rede, dass Schwerpunkte einer solchen gemeinsamen
Initiative sein sollten: a) die Profilierung und Optimie-
rung der Strukturen der Lehrerbildung an den Hoch-
schulen, b) die Qualitätsverbesserung des Praxisbezugs
in der Lehrerbildung, c) die Verbesserung der profes-
sionsbezogenen Beratung und Begleitung der Studieren-
den in der Lehrerbildung, d) die Fortentwicklung der
Lehrerbildung in Bezug auf die Anforderungen der He-
terogenität und Inklusion, e) die Fortentwicklung der
Fachlichkeit, der Didaktik und der Bildungswissenschaften.
Wir stimmen dem gerne zu, möchten hier aber ergänzen, dass natürlich auch ein großer Bereich von Veränderung in den nächsten Jahrzehnten, der in Deutschland
längst überfällig ist, die Entwicklung von Schule hin zur
Ganztagsschule ist. Deutschland hat hier einen gewaltigen Nachholbedarf und steht in seiner Struktur der
Halbtagsschule vollkommen isoliert in Europa und auch
darüber hinaus da. Erste Ansätze, hier Ganztagsschule,
und zwar gute Ganztagsschule, aufzubauen, sind seit der
Regierung von Gerhard Schröder und Edelgard Buhlman
in Bewegung gekommen. Nun müssen sich das veränderte Bild von Schule und auch die veränderten Anforderungen an die Lehrkräfte natürlich auch in einer reformierten Lehrerausbildung in angemessener Form
wiederfinden, bei der sich Lehrkräfte nicht nur von
vornherein in der Ausbildung darauf einzustellen haben,
dass sie als zentrale Beteiligte an einem Ganztagslernund Lebensort Schule ganz anders gefordert sind. Sie
müssen auch in einer solchen erneuerten Lehrerausbildung bzw. Weiterbildung immer wieder darauf vorbereitet bzw. dafür qualifiziert werden, mit viel mehr Beteiligten zu kooperieren, neue Ideen von Schule zu entwickeln
und zu leben, als sie Schule im klassischen Klassenzimmerunterricht über lange Jahre selbst noch kennengelernt haben. Von SPD-Seite im Bundestag aus wünschen
wir uns jedenfalls, dass diese große Zukunftsaufgabe der
guten Ganztagsschule gleichberechtigt neben die andere
Zielsetzung tritt und dieses auch mit einschließt, den
Lehrerberuf aus seiner isolierten Position zu befreien
und als Teil eines Gesamtberufsfeldes Schule zu verstehen.
Zweitens. Die Frage der Schulstruktur soll nicht im
Vordergrund der Lehrerausbildung stehen, gerade weil
die Lehrertätigkeit vom einzelnen Kind und Jugendlichen her zu sehen ist, im emotionalen Bezug, in der pädagogischen Führung, in der Fachdidaktik und in der
Anlage von Unterricht. Deshalb darf die Lehrerausbildung in der Zukunft die Schulstrukturfrage nicht ganz
aussparen. Wir beobachten jetzt schon in der Lehrerausbildung in vielen Bundesländern, dass diese nach Überwindung des klassischen mehrgliedrigen Schulsystems
zunehmend auch alters- und entwicklungsstufenbezogene Schulstrukturen in die Lehrerausbildung mit hineinnehmen. Dies wird umso wichtiger werden, wenn
gleichzeitig ein offener Arbeitsmarkt für Lehrer geschaffen werden soll, der nicht nur aus Sicht der einzelnen
Lehrkräfte, sondern auch aus Sicht der Bundesländer
und letztlich auch mit der europäischen Perspektive immer wichtiger wird. Viele Bundesländer gehen deshalb
schon dazu über, neben dem Lehramt für die Grundschule ein Lehramt für die Sekundarstufe I und II an Gemeinschaftsschulen, Stadtteilschulen, Gesamtschulen und
Gymnasien auszuweisen und darüber hinaus auch noch
die Lehrämter an den Schulen für besondere Förderbedarfe sowie den beruflichen Schulen. Weil alle Beteiligten wissen, dass dieses ein sehr schwieriges Feld ist,
darf es dennoch nicht aus der Entwicklung von zukunftsbezogener Lehrerausbildung ausgespart werden,
sondern die Perspektiven, die sich mit einer stärker koordinierten und stärker konsensorientierten Lehrerausbildung mit Blick auf die Konsensbildung in der Schulstruktur absehbar ergeben, müssen jetzt schon in die
Verbesserung der Lehrerausbildung in Qualität und
Quantität mit einbezogen werden. Schließlich werden
Lehrer nicht für eine kurze Berufsphase, sondern für einen Arbeitsplatz, der in der Regel über 35 Jahre im Berufsfeld Schule wahrgenommen wird, ausgebildet. Hier
Offenheit und Anschlussfähigkeit in einer harmonisierten Struktur der Lehrerausbildung mit zu befördern,
sollte deshalb auch ein Anliegen dieser Initiative für die
Stärkung der Lehrerausbildung in Deutschland sein.
