Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/25/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Vor Eintritt in die Tagesordnung ist Folgendes mitzuteilen: Interfraktionell ist vereinbart worden, dass der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf auf Drucksache 17/9340 sowie die dazu vorliegende Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9792 an den Verteidigungsausschuss zurücküberwiesen werden. Erneute Mitberatungen anderer Ausschüsse sind nicht vorgesehen. Der vom Haushaltsausschuss nach § 96 der Geschäftsordnung abgegebene Bericht auf Drucksache 17/9793 wird an den Haushaltsausschuss zurücküberwiesen. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf: - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({1}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({2}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({3}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 - Drucksachen 17/9505, 17/9768 Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderUta ZapfDr. Rainer StinnerWolfgang GehrckeMarieluise Beck ({4}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/9772 Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserKlaus BrandnerDr. h. c. Jürgen KoppelinRoland ClausSven-Christian Kindler Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung stimmen wir im Anschluss namentlich ab. Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({6})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Von den drei zivilen und militärischen internationalen Einsätzen im Kosovo - UNMIK, EULEX und KFOR - ist nach meinem Dafürhalten der KFOR-Einsatz bislang mit Abstand der erfolgreichste gewesen. KFOR war in der Lage, die gestellten Aufgaben über Jahre hinweg zu erfüllen, nämlich Sicherheit und Stabilität im Kosovo herbeizuführen, und bis zum heutigen Tage zu erhalten. Machen wir uns klar, dass wir bei KFOR mit über 50 000 Soldaten angefangen haben, mittlerweile liegen wir bei circa 5 000 Soldaten. Wir können in den nächsten Jahren davon ausgehen, diese Präsenz weiter zu verringern. Das ist ein wesentlicher Beitrag zur Stabilität der Region und zur Stabilität Europas. Dieser Einsatz ist richtig und wichtig. ({0}) Auch bei auftretenden Schwierigkeiten hat sich KFOR bewährt. Ich erinnere daran, dass der Einsatz des Reservebataillons in diesem Jahr mehrfach erfolgreich verlaufen ist. Auch das hat gezeigt, dass wir in der Lage sind, solche komplexen Aufgaben zu bewältigen. Nach meinem Dafürhalten werden wir mit der heutigen Entscheidung, die mehrheitlich in diesem Hohen Hause getroffen werden wird, weitere eindeutige Botschaften senden. Die erste Botschaft lautet: Wir als Deutscher Bundestag erneuern unsere Bereitschaft, für die Region Verantwortung zu übernehmen. Das ist eine wichtige Botschaft; denn sie besagt: Das Ganze geschieht in Europa, direkt vor unserer Haustür. Es ist unsere deutsche und auch unsere europäische Verantwortung, hier entsprechende Maßnahmen zu treffen. Dieses Versprechen erneuern wir hier mit klaren und deutlichen Worten. ({1}) Wir können in Deutschland stolz darauf sein - und zwar unabhängig davon, wer die Regierung gestellt hat -, dass wir diese Verantwortung über Jahrzehnte hinweg wahrgenommen haben. Wir können stolz und dankbar gegenüber unseren Soldaten sein, die ihre Aufgabe im Kosovo über Jahre hinweg in tadelloser Weise bewältigt haben. ({2}) Die zweite Botschaft. Wir wissen auch heute: Der Einsatz von Militär löst die Probleme nicht. Das Militär kann den Rahmen bilden, um Probleme zivil zu lösen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir parallel zu KFOR die Mission EULEX verstärken. Wir müssen EULEX in die Lage versetzen, ihre wichtige Aufgabe weiterhin wahrzunehmen. Im Kosovo gibt es nach wie vor Probleme beim Aufbau staatlicher Strukturen, bei der Bekämpfung der Korruption und vor allen Dingen beim Aufbau der Wirtschaft. Auf diesen Gebieten muss EULEX weiterhin tätig sein. Wir sind dafür, dass EULEX die Aufgaben im Norden des Kosovo intensiver als bisher wahrnimmt; denn das ist eindeutig der Schwachpunkt des bisherigen EULEX-Einsatzes. ({3}) Die dritte Botschaft. Wir appellieren weiterhin an die Institutionen im Kosovo, ihre Aufgabe für die Bevölkerung energischer wahrzunehmen. Der Aufbau von staatlichen Strukturen, die Bekämpfung von Kriminalität und der Aufbau von Wirtschaftsstrukturen sind ungeheuer wichtig. Ich sage sehr deutlich: Das Vorgehen von Präsident Thaci im letzten Jahr, seine Sicherheitskräfte ohne Absprache mit der EULEX in der Konfliktregion Nordkosovo einzusetzen, war kein Geniestreich. Der Vertrauensbildung hat das nicht gedient. Wir müssen an Herrn Thaci appellieren: Wenn wir unseren Beitrag leisten sollen, dann muss auch er seinen Beitrag leisten und sich entsprechend verhalten. ({4}) Vierte Botschaft. Das Commitment der Europäischen Union des Jahres 2003 gilt nach wie vor: Jawohl, der Westbalkan ist Teil Europas, und wir wollen alles dafür tun, den Westbalkan schrittweise an die Europäische Union heranzuführen. Die fünfte Botschaft ist klar und deutlich - der Außenminister hat es im letzten Jahr in Belgrad unmissverständlich gesagt -: Die Grenzen auf dem Balkan sind gezogen. ({5}) Wir als Deutscher Bundestag - ich hoffe, ich spreche für Sie alle - sagen sehr klar und deutlich, dass wir jedwedem Ansinnen von welcher Seite auch immer, diese Grenzen zu verändern - seien es albanische Träume, die manchmal in die Welt gesetzt werden, seien es Initiativen von Serbien -, eine klare politische Absage erteilen. Wer an den Grenzen auf dem Balkan rüttelt, verspielt die Zukunftsfähigkeit seiner Region in Europa. Das muss sehr klar sein. ({6}) Die nächste Botschaft lautet: Wir übernehmen weiterhin Verpflichtungen in der Region. In Serbien wurde gerade gewählt - mit für manche von uns überraschendem Ausgang. Ich bin erfreut darüber, dass bei dieser Wahl in Serbien erstmals nicht das Thema Kosovo und die Frage „Bist du pro oder gegen Europa?“ im Vordergrund gestanden haben. Die Geschichte von Herrn Nikolic kennen wir. Ich plädiere dafür, dass wir ihn beim Wort nehmen. Das Entscheidende ist, was er jetzt macht. Daran werden wir ihn messen. ({7}) Wir übernehmen weitere Aufgaben. Wir plädieren dafür, dass Mazedonien möglichst schnell in die NATO aufgenommen wird. Wir wissen, wo da die Probleme liegen. Was Bosnien-Herzegowina angeht: Wir sind dafür, dass wir schrittweise die Aufgaben des OHR an den europäischen Hohen Repräsentanten übergeben. So können wir auf europäischer Ebene Verantwortung übernehmen. Das Thema Kosovo ist eine Herausforderung für die Handlungsfähigkeit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Bedauerlicherweise haben erst 22 von 27 europäischen Staaten den Kosovo anerkannt. Es ist unsere Aufgabe auf parlamentarischer Ebene und die Aufgabe der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass wir europaweit noch einheitlicher auftreten, um Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Nur so können wir dieser schwierigen Region weiterhin eine europäische Perspektive geben. Dafür treten wir ein. Deshalb wird meine Fraktion dem Antrag der Bundesregierung klar und deutlich zustimmen. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Rainer Arnold spricht für die SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 13 Jahre lang haben wir regelmäßig über das Thema KFOR debattiert. Es darf trotzdem keine Routine für uns werden. Ich habe aber manchmal das Gefühl, man könnte die Reden vom letzten Jahr herausziehen und erneut halten; denn darin wurde alles Richtige schon gesagt. Es darf deshalb keine Routine werden, weil wir schon den Eindruck haben: Manchen Akteuren auf dem Balkan ist KFOR bzw. die damit verbundene Sicherheitsvorsorge zu einem Stück Selbstverständlichkeit geworden. Manche haben gar den Eindruck: KFOR ist fast schon die Armee und die Polizei des Kosovo in einem. Das ist aber falsch. Die Aufgaben, die dort zu erledigen sind - Schaffung eines sicheren Umfelds, Herstellung von Bewegungsfreiheit und Aufbau der Sicherheitsarchitektur -, müssen zukünftig zuerst von der kosovarischen Polizei, dann erst von EULEX und, wenn dies nicht funktioniert, von KFOR geleistet werden. Hier wurde schon oft appelliert bzw. die Forderung erhoben, dass es, damit dies so funktionieren kann, erhebliche Verbesserungen in der Zusammenarbeit der genannten drei Akteure geben müsse. Eines ist in diesem Jahr trotz Routine allerdings anders. Im Augenblick befindet sich ein Reservebataillon deutscher Soldaten, die persönlich eine hohe Belastung auf sich genommen haben, im Kosovo. Diesen Soldaten gebühren natürlich unser Dank und unser Respekt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass das Verteidigungsministerium - es hat auch etwas mit falscher Planung zu tun, dass es im Augenblick eine unzumutbare Belastung für die jungen Frauen und Männer gibt - signalisiert hätte: Es war ein Fehler, er darf sich nicht wiederholen. Dieser Fehler ist zu bedauern. Ich spreche den Soldaten Anerkennung aus, die teilweise auf Befragen gesagt haben: Ja, wir tun dies freiwillig noch einmal. - Ich sage aber aus Sicht der Politik: Auch wenn sie es freiwillig tun, entbindet uns dies nicht davon, unsere Verantwortung wahrzunehmen und dafür zu sorgen, dass sie für eine ausreichende Zeit im sozialen Umfeld ihrer Heimat bleiben können und nicht, wie es teilweise geschehen ist, fast 15 Monate mehr oder weniger ununterbrochen im Einsatz sind. ({0}) Diese 13 Jahre zeigen aber auch exemplarisch, was ein Streitkräfteeinsatz bewirken kann und was Streitkräfte nicht leisten können. Streitkräfte können Konfliktpartner auseinanderhalten. Das werden die Linken vielleicht irgendwann auch einmal lernen. Streitkräfte können das Morden stoppen. Das ist ein unglaublich hoher Wert. Deshalb ist dieser Einsatz alles Engagement und auch unsere politische Unterstützung wert. Streitkräfte können helfen, Sicherheitsstrukturen aufzubauen. Sie können am Rande auch humanitäre Hilfe leisten. Eines können sie aber nicht tun: Sie können, von außen kommend, keinen Staatsaufbau voranbringen. Streitkräfte können auch keine politischen Prozesse initiieren. Das ist Aufgabe der anderen Akteure, zum Beispiel der Diplomaten. Es ist vor allen Dingen die Aufgabe derjenigen, die für den wirtschaftlichen Fortschritt verantwortlich sind. Man denke nur an die vielen gut ausgebildeten jungen Menschen im Kosovo, die nach wie vor keine ökonomische Perspektive haben. Am Ende aber sind diese Prozesse Aufgaben der Menschen im Kosovo selbst. Ohne einen wirklichen Prozess der Aufarbeitung und ohne den gleichzeitigen Willen zur Versöhnung nach diesen langen Jahren wird es - um es deutlich zu sagen im Kosovo kein Gelingen geben. Wir treffen im Kosovo immer noch zu viele Menschen - ob Kosovo-Albaner oder Serben -, die sich nach einer halben Stunde Diskussion in ihrer langen Geschichte mit all ihren Problemen verhaken. Nein, man braucht dort eine Gesellschaft, die eher bereit ist, in die Zukunft zu schauen und die richtigen Lehren aus der tragischen Geschichte zu ziehen. ({1}) Dazu gehört natürlich, dass Europa weiterhin den Dialog befördern und manchmal auch darauf drängen muss, dass die kosovarische Regierung mit den serbischen Minderheiten im nördlichen Kosovo weiter den Dialog führt. Dazu gehört auch die wiederholte Ansage an Belgrad - auch gegenüber dem neuen Präsidenten -, dass die europäische Tür einen Spalt weit geöffnet ist, dass aber, um sie ganz aufzumachen, die Grenzen und dieses Gefüge auf dem Balkan so akzeptiert werden müssen, wie sie im Augenblick sind. Wir laden alle ein, diese Prozesse mitzugestalten, anstatt weiterhin auf der Bremse zu stehen. Wenn wir einen Blick auf die Sicherheit im Kosovo werfen, stellen wir fest: Die 13 Jahre waren nicht vergeblich. Es hat sich eine ganze Menge verändert. Manchmal gab es Trippelschritte, und manchmal ist auch eine Ungeduld da, weil es logischerweise zu langsam geht. Manchmal geht es zwei Schritte nach vorn und einen zurück. Richtig ist aber auch: In weiten Teilen des Kosovos können heute auch Serben sicher leben. Das Spannende und Gute ist, dass wir zunehmend serbische Politiker als Bürgermeister bzw. als Parlamentsmitglieder antreffen. Diese haben erkannt, dass sie im Kosovo nicht einfach in einer Parallelwelt leben dürfen, sondern dass sie den Menschen dort zuliebe jetzt in eine Phase eintreten müssen, in der sie den politischen Prozess des souveränen Staates Kosovo aktiv mitgestalten. Das ist der Weg, der in die Zukunft führen wird. Zur Sicherheitslage: Im Norden sehen wir, dass EULEX nicht so durchsetzungsfähig ist, wie wir uns das gewünscht haben. Die Entsendung der kosovarischen Polizei in den Norden war zumindest mit Auslöser der Probleme, die in den letzten Monaten dort entstanden sind. Wir reden manchmal von Parallelstrukturen im Norden des Kosovos. Wenn wir genau hinschauen, stellen wir aber fest, dass es sich dort nicht einfach um Parallelstrukturen, sondern um serbische Strukturen handelt. Natürlich treffen wir dort auch Menschen an, die noch nicht erkannt haben, dass die Bewahrung der kulturellen Identität nicht zwangsläufig damit verbunden ist, dass man den ihrer Meinung nach richtigen Pass hat. Diesen Menschen ist noch nicht klar, dass in Europa der Schutz der kulturellen Identität von der Staatsangehörigkeit unabhängig ist. ({2}) Natürlich geht es im Norden nicht nur um Nationalismus. Allzu viele Menschen mit krimineller Energie haben sich aufgrund des Sonderstatus des Nordens des Kosovos dort sehr gut eingerichtet. Diese Menschen haben überhaupt kein Bedürfnis nach Veränderung. Manche von ihnen zündeln sogar. Die serbische Politik in Belgrad muss endlich begreifen, dass sie diese Strukturen nicht auf Dauer materiell unterfüttern darf, zumal sie in Wirklichkeit nicht den geringsten Einfluss auf diese Strukturen hat. Dies muss in Belgrad endlich erkannt werden. Das Kosovo ist nicht der Hinterhof Europas. Das Kosovo ist vielmehr mitten in Europa. Deshalb stimmen wir dem neuen Antrag der Bundesregierung zu. Diese Aufgabe bleibt auch in Zukunft für uns alle wichtig. Das Kosovo und die Menschen sind uns nicht nur nah, sie gehen uns letztlich auch nahe. Allerdings wollen wir nicht, dass KFOR ein noch größerer Akteur wird. Deshalb können wir dem Antrag der Grünen, in dem viel Richtiges steht, auch nicht zustimmen. Es wäre falsch, KFOR weitere Aufgaben in den Bereichen Grenzkontrolle und Aufbau von Rechtsstaatlichkeit zu geben. Diese Aufgaben müssen die Menschen im Kosovo in zunehmendem Maße selbst erledigen. Wir glauben, dass dieses Mandat auch in Zukunft notwendig sein wird, allerdings mit einer Veränderung. Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung und wir alle in Zukunft bei Problemen im Kosovo immer wieder neu darüber nachdenken, ob wir die richtige Balance gefunden haben. Es geht um die richtige Balance. Auf der einen Seite müssen wir sagen: Ja, KFOR - vor allen Dingen im Bereich der Reserve - dient der Sicherheitsvorsorge. Auf der anderen Seite dürfen wir bei Problemen nicht allzu schnell nach KFOR rufen. Wir müssen deutlicher zum Ausdruck bringen, dass zunächst einmal aus dem Kosovo heraus mehr getan werden muss, um die Probleme selbst zu lösen. Ich weiß, dass das an der einen oder anderen Stelle auch Risiken birgt. Man sollte vielleicht manchmal ein Risiko eingehen und beispielsweise sagen: Dann bleibt die errichtete Straßensperre halt eine Zeit lang bestehen; denn sie schädigt auch diejenigen, die sie aufgebaut haben, und nicht nur die andere Seite. - Dies deutlich zu machen, ist manchmal besser, als gleich nach KFOR zu rufen. Ich fürchte, wenn wir diesen Weg nicht gehen, werden wir Jahr für Jahr ein Mandat in gleichem Umfang, mit gleichem Aufwand, mit den gleichen Aufgaben beschließen müssen. Das kann auf lange Sicht nicht der Weg in die Zukunft sein. Das ist nur für die Übergangszeit der richtige Weg, damit andere im Kosovo die Arbeit zu Ende bringen können.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Menschen im Kosovo wollen in der Mehrheit nichts anderes als die meisten Menschen auf der Welt: eine sichere Zukunft für sich und ihre Kinder. Weil es um diese Menschen geht, ist es richtig, dass wir KFOR wieder mit einem Mandat für ein Jahr versehen. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Peter Beyer für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Der ganze Balkan ist nicht die Knochen eines einzigen preußischen Grenadiers wert.“ Lassen wir uns durch diesen Ausspruch Otto von Bismarcks nicht in die Irre leiten. Es ist nicht so, dass wir uns über die Situation auf dem Balkan keine Gedanken machen müssen - das wäre fatal -; denn die Geschehnisse auf dem westlichen Balkan sind integraler Bestandteil europäischer und damit auch unserer deutschen Geschichte. Wir haben es mehrfach gehört: Seit nunmehr 13 Jahren ist KFOR im Einsatz und sorgt als sogenannte dritte Sicherheitsreihe für Schutz. Deutschland hat sich an dieser Operation von Anfang an beteiligt. Dies ist der längste ununterbrochene Einsatz der Bundeswehr überhaupt. 29 Nationen stellen bei KFOR Truppen. Deutschland ist und bleibt mit rund 1 300 Soldatinnen und Soldaten stärkster Truppensteller im Kosovo. Die deutschen Frauen und Männer im Einsatz haben einen wesentlichen Anteil an der Stabilisierung der gesamten Region. Dafür sollten wir alle ihnen Dank zollen. ({0}) Noch vor einem Jahr hatte ich in der Debatte zur Verlängerung dieses Mandats davon gesprochen, dass wir einen Erfolg verzeichnen können, der sich dadurch ausdrückt, dass die Truppenstärke reduziert werden konnte. Eine weitere Reduzierung der Truppenstärke zum jetzigen Zeitpunkt wäre indes nicht angezeigt. Denn zur Sicherung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Serbien hatte der Kommandeur der NATO-geführten Schutztruppe KFOR erst vor wenigen Wochen die operative Einsatzreserve zur Verstärkung der KFOR-Truppen angefordert, woraufhin 550 plus 150 Soldatinnen und Soldaten in das Kosovo verlegt wurden, nachdem sie erst wenige Wochen zuvor abgezogen worden waren. Diese Situation zeigt sehr deutlich, dass die ethnischen Spannungen gerade im Norden des Kosovos um die geteilte Stadt Mitrovica herum auch viele Jahre nach Beendigung des Krieges noch lange nicht überwunden sind. Zudem kann sich die EU-Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX noch immer nur sehr eingeschränkt bewegen. Serbien betrachtet das Kosovo nach wie vor als eine eigene abtrünnige Provinz. In der Tat leben im Kosovo, insbesondere im Norden des Landes, heute noch circa 120 000 Serben. Völkerrechtlich stellt sich die Situation wie folgt dar: Circa 90 Staaten weltweit haben das Kosovo als einen eigenständigen souveränen Staat anerkannt, dazu gehört auch Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist es unerträglich, dass fünf EU-Mitgliedstaaten aus wenig substanziellen Gründen das Kosovo immer noch nicht als einen souveränen Staat anerkennen. Serbien und Kosovo verdienen eine Perspektive in Europa, in der Europäischen Union, und zwar jeweils als eigenständige souveräne Staaten. Wir werden es aber nicht schaffen, beide Länder an einen Tisch zu bringen und insbesondere die serbische Seite zu ernsthaften Anstrengungen zu bewegen, wenn wir in der EU falsche Signale aussenden. Solange wir es innerhalb der EU nicht schaffen, eine einheitliche Position in Bezug auf den völkerrechtlichen Status des Kosovos zu finden, können wir wohl nicht ernsthaft daran glauben, dass Belgrad EU-Forderungen umsetzt. Wenn man sich zudem vor Augen hält, dass sich in einem Referendum im Januar dieses Jahres nahezu 100 Prozent der im Nordkosovo lebenden Serben gegen eine Eingliederung in den jungen Staat Kosovo ausgesprochen haben, so zeigt dies auch, dass dringend über die punktuelle Verstärkung der Schutztruppe hinaus ein gesamteuropäisches Konzept auf den Tisch muss, das mit den Menschen einen Lösungsweg beschreitet. Die europäische Position darf sich dabei nicht in der Abarbeitung des Kriterienkatalogs für die spätere Mitgliedschaft erschöpfen, sondern die EU muss darüber hinaus einen Plan parat haben. Dies ergibt sich aus der Verantwortung gegenüber Europa, seiner Geschichte und dem Schicksal der Völker. Es ist auch richtig, dass die Bundesregierung, allen voran unsere Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, immer wieder von Belgrad die so wichtige Normalisierung des Verhältnisses zu Pristina eingefordert hat. Bei ihrem letzten Besuch Ende 2011 in Belgrad hat sie erneut eindringlich darauf hingewiesen. Deutschland und Europa können keinen EU-Beitrittskandidaten akzeptieren - sie werden dies auch nicht tun -, der die notwendige Normalisierung zwischen Serbien und Kosovo behindert. ({1}) Die europäischen Partner müssen da aber mitziehen. Viel zu lange schon scheint sich Europa damit abzufinden, dass sich vor unserer Haustür, letztlich mitten in Europa, zwei ethnische Gruppen feindselig gegenüberstehen. Die Lage ist nach den Präsidentschaftswahlen am vergangenen Sonntag nicht einfacher; denn jetzt ist ein Nationalist Präsident geworden. Meine Damen und Herren, die Gespräche zwischen Serbien und Kosovo zur gegenseitigen Annährung müssen endlich auch andere Themen abdecken. Bislang waren sie sehr technisch. Zu einer spürbaren Entspannung der Lage haben sie noch keinen nennenswerten Beitrag geleistet. Zudem wird nach unserer Überzeugung nach wie vor viel zu wenig dafür getan, ausreichende Investitionen in die Infrastruktur des Kosovo zu fördern. Um die Lebensqualität der Menschen dort zu erhöhen, müssen die vorhandenen Defizite im Bildungssektor, bei Schulen und Hochschulen, angegangen werden. Auch die Sicherheit gehört in diese Aufzählung mit hinein. Denn auch das Gefühl von subjektiver Sicherheit und eine gute objektive Sicherheitslage tragen zur Lebensqualität der Bevölkerung entscheidend bei. Wir wollen, dass KFOR keine Dauerpräsenz wird. Wir dürfen uns mit dieser Situation inmitten Europas über 20 Jahre nach der Menschenrechtskatastrophe auf dem Balkan nicht abfinden. Weitere Truppenreduzierungen können wir dann vornehmen, wenn das Ziel der UNResolution 1244, die die völkerrechtliche Grundlage des KFOR-Einsatzes bildet, wieder ein Stück weit näher gerückt ist. Sicherheit ist die Grundlage für die Hoffnung auf eine Zukunft des Kosovo in Europa. Dafür wird KFOR gebraucht. Deswegen stimmt meine Fraktion konstitutiv der Verlängerung des Einsatzes zu. Ich danke Ihnen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Inge Höger hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin am Mittwoch aus Chicago zurückgekommen. ({0}) Dort habe ich an den Protesten gegen den NATO-Gipfel teilgenommen. ({1}) Ich hoffe, Sie haben zur Kenntnis genommen, dass dort 20 000 Menschen gegen die NATO-Kriegspolitik demonstriert haben, darunter sehr viele Veteranen. Das macht Mut. ({2}) Der Einsatz im Kosovo wird wie viele Interventionen der NATO als Menschenrechtsmission dargestellt. In Wirklichkeit geht es um die militärische Absicherung der Machtinteressen von europäischen und nordamerikanischen Eliten. Dazu wird die Linke immer Nein sagen. ({3}) Der KFOR-Einsatz kann nicht losgelöst von der sonstigen Balkan-Politik der sogenannten internationalen Gemeinschaft gesehen werden. Die Menschen vor Ort zweifeln an dieser Politik, und zwar quer durch alle Ethnien. In Pristina hing bis vor kurzem ein Plakat der UN-Mission UNMIK, auf dem sich ein Hund und eine Katze umarmen. Darunter stand der Satz: „Wenn die das können, warum könnt ihr das dann nicht?“ Die Menschen im Kosovo möchten nicht mit Tieren verglichen werden. Ich habe Verständnis dafür, dass sie das als rassistisch empfinden. Man kann den Bundeswehreinsatz auch nicht losgelöst von der Geschichte des Kosovo-Konflikts beurteilen. Seit Jahren zementieren NATO und EU die ethnischen Spaltungen auf dem Balkan, auch im Kosovo. Sie spielen damit - mal gewollt, mal ungewollt - den Nationalisten in die Hände. So haben sie eine Situation geschaffen, die den KFOR-Einsatz nun scheinbar notwendig macht - aber eben nur scheinbar; denn die Spannungen im Kosovo werden ja nicht weniger. Militär schafft keinen Frieden, weder in Mitrovica noch in Srebrenica, dessen Opfer immer wieder als Rechtfertigung für NATO-Kriege herhalten müssen. ({4}) Die Toten würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, dass in ihrem Namen Kriege stattfinden. ({5}) Die KFOR-Mission steht außerdem in engem Zusammenhang mit der EU-Perspektive, die das Kosovo auf Wunsch der Bundesregierung erhalten soll. Die Menschen, mit denen ich in der Region in Kontakt bin, spüren, dass ihre korrupten, nationalistischen Eliten und die Europäische Union zwei Seiten einer Medaille sind. Das wird besonders deutlich, wenn es um die Privatisierung öffentlichen Eigentums geht. Die EU fordert den Ausverkauf staatlicher Unternehmen, und die lokalen Eliten setzen das gerne um. Die Menschen auf dem Balkan, die sich dagegen wehren, haben die Linke stets auf ihrer Seite. ({6}) Gegen Privatisierungen sind wir überall auf der Welt. Momentan ist das Kosovo de facto ein Protektorat der EU. Wenn die EU so bleibt, wie sie ist, dann wird sich bei einer EU-Mitgliedschaft für Pristina nicht viel ändern. Das Beispiel Griechenland zeigt, wie die Troika mit der Peripherie der EU umgeht: Alles soll demokratisch aussehen, aber in Wahrheit bestimmen die EU und der IWF. Sie bestimmen, wie der Staatshaushalt auszusehen hat. Sie machen die Vorgaben für Sozialabbau und Privatisierungen. Aber auch hier gibt es gute Nachrichten: Der Regierungswechsel in Frankreich und die guten Umfragewerte wirklich linker Parteien in Griechenland und in den Niederlanden zeigen, dass ein anderes Europa möglich ist. ({7}) In diesem anderen, solidarischen Europa muss natürlich der gesamte Balkan - inklusive des Kosovo - seinen Platz haben. Die jetzige Balkanpolitik und die KFORMission führen in eine Sackgasse. In der Begründung Ihres Antrags ist immer wieder von Stabilität die Rede. Das Einzige, was die Bundesregierung dort stabilisiert, ist die Krise. Damit muss Schluss sein. Deshalb sagt die Linke Nein zur Bundeswehr im Kosovo. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Höger, ich weiß nicht, die wievielte Debatte es ist, die wir miteinander führen. Eine Sache habe ich noch nicht verstanden: Was ist Ihre Lösung, wenn die Gefahr besteht, dass Konflikte politische Prozesse torpedieren? Bisher habe ich dazu nichts gehört. In der ersten Lesung hat ein Redner der Linken, der Kollege Nord, zugegeben, dass es im Norden ohne die KFOR zu einem bewaffneten Konflikt gekommen wäre. Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass KFOR nicht gebraucht wird, ist schlicht zynisch. ({0}) Es geht Ihnen überhaupt nicht um eine solidarische Vision für Europa. Sie knicken vor den Nationalisten ein. Das ist nicht links, das ist schlicht zynisch. Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass wir Debatten zum Thema Europa führen. Das ist gut so. Wir führen Debatten über den Euro und über Griechenland, und es ist wichtig, dass wir hier und heute über einen der letzten nicht gelösten großen Konflikte mitten in Europa sprechen. Der Sinn von KFOR kann nur sein, dass die Politik alles daransetzt, damit diese Mission überflüssig wird. Dafür muss KFOR ein Zeitfenster schaffen. Das geschieht seit über zehn Jahren, und das ist gut. Unser Dank geht nicht nur an das Reservebataillon, sondern auch an die Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien, die dieser Belastung ausgesetzt sind. ({1}) Trotzdem muss man sehen: Das, was wir immer wieder als Stabilität bezeichnen, wird von vielen Menschen vor Ort auch als Stagnation verstanden. Der Prozess geht viel zu langsam voran. In Serbien gab es jetzt Wahlen. Es ist richtig gesagt worden: Die Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahl hatten nichts mit dem Kosovo zu tun. Sie hatten in erster Linie mit der wirtschaftlichen Lage in Serbien selbst zu tun. Wir sollten uns trotzdem nicht entmutigen lassen. Der Weg ist steinig, aber gangbar. Wichtig ist nun, darauf zu drängen, dass der neue Präsident Serbiens Realismus walten lässt. In diesem Zusammenhang sollte sich die EU überlegen, welche Lehre man daraus zieht, dass man Boris Tadic seit Jahren offensichtlich unterstützt hat, und ob es nicht andere, bessere und dezentere Wege gegeben hätte. Die zentrale Frage ist, wie lange die Menschen in Serbien angesichts der ökonomischen Lage dort akzeptieren, dass quasi aus Folkloregründen 1 Milliarde Euro pro Jahr in den Norden des Kosovo fließt und dass das Einkommensniveau im Norden des Kosovo mittlerweile fünf- bis sechsmal so hoch ist wie in Serbien. Auf lange Sicht wird man sich in Serbien fragen, ob dies so tragbar ist. Wichtig ist deshalb, dass jetzt politische Initiativen angestoßen werden, zum Beispiel bei der Administrative Boundary Line. Das ist eine zentrale Frage, die zu lösen ist, wenn es dazu kommen soll, dass es ein funktionierendes Grenzmanagement gibt, das von den Kosovaren selbst geleistet werden kann. Das ist keine militärische Frage, das ist eine ausschließlich von der Politik zu lösende Frage. Ein Beispiel dafür ist die Frage der Überflüge über das Kosovo. Das ist etwas, das die Politik lösen muss und das alles andere als unwichtig ist - auch für das Einkommen des Staates Kosovo. Wichtig ist auch, dass die Europäische Union erkennt, dass sie nicht mit einer so starken Stimme sprechen kann, wie sie könnte, solange es nicht 27, sondern 22 EU-Staaten sind, die in dieser Sache tatsächlich eine gemeinsame Sprache sprechen. Die EU schwächt sich selbst, und es wäre wichtig, dass auf europäischer Ebene immer wieder versucht wird, zu einer gemeinsamen Linie zu kommen. Damit würden wir eine klarere Sprache nicht nur gegenüber Serbien, sondern auch gegenüber dem Kosovo sprechen. ({2}) Wichtig ist auch, dass die EU-Perspektive für alle Länder des Westbalkans offen bleibt. Natürlich muss es Konditionen geben, und natürlich muss das Thema Kosovo auch bei den Besprechungen und Verhandlungen mit Serbien eine Rolle spielen. Die Perspektive muss aber offen bleiben. Genauso muss man aber auch darüber nachdenken, wie lange es noch haltbar ist, dass das Kosovo als einziges Land in der Region keinerlei Erleichterungen bei der Vergabe von Visa erhält. ({3}) Die diplomatischen Zeitfenster schafft das Militär. Das Militär ist dafür derzeit notwendig. Meine Fraktion wird diesem Mandat mit sehr großer Mehrheit zustimmen. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Florian Hahn hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Auch nach 13 Jahren ist KFOR ein wesentlicher Bestandteil der Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft, den Balkan zu stabilisieren und langfristig in Europa zu integrieren. KFOR ist und bleibt, wie der vergangene Mandatszeitraum vor Augen führte, eine wichtige Operation, die für die Sicherheit des Kosovo derzeit noch unerlässlich ist. Daher stimmen wir heute für die Fortsetzung der Beteiligung deutscher Soldatinnen und Soldaten an KFOR. KFOR ist eine erfolgreiche Operation, die den Weg für wichtige Fortschritte im politischen Bereich hat ebnen können. Der von der EU vermittelte bilaterale Dialog zwischen Serben und Kosovaren wäre ohne die durch KFOR gewährleisteten stabilen Rahmenbedingungen ebenso wenig denkbar gewesen wie die Verleihung des Status eines Beitrittskandidaten an Serbien im März dieses Jahres; denn dank KFOR konnte die Sicherheitslage in den letzten Jahren kontinuierlich stabilisiert werden. Im Großen und Ganzen kann man vorsichtig wieder einen positiven Trend ausmachen. Dieser spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass die Wahlen erfreulicherweise ruhig verlaufen sind. Damit haben diese Wahlen dazu beigetragen, die Normalisierung der serbisch-kosovarischen Beziehungen weiter voranzutreiben. Es bleibt nun im Sinne des europafreundlichen Kurses, den Serbien unter Tadic eingeschlagen hatte, zu hoffen, dass dieser auch unter dem neuen Präsidenten Nicolic fortgesetzt wird. Jüngste Äußerungen von Nicolic hierzu klingen vielversprechend. Wir werden genau beobachten, ob den Worten auch Taten folgen werden. Für die Gewährleistung friedlicher Wahlen gebührt mein Dank der OSZE, die die Wahlen bereits im Vorfeld begleitet hat, aber auch den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die für KFOR im Einsatz sind, um die Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen politischen Prozess zu schaffen. Ich wünsche ihnen weiterhin viel Erfolg und Gottes Segen bei ihrem Einsatz. ({0}) Deutschland ist derzeit mit 1 222 Soldaten der größte Truppensteller der KFOR und stellt mit Generalmajor Drews derzeit zum dritten Mal und ab September 2012 zum vierten Mal in Folge den KFOR-Kommandeur. Ihrem besonnenen Tun und der verantwortungsvollen Wahrnehmung der Führungsaufgaben durch Generalmajor Drews und seine Vorgänger verdanken wir nicht nur einen großen Teil des Erfolgs der KFOR, sondern auch unsere angesehene Reputation unter den NATO-Partnern für unseren Einsatz dort. Ebenso gebührt besonderer Dank den 550 deutschen Soldaten des zweiten Reservebataillons, die, nachdem sie gerade erst aus Afghanistan zurückgekommen waren, in das Kosovo aufgebrochen sind, um dort einer Eskalation der Lage vorzubeugen. Dies ist eine enorme Belastung, gar keine Frage; das wurde schon gesagt. Ursache war eine Fehlplanung; dies ist aber eingeräumt worden. Es ist zugesagt worden, dass man aus diesem Fehler lernen möchte. Der Generalinspekteur wird in Bälde hierzu persönlich mit den betroffenen Soldaten sprechen. Das zeigt auch, dass ein Bewusstsein für diese doppelte Belastung und vor allem auch Respekt für die vorbildliche Einsatzbereitschaft dieser Soldaten vorhanden sind. ({1}) Die Tatsache, dass das deutsch-österreichische Reservebataillon innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal aktiviert werden musste, zeigt allerdings auch, dass eine Mandatsverlängerung für KFOR auf dem derzeitigen Niveau von 1 850 Soldatinnen und Soldaten weiterhin nötig ist. Es muss bei Bedarf kurzfristig eine Erweiterung möglich sein, wenn die Sicherheitslage dies erfordert; denn trotz der allgemein stabilen Lage bleibt das Eskalationspotenzial gerade im serbisch dominierten Norden des Landes groß. Daher ist die Präsenz der KFOR auch im kommenden Jahr erforderlich; die Zahl der Soldaten kann nicht, wie ursprünglich geplant, weiter reduziert werden. Je nach weiterer Entwicklung der Lage wollen wir natürlich die Anzahl in Zukunft reduzieren. Wie das aussehen wird, kann man aber konkret nicht absehen. Nur wenn EU und NATO gemeinsam mit der internationalen Staatengemeinschaft an einem Strang ziehen, rückt die Perspektive eines europäischen Kosovo in greifbare Nähe. Diese wollen wir weiterhin aktiv unterstützen und sollten beispielsweise unsere Bemühungen verstärken, bei den fünf fehlenden europäischen Staaten für eine Anerkennung des Kosovo zu werben. Die Zukunft des Landes - davon hat mich mein Besuch im letzten Dezember endgültig überzeugt - liegt in Europa. Ich bitte Sie, zuzustimmen. Herzlichen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/9768 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 17/9505 anzunehmen. Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Hier vorne an der Urne fehlt noch ein Schriftführer der Opposition. Da muss sich jemand spontan bereit erklären. - Gut. Sind jetzt alle Urnen besetzt? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung. Sind Kolleginnen und Kollegen anwesend, die eine Stimmkarte haben und sie noch nicht einwerfen konnten und somit ihre Stimme noch nicht abgegeben haben? Dort oben gibt es noch einen Kollegen. Es gibt noch sportliche Aktionen. Dann warten wir noch einen Moment. Das gibt mir Gelegenheit, eine Gruppe junger Schweizer Nationalrätinnen und Nationalräte herzlich zu begrüßen. Schön, dass Sie da sind. ({0}) Wir machen extra eine namentliche Abstimmung, damit Sie bei uns etwas Besonderes erleben. Dann haben jetzt offensichtlich alle ihre Stimmkarte abgegeben. - Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später be- kannt gegeben.1) Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9769. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Alle anderen haben dagegen gestimmt. Jetzt würde ich gerne den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen. ({1}) - Diese Formulierung deswegen, weil ich den Eindruck habe, noch nicht alle in diesem Saal sind bereit, den Auf- ruf des nächsten Tagesordnungspunktes zu würdigen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 31 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Kauder, Dr. Frank-Walter Steinmeier, Gerda Hasselfeldt, Rainer Brüderle, Dr. Gregor Gysi, Renate Künast, Jürgen Trittin sowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz - Drucksache 17/9030 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2}) - Drucksache 17/9774 - 1) Ergebnis Seite 21684 A Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Berichterstattung:- Abgeordnete Jens Spahn- Dr. Carola Reimann- Gabriele Molitor- Dr. Martina Bunge- b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes - Drucksache 17/7376 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3}) - Drucksache 17/9773 Berichterstattung:Abgeordnete Stefanie VogelsangDr. Marlies VolkmerGabriele MolitorDr. Martina BungeDr. Harald Terpe Zu dem erstgenannten Gesetzentwurf liegen zwei Änderungsanträge vor: ein Änderungsantrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Wolfgang Nešković, Matthias Birkwald und weiterer Abgeordneter sowie ein Änderungsantrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender und weiterer Abgeordneter. Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen weiterhin ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, eineinhalb Stunden zu debattieren. Die Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer haben sich darauf verständigt, dass die Reden der Kolleginnen und Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt werden kann, zu Protokoll gegeben werden können. Sind Sie mit dieser Vereinbarung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. Ich gebe das Wort dem Kollegen Volker Kauder. ({4})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach langen und intensiven Beratungen können wir heute ein Gesetzgebungsvorhaben zum Abschluss bringen, auf das viele Menschen in unserem Land warten. Es sind diejenigen, die auf ein Organ warten, das ihnen das Leben retten kann. Das geltende Transplantationsgesetz hat die - zu diesem Schluss kommen wir, wenn wir uns die Ergebnisse anschauen - damals in dieses Gesetz gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen können. Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Die entscheidende Ursache ist - so glauben Frank-Walter Steinmeier und ich, die dieses Thema vorangetrieben haben -, dass wir nicht häufig und intensiv genug auf die Menschen zugegangen sind, um sie aufzufordern und zu motivieren, ihre Bereitschaft zu erklären, Organe zu spenden. Es war eine schwierige Abstimmung. Ich sage allen Kolleginnen und Kollegen, die diese Arbeit geleistet und die vorbereitenden Gespräche geführt haben, herzlichen Dank. So kann es heute möglich werden, dass wir im Deutschen Bundestag eine breite und große Mehrheit für dieses neue Gesetz bekommen. Diese breite und große Mehrheit ist ein erster wichtiger Schritt, um den Menschen zu zeigen: Wir nehmen ihre Sorgen ernst. Aber wir haben auch eine Lösung gefunden, wie wir denen helfen können, die dringend auf Hilfe angewiesen sind. ({0}) Wir haben neben einer verbesserten Struktur in unseren Krankenhäusern - ein ganz entscheidender Punkt die Krankenkassen bei den offenen Fragen der Finanzierung mit ins Boot geholt. Wir haben unsere Haushälter dafür gewinnen können, die notwendigen Mittel für die Information, die gegeben werden muss, zuzusagen und zur Verfügung zu stellen. So werden wir nun regelmäßig an die Menschen herantreten und sie bitten und auffordern, sich zu überlegen, ob sie nicht doch Organspender werden wollen. Wir haben uns für diese Entscheidungslösung entschieden, weil wir in solch hochsensiblen Fragen gerade keinen Druck ausüben wollen, weder direkt noch indirekt. Es gibt kein Recht darauf, von jemand anderem ein Organ zu bekommen. Wir wollten auch keine - wie in anderen Ländern üblich - Widerspruchslösung, wonach die Menschen widersprechen müssen, wenn sie etwas nicht wollen. Wir waren uns in allen Fraktionen darüber einig: Wir wollen die Menschen motivieren. Das heißt, wir wollen sie nicht zum Widerspruch, sondern zum Jasagen motivieren. Dafür sollen nun die Voraussetzungen mit diesem Gesetz geschaffen werden. ({1}) Heute Morgen ist in den Zeitungen zu lesen, dass angeblich ein großer Teil der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen dieses Gesetz oder mit Enthaltung stimmen will. Dies ist nicht der Fall. Es gibt einen Punkt im zweiten Teil des Gesetzgebungsvorhabens, in dem es um die Organisation geht - beispielsweise die DSO - und zu dem es noch Fragen gibt; dazu wird der Bundesgesundheitsminister später sicherlich noch etwas sagen. Es wurden zwar Verbesserungen erreicht. Aber richtig ist auch, dass wir mehr Transparenz brauchen. Wir wollen in verstärktem Maße dafür sorgen, dass offene Fragen geklärt werden. Ich freue mich sehr darüber, dass dieser Punkt, in dem wir nicht ganz einer Meinung sind, Frau Kollegin Scharfenberg, nicht dazu führt, dass die große Botschaft geschmälert wird: Jawohl, wir machen am heutigen Tag einen großen, wichtigen Schritt und kommen in der Organspende auf freiwilliger Ebene motivierend voran. Das ist eine gute Botschaft für viele betroffene, kranke Menschen in unserem Land. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf Grundlage der Resolution 1244 bekannt - es geht um die Drucksachen 17/9505 und 17/9768 -: Es wurden 564 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben gestimmt 486 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein 70. 8 haben sich enthalten. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 564; davon ja: 486 nein: 70 enthalten: 8 Ja CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Peter Aumer Norbert Barthle Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({0}) Manfred Behrens ({1}) Dr. Christoph Bergner Steffen Bilger Clemens Binninger Peter Bleser Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({2}) Wolfgang Bosbach Norbert Brackmann Klaus Brähmig Michael Brand Dr. Reinhard Brandl Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Helge Braun Heike Brehmer Ralph Brinkhaus Cajus Caesar Gitta Connemann Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Dr. Thomas Feist Enak Ferlemann Ingrid Fischbach Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Michael Frieser Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Alexander Funk Ingo Gädechens Dr. Thomas Gebhart Alois Gerig Eberhard Gienger Michael Glos Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Olav Gutting Dr. Stephan Harbarth Jürgen Hardt Gerda Hasselfeldt Dr. Matthias Heider Helmut Heiderich Mechthild Heil Ursula Heinen-Esser Frank Heinrich Michael Hennrich Jürgen Herrmann Ansgar Heveling Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Karl Holmeier Franz-Josef Holzenkamp Joachim Hörster Anette Hübinger Thomas Jarzombek Dieter Jasper Dr. Franz Josef Jung Bartholomäus Kalb Hans-Werner Kammer Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({7}) Dr. Stefan Kaufmann Roderich Kiesewetter Eckart von Klaeden Ewa Klamt Volkmar Klein Jürgen Klimke Axel Knoerig Manfred Kolbe Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Rüdiger Kruse Bettina Kudla Dr. Hermann Kues Günter Lach Dr. Norbert Lammert Katharina Landgraf Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Dr. Ursula von der Leyen Matthias Lietz Dr. Carsten Linnemann Patricia Lips Daniela Ludwig Dr. Michael Luther Karin Maag Dr. Thomas de Maizière Hans-Georg von der Marwitz Andreas Mattfeldt Stephan Mayer ({8}) Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Mathias Middelberg Philipp Mißfelder Dietrich Monstadt Dr. Gerd Müller Stefan Müller ({9}) Dr. Philipp Murmann Bernd Neumann ({10}) Michaela Noll Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Dr. Michael Paul Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Eckhard Pols Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Lothar Riebsamen Josef Rief Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Erwin Rüddel Albert Rupprecht ({11}) Anita Schäfer ({12}) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Tankred Schipanski Georg Schirmbeck Christian Schmidt ({13}) Patrick Schnieder Nadine Schön ({14}) Dr. Kristina Schröder Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Armin Schuster ({15}) Detlef Seif Johannes Selle Reinhold Sendker Bernd Siebert Thomas Silberhorn Johannes Singhammer Carola Stauche Dr. Frank Steffel Christian Freiherr von Stetten Dieter Stier Gero Storjohann Max Straubinger Karin Strenz Lena Strothmann Michael Stübgen Dr. Peter Tauber Antje Tillmann Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Vogel ({16}) Andrea Astrid Voßhoff Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Dr. Johann Wadephul Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg ({17}) Peter Weiß ({18}) Sabine Weiss ({19}) Ingo Wellenreuther Peter Wichtel Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar G. Wöhrl Wolfgang Zöller Willi Zylajew SPD Ingrid Arndt-Brauer Heinz-Joachim Barchmann Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Bärbel Bas Lothar Binding ({20}) Gerd Bollmann Klaus Brandner Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Petra Crone Dr. Peter Danckert Elvira Drobinski-Weiß Sebastian Edathy Ingo Egloff Siegmund Ehrmann Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Gabriele Fograscher Dagmar Freitag Martin Gerster Iris Gleicke Günter Gloser Ulrike Gottschalck Angelika Graf ({21}) Kerstin Griese Michael Groß Wolfgang Gunkel Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Michael Hartmann ({22}) Hubertus Heil ({23}) Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Frank Hofmann ({24}) Christel Humme Josip Juratovic Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Lars Klingbeil Hans-Ulrich Klose Dr. Bärbel Kofler Daniela Kolbe ({25}) Fritz Rudolf Körper Anette Kramme Angelika Krüger-Leißner Ute Kumpf Christine Lambrecht Christian Lange ({26}) Steffen-Claudio Lemme Burkhard Lischka Gabriele Lösekrug-Möller Kirsten Lühmann Caren Marks Katja Mast Hilde Mattheis Petra Merkel ({27}) Ullrich Meßmer Dr. Matthias Miersch Franz Müntefering Andrea Nahles Manfred Nink Thomas Oppermann Holger Ortel Aydan Özoğuz Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Mechthild Rawert Stefan Rebmann Gerold Reichenbach René Röspel Karin Roth ({28}) Michael Roth ({29}) Axel Schäfer ({30}) Bernd Scheelen Werner Schieder ({31}) Carsten Schneider ({32}) Ottmar Schreiner Swen Schulz ({33}) Ewald Schurer Frank Schwabe Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Carsten Sieling Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Wolfgang Tiefensee Ute Vogt Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Jens Ackermann Christine AschenbergDugnus Daniel Bahr ({34}) Florian Bernschneider Sebastian Blumenthal Claudia Bögel Nicole Bracht-Bendt Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Marco Buschmann Sylvia Canel Helga Daub Reiner Deutschmann Bijan Djir-Sarai Mechthild Dyckmans Rainer Erdel Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Michael Goldmann Heinz Golombeck Miriam Gruß Joachim Günther ({35}) Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Peter Haustein Manuel Höferlin Birgit Homburger Heiner Kamp Dr. Lutz Knopek Pascal Kober Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Sebastian Körber Holger Krestel Patrick Kurth ({36}) Heinz Lanfermann Sibylle Laurischk Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Lars Lindemann Christian Lindner Dr. Martin Lindner ({37}) Michael Link ({38}) Dr. Erwin Lotter Oliver Luksic Horst Meierhofer Patrick Meinhardt Gabriele Molitor Jan Mücke Petra Müller ({39}) Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Martin Neumann ({40}) Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({41}) Dr. Christiane RatjenDamerau Jörg von Polheim Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger Björn Sänger Frank Schäffler Jimmy Schulz Marina Schuster Dr. Erik Schweickert Werner Simmling Judith Skudelny Dr. Hermann Otto Solms Joachim Spatz Dr. Max Stadler Torsten Staffeldt Stephan Thomae Manfred Todtenhausen Florian Toncar Serkan Tören Johannes Vogel ({42}) Dr. Daniel Volk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Dr. Volker Wissing Hartfrid Wolff ({43}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({44}) Cornelia Behm Birgitt Bender Agnes Brugger Viola von Cramon-Taubadel Ekin Deligöz Harald Ebner Dr. Thomas Gambke Britta Haßelmann Bettina Herlitzius Priska Hinz ({45}) Dr. Anton Hofreiter Bärbel Höhn Ingrid Hönlinger Thilo Hoppe Uwe Kekeritz Katja Keul Memet Kilic Sven-Christian Kindler Maria Klein-Schmeink Ute Koczy Tom Koenigs Agnes Krumwiede Renate Künast Markus Kurth Undine Kurth ({46}) Dr. Tobias Lindner Nicole Maisch Jerzy Montag Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Kerstin Müller ({47}) Omid Nouripour Friedrich Ostendorff Dr. Hermann E. Ott Brigitte Pothmer Tabea Rößner Claudia Roth ({48}) Krista Sager Manuel Sarrazin Dr. Gerhard Schick Dr. Frithjof Schmidt Ulrich Schneider Dorothea Steiner Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Jürgen Trittin Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Dr. Valerie Wilms Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Dr. Peter Gauweiler FDP Dr. h. c. Jürgen Koppelin DIE LINKE Jan van Aken Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Steffen Bockhahn Eva Bulling-Schröter Roland Claus Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Klaus Ernst Wolfgang Gehrcke Diana Golze Annette Groth Heike Hänsel Dr. Rosemarie Hein Dr. Barbara Höll Andrej Hunko Ulla Jelpke Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Kipping Harald Koch Jan Korte Jutta Krellmann Katrin Kunert Caren Lay Sabine Leidig Ralph Lenkert Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Thomas Lutze Dorothée Menzner Cornelia Möhring Niema Movassat Wolfgang Nešković Thomas Nord Jens Petermann Richard Pitterle Ingrid Remmers Paul Schäfer ({49}) Michael Schlecht Kathrin Senger-Schäfer Raju Sharma Dr. Petra Sitte Kersten Steinke Sabine Stüber Dr. Kirsten Tackmann Frank Tempel Dr. Axel Troost Johanna Voß Halina Wawzyniak Harald Weinberg Katrin Werner Jörn Wunderlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hans-Christian Ströbele Enthalten SPD Klaus Barthel Petra Hinz ({50}) Waltraud Wolff ({51}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sylvia Kotting-Uhl Monika Lazar Beate Müller-Gemmeke Lisa Paus Wir kommen zurück zu unserem Tagesordnungspunkt. Ich gebe das Wort dem Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier. ({52})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn heute die beiden vorgelegten Gesetzentwürfe hier im Hohen Haus eine große und breite Mehrheit finden, dann ist das in erster Linie natürlich eine Zustimmung zur Organspende, aber auch ein eindeutiges Ja dieses Deutschen Bundestages zu Mitmenschlichkeit und Solidarität. Daran, dass das möglich geworden ist, haben ganz viele Anteil, diejenigen, die hier debattiert haben, diejenigen, die die Gesetzentwürfe vorbereitet haben, und diejenigen, die von außen geholfen und geschoben haben, dass es zu Gesetzentwürfen und zu Abstimmungen kommt. Deshalb zuvörderst mein ganz herzliches Dankeschön, dass das möglich geworden ist. ({0}) Worum es geht - Kollege Kauder hat es eben gesagt -, ist im Grunde genommen nicht mehr und nicht weniger, als Hilfe zu organisieren für Todkranke, die ohne eine Organspende nicht überleben können. Da können natürlich - das wissen Sie alle; da sind unsere Möglichkeiten beschränkt - Gesetzgebung und Recht immer nur ein Beitrag sein. Den größeren Beitrag liefern ganz ohne Zweifel Wissenschaft, Medizin und Pflege in den Krankenhäusern. Aber Gesetzgebung und Recht können klären, Zweifel ausräumen und Richtung geben. Ich glaube, dabei sind wir mit diesen beiden Gesetzentwürfen jetzt ein großes Stück weitergekommen. Dass es in der Vergangenheit Probleme gab, wird in allen Fraktionen so gesehen. Vor 15 Jahren, im Juni 1997, hat der Deutsche Bundestag - auch damals gab es eine intensive Debatte in der Öffentlichkeit und hier im Bundestag - das Transplantationsgesetz beschlossen, übrigens auch damals in einer fraktionsübergreifenden Initiative. Das war ein erster Schritt, um Rechtssicherheit zu schaffen. Aber wir wissen, dass das Gesetz, das damals auf den Weg gebracht worden ist, nicht alle Erwartungen erfüllt hat. Wenn wir so viel Leid wie möglich lindern möchten, wenn wir so vielen Menschen wie möglich helfen wollen, auch mit neuen Organen, dann müssen wir nachbessern, und dazu bieten die beiden Gesetzentwürfe eine Grundlage. Eine konkrete Verbesserung, über die wir vielleicht in der Öffentlichkeit nicht so sehr gesprochen haben, aber die ich für ganz entscheidend halte, ist zum Beispiel die verpflichtende Bestellung von Transplantationsbeauftragten in den Krankenhäusern, die die Abläufe optimieren. Das ist ganz wichtig. ({1}) Eine zweite ganz wichtige Verbesserung, über die in der Öffentlichkeit auch weniger bekannt ist, ist die Verbesserung der Situation der Lebendspender. Ich habe in den letzten Monaten und anderthalb Jahren viele Briefe mit teilweise haarsträubenden Geschichten erhalten, wie Lebendspender entweder von ihren Arbeitgebern oder von ihren Krankenkassen im Regen stehen gelassen wurden. Dass das jetzt bereinigt wird und hoffentlich in den allermeisten Fällen ein Ende findet, dazu leisten die Gesetzentwürfe einen guten Beitrag. Auch dafür Dankeschön. ({2}) Ein weiterer Punkt ist - darüber haben wir mehr geredet, auch in der Öffentlichkeit - unsere Suche danach, wie wir die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland erhöhen können. Eigentlich ist die Bereitschaft - das haben wir uns gegenseitig oft genug versichert gar nicht das entscheidende Problem. Wenn gefragt wird, dann sind die Menschen prinzipiell bereit, Organe zur Verfügung zu stellen. Es hapert immer dann, wenn es konkret wird, wenn die Menschen losgehen und sich einen Organspendeausweis besorgen müssen, wenn sie diesen ausfüllen und möglichst so bereithalten müssen, dass man ihn auch wiederfindet. Genau da setzt die Idee an, die wir in dem Gesetzgebungsvorhaben verfolgt haben, nämlich die Idee der Entscheidungslösung: Es sollen sich auf Grundlage dieses Gesetzes mehr Menschen vor dem eigenen Tod entscheiden, ob sie nach ihrem Tod Organspender sein möchten oder nicht. Wir wollen - das habe ich einmal Herrn Kollegen Kauder in einer der Debatten gesagt - den Menschen tatsächlich - das darf man auch nicht bestreiten - etwas mehr auf die Pelle rücken, indem wir fragen und nachfragen. Das leisten viele Initiativen schon heute. Sie machen eine tolle Aufklärungsarbeit, werben für die Organspende. Mit dem vorliegenden Gruppenantrag, den Sie alle gesehen und diskutiert haben, nehmen jetzt wir, der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, unseren Teil der Verantwortung wahr. Wir sagen damit klipp und klar: Es ist auch unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Menschen sich mit der Frage der Organspende tatsächlich auseinandersetzen. Was dieser Gesetzentwurf anbietet, was wir darin verankert haben, das ist zunächst einmal eine Art zusätzliche Serviceleistung. Krankenkassen werden sich darum kümmern, dass die Organspendeausweise zu den Menschen kommen. Wenn die Menschen das wünschen, werden die Krankenkassen sogar deren Entscheidung dokumentieren. Das heißt, dass man sich als Einzelner darum nicht mehr kümmern muss. Bevor die Debatte hier wieder losgeht: Das ist das Angebot einer Serviceleistung. Niemand wird verpflichtet und niemand wird gezwungen, seine Entscheidung durch die Krankenkasse dokumentieren zu lassen. Wir schaffen eine Möglichkeit. Mindestens das ist aus meiner Sicht dringend notwendig. ({3}) Ich finde, manche Debatte über die Frage, ob der Staat den Menschen eigentlich bedrängen darf, ob er ihn zu einer Entscheidung drängen darf - solche Debatten sind in der Vergangenheit geführt worden und werden vielleicht auch in der Zukunft noch geführt werden -, geht ein bisschen an der Sache vorbei. So einfach dürfen wir uns diese Entscheidung eben nicht machen. Im Kern geht es darum - das ist für den Gesetzgeber doch nichts Ungewöhnliches -, zwischen zwei richtigen Interessensgesichtspunkten abzuwägen. Das eine ist der Interessensgesichtspunkt, vom Staat möglichst in Ruhe gelassen zu werden, und das andere ist der Interessensgesichtspunkt von Todkranken, die ohne ein Organ nicht überleben können. In dieser Abwägung sagen wir als Gesetzgeber, der diese Gesetzentwürfe vorlegt: Es gibt kein Recht auf Gleichgültigkeit. Es gibt auch kein unverbrüchliches Recht, im Hinblick auf Fragen durch den Gesetzgeber bzw. durch öffentliche Einrichtungen in Ruhe gelassen zu werden. Wir halten die Frage, ob jemand bereit ist, Organe zu spenden, und die Aufgabe, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, für zumutbar. Deshalb haben wir als Gesetzgeber in diese Richtung abgewogen. ({4}) Zum Schluss. Es geht nicht darum, dass wir alle Menschen zu Organspendern machen wollen, sondern es geht darum, dass wir Menschen auffordern, selbst Überlegungen anzustellen, sich selbst eine Position zu formulieren. Das ist hilfreich - das kann ich Ihnen versichern -, nicht nur für uns alle selbst, sondern auch, um bei einem plötzlichen Todesfall die Beantwortung der Frage nach einem möglichen Spendewillen des Verstorbenen nicht den nahen Angehörigen zu überlassen. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist eine Frage der Verantwortung. Die Entscheidung über das Maß der Verantwortung, das wir zu tragen bereit sind, ist eine Frage, die ins Leben gehört und nicht über den Tod hinausgeschoben werden darf. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Bundesminister Daniel Bahr. ({0})