Natürlich sind hier an erster Stelle die Länder gefordert,
aber wenn es schon zu einem kooperativen Vorgehen von
Bund und Ländern in der Verbesserung der Lehrerausbildung kommt, darf es hier auch keine Tabus mehr geben, was die Erwartungen durch den Bund als Teilnehmer angeht.
Allein der demografische Wandel mit der Verringerung der Schülerinnen- und Schülerzahlen zwingt hier
alle klassischen Schulideologen aus ihren Schützengräben heraus und zu einer stärker konsensorientierten gemeinsamen Politik. Die Lehrerbildung kann hier hinter
nicht zurückstehen und muss im Gegenteil sogar Antreiber für eine solche veränderte Politik sein. Damit beantwortet sich auch, dass natürlich eine Bund-Länder-Initiative zur Stärkung der Lehrerausbildung auch immer
mit einschließen muss, das Anerkennungsverfahren der
jeweiligen in den einzelnen Bundesländern erreichten
Qualifikationen so zu verändern, dass die teilweise wiZu Protokoll gegebene Reden
dersinnigen Hürden und Abgrenzungen einer wahrlich
vernünftigen und betroffenen- wie schulzentrierten Offenheit weichen.
Drittens. Wenn die Koalitionsfraktionen die Überschrift wählen „Initiative zur Exzellenz in der Lehrerausbildung“ und auch an mancher anderer Stelle im Antrag, hier allerdings weniger in den Forderungen als
vielmehr im Begleittext, assoziativ an die Exzellenzinitiative im Hochschulbereich, den Wettbewerbscharakter
dieser Exzellenzinitiative und an das Paradigma der
Leuchttürme-Philosophie anknüpfen, so ist dies nicht
unser Verständnis, und wir glauben, auch nicht das Verständnis der KMK und der gemeinsame Geist aus der
GWK von Bund und Ländern. Uns muss es darum gehen,
die Lehrerausbildung generell in Deutschland zu verbessern und nicht einzelne Hochschulen als quasi Exzellenzhochschulen mit der Lehrerausbildung zu identifizieren. Wir möchten deshalb nachdrücklich dafür
werben, dass Sie in Ihrem Verständnis dabei bleiben,
dass ein Element der Verbesserung der Hochschullehrerausbildung an den 120 Hochschulen, die wir in
Deutschland haben, die Identifikation von Best-PracticeBeispielen sein kann, dass es aber im Übrigen nicht nur
um einen Wettbewerb gehen darf, in dem eine Prämierung von als besonders gut identifizierten Lehrerausbildungen stattfindet, sondern ein Prozess organisiert wird,
der Breitenwirkung entfaltet und am Ende alle Hochschulen in Deutschland und die gesamte Lehrerausbildung erreicht. Über die einzelnen Bedingungen eines
solchen Qualitätswettbewerbs wird deshalb auch noch
im Einzelnen zwischen den Bundesländern und auch
zwischen Bund und Ländern zu diskutieren und zu verhandeln sein. In den Ziffern 2 und 3 Ihres Antrags haben
Sie dazu einige Vorschläge gemacht. Ob es klug ist, hier
als Bundestag die Regierung anzuweisen, und dies
schon zum jetzigen Zeitpunkt, in dieser Weise den Qualitätswettbewerb auszugestalten, ohne es mit den Partnern in den Ländern bereits abschließend geklärt zu haben, ob diese Form der Eingrenzung tatsächlich das
angestrebte Ziel ist, nämlich eine Stärkung der Lehrerausbildung mit mehr Qualität und Quantität insgesamt
in Deutschland zu erreichen, sei deshalb dahingestellt.
Viertens. Natürlich spielt auch das Geld eine große
Rolle. Der Hinweis in Ihrem Antrag, dass unter strikter
Beachtung der verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse haushalterisch Vorsorge getroffen werden
soll, dass der Wettbewerb für eine Laufzeit von fünf Jahren gesichert ist und die Fördermaßnahmen im kommenden Jahr beginnen können, kann einerseits als Selbstverständlichkeit gesehen werden andererseits aber auch
als Hinweis darauf, wie verwirrend hier die Regierungsfraktionen bisher agieren. So gibt es Zeitungsmeldungen, zum Beispiel aus dem „Hamburger Abendblatt“
vom 12. März 2012, wonach die Fraktionen der Union
und der FDP im Wettbewerb angeblich planen, dass sich
die Hochschulen um eine Fördersumme von jeweils
16 Millionen Euro im Jahr für die einzelne Hochschule
bewerben sollen. Davon sollen nach der Berichterstattung aus dem „Hamburger Abendblatt“ 10 bis 16 solcher sogenannten Zukunftskonzepte gefördert werden.
Zugleich wird von der „Süddeutschen Zeitung“ am
21. April 2012 berichtet, dass das Programm über zehn
Jahre laufen und eine Größenordnung von 500 Millionen Euro haben solle. Damit würden pro Jahr 50 Millionen Euro zur Verfügung stehen, und man muss nicht
Adam Riese bemühen, um in diesen verschiedenen Verlautbarungen, die offensichtlich sehr mediengeleitet in
die Öffentlichkeit gebracht worden sind, auf der Hand
liegende Widersprüche zu erkennen.
Und wenn wir dann als Abgeordnete noch wissen,
dass die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP eine
mittelfristige Finanzplanung vorgelegt hat, bei der die
Haushaltsmittel des Bundes ab 2014 für Bildung und
Forschung rückläufig sein sollen, bleibt erst recht die
Frage, was eigentlich die finanzielle bzw. materielle
Substanz ist, die seitens der Bundesregierung für dieses
Projekt der Lehrerausbildung mobilisiert werden soll.
So sind wir gespannt, auch in den weiteren Beratungen
im Ausschuss Näheres zu hören. Allerdings sollten die
CDU/CSU- und FDP-Fraktionen zusammen mit ihrer
Regierung vorher mehr Klarheit in sich selbst gefunden
haben, statt hier weiter zur Verwirrung beizutragen.
Dass eine solche Initiative zur Verbesserung der Lehrerausbildung von Bund und Ländern einer ausreichenden finanziellen Absicherung bedarf, steht für die SPD
außer Zweifel. Vielleicht kann hier auch ein neues Nachdenken bei den Koalitionsfraktionen über das unsinnige
Kooperationsverbot nachhelfen, das immer noch von Ihnen im Bereich der hochschulischen und der schulischen
Bildung hochgehalten wird. Es ist doch im Gegenteil so,
dass wir hier keine minimale, nur auf ganz konkrete Probleme abzielende Lösungsstrategie brauchen, sondern
eine umfassende Öffnung neuer Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern in der Finanzierung und in
der Gestaltung von Bildung an Schule und Hochschule.
Wie sehr dies notwendig ist, zeigt sich auch in der Initiative der Verstärkung der Lehrerausbildung in Qualität
und Quantität. Als SPD im Bundestag werden wir diesen
Prozess im Bundestag konstruktiv begleiten.
Bildung ist einer der Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Folglich muss eine hohe Qualität des deutschen
Bildungssystems gewährleistet sein, um den wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt unserer Gesellschaft zu garantieren.
Sie wissen, dass Deutschland eine Bildungsrepublik
ist. Genau aus diesem Grund müssen wir uns auch im internationalen Wettbewerb behaupten können und auf
dieser Grundlage das gesamte Bildungssystem sowie
dessen Qualität mit Blick in die Zukunft stetig verbessern. Es ist richtig, dass die Dozenten, Ausbilder und
Ausbilderinnen sowie Lehrerinnen und Lehrer in diesem
Prozess eine besondere und wichtige Rolle spielen.
Die Entwicklung des Bildungssystems wird in der
heutigen Zeit maßgeblich vor drei gesellschaftliche Herausforderungen gestellt: den demografischen Wandel,
die Inklusion und die Digitalisierung.
Der demografische Wandel spielt in dem gesamten
Prozess der Verbesserung der Qualität des BildungssysZu Protokoll gegebene Reden
tems in Deutschland eine Schlüsselrolle. Es ist bekannt,
dass in den folgenden Jahren viele Lehrerinnen und
Lehrer aufgrund des Erreichens des Rentenalters aus
dem Schuldienst ausscheiden werden. Schon heute ist
beinahe jede zweite Lehrkraft über 50 Jahre und älter.
Damit bilden die 50- bis 60-Jährigen die größte Altersgruppe im Schuldienst. Im Vergleich dazu gibt es nur einen geringen Anteil von jungen Lehrkräften. Dies ist
zum einen auf die Länge der Hochschulausbildung zurückzuführen, zum anderen wurden aufgrund der demografischen Entwicklung weniger Lehrkräfte eingestellt.
Für das Jahr 2020 wird ein Rückgang der Zahl der
Schülerinnen und Schüler um 2,2 Millionen erwartet.
Junge Leute müssen daher motiviert werden, den Beruf
des Lehrers zu erlernen. Um dieses Ziel zu erreichen und
die Motivation der potenziellen neuen Lehrkräfte zu steigern, müssen die Ausbildungsbedingungen verbessert
werden.
Auch für die Problematik der Inklusion muss eine Lösung gefunden werden. Konkret bedeutet das einen veränderten Umgang mit der Leistungsdifferenzierung,
eine Abkehr von homogenen Lerngruppen, eine Hinwendung zu individuellen Lernarrangements und eine
Anpassung pädagogischer Unterstützungsleistungen.
Deutschland setzt sich für eine inklusive Pädagogik ein
und muss folglich eine Neuausrichtung der Lehrerausbildung und Schulorganisation vornehmen. Dies setzt
voraus, dass die jeweilige Schule sich an die Förderbedürfnisse der ihr anvertrauten Schüler anpasst und die
Lehrkräfte umfassend qualifiziert werden.