Daniel Bahr (Minister:in)

Politiker ID: 11003495

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir an Organspenden denken, dann denken wir an die vielen Einzelschicksale und die Geschichten, die dahinterstehen. Eine Geschichte ist die von Jens Bossers, den ich gestern Abend kennenlernen durfte, als er einen Preis für sein Engagement erhalten hat. Er war noch klein - er kann sich daran nicht erinnern -, als er den Kampf seines Lebens bestand. Drei Wochen nach seiner Geburt wird ein schwerer Herzfehler festgestellt; er besitzt nur eine Herzkammer. Jens Bossers musste vier sehr schwere Herzoperationen über sich ergehen lassen. Es gab immer wieder neue Komplikationen: einen Schlaganfall, Hirnhautentzündung, Lungenentzündung und Herzversagen. Jens hat sich immer wieder in das Leben zurückgekämpft; doch mit fünf Jahren brauchte er ein neues Herz. Nach Monaten des Wartens konnte ihm endlich ein Spenderorgan eingepflanzt werden. Jens Bossers engagiert sich seitdem ganz besonders, um dafür zu werben, dass sich mehr Menschen bereit erklären, einen Organspendeausweis auszufüllen. Das verweist auf eine der vielen Initiativen, mit denen bürgerschaftliches Engagement gezeigt wird; davon hat auch schon Herr Steinmeier gesprochen. Sie reichen jedoch nicht, um mehr Menschen zu überzeugen, einen Organspendeausweis auszufüllen. Nirgends liegen das Leben und der Tod so nahe beieinander wie bei diesem Thema; denn der Tod des einen Menschen bedeutet die Hoffnung auf ein neues Leben für denjenigen, der auf einer Warteliste ist. Diese Verknüpfung löst bei den Menschen aber auch Ängste aus. Deswegen ist es so, dass viele Menschen sich zwar darauf verlassen wollen, dass dann, wenn sie in der Situation sind, genügend Spenderorgane zur Verfügung stehen, dass aber leider noch zu wenige sich einen Ruck geben und selbst einen Ausweis ausfüllen. Nur etwa 25 Prozent der Deutschen haben bisher einen solchen Ausweis. Weil die Organspende ein Akt der Nächstenliebe ist, auf den es keinen gesellschaftlichen oder moralischen Anspruch gibt - zu der Organspende muss man sich aktiv entscheiden -, sagen wir den Bürgerinnen und Bürgern nur klipp und klar: Wenn mehr mitmachen, müssen weniger Menschen warten. Deswegen ist es ein starkes Signal, dass der Bundestag über die Parteigrenzen hinweg gemeinsam eine Entscheidungslösung vorlegt und die Menschen in Deutschland dazu aufruft: Beschäftigt euch mit der Organspende, mindestens einmal im Leben! Gebt euch einen Ruck! Entscheidet euch, am besten für die Organspende! Wir akzeptieren, wenn ihr euch zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht entscheiden könnt. Aber wir werden nicht lockerlassen und werden regelmäßig immer wieder informieren. Das sind wir den Menschen schuldig, die auf einer Warteliste sind und dringend auf ein Spenderorgan warten. ({0}) Wir sagen den Menschen auch: Jeder Organspender ist ein Lebensretter. Jeder, der sich zu Lebzeiten für oder eben auch gegen die Organspende entscheidet, nimmt diese Entscheidung den Angehörigen ab, die sonst in einer ganz schwierigen Situation im Krankenhaus gefragt werden: Wie sieht es aus? Können wir bei Ihrem Angehörigen mit einer Organspende rechnen? Dürfen wir die dazu notwendigen Maßnahmen ergreifen? - In einer so schwierigen Situation als Angehöriger die Entscheidung zu treffen, wenn man nicht vorher, zu Lebzeiten sich entschieden hat, ist - das wissen wir - schwer. Es ist gut, wenn die Menschen sich schon zu Lebzeiten entschieden haben, weil damit Klarheit auch für die Angehörigen in schwierigen Situationen besteht. Das ist die eine Seite der beiden Gesetzentwürfe, nämlich dass wir sehr viel dafür tun wollen, dass Menschen besser informiert werden, aufgeklärt werden, eben auch dadurch, dass die Krankenkassen und Krankenversicherungen erstmals alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland anschreiben und einen Organspendeausweis zur Verfügung stellen, damit man den einmal in der Hand hat, damit man ihn am besten gleich ausfüllen kann. Das hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Das ist das, was die Entscheidungslösung impliziert. Aber nicht nur die Krankenversicherungen schreiben ihre Versicherten regelmäßig an. In den Behörden werden Informationen ausgelegt. Wir werden eine große Öffentlichkeitskampagne starten, um die Menschen besser aufzuklären; denn viele haben noch offene Fragen. Diese Fragen können beantwortet werden. Dazu gehört, dass wir auch die rechtlichen Rahmenbedingungen verbessern wollen. Es ist schon angesprochen worden: Nicht nur die Bereitschaft, einen Organspendeausweis auszufüllen, wollen wir steigern, sondern wir wollen auch dafür sorgen, dass die Anzahl der Organspenden steigt. Ich will es nicht akzeptieren - das darf uns nicht ruhen lassen -, wenn wir feststellen, dass in den Regionen und auch in einzelnen Städten die Krankenhäuser unterschiedlich viele potenzielle Organspender melden. Es ist richtig, dass wir nun endlich gesetzlich dafür sorgen, dass in jedem Entnahmekrankenhaus ein Transplantationsbeauftragter zu bestellen ist, der konkreter Ansprechpartner für den Ablauf und den Prozess im Krankenhaus ist, damit mehr potenzielle Organspender gewonnen werden, die Abläufe verbessert werden und in den Krankenhäusern die Zuständigkeiten klar geregelt sind. Wir brauchen daneben rechtliche Rahmenbedingungen für die Lebendspende. Die Lebendspende ist ein altruistisches Handeln. Deswegen darf der, der sich für die Lebendspende entscheidet, keine Nachteile erleiden. Wir regeln jetzt endlich klar, dass die Versicherung des Empfängers - die Krankenversicherung im Wesentlichen auch für die Kosten beim Lebendspender zuständig ist. Wir regeln ferner die Entgeltfortzahlung und die unfallversicherungsrechtlichen Fragen, sodass der Lebendspender sich auch darauf verlassen kann, dass er, wenn er sich für diesen Weg entscheidet, keine Nachteile erleidet oder keinen Ärger bekommt. ({1}) Wir sorgen insofern für mehr Transparenz, für Verlässlichkeit und auch für mehr Vertrauen. Bei dem so sensiblen Thema der Organspende ist es, glaube ich, das Allerwichtigste, dass sich die Menschen auf etwas verlassen können. Wichtig ist aber auch die Frage des Datenschutzes. Ich will mich an die Grünen und die Linken wenden, die einige Fragen und auch den einen oder anderen Kritikpunkt eingebracht haben. Ich will Ihnen die Sorgen nehmen. Für mich ist völlig klar, dass weiterhin der Patient und Versicherte Herr seiner Daten bleibt. Er entscheidet, wer Zugang zu diesen Daten hat. Deswegen wird es auch mit dieser Gesetzesänderung kein Schreibrecht der Krankenkassen oder auch keine Einsicht der Krankenkassen in die hochsensiblen Gesundheitsdaten geben. Aber es ist in diesem Gesetzentwurf vorgesehen, dass in einer Zeit, in der das technisch möglich ist, die Erklärung zur Organspende natürlich auch auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden kann - nicht kombiniert mit den Gesundheitsdaten, sondern in einem eigenen Fach. Ich glaube, das ist sogar ein Stück mehr Datenschutz. ({2}) Der Zugriff auf die Erklärung, die eine hochsensible und persönliche Entscheidung ist, ist beim Organspendeausweis, den ich offen trage, viel einfacher als bei der elektronischen Gesundheitskarte, bei der ich entscheide, wer darauf zugreifen darf. Insofern ist diese Regelung ein Mehr und nicht ein Weniger an Datenschutz. ({3}) Von den Grünen werden insbesondere die Regelungen zur Forschung kritisiert. Ich sage klipp und klar, dass die Datenschutzregeln bei der Forschung eingehalten werden. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat heute noch einmal klipp und klar bestätigt, dass er die Regeln des Datenschutzes gewahrt sieht und deswegen keine Bedenken gegen diese Regelung hat. Wir müssen aber auch in der Forschung weiterkommen. Wir dürfen bei der Organtransplantationswissenschaft nicht haltmachen und auf dem Stand von vor 10 oder 20 Jahren bleiben. Wir sind den Menschen, die häufig auch Folgeschäden haben und eine medikamentöse Behandlung benötigen, verpflichtet, alles dafür zu tun, in der Forschung weiterzukommen. Deswegen sind die Daten der Person anonymisiert. Nur wenn eine Einwilligung der Person vorliegt, können personenbezogene Daten für Forschungszwecke genutzt werden. Hier sind somit die Regeln des Datenschutzes gewahrt. Dies hat der Bundesdatenschutzbeauftragte bestätigt. Auch die Organtransplantationsmediziner bestätigen, wie wichtig es ist, dass wir in der Forschung weiterkommen. ({4}) Es ist insofern ein starkes Signal, dass sich der gesamte Bundestag einig ist, dass wir die Bürgerinnen und Bürger auffordern, sich mit dem Thema Organspende zu beschäftigen. Es ist auch ein starkes Signal, dass wir mit großer Mehrheit Veränderungen im Transplantationsgesetz vornehmen, um die konkreten Abläufe und Rahmenbedingungen für die Organspende zu verbessern. Heute ist ein guter Tag für die Menschen in Deutschland, die vom Thema Organspende betroffen sind. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Martina Bunge hat jetzt das Wort. ({0})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 45 Jahren schafft der medizinische Fortschritt die Möglichkeit, bei Organversagen durch Transplantation eines Spenderorgans nicht mehr bedingungslos dem Tod ausgeliefert zu sein. Vor 15 Jahren hat in Deutschland der Gesetzgeber nach einer langen gesellschaftlichen und parlamentarischen Debatte Organspende und Transplantation einen gesetzlichen Rahmen gegeben. Natürlich gingen ethische, werteorientierte Diskussionen weiter. Der medizinische Fortschritt hat insbesondere durch die Computertechnik eine Dynamik bekommen, die wir alle kaum erwartet haben. Es brauchte also eines Impulses, um das Gesetz weiterzuentwickeln und zu verbessern. Der Impuls für das Transplantationsänderungsgesetz ist durch die EU-Richtlinie über Qualitäts- und Sicherheitsstandards gekommen. Der Gruppenantrag ist nach der bekannten Vereinbarung aller Fraktionsvorsitzenden im letzten Jahr auf den Weg gebracht worden. Dieser Gesetzentwurf bittet alle Bürgerinnen und Bürger, sich mit dem Thema Organspende zu beschäftigen, sich möglichst zu entscheiden und dies auch zu dokumentieren. ({0}) Ich sage aber auch: Für einen optimalen Rahmen für Organspende und Transplantation werden die vorgelegten Gesetzesinitiativen allein nicht ausreichen. Organspende wie Transplantation brauchen zuallererst ein solidarisches Gesundheitssystem. Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik marschiert gerade in die andere Richtung: in die der Privatisierung und Kommerzialisierung. ({1}) Aufgabe eines solidarischen Gesundheitssystems und einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik ist für mich zuallererst, Menschen gesund zu erhalten, um einen Organverlust möglichst zu vermeiden. Mir war es wichtig, dass dieser Gedanke an prononcierter Stelle in den Gruppenantrag eingebracht wurde. Ich denke: Der erste Satz ist eine solche Stelle. ({2}) Lassen Sie mich zuerst aber noch einige Dinge zum Transplantationsgesetz der Bundesrepublik sagen. Es setzt auf Selbstlosigkeit und Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Dafür sind - der Minister sagte es eben Transparenz und Kontrolle der Abläufe unerlässlich. Aufgabe der Novelle des Transplantationsgesetzes wäre es gewesen, dass mehr Vertrauen geschaffen wird, indem Unsicherheiten, die in den letzten 15 Jahren zutage getreten sind, abgebaut werden. Leider haben die Bundesregierung und die Koalition aber etliche Möglichkeiten, Besseres zu schaffen, ver21690 schenkt. So bleibt es beim komplizierten Netzwerk von Kooperationsmustern und Entscheidungsprozessen. Insbesondere halten wir die Deutsche Stiftung Organtransplantation vom Rechtsstatus her als Koordinierungsstelle für problematisch. Hier muss die Politik unbedingt dranbleiben. ({3}) Handlungsbedarf sehen wir bei der Ausgestaltung der Beratungsangebote. Beratung allein über Broschüren oder andere Printmedien den Krankenkassen und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu überlassen, wird der sensiblen und ethisch geprägten Problematik von Organspende und Transplantation nicht gerecht. Offene Fragen bleiben bei den Zuteilungskriterien von Organen. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zum Transport von expandierten Organen werden nicht hinreichend berücksichtigt. Auch neue Erkenntnisse zum Hirntod wurden nicht angefasst, nicht ausdiskutiert und nicht berücksichtigt. In unserem Entschließungsantrag haben wir unsere Kritik an diesem Gesetzentwurf komplex dargelegt und unsere Vorschläge fixiert. So werden wir, auch wenn die Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen etliches Vernünftige gebracht haben - genannt sei die soziale Sicherung bei Lebendspenden -, den Gesetzentwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes insgesamt ablehnen. ({4}) Schade, dass die Chancen vergeben wurden! ({5}) Ich habe mich an der Erarbeitung des Gruppenantrags zur Entscheidungslösung beteiligt. Der Kompromiss war nicht einfach, aber die Arbeit daran beispielhaft, denke ich. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei allen Beteiligten aus den anderen Fraktionen und von der Bundesregierung recht herzlich vor allen Dingen für die Fairness bedanken. ({6}) Mit dem Gesetzentwurf soll erreicht werden, dass die vorhandene Bereitschaft in der Bevölkerung zur Organspende umfassender bzw. häufiger dokumentiert wird. Die Kolleginnen und Kollegen aller anderen Fraktionen wollten, dass diese Entscheidung auch auf der künftigen Generation der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert wird. Mir war wichtig, dass die bekannte Pappkarte erhalten bleibt, damit jeder auch mit einem Stift sein Kreuz machen kann, um zu dokumentieren, ob er das will oder nicht. Obwohl meine Fraktion der elektronischen Gesundheitskarte skeptisch gegenübersteht, trage ich den vereinbarten Kompromiss mit und werde daher den vorliegenden Änderungsanträgen zur Streichung dieser Passagen nicht zustimmen; denn ein Kompromiss hat immer mehrere Bestandteile, und wenn man einen herausbricht, kann das ganze Gebäude zusammenfallen. ({7}) Im Ergebnis wird dieses Gesetz die Organspende und die Transplantation hoffentlich stärker ins Bewusstsein der Menschen rücken - immer mit dem Ziel, niemanden zu einer Entscheidung zu zwingen, aber dann, wenn die Entscheidung schon gefallen ist, sei sie nun zustimmend oder ablehnend, das auch zu dokumentieren und die Entscheidung wahrlich nicht - der Minister hat die Situation geschildert - den Familienangehörigen im Fall der Fälle aufzuhalsen. Ich hoffe, dass diese Gesetzesänderungen medial nicht nur Horrorszenarien provozieren, sondern eine offene gesellschaftliche Diskussion entfachen werden. Mit diesem Gesetzgebungsverfahren wird der Prozess nicht abgeschlossen sein. Irgendwann werden wir wieder darangehen müssen, vieles anders und besser zu regeln. Ich hoffe, dass das dann auch fraktionsübergreifend geschieht; denn Organspende und Transplantation leben von einem gesellschaftlichen Konsens. Ich danke Ihnen. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Harald Terpe hat das Wort.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden heute abschließend über zwei Gesetzentwürfe, die sich mit dem sensiblen Thema Organtransplantation beschäftigen - sensibel deshalb, weil einerseits viele schwer Erkrankte auf den überlebenswichtigen Empfang eines intakten Organs hoffen und andererseits im Falle der ernstzunehmenden, zumeist angewandten sogenannten postmortalen Organspende zutiefst individuelle Fragen von Sterben, Tod und körperlicher Integrität berührt sind. Umso beachtlicher ist es, dass nach sehr ernsthafter und konstruktiver Diskussion zwischen den Fraktionsvorsitzenden und den Fachpolitikern der im Bundestag vertretenen Parteien die übergroße Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen des Hauses den vorliegenden Gruppenantrag unterstützt. Auch ich werbe für die Unterstützung dieses Gruppenantrages. Die weitreichende Bedeutung der Regelung der Entscheidungslösung ergibt sich für mich zunächst aus ganz grundsätzlichen Erwägungen. Die Systematik des Gesetzentwurfs verfolgt das Ziel der informierten Selbstentscheidung bezüglich der Organspendebereitschaft und deren Dokumentation. Hier wird also noch einmal das Prinzip untermauert, dass Organspende nur nach Zustimmung erfolgen kann und nicht der Spender eine Fremdentscheidung abwehren muss. Der Gesetzentwurf stellt darüber hinaus vernünftigerweise erstmals ausdrücklich klar, dass keine Person verpflichtet werden kann, eine Erklärung zur Organspende abzugeben. Außerdem legt er fest, dass Bürgerinnen und Bürger umfassend aufgeklärt und informiert werden müssen. ({0}) Dabei muss die gesamte Tragweite der Entscheidung zur Sprache kommen, beispielsweise hinsichtlich des den Betroffenen oft nicht bekannten Einflusses, den eine postmortale Organspende auf die Verlängerung des Sterbeprozesses haben kann. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal auf die Hirntoddiskussion eingehen. Mit dem jetzigen Gesetzentwurf wird an der Hirntodkonzeption zunächst keine Änderung vorgenommen. Das enthebt uns aber nicht der Verpflichtung, uns in Zukunft auch darüber Gedanken zu machen, dass unsere Techniken der Hirntoddiagnostik dazu führen müssen, zweifelsfrei den Tod des gesamten Gehirns - also des Stammhirns, des Großhirns und des Kleinhirns - festzustellen. ({1}) Wir wissen, dass es Diskussionen zwischen den europäischen Ländern gibt. An dieser Stelle wird sicherlich noch weiter diskutiert werden müssen. Ich möchte noch eine Anmerkung zur Patientenverfügung machen. Man muss darauf hinweisen, dass es in dem Zusammenhang Wertungswidersprüche geben kann. Auch hier muss eine entsprechende Information an die Versicherten erfolgen. Gleichzeitig hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Strukturen und Abläufe in den Krankenhäusern optimieren soll und damit vermutlich ebenso entscheidend für eine Verbesserung der Transplantationsmedizin und für die Erhöhung der Zahl der Organempfänger ist. Dazu gehört beispielsweise die verpflichtende Einführung von Transplantationsbeauftragten - hierzu ist schon einiges gesagt worden -; das halte ich für eine sehr wichtige Maßnahme. All diese Maßnahmen werden zur Verbesserung der Situation beitragen, und zwar in der Weise, dass es mehr spendenbereiten Menschen als bisher ermöglicht wird, dies tatsächlich zu tun. Das unterstütze ich ausdrücklich. Sehr wichtig ist in diesem Gesetzentwurf die deutliche Qualitätsverbesserung, was die Lebendspende betrifft. Das ist anzuerkennen. Ganz grundlegend für die Spendenbereitschaft als solche und damit verbunden die Zahl der Organspenden ist allerdings das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger darin, dass beteiligte Personen und Institutionen mit den gespendeten Organen sorgsam und redlich umgehen. Vertrauen ist ein hohes Gut, das aber auch schnell erschüttert werden kann. Deshalb muss Vertrauen sorgsam bewahrt bzw. wiederhergestellt werden. Der vorliegende Gesetzentwurf zur technisch-organisatorischen Veränderung des Transplantationsgesetzes tut das nach unserer Auffassung nicht immer. Beispielsweise soll es nun möglich sein, dass zukünftig Krankendaten von Organspendern und -empfängern auch für kommerzielle Forschungsvorhaben weitergegeben werden dürfen. Hierzu muss ich anmerken: Das ist ein Bruch mit der bisherigen Gesetzeslage. ({2}) Das heißt nicht, dass Bündnis 90/Die Grünen gegen jede Art von Forschung wären. Bereits im Rahmen des jetzigen Gesetzes waren Forschungsvorhaben möglich. Die vorliegende Neuerung ist aber geeignet, das wichtige Vertrauen der Menschen in die altruistische Organspende nachhaltig zu beeinträchtigen. Ein weiterer heikler Punkt ist der Vertrauensverlust gegenüber der DSO in den letzten Wochen und Monaten. Unser gemeinsames Ziel muss sein, dass eine vertrauenswürdige und effektive, ethisch über jeden Zweifel erhabene Koordination des Organtransplantationswesens sowohl personell als auch strukturell sichergestellt wird. Deshalb ist es wichtig, jetzt Transparenz herzustellen und nachhaltige Kontrollmechanismen durchzusetzen, ({3}) zumal der Gesetzgeber aufgrund der EU-Richtlinie Qualität und Sicherheit sicherzustellen hat. Eine Organisationsstruktur, in der beteiligte Organisationen und Personen zugleich Nutznießer und Kontrolleure sein können - das ist kein Vorwurf -, erzeugt zwangsläufig Misstrauen in der Bevölkerung. Meiner Meinung nach schaffen weder Gesetzentwurf noch Entschließungsantrag von Koalition und SPD diesbezüglich ausreichend Abhilfe. Ich konstatiere, dass etwas gemacht worden ist, aber das geht meiner Meinung nach nicht weit genug. ({4}) Ich verspreche Ihnen, dass wir von Bündnis 90/Die Grünen dieses Thema weiterverfolgen werden, um dann möglichst einvernehmliche Lösungen zu erzielen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jens Spahn hat jetzt das Wort. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland warten derzeit 12 000 Menschen auf ein Spenderorgan. Jeden Tag sterben drei Menschen, weil sie kein Spenderorgan erhalten haben. Sie warteten vergeblich. Jeder, der schon einmal mit Wartenden gesprochen hat, etwa mit jemandem, der regelmäßig zur Dialyse muss und auf eine Niere wartet, weiß, was das jeden Tag an Einschränkungen für die Lebensqualität bedeutet, und wie groß die Hoffnung ist, dass endlich der erlösende Anruf kommt, dass es einen Spender gibt. Er weiß, dass wir sowohl im Deutschen Bundestag als auch in der Gesellschaft die Verpflichtung haben, uns intensiv mit der Frage zu beschäftigen, wie wir die Zahl derjenigen erhöhen könnten, die bereit sind, ein Organ zu spenden. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt. Wir wissen aus vielen Gesprächen, dass sich die Menschen in Bezug auf das Thema Organspende Sorgen machen. Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen. Sie fragen sich: Wenn ich als Organspender in ein Krankenhaus eingeliefert werde, wird dann wirklich alles für mich getan? Wird man sich wirklich um mich kümmern, oder werde ich schon als potenzieller Organspender behandelt? Die Debatte in den letzten Monaten hat gezeigt, dass wir uns sehr differenziert, sehr sachlich und tiefgehend mit diesem Thema auseinandersetzen und die Ängste und Sorgen auf beiden Seiten ernst nehmen. Um es klar festzuhalten: Es gibt kein Recht auf eine Spende, aber wir alle haben gegenüber denjenigen, die warten, die Verpflichtung, dass wir uns mit diesem Thema auseinandersetzen. Jeder Einzelne hat die Pflicht - zumindest eine moralische -, für sich zu überlegen, wie er sich zum Thema Organspende verhalten will. Ist man im Fall der Fälle bereit, zu sagen: „Ja, ich bin Organspender“? Oder sagt man - was genauso legitim ist -: „Nein, ich möchte aus verschiedenen, persönlichen Gründen keine Organe spenden“? Diese Verpflichtung hat man im Übrigen auch gegenüber den eigenen Angehörigen - das wurde eben schon erwähnt -; denn wenn man sich nicht zu Lebzeiten entscheidet, dann müssen im Regelfall die Angehörigen für einen entscheiden, für die das eine wahnsinnig schwierig Situation ist; denn sie müssen ermessen, was der Angehörige gewollt haben könnte. Ich bin dankbar, dass wir in den vergangenen Monaten fraktionsübergreifend und umfassend über dieses Thema diskutiert haben, und heute über zwei Gesetzentwürfe zur Verbesserung des Transplantationsgesetzes beschließen können. Dazu gehört zum einen, dass wir die Abläufe in den Krankenhäusern verbessern. Das klingt zunächst banal und sehr technisch, es ist aber für die konkrete Situation wichtig. Es geht beispielsweise um die Fragen: Wer spricht mit den Angehörigen, nachdem der Hirntod festgestellt wurde? Wer hat im Krankenhaus, wo es manchmal hektisch zugeht, den Überblick, überhaupt das Thema Organspende im Blick? Wer achtet darauf, ob ein Patient auf der Intensivstation mit einer entsprechenden Diagnostik einen Organspendeausweis hat oder nicht? Es stellt sich auch die Frage: Wie wird eine Organentnahme vergütet? Für Krankenhäuser ist es eine Herausforderung, wenn der Operationssaal plötzlich stundenlang wegen einer Organentnahme belegt ist. Man muss auch darauf achten, dass niemand finanzielle Nachteile hat und dadurch falsche Anreize entstehen. Insofern regeln wir zum Teil sehr Technisches, was aber für die konkreten Abläufe in den Krankenhäusern sehr wichtig ist, um auch die Bereitschaft zur Organspende derjenigen zu erhöhen, die sie am Ende umsetzen müssen. Zweitens komme ich zum Thema der Lebendspende, das schon angesprochen worden ist. Bisher war es ein unhaltbarer Zustand, dass diejenigen, die zu Lebzeiten bereit waren, zu spenden, sich in einer sozialrechtlich unsicheren Situation befanden, wenn es um Folgeerkrankungen, Verdienstausfall und vieles andere mehr ging. Das wollten wir jetzt endlich regeln. Drittens geht es um die gerade angesprochene Entscheidungslösung. Wir wollen mehr Informationen nicht nur auf Plakatwände, sondern in die Familien bringen. In Zukunft werden regelmäßig alle Versicherten - gesetzlich wie privat Versicherte - in Deutschland angeschrieben. Ich stelle mir schon ganz lebenspraktisch vor, dass es Diskussionen am Frühstückstisch, am Mittagstisch oder abends in der Familie bzw. im Freundeskreis geben wird: Wie hältst du es denn eigentlich mit der Organspende? Weiter stelle ich mir vor, dass sich nach dieser Diskussion miteinander in der Familie jeder besser als bisher in der Lage sieht, eine Entscheidung zu treffen. Deswegen wollen wir - manche empfinden übrigens schon das als Zumutung - durch das Anschreiben eine etwas regelmäßigere und ein wenig individuellere Konfrontation mit dem Thema Organspende erreichen, damit die Menschen sich mit der, wie ich sie gerade nannte, moralischen Verpflichtung auch gegenüber denjenigen, die warten, auseinandersetzen. Wir wollen aber - das ist der großen Mehrheit von uns hier wichtig - keinen Zwang zur Entscheidung oder gar zur Organspende ausüben. Das vierte wichtige Thema, das wir regeln, betrifft die Nachsorge für Organspender. Hier gibt es heute zum Teil Defizite. Es geht darum, dafür zu sorgen, dass diejenigen, die Organe spendeten, und diejenigen, die die Organe bekamen - manchmal gibt es ja Abwehrreaktionen des Körpers -, eine gute Nachsorgebehandlung bzw. Unterstützung erhalten. Diese sollte spezialfachärztlich mit entsprechenden Qualitätsstrukturen stattfinden. Dazu gehört - ich möchte abschließend gerne noch etwas zur problematischen Debatte der letzten Tage sagen - auch das Thema der Forschung in der Zukunft. Ich war schon etwas überrascht, als aufseiten der Grünen das Thema Datenschutz bei den Forschungsdaten gestern noch einmal grundsätzlich, ohne dass es im Ausschuss oder in den vorherigen Gesprächen noch einmal so intensiv thematisiert worden wäre, hochkam. Wir sehen natürlich, was Ihr Punkt ist. Dazu haben wir auch in den entsprechenden Anträgen etwas gesagt. Es geht da am Ende um einen Spagat zwischen den individuellen Daten und dem Interesse an Forschungsergebnissen. Das Problem ist nun einmal, dass die Zahl derjenigen, an denen geforscht bzw. beobachtet werden kann, was eigentlich nach einer Organspende passiert, welche entsprechenden Folgeerkrankungen es gibt und wie bestimmte Medikamente wirken, ziemlich klein ist. Es gibt im Land im Vergleich zu anderen Erkrankungen relativ wenige Fälle. Deswegen ist es nicht immer möglich, bis hinauf zur höchsten Ebene alles zu anonymisieren. Dazu hat auch der Datenschutzbeauftragte hier gesagt: Angesichts des legitimen Interesses im Sinne derjenigen, die Hilfe brauchen, nach vorn zu kommen und dabei neue Forschungserkenntnisse zu gewinnen - dabei geht es auch darum, wie entsprechende Arzneimittel wirken -, ist es wichtig, diese Daten zu ermitteln. Deswegen glaube ich schon, dass das, was wir hier regeln, unterm Strich vertretbar ist. Abschließend will ich noch kurz etwas zur Deutschen Stiftung Organtransplantation, DSO, sagen. Leider ist es so, dass die Strukturen in dieser Organisation, die wir damit beauftragt haben, die Organspenden in Deutschland abzuwickeln, die Abläufe zu organisieren und für Strukturen zu sorgen, nicht so sind, wie sie sein sollten. Zunächst einmal sind sie nicht transparent und nachvollziehbar. Da hat es - auch im Umgang mit Geld - Fehlverhalten gegeben. Es gibt nicht wenige, die sagen: Wer schon mit Geld so schludrig umgeht, ist es dann vielleicht - und hier geht es ja um Leben und Tod - auch in anderen Fällen. Deswegen müssen wir diese Debatte sehr ernst nehmen. Wir müssen aufpassen, dass die Debatte über die DSO bzw. die Missstände, die es dort gibt oder zumindest gab - wie weit sie abgestellt sind, müssen wir jetzt noch einmal nachvollziehen -, nicht die Organspendebereitschaft zu reduzieren droht; denn die Menschen sind natürlich zu Recht verunsichert und fragen sich, ob die Abläufe so in Ordnung sind. Deswegen haben wir in der Koalition gesagt: Gemeinsam mit der SPD wollen wir in einem ersten Schritt - durch diesen Änderungsantrag - im Transplantationsgesetz mehr Transparenz schaffen, zum Beispiel, indem wir dafür sorgen, dass der Geschäftsbericht veröffentlicht werden muss, und indem die Aufsichtsgremien dieser Stiftung und die Auftraggeber noch stärker verpflichtet werden, auf die Strukturen zu achten. Wir verpflichten uns dazu - das steht im Entschließungsantrag -, die bei der DSO für Organspende Verantwortlichen regelmäßig in den Gesundheitsausschuss einzuladen und zu fragen, wie sie dafür sorgen, dass die Strukturen besser werden, damit Fälle wie die, über die in den Medien berichtet worden ist, nicht wieder vorkommen können. Ich bitte Sie, dass wir das gemeinsam angehen. Bei aller Kritik, die wir hier gehört haben, sollten wir das Ganze differenziert und nüchtern betrachten und nicht in Abrede stellen, dass das, was wir heute gemeinsam beschließen wollen, ein Erfolg ist. Ich glaube, das Schlechteste, was passieren könnte, wäre, dass die Debatte über die DSO - diese Debatte müssen wir führen, und wir haben uns vorgenommen, diese Debatte zu führen - die Debatte über die Erfolge für die Menschen, die in Deutschland auf ein Organ warten, und für die Menschen, die bereit sind, Organe zu spenden, überlagern würde. Unterm Strich ist es doch eigentlich ein schönes Zeichen, dass wir heute mit so großer Mehrheit etwas Gutes für viele Menschen in Deutschland tun. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat das Wort. ({0})