Die Digitalisierung fordert das Bildungssystem ebenfalls heraus. Die Lehrerausbildung muss sich demzufolge an die aktuelle Bildungstechnologieentwicklung
anpassen, um die daraus entstehenden wichtigen Perspektiven für den Unterricht und die Kooperation mit
den Unternehmen verstärkt nutzen zu können. Die gesamte Gesellschaft verändert sich. Da darf die Lehrerausbildung nicht bleiben, wie sie ist.
Gute Lehrer sind der Grundpfeiler eines gelingenden
Bildungssystems. Ihr Engagement verdient höchste
gesellschaftliche Anerkennung; denn die Qualität im
Klassenzimmer wird maßgeblich durch die Qualität der
Lehrerausbildung bestimmt. Guten Unterricht gibt es
nur mit guten Lehrern. Doch die Lehrerausbildung wird
in Deutschland vernachlässigt.
Die Zersplitterung der Lehrerausbildung ist ein weiteres ärgerliches Hemmnis. So wie ein Arzt und ein
Jurist muss auch ein Lehrer mit seinem abgeschlossenen
Studium in allen Bundesländern gleichermaßen anerkannt und angestellt werden können. Auch soll die Ausbildung sich mehr an den Erfordernissen des Unterrichtens orientieren.
Wir wollen Lehrer, die Fachleute vor Ort sind, ernst
nehmen, indem wir ihnen mehr Gestaltungsfreiheit übertragen. Ebenso gibt es einen Zusammenhang zwischen
Schülerleistung und Autonomie: Je eigenständiger die
Schule, desto besser die Leistung der Schüler. Darum:
Wir benötigen Freiheit und Stärke vor Ort. Mehr
Bildungsqualität braucht ein klares Bekenntnis zur Eigenständigkeit der Schulen mit den Möglichkeiten der
Leistungsdifferenzierung.
Die Ziele dieser Initiative sind vielseitig und umfangreich. So soll die Struktur der Lehrerbildung an den
Hochschulen im Sinne einer Profilbildung befördert
werden. Dies soll die Sichtbarkeit sowie die Lehrerbildung stärker an den Hochschulen verankern. Insgesamt
soll eine Stärkung der Lehrerausbildung vorgenommen
werden.
Ein weiteres Ziel der Initiative ist die Weiterentwicklung von Konzepten der Lehrerbildung. Das bedeutet,
eine fachliche, fachdidaktische und pädagogische Ausbildung zu garantieren. Ferner soll die Verzahnung von
Lehrerausbildung und pädagogischer Forschung verbessert werden. Des Weiteren sollen an ausgesuchten
Standorten die finanziellen Kapazitäten aufgestockt und
damit die Grundlage zu einer deutlichen Qualitätssteigerung geschaffen werden.
Ein Problem stellt im Moment noch das BundLänder-Programm dar, da dieses noch zur Verhandlung
aussteht. Durch sogenannte Leuchtturmprojekte sollen
die künstlichen Barrieren zwischen den Bundesländern
eingerissen werden. Die gegenseitige Anerkennung der
Abschlüsse muss nämlich gegeben sein. Betrachtet man
die Initiative insgesamt, so ist dies der erste Schritt in
die richtige Richtung.
Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag zur Verbesserung der Lehrerausbildung auf den Weg gebracht.
Es ist erfreulich, dass sie die Bedeutung einer guten Lehrerausbildung für eine gute Schule und gute Bildungsabschlüsse von Lernenden begreifen, und es ist erfreulich,
dass sie zu der Einsicht gekommen sind, dass es nicht
reicht, diese Aufgabe den Ländern allein zu überlassen.
Immerhin wurde der vor ziemlich genau zwei Jahren
eingebrachte Antrag der Fraktion Die Linke für ein
Fachkräfteprogramm Bildung und Erziehung noch mit
dem Verweis auf den Hochschulpakt und die Zuständigkeit der Länder abgelehnt. Man sah keinen Handlungsbedarf.
Das scheint sich nun geändert zu haben, und das ist
ein ermutigendes Zeichen. Dass mehr als die Hälfte der
Lehrerinnen und Lehrer heute älter als fünfzig Jahre
sind und damit ihr Verbleib im Schuldienst endlich ist,
war allerdings schon damals bekannt. Nun fällt der
Koalition auf, dass trotz des Hochschulpakts zu wenige
Lehrerinnen und Lehrer nachwachsen, denn nur 27 Prozent sind insgesamt unter 40 Jahre alt. Auch das ist für
die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen keine
Neuigkeit, sehen sie es doch jeden Tag in der eigenen
Schule.
Auf der anderen Seite wurde auch von der Seite der
Politik in den letzten Jahren zu wenig getan, die Anerkennung des Lehrerberufes zu verbessern. So geht immer noch das Sprichwort herum, dass Lehrer vormittags
Unterricht und nachmittags frei hätten. Abfällige Äußerungen über Lehrerinnen und Lehrer wie die eines uns
allen gut bekannten ehemaligen Ministerpräsidenten
Zu Protokoll gegebene Reden
eines Bundeslandes haben dabei offensichtlich nachhaltige Wirkungen hinterlassen.
Vielleicht reagiert die Koalition ja auch erst, wenn
sich die Wirtschaft in Bildungsangelegenheiten zu Wort
meldet: So hat eine Studie des Allensbach-Instituts im
Auftrag der deutschen Wirtschaft jüngst herausgefunden, dass sich zwar die Anerkennung des Lehrerberufes
in den letzten Jahren geändert hat, dass aber die Anziehungskraft des Lehramtsberufes nach wie vor gering ist.
Darum wundert es nicht, dass zu wenige Studierende mit
der Absicht ein Studium beginnen, am Ende Lehrerin
oder Lehrer zu werden. Und wenn schon, dann doch
eher für Grundschulen oder besser noch Gymnasien,
aber keinesfalls für Hauptschulen oder zusammengefasste Haupt- und Realschulen, die es nun in irgendeiner
Weise in den meisten Bundesländern geben wird.
Zu meiner Zeit als Landespolitikerin konnte man die
Studierenden eines Jahrgangs für ein Lehramt an
Sekundarschulen an einer Hand abzählen. Das hat sich
noch nicht wesentlich verbessert.
Ein Grund ist sicher auch, dass die Länder über viele
Jahre hinweg eine verfehlte Einstellungspolitik praktiziert haben, weshalb vor allem im Osten ausgebildete
Lehrerinnen und Lehrer verstärkt in die finanzstärkeren
Westländer gegangen sind, seit die Länder auch die Hoheit über die Besoldung von Lehrkräften in eigener Regie regeln.
Tatsächlich gibt es inzwischen zwar eine größere Anerkennung der Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern,
aber an der problematischen Arbeitssituation in den
Schulen hat sich nichts zum Positiven gewendet, im Gegenteil. Lehrerinnen und Lehrer werden mit immer mehr
Vorschriften, Programmen, abzurechnenden Verpflichtungen überhäuft, sodass für das Kerngeschäft Unterricht zu wenig Zeit bleibt.
Auf der anderen Seite haben die Hochschulen zu
wenig getan, um die Qualität der Lehrerausbildung zu
befördern und mit der Einführung des Bachelor-MasterSystems ist die berufliche Ausbildung von Lehrerinnen
und Lehrern noch unübersichtlicher geworden, wurden
die Bildungswissenschaften vernachlässigt usw.
Es gibt also allen Grund, etwas für die Lehrerausbildung zu tun, zumal dieser Ausbildungsbereich für Hochschulen nicht drittmittelfähig ist und damit kein Geld
bringt.
Doch was fällt der Koalition ein? Sie beschließt:
„Wir machen einen Wettbewerb.“ „Wer bildet die besten
Lehrerinnen und Lehrer aus?“ Das soll es richten. Die
am besten ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer werden dann mit Kusshand von den Ländern aufgenommen,
die am besten bezahlen können. So ist das halt in einer
vom Wettbewerb geprägten Gesellschaft, und warum
soll es in der Schule anders sein? Länder, die ärmer
sind, können sich dann die Lehrkräfte leisten, deren Ausbildung eben noch nicht so gut war. Was ja nicht an ihrer
persönlichen Eignung liegen muss, sondern vielleicht an
der Kurzsichtigkeit oder auch nur der Unterfinanzierung
von Hochschulen. Die Lehrenden und die Lernenden in
den Ländern, die nicht die am besten ausgebildeten
Lehrkräfte abbekommen, sind erneut die Gelackmeierten.
Die Koalition behauptet in ihrem Antrag, dass die unterschiedliche Unterrichtsqualität von den unterschiedlichen Unterrichtsmustern abhänge. Was immer sie
darunter versteht, es erklärt nicht den Hang zum Wettbewerbsföderalismus als Heilmittel für die Mängel in der
Lehrerausbildung in Qualität und Quantität in der Fläche und in den Bildungsergebnissen in Deutschland. Ein
solcher Wettbewerb führt auch nicht zur Verringerung
der hohen Zahlen von Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne Abschluss, die heute in zahlreichen
Bundes- und Landesprogrammen wenigstens teilweise
aufgefangen werden. Es führt dazu, dass die Schere weiter aufgeht, ganze Generationen von Lehrenden und
Lernenden abgehängt werden, dass die wirtschaftliche
und soziale Lage zwischen den Bundesländern weiter
auseinanderdriftet. So kann man das richtig erkannte
Problem nicht lösen.
Eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwischen den Bundesländern und Regionen und gleiche
Teilhabe in der Bildung wird sich so ebenso wenig herstellen lassen wie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen an den Schulen außerhalb der Gymnasien.
Was von dem Antrag der Koalition bleibt, ist neben
der Einsicht, dass es in der Lehrerausbildung ein Problem gibt, aus dem sich der Bund nicht herausmogeln
kann, die Erkenntnis, dass der alte biblische Spruch
„Wer hat, dem wird gegeben“ für die Koalition immer
noch politischer Leitfaden ist.