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beide Gesetzentwürfe, die uns heute vorliegen, sowohl der Gesetzentwurf zur Regelung der Entscheidungslösung als auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes, sind im Rahmen einer intensiven interfraktionellen Zusammenarbeit entstanden. Uns eint der Wille, dass schwerkranke Menschen, die auf ein Organ warten, eine deutliche Verbesserung erfahren. In der ersten Lesung habe ich davon gesprochen, dass es dringend notwendig ist, die Situation von Lebendspendern, also von Menschen, die zum Beispiel einem Angehörigen eine Niere gespendet haben, zu verbessern. In der ersten Lesung haben wir auch über einen anderen Punkt gesprochen. Wir haben gesagt: Wir müssen die organisatorischen Abläufe in den Krankenhäusern bei einer möglichen Organspende optimieren, und wir müssen sie vereinheitlichen. All das erreichen wir mit der Neufassung des Transplantationsgesetzes. Der Bundesregierung ging es ursprünglich darum, eine europäische Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen. Doch was uns jetzt vorliegt, ist viel mehr. Durch gemeinsam von CDU/CSU, FDP und SPD eingebrachte Änderungsanträge regeln wir im Gesetzentwurf nun zum Beispiel die Lohnfortzahlung und die Krankengeldleistung für die Lebendspender, verbessern wir die Nachbehandlung für Lebendspender, und wir schaffen Klarheit beim Versicherungsschutz, und das war dringend notwendig. Im Gesetzentwurf steht, dass in den Krankenhäusern künftig Transplantationsbeauftragte verbindlich vorgesehen sind. Auch ihre Kompetenzen und Aufgaben werden beschrieben. Ziel ist es, dass potenzielle Organspender besser identifiziert werden als heute und alle Mitarbeiter im Krankenhaus für die Belange der Organspende sensibilisiert werden; denn es ist ganz entscheidend, welches Klima in einem Krankenhaus herrscht. Wir können uns nicht damit zufriedengeben, dass nur ungefähr die Hälfte aller Krankenhäuser, die über Intensivstationen verfügen, potenzielle Organspender meldet. Die Transplantationsbeauftragten haben auch die Aufgabe, die Zusammenarbeit mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation zu koordinieren. Diese Stiftung organisiert alle Schritte des Organspendeprozesses rund um die Uhr, einschließlich des Transports der Organe zu den Transplantationszentren, sodass eine Organentnahme in jedem Krankenhaus möglich ist. Für die Vermittlung der Organe ist die DSO allerdings nicht zuständig. Dafür ist die gemeinnützige europäische Stiftung Eurotransplant zuständig, an der acht europäische Länder beteiligt sind. Uns als Parlamentarierinnen und Parlamentariern ist sehr daran gelegen, dass die Menschen Vertrauen in diese Organisation haben können. Dies ist mir auch ganz persönlich wichtig; denn ich habe schon lange einen Organspenderausweis und möchte, dass im Fall der Fälle mit mir bzw. meinen Organen gut und verantwortlich umgegangen wird. Nun ist dieses Vertrauen in der letzten Zeit durch Vorwürfe in den Medien gegen die DSO belastet worden. Wir haben uns im Gesundheitsausschuss mit diesen Fragen beschäftigt. Dabei ging es nicht um die eigentliche Arbeit der DSO, also die Koordination der Organspende, sondern um Ungereimtheiten in internen Abläufen. Von daher ist es richtig, dass sich die DSO jetzt eine Strukturreform verordnet hat, um Mängel in der Geschäftsführung zu beseitigen und für mehr Transparenz zu sorgen. Der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages wird diesen Reformprozess kritisch begleiten. Wir werden uns regelmäßig Bericht erstatten lassen, welche Satzungsänderungen vorgenommen werden und welche Fortschritte es zu dem jeweiligen Zeitpunkt gibt. Das haben wir im Entschließungsantrag bekräftigt, der heute zur Abstimmung vorliegt. Uns als SPD war es wichtig, dass wir darüber hinaus auch im Gesetz die Kontrolle der Stiftung verschärfen. Von der Verpflichtung, den Geschäftsbericht zu veröffentlichen, erwarten wir, dass die Arbeit transparenter wird. Wir verabschieden heute beide Gesetzentwürfe mit einer breiten Mehrheit. Die Gesetze müssen dann mit Leben erfüllt werden. Die Aufgabe, die Menschen zu einer informierten Entscheidung für die Organspende zu motivieren, obliegt nicht allein den Krankenkassen und auch nicht allein der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die künftig verstärkt zum Thema Organspende informiert und die entsprechende finanzielle Ausstattung dafür erhalten wird. Auch Ärztinnen und Ärzte sowie Apothekerinnen und Apotheker haben sich selbst verpflichtet, über die Organspende aufzuklären. Ich denke, auch wir sind gefragt. Bei unseren Veranstaltungen und Gesprächen können wir als Multiplikatoren wirken. Wir können die Menschen informieren, und wir können mit ihnen diskutieren. Wir müssen ihre Bedenken ernst nehmen, aber ich denke, wir können auch viele ihrer Bedenken ausräumen. Viele von uns sind schon lange Zeit in diesem Bereich engagiert. Ich appelliere an die Übrigen, es uns gleichzutun. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Kauch hat das Wort. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe. Der Gruppenantrag, der fraktionsübergreifend erarbeitet wurde, zielt auf die erhöhte Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod. Ein großer Knackpunkt im Transplantationswesen in Deutschland ist aber auch die Umsetzung von Organspenden in den Krankenhäusern. Deshalb hat der Bundesgesundheitsminister dankenswerterweise nicht nur die EU-Richtlinie zu Qualitäts- und Sicherheitsstandards von Organspenden umgesetzt, sondern auch Anforderungen an die Organisation in den Krankenhäusern in seinen Gesetzentwurf aufgenommen. Durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen und der SPD sollen auch die Fragen der versicherungsrechtlichen Behandlung von Lebendspenden geregelt werden. Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ hatte bereits im Jahr 2005 einen Zwischenbericht zur Lebendspende an den Deutschen Bundestag abgegeben, in dem ein zentraler Punkt die Verbesserung der versicherungsrechtlichen Regelungen war. Es ist richtig: Immer noch sind Menschen, die ihren Angehörigen oder engen Freunden aus Nächstenliebe eine Niere oder einen Teil ihrer Leber spenden, sozial unzureichend abgesichert. Ich glaube, es ist ein Gebot der Fairness, dies zu ändern. Dieses Parlament sollte mit seiner heutigen Entscheidung dafür sorgen, dass im Hinblick auf die Lebendspender Fairness in das Versicherungsrecht Einzug hält. ({0}) Meine Damen und Herren, ich danke insbesondere Daniel Bahr, dass er an dieser Stelle sehr hartnäckig war und mit seinem Ministerium sehr viel Unterstützung gleistet hat. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hatte seinerzeit dieses Thema nämlich leider vier Jahre schleifen lassen, obwohl wir auch damals hier im Parlament entsprechende Debatten geführt haben. Was wird geändert? Entgeltfortzahlung und Krankengeld gibt es künftig in voller Höhe, und zwar auf Kosten der Krankenkasse des Empfängers. Wir werden den Streit über den Umfang der Leistungen im Bereich von Rehabilitation und Nachsorge beenden. Wir glauben, die Menschen müssen wissen, dass sie die bestmögliche Reha und die bestmögliche Nachsorge bekommen und dass hinterher kein Streit über die Kostenübernahme entsteht. ({1}) Generell ist es wichtig, dass der immer wieder aufgetretene Streit zwischen der gesetzlichen Unfallversicherung und den Krankenkassen über die Frage, ob eine Erkrankung Spätfolge einer Transplantation ist, beendet wird. Bei gesetzlich Versicherten kann man sagen: Sie bekommen die Leistung, und die Krankenkasse streitet sich hinterher mit der Unfallversicherung, wer sie bezahlt. - Bei Privatversicherten ist das heute anders. Wenn die Krankenkasse sagt: „Die Unfallversicherung ist zuständig“, dann muss ein Privatversicherter erst einmal in Vorleistung treten, wenn die Unfallversicherung nicht zahlt. Es kann nicht sein, dass Menschen, die aus Nächstenliebe gehandelt haben, dann vor Gericht die Erstattung ihrer Kosten einklagen müssen. Das ist ein ganz zentraler Punkt, den wir mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beschließen, regeln. ({2}) Meine Damen und Herren, in der Debatte um die Lebendspende gibt es natürlich weitere Fragen, die wir heute nicht regeln. In der Schweiz ist der Anteil der Lebendspender an der Gesamtzahl der Transplantationen signifikant höher als in Deutschland. Das liegt natürlich auch an den Regelungen des Transplantationsgesetzes. So haben wir es beispielsweise immer noch mit einer rechtlichen Grauzone zu tun, wenn Paare über Kreuz Organe spenden, weil beim eigenen Partner eine Blutgruppenunverträglichkeit vorliegt. Dafür finden Ärzte heute Lösungen. Aber das ist immer noch eine Grauzone, die man aus meiner Sicht rechtlich klären müsste. Das Prinzip der Nachrangigkeit der Lebendspende im deutschen Transplantationsrecht führt dazu, dass Menschen, die einen Angehörigen haben, der beispielsweise eine Niere spenden will, bei Verfügbarkeit eines postmortal gespendeten Organs das medizinisch schlechtere postmortal gespendete Organ nehmen müssen. Ich glaube, es ist an der Zeit, auf die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu vertrauen und eine persönliche Entscheidung über den eigenen Körper zuzulassen. Dies sollte aus meiner Sicht in einem weiteren Schritt geprüft werden. Wir konfrontieren die Bürger mit unserem Gruppenantrag zur Regelung der Organspende intensiver mit dem Thema „Organspende nach dem Tod“. Dabei ist zweierlei sehr zentral: Erstens haben wir uns klar für das Prinzip der Freiwilligkeit entschieden. Wir wollen keine Widerspruchslösung, und wir wollen auch nicht, dass man Menschen quasi zur Organspende zwingt. Es wurde ja unter anderem vorgeschlagen, dass Menschen, die sich in dieser Frage nicht entscheiden, keine elektronische Gesundheitskarte bekommen sollen. Solche Regelungen waren mit uns, waren mit der Koalition nicht zu machen. Ich glaube, es war eine richtige Entscheidung, die wir hier getroffen haben. ({3}) Zweitens ging es uns um den Datenschutz. Es muss klar sein, dass es, was höchstpersönliche Entscheidungen betrifft, keine zentralen Datensammelstellen gibt. Es ist richtig und wichtig, dass wir entschieden haben: An die entsprechenden Daten kommt nur das medizinische Personal. Herr über die Daten ist der Bürger und nicht die Krankenkasse. Kein Mitarbeiter einer Verwaltung, sondern nur der einzelne Bürger und die Ärzte seines Vertrauens, die die medizinischen Entscheidungen treffen, sollen Zugang zu den Daten haben. ({4}) Schließlich: Ich finde es gut, dass durch den flächendeckenden Einsatz von Transplantationsbeauftragten mit dem föderalen Flickenteppich Schluss gemacht wird. Die Bundesländer haben sehr unterschiedliche Erfolge mit ihren regionalen Lösungen. Mecklenburg-Vorpommern war jahrelang Spitzenreiter. Dort gibt es etwa 34 Transplantationen pro 1 Million Einwohner. In Baden-Württemberg gibt es etwa zehn Transplantationen. Das ist die föderale Spannweite. Bevor in NRW das Transplantationsgesetz geändert wurde, gab es dort sogar nur etwa acht Transplantationen pro 1 Million Einwohner. Das zeigt: Es macht einen Unterschied, wie man die Krankenhäuser organisiert. Deshalb haben wir von den besten Ländern gelernt und deren Regelungen in das Bundesgesetz eingebracht, damit die Situation bundesweit besser wird und nicht nur in den Ländern, die bereits vorn liegen. Vielen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kathrin Vogler hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über die Organspende, die wir heute führen, ist wichtig und notwendig. Viel Richtiges wurde dazu schon gesagt. Ich möchte einige kritische Fragen auch an unsere eigene Adresse richten. Viele Kolleginnen und Kollegen haben es schon gesagt: Wir wissen, dass viele Menschen bei Umfragen ihre Bereitschaft angeben, nach ihrem Tod Organe für Transplantationen zu spenden. Die Frage, warum diese sehr hohe Bereitschaft nicht die Konsequenz hat, dass diese Menschen sich auch einen Organspendeausweis in die Brieftasche stecken, haben wir meines Erachtens bisher zu oberflächlich betrachtet. Den Menschen wird unterstellt, sie seien schlicht zu bequem, sie verdrängten die unangenehme Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod und mit dem Leiden anderer. Ich bin aber überzeugt, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. In Wirklichkeit ist es doch so, dass die Menschen viele Fragen haben, dass sie verunsichert sind und dass sie deswegen nicht die Entscheidung für oder gegen eine Organspende treffen. Wir sollten diese Verunsicherung ernst nehmen und alle Maßnahmen zur Erhöhung der Spendenbereitschaft daran messen, ob sie geeignet sind, die berechtigten Sorgen und Fragen der Menschen angemessen zu beantworten. Eine Bürgerin hat mich zum Beispiel gefragt: Wenn ich Organspenderin bin, kann ich dann trotzdem sicher sein, dass im Fall der Fälle alles getan wird, um mein Leben zu retten? - Umgekehrt gab es diese Frage: Muss ich im Sterbeprozess durch die nötigen intensivmedizinischen Maßnahmen vielleicht zusätzlich leiden? - Ein anderer fragte mich, ob seine Organe wirklich diejenigen bekommen, die sie am dringendsten benötigen, oder ob da nicht auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen. Auch ethische, moralische und religiöse Vorstellungen sowie familiäre Beziehungen und Wertesysteme beeinflussen die Entscheidung. Was versucht der hier vorliegende Gesetzentwurf dagegenzusetzen? - Moralische Appelle, Werbekampagnen oder rein technische Lösungen. Ich fürchte, das reicht nicht, um diese Fragen zu beantworten. Ich spüre in dieser Debatte immer wieder eine große Angst davor, dass Menschen von einer Organspende abgehalten werden könnten, wenn wir diese Fragen und Zweifel zuließen. Ich meine, das ist genau der falsche Ansatz. Wenn wir Menschen überzeugen und gewinnen wollen, dann müssen wir ihre Sorgen und Zweifel ernst nehmen. Wir müssen uns darum kümmern. Wir brauchen nicht nur eine qualifizierte und unabhängige Beratung für die Versicherten, sondern auch eine vollkommene Offenheit und Transparenz bei jeder Stelle, die damit zu tun hat. ({0}) Ich finde, der Entschließungsantrag der Linken zum Transplantationsgesetz gibt eine gute Richtung vor, und ich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen. Keine Transparenz darf über die ganz persönliche Entscheidung des Bürgers oder der Bürgerin zur Organspende hergestellt werden. Darin sind wir uns hier hoffentlich alle einig. Darum habe ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen einen Änderungsantrag zum Gruppenantrag für die Entscheidungslösung vorgelegt. Wir wollen, dass sämtliche Regelungen zur elektronischen Gesundheitskarte aus diesem Gesetz gestrichen werden, ({1}) denn das würde uns die Möglichkeit geben, uns ausschließlich für die Entscheidungslösung zu entscheiden. Wir wollen die Entscheidungslösung pur. Worum geht es uns? - Die öffentlichen Debatten und auch die heutige Debatte haben den Menschen deutlich gemacht, was von ihnen erwartet wird, nämlich die Bereitschaft zur Organspende. Selbst wenn wir mit diesem Gesetz keine weiteren Kontroll- oder Sanktionsmechanismen installieren, kann bei dem Einzelnen der Eindruck entstehen, dass andere - Krankenkassen, der Staat, medizinisches Personal - kontrollieren könnten, ob und wie er sich entschieden hat. Die individuelle Entscheidungsfreiheit wird bereits durch diese Vermutung, mag sie noch so weit hergeholt sein, beeinträchtigt. Ich will Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen: Wenn Sie in einem Raum sind, in dem eine Videokamera installiert ist, dann werden Sie sich so verhalten, als ob sie eingeschaltet wäre und Sie beobachtet würden. Selbst wenn ich Ihnen sage, die Kamera sei gar nicht eingeschaltet, können Sie sich nie ganz sicher sein, ob ich nicht doch vom Nebenraum aus zusehe, wie Sie sich in der Nase bohren. Das heißt, Ihre Privatsphäre und Ihre persönliche Freiheit werden durch das bloße Vorhandensein einer solchen technischen Einrichtung eingeschränkt. ({2}) Die Möglichkeit, die Entscheidung zur Organspende in einer Datenbank zu speichern, installiert ein Kontrollregime, auch wenn Sie alle - und das glaube ich Ihnen das vielleicht gar nicht wollen. Die Kolleginnen und Kollegen, die mit mir diesen Änderungsantrag gestellt haben, und ich möchten gerne den Gruppenantrag zur Einführung der Entscheidungslösung unterstützen, solange die Entscheidung definitiv und unumstößlich freiwillig bleibt. Das wäre gegeben, wenn Sie unserem Änderungsantrag zustimmen und die E-Card aus dem Gesetzentwurf streichen würden. Die Millionen Euro, die wir dadurch einsparen, könnten etwa für eine qualifizierte und unabhängige Beratung ausgegeben werden, um den Menschen zu helfen, ihre berechtigten Fragen zu beantworten. Ich bitte Sie daher um Unterstützung für den Änderungsantrag. Damit würden Sie uns eine Zustimmung zu dem Gruppenantrag ermöglichen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Elisabeth Scharfenberg hat jetzt das Wort.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute neben einem Gesetzentwurf zur strukturellen Verbesserung auch einen Gesetzentwurf zur Entscheidungslösung. In diesem Gesetzentwurf sind für mich zwei zentrale Punkte verankert: Erstens. Die Erklärung zur Organspende bleibt freiwillig. Niemand darf zu einer Entscheidung gezwungen werden. Das war uns Grünen angesichts der hohen ethischen und auch persönlichen Bedeutung dieses Themas sehr wichtig. ({0}) Zweitens. Die Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger wird ernst genommen und konsequent umgesetzt. Das Thema Organspende wird in die Gesellschaft und in die Familien getragen. Genau dort, in die Familien, gehört es hin. Diese Aufklärung - das war uns sehr wichtig - muss ergebnisoffen sein. Sie darf nicht beeinflussen. ({1}) Aufklärung bedeutet nicht, die Menschen zur Zustimmung zur Organspende zu drängen. Aufklärung bedeutet nicht: Nur ein Ja zur Organspende ist eine richtige Entscheidung. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich über alle Aspekte der Organspende informieren können. Nur so ist eine bewusste Entscheidung für oder auch gegen eine Spende möglich. Wie läuft eine Organspende oder auch eine Organentnahme ab? Was bedeutet der Hirntod genau? Werde ich überhaupt noch ordentlich versorgt, wenn bekannt ist, dass ich Organspender bin? Das sind doch die Fragen, die uns allen durch den Kopf gehen. ({2}) Der eingetretene Hirntod und die Bereitschaft zur Organspende verändern den Sterbeprozess und den Abschied von dem Verstorbenen. Das müssen die Menschen auch wissen - diejenigen, die vielleicht einmal Organe spenden, und auch diejenigen, die Menschen verlieren. ({3}) Meine Damen und Herren, die Freiwilligkeit der Erklärung und die Ergebnisoffenheit der Aufklärung sind wichtige Erfolge. Dennoch haben einige Mitglieder dieses Hauses in einigen Punkten erhebliche Bedenken. Es ist geplant, dass die Krankenkassen ab 2016 die Organspendeerklärung der Versicherten auf der elektronischen Gesundheitskarte speichern und löschen können. Eine Mehrheit der Abgeordneten der Bündnisgrünen lehnt diese Regelung ab. Meine Bedenken dazu sind nicht neu. Ich habe sie bereits in der ersten Lesung hier geäußert und auch einen Änderungsantrag angekündigt. Dieser Änderungsantrag ist Ihnen allen im März zugegangen, und meine Meinung hat sich nicht geändert: Die geplante Neuregelung stellt eine Verletzung der bisherigen strengen Datenschutzregeln für die elektronische Gesundheitskarte dar. Für uns gilt der Grundsatz: Die Kassen haben keinerlei Zugriff auf sensible Versichertendaten - auch nicht als Serviceleistung. ({4}) Das darf sich nicht ändern. Das sehen andere übrigens genauso. Der Datenschutzbeauftragte Peter Schaar, die Bundesärztekammer, die Verbraucherzentralen: Alle haben zum Ausdruck gebracht, dass sie diese Neuregelung nicht für gelungen halten. Wir haben deshalb den Änderungsantrag auf der Drucksache 17/9776 eingebracht, mit dem diese Regelung wieder gestrichen werden soll. Ich bitte Sie, diesem Änderungsantrag zuzustimmen. ({5}) Das Schreibrecht der Kassen zu streichen, schadet dem Anliegen der Entscheidungslösung überhaupt nicht; das Gegenteil ist der Fall. Mit einem Schreibrecht laufen wir Gefahr, das Vertrauen der Bevölkerung in die Gesundheitskarte und womöglich auch das Vertrauen in die Organspende zu beschädigen. Aber - das möchte ich ganz deutlich sagen - dieser Änderungsantrag stellt für mich persönlich nicht den gesamten Gesetzentwurf zur Entscheidungslösung infrage; dafür ist das Thema Organspende in der Gesamtschau zu wichtig. Deshalb werde ich dem Gesetzentwurf zur Entscheidungslösung unabhängig vom Ausgang der Abstimmung zu unserem Änderungsantrag zustimmen. ({6}) Mit der heutigen Diskussion über die Organspende ist das Thema längst nicht beendet. Wir gehen einen ersten und einen wichtigen Schritt. Aber die ethischen Grenzfragen werden uns weiter beschäftigen. Ich meine hier etwa den Umgang mit den Hirntodkriterien oder eben auch die Struktur der Deutschen Stiftung Organtransplantation, der DSO. Wir werden aber auch akzeptieren müssen, dass wir nie eine ausreichende Anzahl an Spendeorganen haben werden. Wartelisten und Wartezeiten wird es auch weiterhin geben. Die heutige Verabschiedung der Gesetzentwürfe geschieht aber mit der Hoffnung, die Wartelisten erheblich zu verkürzen. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Widmann-Mauz hat jetzt das Wort. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass es Menschen gibt, die sich nicht gerne mit dem Thema Organspende befassen - manche tun es gar nicht, andere verdrängen es -, das kann ich durchaus nachvollziehen, löst es doch Empfindungen und Gefühle in den Menschen aus, die höchst persönlich sind und im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen. Das Aus-dem-Weg-Gehen, das Wegschieben, das Ignorieren ist eine allzu menschliche Verhaltensweise. Auch wenn es mir angesichts Tausender von Menschen, die auf die Spendebereitschaft von anderen hoffen, schwerfällt, dieses Verhalten zu akzeptieren, so ist es doch Ausdruck persönlicher Handlungsfreiheit, die es zu respektieren gilt; ({0}) denn selten ist es die ganz bewusste Ablehnung der Organspende an sich. Vielmehr ist es allzu oft ein persönlicher Schutz als Reaktion auf Unbehagen, auf Unsicherheit, Ängste und Misstrauen, so etwas wie ein individueller Fluchtweg. Manchem gelingt es nicht, diesem Thema aus dem Weg zu gehen! Menschen, die als Schwerkranke selbst betroffen sind und auf ein Spendeorgan warten oder die als Angehörige konkret vor die Frage gestellt sind, Spender für einen nächsten Angehörigen zu sein oder den mutmaßlichen Willen eines verstorbenen Angehörigen zu erklären. Und wieder andere haben ein hörendes Herz für die Not anderer, ganz unabhängig von einer persönlichen Betroffenheit. Allen Gruppen gegenüber stehen wir in der Verantwortung. Es ist unsere Aufgabe, durch umfassende und durch ergebnisoffene Information und Aufklärung informierte, selbstbestimmte Entscheidungen zu ermöglichen und Vertrauen in den gesamten Organspendeprozess und in die daran Beteiligten zu schaffen. Genau das tun wir mit den beiden Gesetzentwürfen, über die wir heute abstimmen. Das Vertrauen der Bevölkerung ist ganz entscheidend, wenn die Anstrengungen für eine Erhöhung der Organspendebereitschaft Erfolg haben sollen. Das geltende Transplantationsgesetz gibt bereits einen sicheren gesetzlichen Rahmen für die Anforderungen an die Organisation und an den Ablauf einer Organspende. Mit den Änderungen zum Transplantationsgesetz, die wir jetzt vornehmen, wird dieser Rahmen ausgebaut und gestärkt, die Strukturen werden verbessert und die Transparenz erhöht. Die beauftragte Koordinierungsstelle nimmt in diesem Prozess eine ganz zentrale Aufgabe wahr, bis hinein in die einzelnen Krankenhäuser. Das hat sich - das möchte ich bei dieser Gelegenheit durchaus einmal erwähnen - in den vergangenen zehn Jahren grundsätzlich bewährt. Es ist aus meiner Sicht nicht von vornherein erkennbar und nachvollziehbar, dass für eine ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung im Bereich der Organtransplantation zwingend eine andere Organisationsstruktur oder gar eine Behörde erforderlich sein soll. Die zentrale Rolle der Koordinierungsstelle wird auch daran erkennbar, dass in der EU-Richtlinie wesentliche Aufgaben für sie festgelegt werden, und wir setzen diese Richtlinie ja um. Im Übrigen ist es allein dieser Umsetzung geschuldet, dass der Gesetzentwurf zusätzliche Kompetenzen für die Koordinierungsstelle vorsieht. Gerade wegen dieser grundsätzlichen Bedeutung der Koordinierungsstelle verstärken wir auch die Kontrolle. Bereits in dem von uns eingebrachten Regierungsentwurf haben wir die Überwachungskommission und die Auskunftspflicht der Koordinierungsstelle gegenüber der Überwachungskommission gesetzlich verankert. Stellt die Überwachungskommission in Zukunft Rechtsverstöße fest, ist sie verpflichtet, die zuständigen Behörden der Länder zu informieren, damit alle notwendigen Konsequenzen eingeleitet werden können. Auch im Hinblick auf die Geschäftsführung werden mit dem Gesetzentwurf die Kontrollrechte und Kontrollpflichten der Auftraggeber über die Koordinierungsstelle deutlich gestärkt. Neben der Kontrolle ist in diesem höchst sensiblen Bereich aber auch die Schaffung von mehr Transparenz wesentlich. Insbesondere möchte ich in diesem Zusammenhang auf die Vorlagepflicht der Koordinierungsstelle gegenüber ihren Auftraggebern zum Beispiel im Falle von grundsätzlichen finanziellen und organisatorischen Entscheidungen hinweisen, aber auch auf die Verpflichtung, in Zukunft den Geschäftsbericht zu veröffentlichen. Der Gesetzgeber hat also die Weichen in die richtige Richtung gestellt. Darüber hinaus ist es dennoch erforderlich, dass sich die Akteure, also diejenigen, die wir in die Verantwortung nehmen, auch zu ihrer Verantwortung bekennen und entsprechend handeln. Deshalb ist der sogenannte Masterplan des Stiftungsrats der DSO ein wichtiger und richtiger Schritt. Er war im Übrigen notwendig, und ich erwarte jetzt von den Beteiligten, dass die sich daraus ergebenden Maßnahmen von ihnen zügig umgesetzt und vor allen Dingen auch transparent gemacht werden. Aber ich plädiere an dieser Stelle auch dafür, dass wir dem Stiftungsrat die Chance geben, die von ihm selbst aufgezeigten Maßnahmen in die Tat umzusetzen, bevor wir über andere Alternativen oder Rechtsformen diskutieren. In dieser Debatte sind mehrere Aspekte angesprochen worden, in denen Zweifel geäußert wurden, zum Beispiel zum Stichwort „Warteliste“ und zu der Frage, ob es dabei immer richtig zugeht. Die Richtlinien wurden und werden durch die Ständige Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer erstellt. Dort ist der medizinische Fachverstand vorhanden. Das ist die richtige Stelle, um diese weiter dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand anzupassen, wenn es erforderlich ist. Sie werden veröffentlicht und sind damit transparent. Das ist der richtige Weg. Wegen der grundlegenden Bedeutung dieser Richtlinien haben wir zudem die Bundesärztekammer verpflichtet, klare Regeln für die Erarbeitung der Richtlinien und für ihre Beschlussfassung festzulegen. Auch die Geschäftsordnung wird in Zukunft Regelungen zu den Einzelheiten der personellen und der verfahrensmäßigen Anforderungen enthalten. Das ist wichtig und trägt zu mehr Vertrauen bei. Sie haben das Thema Hirntod angesprochen. Auch hierzu hat die Bundesärztekammer Richtlinien erarbeitet, die im Falle eines neuen wissenschaftlichen Erkenntnisstands entsprechend angepasst werden. Aber wir im Parlament sollten dieser wissenschaftlichen Debatte nicht vorgreifen; wir sollten vielmehr die Möglichkeit schaffen, dass sie stattfinden kann. Genauso verhält es sich bei der Frage des Transports der Organe. Auch hier ist es richtig, die wissenschaftlichen und technischen Fragen durch die Fachleute klären zu lassen. Was die von Ihnen angesprochene Widersprüchlichkeit bei einer Patientenverfügung angeht: Wir werden sicherlich nicht jede persönliche Festlegung für verschiedene Lebenssituationen gesetzlich regeln können. Aber es kommt darauf an, dass die Menschen auf gute Art und Weise aufgeklärt und informiert werden, sie sich dieser Widersprüche bewusst sind und wissen, dass wir ihnen Hilfestellungen anbieten. Ich bin sehr froh, dass wir im Bereich der Lebendspende zu deutlichen Verbesserungen in den verschiedensten Sozialgesetzbüchern gekommen sind und es auch geschafft haben, eine Altfallregelung im Bereich der Unfallversicherung zu etablieren. Das sind wichtige Fortschritte, die helfen, die Organspendebereitschaft zu fördern. Eine Organspende ist ein Geschenk des Lebens. Niemand kann sie verlangen oder sie erzwingen. Und: Sie ist und bleibt eine Sache des Vertrauens. Ich bin sehr zufrieden, dass es in den Beratungen zwischen den Fraktionen, im Parlament und mit der Bundesregierung gelungen ist, diese beiden Grundsätze zu stärken und damit die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass mehr Menschen in unserem Land nicht Fluchtwege suchen müssen, sondern neue Wege in Richtung Nächstenliebe gehen können. Herzlichen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin ist Dr. Carola Reimann. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was lange währt, wird endlich gut. Mit der heutigen Beratung der beiden Gesetzentwürfe zur Reform des Transplantationsgesetzes führen wir einen langen, einen umfassenden Diskussionsprozess zu einem erfolgreichen Ende. Nach zwei großen Anhörungen im letzten Sommer, nach vielen fraktionsübergreifenden Fachgesprächen, nach Ausschussberatungen und einem zusätzlichen Expertengespräch mit dem Datenschutzbeauftragten im Ausschuss haben wir eine gute, eine tragfähige Lösung gefunden. ({0}) Ich bin mir sicher, dass dieser breite, überparteiliche Diskussionsprozess dazu beiträgt, dass die Neuregelungen auch auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz stoßen werden. Unser Ziel muss sein, das Vertrauen und die positive Haltung der Bevölkerung zur Organspende weiter zu stärken. Ich denke, hier sind wir einen guten Schritt vorangekommen. Weil es sich bei der Organspende um einen so sensiblen Bereich handelt, bei dem Vertrauen die unverzichtbare Grundlage ist, haben wir uns bewusst gegen weitergehende, radikalere Lösungen entschieden. Natürlich verbindet uns mit den Befürwortern der Widerspruchsregelung der Wunsch, dass den vielen Menschen, die zurzeit auf ein passendes Spenderorgan warten, geholfen werden kann. Doch wir können und dürfen in diesem Haus nicht außer Acht lassen, dass dieses Thema auch mit Ängsten besetzt ist, weil es mit dem eigenen Lebensende zu tun hat, dass für viele Menschen die Frage, ob sie Organe spenden wollen, den intimsten Bereich ihrer persönlichen, menschlichen Selbstbestimmung berührt. Nichtbefassung mit dem Thema dabei billigend als Zustimmung in Kauf zu nehmen, halte ich deshalb für den falschen Weg. Wir wollen eine eigene, eine informierte Entscheidung. Wir wollen vor allen Dingen eine freie Entscheidung. ({1}) Ich bin davon überzeugt, dass wir so unser Ziel, die Förderung der Organspende, besser erreichen, als dies bei den vermeintlich einfacheren Lösungen der Fall ist. Wir wollen keinen gesetzgeberischen Zwang. Aber wir wollen mit der nachdrücklichen Aufforderung zur Entscheidung die Menschen ermutigen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Denn jedem sollte klar sein: Sich mit dem Thema nicht zu befassen, heißt nicht unbedingt, dass man die Entscheidung umgehen kann. Im Falle des Todes trifft die Last der Entscheidung dann die Angehörigen umso härter. Sie müssen dann im Moment der Trauer für den Verstorbenen entscheiden. Sie sollen es in seinem Sinne entscheiden, aber nicht selten müssen sie das ohne Kenntnis seiner Haltung zur Organspende tun. Deshalb ist es gut, die Entscheidung zur Organspende ins Leben zu holen. Wir setzen mit dieser Reform auf Information, auf Aufklärung und auch auf einen gewissen Nachdruck. Aber wir setzen weiterhin auf Freiwilligkeit. Wir wollen Menschen mit guten Argumenten davon überzeugen, eine Entscheidung zu treffen und sie zu dokumentieren. Aber wir werden niemanden dazu zwingen. Wir überlassen den Bürgerinnen und Bürgern auch die Wahl, auf welchem Medium sie ihre Haltung dokumentieren wollen. Wer die Dokumentation auf dem herkömmlichen Papierausweis, den wir alle haben, favorisiert, kann seine Haltung dort festhalten. Wer künftig keinen weiteren Ausweis mit sich herumtragen will, hat die elektronische Versichertenkarte als neue weitere Option, wenn mit der nächsten Kartengeneration die technischen Voraussetzungen geschaffen sind. Auch hier bleibt es den Versicherten überlassen, ob sie ihre Haltung selbst auf der Karte speichern oder hierfür die Hilfe ihrer Kasse, ihres Arztes oder ihres Apothekers in Anspruch nehmen. Ziel dieser Regelung ist es nämlich, neben der Entscheidungsfindung auch die Dokumentation so leicht wie möglich zu machen und jedem Versicherten möglichst viele und einfache Wege der Dokumentation anzubieten. Strenge Datenschutzstandards, mit dem Datenschutzbeauftragten abgestimmt, und die ausdrückliche Zustimmung und Freiwilligkeit des Versicherten sind im Gruppenantrag hierfür vorgesehen. Die vorliegenden Änderungsanträge von Scharfenberg/Terpe und auch von Vogler/Nešković ändern nichts am ohnehin hohen Datenschutzstandard. ({2}) Letztlich schränken sie aber die Dokumentationsmöglichkeiten für die Versicherten ein. Aus diesem Grund halte ich diese beiden Anträge für nicht zielführend. Ich habe zu Beginn meiner Rede von Vertrauen als unverzichtbarer Grundlage für diesen sensiblen Bereich gesprochen. Dazu gehört auch eine transparente und verantwortungsvolle Arbeitsweise der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Die berechtigte Kritik an der DSO wird nun zu einer Neuausrichtung führen. Mit dem von der SPD-Fraktion unterstützten Entschließungsantrag unterstreichen wir die Forderung nach einer Neuausrichtung und machen deutlich, dass wir diesen Prozess im Gesundheitsausschuss intensiv begleiten werden. Abhängig davon wird zu entscheiden sein, ob weitere Maßnahmen zur Reform der DSO in die Wege geleitet werden müssen. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Gruppenantrag zur Entscheidungslösung eine gute, eine tragfähige Lösung gefunden haben. Sie wird unser Ziel, die Entscheidung zur Organspende zu erleichtern, erreichen. Zusammen mit dem Gesetzentwurf zu den technisch-organisatorischen Fragen der Organspende, der hier schon angesprochen wurde, bringen wir ein gutes Paket auf den Weg. Dazu zählen nicht nur die Verbesserung der Abläufe in und zwischen den Krankenhäusern sowie die verbindliche Einführung von Transplantationsbeauftragten in den Kliniken - die Kollegen haben darüber berichtet - sondern auch die bessere Absicherung von Lebendspendern, was ein wirklich großer und guter Schritt ist. Ich bitte Sie deshalb um Unterstützung für beide Gesetzentwürfe. Danke schön. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Stefanie Vogelsang das Wort.

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Sicherlich, wir haben über die Entscheidungslösung und auch über das Transplantationsgesetz im Vorfeld eine lange Zeit debattiert. Die erste Lesung beider Gesetzentwürfe hatten wir hier aber erst kurz vor Ostern. Ich glaube, es war Ende März, als wir uns hier zusammengesetzt und darüber gesprochen haben. Wir waren froh darüber und stolz darauf, dass unsere Fraktionsvorsitzenden eine geeinte Position zur Entscheidungslösung gefunden hatten. Gleichzeitig beraten wir ein Gesetz, das Transplantationsgesetz, das sich mit den Einzelheiten - der Teufel liegt bekanntlich im Detail - beschäftigt. Wir haben uns im Ausschuss - die Kollegin Ausschussvorsitzende, Frau Reimann, hat darüber berichtet - intensiv in Anhörungen mit Expertenmeinungen und unterschiedlichen Aspekten des Gesetzes auseinandergesetzt. ({0}) Wir haben hier heute in der Debatte die unterschiedlichen Schwerpunkte und Positionen gehört. Deswegen möchte ich jetzt, gegen Ende der Debatte, deutlich machen, worauf es mir ankommt und was für mich wichtig ist. Für mich ist zum Ersten wichtig, dass sich jeder freiwillig entscheiden kann, ob er Organe und Gewebe spendet oder ob er das nicht möchte. Jeder kann sagen, dass er sich beispielsweise jetzt noch nicht entscheiden kann, und jeder kann sich entscheiden, zwar einige Organe zu spenden, andere aber von der Spende auszunehmen. Also kann jeder für sich eine differenzierte Position beziehen und im Falle seines Todes ganz frei über seinen Körper, seine Organe entscheiden. Das finde ich ganz wichtig. Wichtig finde ich aber auch, dass sich jeder nach dem Gebot der Menschlichkeit entscheiden sollte und dass der sanfte Druck erhöht wird, dass sich die Menschen mit diesem Thema beschäftigen. Viele von uns haben den Organspendeausweis. Viele von uns erklären in Umfragen, dass sie bereit sind, ein Organ zu spenden; aber die wenigsten diskutieren im Familienkreis darüber. Bei den wenigsten Menschen ist es so, dass die Angehörigen wissen, welchen Umgang mit seinen Organen derjenige, den man lieb hat und für den man im Zweifel der Rechtsnachfolger bei der Entscheidung im Krankenhaus ist, wünscht. Werbung für Organtransplantation und Organspende, etwa mit großen Plakaten an Wänden, ist zweifellos wichtig. Aber über dieses Thema muss auch in den Familien, am Küchentisch, intensiv debattiert werden, damit die Angehörigen Bescheid wissen. Mich freut, dass wir noch einmal in die Tiefe gegangen sind, uns mit den Details beschäftigt haben, dass wir die Abläufe in den Krankenhäusern klargestellt haben, dass wir die Schaffung von Transplantationsbeauftragten vereinbart haben. Im gesamten Gesetzentwurf ist immer wieder von Organen und Geweben die Rede. Wir sehen also nicht nur Herz und Niere, sondern auch die vielfach benötigte Aorta, die Herzklappe oder die Hornhaut für das Auge. Darüber wird wenig geredet, aber es ist für viele Menschen genauso wichtig. Mir persönlich ist außerdem wichtig - ich habe das in der ersten Lesung gesagt -, dass wir uns mit dem Thema Nachsorge beschäftigt haben. Wir erhöhen die Organspendebereitschaft. Wir erhöhen die Zahl von Organtransplantationen. Aber wir kümmern uns bisher zu wenig um qualitätsbezogene Richtlinien, die klären, wie man eine einheitliche Qualitätssicherung auf dem Gebiet der Nachsorge bei Empfängern und auch bei Lebendspendern gewährleisten kann. Die Verbesserung der Nachsorge, die neuen Richtlinien, die Möglichkeit der Bundesärztekammer, Richtlinien zur Qualitätssicherung zu verabschieden, sind etwas Bedeutungsvolles. Das haben wir gemeinsam in der Diskussion erreicht. Wir kennen die Realitäten in unseren Krankenhäusern. Wir wissen, dass sich die Einnahmesituation der Krankenhäuser und das Leid der Patienten immer wieder gegenüberstehen. Angesichts dessen muss sichergestellt sein, dass die Aufwendungen der Krankenhäuser für die Transplantation von Organen von den Krankenkassen refinanziert werden. ({1}) Auch die Verwaltungsleiter der Krankenhäuser sollten ohne schlechtes Gewissen beim Blick auf ihr Budget die Möglichkeit haben, ihre Mitarbeiter anzuhalten, sich um dieses ethisch so wichtige Thema zu kümmern. Ich glaube, dass wir mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung, mit der Freiwilligkeit, aber auch mit dem sanften Druck zur Entscheidung auf der einen Seite und mit den Transplantationsbeauftragten, mit der Bezahlung und mit der Hervorhebung von Gewebespenden auf der anderen Seite einen großen Schritt in die richtige Richtung gegangen sind. Nächste Woche Samstag, am 2. Juni, ist der Tag der Organspende. Ich glaube, dass dann unser Gesetzentwurf in Kraft getreten sein wird, wenn wir ihn heute hier verabschieden. Ich denke, dass wir uns vielleicht nächstes Jahr am Tag der Organspende darüber unterhalten können werden, dass wir eine Erhöhung der Anzahl der in Deutschland gespendeten Organe verzeichnen können. Das würde uns alle sehr freuen. Danke schön. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Stephan Stracke das Wort. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung für eine Organ- oder Gewebespende ist ein Geschenk. Sie ist ein Akt der Nächstenliebe. Den Empfängern ermöglicht sie das Weiterleben oder eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität. Viele empfinden sie als ein zweites Leben, das einem geschenkt wird. In Deutschland warten derzeit rund 12 000 Menschen auf Spenderorgane. Demgegenüber konnten im letzten Jahr nur rund 5 000 Organe transplantiert werden. Seit dem 1. Dezember 1997 bildet das deutsche Transplantationsgesetz einen sicheren Rechtsrahmen für Organspenden. Es regelt die Spende, Entnahme, Vermittlung und Übertragung von Organen, die nach dem Tod oder zu Lebzeiten gespendet werden. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen, dem fraktionsübergreifenden und dem der Bundesregierung, wollen wir zwei wesentliche Verbesserungen erreichen: Wir wollen erstens den Organspendeprozess als solchen verbessern und zweitens die Spendebereitschaft als solche erhöhen. Zum ersten Punkt. Der Verbesserung des Organspendeprozesses kommt eine ganz zentrale Bedeutung zu. Allein die Einsetzung von qualifizierten und professionellen Transplantationsbeauftragten kann nach Schätzungen zu einer Verbesserung der Situation um bis zu 80 Prozent beitragen. Im Vordergrund steht dabei eine vernünftige und sensible Gesprächsführung. Dabei ist auch ein Blick ins Ausland hilfreich. In der Diskussion wird immer wieder das spanische Modell angeführt. Man stellt fest: Entscheidend für den Erfolg der Organspende in Spanien sind vor allem eine flächendeckende Versorgung mit qualifizierten und geschulten Transplantationsbeauftragten und eine effektive Organisation des Organspendeprozesses. Deswegen gehen wir das an. Eine bessere Organisation der Organspende und der Organtransplantation wird sicherlich auch in Deutschland zu einem verantwortungsvollen Umgang mit diesen ebenso seltenen wie sensiblen Ressourcen beitragen. Ein Zweites ist wichtig, nämlich die Erhöhung der Spendebereitschaft. Der Erfolg der Organspende in Deutschland hängt auch von der Spendebereitschaft ab. Rund 75 Prozent der Befragten - das wurde hier schon öfter angeführt - stehen der Organspende grundsätzlich positiv gegenüber, aber nur 25 Prozent haben tatsächlich einen Organspendeausweis. Das liegt daran, dass man sich mit dem Tod eigentlich nicht auseinandersetzen will, dass man Angst hat, dass beispielsweise Ärzte sich nicht mehr entsprechend kümmern könnten, oder dass man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht entscheiden kann oder will. Die vorliegenden Gesetzentwürfe zielen daher darauf ab, die Lücke zwischen der potenziellen und der tatsächlichen Bereitschaft zur Organspende und zu der entsprechenden Erklärung zu verringern. Im Mittelpunkt steht dabei das Leitbild des verantwortlich handelnden, weil informierten und aufgeklärten Bürgers. Das Selbstbestimmungsrecht tasten wir nicht an. Dies ermöglicht denjenigen, die durch eine Spende anderen helfen möchten, dies zu tun. Wir billigen aber in gleicher Weise, wenn jemand kein Spender sein will; denn wir wissen: Freiwilligkeit und der Respekt vor dem Willen des Einzelnen, das ist einer der wichtigsten Punkte, wenn es um die Akzeptanz der Organspende geht. Dabei nehmen wir drei Dinge in den Blick: erstens informieren, zweitens entscheiden und drittens dokumentieren. Erstens. Die Menschen sollen sich mit dem Thema Organspende befassen. In regelmäßigen Abständen wollen wir sie darüber informieren. Ich weiß, diese Konfrontation ist etwas, das nicht von allen in der Bevölkerung gewünscht ist, aber sie ist hier ganz bewusst gewollt. Es ist gewollt, dass man sich damit auseinandersetzt, dass man sich im Familienkreis mit diesem Thema befasst. Zweitens wollen wir die Versicherten auffordern, sich auch tatsächlich zu entscheiden - für sich selber, für den Organspendeempfänger und nicht zuletzt für die Angehörigen; denn wir wissen: In dem Moment, wo jemand beispielsweise einen plötzlichen Hirntod erleidet, besteht eine emotionale Ausnahmesituation vor allem für die nächsten Angehörigen. Deshalb ist es auch wichtig, dass man sich entschieden hat, dass man im Familienkreis darüber gesprochen hat. Drittens. Das Allerbeste ist, dies dann auch entsprechend dokumentiert zu haben. Deswegen wollen wir - es gibt ja schon den Organspendeausweis in Papierform mit der elektronischen Gesundheitskarte Verbesserungen erreichen. Dann ist der Wille dokumentiert, und es bedarf nicht der Nachfragen bei anderen, um die Information zu bekommen. Zusammen mit den aus meiner Sicht wichtigen Verbesserungen bei der Organisation der Organspende und der Infrastruktur kann es gelingen, die Situation bei der Organspende spürbar zu verbessern, ohne dass massiv in die Freiheit des Menschen eingegriffen wird. Ich denke, die vorliegenden Gesetzentwürfe bringen das Thema Organspende deutlich voran. Ich bitte Sie herzlich um Zustimmung. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Es wurden die Reden von den Kollegen Molitor, Seifert und Behm sowie Erklärungen gemäß § 31 unse- rer Geschäftsordnung1) der Kollegen Dittrich und Sharma zu Protokoll gegeben2). 1) Anlage 2 2) Anlage 3 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Wir kommen zur Abstimmung über den von den Abgeordneten Volker Kauder, Frank-Walter Steinmeier, Gerda Hasselfeldt, Gregor Gysi, Renate Künast, Jürgen Trittin sowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz. Der Ausschuss für Gesundheit hat in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9774 empfohlen, über diesen Gesetzentwurf einen Beschluss herbeizuführen. Eine darüber hinausgehende Beschlussempfehlung hat der Ausschuss nicht abgegeben. Zu diesem Gesetzentwurf liegen zwei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Wolfgang Nešković, Matthias Birkwald sowie weiterer Abgeordneter auf Drucksache 17/9775. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen und einigen Stimmen aus der Fraktion Die Linke gegen viele Stimmen aus der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Harald Terpe, Birgitt Bender sowie weiterer Abgeordneter auf Drucksache 17/9776. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und jeweils Stimmen aus der Fraktion Die Linke und der Grünen abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit sehr großer Mehrheit bei einigen Gegenstimmen aus der Fraktion Die Linke und den Grünen und einigen Enthaltungen bei den Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und der Mehrheit der Fraktion Die Linke und der Grünen bei jeweils einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen aus der Fraktion der Linken und jeweils einer Enthaltung bei den Grünen und der FDP angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9773, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7376 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linksfraktion bei Enthaltung der Grünen und einer Enthaltung aus den Reihen der FDP angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 17/9777. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9778. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt. ({0}) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 32 a und b so- wie Zusatzpunkt 6 auf: 32 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Flughafen Berlin Brandenburg: Flugrouten, Lärmauswirkungen - Drucksachen 17/6942, 17/8514 - b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Herbert Behrens, Thomas Nord, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes - Drucksache 17/8129 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) - Drucksache 17/9452 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Wichtel ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ursachen und Verantwortlichkeiten für das Berliner Flughafendebakel lückenlos aufklären Chancen für besseren Lärmschutz nutzen - Drucksache 17/9740 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Die Fraktion Die Linke hat zu der Antwort der Bundesregierung auf ihre Große Anfrage einen Entschließungsantrag eingebracht. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke das Wort. ({3})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte findet statt, weil die Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke geantwortet hat. Es geht um eines der berühmten Großprojekte in Deutschland. Aber egal, welches Großprojekt ich nehme, ob ich an den Flughafen in Frankfurt oder an Stuttgart 21 denke: Es ist noch nie gelungen, die Bevölkerung so einzubeziehen, dass solche Großprojekte widerspruchsfrei realisiert werden konnten. Immer wurden Auseinandersetzungen in Kauf genommen. Genau so ist es beim Flughafen Berlin Brandenburg, der wohl den Namen Willy Brandt tragen soll. Was ist das Problem? Wenn man Großprojekte in einer Gesellschaft wie unserer startet, wird die Demokratie nur dann gewahrt, wenn man die Bürgerinnen und Bürger rechtzeitig und umfassend einbezieht. ({0}) Man wird nie alle Widersprüche auflösen können; aber man muss das Gespräch suchen. Hier ist nun etwas ganz Groteskes passiert: Man hat sich bestimmte Flugrouten ausgedacht. Auf dieser Grundlage wurden Gespräche geführt und Lärmschutzmaßnahmen durchgeführt. Dann meinte das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung beim Bundesverkehrsministerium: Wir nehmen ganz andere Routen. - Diese Routen waren bis dahin überhaupt noch nicht diskutiert worden und wurden ziemlich willkürlich gewählt, sodass mit denen, die jetzt betroffen sind, nie gesprochen worden ist. Die Betroffenen haben also keinen Lärmschutz, und diejenigen, die welchen haben, brauchen ihn gar nicht mehr. Ich muss sagen: Etwas Irreres habe ich überhaupt noch nicht erlebt, auch was die Kosten anbetrifft. ({1}) Das Nächste ist, dass zwei Seen betroffen sein sollten: der Wannsee und der Müggelsee. Bei beiden Seen gibt es auch Naturschutzgebiete. Da ist mir eines aufgefallen - das bin ich seit so vielen Jahren leid -: Wo geht Klaus Wowereit hin? Er protestiert dagegen, dass der Wannsee belastet wird; beim Müggelsee war er nie. Kann das nicht einmal aufhören? ({2}) Ist es nicht unsere Pflicht, beide Seen zu schützen, das heißt den Müggelsee und den Wannsee? ({3}) Das ist wirklich grotesk. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wellmann?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gerne.

Karl Georg Wellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003862, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Gysi, sind Sie denn bereit, sich daran zu erinnern, dass Sie von der Linken in Berlin zehn Jahre lang Regierungsverantwortung getragen haben ({0}) und dass es Ihr Parteifreund Wolf war, der als Wirtschaftssenator für den Flughafen zuständig war?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Letzteres ist leider ein Irrtum; aber es ist wahr, dass wir in der Zeit in der Regierung waren. Es ist auch wahr, dass die besten Maßnahmen von uns gekommen sind. ({0}) - Passen Sie auf; ich werde Ihnen das gleich belegen. Dass Wowereit als Aufsichtsratsvorsitzender bei dem Termin derartig versagt hat, liegt nur daran, dass er jetzt mit der CDU und nicht mehr mit den Linken regiert. Das wäre bei uns gar nicht möglich gewesen. ({1}) Abgesehen davon tragen wir eine große Verantwortung. Mir geht es jetzt aber gar nicht um Parteien, sondern um die Betroffenen. ({2}) Ich weiß schon, wer die Verantwortung auf Bundesebene trug; ich komme noch zu Herrn Wissmann und den anderen. ({3}) Ich werde Ihnen darauf noch Antworten geben. Die ganze Lärmproblematik gäbe es gar nicht, wenn man sich damals für Sperenberg entschieden hätte. ({4}) Wer war gegen Sperenberg? Die Bundesregierung, mit Wissmann an der Spitze. ({5}) Und warum? Weil Wissmann eine Konkurrenz zu den Flughäfen München und vor allen Dingen Frankfurt am Main verhindern wollte. Das steckte dahinter. Warum war Diepgen, der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin - übrigens in Koalition mit der SPD, nicht mit uns, wie Sie ja wissen -, gegen Sperenberg? Er hat erklärt, dass den Westberlinerinnen und Westberlinern eine Reise bis Sperenberg nicht zuzumuten sei, sondern maximal bis Schönefeld. Etwas Kleinkarierteres habe ich nach Herstellung der deutschen Einheit überhaupt noch nicht gehört. ({6}) Herr Stolpe war der Einzige, der für Sperenberg war. Aber der ist, wie es bei Sozialdemokraten üblich ist, umgefallen. Das ist die Wahrheit. Sonst hätten wir die Probleme, mit denen wir uns jetzt auseinandersetzen müssen, überhaupt nicht. ({7}) Ich sage Ihnen noch etwas: Das Bundesverwaltungsgericht hat das Nachtflugverbot in seiner Entscheidung leider nur von 0 Uhr bis 5 Uhr erteilt. Dagegen richtet sich eine Verfassungsbeschwerde. Wir werden abwarten, wie das Bundesverfassungsgericht darüber entscheidet. Möglicherweise muss sogar der Europäische Gerichtshof darüber entscheiden. Das lasse ich aber offen, weil es eine generelle Frage gibt: Was hat eigentlich Vorrang, wenn man einen Flughafen unmittelbar an der Grenze zu einer Hauptstadt baut? Ist es wirklich so, dass die Wirtschaftlichkeit Vorrang hat vor der Gesundheit Hunderttausender Bürgerinnen und Bürger? ({8}) Der Maßstab, der dort angelegt wurde, ist überhaupt nicht vertretbar. Wie hat das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung begründet? Es hat unter anderem gesagt, dass bei einer Überschreitung von 55 Dezibel bei geschlossenen Fenstern Lärmschutz gewährt werden muss. Ich habe mich dann in einem Brief an die Bundeskanzlerin - Sie tun immer so, als ob der Bund nicht zuständig sei; der Bund ist auch Eigner, das muss man hier einmal ganz klar sagen -, an den Regierenden Bürgermeister von Berlin und an den Ministerpräsidenten von Brandenburg gewandt und aufgezeigt, welche Probleme die Bürgerinnen und Bürger bei der Gewährung von Lärmschutz haben. Denn wenn man schon ein derart enges Nachtflugverbot hat und wenn man schon Schönefeld statt Sperenberg genommen hat, dann könnte man doch wenigstens im Hinblick auf die Gewährung von Lärmschutz großzügig sein. Es ging darum, dass es keinen Lärmschutz für Wintergärten gibt und dass gesagt wurde, manche Räume seien zu niedrig, es seien gar keine Räume im baurechtlichen Sinne. Das ist grotesk. Da wohnt eine Frau seit 40 Jahren in ihrem Haus, und dann wird ihr der Lärmschutz mit dieser Begründung verweigert. Das ist doch kleinkarierter Mist. Jetzt haben Sie ihre Haltung allerdings - das muss ich zugeben - ein wenig geändert. Nun wurde entschieden, in all diesen Fällen die Lärmschutzmaßnahmen zu übernehmen. Durch den Druck der Bürgerinnen und Bürger und übrigens auch durch unseren Druck ist es erreicht worden, dass sich der Flughafenbetreiber zumindest diesbezüglich bewegt hat. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Wellmann? ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Karl Georg Wellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003862, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Gysi, ist Ihnen bekannt, dass Ihre Partei im Land Brandenburg mitregiert und dass das Land Brandenburg im Verhältnis der drei Eigentümer die Federführung bei der Errichtung des Flughafens hat?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mir war sehr wohl bereits bekannt - aber ich danke Ihnen für den Hinweis -, dass die Linke in Brandenburg regiert, ({0}) allerdings erst seit kurzer Zeit. Sie hat bereits einiges durchgesetzt. ({1}) - Hören Sie mal zu! - Sie hat durchgesetzt, dass jetzt auch für Wintergärten und für niedrige Räume Lärmschutz gewährt wird. Das ist das Verdienst der Linken in Brandenburg. ({2}) - Das ist nicht Ihre Sorge. Sie wohnen ja auch nicht dort, Herr Trittin. Dann kann man immer eine große Klappe haben. Aber wenn man dort wohnt und derartig belastet wird, dann sieht man die Situation ganz anders. ({3}) - Ich wusste, dass Sie sich so aufregen. Ich habe mich deshalb schon auf diese Debatte gefreut. ({4}) Nun hat der Betreiber bei der Planfeststellungskommission in Brandenburg, die leider unabhängig ist, einen Antrag gestellt. Trotzdem kann und muss die Regierung Einfluss nehmen. Man will, dass festgestellt wird, dass täglich sechsmal die Marke von 55 Dezibel im geschlossenen Raum überschritten werden darf, bevor überhaupt Lärmschutzmaßnahmen greifen. Das widerspricht dem bisherigen Planfeststellungsbeschluss und vor allem - darauf wird viel zu wenig eingegangen - dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Das Bundesverwaltungsgericht führt auf Seite 122 seines Urteils aus: Dürfte es mehr als sechs Überschreitungen geben, dann würde ein solcher Umstand „jeder inneren Rechtfertigung entbehren“. Sollte die Planfeststellungskommission wirklich der Meinung sein, dass die sechsmalige Überschreitung von 55 Dezibel bei geschlossenen Räumen zulässig ist, dann hieße das, dass die Rechtsgrundlage für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben ist. Das geht überhaupt nicht. Die Planfeststellungskommission muss sagen: Es bleibt dabei. Wenn einmal die Marke von 55 Dezibel überschritten ist, dann gibt es einen Rechtsanspruch auf Lärmschutz. ({5}) Jetzt zum Thema Verschiebung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie wissen, dass Sie Ihre Redezeit überschritten haben? ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wissen Sie, wenn ich die ganze Zeit unterbrochen werde, dann kann ich keine klaren Ausführungen machen. Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz Folgendes sagen: Das ist eine Blamage. Das hat Provinzniveau. ({0}) Klaus Wowereit ist immerhin der Vorsitzende des Aufsichtsrats. ({1}) Die Kontrolle hat vollständig versagt. Um diese Tatsache kommen Sie alle nicht herum. Wir können uns entscheiden: Blamieren wir uns weiterhin ({2}) oder machen es endlich vernünftig, nämlich mit den Bürgerinnen und Bürgern unter Gewährung eines großzügigen Lärmschutzes. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Peter Wichtel für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Wichtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004189, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag der Grünen und den Gesetzentwurf der Linkspartei gelesen habe, dachte ich, dass wir uns heute mit wichtigen Themen wie Luftverkehr und Lärmschutz beschäftigen. Die Ausführungen meines Vorredners haben aber gezeigt, dass es ihm gar nicht so sehr um die Sache geht, ({0}) sondern mehr um Polemik. ({1}) Hier sollen die Bürgerinnen und Bürger gegeneinander ausgespielt werden. Zum Verfahren. Es ist meiner Meinung nach sehr bedauerlich, dass in den Anträgen keinerlei Verbesserungsvorschläge gemacht worden sind, über die man hier gemeinsam diskutieren könnte. ({2}) Die Problematik ist einfach: Wir haben ein Luftverkehrsgesetz und internationale Vorschriften. Im Rahmen der internationalen Vorschriften und des Gesetzes wird - das wird schlichtweg unterschlagen - bei der Planung von An- und Abflugverfahren dem Lärmschutzinteresse der Menschen in der unmittelbaren Umgebung von Flughäfen Rechnung getragen. Natürlich haben die direkt betroffenen Anwohner immer ein besonderes Interesse; das ist doch vollkommen klar. Wir müssen aber insgesamt zwischen den Interessen der Wirtschaft, des Luftverkehrs, unserer eigenen Import- und Exportwirtschaft und den Interessen der Reisenden weltweit und auch in unserem Land abwägen. Ganz so einfach, wie Sie es sich hier machen, ist es also nicht. Im Planungsverfahren gelten andere Handlungsspielräume; das habe ich bereits bei Einbringung der Vorlage der Linken festgestellt. Im Planfeststellungsverfahren wird untersucht: Mit welchen An- und Abflugverfahren kann die entsprechende Kapazität erreicht werden? Das wird dann auch im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens festgelegt. Wenn später die Flugrouten geplant werden - das genau ist der Punkt, über den wir heute streiten -, kommen natürlich auf einmal Betroffenheiten zustande, die man während des Planfeststellungsverfahrens zum Teil gar nicht erkennen konnte. Ich will, um es ganz deutlich zu machen, ein Beispiel nennen: Sie werden von keinem Bürger, der entlastet wird, ein Lob erhalten; aber ein anderer, der belastet wird, wird sich mit Sicherheit bei Ihnen melden und sich darüber beschweren. Mein Beispiel ist der Anflug Berlin. ({3}) Dabei wird die Stadt Erkner belastet. Sie wird ein zweites Mal im Abflugverfahren belastet. Die Bürger hatten sich beschwert; erst danach haben sich die Flugsicherung und die Fluglärmkommission damit noch einmal befasst. Eigentlich sollte die Fluglärmkommission eine Art Bürgerbeteiligung sein; denn in ihr sind Landräte, Bürgermeister und Erste Stadträte vertreten. Man erwartet eigentlich, dass dort dementsprechend auch Bürgerinteresse eingebracht wird. ({4}) Wenn entschieden wird, dass das Abflugverfahren über dem Bereich des Müggelsees stattfindet, wird es vonseiten der Bürger in Erkner keinen Applaus geben. Die werden das genüsslich zur Kenntnis nehmen, während sich die Bürger von Müggelsee bei uns beschweren werden. Deswegen muss man, wenn man sich über diese Themen unterhält, nüchtern und trocken darauf schauen: Wo können wir mit welchen An- und Abflugverfahren die Menschen am besten berücksichtigen? Wo können wir ihnen am besten entgegenkommen? Ich weise noch einmal darauf hin, dass dies das Anliegen jeder Frau und jeden Mannes hier ist. Im Deutschen Bundestag befindet sich, glaube ich, niemand, der Flugrouten bzw. An- und Abflugverfahren will, durch welche Menschen mutwillig belastet werden. ({5}) Deswegen halte ich das Theaterstück, das hier teilweise aufgeführt wird, für mehr als bedenklich. Ich finde es kritikwürdig, wenn nicht sogar beschämend, was hinsichtlich der ersten und der zweiten Verschiebung bei der Inbetriebnahme des Flughafens geschehen ist. Die Geschäftsführung hat hier, denke ich, ein besonderes Problem, nämlich ein Informationsproblem. ({6}) Sie hat aus meiner Sicht nicht nur ein Problem gegenüber der Bevölkerung, sondern auch in Bezug darauf, wie sie mit ihrem eigenen Kontrollorgan umgeht. Im Ausschuss hat uns ein Aufsichtsratsmitglied mitgeteilt, dass seit dem 20. April ein Controlling-Bericht für das erste Quartal 2012 vorliegt und dass mit der Vorlage dieses Controlling-Berichts erstmals klar wurde, dass die Inbetriebnahme gefährdet ist. ({7}) Danach fand keine weitere Information bis zu dem Tag statt, an dem gesagt wurde: Es geht jetzt wirklich nicht. - Das halte ich schon für mehr als bedenklich. Wenn behauptet wird, die Geschäftsführung der FBB, welche die hauptsächliche Verantwortung für die unmögliche Situation trägt, habe auf ganzer Linie versagt, ist das noch gelinde ausgedrückt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Es ist allerdings besonders ärgerlich, wenn hier insbesondere im Zuge der nun geführten Debatte versucht wird, die Bundesregierung massiv anzugreifen und in die Verantwortung zu bringen. Hierzu ist festzuhalten, dass die beiden Landesregierungen hauptsächlich Verantwortung im Bereich des Prozesses tragen. ({8}) Ich stelle fest, dass Genehmigung und Abnahme in den Ländern Brandenburg und Berlin stattfinden müssen. Für mehr als unglaubwürdig halte ich es, wenn hier so getan wird, als habe der Regierende Bürgermeister von Berlin, Herr Wowereit - er ist Aufsichtsratsvorsitzender -, oder Herr Platzeck als Ministerpräsident keinerlei Ahnung, was ihre Verwaltungen machen. ({9}) Sie seien erst bei der Aufsichtsratssitzung am 20. April informiert worden. Das kann doch nicht stimmen. In Zeitungsberichten, die jetzt auftauchen, wurde das deutlich. Da ist von internem Schriftverkehr - dabei geht es um E-Mails zwischen der Staatskanzlei in Brandenburg und anderen - die Rede.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi? ({0})

Peter Wichtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004189, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Entschuldigen Sie, Herr Kollege, ich habe nur eine Frage: Ist Ihnen bekannt, dass die Verträge für das Bodenpersonal in Tegel, die ursprünglich nur bis Ende Juni gingen, schon Anfang März bis September verlängert wurden? Wie ist das zu erklären, wenn man erst Ende April davon erfahren haben will? Das ist mir unerklärlich. ({0})

Peter Wichtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004189, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Gysi, ich kann Ihnen nur das sagen, was ich gerade vorgetragen habe. Dass ich das, was uns im Ausschuss vorgetragen worden ist, nicht glaube, habe ich wohl zum Ausdruck gebracht. Diese Zwischenfrage war eigentlich überflüssig. ({0}) Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass hier endlich eine lückenlose und transparente Aufarbeitung erfolgen muss. Diese Aufarbeitung ist notwendig. Dabei ist die Geschäftsführung besonders gefordert. Deswegen erwarte ich, dass dem Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages der Controlling-Bericht 1/2012 ungekürzt vorgelegt wird. ({1}) Ich erwarte, dass wir ihn einsehen können, und zwar ungeschwärzt. ({2}) Im Gegensatz zu Herrn Trittin erwarten wir, dass Herr Wowereit, nachdem er auch die zweite Einladung abgelehnt hat, die dritte annimmt. Wir erwarten, dass er nach der Aufsichtsratssitzung am 22. Juni 2012 in den Ausschuss kommt und dort Rede und Antwort steht zur Finanzierungsthematik - dieses Thema ist noch offen; das wird zurzeit geprüft ({3}) und zu möglichen Regressansprüchen der Flughafenbetreiber gegenüber den Mitbauern und Kontrolleuren. Wir erwarten aber auch, dass er aufzeigt, welche Regressansprüche die betroffenen Firmen gegen die Flughafenbetreiber erheben können, damit wir ein abgerundetes Bild von dem bekommen, was dort passiert. Wir von der Koalition erwarten, dass die Beteiligten die notwendigen Auskünfte erteilen und zur Aufklärung beitragen. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung befasst sich mit dem Thema. Dieser Vorlagen hätte es nicht bedurft. Ich denke, es ist gut, dass wir das hier einmal deutlich machen konnten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sören Bartol für die SPD-Fraktion. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer, die eigentliche Debatte findet gerade in den Abgeordnetenreihen statt. Es ist schade, dass man das nicht live verfolgen kann. Es ist schon spannend, worüber hier gerade diskutiert wird. Eigentlich wollten wir heute sachlich und entspannt über die Frage reden, wie man den Lärmschutz für Anwohnerinnen und Anwohner von Flughäfen, insbesondere in Berlin, verbessern kann. So habe ich die Vorlagen, über die wir heute beraten, verstanden. Aber ich verstehe, warum das nicht so einfach ist, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die einen haben ihre Wahlniederlage noch nicht verarbeitet - das sind die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen -, ({0}) und die anderen sind die Kollegen von den Linken. Der Kollege Gysi taucht immer dann ab, wenn er die Möglichkeit hat, etwas mitzugestalten. Ich erinnere Sie einmal daran: Wer war denn Kurzzeitsenator in Berlin? ({1}) Wer hatte denn die Möglichkeit, mitzugestalten? Immer wenn ihr die Möglichkeit habt, mitzugestalten, dann macht ihr euch ganz schnell vom Acker. ({2}) Lieber Herr Gysi, Fahnenflucht ist etwas, was Sie können. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Enkelmann?

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn die Uhr angehalten wird, gerne.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, ich möchte gerne eine Zwischenbemerkung machen. Herr Kollege, ich gehe davon aus, dass Ihnen bekannt ist, dass die Entscheidung über den Standort des Flughafens lange vor der Zeit gefallen ist, als die damalige PDS in Berlin Regierungsverantwortung übernommen hat, und erst recht lange vor der Zeit, als sie in Brandenburg Regierungsverantwortung übernommen hat. ({0}) Ich gehe davon aus, dass Ihnen auch bekannt ist, dass die zuständigen Entscheidungsträger - das waren Herr Stolpe, Herr Diepgen und Herr Bundeskanzler Kohl SPD und CDU angehören. Ihnen ist sicher auch bekannt, dass dieser Flughafen seitdem ein Pleiten-Pech-undPannen-Flughafen ist. Die Entscheidung über den Standort, die Entscheidung über das Drehkreuz und die fehlende Entscheidung über ein nationales Luftverkehrskonzeptes - für all das sind Regierungen verantwortlich, an denen die Linke nicht beteiligt war. Ich gehe davon aus, dass Ihnen das bekannt ist. Ich finde, das sollte hier auch gesagt werden. ({1})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme mir die Zeit und antworte auf Ihre Zwischenbemerkung. Ich frage mich: Was ist die Essenz dessen, was Sie uns jetzt hier gesagt haben? Ist die Essenz, dass wir immer dann, wenn eine Entscheidung getroffen wurde, sozusagen jegliche parlamentarische Arbeit einstellen? Ist die Essenz, dass man ({0}) - jetzt hören Sie bitte zu -, wenn man in Regierungsverantwortung kommt, immer sagt: „Wir waren es ja nicht, das waren die anderen“, und dann am besten noch wie Kollege Gysi nach ein paar Wochen alles wieder hinwirft? ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Enkelmann, Sie müssen auch zuhören können. ({0})

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das muss man sich überlegen. Aber das ist wahrscheinlich genau die Art und Weise, wie man als Fundamentalopposition im Deutschen Bundestag arbeitet. ({0}) Mit dem Thema Lärmschutz, um das es heute eigentlich gehen soll, hat das alles nur in einer Hinsicht etwas zu tun: Die Verschiebung der Flughafeneröffnung bietet nun die Möglichkeit, die baulichen Maßnahmen zum Lärmschutz rechtzeitig vor der Eröffnung des Flughafens zu beenden und damit die Anwohnerinnen und Anwohner besser vor den Folgen des Fluglärms zu schützen. Das ist vielleicht der einzige positive Aspekt dieses zu Recht sogenannten Dramas hier in Berlin. Lärmschutz ist ohne jeden Zweifel eine der ganz drängenden Aufgaben der Verkehrspolitik. Wenn es hier nicht deutlich vorangeht, dann werden wir erleben, dass die Akzeptanz für große Infrastrukturvorhaben weiter sinkt. Lärmschutz lässt sich aber nicht isoliert betrachten. Flughäfen haben eine enorme wirtschaftliche Bedeutung. Fliegen ist heute kein Luxusgut begüterter Schichten mehr, sondern Bestandteil der Mobilität und Lebensqualität großer Teile der Bevölkerung. Lärmschutz muss daher mit dem Mobilitätsbedürfnis der Menschen und mit den Erfordernissen der Wirtschaft und den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Einklang gebracht werden. ({1}) Wir sind der festen Überzeugung, dass dies nur möglich ist, wenn die Politik alle Beteiligten an einen Tisch bringt. Wir brauchen deshalb eine Bürgerbeteiligung, die diesen Namen verdient. Ich finde, es ist beschämend, wenn die Bundesregierung auf all die Bürgerproteste, die wir erleben, als Reaktion nun solch einen Gesetzentwurf vorlegt; jetzt muss ich auch einmal etwas in diese Richtung sagen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie vorher eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, ich wollte aufgrund Ihrer Ausführungen nur eine Frage an Sie stellen. Sie haben gesagt, dass man abwägen muss. Was hat denn dagegen gesprochen, dass die Flugzeuge die verlängerte Autobahn für Abflug und Anflug - das würde dann etwa den Bedingungen von Sperenberg entsprechen - entlangfliegen? Es wäre ein kleiner Umweg gewesen. Das einzige Gegenargument, das ich gehört habe, ist, dass es teurer wäre. Aber 100 000 Menschen wären dadurch entlastet worden. Wäre es denn so schlimm, einen kleinen Umweg in Kauf zu nehmen, durch den 100 000 Menschen entlastet werden würden, nur weil es dann etwas teurer wird? Ich kann das wirklich nicht verstehen.

Sören Bartol (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Gysi, darauf antworte ich Ihnen sehr gerne. Ich wollte in meiner Rede gleich noch etwas dazu sagen. Ich glaube, dass wir uns in Zukunft genau überlegen müssen, wie wir mit der Festlegung der An- und Abflugverfahren umgehen. Ich glaube, dass dort auch technisch noch einiges an Spielraum vorhanden ist. Wir müssen vielleicht auch bei der Lösung der einen oder anderen Frage den Fokus ein Stück verschieben in Richtung: Was kostet es, und was bringt es? Aber wir haben natürlich immer auch - dazu sage ich gleich noch etwas - Zielkonflikte. Jedes veränderte Anflugverfahren bedeutet meistens, dass man mehr Kerosin verbraucht. Dadurch bekommt man zum Beispiel Probleme bei der Erreichung von Klimaschutzzielen. Die Festlegung von Flugrouten ist eine der komplexesten Aufgaben überhaupt. Ich betone noch etwas, damit es nicht untergeht: Die Sicherheit darf man in dieser Sache niemals vernachlässigen. Wenn man etwas isoliert betrachtet, denkt man oft, dass man es besser weiß; aber es handelt sich um ein sehr schwieriges Verfahren. ({0}) Ich war bei dem, was die Bundesregierung uns vorgelegt hat. Ich sage Ihnen: Das ist zu wenig. Laut Ihnen soll die zuständige Behörde künftig, so ist es in dem Entwurf zu lesen, „darauf hinwirken“, dass der Vorhabenträger die betroffene Öffentlichkeit frühzeitig unterrichtet. Man findet kein Wort von verbindlicher Beteiligung. Stattdessen stellen Sie die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in das Belieben von Behörden und Planungsträgern. Das ist Beteiligung nach Gutsherrenart: Wenn es mir passt, dann beteilige ich, wenn nicht, dann lasse ich es sein. Es ist beschämend, dass die Bundesregierung bis heute keinen Finger rührt, um die Flughafenanwohner endlich frühzeitig bei der Festlegung der Flugrouten zu beteiligen. So werden Sie die Akzeptanzprobleme von Flughäfen und das Lärmproblem nicht lösen. Grundvoraussetzung für den Lärmschutz der Anwohner ist, dass sie frühzeitig eingebunden werden, und zwar sowohl bei Bauvorhaben als auch bei der Festlegung von Flugrouten. Wir haben relativ detaillierte Vorschläge dazu vorgelegt. Sie sind gerne eingeladen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition - aber auch die anderen -, sich daran zu beteiligen, damit wir vielleicht einen vernünftigen Konsens in diesem Hause hinbekommen. Wenn wir unser Land als Wirtschaftsstandort sichern wollen, dann brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens über die dafür notwendige Infrastruktur. Wir brauchen zugleich einen Konsens darüber, wie wir die Belastungen, die von dieser Infrastruktur ausgehen, möglichst gering halten, wie wir also zum Beispiel Fluglärm reduzieren, ohne Arbeitsplätze in Berlin oder anderswo aufs Spiel zu setzen. Wir als Fraktion werden dazu im Sommer ein detailliertes Papier vorlegen. Wir laden alle Beteiligten, alle Betroffenen ein, mit uns vorurteilsfrei und intensiv über dieses Papier zu diskutieren. ({1}) Wir sind davon überzeugt: Einen Kompromiss bekommt man nicht durch schnell gestrickte Anträge hin, sondern nur, indem man mit allen Betroffenen intensive Gespräche führt. Wir werden dabei auch offen darüber diskutieren, ob es Sinn macht, die Rangfolge der Kriterien bei der Festlegung der Flugrouten zu ändern. Natürlich hört es sich erst einmal gut an, dass der Lärmschutz künftig vor wirtschaftlichen Belangen rangieren soll. Aber ich frage mich, ob es wirklich mehr für die Umwelt bringt, wenn wir Flugzeuge aus Lärmschutzgründen zum Beispiel weitere Umwege fliegen lassen, sodass sie mehr CO2 ausstoßen. Ich sagte gerade in meiner Antwort auf Ihre Frage: Genau das ist der Zielkonflikt, in dem wir uns - das kann man nicht wegreden - befinden. Diese Balance ist aus unserer Sicht nicht gewahrt, wenn man pauschal für alle Flughäfen ein Nachtflugverbot fordert. Selbstverständlich müssen Nachtflüge auf das absolute Mindestmaß begrenzt und mit möglichst leisen Maschinen durchgeführt werden. Ich bezweifle aber, dass wir als weltweit führender Logistikstandort ganz auf Nachtflüge verzichten können. Jedenfalls wollen wir dies zuvor mit allen Beteiligten klären. ({2}) Dazu gehören auch diejenigen, die auf den Flughäfen ihr tägliches Brot verdienen. Wir dürfen, wenn wir über diese Frage diskutieren, die Interessen der dort Beschäftigten und der Unternehmen, die diese Beschäftigungsverhältnisse sichern, nicht einfach außen vor lassen. ({3}) Offen gestanden sind mir insbesondere die Linken mit ihrem Antrag um einiges zu kurz gesprungen. Wenn man den Fluglärm reduzieren will, dann reicht es eben nicht, nur die Grenzwerte herabzusetzen und Nachtflüge zu verbieten. Wir brauchen einen Ansatz, der alle verfügbaren Mittel zur Lärmreduzierung miteinander verknüpft. Dazu gehören die Durchsetzung lärmarmer An- und Abflugverfahren. Dazu gehören vernünftige Start- und Landegebühren, die noch stärker als bisher Anreize zur Verwendung lärmarmer Flugzeuge setzen. Dazu gehört natürlich auch, dass wir uns vor allen Dingen auf internationaler Ebene für strengere Lärmgrenzwerte einsetzen. Das ist, glaube ich, eine große Aufgabe. Jeder, der das schon einmal gemacht hat, weiß, wie schwierig das ist. Vor allen Dingen eines dürfen wir nicht tun - ich hoffe, das bessert sich im Laufe dieser Debatte noch ein bisschen -: die Interessen der Anwohner und der Beschäftigten gegeneinander ausspielen. Es ist wohlfeil, jeder Gruppe das zu versprechen, was sie in diesem Augenblick gerade hören will. Natürlich macht es sich gut, die verschobene Flughafeneröffnung zum Anlass zu nehmen, Maximalforderungen im Hinblick auf den Lärmschutz zu erheben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Konsens sieht ganz anders aus. Ein Konsens setzt einen Dialog mit allen Betroffenen und nicht nur mit isolierten Gruppen voraus. Genau das vermisse ich in Ihren Anträgen. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzter Kollege Bartol, was ich vermisst habe, war ein Wort der Sozialdemokraten zur Verantwortung der Regierungen der Länder Berlin und Brandenburg in dieser Angelegenheit. ({0}) Auch dazu kann man hier etwas sagen. Denn der Aufsichtsratsvorsitzende der Berliner Flughafen-Gesellschaft ist der Regierende Bürgermeister von Berlin, ({1}) und derjenige, der für die Bauaufsicht zuständig ist, ist der Ministerpräsident von Brandenburg. ({2}) Die Sozialdemokraten können gerne noch mehrere Anhörungen durchführen, in denen es um die Frage geht, ob die Lärmschutzmaßnahmen zu verbessern sind oder nicht. Irgendwann müssen Sie aber auch einmal sagen, was Sie wollen. ({3}) Wollen Sie eine generelle Einschränkung des Nachtflugverkehrs, wie es sie am Flughafen Köln/Bonn gibt, oder wollen Sie sie nicht? Auch dazu muss man hier Auskunft geben. ({4}) Es reicht nicht, zu sagen, man müsse mit allen Betroffenen sprechen. ({5}) Was ist am Ende wichtiger? Darum geht es, liebe Freundinnen und Freunde. ({6}) So einfach wie Sie kann man es sich nicht machen. Geschätzter Herr Kollege Gysi, ich sage Ihnen eines: Ihre Rede stand ein bisschen unter dem Motto „Vorwärts, Genossen, wir wollen zurück!“. ({7}) Wir können die Debatte um die Standortauswahl gerne noch einmal führen. Nur: Das bringt die Menschen, die am BBI wohnen, keinen Millimeter weiter. Es nützt niemandem, wenn wir diese Debatte noch einmal führen. Insofern ist es völlig egal, wer wann wo eine falsche Standortentscheidung getroffen hat. ({8}) Wir müssen die Probleme der Menschen, die am Flughafen Berlin Brandenburg International wohnen, lösen. Das ist Aufgabe der Verkehrspolitik, die wir im Deutschen Bundestag machen. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie haben recht, dass das nicht zurückzudrehen ist; das weiß ich. Aber ich will daran erinnern: Man hat sich damals nicht für den Standort Sperenberg entschieden. Man wollte den Flughafen in der Nähe der Hauptstadt bauen. Dann muss man in Sachen Lärmschutz allerdings besonders großzügige Regelungen treffen. Für den Lärmschutz sind bisher 144 Millionen Euro vorgesehen, während für den gesamten Flughafen weit über 2 Milliarden Euro vorgesehen waren. ({0}) Was wäre denn so schlimm daran, zu sagen: Wir treffen im Sinne der Betroffenen großzügige Lärmschutzregelungen?

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gysi, Sie müssen zumindest versuchen, die Sache richtig darzustellen. Derzeit haben 13 000 Menschen einen Kostenübernahmebescheid der Flughafengesellschaft für Lärmschutzmaßnahmen an ihren Gebäuden. Das ist die Hälfte derjenigen, die derzeit anspruchsberechtigt sind. Dass die meisten dieser Menschen, über 90 Prozent dieser 13 000 Menschen, derzeit diese Baumaßnahmen noch nicht durchgeführt haben, obwohl die Kosten vom Flughafen übernommen würden, kann man nicht der Flughafengesellschaft vorwerfen. Es ist aber auch logisch: Wenn der Flugbetrieb erst im März 2013 aufgenommen wird, dann muss man eine Entscheidung für neue Lärmschutzfenster nicht im Mai dieses Jahres treffen. Das ist der Punkt. ({0}) Es gibt die Bereitschaft, die Anspruchsberechtigten zu befriedigen. Ich bin bereit, parlamentarisch darüber zu reden, ob wir den Kreis der Anspruchsberechtigten im Rahmen einer Änderung des Luftverkehrsgesetzes erweitern müssen ({1}) und wer die Kosten zu tragen hat. Dazu steht in den vorliegenden Anträgen oder in der Großen Anfrage jedoch kein Wort. Wir müssen uns dann noch einmal mit der Sache befassen. Das können wir gern tun. Wir müssen aber aufpassen, dass am Ende nicht jeder, der irgendwann über seinem Garten in 4 000 oder 5 000 Fuß Höhe ein Flugzeug sieht, Lärmschutzansprüche hat. Das ist nämlich unbezahlbar, das wissen wir, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) In dieser Sache geht es darum: Wer hat wann was gewusst, und wer hat wann was falsch gemacht? Mir kommt das Verhalten der Geschäftsführung so vor: Man hat bis zuletzt geglaubt, dass die brandenburgische Landesregierung als ein wichtiger Aktionär diesen Wahnsinn, die Brandmeldeanlage dieser Infrastruktur per Hand oder - wie es so schön heißt - halbautomatisch zu betreiben, am Ende doch genehmigen wird. Dass die Bauordnungsbehörde im zuständigen Landkreis den Mut hatte, dagegenzuhalten, spricht für die dort Tätigen. Es war falsch, so lange zu warten und mit einer halbautomatischen Lösung in das Verfahren zu gehen. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, darum geht es. Herr Gysi hat danach gefragt: Was hat eigentlich Vorrang? - Ich sage Ihnen: Vorrang vor den Lärmschutzinteressen und den Wirtschaftsinteressen hat die Sicherheit. Gerade nach den Erfahrungen in Düsseldorf war es von den Betreibern unverantwortlich, überhaupt eine halbautomatische Brandmeldeanlage für diesen Flughafen vorzusehen. ({4}) Daran wird sich die Frage entscheiden, wer wann was wusste. Der Kollege Wichtel hat es gesagt: Ich bin der festen Überzeugung, dass an dieser Stelle ein Transparenzproblem zwischen den Aufsichtsbehörden und dem Aufsichtsrat besteht, denn ganz offensichtlich gibt es Controlling-Berichte, die sorgfältig erstellt wurden, bei denen jedoch diejenigen, die innerhalb der Gesellschaft für das Controlling zuständig sind, darauf angewiesen waren, dass die Daten, die ihnen von ihren Kollegen zugeleitet werden, auch stimmen. Daher war es von Anfang an ein Fehler, kein externes Controlling für diese Gesellschaft vorzusehen, sondern Erfahrungen im Kollegenkreis auszutauschen. Jetzt muss man die Chance ergreifen, von außen in alles hineinzuleuchten, denn miteinander hat es ganz offensichtlich nicht funktioniert. Das sind wir auch denjenigen schuldig, die einen besonderen wirtschaftlichen Schaden erlitten haben, nämlich den Gewerbetreibenden, den Anwohnerinnen und Anwohnern und den Beschäftigten der Flughafengesellschaft. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegt ein Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen zu Veränderungen vor. In diesem Antrag steht viel Kluges. Dort steht auch ein Punkt, der hier in den Debatten eine Rolle spielt, nämlich die Frage, wie Flugrouten festgelegt werden und ob diese zukünftig bereits im Planfeststellungsverfahren erörtert werden sollen. Diese Diskussion kann man gern führen, und sie ist im Lichte der Erfahrungen mit dem BBI sicher neu zu bewerten. Meine Sorge ist aber, dass wir ein gewisses Maß an Flexibilität verlieren, wenn wir die Frage, welche Arten oder Klassen von Flugzeugen - Langstrecken- oder Kurzstreckenflugzeuge - wie den Flughafen anfliegen, im Planfeststellungsverfahren festlegen. Das Problem ist, dass Sie diese Flugrouten dann während des Betriebs des Flughafens, der einen Zeitraum von 20, 30 oder 40 Jahren umfassen kann, nicht mehr ändern können, obwohl es vielleicht lärmmindernder oder ökologischer wäre, sie zu ändern, wenn es eine neue Generation von Flugzeugen gibt. Daher bin ich sehr skeptisch, ob dies die richtige Lösung ist. Klar ist aber auch, dass sich die Fluglärmkommission, die die Große Koalition im Rahmen der Novelle des Luftverkehrsgesetzes und des Fluglärmgesetzes eingeführt hat, ganz offensichtlich nicht bewährt hat. Sie wird nicht als ordentliche Bürgerbeteiligung wahrgenommen. Geschätzte Kolleginnen und Kollegen, deshalb finde ich es gut, wenn wir auf der Fachebene noch einmal darüber sprechen, ob man an dieser Stelle nicht bessere und transparentere Bürgerbeteiligungsverfahren einführen kann. ({6}) Bei dieser Debatte geht es nicht nur um die Frage, was hier in Berlin passiert, auch wenn uns selbst, viele Bürgerinnen und Bürger und viele, die die Bundesrepublik Deutschland betrachten, das bewegt. Letztendlich hat sich Deutschland unfassbar blamiert. Wir erwecken im Ausland nämlich den Eindruck, als wären wir besonders gut im Bau von Infrastrukturen. Wenn man dann hierherkommt, dann sieht man, dass wir, die bundesrepublikanische Gesellschaft, ganz offenbar nicht in der Lage sind - sowohl aufgrund der Verwaltungsverfahren als auch bedingt durch die durchführende Gesellschaft und, ganz offen, vielleicht auch aufgrund mancher politischen Fehlentscheidung -, Flughäfen neu zu errichten, Bahnhöfe neu zu errichten und überhaupt Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen, die einer Industrienation würdig sind. Deshalb lohnt es sich, unsere Planfeststellungsverfahren zu überprüfen. Es geht nicht nur um mehr Bürgerbeteiligung - dafür sind wir auch -, sondern auch um mehr Effizienz und mehr Schnelligkeit, damit wir Infrastrukturen bekommen, die leistungsfähig sind. Das braucht nämlich die Bundesrepublik Deutschland, und im Gegensatz zu anderen hier bekennen wir uns auch dazu. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will einmal eines klarstellen: Bei der Kontrolle der Vorgänge rund um den BBI Willy Brandt - so heißt der Flughafen; wahrscheinlich ärgert sich Willy Brandt in diesen Tagen, wenn er hört, was über den Flughafen erzählt wird - geht es um drei Gesellschafter, die tätig geworden sind bzw. untätig waren. Wir stellen fest: Eines der vielleicht bekanntesten Infrastrukturprojekte in Deutschland ist richtig versemmelt worden. ({0}) Ich stelle jetzt nicht die Frage, die Gregor Gysi vielleicht gerne stellen würde, ob der Standort richtig ist, weil ich glaube, am heutigen Tag geht es um etwas anderes, nämlich um aus dem Ruder laufende Kosten, sehenden Auges der Geschäftsführung und aller Mitglieder im Aufsichtsrat. ({1}) Das Ding sollte einmal weniger als halb so viel kosten. ({2}) Wer bezahlt das? Offenbar hat kaum einer der Verantwortlichen einen Überblick über die Art und Weise des Baus. Die Öffnung wurde schon einmal verschoben. Was haben wir jetzt? Jetzt haben wir die Situation, dass sich die Airlines und auch der Non-Aviation-Bereich, also das Gewerbe dort, fragen, ob sie aufgrund der erneuten Verschiebung überhaupt Schadensersatz bekommen. Verträge wurden abgeschlossen, die besagen, dass eine Verschiebung von 18 Monaten hinzunehmen ist. Dahinter stecken bis zu 400 Menschen, die jetzt Kündigungen erhalten. Dahinter stecken Azubis, die dachten, am 1. September 2012 könnten sie mit einer Ausbildung anfangen. Dahinter steckt, dass der Steuerzahler nicht weiß, wie viel er am Ende auf allen drei Ebenen - in Berlin, in Brandenburg und im Bund - für eklatantes Missmanagement zuschießen muss. ({3}) Das ist das Thema des heutigen Tages. Herr Ramsauer hüllt sich ja in Schweigen und bietet uns eine Ersatz-Soko an. An dieser Stelle kann ich Ihnen nur sagen: Nehmen Sie uns als Haushaltsgesetzgeber und als Kontrolleur ernst! Wir können es uns nämlich gar nicht gefallen lassen, dass es plötzlich doppelt so teuer wird und dass aufgrund der ganzen Hektik der letzten Monate noch mehr Kosten entstehen. In den letzten Monaten ist man, nur um den Termin 3. Juni 2012 politisch zu halten, damit man sich nicht blamiert, so weit gegangen, osteuropäische Tagelöhner mit dem mündlichen Versprechen von 5 Euro die Stunde vom S-Bahnhof Grünau ohne Sicherheitskontrolle in Bussen auf den Flughafen zu karren. Auch hier fragen wir: Was war da? Wer wusste davon? Wer musste davon wissen? Diese Fragen stelle ich an alle drei Gesellschafter. ({4}) Wir lassen uns nicht mit dem lapidaren Satz abspeisen, Sie hätten es nicht gewusst und irgendjemand aus der Planungsabteilung hätte nicht genug gesagt, und wir lassen uns auch nicht mit dem lapidaren Satz abspeisen: Dann müssen jetzt all die Menschen, die in der Einflugschneise in Tegel leben, den Lärm vermehrt hinnehmen. Dazu sagen wir ein ganz klares Nein. Herr Ramsauer, Sie werden das Problem schon anders lösen müssen. ({5}) Jetzt brauchen wir eine tabulose Aufklärung. Wir werden uns nicht mit dem Bauernopfer Körtgen zufriedengeben, der mal eben weggeschoben wurde. Ich glaube nicht - davon bin ich nicht zu überzeugen -, dass 2010 ein Eröffnungstermin verschoben wird und man danach als Geschäftsführung und als Aufsichtsratsmitglied nicht erkennt, dass man jetzt einmal die Zügel ein bisschen anziehen und sich um diese Baustelle wöchentlich kümmern muss. Das verstehe ich nicht. Ich kann dieses Konstrukt nicht akzeptieren, dass Planung und Controlling zusammengehören. Das macht doch kein Mensch mehr, das macht auch kein Unternehmen mehr. ({6}) Sie hatten recht, Herr Döring: Das ist nicht nur altmodisch, das ist gaga. Ich kann nicht akzeptieren, dass angeblich der Brandschutz der einzige heikle Punkt sein soll. Ich habe eben von den Tagelöhnern gesprochen. Mir wird von Handwerksfirmen erzählt: Da haben wir schnell Wände hochgezogen, die wir eine Woche später wieder abgerissen haben, weil wir gemerkt haben, dass da ein bisschen was fehlt. - So nicht. Auch beim Brandschutz sage ich: Ich lasse mir nicht unterschieben - ich denke, die Mehrheit des Hauses auch nicht -, der Aufsichtsrat habe erst mit Datum vom 20. April 2012 davon erfahren. ({7}) No way. Es kann mir keiner erzählen, dass die Entfernung zu groß war. Der zu bauende Flughafen ist ja nicht 3 000 Kilometer weit von Berlin entfernt. Die Verantwortlichen begegnen sich doch ständig alle paar Tage und Wochen. Und dabei sollen die Aufsichtsratsmitglieder und ein Herr Schwarz nicht miteinander geredet haben? Es wäre noch aufzuklären, ob dem wirklich so ist. Ich habe da so meine Zweifel. Ich kann mir schon gar nicht vorstellen, dass das Problem erst im Dezember 2011 aufgefallen ist. Vorher hat man Herrn Körtgen geholt, weil dieser den Umbau am Düsseldorfer Flughafen geleitet hat, nachdem dort bei einem Brand Menschen ums Leben gekommen sind. Man hat gesagt: Hierher kommt die modernste Technik. Dabei merkt man nicht, dass man das zielgenau führen muss? Das glaubt doch kein Mensch. Dann setzen Sie im Februar eine Taskforce Brandschutz ein. Davon soll der Aufsichtsrat nichts gewusst haben? Dafür bieten Sie uns jetzt Herrn Körtgen als Bauernopfer. No way. Dann gibt es eine Interimslösung. Man will die Entrauchungsanlagen und die Feuertüren im Handbetrieb bedienen. Handbetrieb statt Hightech auf dem größten internationalen Flughafen! Ich sage Ihnen ehrlich: Das lasse ich mir von niemandem bieten: nicht von Herrn Wowereit, nicht von Herrn Platzeck und auch nicht von Herrn Ramsauer. ({8}) Dann pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass die Aufsichtsbehörden in Dahme-Spreewald animiert werden sollten, die Erlaubnis für die Anlagen im Handbetrieb zu geben. Aber der Witz ist: Diese wissen, dass sie als kleine Mitarbeiter dafür persönlich haften - ich möchte wissen, was hier Brandenburg gemacht hat -, sodass sie nachts nicht mehr schlafen könnten, wenn einer auf dem Flughafen sterben würde. Aber die Aufsichtsratsmitglieder dachten: Wir werden uns schon rausreden. - Das kann ich nicht akzeptieren. ({9}) Ich will Ihnen als letzten Satz eines sagen. Ich akzeptiere nach all diesen Vorfällen nicht, dass man sagt: Wir haben nichts gewusst. - Schauen Sie in die Kommentare zum Aktiengesetz. Dort steht: Zu den Aufgaben eines Aufsichtsrats gehört Verschaffen und Behalten eines Überblicks über die wesentlichen wichtigen Geschäftsvorfälle.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie wollten doch nur noch einen Satz sagen. Ihre Redezeit ist überschritten.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sofort, danke. Ich mache den Satz jetzt wirklich zu Ende. - Weiter heißt es: Bestehen Anzeichen auf eine ungünstige Geschäftsentwicklung, dann intensiviert sich die Pflicht der Aufsichtsräte. Auf dieser Basis kann ich nur sagen: tabulose Aufklärung! Alles muss auf den Tisch und nichts in die Geheimschutzräume. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass notfalls die Verantwortlichen persönlich in Regress genommen werden. Das ist die Aufgabe der Parlamente.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden sie wahrnehmen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jan-Marco Luczak für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Künast, das Leben könnte ja so einfach sein! Wenn wir Ihren Vorschlägen gefolgt wären, dann hätten wir bloß einen Regionalflughafen gehabt, dann hätten wir all diese Probleme nicht. Aber das Leben ist nun einmal nicht schwarz oder weiß. Sie sind mit Ihrer Kritik alles andere als glaubwürdig. Das, was Sie heute hier vortragen, ist heuchlerisch. ({0}) Aber richtig ist: Es ist kein schöner Anlass, dass wir uns heute über dieses Thema unterhalten müssen. Die Verschiebung der Eröffnung des Flughafens BER ist tatsächlich ein Desaster. Das ist ein großer Imageschaden für Berlin. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Deswegen ist es richtig: Die Ursachen müssen jetzt aufgeklärt werden. Nichts darf unter den Tisch gekehrt werden. Wir müssen uns überlegen: Wo gab es Fehler im Controlling? Wo gab es Fehler im Risikomanagement? Wer sind die Verantwortlichen in der Geschäftsführung? All das muss rückhaltlos aufgeklärt werden. Aber so wichtig das auch ist: Mich interessiert vor allen Dingen, wie es in der Zukunft weitergeht. Ich finde es gut und richtig, dass der Bundesverkehrsminister eine Sonderkommission im Verkehrsministerium eingesetzt hat, die eine enge Zusammenarbeit zwischen Berlin, Brandenburg und dem Bund sicherstellt ({1}) und genau prüft, welche Fragen noch offen sind. Das ist das Entscheidende: dass wir vor allen Dingen in den kommenden Monaten erst einmal den Flugverkehr in der Region Berlin und Brandenburg über den Flughafen Tegel sicherstellen können. ({2}) Das ist nicht einfach. Der Flughafen Tegel arbeitet schon jetzt an der Belastungsgrenze. Deswegen wird es für uns erst einmal darauf ankommen, dass wir die Mehrbelastungen, zu denen es für die Menschen um den Flughafen Tegel herum kommen wird - das wird wohl unvermeidbar sein -, auf das absolut notwendige Minimum reduzieren. Das ist jetzt die Aufgabe des Senats gemeinsam mit den Airlines und dem Flughafen. Wichtig ist mir: Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln, dass der feststehende Termin im März des kommenden Jahres tatsächlich unumstößlich eingehalten wird. Denn bei aller berechtigten Kritik muss klar sein, dass der BER das größte und wichtigste Infrastrukturprojekt für die Entwicklung und die Zukunft der Region BerlinBrandenburg ist. Der Flughafen ist für diese Region der Anschluss an die Welt. Er wird pro Jahr 25 Millionen Fluggäste und mehr zählen. Er hilft uns, die großen Potenziale, die Berlin hat, für die Berliner Wirtschaft zu heben. Nicht zuletzt ist er der Jobmotor für die Region. Über 40 000 Arbeitsplätze werden hier entstehen. Das ist gut für die Berlinerinnen und Berliner und auch für die Brandenburger. ({3}) Deswegen bin ich überzeugt, dass dieser Flughafen ein großartiger Erfolg für die Menschen in dieser Region werden muss und wird. Wir stehen auch eindeutig und klar hinter dieser Entscheidung und setzen sie um. Aber natürlich hat ein solches Projekt auch Kritiker. Wenn man will, dass solch ein großes Projekt Erfolg hat, dann muss man die Kritik auch ernst nehmen. Nur dann wird der Flughafen akzeptiert werden. Lassen Sie mich vielleicht zuerst einmal zu den Flugrouten kommen. Ich bin Abgeordneter aus TempelhofSchöneberg. Mein Wahlkreis, insbesondere der Stadtteil Lichtenrade, wäre von den Flugrouten, wie sie die DFS im September 2010 vorgeschlagen hat, erheblich betroffen worden. Ich war mit den Menschen in meinem Wahlkreis, in Steglitz-Zehlendorf und auch in den Berliner Umlandgemeinden entsetzt, als diese Flugrouten vorgestellt worden sind. Denn sie hatten mit dem, was über Jahre diskutiert und auch im Planfeststellungsbeschluss angesprochen worden ist, nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Nach diesen Vorschlägen wären die Menschen, die darauf vertraut haben, dass die Flugrouten so verlaufen, wie sie diskutiert und im Planfeststellungsbeschluss angesprochen worden sind, in ihrem Vertrauen enttäuscht worden. Diese Menschen haben auf der Grundlage dieses Vertrauens Entscheidungen getroffen. Sie haben zum Beispiel in einer bestimmten Region ein Haus gekauft und dort eine Familie gegründet. Ich finde, dieses Vertrauen durften wir nicht enttäuschen. Deswegen habe ich mich mit vielen anderen gemeinsam mit den Menschen vor Ort, den Bürgerinitiativen und der lokalen Politik dafür eingesetzt, dass diese neuen Flugrouten nicht Wirklichkeit werden, sondern die langjährig diskutierten Flugrouten die Grundlage für den BER bleiben. Es gab dann ein sehr intensives Zusammenwirken zwischen den Bürgerinitiativen, der Verwaltung und der Politik. Es gab sehr viele gemeinsame Sitzungen im Verkehrsministerium, in denen man die Bürger in die weiteren Überlegungen und auch in die Suche nach Lösungen eingebunden hat. Das Wichtigste, was man gemacht hat, war: Man hat einander zugehört. Die Betroffenen sind hier im besten Sinne zu Beteiligten gemacht worden. Das sollte auch Vorbild für andere Bereiche werden. ({4}) Auch Bundeskanzlerin Merkel und Verkehrsminister Ramsauer haben sich in der Diskussion klar und ohne Wenn und Aber festgelegt, dass die Menschen sich darauf verlassen können müssen, was ihnen Politik und Verwaltung jahrelang gesagt haben. Diesen beiden und insbesondere auch Staatssekretär Scheurle im BMVBS möchte ich an dieser Stelle persönlich und auch im Namen der Bürgerinitiativen noch einmal ganz herzlich danken. Das war ein vorbildliches Verfahren, das bei den Menschen wieder Vertrauen zurückgeholt hat. Vielen Dank an dieser Stelle. ({5}) Dieses Verfahren hat dann auch Erfolg gehabt. Es gab dann auch deutliche Verbesserungen bei den Flugrouten. ({6}) - Sie sprechen die Situation am Müggelsee an. Da muss es tatsächlich noch Optimierungen und Verbesserungen geben. - Aber unter dem Strich steht: Die Politik hat zugehört. Die Politik hat sich bewegt, und sie hat auch etwas geändert. Das ist gut und richtig. ({7}) Aber welche Lehren ziehen wir jetzt daraus? Kann man sagen: „Ende gut, alles gut“? Ich finde, das wäre ein bisschen zu einfach. Ich glaube, dass es richtig und wichtig ist, die Betroffenen früher und intensiver in die Planungen einzubeziehen. Dazu müssen wir jetzt geeignete Verfahren finden. Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch mehr Verbindlichkeit bei der Festlegung der Flugrouten brauchen. Es ist eine größere Rechts- und Planungssicherheit für alle Betroffenen, für die Bürger, aber auch für die Airlines und die Flughafenbetreiber, notwendig. Deswegen sollten wir noch einmal prüfen - der Kollege Döring hat das bereits angesprochen -, ob sich im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens möglicherweise Instrumente finden lassen, die eine stärkere Verankerung der frühen Beteiligung bei der Festlegung von Flugrouten ermöglichen und trotzdem die notwendige Flexibilität gewährleisten. Es gibt noch einen Punkt, bei dem ich mir mehr Verbindlichkeit wünsche, nämlich bei der Umsetzung der festgelegten Flugrouten. Es kann ja nicht sein, dass man sich monatelang über die Festlegung der Flugrouten streitet und dass Tausende Menschen monatelang auf die Straße gehen, dann aber die gemeinsam mit der Politik entwickelten Lösungen ausgehöhlt werden. Zum Teil passiert das aber momentan. In der Praxis kann die DFS Piloten eine Einzelfreigabe erteilen, wenn sie eine solche verlangen. In Einzelfällen kommt man daran auch nicht vorbei, wenn es beispielsweise darum geht, einem Gewitter auszuweichen. Aber es kann nicht sein, dass Einzelfreigaben zum Regelfall werden und man so dauerhaft von den festgelegten Flugrouten abweicht. Nun stellt sich die Frage, wie wir eine größere Verbindlichkeit erreichen können. Die DFS ist eine Behörde und ist an Gesetze gebunden. Das maßgebliche Gesetz ist das Luftverkehrsgesetz. Danach muss der Luftverkehr „sicher, geordnet und flüssig“ abgewickelt werden. Das lässt viel Interpretationsspielraum. Deswegen sollDr. Jan-Marco Luczak ten wir uns genau anschauen, ob wir möglicherweise die Bestimmungen des Luftverkehrsgesetzes präzisieren können. Natürlich - das ist hier schon gesagt worden -: An erster Stelle steht hier immer die Sicherheit; das muss auch so bleiben. Aber dann gibt es noch die betrieblichen, die wirtschaftlichen Interessen, und es gibt den Aspekt des Lärmschutzes. Diese Interessen stehen meistens in einem Gegensatz zueinander. Ich finde, wir müssen hier schon darüber nachdenken, ob wir den Lärmschutz nicht stärker betonen können; denn in den letzten Jahren ist die Tendenz zu beobachten, dass die Gerichte den Gesundheitsschutz in den Vordergrund stellen. Mir ist es auch wichtig, im Zusammenhang mit dem Lärmschutz zu betonen: Hier geht es nicht um Befindlichkeiten, sondern wirklich um die Gesundheit der Menschen. ({8}) Denn alle nationalen und internationalen Studien zeigen: Eine Beschallung mit Lärm kann erhebliche Gesundheitsstörungen hervorrufen. Das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt dann dramatisch. Da der Fluglärm ständig zunimmt, müssen wir uns unserem politischen Gestaltungsauftrag, den wir im Deutschen Bundestag haben, stellen. Wir dürfen uns das nicht von den Gerichten aus der Hand nehmen lassen. Ich begrüße sehr, dass die Gerichte mehr Gesundheitsschutz fordern. Aber wir sollten sehr genau darüber nachdenken