Der Bund hat eine gesamtstaatliche Verantwortung,
auch im Bildungsbereich. Sonst könnte man den Art. 7
auch gleich aus dem Grundgesetz entfernen, nach dem
das Schulwesen unter der Aufsicht des Staates steht. Der
Bund muss, gemeinsam mit den Ländern auch gesamtstaatlich handeln. Wenn das Kooperationsverbot in der
Bildung dabei hinderlich ist, dann muss es weg.
Das Image der Lehrer in Deutschland hat sich verbessert. In der Studie „Lehre({0}) in Zeiten der Bildungspanik“ des Allensbach-Instituts, die im April 2012 veröffentlicht wurde, landeten die Lehrer im Bezug auf
Ansehen auf dem vierten Platz hinter Ärzten, Krankenschwestern und Polizisten. In derselben Studie beklagte
sich die Hälfte der befragten Lehrkräfte, dass sie sich
durch ihre Ausbildung nur unzureichend auf ihre Arbeit
vorbereitet fühlten. Unter den jungen Lehrern, die bis zu
fünf Jahre im Beruf sind, waren es sogar 62 Prozent.
Das zeigt überdeutlich: Eine bessere Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften ist eine beständige Herausforderung für alle Länder und Hochschulen. Ein Förderprogramm von Bund und Ländern zur Verbesserung der
Lehrerbildung kann ein sinnvoller Ansatz sein, gute Beispiele zu unterstützen, die dann idealerweise Impulse für
die Verbesserung der Lehrerbildung an anderen Hochschulen auslösen.
Gute Schulen brauchen gute Lehrerinnen und Lehrer.
Die konkreten beruflichen Anforderungen an sie wachZu Protokoll gegebene Reden
sen und müssen bei einer Erneuerung der Lehrerausbildung maßgeblich sein. Im Schulalltag sind hohe fachliche Qualifikationen genauso gefordert wie zunehmend
anspruchsvolle didaktische Qualitäten oder diagnostische und evaluative Kompetenzen. Neben erzieherischen
und betreuenden Kompetenzen benötigen Lehrkräfte die
Fähigkeiten zur Qualitätsentwicklung und klugen
Selbstverwaltung. Studium und Referendariat müssen
darauf dringend besser vorbereiten und können so die
Basis schaffen für pädagogische Eigenverantwortung,
hohe Unterrichtsqualität und ein demokratisches Schulklima mit sozialem Zusammenhalt.
Wer höchste Lernleistungen und Chancengleichheit
will, muss alle Schülerinnen und Schüler nach ihren individuellen Potenzialen fördern und darf kein Talent
vergeuden. Alle Lehrerinnen und Lehrer müssen deshalb
im professionellen Umgang mit Heterogenität ausgebildet sein, um produktiv mit der gewachsenen Vielfalt ihrer Schülerschaft umgehen zu können.
Unterschiedliche soziale Lebenslagen in unserer Einwanderungsgesellschaft erfordern eine schulische Lehrund Lernkultur, die Integration und Inklusion in den Mittelpunkt guter pädagogischer Praxis rückt. Eine reformierte Lehrerausbildung ist daher ein Schlüssel für
beste Bildung vor Ort. Sie muss Teamfähigkeit stärken,
da selbstständige Ganztagsschulen mit Personalmix
diese brauchen, und sie sollte Lehrkräfte stärker zur Interdisziplinarität befähigen: Es braucht nicht nur die
Fähigkeit zur Verständigung zwischen Schulfächern,
sondern unter anderem auch mit Sozialarbeit, Gesundheitsprävention und kommunaler Quartiersentwicklung.
Denn Schulen werden heute vielerorts zum zentralen
Baustein lokaler Bildungslandschaften.
Diesen modernen Ansprüchen genügt der Antrag der
Regierungsfraktionen nicht. Es ist zweifelhaft, dass die
von Union und FDP skizzierte „Initiative zur Stärkung
der Exzellenz in der Lehrerausbildung“ zu einer flächendeckenden Verbesserung der Lehrerbildung in
Deutschland führen wird.
Erstens scheint das Prinzip der individuellen Förderung in den Köpfen und Herzen von CDU/CSU und FDP
immer noch nicht angekommen zu sein.
Zweitens beschränken sich die Regierungsfraktionen
fast völlig auf die Ausbildung von Lehrkräften, ihre
Fort- und Weiterbildung wird nur alibimäßig erwähnt.
Dabei zeigen die Zahlen über Alterskohorten, dass hier
ein riesiger Bedarf liegt. Niemand kann und darf warten, bis es zu einem kompletten Austausch der Lehrkräfte
gekommen ist. Fort- und Weiterbildung müssen gleichrangig zur Ausbildung von Lehrkräften gesehen werden.