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- einen kleinen Augenblick; den Satz möchte ich noch zu Ende führen -, ob es im Rahmen eines Abwägungsprozesses möglich ist, den Gesundheitsschutz im Luftverkehrsgesetz stärker zu berücksichtigen. ({0}) Ich gestatte nun die Zwischenfrage, Herr Präsident. Aber bitte halten Sie die Uhr an.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Sie können Ihre Redezeit nur verlängern; denn sie ist eigentlich abgelaufen.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann verlängere ich sie mit einem letzten Satz. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nein, das können Sie nur, indem Sie auf die Zwischenfrage eingehen.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich zum Schluss betonen: Ich möchte, dass der BER ein Erfolg wird. Wir müssen daher die Kritik, die geäußert wurde, sehr ernst nehmen und darüber nachdenken, was wir bei der Verbindlichkeit der Festlegung von Flugrouten und bei der Verbesserung des Lärm- und Gesundheitsschutzes machen können. Nur das schafft Akzeptanz und damit die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg dieses Großflughafens. Das alles wollen wir. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, wollen Sie jetzt noch eine Nachfrage gestatten? ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das können wir sehr gerne machen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Liebich, bitte. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Luczak, Ihre Partei ist in Berlin in der Landesregierung. Die unglückliche Situation, in die wir nun geraten sind, hat zur Folge, dass die geplanten zusätzlichen Flüge weiter über Tegel abgewickelt werden. Das trifft viele Anwohnerinnen und Anwohner in Reinickendorf und in Pankow. Es gibt nun den Vorschlag, dass noch früher am Morgen losgeflogen und noch länger in der Nacht geflogen werden soll. Was sagen Sie als Vertreter einer in Berlin regierenden Partei zu diesen Vorschlägen?

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege Liebich, in der Tat ist die CDU seit einigen Monaten in Berlin in der Regierungsverantwortung. Ich finde es gut, dass wir Sie nach zehn Jahren abgelöst haben; das will ich gleich am Anfang feststellen. ({0}) Natürlich müssen wir - das habe ich in meiner Rede auch gesagt - jetzt erst einmal darüber nachdenken, wie wir gerade in den Sommermonaten, wenn viele Berlinerinnen und Berliner in den Urlaub fliegen möchten, den Flugbetrieb in dieser Region sicherstellen können. Es wird - auch das habe ich ausgedrückt - natürlich zu einer Mehrbelastung für die Menschen kommen. Uns liegen momentan die Anträge der Airlines vor. Es geht um etwa 130 Flüge in den Tagesrandzeiten. Es geht also nicht um die Kernzeit. Wir reden von Flügen bis 23.15 Uhr und ab 5.20 Uhr früh am Morgen. Das wird jetzt sehr genau geprüft werden. Für uns ist das Entscheidende, dass so weit wie möglich an den Kern- und Tagesrandzeiten festgehalten wird. Wir müssen also ein Verfahren finden, das die Mehrbelastung so gering wie möglich hält. Das werden wir auch finden; darauf können Sie sich verlassen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion. ({0})

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier sind schon einige sehr emotionale Reden gehalten worden, die sicherlich die verschiedensten Motivationen hatten. Das Thema, um das wir uns hier heute zu kümmern haben, nämlich den Luftverkehr in Deutschland zu gestalten, ist gleichwohl eine sehr wesentliche Aufgabe. Es ist zunächst einmal wichtig, dass auch wir im Parlament das Signal aussenden, dass Deutschland Luftverkehr braucht, und zwar an verschiedenen Standorten, weil in einer Industrienation wie der unseren Menschen auf Mobilität und damit auch auf Luftverkehr angewiesen sind. Dazu müssen wir uns eindeutig bekennen. ({0}) Weiterhin - da ist unsere Gestaltungskraft gefragt geht es um die Frage, ob wir als Gesetzgeber gehalten sind, das bisher gültige Luftverkehrsgesetz zu überarbeiten und, wenn ja, in welcher Form. Dabei geht es auch darum, wie wir den von Lärm Betroffenen besser helfen und mehr Akzeptanz für den Flugverkehr erreichen können. Dazu gibt es Vorschläge. Hier gilt es nun, in kluger Art und Weise die verschiedenen Aspekte abzuwägen, über die wir zu reden haben, nämlich den Luftverkehr und die Gesundheitsvorsorge für Menschen. Ein dritter Punkt, über den wir debattieren, ist die Panne beim BER und der damit verbundene Imageschaden. Das ist sehr ernst zu nehmen, weil das nicht nur den Berliner Raum betrifft, sondern die Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Solche Pannen sollten bei Großprojekten in Deutschland nicht so häufig vorkommen, weil wir uns das international nicht leisten können. ({1}) Das, was beim Planfeststellungsverfahren und dann in Bezug auf die Flugrouten zwischen der Deutschen Flugsicherung und dem Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung abgelaufen ist, entsprach den gültigen Gesetzen und war, so denke ich, nachvollziehbar. Das ist nicht zu kritisieren. Die Frage ist, ob wir daraus Lehren ziehen müssen, wenn bestimmte Ergebnisse - Kollege Gysi und andere haben das ja vorhin anhand praktischer Beispiele dargestellt - uns nachdenklich stimmen, weil sie gewisse Effekte nach sich ziehen. Ich spreche hier von der Stimmung der Bevölkerung, die sagt: „Das kann ja wohl nicht wahr sein“, und deren Akzeptanz durch die Ereignisse zerstört worden ist. An diesem Punkt ist die Politik gefordert. Jetzt müssen Minister und Parlamentarier bald mit der Bevölkerung ins Gespräch kommen, um die Akzeptanz zu erhöhen. Gestatten Sie mir auch ein Wort zu den Investitionen und zu der Pannenserie. Nach den Anhörungen, die wir im Verkehrsausschuss gehabt haben, habe ich den Eindruck, dass dieser Flughafen zum Juni dieses Jahres nicht fertig geworden wäre, auch wenn, wie es geplant war, zusätzliche 700 Studenten oder Hilfskräfte für irgendwelche Schließvorgänge eingesetzt worden wären. Der Lufthansa-Chef zum Beispiel hat darauf hingewiesen, dass die gesamte IT und das Brandschutzsystem nicht in Ordnung waren, die Lounges nicht fertiggestellt waren und die Zahl der Abfertigungsschalter unzureichend gewesen wäre. Das zeigt doch, dass zwischen dem, was hätte fertiggestellt sein sollen, und dem, was tatsächlich fertiggestellt war, eine Riesenlücke klaffte. Das ist dem Umstand geschuldet - das darf man nicht vergessen -, dass in den letzten Jahren immer wieder Beschlüsse gefasst wurden, den Flughafen zu erweitern. Das hatte auch Auswirkungen auf die Kosten. Während der Planungs- und Bauphase ist der Flughafen faktisch um 50 Prozent erweitert worden. ({2}) Das hat das Controlling möglicherweise sehr kräftig beeinträchtigt und das Ganze teilweise unüberschaubar gemacht. Ich will da niemanden entschuldigen. Stichwort „Entschuldigung“: Ich finde es gut, dass sich Wowereit und Platzeck vor ihren jeweiligen Landtagen gegenüber der Öffentlichkeit entschuldigt haben. ({3}) Dieses Thema ist, denke ich, auch richtig von ihnen beurteilt worden. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass sich die Geschäftsführung und auch der Aufsichtsrat - darüber haben wir uns im Ausschuss unterhalten - beim Thema Transparenz bewegen: Controlling-Berichte müssen für die Parlamentarier transparent sein und in den parlamentarischen Gesprächen genutzt werden können. ({4}) Uns hilft es nichts, dass die entsprechenden Berichte in der Geheimschutzstelle liegen und dort möglicherweise von keinem eingesehen werden können. Controlling-Berichte sind vielmehr dazu da, nachvollziehbar zu machen, was misslich und was gut gelaufen ist. ({5}) Zum Thema „Schaden und Regress“. Ich bin einer derjenigen gewesen, die im Ausschuss danach sehr prononciert gefragt haben. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Schaden und Regress nicht nur einen Geschäftsführer und vielleicht zwei oder drei Firmen betreffen. Dieses Thema hat einen besonderen Tiefgang. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland Gesetze, um dem gerecht zu werden. Es gab auch in der VerganUwe Beckmeyer genheit schon richterliche Entscheidungen bezüglich dieser Fragen. Dieses Thema wird eine Eigendynamik bekommen; da bin ich mir sicher. Es wird nicht nur die Politik, sondern auch Gerichte beschäftigen - und das ist auch gut so. Zum Thema Mehr- und Minderkosten. Natürlich wird das gesamte Thema, das wir hier behandeln, uns, die Gesellschaften und die sie tragenden Gesellschafter belasten. Natürlich bedarf der Flughafenfertigstellungsprozess weiteren Kapitals. Zurzeit werden, glaube ich, insgesamt 3,4 Milliarden Euro aufgewendet, teilweise durch Kredite, teilweise durch Einlagen der Gesellschafter, aber auch durch Eigenmittel der Gesellschaft. Nun stellt sich die Frage, ob weiteres Geld benötigt wird. Es ist davon die Rede, dass monatlich aufgrund von Mindereinnahmen bei Landegebühren usw. Kosten in Höhe von 15 Millionen Euro entstehen. Ich als Sozialdemokrat sage an dieser Stelle aber auch: Vergessen wir dabei bitte nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ({6}) die in dieser Angelegenheit die A-Karte haben; denn sie bekommen entweder keinen oder nur verspätet einen Job. Wenn wir uns über Entschädigungen, über Mehrund Minderkosten unterhalten, dann müssen wir uns auch bewusst machen, dass es dabei nicht nur um die Companys geht, sondern auch um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hier ganz schön gebeutelt sind und blöd dastehen. ({7}) Zum letzten Punkt. Was muss die Politik, Bund und Land, eigentlich leisten? Sie muss dafür sorgen, dass dieser bisherige Pannenflughafen endlich zu einer Erfolgsstory wird. Das ist die einzige konsequente Antwort auf die Fragen, die sich uns jetzt stellen. Der Flughafen Berlin Brandenburg „Willy Brandt“ ({8}) muss eine Erfolgsstory werden. Das ist unsere Aufgabe, an der wir jetzt alle zusammen arbeiten müssen. Der Aussage von Bundesminister Ramsauer: „Berliner Flughafen ist keine ,Pommes-Bude‘“, stimme ich ausdrücklich zu. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Beim Flughafen BER in Schönefeld handelt es sich ja um eines der größten Infrastrukturvorhaben der Region. Er ist für die deutsche Hauptstadt Berlin von zentraler Bedeutung. Ich sage an dieser Stelle klar: Ich glaube, es gibt kaum ein größeres Infrastrukturprojekt in Deutschland oder sonst wo, bei dem es nicht zu Verzögerungen kommt. Das ist nicht der springende Punkt. Wir, die FDP, hatten uns aus diesem Grund übrigens immer für die Offenhaltung des Flughafens Tempelhof bis zur Inbetriebnahme dieses Flughafens eingesetzt. ({0}) Es ging darum, die Kapazitäten des Flughafens Tempelhof nicht vorfristig aufzugeben. Aber der Regierende Bürgermeister hat deutlich mehr Energie in die Schließung dieses Flughafens als in die Eröffnung des neuen Flughafens gelegt. Das ist der springende Punkt. ({1}) Hinzu kommt das Problem des Zeitpunkts, zu dem die Verzögerung mitgeteilt wurde. Gleichzeitig Einladungskarten zu verschicken und drei Tage später die Absage mitzuteilen, das ist schlichtweg unseriös und ein Ausweis des Versagens von Management und von Klaus Wowereit in Berlin. ({2}) Jetzt wissen Sie, jetzt weiß die ganze Republik, was Wowereit in Berlin unter „Chefsache“ versteht. Hätte er es lieber gelassen! Hätte er es gelassen, wären, glaube ich, die Chancen größer gewesen und wäre es zur rechtzeitigen Eröffnung dieses Flughafens gekommen. ({3}) Dieser Regierende Bürgermeister hat vollkommen versagt. Er ist ein glänzender Repräsentant der deutschen Hauptstadt bei der Berlinale und anderen Veranstaltungen. Aber Voraussetzung ist, dass der rote Teppich schon liegt. Alles, was vor dem roten Teppich kommt, kann er nicht. Das ist eine Nummer zu groß gewesen. ({4}) Daraus leiten sich auch meine Forderungen ab: Erstens muss dieser Regierende Bürgermeister, der das zur Chefsache gemacht hat, der Vorsitzender des Aufsichtsrats ist, unverzüglich vom Aufsichtsratsvorsitz der Flughafengesellschaft zurücktreten. ({5}) Zweitens. Ich begrüße es außerordentlich, dass Minister Ramsauer die Sonderkommission eingesetzt hat. Aber es Dr. Martin Lindner ({6}) muss dann konsequenterweise darum gehen - das sage ich auch als Landesvorsitzender meiner Partei in Berlin -, dass bis zur Inbetriebnahme von BBI der Aufsichtsratsvorsitz von einem Vertreter des Bundes übernommen wird. ({7}) Wowereit kann es nicht, und die Brandenburger können es auch nicht. ({8}) Die Frau Künast möchte eine Frage stellen. Ich würde sie auch beantworten.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie die Zwischenfrage?

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich gern.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, wo wir schon über den Aufsichtsrat reden: Was würden Sie denn davon halten, wenn einmal einer oder eine in den Aufsichtsrat ginge, der oder die Ahnung hat, ({0}) mal einen Flughafen betrieben oder gebaut hat und deshalb auf Augenhöhe, fachlich und beruflich kompetent Fragen stellen kann? ({1}) Das würde ich noch für viel wichtiger halten, als noch jemanden aus dem Ministerium von Herrn Ramsauer, der keine Ahnung hat, in den Aufsichtsrat zu schicken. ({2})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Künast, ich glaube schon, dass es in diesem Aufsichtsgremium nicht darauf ankommt, dass die Mitglieder selbst Baufachmann oder Flughafenbetreiber sind. ({0}) Im Aufsichtsrat, egal welcher Gesellschaft, kommt es in erster Linie darauf an, dass man sich für seine Controlling-Rechte starkmacht, insbesondere dann, wenn man den Aufsichtsratsvorsitz hat; ich glaube, da stimmen Sie mir auch zu, Frau Kollegin Künast. ({1}) Wir beide hätten in einer solchen Position deutlich mehr Engagement gezeigt, zumindest dann, wenn wir das als Chefsache deklariert hätten, als dieser Partymeister von Berlin. Ich glaube, da kommen wir zusammen. ({2}) Ich schließe die dritte Forderung an. Der neue Aufsichtsratsvorsitzende hat eine Sonderprüfung vorzunehmen bzw. in Auftrag zu geben. Ziel muss es sein, den finanziellen Schaden zeitnah zu erfassen und alle Verantwortlichen im Management, aber auch in den Aufsichtsgremien, in den Kontrollgremien, unter den beauftragten Dritten und Behörden festzustellen. Viertens sind natürlich auch Schadenersatzansprüche zu prüfen. Es kann nicht sein, dass der Steuerzahler, egal wo, ob in Berlin, in Brandenburg oder im gesamten Bundesgebiet, am Ende für diese Pfuscherei geradestehen muss, ohne dass die Verantwortlichen in Regress genommen werden. Ich sage Ihnen weiter: Der Bundestag muss hierzu bis spätestens Ende September einen Bericht vorgelegt bekommen. Natürlich muss der Bundestag auch viel stärker involviert werden; denn im Abgeordnetenhaus von Berlin gibt es im Moment keine Opposition, die am Eröffnen von Flughäfen wirklich interessiert ist. ({3}) - Nein, gibt es nicht, Frau Künast. ({4}) Mit der einen Oppositionsfraktion kann man vielleicht einen Froschtunnel unter der Runway betreiben, die zweite Oppositionsfraktion mutmaßt hinter jeder Halle ein böses kapitalistisches Interesse. ({5}) - Mit Ihnen gibt es vielleicht ein Nachtflugverbot von 13 Uhr nachmittags bis 11 Uhr vormittags, um Werktätige und Hartz-IV-Empfänger zu schützen, aber Flughäfen kann man mit Ihnen jedenfalls nicht betreiben. ({6}) Die einzige Ausnahme gibt es vielleicht, wenn Sie Bundesparteitag haben und die Massen von saarländischen Delegierten nach Berlin eingeflogen werden müssen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Liebich?

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber selbstverständlich. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Kollegen sind traurig, dass ich Ihre Redezeit verlängere, aber die Frage muss sein. Sie erinnern sich vielleicht noch, dass Sie für den Wahlkreis Pankow für den Deutschen Bundestag, wenn auch erfolglos, kandidiert haben. ({0})

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

So ganz erfolglos kann es nicht gewesen sein.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Was sagen Sie den Menschen in Pankow, die die halbe Nacht nicht mehr schlafen können, mal abgesehen von solchen Sprüchen wie „Nachtflugzeiten ab 13 Uhr“? Was erzählen Sie den Bürgerinnen und Bürgern in Pankow und Reinickendorf nun? Diese müssen ja die Suppe auslöffeln.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich sage Ihnen das, Herr Liebich, was ich überall sage. Wenn man Großprojekte, Infrastrukturprojekte, die das Land braucht, betreibt, ist das immer mit Ärger und Belästigungen für andere Menschen verbunden. Eine populistische Partei wie Ihre drückt sich um diese Verantwortung. Sie verlangt zwar Infrastruktur, damit Menschen mit einem schmalen Geldbeutel überall hinkommen, in den Urlaub fliegen können, sich bewegen können, mobil sein können. ({0}) Wenn es aber darum geht, Verantwortung zu übernehmen, drückt sich eine linkspopulistische Partei wie Ihre weg. Dann kann man mit ihr nicht rechnen. Deswegen sitzen Sie zu Recht in der Opposition im Deutschen Bundestag, in Berlin, und zukünftig sitzen Sie überhaupt nicht mehr in den Parlamenten. Das kann ich Ihnen an dieser Stelle auch sagen. ({1}) Ich sage auch ganz klar: Wenn der Regierende Bürgermeister weiter meint, er brauche Einladungen des Verkehrsausschusses und anderer Ausschüsse des Deutschen Bundestages nur anzunehmen, wenn er gar nichts anderes zu tun hat, und nur dann sein Gläschen oder seine Tasse zwischendurch einmal abstellt, ({2}) dann muss sich dieses Haus im eigenen Interesse überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, eine andere Form von Ausschuss einzurichten, hinter dessen Einladungen ein Ausrufezeichen steht. ({3}) Ich glaube, die Zeit des Pfuschens und Vertuschens ist vorbei. Vor allen Dingen für diese Stadt, für diese Regierung in Berlin, für diesen Senat ist das Rumgetrödel und Rumgepfusche vorbei. ({4}) Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Herr Wowereit sollte sich einmal daran erinnern, wie er 2001 ins Amt kam. Zu dieser Zeit ging es darum, dass in einer großen Gesellschaft Berlins, die dem Staat gehörte, zulasten der Steuerzahler gepfuscht wurde. Als er noch Fraktionsvorsitzender war, hat er auf eine andere Partei mit dem Finger gedeutet ({5}) und hat an ihre Verantwortung in den Aufsichtsgremien erinnert. Das war der Grund, warum es Neuwahlen gab und warum der alte Senat zusammengebrochen ist. Ich prophezeie diesem Regierenden Bürgermeister: Wenn sich dies so weiter entwickelt, wird er ein ähnliches Schicksal erleiden wie sein Vorgänger vor zehn Jahren. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Herbert Behrens für die Fraktion Die Linke. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht ist es doch notwendig, dass ich zu Beginn meines Beitrags einige Dinge klarstelle, über die wir gerade reden. Es geht um Menschen, die heute beispielsweise in Schönefeld 210-mal am Tag davon betroffen sind, dass Düsenjets über ihre Köpfe hinwegbrausen. Sie wissen, dass es nicht am 3. Juni, sondern wohl erst in einem Jahr so weit sein wird, dass sie 780 Flugbewegungen ertragen müssen. Das ist der Kern der Debatte. Das ist der Grund, warum wir unsere Große Anfrage gestellt und nachgefragt haben, welche Alternativen es für diese unzumutbare Belastung der Menschen in Berlin und auch anderswo gibt. ({0}) Wenn angesichts des Desasters der Flughafeneröffnung darüber nachgedacht wird, wo die Verantwortlichkeiten liegen, wer wo zu welchem Zeitpunkt Informationen unterdrückt, nicht wahrgenommen und nicht zur Kenntnis genommen hat, dann muss auch diskutiert werden, ob man nicht doch über die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses nachdenken sollte, um diese Fragen grundlegend bewerten zu können. ({1}) Ich will noch einmal auf den Kern der Debatte zurückkommen. Das Desaster, das uns in den letzten Tagen beschäftigt hat, wird sehr stark betont. Ich meine, ein Stück zu Unrecht; denn die Probleme der Menschen in der Nähe des Flughafen sind noch in einem Jahr zu spüren und insbesondere auch zu hören. Der Flugverkehr soll weiter wachsen. Das wird von den anderen Fraktionen offenbar nicht infrage gestellt. Hier in Berlin, in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa soll der Flugverkehr wachsen. Bis 2025 soll sich der Flugverkehr insgesamt verdoppeln. Das ist eine Vision, die uns nicht wirklich zufriedenstellen sollte, die uns eher Angst machen kann. Für die Gesundheit der Menschen an den Flughäfen, aber auch für die Umwelt ist das eine enorme Belastung. Die Linke will aber Entlastung. Die Menschen an Flughäfen hier in Berlin, in Brandenburg und anderswo haben ein Recht darauf, dass an ihrem Wohnort ein lebenswertes Leben möglich ist, dass ihre Gesundheit im Vordergrund aller Entscheidungen steht. ({2}) Unsere Ziele einer vernünftigen Verkehrspolitik lauten Vermeiden - dieser Begriff wurde hier überhaupt noch nicht angesprochen -, Verlagern und Verbessern. Wir haben herausgefunden - die Bundesregierung hat entsprechend geantwortet -: Rund 67 000 Inlandsflüge starteten und landeten 2010 in Tegel; rund 50 000 dieser Flüge steuerten Ziele an bzw. waren an Orten gestartet, die mit der Bahn in maximal sechs Stunden erreichbar sind. Fast 75 Prozent aller Flüge sind also offenbar vermeidbar. Diese Zahlen beweisen auch - das wurde angesprochen -, dass es gar nicht nötig ist, jetzt darüber nachzudenken, in Tegel noch einmal die Randzeiten anzugreifen und 120 Flüge weiter in die Nacht hinein zu verschieben. Das ist nicht nötig. ({3}) Aber auch der verbleibende Flugverkehr kann viel erträglicher gestaltet werden, wenn wirklich die richtigen Prioritäten gesetzt werden. Dazu gehören Nachtflugverbote, verringerte Lärmpegel und geeignete Flugrouten; das wurde hier schon ausführlich gewürdigt. Dass es möglich ist, die Nachtflugzeiten - nicht in der Weise, wie es gerade von Herrn Lindner ein bisschen salopp dargestellt worden ist - auszuweiten, zeigt ein Beispiel - Sie haben es vielleicht in unserer Großen Anfrage nachgelesen -: Die Anwohnerinnen und Anwohner auf der deutschen Seite der Anflugschneise des Züricher Flughafens haben werktags zwischen 21 und 6 Uhr, am Sonntag sogar zwischen 20 und 9 Uhr Ruhe am Himmel. Es ist möglich. Das haben deutsche Behörden gegen den Protest der Züricher Flughafengesellschaft durchgesetzt. Wo es einen politischen Willen gibt, gibt es offensichtlich auch einen entsprechenden Weg, und den wollen wir gehen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon vor dem Flughafeneröffnungsdesaster hat es das Desaster mit den Flugrouten gegeben: Mit einem Mal waren 620 000 Menschen mehr betroffen, als ursprünglich geplant war. Das darf uns in Zukunft nicht wieder passieren. Wir wollen konkret etwas verändern, um das künftig zu vermeiden. Die Bürgerinnen und Bürger sind von Anfang an zu beteiligen und müssen das Planungsverfahren bis zum Ende begleiten können. Wenn sich irgendwann herausstellt, dass andere Flugrouten nötig sind, dann muss das Beteiligungsverfahren wieder aufleben. Darum ist der Vorschlag im Antrag der Grünen, das in das Planfeststellungsverfahren aufzunehmen, nicht unbedingt tragfähig. Da muss es ein anderes Verfahren geben. Wir müssen hier im Bundestag unserer Verantwortung für die Gesundheit und Lebensqualität der Menschen gerecht werden. Darum haben wir diesen Antrag gestellt; davon ist unsere Große Anfrage geprägt. Wir finden es wichtig, dass dieses Signal auch von anderen mitgetragen wird. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Daniela Ludwig für die CDU/CSUFraktion. ({0}) - Entschuldigung, ich habe eine Übersprunghandlung vorgenommen. - Das Wort hat Stephan Kühn.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je mehr Details man in der Angelegenheit BER erfährt, umso deutlicher wird: Es galt das Prinzip Hoffnung. Die Geschäftsführung hat die Brandschutzprobleme am neuen Hauptstadtflughafen massiv unterschätzt. Wir wissen nun, dass bereits im Dezember das Problem bekannt war, dass der vollautomatische Betrieb der Entrauchungsanlage nicht bis zum Eröffnungstermin möglich sein wird. Erst im Februar, also Monate später, hat man dann eine sogenannte Taskforce Brandschutz eingerichtet, um mit der zuständigen Baugenehmigungsbehörde zu klären, ob eine teilautomatische Lösung, die sogenannte MenschMaschine-Lösung, überhaupt genehmigungsfähig wäre. Im April hat man dann den Aufsichtsrat über diesen Sachverhalt informiert. Stichwort Aufsichtsrat. Ich denke, es ist notwendig, sich genauer anzugucken, wer da was wusste, wer da was überprüft und wo nachgefragt hat. Denn in der Taskforce Brandschutz, die ab Februar fünfmal getagt hat, waren natürlich auch zuständige Landesbehörden involviert. Da frage ich mich, ob im Zeitraum von Februar bis April nicht auch einmal Berichte nach oben gegeben wurden, an die Institutionen und die Personen, die im Aufsichtsrat vertreten sind. ({0}) Wir reden heute leider in Abwesenheit von Staatssekretär Gatzer und Staatssekretär Bomba. Es ist dann auch die Frage zu stellen, ob die beiden Herren denn die Unterlagen, die dem Aufsichtsrat zur Verfügung gestellt wurden, ganz allein im stillen Kämmerlein lesen mussten oder ob sie nicht ein Ministerium hinter sich haben, das fachlich beurteilen kann, ob diese Information und die Einschätzung der Sachverhalte, die dort enthalten sind, tatsächlich hieb- und stichfest sind. Gerade die Frage der Brandschutzanlage hätte einige Nachfragen hervorrufen müssen, wenn man denn hört, wie seitens der Flughafengeschäftsführung damit umgegangen wurde. Wir haben am Mittwoch erlebt, wie Professor Schwarz diese Frage ein Stück weit beiseitegewischt hat, indem er gesagt hat, es sei nicht unüblich, dass teilautomatische Lösungen genutzt würden, zum Beispiel bei der O2 World hier in Berlin. Das macht deutlich, dass man die Dimensionen überhaupt nicht erkannt hat. Wie kann man eine Veranstaltungshalle mit ein paar Tausend Besuchern, die nur stundenweise in Betrieb ist, mit einem Airport, der mehrere Hunderttausend Besucher am Tag hat, und mit einem Gebäudekomplex, der angeblich zu den größten in Europa zählen soll, vergleichen? Diese Dimensionen sind offenbar völlig unterschätzt worden. Es wäre wichtig gewesen, im Aufsichtsrat zusammen mit den Fachleuten aus dem BMVBS eine Bewertung vorzunehmen, ob diese Brandschutzanlage überhaupt genehmigungsfähig hätte sein können, wenn sie nur teilautomatisch betrieben werden kann. ({1}) Dass die Reißleine viel zu spät gezogen wurde, ist jetzt bekannt. Es gab keine Rückfallebene. Das ist nicht nur ein riesiger Imageschaden, sondern auch ein finanzielles Desaster. Für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie kleine und mittelständische Unternehmen und nicht zuletzt für die Bürgerinnen und Bürger führt das Ganze zu erheblichen Problemen. Das betrifft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen in Tegel zum Juni dieses Jahres gekündigt wurde. Das betrifft diejenigen, die im Juni in Schönefeld ihre Geschäfte eröffnen wollten. Das betrifft die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die jetzt teilweise 17 Monate lang warten müssen - wir reden bereits von der zweiten Verzögerung -, bis sie ihre Einrichtungen im Non-AviationBereich vielleicht im März 2013 eröffnen können. Diesen Unternehmen muss jetzt unbürokratisch geholfen werden. Wir schlagen einen Entschädigungsfonds vor. Es müssen Überbrückungskredite bereitgestellt werden; Schadenersatzansprüche müssen zügig bearbeitet werden. Betroffen sind aber auch die Menschen in den Stadtteilen Pankow, Reinickendorf, Spandau sowie die Menschen im Berliner Umland, die jetzt länger dem Fluglärm ausgesetzt werden. An dieser Stelle frage ich nach der Rolle des Senats. Der Senat hat angekündigt, Anträge der Airlines zu genehmigen, in Tegel nach 23 Uhr starten und landen zu dürfen, obwohl in Schönefeld ausreichend Kapazitäten vorhanden wären, um diejenigen Flüge dorthin zu verlegen, die jetzt am Hauptstadtflughafen nicht möglich sind. Es ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar, dass das Desaster beim BER dazu führt, dass die Menschen im Berliner Norden jetzt stärker durch Fluglärm belastet werden. ({2}) Deshalb: Keine Ausweitung der Betriebszeiten, sondern Nutzung der Kapazitäten in Schönefeld.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Stephan Kühn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004085, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Punkt ist das Thema Schallschutzprogramm beim BER. Ich kann nur an die Verantwortlichen appellieren, jetzt dafür zu sorgen, dass das Schallschutzprogramm für alle Anspruchsberechtigten bis Ende März nächsten Jahres endlich umgesetzt wird. Bisher sind erst 5 Prozent der betroffenen Haushalte mit entsprechenden Schallschutzfenstern ausgestattet worden. Ziehen Sie den Klarstellungsantrag zur Frage, ob sechsmal am Tag die 55 dB überschritten werden dürfen, zurück. ({0}) Das muss endlich auch im Aufsichtsrat zum Thema werden. Dann müssen die Betroffenen den Schallschutz zeitnah erhalten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Daniela Ludwig für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Das vermeintliche Paradeprojekt von Klaus Wowereit und Matthias Platzeck ist von Meisterhand geplant, meisterlich ausgeführt und meisterlich überwacht. - So viel zum Wunsch von uns allen hier. ({0}) Die Realität - in der sind wir krachend aufgeschlagen sieht bedauerlicherweise anders aus. Wir erleben sowohl ein Planungs- wie auch ein Baudesaster. ({1}) Dieses sehr teure und größte Infrastrukturprojekt Ostdeutschlands sollte den Ruf Berlins wiederherstellen oder vielmehr überhaupt erst einmal einen Ruf Berlins begründen. Man wollte zeigen, dass man hier in der Lage ist, Infrastruktur ordentlich zu planen, zu bauen und pünktlich fertigzustellen. Das Ziel war, einen einer Hauptstadt würdigen Flughafen zu bauen. Ich glaube, es war absolut angemessen, dieses Projekt anzugehen. Nun müssen wir aber leider feststellen, dass alle Beteiligten auf höchster Ebene versagt haben, ({2}) insbesondere die nunmehr Gott sei Dank entlassene Planungsgruppe, aber auch die gesamte Geschäftsführung des Flughafens. ({3}) Man wollte einen modernen Flughafen, und dafür hat man Tempelhof und Tegel geopfert, wenn Sie mir diesen Ausdruck gestatten. ({4}) Man wollte einen Flughafen bauen mit bester und auch funktionierender Technik - darauf komme ich gleich -, nach den neuesten und besten Sicherheitsstandards - auch dazu ist einiges zu sagen -, also einen Flughafen, den man gerne mit dem Etikett „Made in Germany“ versehen hätte, weil das für gute Qualität steht. Leider muss ich immer den Konjunktiv verwenden. Nun kann man sagen: Gut Ding will Weile haben, das kann auch einmal etwas länger dauern. Man kann aber auch sagen: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert. ({5}) In einer Sitzung des Verkehrsausschusses des Bundestages am Mittwochmorgen konnten uns Herr Platzeck und Herr Wowereit keine zufriedenstellenden Antworten geben; denn sie waren schlicht und einfach nicht anwesend. Herr Wowereit hat uns mitteilen lassen, er habe keine Zeit. Wir konnten der Presse entnehmen, dass er lieber einen Staatsgast aus Costa Rica empfangen hat. Ich glaube, der eine oder andere hätte sich - um es ganz vorsichtig zu formulieren - eine andere Prioritätensetzung des Regierenden Bürgermeisters vorstellen können. ({6}) Jeden Tag erfahren wir aus der Presse neue Details über den Bauverlauf. Es sei dahingestellt, ob die Schuldzuweisungen berechtigt sind oder nicht. Wir müssen uns aber jetzt dringend mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Was ist mit den Kosten passiert? Warum laufen sie derart aus dem Ruder, und zwar schon vor der Verschiebung der Eröffnung? Was ist mit den zusätzlichen Kosten, die durch die Verschiebung entstehen, Stichwort Lärmschutz und Schadenersatzforderungen? Wie wirkt sich das alles auf unseren Haushalt aus bzw. welche Haushalte müssen dafür geradestehen? Welche Personen müssen dafür geradestehen? Diese Fragen werden wir sehr intensiv zu prüfen haben. Der Bundesminister hat ein Machtwort gesprochen und die Soko „BER“ eingerichtet. Das war das einzig Richtige, was er an dieser Stelle tun konnte. Diese Soko wird sich mit den Auswirkungen der Verschiebung der Inbetriebnahme intensiv auseinandersetzen. Tegel und Schönefeld müssen jetzt weiter betrieben werden, mit allen Belastungen. Bezüglich der Sicherheit stellt sich die Frage: Was passiert, wenn die Flughäfen an die Grenzen ihrer Kapazität kommen? Das muss man einkalkulieren. Ich wünsche den Beteiligten wirklich ein gutes Händchen für die jetzt anstehenden Entscheidungen; denn ich glaube, dass sie das gut brauchen können. Mir geht es wie Ihnen auch um die Unternehmen, die jetzt unter den Tisch zu fallen drohen. Wir werden politisch Sorge dafür zu tragen haben, dass das nicht passiert. Es geht nicht nur um Unternehmen, die ihr Geschäft gerne schon jetzt auf dem Flughafengelände eröffnet hätten, sondern es geht auch um ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich am Ende der Kette befinden und sehr stark unter den massiven Fehlern insbesondere der Flughafengesellschaft zu leiden haben. Um die tut es mir wirklich leid. Wir haben eine große politische Verpflichtung, die durch die Verschiebung entstandenen Probleme zu lösen. ({7}) Bitter ist auch, ({8}) dass sich alle über die bei diesem Großprojekt entstandenen Kosten streiten. Sind wir schon bei den 3 Milliarden Euro angelangt? Werden wir sie deutlich überschreiten? Das ist alles ziemlich katastrophal. Der Bürger draußen im Land versteht die Welt nicht mehr, wenn er beobachtet, was hier abläuft. Dieses Gefühl teilen wir mit ihm. Es ist ebenfalls bitter, dass bei einem so großen Projekt die Planung und die Überwachung nicht unabhängig voneinander durchgeführt wurden. Sie kennen das Prinzip mit der einen Krähe und der anderen. Es ist schon irgendwie logisch, dass man immer wieder versucht hat, sich gegenseitig den Flughafen gesundzubeten und zu hoffen, dass man doch noch den 3. Juni einhalten könnte. Nun kommt die ganze Geschichte mit der Vollautomatik beim Brandschutz hinzu. Schon im Dezember wusste die Geschäftsführung, dass das nicht funktionieren wird. Trotz der Erfahrungen mit dem Brand am Düsseldorfer Flughafen kommt man jetzt auf die krude Idee, Studenten an die Türen zu stellen, die die Türen auf- und zumachen können, wenn es brennt. ({9}) Ich frage: Was ist denn, wenn es brennt? Holen die dann die Freiwilligen Feuerwehren aus dem Umland, oder was? Es ist ausgesprochen schwierig, sich das Ganze zu erklären. Deswegen sage ich: Herr Schwarz muss noch sehr viel mehr Antworten liefern als bisher, ({10}) um überhaupt noch den Anschein von Glaubwürdigkeit zu behalten. Das ist bitter genug. ({11}) Ich möchte ganz kurz - weil schon sehr viel dazu gesagt wurde - zu dem extrem wichtigen Thema Flugrouten Stellung nehmen. Ich kann mich dem Kollegen Luczak nur anschließen, der das alles aus unmittelbarer Nähe mitverfolgt hat. Ich bin ausgesprochen froh, dass man hier im wahrsten Sinne des Wortes noch die richtige Kurve gekriegt hat. Es kann nicht sein, dass man Bürger über Monate einbindet, ihnen Dinge zusagt, dann öffentlich etwas völlig anderes erklärt, und es erst quasi eines Machtworts von ganz oben bedurfte, um auch diese Fehlentwicklung wieder einzufangen. Ich sage ehrlich, dass ich nicht ganz einverstanden mit dem im Luftverkehrsgesetz angelegten Weg bin, ganz allgemein etwas anderes zu regeln. Der Ansatzpunkt muss, glaube ich, zunächst einmal sein, an die Fluglärmkommission heranzugehen. Es war sicherlich gut gemeint und auch gut überlegt, als wir sie gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Wenn es aber tatsächlich so ist, dass bei den Bürgern nicht unbedingt das ankommt, was wir wollten - nämlich dass sie ordentlich vertreten werden; vielleicht hängt das, so ist das nun mal, auch manchmal mit den Personen zusammen, die darin sitzen -, müssen wir uns auch in Bezug auf die Fluglärmkommission noch einmal wesentlich intensiver Gedanken darüber machen, wie wir hier Bürgerbeteiligung verlässlich institutionalisieren. Wir sollten Regelungen nicht von Einzelfällen abhängig machen, sondern festschreiben, wie die Bürgerbeteiligung künftig auszusehen hat. Ich bin ganz beim Kollegen Bartol, der gesagt hat, dass Flugrouten vermutlich das Komplexeste sind, was wir zu regeln haben. Ich traue mir da keine endgültige Beurteilung zu. Wir brauchen dafür viel Fachverstand. Fachverstand schließt aber bekanntlich Bürgerbeteiligung nicht aus. Im Rahmen eines Planungsdialogs in meinem Wahlkreis habe ich die Erfahrung sammeln dürfen, dass die Bürger manchmal recht gute Ideen haben, die weit über das hinausgehen, was die eine oder andere Autobahndirektion oftmals vorschlägt. Man muss zugeben, dass es sich lohnt, über Ideen der Bürger nachzudenken. Das wäre für mich der Weg, den wir gehen müssen. Da müssen wir uns politisch bewegen; aber auch die Verwaltungen und die Behörden vor Ort müssen sich bewegen. Nur so werden wir mehr Akzeptanz für Großprojekte - so sie denn irgendwann ihren Betrieb aufnehmen sollten - wie diesen Flughafen bekommen. Ich stimme mit Ihnen überein: Das wird für uns die Zukunftsaufgabe sein, was große Infrastrukturprojekte und überhaupt die gesamte Infrastrukturpolitik betrifft. Wir können, glaube ich, vom Berliner Beispiel ganz viel lernen. Das wollen wir auch gerne tun. Wir sind für alle Vorschläge offen, die dann endlich auf den Tisch gelegt werden. Ich bin wirklich sehr dafür, Bürger angemessen und auch institutionalisiert verlässlich einzubinden. Ein Letztes: Wir alle hoffen, dass dieser Flughafen tatsächlich im März eröffnet wird. Die Region hätte es absolut verdient. Da Herr Körtgen mittlerweile mit seiner Doktorarbeit fertig geworden ist, kann er sich nun damit beschäftigen, wie es vor 20 Jahren in München gelaufen ist. Auch da gab es immer mal wieder Probleme. Aber wir haben es hinbekommen. Es gab einen generalstabsmäßig geplanten Umzug in einer Nacht. Ganz Bayern saß am Fernseher und hat das beobachtet. Jetzt haben wir den Flughafen München Franz Josef Strauß, und er läuft ganz hervorragend. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe jetzt über eine Stunde dieser Debatte gelauscht und dabei festgestellt, dass viele Verdächtigungen ausgesprochen worden sind. Viele haben gesagt, wer alles Schuld hatte und wer etwas hätte machen sollen. Ich fand aber - um der Reihe nach vorzugehen ganz besonders erstaunlich, dass sich die Linke hier ohne Ende über den Aufsichtsrat, der angeblich versagt habe, ereifert hat. In diesem Aufsichtsrat sitzen zwei Minister der Linken. Herr Gysi, Sie hätten sich die Zusammensetzung des Aufsichtsrats vielleicht vorher einmal angucken sollen, dann wäre das, was Sie hier gesagt haben, nicht ganz so peinlich gewesen. ({0}) Zum anderen kann man natürlich - das hat meine Vorrednerin, die Kollegin Ludwig, in ihrer Rede gerade getan - diesen Aufsichtsrat angreifen. Dass sie damit gleichzeitig ihren eigenen Minister angegriffen hat, fand ich schon ganz erstaunlich. ({1}) Wenn jemand aus der CSU einen Kollegen aus der eigenen Partei angreift, dann ist das zumindest bemerkenswert, zeugt aber auch davon, dass vielleicht in den Reihen der Koalition nicht ganz so viel Klarheit herrscht, wie man sich das vorstellt. Wenn wir uns das hier heute angehört haben werden, werden wir am Ende nicht ernsthaft viel schlauer sein. Wir alle wissen, dass es Probleme gegeben hat. Der Regierende Bürgermeister, Klaus Wowereit, und auch Ministerpräsident Platzeck haben zu dem Thema sehr deutlich etwas gesagt. Sie haben sich entschuldigt. ({2}) - Natürlich haben die auch etwas gemacht. Wenn Sie sich ansehen, wie sich dieser Flughafen in den letzten Jahren verändert hat, werden Sie das zugeben müssen. Leider haben wir heute überhaupt nichts von dem zuständigen Bundesminister Ramsauer gehört. ({3}) Er saß hier einsam auf seinem Stuhl. Eckart von Klaeden war inzwischen so nett, dazuzukommen. ({4}) Abgesehen von der einen oder anderen verständnislosen Handbewegung, während seine Kollegin von der CSU gesprochen hat, hat man von ihm nichts mitbekommen. ({5}) Genauso ist es in den letzten Jahren bei diesem Flughafen gewesen. Wir haben auch mitbekommen, wie diejenigen, die die letzte Berlin-Wahl verloren haben, reagieren. ({6}) Man kann den Frust darüber ruhig hier abladen. Das kann man alles tun. Ich glaube, dass man diesen Vorgang in den nächsten Monaten aufklären wird. Dafür hätte es dieser Debatte nicht bedurft. Natürlich ist es so, dass solche Vorgänge sachlich aufgeklärt gehören, und dann muss man etwas daraus lernen. Ich glaube allerdings auch, dass man am Ende hier einen Flughafen haben wird, auf den die Region stolz sein kann. Sie hat einen solchen Flughafen nötig. Die Entscheidung für diesen Flughafen war richtig, wichtig und gut. Es ist auch gut für die Region, dass der Flughafen vergrößert worden ist. Ich glaube, dass man am Ende dieser Debatte, sofern man sie überlebt hat, feststellen kann, dass hier zwar viel geredet, aber wenig gesagt worden ist. ({7}) Man wird den Vorgang untersuchen. So ist das. All die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt langsam aus ihrem Tiefschlaf erwachen, können ihren Senf gerne dazugeben. Das wird aber nicht zur Aufklärung beitragen. Die Aufklärung wird durch die zuständigen Gremien erfolgen. Ich verstehe nicht, warum die Linkspartei dieses Thema hier heute angemeldet hat. Sie war selber dabei. Ihr eigenes Versagen hat sie hervorragend dokumentiert. Alle zuständigen Wahlkreisabgeordneten haben sich hier äußern können. Das war wie immer ganz großartig. ({8}) Das hat dem Sachverhalt aber nicht gedient und hat uns alle nicht weitergebracht. Die zuständigen Parlamente sind informiert worden; sie machen eine gute Arbeit. Wenn man sich vor Augen führt, wie die zuständige Kollegin von der CSU hier ihren eigenen Minister runtermacht, ({9}) dann fragt man sich, ob das in der Landesgruppe ein Nachspiel haben wird. Außerdem kann man sich überlegen, ob die FDP, die in Berlin 1,8 Prozent erreicht hat, glücklicher wird. ({10}) Auch die Linkspartei hat hier heute ihren Beitrag geleistet. Erlauben Sie mir, meine Rede jetzt zu beenden ({11}) und zu hoffen, dass der Sachverhalt irgendwann einmal aufgeklärt wird; denn solche Debatten braucht der Bundestag garantiert nicht, und schon gar nicht, wenn sie anderthalb Stunden dauern. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile ich Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Zusammenfassung dieser Debatte möchte ich mit Erlaubnis der Grünen mit einem Zitat aus ihrem Antrag beginnen. Ich stimme ja nicht immer mit Ihnen überein, aber das trifft es wirklich eins zu eins. Das finde ich wirklich sehr gut. Deswegen darf ich zitieren: Der Bau des Flughafens Berlin-Brandenburg ({0}) ist zu einer Provinzposse geworden, über den die gesamte Welt lacht. Der Imageschaden für die Hauptstadtregion, aber auch für Deutschland insgesamt ist groß. Die Absage der Eröffnung … ist … eine Notbremse für offensichtliche Schlamperei großen Stils bei Planung, Bau und vor allem auch Controlling der Maßnahmen durch das Management und den Aufsichtsrat. Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Das ist schlimm für Deutschland, für Berlin und auch für mein Heimatland Brandenburg. ({1}) Berlin wirkt oft zweitklassig. Leider gibt es auch Parallelen zum Abstieg von Hertha BSC, den ich persönlich sehr bedauere. ({2}) Hertha hat immer gesagt: Wir schaffen das noch in den letzten Spielen. Wir werden das noch irgendwie hinkriegen. - Letztlich haben sie es einschließlich des letzten Spiels versemmelt. Beim BER ist das ganz genauso gewesen. Der BERGeschäftsführer und der Aufsichtsrat haben gesagt: Keine Sorge, wir schaffen das schon. Es könnte zwar ein bisschen schwierig werden, aber der 3. Juni steht. - Das ist nicht nur arm und sexy. Das ist arm, sexy und ziemlich unfähig. Da kann man die Landesregierung Brandenburg gleich mit einbeziehen. ({3}) Wir haben in dieser Stunde gehört, was bei dem größten Infrastrukturprojekt in meiner Heimatregion alles schiefgelaufen ist. Das ist nicht nur verdammt peinlich, sondern - das müssen wir sagen - das wird auch verdammt teuer werden. Die Verzögerung bei der Fertigstellung von Großprojekten ist in Deutschland inzwischen eher die Regel als die Ausnahme. Das ist leider nicht immer zu verhindern. Es ist aber zu verhindern, dass der Aufsichtsrat und die Geschäftsführung in dreister Art und Weise Bürger, Anwohner, Betreiber, Pächter, Airlines und Abgeordnete aus Bund, Ländern und Kommunen hinter die Fichte führen. Das ist unakzeptabel! ({4}) Herr Kahrs, so wird man keine Akzeptanz für dieses Großprojekt erhalten. Es gibt schon genügend Akzeptanzprobleme bei diesem Flughafen, und zwar wegen der nachträglichen Flugroutenfestlegungen, wegen des miesen Lärmschutzmanagements, ({5}) und jetzt auch noch wegen der Kostenexplosion. Man spricht von 15 Millionen Euro monatlich; ({6}) dieser Betrag umfasst übrigens keine etwaigen Schadenersatzzahlungen. Gleichzeitig wird bei den Lärmschutzmaßnahmen um jeden einzelnen Cent gefeilscht. Die Menschen werden hier mit - Kollege Danckert hat es so genannt - Billigschallschutz abgespeist. Das ist ungeheuerlich. Mir scheint, dass die Geschäftsführung mit den Aufgaben überfordert ist. Die Ausführungen von Herrn Schwarz im Verkehrsausschuss am vergangenen Mittwoch haben mich nicht vom Gegenteil überzeugen können. Herr Schwarz sprach von üblichen Lösungen bei Großprojekten ({7}) - Herr Kahrs, hören Sie zu -, zum Beispiel von InterimsCheck-in-Hallen; damit meint er Zelte, die dort aufgestellt und in denen die Passagiere abgefertigt werden sollen. ({8}) Er sprach von halbautomatischen Brandschutzanlagen. Ich weiß nicht, ob er sich dort hinstellen und die Sprinkleranlage per Hand aufdrehen möchte. Er sprach auch von der Mensch-Maschine-Lösung bei den Brandschutztüren. Er hat allerdings nicht gesagt, wie er das machen will, ob mit der Freiwilligen Feuerwehr, mit 1-Euro-Jobbern oder sonstigen Freiwilligen, die, wenn alle das Gebäude verlassen haben, die Türen schließen. Ich glaube nicht, dass das übliche Lösungen sind. Jede Firma wäre achtkantig von der Baustelle geflogen, wenn sie nur ansatzweise solche Vorschläge gemacht hätte. Vor allen Dingen gäbe es niemals eine Genehmigung dafür. Dieses Versagen des Managements sollte jetzt schöngeredet werden. Da hilft auch kein Versprechen für mehr Transparenz, wenn gleichzeitig die Aushändigung der bereits zugesagten Controlling-Berichte von der Geschäftsführung mit dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse verweigert wird. Ganz schlimm ist: Herr Schwarz hat sich erfreut gezeigt, dass Regressforderungen von mittelständischen Unternehmen, die sich dort ansiedeln wollen, abgewehrt werden können, weil in den Verträgen eine Verzögerungsklausel von 18 Monaten verankert ist. Im Klartext bedeutet das: Die Unternehmen bleiben auf ihren Krediten sitzen, bleiben auf ihren Waren sitzen und bleiben auf den Arbeitsverträgen mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sitzen. Das finde ich schäbig und unverantwortlich. ({9}) Was macht jetzt der Regierende Bürgermeister von Berlin, also der Aufsichtsratsvorsitzende, und was macht Ministerpräsident Platzeck, der Aufsichtsratsvize? ({10}) Beide haben in den jeweiligen Parlamenten berichtet. Wowereit war bemüht, gute Laune zu verbreiten. ({11}) Arm, aber sexy - das ist seine Art. Von Selbstzweifeln ist nichts zu sehen. ({12}) Ministerpräsident Platzeck wiederum wollte ein Wir-Gefühl verbreiten, nach dem Motto: Wir sind quasi irgendwie alle daran schuld. Er versuchte also eine Kollektivierung der Verantwortung. Das ist wiederum seine Art. Selbstzweifel? Fehlanzeige. ({13}) Platzeck hat allerdings verschwiegen, dass die Behörden für alle Genehmigungen rund um dieses Flughafenprojekt nicht Bundesbehörden, sondern brandenburgische Landesbehörden sind. Ich finde es abenteuerlich, wenn der Infrastrukturminister oder das Infrastrukturministerium ({14}) - Herr Kahrs, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen ({15}) seit Februar in der Taskforce zur Lösung der Flughafenprobleme sitzt, und der Ministerpräsident dann völlig überrascht ist, dass der Flughafen nicht eröffnet werden kann, nachdem er bereits 40 000 Einladungen unterschrieben hat. ({16}) Am Montag sagte er dann, er sei stocksauer, dass es zu dieser Verspätung kommt. Das ist völlig abenteuerlich. Herr Platzeck selbst sagt ja, dass er kein Fan von Aktenlesen ist. ({17}) Das ist vielleicht auch für den Ministerpräsidenten von Brandenburg nicht notwendig. Aber er könnte ja uns das Aktenlesen überlassen, indem er als Aufsichtsratsvize die Controlling-Berichte zur Verfügung stellt oder dafür sorgt, dass sie zur Verfügung gestellt werden. ({18}) Ich schlage heute vor, dass wir Herrn Platzeck das Lesen abnehmen. Das würde die Transparenz in diesem Fall wesentlich nach vorne bringen. ({19}) Ich komme zum Fazit. Sie können noch so sehr tröten, auch nach dieser Debatte bleibt vieles ungeklärt: Der Lärmschutz bleibt ungeklärt, der Brandschutz bleibt ungeklärt, die Flugrouten bleiben ungeklärt, die Kostenfrage sowieso, die Schadenersatzforderungen - dazu haben Sie nichts gesagt - und die Regressforderungen bleiben ungeklärt, ({20}) Transparenz und Akteneinsicht bleiben ungeklärt, und der endgültige Eröffnungstermin bleibt ebenfalls ungeklärt. ({21}) Ich finde, dass auch die Frage nach persönlichen Konsequenzen von Geschäftsführung und Aufsichtsrat ungeklärt ist. ({22}) Über all das muss jetzt konsequenterweise gesprochen werden. Die zeitnahe Realisierung der Lärmschutzmaßnahmen ist für den Erfolg des Projekts wichtiger als der Verbleib von Herrn Schwarz in der Geschäftsführung. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9750. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie- ßungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen ab- gelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Luftver- kehrsgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 17/9452, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8129 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- tung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthal- tung der SPD abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- schäftsordnung die weitere Beratung. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Zusatzpunkt 6. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9740 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Ta- gesordnungspunkt 33 a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Mortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer, Jens Ackermann, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tourismus in ländlichen Räumen - Potenziale erkennen, Chancen nutzen - Drucksache 17/9570 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus ({0})- Sportausschuss - Ausschuss für Wirtschaft und Technologie- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung - Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union - Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz Paula, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Tourismus in ländlichen Räumen durch schlüssiges Gesamtkonzept stärken - Drucksache 17/9571 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus ({1})- Sportausschuss - Ausschuss für Wirtschaft und Technologie- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung - Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union - Ausschuss für Kultur und Medien c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume - Drucksache 17/8499 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2})Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Ernst Burgbacher das Wort. ({3})

Ernst Burgbacher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003063

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit der Vorstellung des Gutachtens „Wirtschaftsfaktor Tourismus Deutschland“, das unser Ministerium initiiert und der Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft als Projektträger durchgeführt hat, haben viele Menschen in Deutschland erkannt, welch wichtiger Jobmotor und Wachstumsfaktor der Tourismus ist. Nur ganz wenige Zahlen. 7 Prozent der Erwerbstätigen, nämlich 2,9 Millionen, sind direkt im Tourismus in Deutschland beschäftigt. Wenn wir die indirekten und induzierten Arbeitsplätze hinzurechnen, sind es 4,9 Millionen bzw. 12 Prozent. 4,4 Prozent der Bruttowertschöpfung werden im Tourismus erzeugt; das entspricht einem Betrag von fast 100 Milliarden Euro. Meine Damen und Herren, wir sind stolz darauf, dass Deutschland ein Industrieland geblieben ist; überhaupt keine Frage. Aber wir sollten endlich erkennen: Deutschland ist auch zu einem Tourismusland geworden, und zwar zu einem ganz wichtigen. Der Tourismus ist Jobmotor und Wachstumsfaktor. Das muss endlich in die Köpfe der Menschen. ({0}) Wir hatten 2011 in Deutschland 394 Millionen Übernachtungen und 64 Millionen ausländische Gäste. Wir denken, dass wir dieses Jahr die Schallmauer von 400 Millionen Übernachtungen durchbrechen. Dies wiederum schafft neue Arbeitsplätze, übrigens zum größten Teil solche, die nicht exportierbar sind. Diese Arbeitsplätze entstehen im gesamten Spektrum der Qualifikationen. Davon profitieren also auch die Menschen, die am Arbeitsmarkt sonst geringe Chancen haben. Auch das ist ein äußerst positives Signal. ({1}) Aber, meine Damen und Herren, bei genauerer Betrachtung müssen wir erkennen: Das eigentliche Wachstum findet vor allem in den Städten statt. Es findet gerade hier in Berlin statt, aber auch in vielen anderen Städten. Viele profitieren davon. Das ist im ländlichen Raum erheblich schwieriger. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass das Thema heute auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages steht. Wir haben einiges getan. Mit unseren Handlungsempfehlungen zum Gesundheitstourismus und mit dem Marketingkonzept Wassertourismus haben wir Weichen für ein Wachstum in diesen Bereichen gestellt. Gerade heute Morgen konnte ich im Verkehrsministerium mit meinem dortigen Staatssekretärskollegen die D-Route 3 vorstellen. Das ist eine Fahrradroute, die über fast 1 000 Kilometer von der holländischen Grenze über Berlin bis an die Oder reicht. Es gibt tolle Projekte, die dem Tourismus im ländlichen Raum erheblich nützen werden. In der Landwirtschaft haben wir gute Ansätze. Das Thema Urlaub auf dem Bauernhof ist für viele Landwirte unverzichtbar. Es trägt dazu bei, die Kulturlandschaft zu erhalten und den ländlichen Raum lebenswerter für die Menschen zu machen. Genau hier wollen wir weitermachen. Deshalb wurde in unserem Haus, dem Wirtschaftsministerium, die Studie „Tourismusperspektiven in ländlichen Räumen“ gestartet. Dabei stehen wir in einem ganz engen Schulterschluss mit dem Landwirtschaftsministerium und mit dem Deutschen Reiseverband als Projektträger. Wir wollen kein Tourismuskonzept erstellen, sondern wir wollen Anfang 2013 Handlungsempfehlungen, Praxisleitfäden und gute Praxisbeispiele vorlegen. Darum haben uns die Fachleute gebeten. Von dem, was wir hier machen, kann der Tourismus im ländlichen Raum wirklich profitieren, und zwar in jedem Bundesland, in vielen Kreisen und Gemeinden. Das bringt den Deutschlandtourismus tatsächlich weiter. ({2}) Wir starten jetzt mit vier Regionalkonferenzen. Wir werden sehr zügig vorangehen, und ich bin ganz sicher, dass hier neue Ansätze sichtbar werden. Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit ganz kurz auf zwei Themen der Anträge eingehen. Das erste ist das Thema Breitband. Die Breitbandversorgung im ländlichen Raum ist eminent wichtig. Wir haben aber auch schon viel erreicht. Ende des ersten Quartals 2012 haben wir eine Abdeckung von 99,2 Prozent der Haushalte mit mindestens 1 Megabit und von über 50 Prozent der Haushalte mit mindestens 50 Megabit erreicht. Wir werden mit LTE und Satellitennutzung erhebliche Fortschritte machen. Wir erreichen auch in diesem Bereich über 10 Megabit. Hier ist also einiges geschehen, was für den Tourismus im ländlichen Raum sehr wichtig ist. Ein zweites Thema. Wir müssen erreichen, dass die Länder ihre Sommerferienregelung ändern. ({3}) Wir waren einmal bei einem Gesamtzeitraum von über 90 Tagen. Jetzt sind es nur noch etwas mehr als 80 Tage. Das kann nicht sein. Deshalb habe ich alle Ministerpräsidenten angeschrieben und noch einmal darum gebeten, hier tätig zu werden. Ich wäre Ihnen für Ihre Unterstützung sehr dankbar. ({4}) Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher: Heute senden wir für den Tourismus im ländlichen Raum ein gutes Zeichen aus. Wir haben enorme Potenziale, wir haben enorme Wachstumschancen und auch die Chance auf mehr Arbeitsplätze. Der Tourismus ist ein Jobmotor, und er ist ein Wachstumsmotor. Unser tolles Land hat es wirklich verdient, dass noch viel mehr Menschen zu uns kommen und bei uns Urlaub machen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Heinz Paula für die SPDFraktion. ({0})

Heinz Paula (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003606, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher, Sie wissen, dass ich Sie persönlich sehr schätze. Ich erkenne auch Ihre Bemühungen an. Als Sie vorhin allerdings ausführten, dass Sie so weitermachen wie bisher, konnte ich nur sagen: Um Gottes willen, bewahren Sie uns davor. Sie haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass im Bereich des ländlichen Tourismus enorme Potenziale zu finden sind, die bei weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Es gibt enorme Potenziale für die Gastronomie, den Einzelhandel, das Handwerk usw. und so für die Arbeitsplätze vor Ort. In der Großen Koalition wurde von uns gemeinsam, also sowohl seitens der CDU/CSU als auch seitens der SPD, ein weitreichender Antrag eingebracht, der im Grunde genommen darauf wartet, endlich inhaltlich umgesetzt zu werden. Schon damals war nämlich klar, dass vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und landwirtschaftlicher Strukturveränderungen sowie unter Klimaschutzaspekten mehr getan werden muss. Ich darf Sie als Bundesregierung auch daran erinnern, dass Sie selber in Ihren Koalitionsvertrag explizit aufgenommen haben, eine Gesamtkonzeption für den ländlichen Raum zu entwickeln. Tja, wie weit sind Sie hier gekommen? Sie haben ein paar Einzelbeispiele aufgezeigt: Wassertourismus, Kulturtourismus. Das alles kann ich unterstreichen; das ist eine sehr gute Sache. Entscheidend ist aber: Es gibt keinerlei Ansatz für ein Gesamtkonzept. Mit Verlaub: Das ist mager! ({0}) Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, Sie selber haben ja erkannt, wie dünn das Ganze ist, was bisher geschehen ist; denn nicht umsonst bringen auch Sie einen Antrag ein. Man höre und staune! Gut so! In einigen Punkten sind unsere Forderungen nahezu identisch. Ich darf nur ein paar Punkte auflisten: Ein klares Ja auch von unserer Seite: Die Deutsche Zentrale für Tourismus muss den ländlichen Tourismus zusammen mit den Akteuren besser vermarkten. Das unterstreichen wir. Herr Kollege Burgbacher, den Gesamtferienzeitraum müssen wir in der Tat deutlich fixieren. Sie nennen zwar das Problem, aber wir waren bereits 2008 so weit, dass wir 90 Tage gefordert haben. Das wäre konkret. Wie gesagt, in Ihrem Antrag fehlt das leider. Sie sprechen die Breitbandversorgung an. Das ist hervorragend. Ich muss Sie aber ganz ehrlich fragen: Was soll das, 99 Prozent der Betroffenen mit einer MagerstHeinz Paula geschwindigkeit anzubinden? Das ist doch schlicht und ergreifend dünn. So kann es wohl nicht laufen, wenn man den ländlichen Tourismus fördern möchte. ({1}) Ich komme zurück auf den Antrag von 2008. Es stellen sich doch folgende Fragen: Warum haben Sie noch nicht mehr umgesetzt? Wo ist das Konzept, das die Heterogenität, die Vielfalt unserer Regionen berücksichtigt? Wo ist ein integriertes Konzept, das dem Tourismus in seiner Querschnittsfunktion gerecht wird, ihn in den verschiedenen Ressorts besser verankert und ihm in der interministeriellen Zusammenarbeit und in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern endlich einen höheren Stellenwert einräumt, schlicht und ergreifend ein umfassendes Gesamtkonzept, das alle ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimensionen berücksichtigt? Genau dies wollen wir mit unserem Antrag nämlich erreichen. Wir wollen zum Beispiel endlich eine bundesweite Grundlagenuntersuchung fördern, die wirklich belastbare Daten zum Tourismus in den ländlichen Räumen liefert. Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und der FDP, es ist sehr spannend, wenn man sich Ihren Antrag genauer ansieht. Sie arbeiten mit Zahlen, allerdings für den Gesamtbereich des Tourismus. Warum Sie das tun, ist klar: Sie haben ({2}) keine exakten Daten für den Tourismus in den ländlichen Regionen. Das wird überdeutlich; das unterstreichen Sie durch Ihre Form der Darstellung. Sie haben kein Konzept und sagen in Ihrem Antrag kein Wort zur Grundlagenuntersuchung. Wir waren 2008 schon weiter. Damals stand es nämlich explizit in unserem Antrag. Wir fordern, dass attraktive und vitale Natur- und Kulturlandschaften erhalten und gepflegt werden; denn sie sind das Lebenselixier des Tourismus im ländlichen Raum. Die Schönheit und die Vielfalt der Natur in Verbindung mit historisch gewachsenen Ortschaften und Kulturstätten ziehen die Menschen an. Sie alle kennen die ADAC-Untersuchung, die vor kurzem vorgestellt wurde. An erster Stelle stehen intakte Landschaften. Das ist der Wunsch der Besucherinnen und Besucher. ({3}) Tourismus und Umweltschutz dürfen sich nicht ausschließen, sondern bedingen einander. Eine intakte Natur ist Magnet für die Touristen. Einnahmen aus dem Tourismus können in Projekte für den Umweltschutz investiert werden. Der Kreis schließt sich. Hier hätte ich schon erwartet, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dass Sie die Natur- und Nationalparke und die Biosphärenreservate mit den touristischen Leistungsträgern vor Ort weiter ausbauen wollen. In Ihrem Antrag steht dazu allerdings kein Wort. ({4}) Lassen Sie mich zu einem anderen Punkt kommen. Bauernhöfe sowie Natur- und Nationalparke sollen noch stärker als außerschulische Lernorte ins Schulleben integriert werden; denn so kann man bei Jugendlichen das Bewusstsein für ihre Umwelt, für nachhaltige Landwirtschaft, Nahrungsmittelherstellung und gesunde Ernährung entsprechend fördern. Was machen Sie? Sie begrüßen die Initiativen des Deutschen Bauernverbandes dazu, aber zu konkreten Maßnahmen höre ich kein einziges Wort. Für uns Sozialdemokraten ist es besonders wichtig, Menschen mit geringem Einkommen Urlaub in ländlichen Räumen zu ermöglichen, zum Beispiel in Jugendherbergen und Jugendfreizeitstätten. Bei Ihnen finde ich kein einziges Wort dazu. Das ist erbärmlich. ({5}) Lassen Sie mich kurz die Infrastruktur ansprechen. Auch hier muss man feststellen, dass es dringend neuer Wege bedarf; denn die traditionellen Wege, Schiene oder Straße, sind in dieser Form im Grunde genommen nicht mehr ausreichend. Wo sind hier bei Ihnen kreative Ansätze? Lassen Sie mich kurz etwas zum Stichwort „Barrierefreiheit“ sagen. Das ist ein unwahrscheinlich wichtiges Qualitätskriterium für die An- und Abreise und bei den Unterkünften. Wir wollen, dass alle Menschen in die ländlichen Regionen reisen können. Wir brauchen mehr Komfort für Reisende mit eingeschränkter Mobilität. Die Anbieter müssen durch Aufklärung und geeignete Fördermaßnahmen unterstützt werden. Ich erinnere an unseren hervorragenden Antrag zum barrierefreien Tourismus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, halten Sie sich fest: Wenn Sie den Antrag der CDU/CSU nehmen, dann können Sie so lange blättern und lesen, wie Sie wollen mit keinem einzigen Wort wird der barrierefreie Tourismus erwähnt. Mit Verlaub: Erbärmlich! ({6}) Wir wollen, dass das bürgerschaftliche Engagement und das Vereinswesen gestärkt werden. Wir kennen doch alle die tollen Traditionen, Frau Mortler, zum Beispiel in Bayern. Diese gibt es aber nicht nur in Bayern, sondern eigentlich in allen Bundesländern. Tja, in Ihrem Antrag - das vermuten wir schon - findet sich dazu kein einziges Wort. Das ist genauso schwach. Der Tourismus in ländlichen Regionen verdient endlich ein Gesamtkonzept auf der Grundlage einer innovativen, ressourcenschonenden, umwelt- und sozialverträglichen Politik für die ländlichen Räume. Die Menschen vor Ort profitieren vom Tourismus. Im Gegenzug profitiert der Tourismus von der Besonderheit der Regionen. Der Herr Staatssekretär hat vorhin darauf hingewiesen: Der Tourismus ist in den ländlichen Regionen ein Jobmotor, den es entsprechend zu stärken gilt. ({7}) Immer wieder wird auf das Best-Practice-Modell hingewiesen. Interessant! Aber, bei Gott, das kann es doch in Anbetracht der Chancen, die der ländliche Tourismus bietet, nicht sein. Sie bieten ein durchaus löbliches, aber nicht im Ansatz den Herausforderungen gerecht werdendes System an. Das könnte ein Baustein in einem Gesamtkonzept sein. Fakt ist: Die Bundesregierung hat es bisher nicht im Ansatz geschafft - Herr Staatssekretär, Sie haben das leider bestätigt -, ein schlüssiges Gesamtkonzept für den Tourismus in den ländlichen Regionen zu erarbeiten. Nicht einmal der Wunsch ist mehr da, hier auf die Koalitionsvereinbarungen einzugehen. ({8}) Lassen Sie mich Ihnen, Kolleginnen und Kollegen, schlicht und ergreifend anbieten, Ihren zwar bemühten, aber doch in weiten Bereichen vollkommen ungenügenden Antrag zu einem wirklich guten Antrag zu entwickeln. Ich möchte vorschlagen: Lassen Sie uns versuchen, in den anschließenden Beratungen zu einem gemeinsamen Antrag zu kommen. Der ländliche Tourismus, alle Beteiligten hätten es verdient, dass wir etwas rundum Gutes auf den Weg bringen. Ich bedanke mich sehr herzlich. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Marlene Mortler hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gleich zu Ihnen, Herr Paula: Wenn unser Konzept dünn ist, dann sind Ihr Konzept und Ihr Vortrag so dünn, dass man sogar durchschauen kann. ({0}) Natürlich konnten wir in diesen speziellen Antrag, in dem es darum geht, Potenziale und Chancen des Tourismus im ländlichen Raum zu erkennen, nicht alles hineinpacken. ({1}) Das gilt zum Beispiel für das Thema barrierefreier Tourismus. ({2}) Auch das Thema Landschaftspflege kann natürlich mit dem Thema Tourismus im ländlichen Raum verknüpft werden. Zu all diesen Themen haben wir Anträge gestellt und längst Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir haben heute aber ganz bewusst den Tourismus im ländlichen Raum im Fokus. Wer sich in der Medienlandschaft aufmerksam umschaut, der hat festgestellt, dass die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 20. Mai 2012 dem ländlichen Raum sechs Seiten gewidmet hat, sozusagen ein sechsseitiges Wirtschaft Spezial. Dort hieß es unter anderem: „Die Sehnsucht nach dem Echten: Die Deutschen entdecken ihre Liebe zur Provinz.“ Das ist im positiven Sinne die neue Landlust. ({3}) Selbst Magazinmacher wie beim Spiegel verfolgen seit einiger Zeit verblüfft den Höhenflug der Zeitschrift Landlust. Sie knackte nämlich die Millionenauflage, indem sie die Sehnsucht nach Echtem und Urigem mit Hochglanzbildern stillt. Damit trifft sie offenbar den Nerv der Zeit. „Lust auf Land“, liebe Kollegen von der Opposition, war für mich schon im letzten Jahr ein Thema. Ich hatte Landfrauen in die Bayerische Landesvertretung eingeladen. Dabei handelte es sich um eine Initiative, die den ländlichen Raum eindrucksvoll in Szene setzt. Die Landfrauen haben engagiert gezeigt, wie sie dem Strukturwandel trotzen und den ländlichen Raum vital halten, kurz: wie sie Lust auf Land machen. Unseren Antrag haben wir nicht nur deshalb vorgelegt, weil das Thema im Koalitionsvertrag steht, ({4}) sondern er ist auch mir persönlich eine Herzensangelegenheit, weil ich vom Land komme und auch auf dem Land arbeite, wenn ich nicht in Berlin bin. ({5}) Ich bin stolz auf die Vielfalt unserer ländlichen Räume. Sie sind es wert, dass wir alle verfügbaren Hebel in Bewegung setzen, um sie vital zu halten. ({6}) Tourismus ist ein zentraler Hebel. Er ist ein Jobmotor. Herr Staatssekretär Burgbacher, ich kann Ihre Zahlen - 2,9 Millionen Arbeitsplätze und 100 Milliarden Euro Wertschöpfung - nur bestätigen. Aber das Geschäft mit der Reiselust ist kein Selbstläufer. Die Konkurrenz ist über alle Zeitzonen rund um den Erdball unterwegs und gut aufgestellt. Auch wir sind derzeit gut aufgestellt. Mit nahezu 394 Millionen Gästeübernachtungen haben wir einen absoluten Rekord, ({7}) von dem allerdings mehr die Städte profitieren als der ländliche Raum. Gerade in unserem Antrag richten wir den Blick darauf, wie wir ländliche Räume und den Tourismus stärken können. Denn er schafft Jobs und Einkommen gerade in strukturschwachen Regionen. Mehr Lebensqualität hilft, qualifizierte Arbeitsplätze im ländlichen Raum zu erhalten. Welche Hebel haben wir auf Bundesebene? Damit komme ich zu Ihrem Antrag zurück. Was nützt es, etwas in den Antrag zu schreiben, das nicht der Realität entspricht? Für den Tourismus sind nun einmal in erster Linie die Bundesländer zuständig. ({8}) Die Frage ist: Was können wir in diesem Haus realistisch bewegen? ({9}) Erstens. Ein wichtiger Punkt ist für uns, dass die Bundesregierung die Deutsche Zentrale für Tourismus auffordert, noch intensiver mit den Akteuren des ländlichen Tourismus ins Gespräch zu kommen und das Thema ländlicher Tourismus noch stärker in den Fokus zu nehmen und noch professioneller zu vermarkten. Zweitens. Fördermittel sind nicht immer wichtig und richtig, aber wir brauchen gerade auch im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ verlässliche Fördermittel. Dafür setzen wir uns ein. Das gilt drittens selbstverständlich auch für EFRE, den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Wir sind hier ständig im Gespräch. Viertens muss es, so wie es die Bund-Länder-Arbeitsgruppe gibt, sehr geehrter Herr Staatssekretär, in Zukunft eine Arbeitsgruppe mit den landtouristischen Akteuren aus allen Bundesländern geben, bei der die Bundesregierung eine wichtige Hilfestellung leistet, um die Arbeit der Landestourismus- bzw. Marketingorganisationen besser zu koordinieren. Der Staatssekretär hat das neue Projekt „Tourismusperspektiven in ländlichen Räumen“ angesprochen. Dieses Projekt soll 2013 zu Ende gebracht und im Rahmen der Internationalen Grünen Woche mit Handlungsempfehlungen und Praxisleitfäden vorgestellt werden. Unser Antrag soll mit dazu beitragen, dass dieses Projekt auch nach der Beendigung anhaltend positiv wirken kann. Unterschätzen wir nicht die Best-Practice-Beispiele. Es gibt viel mehr, als wir glauben. Erste Einblicke, Analysen und Bewertungen zeigen, dass es viele nachahmenswerte Beispiele für Unternehmergeist, Ideenreichtum und nachhaltiges Wachstum gibt. Ich empfehle, einen Blick auf die Internetplattform www.tourismusfuers-land.de zu werfen, die seit Februar einsehbar ist. Gerade diese Plattform soll über das genannte Projekt hinaus als Forum zu Information, Kommunikation und Vernetzung dienen. Sie soll bestehen bleiben; denn die dort genannten guten Beispiele müssen in Zukunft verstärkt Schule machen. Nicht alles ist rosig. Sonst wäre unser Antrag nicht nötig. Aber ein Blick in die Regionen lohnt sich allemal. Ich weiß nicht, ob der Kollege Hochbaum anwesend ist, aber in seiner Heimat habe ich kürzlich die Erlebniswelt Musikinstrumentenbau besucht. Weil dort der Musikinstrumentenbau so gut in Szene gesetzt wird, dirigiert diese Erlebniswelt Musikfreunde aus ganz Deutschland als Touristen ins Vogtland. Ich darf an dieser Stelle auf die Bundesarbeitsgemeinschaft für Urlaub auf dem Bauernhof und Landtourismus in Deutschland verweisen. Vor einem Jahr wurde im Rahmen meiner Veranstaltung in der Bayerischen Landesvertretung das Landsichten-Portal eröffnet. Diese Buchungsplattform ist ein ganz wichtiges Instrument, um touristische Angebote im ländlichen Raum zu koordinieren. Bei mir zu Hause läuft seit heute das erste Kletterfestival im Pegnitztal. Zehntausend Besucherinnen und Besucher werden erwartet. In meinem Landkreis zum Beispiel stehen Radfahren, Kanutourismus und Wandertourismus sehr hoch im Kurs. Ich komme zum Schluss. Natürlich möchten wir - das wäre ideal - ein Gesamtkonzept auf den Weg bringen. Wir orientieren uns aber einfach an der Realität. Es ist besser, zu koordinieren und vom Einzelnen zu lernen, und zwar unter starker Begleitung der Bundesregierung bzw. des zuständigen Wirtschaftsministeriums. Wenn wir das Gros der Hebel, die eigentlich in der Hand der Länder liegen, entsprechend umlegen, dann sind wir auf einem guten Weg und gar nicht so weit voneinander entfernt, lieber Herr Paula, wie Sie dem Publikum weismachen wollen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Mortler, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen. Sonst hat das Konsequenzen für die anderen Redner.