Drittens ist es erstaunlich, dass Schwarz-Gelb das
Kooperationsverbot in der Bildung nicht anrührt, dann
aber in ihrem Parlamentsantrag formuliert, die Bundesregierung solle mit dem Qualitätswettbewerb darauf
hinwirken, „dass auch die länderübergreifende Anerkennung von Ausbildung und Abschlüssen in der Lehrerausbildung und damit eine verbesserte Mobilität von
Studierenden und Lehrkräften als Ziele des Wettbewerbs
verankert werden“. Damit erkennen auch die Fraktionen von Union und FDP die dringende Notwendigkeit
an, dass Bund und Länder in einem zentralen Bereich
der Bildungspolitik kooperieren. Es geht ihnen also
nicht nur um abstrakte Exzellenz der Hochschulbildung
für eine Fächergruppe, sondern es geht auch ihnen um
die praktische Verbesserung der Schulen. Darum, liebe
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP: Seien
Sie ehrlich, öffnen Sie die Verfassung auch im Bildungsbereich, und ermöglichen Sie dort endlich Kooperation!
Bundesbildungsministerin Schavan muss endlich aus
ihren Fehlern lernen und mehr Steuerungs- und Verhandlungsgeschick beweisen, damit mehr Bund-LänderKooperation möglich wird und eine echte Offensive für
die Lehrerbildung herauskommt. Sonst wird Schavan
einmal mehr als Ankündigungsministerin dastehen, wie
bei den mickrigen Deutschlandstipendien, dem ad acta
gelegten Zukunftskonto für jedes Kind, den zusammengeschrumpften lokalen Bildungsbündnissen oder dem
gescheiterten Plan einer „Akademie für die Lehre“.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9937 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Sie sind einverstanden. Das ist so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung des Schienenverkehrs zwischen
Deutschland und Polen
- Drucksache 17/9947 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Tourismus
Hier sind die Reden zu Protokoll genommen.
Der Ausbau des Schienenverkehrs zwischen Deutschland und Polen ist sinnvoll und notwendig, sowohl im
Personen- als auch im Güterverkehr. Wir sind uns einig,
dass es große Defizite bei der grenzüberschreitenden Eisenbahninfrastruktur gibt und dass sich teilweise die
Fahrzeit mit den Zügen in Polen derzeit mit dem Pkw
nicht messen kann. Aber was die Grünen nicht sagen,
ist, dass derzeit in Polen auf sehr vielen Strecken Ausbau- und Modernisierungsarbeiten stattfinden. Dies
führt dazu, dass die Züge große Umwege machen müssen, um an ihr Ziel zu gelangen.
Die Modernisierung in Polen wird sehr zügig vorangetrieben. Schwerpunkt liegt eindeutig auf den Strecken,
die Teil des transeuropäischen Verkehrsnetzes sind. Außerdem wird in die technische Aufrüstung des Bestandnetzes investiert. Im Jahr 2012 wurden in Polen Schienenverkehrsprojekte im Wert von rund 4,5 Milliarden
Euro allein zwischen dem zentralen Eisenbahninfra22038
strukturunternehmen PkP Polskie Linie Kolejowe und
verschiedenen Auftragnehmern beschlossen.
Dieser enorme Umfang der Sanierungsmaßnahmen
verursacht leider zahlreiche Verzögerungen durch die
Bauarbeiten, da die Bahnen die Baustellen weiträumig
umfahren müssen. Mit einer deutlichen Verbesserung
wird ab dem Jahr 2014 gerechnet.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung und insbesondere unser Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer streben
eine Fortführung der intensiven und guten Zusammenarbeit zu grenzüberschreitend bedeutsamen Infrastrukturprojekten mit der polnischen Seite an. Der Zustand
der grenzüberschreitend bedeutsamen Schienenprojekte
begründet einen weiteren Investitionsbedarf auf beiden
Seiten, der bisher und künftig im Bundeshaushalt angemessen berücksichtigt wird.
Es bedarf hierfür jedoch internationaler Abkommen,
in der Regel Staatsverträge, für deren Abschluss
erfahrungsgemäß lang dauernde Abstimmungsprozesse
erforderlich sind. Im Rahmen der deutsch-polnischen
Regierungskonsultationen im Juni 2011 wurde eine gemeinsame Projektliste bezüglich Bau und Betrieb aller
Verkehrsträger mit grenzüberschreitender Bedeutung
vereinbart, deren Umsetzung von deutscher Seite nachdrücklich verfolgt wird.
Aktuell verhandelt werden Ressortabkommen zum
Ausbau der Eisenbahnverbindung Berlin-Stettin und
zum Eisenbahnbetrieb.
Ich möchte die wichtigsten Ausbaustrecken erörtern:
ABS Berlin-Stettin:Die Ausbaustrecke Berlin-Stettin ist
ein internationales Vorhaben des Bedarfsplans Schiene.
Folgende Maßnahmen sind geplant: Ausbau auf eine
Streckengeschwindigkeit von bis zu 160 Stundenkilometern, durchgehende Elektrifizierung, Erhöhung der Kapazität durch Blockverdichtung, langfristig und bei entsprechender Entwicklung des Verkehrsaufkommens die
Herstellung der durchgehenden Zweigleisigkeit, Investitionsvolumen: rund 104 Millionen Euro ohne Zweigleisigkeit.