Marlene Mortler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003596, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich bin im Grunde genommen fertig. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Alexander Süßmair für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Süßmair (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004172, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung über zwei Anträge zum Tourismus im ländlichen Raum und einen Bericht der Bundesregierung. Ich möchte mit dem Bericht der Regierung beginnen und hier zwei Punkte aufgreifen. Das Erste ist das Aktionsprogramm regionale Daseinsvorsorge für jene ländlich strukturierten Regionen, „in denen die Grundversorgung mit kommunalen Leistungsangeboten wie Schulen, Kindergärten, Gesundheits- und Beratungseinrichtungen, ÖPNV, Straßen und technischer Ver- und Entsorgung gefährdet ist“. Was soll man dazu sagen? Da werden seit Jahren öffentliches Eigentum und Daseinsvorsorge privatisiert und zerstört, den Kommunen werden die finanziellen Mittel abgegraben - unter maßgeblicher Beteiligung von CDU/CSU und FDP -, und dann empfiehlt die schwarz-gelbe Regierung ein Programm zu deren Wiederaufbau. Das ist absoluter Hohn. ({0}) Der zweite Punkt betrifft die Vergabe von Mikrokrediten für Kleinunternehmen im ländlichen Raum. Der Bericht der Bundesregierung zeigt auf, wie sinnvoll diese Kredite sind. Doch warum brauchen denn Selbstständige oder kleine Unternehmen Mikrokredite? Warum bekommen sie keine normalen Kredite? Das kann ich Ihnen sagen: Die Kaufkraft ist nicht da. Die Kunden haben kein Geld und die Urlauber auch nicht. Das liegt an der Niedriglohnpolitik und der Zerstörung unseres Sozialstaats seit Jahren durch leider alle Bundesregierungen. ({1}) CDU/CSU und FDP setzen auf den Export und nicht auf den Binnenmarkt. Das trifft gerade die Tourismusbranche im ländlichen Raum besonders hart. Nun komme ich zu dem Antrag von CDU/CSU und FDP mit dem Titel „Tourismus in ländlichen Räumen Potenziale erkennen, Chancen nutzen“. Im Rahmen des Projektes „Tourismusperspektiven in ländlichen Räumen“ wollen Sie Handlungsempfehlungen entwickeln. Dieses Projekt wird von einem Projektbeirat unterstützt. Aber in diesem Beirat sitzen keine Gewerkschafter, also keine Vertreter von Beschäftigten, und es gibt keine Fachleute für sozialen Tourismus oder für Tourismus von Kindern und Jugendlichen. Das hätten Sie in Ihrem Antrag nachbessern können, aber anscheinend wollen Sie das nicht. Das kritisieren wir ausdrücklich. ({2}) Die soziale Dimension des ländlichen Tourismus kommt in Ihrem Antrag überhaupt nicht vor. Dabei sind besonders im ländlichen Raum die Löhne am niedrigsten und die Arbeitsbedingungen in Hotels und Gaststätten häufig am schlechtesten. Wir von der Linken sagen, was der ländliche Raum dringend braucht: Erstens: keine weitere Intensivierung der Landwirtschaft. Wenn keine Kühe auf der Weide stehen und riesige Monokulturen die Felder beherrschen, dann wird Tourismus auf dem Lande immer weniger attraktiv. ({3}) Es ist aber genau diese Bundesregierung, die auf EUEbene den Umweltschutz und die naturnahe Bewirtschaftung im Rahmen der Reformen zur EU-Agrarpolitik von Anfang an blockieren wollte. Der ländliche Raum braucht aber biologische Vielfalt, um touristisch interessant und erholsam zu sein. ({4}) Zweitens. Sie beklagen, dass der öffentliche Personennahverkehr zu wenig auf den Tourismus abgestimmt sei. Aber genau das ist das Ergebnis einer falschen Verkehrspolitik von CDU/CSU und FDP. Gerade in den Ballungsgebieten gibt es immer mehr Menschen, die kein Auto haben. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden, attraktiven und bezahlbaren öffentlichen Nahverkehr, damit die Menschen aufs Land kommen können. ({5}) Drittens. Sie beklagen in Ihrem Antrag die rückläufigen Besucherzahlen in den Kurorten aufgrund der Gesundheitsreform. Wer ist denn dafür verantwortlich, wenn nicht Sie? Mit Haushaltssanierungen auf Kosten von Kurgästen haben Sie schon 1996 unter Ihrem ehemaligen Gesundheitsminister Seehofer begonnen. Deshalb brauchen wir endlich wieder eine umfassende soziale Gesundheitsversorgung. ({6}) Viertens. Wir brauchen endlich Barrierefreiheit im ländlichen Tourismus. Aber Menschen mit Behinderung und Familien mit kleinen Kindern und mit Kinderwagen - das hat auch der Kollege Paula schon angesprochen kommen in Ihrem Antrag leider gar nicht vor. Da möchte ich Ihnen, Frau Mortler, widersprechen. Das ist ein sehr wichtiges Thema. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat uns mit auf den Weg gegeben, dass dieses Thema in jedem Antrag und bei jedem Aspekt berücksichtigt werden sollte. ({7}) Fünftens. Wir brauchen endlich eine ausreichende finanzielle Ausstattung für die Kommunen. Dann entsteht Kaufkraft, und die Kommunen können selbst den Tourismus ausbauen und fördern. ({8}) Sechstens. Alle Menschen müssen es sich leisten können, überhaupt Urlaub zu machen. Gerade für die ländlichen Räume wäre die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns überlebenswichtig. ({9}) Wir brauchen auch Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien mit geringen Einkommen. Mehr noch: Insbesondere Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IVEmpfänger können sich Urlaub selbst in ihrer näheren Umgebung nicht leisten. Deshalb muss Hartz IV endlich weg und durch eine bedarfsdeckende, sanktionsfreie, soziale Mindestsicherung ersetzt werden. Dies fordert die Linke schon lange. ({10}) Was ist das Fazit? Die schwarz-gelbe Regierung hat kein nachhaltiges Konzept für den ländlichen Raum als Ganzes. Das haben Sie selbst gerade zugegeben. Auch im Bereich des ländlichen Tourismus sehe ich nur heiße Luft. Sie halten es hier wie mit vielen anderen Politikbereichen auch: Aus einer durchaus kritischen Analyse in einem Bericht leiten Sie eine Politik des Weiter-so ab; das wurde schon angesprochen. Das ist für die Linke nicht akzeptabel. Wir brauchen einen ländlichen Raum, in dem die Menschen gern leben und Urlaub machen. Dafür setzen wir von der Linken uns ein. Wenn ich noch kurz zum Antrag der SPD kommen darf. Sie kommen diesem Anliegen deutlich näher als die Koalitionsfraktionen. ({11}) Allerdings hätte ich mir von der SPD noch gewünscht, dass sie die Situation der Beschäftigten in der Tourismusbranche in ihrem Antrag wenigstens streift. ({12}) Ich denke, da können wir bei den Beratungen in den Ausschüssen noch nachbessern. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Markus Tressel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Tressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004178, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Touristische Entwicklungen in ländlichen Regionen, das ist eine klassische Querschnittsaufgabe. Frau Kollegin Mortler, auch ich muss Ihnen widersprechen: Das Thema Barrierefreiheit wird in Ihrem Antrag nicht einmal gestreift. Das halte ich für absolut nicht sachgerecht. ({0}) Was wir brauchen, sind übergreifende Konzepte für touristische Entwicklungen. Wir müssen über demografischen Wandel, über Verkehrspolitik, über Klimapolitik, über Energiepolitik und über viele weitere Bereiche reden. ({1}) - Lassen Sie mich doch erst einmal weitermachen. Sie brauchen mich doch nicht schon nach 30 Sekunden zu unterbrechen. ({2}) In den Anträgen ist immer wieder, was ich sehr befürworte, von Urlaub auf dem Bauernhof die Rede. Ich halte das für ein ganz wichtiges Segment. Da gibt es große Potenziale. Ich habe jedoch die große Besorgnis, dass wir dieses umfangreiche Thema auf Urlaub auf dem Bauernhof verengen. ({3}) Wir haben in den ländlichen Räumen große Herausforderungen in unterschiedlichem Ausmaß zu bewältigen: Kaufkraftverlust, demografischer Wandel, Misere der kommunalen Haushalte und Klimaveränderung, die wir in den Mittel- und Hochgebirgen schon heute zu spüren bekommen. Angesichts dessen ist ein Weiter-so, wie es propagiert wird, nicht sinnvoll. Wir müssen uns folgende Leitfrage stellen, wenn wir eine wirklich nachhaltige Entwicklung in den Destinationen wollen: Wie können wir über den Tourismus die regionalen Wirtschaftsstrukturen nachhaltig verbessern? Wir haben im Moment einen sehr geringen Nettodevisenzufluss: Von 100 umgesetzten Euro bleiben nur rund 36 Euro in der Region. Das ist viel zu wenig. Deswegen müssen wir an dieser Stelle deutlich nachlegen. Wir müssen uns weiterhin fragen: Wie wird Mobilität nachhaltig? Die Kollegen haben es vorhin angesprochen: Die Gesellschaft wird immer älter. Wir haben auch andere Probleme, was die Mobilität anbelangt. Nur dort, wo Menschen auch unter den Bedingungen veränderten Mobilitätsverhaltens gut hinkommen und wo sie auch während des Urlaubs mobil sein können, kann Tourismus wachsen. ({4}) Im Zusammenhang mit dem Thema Entwicklung des ländlichen Tourismus müssen wir auch über die Fragen sprechen: Wie stellen wir den Schienenfernverkehr in der Fläche sicher? Wie können vor Ort Elektromobilitätskonzepte entwickelt werden? Dafür gibt es gute Beispiele, Stichwort Best-Practice-Beispiele. Ich glaube, dass es nicht ausreicht, solche Beispiele zu sammeln. Wir müssen auch in diesem Bereich für Weiterentwicklungen sorgen. Außerdem müssen wir über die Energiepolitik sprechen. Landauf, landab wird über die Energiewende diskutiert. Ich glaube, dass das Ganze auch für die Entwicklung des ländlichen Raumes von großer Bedeutung ist, vor allem für die - dabei habe ich jetzt nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische Aspekte im Blick Tourismusunternehmer vor Ort; für diese Unternehmer ist die Energiefrage eine besondere. Wir brauchen Konzepte, wie wir die Energieeffizienz voranbringen und wie wir dafür sorgen, dass ländliche Betriebe energieeffizient aufgestellt sind, um bei steigenden Preisen im Energiebereich wettbewerbsfähig zu bleiben. Außerdem müssen wir etwas gegen den Investitionsstau in diesem Bereich tun. In fast 80 Prozent der Landkreise wurde ein Investitionsstau im Beherbergungsgewerbe und in mehr als 60 Prozent in der Gastronomie festgestellt. Das alles ist verbunden mit einer Eigenkapitalquote von 2,8 Prozent, während die Eigenkapitalquote im Dienstleistungssektor bei knapp 20 Prozent liegt. Da braucht es Lösungen, und dazu habe ich in den vorlie21734 genden Anträgen wenig bis gar nichts Konkretes gelesen. Gute Worte und Prüfaufträge helfen da nicht weiter. Auch eine Sammlung von Best-Practice-Beispielen hilft da nicht weiter, Herr Burgbacher. ({5}) Wir stehen noch vor weiteren Herausforderungen; ich habe es vorhin angesprochen. Ich verweise auf die Misere in den kommunalen Haushalten, Stichwort Bettensteuer. Die Kommunen müssen sich natürlich refinanzieren, wenn sie vor Ort investieren wollen - und sie müssen vor Ort investieren. Wenn wir über die Entwicklung der ländlichen Regionen sprechen, müssen wir uns auch mit der Frage befassen: Wie überwinden wir das Kirchturmdenken? Nicht jede Destination endet an den Grenzen des Landkreises. Daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten. Ein weiteres Problem - das hat der Kollege Süßmair schon angesprochen - ist das Personal. Ohne Fachpersonal wird es im ländlichen Raum keine Entwicklung geben. Deswegen muss man sich die Frage stellen: Wie sieht es denn mit den Arbeitsbedingungen aus, und wie können wir dem Fachkräftemangel in der Branche im ländlichen Raum wirksam begegnen? Ich glaube, dass wir dazu neue Lösungen im Rahmen eines Gesamtkonzepts entwickeln müssen. Ein Punkt, der ganz wichtig ist, ist das Marketing. Dazu ist in allen Anträgen immer die DZT angesprochen. Ich glaube aber, dass es zu kurz gesprungen ist, stets die DZT aufzufordern, im Marketing neue Anstrengungen zu unternehmen. Wir müssen vielmehr darüber nachdenken, welche Institutionen bei der Vermarktung, etwa im Ausland, noch genutzt werden können. Da gibt es eine breite Palette. Ich glaube, es wäre auch der DZT gegenüber nur fair, nicht alles immer bei ihr abzuladen. Da sind kreative Lösungen gefragt. Sie haben landsichten.de angesprochen. Ich bin froh, dass es das in Deutschland endlich gibt, und danke den Machern außerordentlich herzlich dafür. Aber im Gegensatz zu dem Pendant in Österreich war es für unsere deutschen Kollegen nicht möglich, EU-Fördermittel zu bekommen. Auch das ist ein Problem. Auch hier müssen wir etwas ändern. Was wir zunächst brauchen, ist eine ehrliche Bestandsanalyse. Ich glaube, das ist die Grundlage für alles das, was wir in der Folge konzeptionell erarbeiten. Wir müssen Hemmnisse beseitigen und den Weg für Chancen freimachen, bevor wir die Chancen in einem Konzept skizzieren. Eine Bundesstudie zu den Tourismuspotenzialen im ländlichen Raum kann hier wesentliche Grundlagen legen. Deswegen befürworten wir das, was die SPD in ihrem Antrag gefordert hat. ({6}) Aber eines muss man an dieser Stelle auch sagen: Es ist nicht überall sinnvoll, in die Förderung von Tourismus zu investieren. Wir sprechen hier auch über Nachhaltigkeit. Da muss man sehr genau hinschauen: Wo ist das Investieren überhaupt sinnvoll? Dort, wo es sinnvoll ist, müssen wir vor allem über Ansätze zur Verbesserung von Wertschöpfungsketten sprechen; denn nur dann, wenn mehr Geld in der Region bleibt, ist die Entwicklung im ländlichen Raum nachhaltig. Wir haben als Grüne im Januar einen Fraktionsbeschluss gefasst, in dem wir verschiedene Vorschläge machen. Ich würde gern daran mitarbeiten, dass wir entsprechend dem Vorschlag von Herrn Paula zu einem interfraktionellen Antrag kommen, wie es auch bei anderen Themen im Tourismusbereich schon gute Sitte war. Wir sollten gemeinsam versuchen, unsere Vorschläge zusammenzuführen und dann im Interesse der ländlichen Regionen in Deutschland eine gute Lösung zu finden. ({7}) Unsere Prämisse: Es muss nachhaltig sein; es muss zukunftsgerichtet sein. Wenn das gegeben ist, dann sehen Sie uns an Ihrer Seite. Das ist im Moment noch nicht gegeben. Wenn wir einen gemeinsamen Antrag hinbekommen, ist das umso besser. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Edmund Geisen hat nun für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Dr. Edmund Peter Geisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Das Gute bewahren und mit neuen Ideen in eine ökologisch orientierte Zukunft gehen“, das war mein Slogan seit Jahrzehnten, und er bleibt es auch. ({0}) Dieser Slogan passt auch zum Thema Ländliche Räume. Ich freue mich sehr darüber, dass die Bedeutung der ländlichen Räume von der christlich-liberalen Koalition so stark in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt worden ist. Das zeigt der aktuelle Fortschrittsbericht in seinen Handlungsschwerpunkten. Das zeigen aber auch die Einsetzung der koalitionsübergreifenden Arbeitsgruppe „Ländliche Räume“ und die Durchführung des Kongresses „Ländliche Räume, regionale Vielfalt - wie gestalten wir Zukunft?“ am 11. Juni dieses Jahres. Verehrter Herr Paula, es gibt übrigens ein Tourismuskonzept. Das wird in vier Konferenzen vorgestellt. Ich wiederhole damit, was Staatssekretär Burgbacher eben ausgeführt hat. Unsere ländlichen Räume sind die Stützpfeiler und das Rückgrat unserer Gesellschaft. Hier existieren noch Bürgergesellschaften. Hier kann man noch von „intakter Gesellschaft“ sprechen. Hier übernehmen die Bürgerinnen und Bürger noch Verantwortung. Kurz: Die sozialen Probleme sind gering. Es gibt keine sozialen BrennDr. Edmund Peter Geisen punkte und wenige Arbeitslose. Die Sozialbudgets werden am geringsten belastet. Diese Stabilität hat sehr viel mit Multifunktionalität zu tun. Die attraktiven Kulturlandschaften sind zu beliebten Reisezielen vieler Erholungsuchender geworden und haben zum Auf- und Ausbau des Tourismus beigetragen. Aber: ohne gute Landwirtschaft keine prosperierenden ländliche Räume. ({1}) Für mich ist eine gute Infrastruktur die Voraussetzung für florierende ländliche Räume. Diese Infrastruktur ist vergleichbar mit dem Blutkreislauf des Körpers. Der Kreislauf muss geschlossen sein. Lücken sind schädlich für den gesamten Organismus. Unverantwortlich ist es deshalb für mich, dass rotgrüne Regierungen zum Beispiel in NRW und Rheinland-Pfalz wichtige Infrastrukturmaßnahmen wie den Lückenschluss der A 1 in meiner schönen Heimat, der Eifel, zum Nachteil der Menschen und der Umwelt ausbremsen. ({2}) - Nein, Sie haben durch 36 immer wieder neu geforderte Gutachten die Schließung der Lücke ausgebremst. Dort besteht eine offene Wunde an der Hauptschlagader. Das muss endlich aufhören. ({3}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, schnelle Lückenschlüsse und notwendige Umgehungsstraßen, vernünftige Bahnanbindungen und schneller Breitbandausbau sind unabdingbare Voraussetzungen für eine gute Entwicklung, ({4}) und dafür müssen wir sorgen, wenn uns die ländlichen Räume wirklich am Herzen liegen und der Gesellschaft so wichtig sind, wie es hier zum Ausdruck kommt. Hier drückt die christlich-liberale Koalition endlich aufs Tempo wie nie zuvor. Nur so geht Zukunft. ({5}) Für einen zukunftsträchtigen ländlichen Raum kämpfen heißt: Landwirtschaft, Tourismus und Mittelstand erhalten und stärken sowie Multifunktionalität und Daseinsvorsorge attraktiv gestalten. Dazu gehören auch Kultur- und Traditionspflege. Dafür steht ganz besonders die Zukunftspolitik unserer christlich-liberalen Koalition. Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören und wünsche Ihnen frohe Pfingsttage. Alles Gute! ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Willi Brase für die SPDFraktion. ({0})

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über den Tourismus, aber auch über den Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume. Dieser Bericht enthält viele Bilder, Modelle, Projekte, Best-Practice-Beispiele. Wenn wir uns Teilbereiche der ländlichen Regionen anschauen, dann finden wir diese nicht wieder. ({0}) Für das Minimodellprojekt „LandZukunft“ werden insgesamt 9 Millionen Euro für den Zeitraum 2011 bis 2014 angesetzt. Auf der anderen Seite werden die Haushaltsmittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ um 100 Millionen Euro gekürzt. ({1}) - Nicht nur unerhört, Herr Kollege. So kann man keine vernünftige Entwicklung der ländlichen Räume voranbringen. Wir erfahren von der EU, dass die unterschiedlichen Fördertöpfe nebeneinander herlaufen und dass es keine integrierte, aufeinander abgestimmte Politik gibt. Das muss man kritisieren. Auch die Perspektive „Europa 2020“ sieht als Ziel vor, die Weiterentwicklung einer integrierten gemeinsamen regionalen Politik auf den Weg zu bringen. Das halte ich für richtig und notwendig. ({2}) In meiner Fraktion hatten wir kürzlich eine Debatte über die Situation im Bereich der Intensivtierhaltung. Mittlerweile muss man in Deutschland von Schlachttourismus reden. Dänische Unternehmen bringen ihre Schweine nach Deutschland, weil Deutschland in diesem Bereich ein absolutes Billiglohnland ist. ({3}) Ich sage deutlich: Es ist eine Schande, dass in unserem Land rumänische Werkvertragsarbeitnehmer für 2,78 Euro in der Stunde arbeiten müssen. Sie bekommen 3 Euro Auslöse pro Tag und müssen davon Ernährung, Kleidung und Unterkunft bezahlen. Es ist eine Schande für dieses Land. Das gehört endlich geändert, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({4}) Es wird Sie nicht verwundern, wenn ich sage, dass dort der Mindestlohn notwendig und richtig wäre; das brauche ich gar nicht zu erklären. Er würde den Menschen helfen, und wir könnten tatsächlich von einer sozialen Marktwirtschaft reden. ({5}) Gehen wir zum Tourismus im Hotel- und Gaststättenbereich über. Es klang eben ein bisschen an: Alle Statistiken weisen heute aus, dass die Hälfte aller Beschäftigten im DEHOGA-Bereich auf der Basis von Minijobs arbeiten. Was sind das für Zukunftsperspektiven? Diese Menschen kommen später an und brauchen die Grundsicherung, die wir alle bezahlen müssen. Das ist der falsche Weg. Hier müssen dringend Änderungen her. ({6}) Gehen wir weiter: Im Fortschrittsbericht wurde auch ausgeführt, dass es einen Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland gibt. Das ist richtig. Die Ausbildungsplatzzahlen - das kann ich als Berichterstatter eindeutig bewerten - haben sich verbessert. Aber in den ländlichen Regionen sind immer noch gut 300 000 junge Leute in Übergangsmaßnahmen. Wo ist eigentlich das Konzept der Bundesregierung für die jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren, die keinen Berufsabschluss haben? Sie haben das Problem im Pakt selber beschrieben und schreiben: Wir wollen diesen Pakt weiterentwickeln. Wo ist das Konzept, damit diese jungen Leute endlich qualifiziert werden, damit wir im Fachkräftebereich auch im ländlichen Raum endlich nach vorne kommen? ({7}) Der Bund der Deutschen Landjugend ist mittlerweile auf dem Weg und sagt: Wir stehen im ländlichen Bereich in Konkurrenz zu industriellen gewerblichen Strukturen, und wir möchten, dass ein Qualifizierungsfonds aufgelegt wird; wir wollen also Angebote für junge Menschen auf hohem qualifikatorischem Niveau auf den Weg bringen. - Das halten wir für gut. Es gibt das schon in Schleswig-Holstein, im Baubereich - das ist bekannt und im Gerüstbaubereich. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung dies ein Stück weit aufgreifen würde. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir uns die Situation der jungen Frauen im ländlichen Bereich an. Da gibt es drei Aspekte, die man beachten muss: Erstens. Die Entgeltlücke zwischen Männern und Frauen beträgt grundsätzlich im Durchschnitt immer noch 23 Prozent zulasten der Frauen. Im ländlichen Bereich ist die Lücke teilweise um 10 Prozentpunkte größer. Zweitens. Wir wissen, dass wir auch im ländlichen Bereich Kinderbetreuungseinrichtungen brauchen; dort haben wir Defizite. Ich kann es Ihnen heute hier nicht ersparen: Es ist der völlig falsche Weg, dann das Betreuungsgeld auf den Weg zu bringen, um Partikularinteressen der CSU zu befriedigen; er führt in die Irre. ({9}) Die jungen Frauen haben etwas anderes, etwas Besseres verdient. Drittens. Wir haben die Abwanderung der jungen Menschen aus den ländlichen Räumen. Teilweise ist diese sehr groß. Nur noch 80 junge Frauen kommen auf 100 junge Männer: Vor allem in Ostdeutschland erleben wir solche Verwerfungen. Auch hier entdecke ich wenig bis gar nichts Konzeptionelles. Was ist zu tun? Ich glaube, dass wir Entwicklungskonzepte entwickeln und auf den Weg bringen müssen. Wir haben dazu in Nordrhein-Westfalen gesagt, dass wir so etwas wie regionale Strukturpolitik brauchen. Es gibt ländliche Räume, die sehr stark industrialisiert sind, in denen es sowohl Landwirtschaft - Grünland - und Tourismus als auch starke industrielle mittelständische Unternehmen gibt. Ich verweise auf Südwestfalen. Der Hinweis im Fortschrittsbericht, dass das überwiegend in Süddeutschland der Fall ist, ist nicht ganz richtig. Schauen Sie sich die deutsche Landkarte an: Die Situation hat sich verbessert; das Phänomen hat sich verbreitert. Es hat sich deshalb verbessert und verbreitert, weil wir mit der regionalen Strukturpolitik alle Aspekte ländlicher Entwicklung ins Visier nehmen. Es fängt an bei Tourismusprojekten; es hört auf bei der Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist gut, dass es immer wieder Bundesländer gibt, die neue Fachoberschulen gründen, um einen vernünftigen Wissenstransfer auf den Weg zu bringen. Es gibt also eine Menge zu tun. Die Daseinsvorsorge und die Infrastruktur sind angesprochen worden. Das ist wichtig; da müssen wir den Kommunen helfen. Ich sage hier: Es ist gut, dass die Gemeindefinanzreform scheiterte, dass die Gewerbesteuer bleibt. Gerade jetzt, in wirtschaftlich guten Zeiten, erweist sie sich als eine gute Sache. ({10}) Also: Weniger Hochglanz, mehr tun! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Christoph Poland hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Christoph Poland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004130, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es wird jetzt etwas weniger gewerkschaftlich. Die Bundeskanzlerin hat 2007 erkannt, welche politische und ökonomische Bedeutung dem ländlichen Raum zukommt. In Deutschland lebt rund die Hälfte aller Menschen in ländlichen Räumen. Die demografische Entwicklung zwingt uns, zu handeln. Die Bundesregierung hat mit der Arbeitsgruppe „Ländliche Räume“ richtig reagiert. Vorrangiges Ziel der Arbeitsgruppe ist die Stärkung des ländlichen Raums als eigenständiger Wirtschafts- und Lebensraum. Er leistet einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutschland. Die Bundesregierung hat drei Handlungsfelder identifiziert: Wirtschaft und Arbeit, Daseinsvorsorge und ländliche Infrastrukturen sowie Natur und Umwelt. Diese übergreifende Strategie stärkt die ländliche Region als lebenswerte Räume. Ein Schwerpunkt liegt auf der Bildung und Ausbildung von Fachkräften. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftsförderung und mit besseren Finanzierungsmöglichkeiten für Gewerbetreibende ergibt sich der Ausbau von Tourismuspotenzialen. Gerade Bildung muss sich regional und arbeitsmarktorientiert entfalten. Mit neuen Finanzierungsinstrumenten ist sie das Fundament für die Stabilisierung von Wirtschaft, Kultur und Tourismus. ({0}) Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung zeigt, dass die formulierten Ziele bereits umgesetzt werden und die ländlichen Räume davon profitieren. Ein Beispiel ist das Konjunkturpaket II, mit dem Finanzhilfen für Investitionen der Kommunen und der Länder bereitgestellt wurden. Außerdem wurden die Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ und „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ ausgebaut. Ein weiteres Beispiel ist das Modellprojekt „LandZukunft“. Dieses Projekt fördert regionale Unternehmen in peripheren Regionen mit einer ungünstigen Alters- und Wirtschaftsstruktur und ist ein erster Schritt zur wirtschaftlichen Stabilisierung. Kleinunternehmer und Existenzgründer im ländlichen Raum können über einen Mikrokreditfonds Kredite bis zu einer Höhe von 20 000 Euro aufnehmen. Auf diese Weise haben Unternehmen und Existenzgründer bereits mehr als 1 800 Klein- und Kleinstkredite erhalten. Das ist ein Volumen von über 10 Millionen Euro Kreditsumme. Die Bemühungen der Bundesregierung zeigen Wirkung. Die Zahl der Breitbandanschlüsse wurde seit 2003 vervierfacht. Damit liegt Deutschland um 42 Prozent über dem europäischen Durchschnitt, wenn wir auch noch nicht in jedem Bereich zufrieden sind. Seit 1. Januar 2012 ist das Versorgungsstrukturgesetz in Kraft. Zu Beginn dieses Monats meldete die Kassenärztliche Vereinigung den erfolgreichen Stopp des Ärzteschwunds auf dem Land. ({1}) Als Grund gibt die Vereinigung die Aufhebung der Altersgrenzen an sowie bessere Möglichkeiten, Mitarbeiter einzustellen. Das ist ein wirklicher Erfolg für die Landbevölkerung. Auch die Energiewende vollzieht sich auf dem Land. Erneuerbare Energien sind Landenergien. Ein großer Beitrag wird dezentral im ländlichen Raum geleistet. Sowohl Bioenergie als auch Sonnen- und Windenergie, darüber hinaus Geothermie beanspruchen Fläche - Flächen der Landwirte und Waldbesitzer. Problematisch ist der damit verbundene Ausbau der Energieleitungen, die den Flächenverzehr anheizen. Deshalb muss man sich der Kampagne „Stoppt Landfraß“ des Bauernverbandes anschließen. Der Verlust von wertvollem Ackerland, einer unserer wertvollsten Ressourcen, muss eingedämmt werden, denn der Landwirt ist zugleich Landschaftspfleger. Damit schützt er die Natur und pflegt sie auch für die Touristen. Die Landwirtschaft ist die tragende Säule der ländlichen Räume. 50 Prozent der Flächen sind landwirtschaftliche Flächen. In Verbindung mit Kultur auf dem Land und Tourismus auf dem Land ergibt sich ein attraktiver ländlicher Raum. Ich selbst stehe als ein beredtes Beispiel dafür. Seitdem mein „LandKulturHof“ funktioniert, kennen viele Leute in der Umgebung das Dorf; die Touristen kommen von weit her. Es ist wichtig, dass Landwirte lernen, ihre Höfe zu vermarkten, jedoch nicht nur im Bereich „Ferien auf dem Bauernhof“ oder als Kuschelzoos mit Kühen zum Anfassen. ({2}) Vielmehr sollen die Menschen reale Landwirtschaft erleben. Zur Kampagne „Stoppt Landfraß“. Wir müssen alle Verantwortlichen - BVVG, Landgesellschaften und Landräte - aufrufen, darauf zu achten, dass möglichst nur tätige Landwirte Land erwerben können. Bodenspekulationen schaden der Landwirtschaft. Wir brauchen lebensfähige Hofstrukturen. Ebenso wichtig ist das Thema Hochkultur im ländlichen Raum. Sie ist unverzichtbar. Weiche Standortfaktoren ziehen Touristen und Bürger an. Der Wirtschaftsjournalist Ralph Bollmann schreibt in seinem Buch Walküre in Detmold über die kleinen Theater im ländlichen Raum. Er stellt fest, dass Deutschlands Musiktheater doppelt so viele Besucher haben wie die Bundesliga. Das muss man sich einmal vorstellen: 20 Millionen verkaufte Tickets in den kleinen Theatern im ländlichen Raum, die wir aus der absolutistischen Zeit geerbt haben. ({3}) Die Bundesregierung hat mit der Arbeitsgruppe „Ländliche Räume“ den Grundstein für die Zukunftsfähigkeit der Region außerhalb der Ballungszentren gelegt. Die Probleme wurden identifiziert und Lösungen erarbeitet. Durch die Umsetzung der genannten Maßnahmen wird der ländliche Raum bereits heute gefördert. Wir arbeiten daran, dass er kulturell und ökonomisch attraktiver wird und jungen Menschen auch in Zukunft eine Perspektive bietet. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Ingbert Liebing hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktionskollegin Marlene Mortler hatte eingangs geschildert, welch positiven Beitrag die Tourismuswirtschaft für die Entwicklung der ländlichen Räume leistet. Sie hat die positiven Ansätze, die vielen Initiativen der vergangenen Jahre geschildert, die dazu beigetragen haben, diesem touristischen Segment zu einer Erfolgsgeschichte zu verhelfen. ({0}) Es wurde deutlich, dass wir in Bezug auf die touristische Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten sind. Aber der Tourismus in den ländlichen Räumen hat über den Beitrag zur Tourismusentwicklung hinaus noch besondere Bedeutung für die Entwicklung der ländlichen Räume insgesamt. ({1}) Die ländlichen Räume stehen jetzt und in den nächsten Jahren noch viel mehr vor besonderen Herausforderungen. Wir kennen die Entwicklung der Demografie: die Bevölkerung schrumpft, sie wird älter. Es leben immer weniger Menschen in den ländlichen Räumen. Die Gesichter unserer Dörfer verändern sich: Dem Kaufmann fehlen die Kunden, dem Arzt fehlen die Patienten und den Schulen fehlen die Kinder. Junge Familien, die sich nach einer neuen Heimat umsehen, sagen: Da ziehen wir doch nicht hin! Sie verlassen die ländlichen Räume, und der ländliche Raum dünnt dadurch zunehmend aus. Das ist sicherlich nicht überall der Fall. Die ländlichen Räume sind vielfältig, aber im Osten findet diese Entwicklung schon viel früher und heftiger statt als anderswo. So entwickelt sich eine Teufelsspirale, die Entwicklung geht nach unten. Früher hatten wir eine gegenteilige Entwicklung. Man hat eher von der Flucht aus den Städten auf das Land gesprochen. In den Dörfern wurden Neubaugebiete für junge Familien ausgewiesen, heute haben wir eine umgekehrte Entwicklung. Die Auswirkungen des demografischen Wandels sind angekommen. Wir werden ihn nicht aufhalten und erst recht nicht umkehren können. Angesichts dieser Entwicklung müssen wir stabilisierend auf die ländlichen Räume wirken, indem wir neue Entwicklungen anregen und neue Anreize setzen. Wir müssen aber auch dort Anpassungen vornehmen, wo wir bestimmte Entwicklungen nicht verändern können. Im „Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume“ wird auf die genannten Entwicklungen Bezug genommen und deutlich gemacht, in welchen Bereichen sich die Bundesregierung den anstehenden Aufgaben stellt und handelt. Mein Fraktionskollege Christoph Poland hat dies eben herausgearbeitet. Wir als Koalitionsfraktionen nehmen diese Aufgabe sehr ernst. Die Tatsache, dass die Führungen der Koalitionsfraktionen eine gemeinsame Koalitionsarbeitsgruppe eingesetzt haben, zeigt, dass wir diesem Thema eine besonders hohe Bedeutung beimessen. ({2}) Die heutige Debatte ist ebenfalls ein Beitrag dafür. Der Koalitionsantrag zum Tourismus in den ländlichen Räumen zeigt auch, dass wir gerade diesem Aspekt eine besondere Bedeutung beimessen und Aufmerksamkeit widmen. Wenn wir nicht nur reagieren, sondern selber handeln, steuern und gestalten wollen, müssen wir - das vor allem ist unser übergeordnetes Ziel - Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen in Stadt und Land erreichen. Dabei setzen wir darauf, die Potenziale der Regionen, die wir nutzen wollen, anzureizen und zu wecken. Wir wollen die eigenen Kräfte in den Regionen unterstützen, damit sie ihre Möglichkeiten zum Ausdruck bringen können. Auch da wiederum spielt der Tourismus eine entscheidende Rolle. Dies macht unser Antrag mit seinen Inhalten deutlich. Auch der Kongress, der in wenigen Wochen hier in diesem Hause durch die Koalitionsfraktionen veranstaltet wird, macht das deutlich. Dabei ist der Tourismus in den ländlichen Räumen einer von drei Schwerpunktbereichen. Mir liegt aber auch sehr daran, aufzuzeigen, dass dies kein Gegensatz zu einem städtischen Tourismus sein muss. Wir wissen, dass der städtische Tourismus in den letzten Jahren einer der Wachstumsmotoren gewesen ist. Es geht aber nicht um ein Gegeneinander und auch nicht um ein Entweder-oder in Bezug auf die Frage, was wir stärker fördern müssen, sondern es geht um beides. Wir müssen alle Regionen, Ansätze und Segmente ihren Potenzialen entsprechend fördern und unterstützen. ({3}) Was für den Tourismus gilt - sowohl der ländliche Tourismus als auch der städtische Tourismus sollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützt werden -, das gilt für die Regionalentwicklung gleichermaßen. Wenn wir für eine Unterstützung, eine Förderung der ländlichen Regionen werben, heißt das nicht, dass das zulasten der Städte gehen muss, sondern es geht um einen fairen Interessenausgleich und, wie ich eingangs sagte, darum, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in städtischen und in ländlichen Regionen sicherzustellen. Wir müssen uns aber darum kümmern, dass es auch im ländlichen Raum funktioniert. Deshalb müssen die Voraussetzungen bzw. die Rahmenbedingungen für den Tourismus geschaffen werden. Dazu will ich drei von vielen Stichworten nennen. Das Stichwort Mobilität ist mir - gerade im Hinblick auf den Tourismus in den ländlichen Regionen - wichtig; denn die Gäste müssen auch in die ländlichen Regionen hinkommen. Die Verkehrsanbindung ist wichtig. Das gilt für Straße wie für Schiene, aber auch für die Mobilität innerhalb der ländlichen Räume selbst; denn die Gäste wollen sich bewegen und die Gegend erkunIngbert Liebing den. Deswegen reicht es nicht - das sage ich ausdrücklich an die Adresse der Grünen -, hier nur Mobilität zu fordern, sondern man muss konkret werden, wenn es um die einzelnen Projekte geht. Dann darf man nicht einfach immer nur dagegen sein. ({4}) Als zweites Stichwort nenne ich die Breitbandversorgung. Ich möchte ausdrücklich das loben, was die Bundesregierung mit ihren Initiativen dazu auf den Weg gebracht hat. Wir als Koalitionsfraktionen werden dazu in Kürze noch weitere Vorschläge vorlegen. Breitbandversorgung bzw. schnelles Internet ist das A und O für die Entwicklung in den ländlichen Regionen. Das gilt gerade auch für den Tourismus. Darauf sind die Vermieter angewiesen, die wie selbstverständlich ihre Angebote ins Internet einstellen. Onlinebuchbarkeit ist heute zwingende Voraussetzung. Das gilt aber auch für die Gäste. Natürlich wollen die Gäste auch im Urlaub chatten, skypen und ihre E-Mails empfangen. Wenn es die Eltern nicht wollen, dann erwarten es mindestens die Kinder. Wir wissen doch selber, wie es ist: Am Ende bestimmen oft genug die Kinder die Urlaubsplanung der Familie. Breitbandausbau ist zwingende Voraussetzung. Dafür tun wir viel über die GAK und das Telekommunikationsgesetz. ({5}) Unser Ziel ist es, bis 2018 eine flächendeckende Versorgung mit mindestens 50 MBits zu erreichen. Das werden wir auch schaffen. Ich nenne als drittes Stichwort die Infrastrukturförderung auch für den Tourismus. Zurzeit werden die Weichen auf europäischer Ebene neu gestellt. Marlene Mortler hat bereits das Stichwort EFRE genannt. Gerade in den ländlichen Räumen brauchen wir eine gute Infrastruktur, um qualitativ hochwertige Standards zu gewährleisten und immer wieder neue Angebote zu schaffen. Dabei ist gerade das Element der investiven Tourismusförderung über EFRE von Bedeutung. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein. Wir unterstützen sie dabei. Meine Damen und Herren, unser Ziel ist es, Menschen in den ländlichen Räumen zu halten, ihnen Lebens- und Zukunftsperspektiven zu bieten. Dafür brauchen sie Arbeitsplätze. Der Tourismus in den ländlichen Räumen kann diesbezüglich einen wichtigen Beitrag leisten. Die Menschen brauchen aber mehr als Arbeit. Sie fragen nach Lebensqualität, auch nach Möglichkeiten zur Verbindung von Arbeit und Familie. Das, was wir früher als weiche Standortfaktoren bezeichnet haben, Bildung, Kindergarten, Schule, soziale Infrastruktur und kulturelle Angebote, wird zunehmend zu harten Standortfaktoren im Wettbewerb. Die ländlichen Regionen müssen versuchen, Schritt zu halten. Das ist bei einer zurückgehenden Bevölkerungsdichte nicht einfach. Aber es sind genau diese Faktoren, nach denen die Menschen entscheiden, wo sie Zukunftsperspektiven für sich und ihre Familien sehen. Wenn wir den Menschen in den ländlichen Räumen Zukunftsperspektiven bieten wollen, dann müssen wir die regionale Entwicklung im Zusammenhang sehen. Das ist die Voraussetzung für eine gute touristische Entwicklung in den ländlichen Regionen. Wenn Sie von der Opposition dies einfordern, dann kann ich Ihnen nur den Rat geben: Schauen Sie sich die Papiere genau an. Sowohl in unserem Antrag als auch in dem Bericht, den die Bundesregierung vorlegt, steht genau das. Darin wird aufgezeigt, dass wir die integrierte Regionalentwicklung zum Schwerpunkt unserer Arbeit machen. ({6}) Das, was Sie heute lautstark einfordern, tun wir bereits. Wir handeln. ({7}) Wir widmen uns dem ländlichen Raum, damit die Menschen eine Zukunftsperspektive in ihrer Heimat und für ihre Heimat bekommen. Dafür arbeiten wir. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/9570, 17/9571 und 17/8499 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil ({0}), Rolf Hempelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für ein konzeptionelles Vorgehen der Bundesregierung bei der Energiewende - Masterplan Energiewende - Drucksache 17/9729 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des 10-Punkte-Sofortprogramms zum Energiekonzept - Drucksache 17/9262 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})- Rechtsausschuss- Finanzausschuss- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Vizepräsidentin Petra Pau c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ein Jahr Fukushima - Die Energiewende muss weitergehen - Drucksachen 17/8898, 17/9779 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Georg NüßleinMarco BülowMichael KauchDorothée MenznerBärbel Höhn Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Garrelt Duin für die SPD-Fraktion. ({4})