Nach mehrjährigen Verhandlungen und einer Unterbrechung von nahezu zwei Jahren durch die polnische
Seite wurde im Sommer 2011 ein überarbeiteter polnischer Entwurf bilateral erörtert. Der ursprünglich angestrebte Fertigstellungstermin der Elektrifizierung 2016
ist nicht mehr umsetzbar. Über die Inhalte besteht inzwischen weitestgehend Einvernehmen. Eine abschließende
Einigung zum Realisierungszeitraum war bisher nicht
möglich. Aus haushalterischen Gründen ist eine Fertigstellung aus deutscher Sicht nicht vor 2020 zu erwarten.
Nach erneuten Gesprächen unter anderem auf Ministerebene im Mai/Juni 2012 soll nun gemeinsam mit dem
polnischen Verkehrsministerium eine schnelle Lösung
gefunden werden. Angestrebt wird eine Unterzeichnung
des Abkommens noch in 2012.
ABS Berlin-Cottbus-Görlitz: Es bestand die Möglichkeit, nach Abschluss der Bauarbeiten in beiden Ländern, die Fahrzeit zwischen Berlin und Breslau um bis
zu 40 Minuten zu verkürzen. Der Ausbau des Abschnittes
Berlin-Cottbus ermöglicht eine Reduzierung um bis zu
20 Minuten. Es zeichnet sich derzeit ab, dass die polnische Eisenbahn den alten Laufweg über den Grenzübergang Forst trotz Ausbaus der niederschlesischen
Magistrale zwischen Kohlfurt und Breslau für eine Streckengeschwindigkeit von 160 Stundenkilometern weiterhin beibehalten will. Die DB AG steht hierzu in Verhandlung mit der polnischen Seite.
Bahnstrecke Hoyerswerda-Horka-Grenze Deutschland/Polen-Wegliniec: Polen ist stark daran interessiert,
dass der deutsche Abschnitt der niederschlesischen Magistrale Grenze-Horka-Hoyerswerda zweigleisig elektrifiziert ausgebaut wird, einschließlich des Neubaus der
Eisenbahngrenzbrücke bei Horka. Die Planungen zum
Ausbau der Strecke wurden seitens der DB Netz AG
beauftragt. Erste Planfeststellungsbeschlüsse liegen vor.
Der Beschluss zum Planfeststellungsabschnitt 3 HorkaGrenze Deutschland/Polen wird frühestens Mitte 2012
erwartet. Die notwendige Finanzierungsvereinbarung
mit einem Investitionsvolumen von rund 420 Millionen
Euro zwischen Bund und DB AG wurde im April 2012
abgeschlossen. Ein Baubeginn ist frühestens im Herbst
2012 möglich. Die Streckengeschwindigkeit soll nach
Fertigstellung 120 km/h betragen.
Im Zusammenhang mit dem zweigleisigen Ausbau
einschließlich Elektrifizierung ist der Neubau der
Grenzbrücke über die Lausitzer Neiße bei Horka durch
die polnische Seite erforderlich. Polen geht von einer
Fertigstellung bis 2014 aus.
Bahnstrecke Dresden-Görlitz-Grenze-Breslau ({0}): Neben der Elektrifizierung der noch fehlenden Abschnitte der Verbindung Breslau-Dresden ist die polnische Seite sehr daran interessiert, den Bahnhof Görlitz
als vorgezogene Maßnahme zu elektrifizieren. Zum möglichen Ausbau der Strecke Dresden-Görlitz auf 120 bis
160 Stundenkilometer können unter Beachtung der Priorisierung derzeit keine zeitlichen Angaben getätigt werden. Dies trifft insbesondere auf die Elektrifizierung dieser Strecke zu, die aus deutscher Sicht erst langfristig
vorgesehen ist.
Bahnstrecke Zittau-Liberec: Die Bahnstrecke hat lediglich regionale Bedeutung. Die Verkehrsleistung wird
durch die Vogtlandbahn/Trilex nach Ausschreibung im
Jahre 2010 erbracht. Es besteht Regelungsbedarf aufgrund des sehr schlechten Zustands des auf deutscher
und polnischer Seite befindlichen Viadukts. Im Jahre
2008 wurde von polnischer Seite ein trilateraler Staatsvertrag ({1}) vorgelegt, der
vor allem Tschechien und Deutschland zu Instandsetzung und Unterhaltung verpflichten würde. Die Verhandlungen über eine für alle Seiten befriedigende Lösung laufen.
Erläutern möchte ich noch das deutsch-polnische Abkommen zum Eisenbahnbetrieb: Im Rahmen der Verhandlungen im Oktober 2010 wurde in Warschau der
Entwurf eines deutsch-polnischen Abkommens über die
Zusammenarbeit im Bereich des grenzüberschreitenden
Eisenbahnverkehrs paraphiert. Die Unterzeichnung des
Abkommens durch die Ve