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben das Thema Energiewende heute auf die Tagesordnung gesetzt, weil wir der festen Überzeugung sind, dass es in politischer und handwerklicher Hinsicht dringend an der Zeit ist, einen Masterplan für die Energiewende vorzulegen. Ich will zu Beginn in Erinnerung rufen, dass wir nicht erst vor einem Jahr mit der Energiewende in Deutschland angefangen haben. Vor mehr als zehn Jahren hat die damalige Bundesregierung die Maßnahmen ergriffen, die notwendig sind, ({0}) um aus der Nutzung der Atomkraft auszusteigen und dem Bereich der erneuerbaren Energien in Deutschland eine wirkliche Chance zu geben. ({1}) Das war der richtige Weg. ({2}) Diese Entwicklung haben Sie von der Koalition durch eine Pirouette vorübergehend zum Stillstand gebracht. Der damalige Energiekonsens wurde nicht von den Herren Röttgen, Rösler und Pofalla erarbeitet, sondern von dem damaligen Wirtschaftsminister Müller, dem damaligen Umweltminister Trittin und vor allen Dingen dem damaligen Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier. ({3}) Damals wurde nicht in Ethikkommissionen oder auf Gipfeln irgendetwas gemacht, sondern - das ist der Unterschied zu heute - es wurde wirkliche Kärrnerarbeit geleistet. Es wurde detailliert geschaut, was zu machen ist, und genau daran mangelt es im Jahr 2012 bei dieser Bundesregierung. ({4}) Vor wenigen Wochen, Ende April, hat Matthias Kurth, der ehemalige Chef der Bundesnetzagentur, in der Süddeutschen Zeitung einen Namensartikel veröffentlicht. Er begann mit einem Bonmot. Das darf ich noch einmal in Erinnerung rufen - ich darf zitieren -: Er sagte, jedes Projekt bestehe aus fünf Phasen - dieser Witz kursiere unter den Planern -, „erstens der Begeisterung, zweitens der Verwirrung, drittens der Ernüchterung; dann folge viertens die Suche nach Schuldigen und fünftens die Bestrafung von Unschuldigen sowie die Belobigung von Unbeteiligten.“ Als Matthias Kurth dies am 27. April 2012 schrieb, dachte er, wir seien in Phase drei. Inzwischen sind wir, wie wir seit den Ereignissen in den letzten Tagen alle wissen, in Phase fünf angekommen. Das ist aber kein gutes Zeichen; ich möchte wieder etwas Ernst in diese Debatte zurückbringen. Es zeigt, dass Sie nicht handwerklich ordentlich diese Kärrnerarbeit leisten. Sie machen nur Showveranstaltungen, zum Beispiel Gipfel, und sagen dann: Oh, wir treffen uns in einem halben Jahr wieder. - Dadurch geht viel zu viel Zeit ins Land. Es ist jetzt notwendig, einen Masterplan für die Energiewende in Deutschland und in Europa vorzulegen. ({5}) Sie beklagen das ja selbst. Herr Kauder sagte in dieser Woche: „Wir brauchen jetzt eine Regierung, die stark und handlungsfähig ist.“ Das wünschen wir uns schon seit einiger Zeit. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis. Sie kommt ein bisschen spät. Ich möchte Ihnen an einigen Punkten deutlich machen, worum es bei einem solchen Masterplan, wie wir ihn fordern, geht. Es geht erstens um die Koordinierung der Energiewende. Eine bessere Koordination der federführenden Ressorts Wirtschaft und Umwelt ist dabei dringend notwendig. Nicht nur wir kritisieren die bisherige Koordination. Auch Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Michael Fuchs sagte vor einer Woche, die Zusammenarbeit beider Häuser sei zuletzt nicht optimal gewesen. Das ist weit untertrieben. Um es auf den Punkt zu bringen: Es knackt doch an jeder Stelle. Zweitens geht es um die Bund-Länder-Koordinierung. Herr Oettinger sagte: Die Energieversorgungskonzepte der 16 Bundesländer und des Bundes sind nicht aufeinander abgestimmt. Hinzu kommen tausend kommunale Energieversorgungspläne. Da geht zu viel durcheinander. Selbst Herr Rösler sagt, es sei nicht hilfreich, wenn 16 einzelne Länder eigene Konzepte vorlegen. Wir bräuchten eine bessere Synchronisation. Jetzt hören wir aus Bayern, dass ein noch zu gründendes Bayernwerk in Zukunft eine ganz wichtige Rolle spielen könnte. Aber es ist doch die Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers, des Bundesumweltministers und des Kanzleramtsministers - mindestens diese drei sind dafür verantwortlich -, diese Koordinierung in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass sie irgendwann vom Himmel fällt. ({6}) Genauso wichtig ist die Einbettung in den europäischen Kontext. Die Einbettung unseres nationalen Energiekonzeptes in den europäischen Kontext ist doch überfällig. Auch daran fehlt es. Ich bin mir gar nicht sicher, ob Herr Rösler in den letzten Monaten überhaupt einmal in Brüssel gewesen ist, um dort zielführende Gespräche zu diesem Thema zu führen. Jeder, der sich mit dem Thema auseinandersetzt, weiß, wie wichtig es wäre, auf der europäischen Ebene zu agieren. Das Dritte, das wir einfordern und das in einem solchen Energiemasterplan enthalten sein sollte, ist ein Monitoring. VCI-Präsident Klaus Engel hat diese Konzeptlosigkeit bei der Energiewende mehrfach angeprangert, zuletzt im April. Er sagte - ich zitiere wörtlich -: „Das von der Bundesregierung beschlossene Monitoring eignet sich zwar gut als Fahrtenschreiber, aber als Navigationssystem taugt es nicht.“ Wozu hat man denn ein Monitoring? Man hat es doch, um die nächsten Schritte aus den daraus resultierenden Ergebnissen abzuleiten. Wir brauchen ein Navigationssystem. Bei dem von uns geforderten Masterplan geht es darum, ein Projektmanagement aufzusetzen, um die Dinge, die so vielfältig sind - das wissen wir alle -, miteinander zu verknüpfen und auf die geeignete Bahn zu setzen. Viertens geht es um Kommunikation. Auch diesen Punkt beginne ich mit einem Zitat, in diesem Fall vom DIHK-Präsidenten Driftmann vom 14. Mai. Er sagte: Die Kommunikation ist hundsmiserabel. Wenn man eine solche radikale Idee - er meint die Energiewende umsetzen will, muss man dafür vor Ort intensiv werben. Ich erlebe viele Kollegen von CDU, CSU und FDP vor Ort und auch auf verschiedenen Podiumsdiskussionen, die genau das Gegenteil tun, indem sie immer noch zum Ausdruck bringen, dass sie die Energiewende eigentlich von Herzen bedauern und dass sie im Grunde gar nicht so gut finden, was hier gemeinsam beschlossen worden ist. Mit einer solchen Haltung kommt man nicht voran. Wenn Sie sich selbst und Ihre Vorschläge diskreditieren, werden Sie die Akzeptanz in der Bevölkerung nicht erreichen. Sie müssen anders agieren. ({7}) Ich sage zum Schluss: Wir brauchen Planungssicherheit für die Unternehmen. Wir brauchen Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger, sie müssen wissen, dass diese Energiewende funktioniert. Das muss man mit einer entsprechenden Haltung verkörpern. Man muss sagen: Es ist politisch, administrativ und auch technisch machbar. Wir wollen die nächsten Schritte gehen. Man muss den Leuten und auch den Unternehmen in Deutschland klar sagen, wohin die nächsten Schritte führen. Daran mangelt es absolut in dieser Bundesregierung. Sie haben noch kein Konzept. Herr Seehofer hat das im Übrigen erkannt. Er hat nämlich gesagt: Wir brauchen einen Plan für die Energiewende. - Herr Seehofer würde unserem Antrag, in dem wir einen Masterplan von Ihnen fordern, hier und heute also zustimmen. Ich hoffe, Sie, liebe Mitglieder der Koalition, werden das auch tun. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die Unionsfraktion. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Duin, Sie haben in gewisser Weise ein Eigentor geschossen, als Sie darauf hingewiesen haben, dass die Energiewende schon vor zehn Jahren eingeleitet worden ist. ({0}) Ich kann mich erinnern, dass Rot-Grün kein Energiekonzept zustande gebracht hat. ({1}) Sie sprachen von einem Energiekonsens. Es gab damals zwar viel beschriebenes Papier. Daraus ist aber nichts entstanden. ({2}) Das Konzept für eine wirkliche Energiewende haben wir letztes Jahr hier im Deutschen Bundestag beschlossen. ({3}) An dieser Diskussion haben auch Sie sich lange beteiligt. Insofern: Wenn Sie im Hinblick auf die Energiewende auf Rot-Grün hinweisen, zeigen Sie aus meiner Sicht in die falsche Richtung. ({4}) In der Überschrift des Antrags der Grünen heißt es: „Die Energiewende muss weitergehen“. ({5}) Ich würde Ihnen empfehlen, diesen Saal und Ihre Büros gelegentlich einmal zu verlassen und sich die Situation in unserem Land anzusehen. Was heißt „weitergehen“? Die Energiewende ist in vollem Gange. ({6}) Wenn Sie das nicht wahrnehmen wollen, dann kann ich Ihnen nicht helfen. ({7}) Ich will Ihnen dennoch einige Fakten nennen, um deutlich zu machen, welche Prozesse gerade stattfinden, damit Sie sehen, was für ein Bündel von Maßnahmen bereits eingeleitet worden ist, um die Energiewende - sie ist ja eines der größten Projekte der neueren deutschen Geschichte - voranzutreiben. ({8}) - Ja, ja. Sie lachen. Sie wissen aber ganz genau, dass es so ist, Herr Hempelmann. Es ist ja nicht so, dass man ein Atomkraftwerk ausschaltet, ein paar Solarzellen ans Netz bringt, und schon ist die Welt heil. ({9}) Die Umstellung eines Energiesystems, das über Jahrhunderte gewachsen ist, ist mehr als das, was Rot-Grün vor zehn Jahren zu Papier gebracht hat. ({10}) Meine Damen und Herren, ein Schlüssel zur Energiewende ist die Energieeffizienz. 40 Prozent des Energiebedarfs entfallen auf Wohngebäude. Die christlich-liberale Koalition will diesen sogenannten schlafenden Riesen natürlich wecken, und zwar durch Anreize und nicht durch Zwang, so wie es die linke Seite dieses Hauses immer wieder propagiert. Zur Hebung der Energieeffizienz verfolgen wir den Dreiklang aus CO2-Gebäudesanierung, Mietrechtsänderungsgesetz und steuerlicher Förderung, die ich im Übrigen für enorm wichtig halte. Wenn man sich das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ansieht, stellt man fest: Es ist eine wirtschaftspolitische und eine klimapolitische Erfolgsgeschichte. Von 2006 bis 2010 wurden seitens der Kreditanstalt für Wiederaufbau über 900 000 Kredite bewilligt. Damit konnten 2,4 Millionen Wohnungen in Deutschland energieeffizient umgebaut werden. ({11}) Durch dieses Programm konnten 340 000 Arbeitsplätze in Deutschland gesichert oder neu geschaffen werden alles Arbeitsplätze, die nicht exportiert werden können. Die Mietrechtsnovelle ist vom Bundeskabinett beschlossen worden. ({12}) Sie wird den Bundestag in den nächsten Tagen erreichen. Dann werden wir sicherlich auch hier darüber diskutieren. Die Mietrechtsnovelle ist notwendig, um das Energieeffizienzprogramm umsetzen zu können. Das dritte Element ist die steuerliche Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen. An dieser Stelle kann man deutlich sehen, wie ernst Sie es mit der Unterstützung der Energiewende wirklich meinen. Denn dieses Gesetz, hier im Deutschen Bundestag beschlossen, liegt beim Bundesrat - es liegt und liegt und liegt -, ({13}) weil rot-grün regierte Bundesländer nicht bereit sind, einen eigenen Beitrag zu leisten, um das Energieeffizienzprogramm zum Erfolg zu führen. Das ist Ihre Politik, meine Damen und Herren. ({14}) So versuchen Sie, die Energiewende mit kleinen Nadelstichen zu behindern. Herr Duin, ich wäre an Ihrer Stelle etwas vorsichtiger. Schauen Sie erst einmal in Ihre Richtung, bevor Sie in die Richtung der Bundesregierung schauen. Der zweite große Baustein ist der Ausbau der erneuerbaren Energien. Keiner kann in Zweifel ziehen, dass dieser in den letzten vier bis fünf Jahren ein großer Erfolg war. Man braucht sich bloß umzugucken. In der Solarindustrie sind jetzt Anlagen mit 21 Gigawatt am Netz. Heute scheint die Sonne. Im Moment braucht zwar niemand den Strom, aber der Strom wird erzeugt. Das war in den letzten drei Jahren ein gigantisches Zubauprogramm. ({15}) Natürlich haben wir auch die Kehrseite zu betrachten, denn der gigantische Zubau im Bereich der Solarindustrie führt auch zu gigantischen Belastungen der Stromkunden. ({16}) Wir werden es sehen. Im Herbst dieses Jahres werden die neuen Zahlen im Zusammenhang mit der EEG-Umlage vorgelegt. Wir werden dann sehen, was die Kehrseite der Medaille ist. Daher haben wir uns entschlossen, das Erneuerbare-Energien-Gesetz zu novellieren. Auch hier kann man sagen: Von Ihrer Seite kam nichts Konstruktives. Im Gegenteil, Sie wollten das ErneuerbareEnergien-Gesetz noch ausweiten. Auch das steht völlig im Widerspruch zu dem, was Sie sonst erzählen. ({17}) Meine Damen und Herren, ich könnte noch viele Dinge erwähnen. Sie alle kennen das Thema Kraftwerksbau. Es ist in aller Munde. Der Kraftwerksbau ist natürlich eine wichtige Angelegenheit. In dieser Woche haben wir hier im Bundestag Änderungen im KraftWärme-Kopplungsgesetz beschlossen. Es ist ein sehr wichtiger Baustein, um diesen Technologien zum Durchbruch zu verhelfen; denn die Kraft-Wärme-Kopplung kann einen wichtigen Beitrag leisten, um die Energiewende zu einem Erfolg zu bringen. ({18}) Das Thema Netzausbau ist ein weiterer Punkt, bei dem ich in die Richtung von Rot-Grün schaue; denn genau dort liegt im Prinzip das Problem. Auf den Ebenen der Länder und der Kommunen sind Sie diejenigen, die den Netzausbau blockieren, und zwar seit Jahren. ({19}) Der Ausbau der Offshorewindenergie kommt zum Beispiel nicht voran, weil ganz einfach die Netze fehlen. ({20}) - Ich würde mich an meine eigene Nase fassen. Wenn wir die Energiewende gemeinsam zu einem Erfolg bringen wollen, dann sollten Sie sich an die Spitze der Bewegung setzen und nicht den Leuten erzählen, dass sie gegen Projekte auf die Straße gehen sollen. Sie sollten mit dafür kämpfen, dass in Deutschland überhaupt noch Projekte umgesetzt werden können. ({21}) Herr Duin hat einen Bereich angesprochen, in dem wir keine abweichende Meinung haben. Er betrifft das Projektmanagement dieser Energiewende. Hier sehen wir noch Optimierungsbedarf, und hier sind wir im Gespräch. ({22}) Sie wissen, dass die Monitoringkommission eingerichtet wurde. Das Monitoring funktioniert also. Als Ingenieur bin ich der Auffassung, dass man ein so großes Projekt wie die Energiewende außerhalb des bürokratischen Apparats managen muss. Die politischen Entscheidungen fallen letztlich hier im Deutschen Bundestag bzw. bei der Bundesregierung. Ich denke, diese Frage muss man noch einmal diskutieren. Man muss die Bundesregierung fragen, welche Pläne sie in diesem Bereich hat. Zusammenfassend ein letzter Satz: Wir stehen mitten im Prozess. ({23}) Die Energiewende läuft auch ohne Ihre Anträge, und sie läuft immer schneller. ({24}) Vielleicht hätten Sie uns heute eine Stunde Zeit ersparen können, dann hätten wir draußen die Sonne genießen können. Vielen Dank dafür, dass Sie so aufmerksam waren. ({25})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Lämmel, beim Thema Energiekonzept kann man nach Ihrer Rede, aber auch nach den sonstigen Verlautbarungen der Koalition, den Eindruck gewinnen, dass es richtig vorangeht. Vorgestern trafen sich die Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung im Kanzleramt zu einem gemeinsamen Aufbruch zur Energiewende. Die anschließende Pressekonferenz vermittelte mir - und ich vermute, nicht nur mir - folgende Botschaft: Wir halten an den Verlautbarungen fest, die wir bereits seit Jahren formulieren. Um uns dieser Verlautbarungen weiterhin gemeinsam versichern zu können, werden wir uns weiter jedes halbe Jahr treffen. Vermeintlich wurde es dann sogar konkreter: ({0}) Die Kanzlerin kündigte einen Netzausbauplan an - diesmal bis Ende 2012. Die Welt ist ja schnelllebig, und wir sind manchmal vergesslich. Deswegen möchte ich an Ihr Energiekonzept erinnern, das Sie 2010 vorgelegt haben. Den peinlichen Punkt über die Wichtigkeit der Atomtechnik lasse ich jetzt einmal weg. Ich zitiere aus diesem Energiekonzept von 2010: Die Bundesregierung wird 2011 … ein Konzept für ein „Zielnetz 2050“ entwickeln, um daraus den Bedarf für die zukünftig erforderliche Infrastruktur abzuleiten. ({1}) - Ja, aber Sie haben es für 2011 angekündigt. ({2}) Vorgestern haben Sie so getan, als ob das ein ganz neuer Aufbruch wäre, und jetzt kündigen Sie es für Ende des Jahres an. ({3}) Nächstes Beispiel. Die Kanzlerin betonte in dieser Woche ausdrücklich, den Ausgleich für die fluktuierende Einspeisung durch erneuerbare Energien über Kapazitätsmärkte regeln und darüber nachdenken zu wollen, wie das geschehen könne. Klasse! Wir freuen uns, wenn Menschen denken. Aber auch hier möchte ich an Ihr Energiekonzept von 2010 erinnern, wo zu lesen ist: Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob und wie in Zukunft die Bereitstellung von Kapazitäten behandelt wird ({4}). Ich frage Sie: Wo war in dieser Woche das Innovative, das Neue? Was ist in den letzten zwei Jahren vorwärtsgegangen? Wo ist konkretes Handeln? Es ist doch bemerkenswert, dass es immer nur dann konkretes Handeln gibt, wenn es beispielsweise um die Kürzung der Solareinspeisevergütung geht oder wenn Offshorewindkraft gefördert werden soll, um den großen Energiekonzernen ein Investitionsfeld in Bezug auf erneuerbare Energien zu eröffnen, was für kleine und mittlere Unternehmen eher nicht gewollt ist. Hier wird deutlich, dass Sie weiterhin auf ein Konzept mit vier großen Konzernen und eher nicht mit kleinen und mittleren kommunalen Unternehmen sowie Unternehmen in Bürgerhand setzen. Das zeigt auch klar auf, dass unter den gegenwärtigen Wettbewerbsbedingungen, die diese Regierung fördert, keine wirkliche Energiewende möglich ist; denn die Linke sagt ganz klar und deutlich: Die Energiewende muss nicht nur einen ökologischen Nutzen haben, sondern zwingend auch sozial gerecht vonstattengehen. ({5}) Mit einer auf Profite ausgerichteten Energiewirtschaft, seien es die großen Energieversorger oder seien es die großen Übertragungsnetzbetreiber, wird soziale Gerechtigkeit im Energiesektor nicht zu machen sein, ({6}) und es wird auch nicht möglich sein, die komplexen, dringend notwendigen planerischen Prozesse zu verwirklichen, mit denen die Netz- und Kraftwerksinfrastruktur umgebaut werden muss. Wie auch? Das Übertragungsnetz in Deutschland ist in vier Gebiete aufgeteilt, in denen die Netzbetreiber ähnlich wie Landgrafen ihre Strukturen haben und darüber wachen. ({7}) Die Bundesrepublik hätte schon mehrfach die Chance gehabt, diese Netze durch eigene Netzgesellschaften aufzukaufen. Die Politik hätte dann jetzt einen direkten Zugriff auf Netzbestandteile. Die Wähler könnten mit ihrer Wahlentscheidung Einfluss darauf nehmen, in welche Richtung und mit welcher Geschwindigkeit sich der Umbau der Energiewirtschaft vollzieht. ({8}) Die Politik müsste dann nicht mit Marktmechanismen Unternehmen anreizen, damit sie die notwendigen Investitionen vornehmen. Nein, sie könnte es selber tun. Der Souverän hätte die direkte Kontrolle darüber, dass die Netzentgelte der Verbraucher direkt ins Netz investiert werden und zurückfließen. Überschüsse könnten entweder in den Staatshaushalt oder zu den Bürgerinnen und Bürgern fließen - und nicht in Investmentfonds beispielsweise in Australien. ({9}) Nein, stattdessen gehören die Netze in Niedersachsen, Hessen und Bayern jetzt einem niederländischen Staatskonzern. Ich habe die Zwischenrufe sehr wohl gehört. Ein niederländischer Staatskonzern! Ein staatliches Unternehmen! Die Niederlande stehen nicht richtig im Verdacht, dass dort kommunistische Planwirtschaft herrscht. Es geht in anderen europäischen Ländern also durchaus. ({10}) Die Linke hält es für kontraproduktiv und unsozial, den Energiesektor, diesen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, allein dem Markt zu überlassen. Damit die Energiewende überhaupt konsequent beginnen kann, müssen sich die Bundesregierung und der Bundestag mehr Zugriffsmöglichkeiten verschaffen. ({11}) Zuletzt möchte ich auf den hier vorliegenden Antrag der Grünen kurz eingehen. Sie legen ein Jahr nach Fukushima eine Zwischenbewertung vor und führen aus, was demnach jetzt möglich wäre. Vieles von dem, was die Grünen vorschlagen, ist sinnvoll, notwendig und auch zwangsläufig. ({12}) Aber bei drei Punkten können wir als Linke nicht mitgehen. Ich möchte sie benennen. Erstens. Sie ignorieren vollständig das Versagen der Strombörse angesichts eines stetig steigenden Anteils erneuerbarer Energien. Sie machen sich noch nicht einmal im Ansatz Gedanken darüber, wie wir zukünftig eine Regulierung erreichen, wie eine Preisbildung funktionieren kann, gerade wenn wir nicht mehr mit schwerfälligen Grundlastkraftwerken, also nicht mehr mit Kohle- und Atomkraftwerken, arbeiten wollen, sondern mit schnell zuschaltbaren Gaskraftwerken. Zweitens. Sie schlagen zwar eine Deutsche Netz AG für die Anbindung der Offshorewindparks vor. So weit, so gut. Aber heißt das, die öffentliche Hand soll da einspringen, wo die privaten Investoren nicht wollen, aber den privaten Investoren bleibt weiterhin der Bereich überlassen, wo sie weiter nach Lust und Laune Gewinne machen können? Das greift zu kurz. ({13}) Drittens. Sie loben - diese Kritik müssen Sie sich gefallen lassen - den Merkel’schen Atomausstieg. Es wird nicht deutlich, dass dieser Automausstieg weder ein sofortiger noch ein schnellstmöglicher war und dass er vor allem nicht unumkehrbar ist. Aus Fukushima ist das etwas wenig gelernt. Wir glauben, dass da sehr viel mehr notwendig und möglich gewesen wäre. Ich danke. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Michael Kauch hat nun für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es gerade wieder gehört: Der Staat ist für die Linke immer die Lösung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die Stromwirtschaft in der DDR besonders effektiv gewesen wäre. ({0}) Ich glaube auch nicht, dass sich die Struktur des Energiemarktes der 90er-Jahre, vor der Liberalisierung, in der Bundesrepublik dazu geeignet hätte, erneuerbare Energien in den Markt zu bringen. Im Gegenteil: Staatliche Monopole schaden dem Wettbewerb, schaden den erneuerbaren Energien und schaden der dezentralen Energieversorgung. ({1}) Deshalb stehen wir Liberalen nicht für die Rückkehr zur Staatswirtschaft. Wir stehen auch nicht für ein Bayernwerk. Wir stehen auch nicht dafür, dass man Unternehmen zwingt, unwirtschaftliche Kraftwerke zwangsweise weiter zu betreiben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kauch, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Duin?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. - Wir setzen sowohl beim Strom als auch bei der Gebäudesanierung auf eine klare Leitlinie. Diese heißt: Anreize statt Zwang. Das muss auch für das Energiesystem gelten. ({0}) Wenn wir über Anreize sprechen, dann müssen wir uns über die richtigen Marktinstrumente Gedanken machen. Da gilt es, auch das Thema Kapazitätsmärkte zu prüfen, um Anreize für Reservekraftwerke zu setzen, die beispielsweise schwankende Windenergieeinspeisung abpuffern können. Aber das Ganze darf nicht so weit gehen, dass am Schluss der Verbraucher wieder derjenige ist, der die Hauptzeche zahlt. ({1}) Wir müssen schauen, dass wir Anreize nur dort setzen, wo wir in regionalen Problemzonen wirklich keine andere Lösung finden. Diese Debatte müssen wir in den nächsten Monaten in der Tat führen. Die Kraftwerkswirtschaft macht sich Gedanken über ihren übernächsten Investitionszyklus: Was passiert in der Zeit nach 2022? Die Energiewirtschaft sagt, sie braucht Planungssicherheit. Das sehe ich auch so. Deshalb finde ich den Beitrag des Vorsitzenden des Vorstandes von Eon spannend, über ein Klimaziel für 2030 nachzudenken, damit auch langfristige Perspektiven gegeben sind. ({2}) Hier gilt es wiederum, die Interessen unterschiedlicher Unternehmen der deutschen Wirtschaft zusammenzubringen: auf der einen Seite der Energiewirtschaft, die gerne langfristige Rahmenbedingungen hat, und auf der anderen Seite der energieintensiven Unternehmen, die in den nächsten Jahren nicht übermäßig belastet werden dürfen. Vor dieser Aufgabe steht die Politik heute. Man kann es sich nicht so einfach machen wie die Grünen in ihrem Antrag: Man muss nur das EU-Klimaziel bis 2020 auf 30 Prozent anheben, und alles wird gut. Gleichzeitig werden in den Klimaschutzgesetzen der Bundesländer die Klimaziele gesenkt. Wir müssen uns auch die Frage stellen, welchen Sinn es macht, dass Bundesländer eigene Energiekonzepte und Klimaschutzgesetze vorlegen, angesichts unserer Wirtschaft, die deutschlandweit, europäisch und zum Teil auch global vernetzt ist, und angesichts eines Energieversorgungssystems, das beispielsweise nicht an der baden-württembergischen Landesgrenze endet, sondern offene Märkte hat. Deswegen ist es, glaube ich, richtig, dass die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung und der Bundeswirtschaftsminister auf dem Energiegipfel mit den Ländern zusammen vereinbart haben, dass man künftig gemeinsam die Strategien entwickelt - gemeinsam im Bund und gemeinsam zwischen Bund und Ländern -; denn nur so werden wir angesichts der unterschiedlichen Kompetenzen der staatlichen Ebenen zu einem guten Management der Energiewende kommen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hans-Josef Fell für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In ihrer Regierungserklärung zum Atomausstieg erklärte Kanzlerin Merkel im Juni 2011 an diesem Rednerpult: Wir können als erstes Industrieland der Welt die Wende zum Zukunftsstrom schaffen. Recht hat sie: Das kann Deutschland schaffen. Nur, ein Jahr später bietet sich ein trostloses Bild der Merkel’schen Energiewende. Die Insolvenzwelle der Solarwirtschaft rast immer weiter. Den Niedergang der Biokraftstoffbranche haben Sie ebenfalls weiter beschleunigt. Damit liefern Sie die Autofahrer schutzlos den Interessen der Mineralölkonzerne aus. Eine Unterstützung des Speicherausbaus haben Sie bis heute nicht hinbekommen. Ausgerechnet der deutsche Wirtschaftsminister blockiert die Umsetzung der EU-Effizienzrichtlinie, und die Gebäudesanierung stagniert auf niedrigem Niveau. Stattdessen wollen Sie jetzt große wärmevernichtende klimaschädliche Kohle- und Erdgaskraftwerke subventionieren, die in kalten Winterzeiten die Stromversorgung sichern sollen, genau dann, wenn es besorgniserregende Erdgasengpässe gibt und Präsident Putin wieder mal mit Abschaltungen drohen könnte. ({0}) Statt den Atomausstieg selbst richtig zu organisieren, haben Sie ihn in vielen Politikbereichen noch gar nicht durchgezogen. Die Bundesregierung finanziert immer noch die Atomwirtschaft über Euratombeiträge und stellt sogar Forschungsgelder und Hermesbürgschaften für den Neubau von Atomreaktoren zur Verfügung. ({1}) Es ist unglaublich, aber diese Energiewendearbeit von Frau Merkel ist schlicht mangelhaft. ({2}) Es scheint im Kabinett Merkel und insgesamt bei Schwarz-Gelb fast einen Wettbewerb zu geben, wer die erneuerbaren Energien besser deckeln, abschaffen und ausbremsen kann. ({3}) Herrn Altmaier gestehe ich zu, dass er im Amt des Umweltministers noch neu ist. Doch seine Äußerungen kürzlich lassen mich aufhorchen. Er hatte behauptet, der Ausbau der Photovoltaik könne mit der Netzintegration nicht Schritt halten. Das ist in der Realität längst widerlegt. In Bayern, wo Herr Seehofer dasselbe behauptet, gibt es mit Abstand den stärksten Zubau der Photovoltaik. Eon Netz hat vor kurzem die Erfolgsmeldung gebracht, dass sie bereits 8 Prozent Solarstrom in die Netze integriert haben. Es geht also. Was Eon Netz in Bayern kann, können auch alle anderen Netzbetreiber in Deutschland. ({4}) Sie müssen den Ausbau der Photovoltaik nicht bremsen. Hören Sie lieber auf die Kritik Ihrer eigenen Bundesländer, und achten Sie im Vermittlungsausschuss darauf, dass wir wirklich eine gute Solarpolitik machen! Dann gibt es noch eine andere Behauptung - der Kollege Lämmel hat sie eben wieder vorgebracht -: Der Ausbau der Photovoltaik sei zu teuer und für die steigenden Strompreise verantwortlich. Tatsache ist: Bei einer durchschnittlichen Strompreiserhöhung von rund 1 Cent pro Kilowattstunde zum Jahresanfang lag der Anteil für den Zubau aller erneuerbaren Energien inklusive der Photovoltaik lediglich bei 0,02 Cent. ({5}) Es muss also andere Gründe für die Strompreiserhöhung geben. Die erneuerbaren Energien sind es nicht. Was die EEG-Umlage wirklich teuer macht, ist nicht der Ausbau der erneuerbaren Energien, sondern es sind Ihre falschen Sonderposten, die Sie eingebaut haben: die weiterhin uferlose Privilegierung bestimmter Industriezweige und die nutzlose Aufblähung der Marktprämie. Reduzieren Sie endlich die Erleichterungen für die Industrie auf das notwendige Maß - das gibt es -, und schaffen Sie die Marktprämie ab! Dann wird die EEG-Umlage mit dem weiteren Ausbau der Erneuerbaren sogar sinken. ({6}) Dann hören wir von Ihnen oft das Argument mit dem Blackout, dass also die Lichter ausgehen, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, und dass wir französischen Atomstrom brauchen. Nun sind acht Atomkraftwerke abgeschaltet, und Deutschland hat mit Solarstrom- und Windstromexporten die Atomstromfranzosen vor einem Blackout im kalten Februar gerettet. Die deutschen Börsenstrompreise sind in den letzten sieben Monaten sogar niedriger gewesen als die im Atomland Frankreich. Ökostrom, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, senkt die Strompreise und erhöht sie nicht. ({7}) Nun warnen viele - ich höre das immer wieder auf Podiumsdiskussionen -, dass die Energiewende sogar zu einer Deindustrialisierung in Deutschland führen könnte. Dabei haben wir in Teilen Europas schon eine Deindustrialisierung durch die Euro-Krise. Vielfach wird übersehen, dass hierfür die europäische Abhängigkeit von Energierohstoffen eine entscheidende Rolle spielt. Schauen Sie sich doch einmal die Studie aus dem Europaparlament im Auftrag von Sven Giegold an. Dort wird akribisch nachgewiesen, dass die Außenhandelsdefizite vieler europäischer Länder exakt von den Importen von Erdöl, Kohle und Erdgas abhängen. Alleine von Oktober 2010 bis Oktober 2011 betrug diese Importabhängigkeit der 27 EU-Länder 408 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum war das europäische Leistungsbilanzdefizit aber 119 Milliarden Euro. Gäbe es nicht diese riesige Abhängigkeit vom Import dieser konventionellen Rohstoffe, gäbe es Leistungsbilanzüberschüsse. Die Leistungsbilanzdefizite in den EU-Ländern steigen mit dem Öl- und Gaspreis weiter. Es wird nun versucht, diese Defizite mit zunehmender Staatsverschuldung auszugleichen. Die Euro-Krise ist also eng verknüpft mit den steigenden Rohstoffpreisen. Daher leistet eine schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien in Verbindung mit Effizienzsteigerung auch einen unverzichtbaren Beitrag zur Bekämpfung der Euro-Krise und stellt eben keine Belastung für die Wirtschaft dar, wie Sie immer wieder behaupten. ({8}) Trotz der Notwendigkeit der Umstellung auf erneuerbare Energien und anderer ökologischer Maßnahmen täuschen Sie noch immer die Öffentlichkeit mit der Behauptung über die billige Stromerzeugung der konventionellen Energiewirtschaft. Beispiel Braunkohle: Gerade erst hat der Chef des Bergbausanierers in der Lausitz verkündet, dass er schon wieder 1 Milliarde Euro Steuergelder für die Rekultivierung der Braunkohlegruben braucht. Dann sind es schon 10 Milliarden Euro. Schaffen Sie doch lieber eine Braunkohleumlage, und erhöhen Sie den Strompreis entsprechend! Berücksichtigen Sie auch die Sanierungskosten, die fehlende Förderabgabe für die Braunkohle, die fehlende Grundwasserabgabe und vieles andere mehr! Dann werden Sie sehen, dass Braunkohlestrom viel teuer ist. ({9}) Schaffen Sie auch eine Atomstromumlage, bei der Sie auch die Sanierungskosten der Asse, die bereits unnötig geflossenen Steuergelder und die fehlende Haftung berücksichtigen. Dann werden Sie sehen, dass das Gerede vom teuren Ökostrom nichts anderes als eine Propagandalüge für die Interessen der Atom- und Kohlekonzerne ist, der Sie auf den Leim gehen. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Fell!

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich bitte darum.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wann endlich ziehen Sie die Lehren aus Ihren Wahlniederlagen? Baden-Württemberg haben Sie wegen Ihrer Proatompolitik und Nordrhein-Westfalen wegen Ihrer Antisolarpolitik schon verloren. ({0}) Die Wählerinnen und Wähler wollen eine echte Energiewende und keine à la Schwarz-Gelb. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat nun für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Weil Pfingsten vor der Tür steht und vielleicht bei dem einen oder anderen der Heilige Geist anklopfen könnte, versuche ich es einmal mit zwei freundlichen Bitten zu Beginn meiner Rede. Die erste Bitte ist: Ich würde mich freuen, wenn Sie auf der linken Seite aufhören würden, uns krampfhaft nachzusagen, wir würden der alten Welt der Kernenergie nachtrauern. Ich verstehe das politische Kalkül, ich verstehe, dass Sie sich Relikte aus alten Kernkraftdebatten erhalten wollen, weil Ihnen offenkundig zu diesem Thema nichts Besseres einfällt, als eben diesen Punkt immer wieder aufzuwärmen. ({0}) Die Grünen fühlen an der Stelle offenbar schon einen Phantomschmerz, weil ihnen das Thema abhanden gekommen ist. ({1}) Meine zweite Bitte richtet sich speziell an den Kollegen Fell: Hören Sie auf, die Energiewende als Trivialität darzustellen, ({2}) als wäre sie so einfach zu erreichen und als ob schon morgen aller Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien kommen könnte. ({3}) Das erinnert mich an Vertreter von Eon, die vor etlichen Jahren die Gezeitenkraftwerke beworben haben, die es noch gar nicht gab. Damit führen Sie die Leute in die Irre. ({4}) Wir müssen doch den Leuten offen und ehrlich sagen, dass das, was wir tun, ein schwieriger Prozess ist, der nicht in einem Jahr beendet sein wird, sondern der einige Legislaturperioden dauern wird. Man wird sich immer wieder neu orientieren müssen. Technische Neuerungen und neue Forschungs- und Entwicklungsergebnisse werden uns hoffentlich neue Wege weisen, was dringend notwendig ist. Es kann sein, dass der eine oder andere auf der linken Seite des Hauses in Zukunft wieder an einer Regierung beteiligt ist. Dann ist es ganz gut, wenn man sich nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt und so getan hat, als ob die Energiewende schon morgen zu schaffen wäre, sondern wenn man ein realistischeres Bild gezeichnet hat. ({5}) Wenn man hier die Frage diskutieren will, wer den Fortschritt behindert, dann muss man an vorderer Stelle den Bundesrat erwähnen. Die steuerliche Sanierungsförderung wurde bereits von der FDP angesprochen. Offenbar hört bei einigen Bundesländern der Klima- und Umweltschutz beim Geldbeutel auf. Wenn es aber um das Geld der Bürgerinnen und Bürger geht - Stichwort Photovoltaik -, verhält sich der Bundesrat genau umgekehrt. ({6}) Auch das ist spannend. Genau da verhält sich der Bundesrat anders und sagt: Wenn die Bürgerinnen und Bürger zahlen müssen, dann können wir großzügiger sein. Auch da sollten Sie sich an unsere Seite stellen; denn das, was wir ins EEG geschrieben haben, ist doch der Ausweis dafür, dass die Stromgewinnung durch Photovoltaik funktioniert. Das ist doch das, was man sagen muss. ({7}) Jetzt, nach zwölf Jahren Förderung, sind wir an einem Punkt, wo wir feststellen müssen: Strom vom Dach ist so teuer wie der Strom des Energieversorgers. Irgendwann einmal ist doch der Punkt erreicht, an dem man den Strom, den man selber produziert, auch selber verbraucht, anstatt diesen Strom teuer zu verkaufen und konventionellen Strom, womöglich Atomstrom, Kollege Fell, billig einzukaufen. ({8}) Darin müssten Sie sich doch eigentlich wiederfinden. Sie müssten doch sagen: Jawohl, das machen Sie richtig, da sind wir auf einem guten Weg. - Sie sollten nicht verbreiten, dass die Produzenten von Photovoltaikanlagen in Deutschland an der EEG-Vergütung scheitern würden. Das ist nicht der Fall. Selbst wenn man sie verdoppeln würde, wenn die Einspeisevergütung also steigen würde, würden für die Investoren billige chinesische Module immer noch Rendite bringen. Alle Hersteller von Modulen müssen sich fragen lassen, warum sie nicht besser sind als die chinesischen Hersteller. Die zu hohe Einspeisevergütung könnte vielleicht dabei eine Rolle gespielt haben, dass die deutschen Hersteller sich zurückgelehnt haben, weil sie geglaubt haben, es gehe immer weiter so. Das muss man in der Deutlichkeit einmal ansprechen. Ich bitte auch in dieser Hinsicht, die Leute nicht für dumm zu verkaufen. Ich will das unterstreichen, was zu Baden-Württemberg gesagt wurde; ich fand das nämlich spannend. Die grün-rote Regierung in Baden-Württemberg hat das CO2-Ziel so korrigiert, dass es niedriger als das der CDU-FDP-Vorgängerregierung ist. ({9}) Daher muss man sich doch fragen: Was wollen sie denn eigentlich? Wofür stehen sie? Die grün-rote Landesregierung will bis 2020 eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes gegenüber 1990 um 25 Prozent herbeiführen, während die schwarz-gelbe Vorgängerregierung 30 Prozent erreichen wollte; die Bundesregierung hat das Ziel von 40 Prozent vorgegeben. Die Politik der grün-roten Landesregierung von Baden-Württemberg ist ein aufschlussreicher Hinweis auf das, was man dort letztendlich denkt. ({10}) Ich habe vor kurzem in Baden-Württemberg eine Veranstaltung abgehalten. Da ging es um den Ausbau erneuerbarer Energien. Eine Menge Menschen waren da. Sie haben alle gesagt: Wir würden gern investieren, wir würden vieles machen; aber wir sehen jetzt schon: Es gibt einen engen Schulterschluss zwischen den Grünen und den üblichen Verdächtigen aus den Naturschutzverbänden; sie werden das alles zunichtemachen. - Die Leute sehen jetzt schon, dass da etliches klemmt. Ich erinnere mich, dass Herr Trittin seinerzeit dazu aufgerufen hat, gegen Castortransporte weder singend noch tanzend noch sitzend noch stehend zu demonstrieren. ({11}) Ich warte darauf, dass die Grünen einmal dazu aufrufen, nicht gegen den Ausbau der Erneuerbaren und nicht geDr. Georg Nüßlein gen den Ausbau der Netze zu demonstrieren, wenn es konkret wird. Das wäre doch einmal ein spannender Aufruf, den Trittin und andere an dieser Stelle machen könnten. ({12}) In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Rolle Europas eingehen. Uns wird vielfach vorgehalten, wir seien bezüglich der EU-Energieeffizienzrichtlinie nicht so kooperativ, wie es sich der eine oder andere vorstellt. Wir akzeptieren verbindliche Zielvereinbarungen für alle; das ist wichtig. Aber Brüssel sollte aufhören, uns bei der Umsetzung bis ins Detail hineinzuregieren. Dass das aufhört, das ist an dieser Stelle ganz entscheidend. Ich wünsche mir, dass die Grünen dabei fest an unserer Seite stehen. Die Geschichte geht ja weiter. Heute verlangt man 1,5 Prozent Energieeinsparung pro Jahr pro Unternehmen. Morgen versucht man womöglich, eine ähnliche Harmonisierung bei den erneuerbaren Energien vorzunehmen. Man braucht eine Übereinstimmung bei den Zielen; das ist absolut richtig. Aber die Vorgehensweise, die Instrumente dürfen wir uns doch nicht von Brüssel diktieren lassen; sonst ist das EEG irgendwann weg, und wir bekommen Zielvereinbarungen und letztendlich Quotenmodelle. Das würde ich für problematisch halten, weil ich weiß, was das heißt: dass sich die großen Konzerne auf eine gemeinsame Vorgehensweise einigen und dass sich Mittelstand und ländliche Räume nicht beteiligen können. Ich möchte zu all dem ganz klar sagen: Wehret den Anfängen! Ich glaube, dass wir insgesamt auf einem Weg sind, der sehr gut ist. Ich bin der Überzeugung, dass wir mit dem Netzausbauplan ebenfalls einen sehr guten Pfad beschreiten. Allerdings müssen wir noch etwas ergänzen, nämlich die Antwort auf die Frage: Wer macht das? In unserem Koalitionsvertrag steht: Wir wollen eine Netzgesellschaft Deutschland gründen. Ich glaube, dass wir über diesen Punkt noch einmal offensiv nachdenken müssen. Es geht dabei nicht um die Frage, wie man die bestehenden Netze in den Netzausbauplan integriert, sondern darum, dass wir festlegen müssen, wer die großen Übertragungsnetze mit welchem Interesse baut. Im Hinblick auf die Bereiche, in denen, volkwirtschaftlich sinnvoll, natürliche Monopole entstehen müssen, soll man sich noch einmal dringend Gedanken darüber machen, ob es sinnvoll ist, eine solche Netzgesellschaft Deutschland zu gründen. Wir müssen, was die fossilen Ersatzkapazitäten angeht, ehrlich sein: Wir brauchen sie - grüne Träumerei hilft nichts, Kollege Fell -, weil nachts keine Sonne scheint und weil auch Wind nicht immer weht. ({13}) Wir werden deshalb noch einmal über Kapazitätsmärkte diskutieren müssen. Ich hoffe, Sie wollen das Ganze auch an anderen Stellen konstruktiv begleiten. Ich habe noch eine Bitte an Sie. Bei dem Thema Endlagersuche waren wir vor kurzem ganz nahe an einem Kompromiss, weil sich die rechte Seite dieses Hauses massiv bewegt hatte, in der festen Überzeugung, dass diese Generation, die die Kernenergie genutzt hat, es schaffen muss, die Endlagerungsproblematik zu lösen. Ich wünsche mir, dass Sie uns offensiv entgegenkommen und uns auch an diesem Punkt der Energiepolitik entsprechend unterstützen. Vielen herzlichen Dank. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rolf Hempelmann das Wort. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Dr. Nüßlein, Sie haben die Bitte geäußert, wir mögen aufhören, Ihnen zu unterstellen, dass Sie nach wie vor der Atomtechnologie anhängen. Ich glaube, darin liegt gar nicht so sehr das Problem. Herr Kurth - er wurde eben zitiert - hat gesagt, womit eigentlich jedes erfolgreiche Projekt beginnen muss: mit der Phase der Begeisterung. Die Phase haben Sie übersprungen. Die erste Phase Ihres Projekts Energiewende war Ernüchterung, vielleicht sogar Erschrecken nach Fukushima. Das Umsteuern war dadurch bedingt, dass Sie erkannt haben, dass anders ein Machterhalt mittel- und langfristig gar nicht möglich sein würde. Ich glaube, das eigentliche Problem ist: Das, was „Energiewende“ bedeutet, erfordert Begeisterung, und die ist auf Ihrer Seite leider nicht gegeben. ({0}) Die Behauptung, die Energiewende habe im letzten Jahr begonnen, ist - Sie wissen das doch selbst - purer Unsinn. Sie versuchen, uns sozusagen in die Schuhe zu kippen: Ihr habt da im Jahr 2000 so einen Atomausstieg beschlossen, habt auch ein bisschen für die erneuerbaren Energien gemacht, aber sonst nichts. - Wahr ist doch: Im Jahr 2000 hat erstens genau dieser Atomausstieg begonnen, hat zweitens ein offensiver Zubau der Erneuerbaren begonnen und hat es drittens eine Ankündigung von Schwarz-Gelb gegeben: Wenn wir wieder die Bundesregierung stellen, dann gibt es eine Laufzeitverlängerung. - Welche Motivation sollten denn die integrierten Konzerne, die Kraftwerke und auch Netze besitzen, haben, um in Netze zu investieren, wenn sie damit letztlich ihre Kraftwerke entwerten? Welche Motivation sollten sie haben, in Speicher, also in Flexibilität, zu investieren, wenn sie doch ihre Kraftwerke dauernd am Laufen halten wollen? Diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass wir nicht schon im Jahr 2000 eine komplette, das System umbauende Energiewende bekommen haben, waren Sie mit Ihrer Ankündigung. ({1}) Das hat mir in dieser Woche bei einer Veranstaltung hier in Berlin mit Vertretern der Stadtwerken ein renommiertes ehemaliges Mitglied Ihrer Fraktion ausdrücklich bestätigt. Er hat gesagt: Es war ein fataler Fehler, dass Schwarz-Gelb im Jahr 2000 nicht erklärt hat: Wir sind mit dem, was ihr da macht, nicht wirklich glücklich, aber wir stehen dazu; wir gehen den Weg mit, damit wir für diesen Schlüsselsektor klare, verlässliche, auf Dauer angelegte Rahmenbedingungen haben, über die Legislaturperioden hinaus. - Das haben Sie nicht gemacht, und das ist nach wie vor Ihre Verantwortung. ({2}) Was heißt denn „Energiewende“? Was heißt es, wenn wir aus den konventionellen Energien herausgehen, nicht nur aus Atom, sondern sukzessive natürlich auch aus Kohle, und Erneuerbare - das sind in Deutschland im Wesentlichen Wind und Sonne - ausbauen? Das heißt letztlich, dass Erzeugung volatiler wird und dass die Einspeisungen von Elektrizität weniger verlässlich werden. Die Folge ist: Wir brauchen den Netzausbau. Die Folge ist: Wir brauchen den Speicherausbau. Die Folge ist: Wir brauchen mehr Flexibilität auf der Nachfrageseite, also beispielsweise auch Lösungen zum Thema „zu- und abschaltbare Last aufseiten der Industrie“ und vieles andere mehr. Die Dinge gehören in einen Zusammenhang. Was wir bemängeln, ist, dass Sie immer nur an Einzelbaustellen arbeiten, aber den Menschen nie diesen Zusammenhang erklären, dass Sie kein Konzept entwickelt haben, in dem deutlich wird, welchen Mix von Maßnahmen wir brauchen für eine vernünftige, auch kostenorientierte und an den Zielen der Versorgungssicherheit und Sauberkeit ausgerichtete Energiepolitik. Das ist Ihr Versäumnis. Das bemängeln wir. All das fordern wir ein. ({3}) Es ist doch nicht nur die Meinung der SPD-Bundestagsfraktion oder der Opposition hier im Hause, dass es bei der Energiewende an jeder Ecke und an jedem Ende hakt. Das kommt doch aus Ihren eigenen Reihen; Herr Seehofer ist zitiert worden, auch Herr Oettinger. Sie haben die schärfsten Kritiker in Ihren eigenen Reihen. Sie brauchen uns nicht zu unterstellen, wir würden Sie nicht unterstützen; Sie haben doch schon längst die Unterstützung Ihrer eigenen Leute verloren. Niemand in Ihren eigenen Reihen ist wirklich voll zufrieden; viele sind noch unzufriedener, als wir es sind. Wir haben heute die Forderung aufgestellt: Machen Sie so etwas wie einen Masterplan, und sorgen Sie für ein vernünftiges Projektmanagement! Dazu habe ich heute von Ihnen gehört: Darüber müssen wir mal offensiv nachdenken. ({4}) Das ist natürlich eine interessante Äußerung. Ich könnte sagen: Das ist ermutigend; wir sind damit schon ziemlich zufrieden. - Aber ich mache darauf aufmerksam: Es ist seit unseren Beschlüssen zur Energiewende ein Jahr vergangen. Jetzt wollen Sie offensiv über Projektmanagement nachdenken. Diesen Vorschlag haben wir schon vor einem Jahr gemacht. Nicht nur wir im Parlament, sondern auch viele Beteiligte in der Öffentlichkeit, aus dem Energiesektor und andere Betroffene sowie die von Ihnen installierte Ethik-Kommission haben Ihnen das gesagt. Trotzdem ist seit einem Jahr nichts passiert. Sie wollen offensiv nachdenken. Gratulation! ({5}) Es ist schon gesagt worden, dass zwischen dem Wirtschaftsminister und dem Umweltminister Blockade herrscht, mehr als das jemals in der Vergangenheit vorgekommen ist. Man kann nur hoffen, dass sich mit dem jetzt wieder einmal erfolgten Personalwechsel daran etwas ändert. Wir gewöhnen uns immer wieder an neue Gesichter auf den Kabinettsbänken. Jetzt ist es also Herr Altmaier. Ich habe ihn noch nicht so sehr wahrgenommen ({6}) im Zusammenhang mit der Umwelt- und Energiepolitik; aber er soll seine Chance bekommen. Ich wünsche ihm im Interesse der Sache viel Erfolg. Es kommt darauf an, dass diese beiden Minister endlich zusammenarbeiten. Wenn das immer noch nicht funktioniert, dann trägt das Kanzleramt hier die Verantwortung. In der Vergangenheit war es durchaus so, dass ein Kanzleramtsminister Steinmeier mit den Ministern gesprochen und dafür gesorgt hat, dass sie schneller zu Entscheidungen gekommen sind. Hier versagt Frau Merkel. Das ist nicht zu ersetzen durch hektisch einberufene Gipfel, im Zweifelsfall ohne die Minister. Das ist das Gegenteil von Koordination; das ist Show. Davon hatten wir genug. ({7}) Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie können uns nicht absprechen, dass wir bereit sind, mit Ihnen konstruktiv zusammenzuarbeiten; das beweisen wir jeden Tag mit unseren Vorschlägen. Wir haben Sie gestern dafür gelobt, dass Sie, wenn auch mit zweieinhalb Jahren Verzögerung, unsere Vorschläge zum Thema Kraft-WärmeKopplung weitgehend übernommen haben - leider nicht weitgehend genug, sonst hätten wir Ihnen gestern sogar zugestimmt. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion. ({0})

Klaus Breil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004020, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD fordert einen Masterplan zur Energiewende. Sie bekommt heute den Bericht zur Umsetzung des Zehn-Punkte-Sofortprogramms zum Energiekonzept, also einen Zwischenbericht unseres Konzepts. ({0}) Dazu wurde gestern - Sie haben es erwähnt, Herr Hempelmann - unser KWK-Gesetz auf einem silbernen Tablett serviert. Vielen Dank für Ihre lobenden Worte dazu. Das erste Energiepaket, das im letzten Sommer beschlossen wurde, beginnt Wirkung zu entfalten: fachlicher Beirat für die Netzplattform, 5 Milliarden Euro für Offshorewindparks, erweiterte Befreiung der Speicherkraftwerke von den Netzentgelten usw. Die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen für eine zukünftige Netzinfrastruktur ist in vollem Gange. Die planbare Refinanzierung der künftigen Netzinfrastruktur, der Übergang zu intelligenten Netzen, die gerechte Verteilung der anstehenden Lasten und vieles mehr sind gerade in Arbeit. Leider helfen unsere guten Ideen und Gesetze nur mittelbar, wenn sie im Bundesrat oder vor Ort blockiert werden. Dies gilt für die energetische Gebäudesanierung oder die Förderung der Photovoltaik. Gleiches gilt für den heftigen Widerstand beim Bau von Übertragungsnetzen. Ich nenne beispielsweise das Ausbremsen der sogenannten Thüringer Strombrücke, die für die Versorgungssicherheit von Bayern, Baden-Württemberg und ganz Deutschland von zentraler Bedeutung ist, ({1}) dies vor allem vor dem Hintergrund, dass nach der für Ende 2015 vorgesehenen Abschaltung des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld 1 300 Megawatt fehlen. Allein das Verzögern einer solchen Maßnahme ist schlichtweg verantwortungslos. Sie werfen uns in Ihrem Antrag Konzeptlosigkeit vor, doch Sie beschreiben damit Ihr eigenes Doppelspiel ({2}) - hören Sie doch zu; hier können Sie etwas lernen -: Im Bundestag fordern, im Bundesrat blockieren und, wenn das scheitert, vor Ort bremsen. ({3}) Das ist Teil Ihrer Strategie, die ich als betrüblich empfinde. Wenigstens kann ich Ihre Motivation zu dieser Strategie noch irgendwie nachvollziehen: Es ist der Neid, weil nicht Sie es sind, die die Wende bewirken; ({4}) genug Zeit dafür hatten Sie ja. Den unglaublichen Schaden, den Sie damit anrichten, kann ich Ihnen allerdings nicht durchgehen lassen. ({5}) Schon deshalb setzen wir nicht auf starre Strukturen wie den von Ihnen geforderten Masterplan. Mit unserem Energiekonzept bauen wir bis in das Jahr 2050 auf einen flexiblen Entwicklungspfad. Basis dafür sind die wissenschaftlichen Gutachten, die dem Energiekonzept der Bundesregierung zugrunde liegen. So gestalten wir die Energiewende dynamisch und gehen auf die sich ständig verändernden Umstände ein, wissenschaftlich, technisch, gesellschaftlich. ({6}) Vor allem aber haben wir das wirtschaftliche Umfeld im Blick. So werden wir natürlich auch Kapazitätsmärkte prüfen müssen. ({7}) Selbstverständlich spielen unsere europäischen Partner dabei eine ebenso bedeutsame Rolle. Das Zehn-Punkte-Sofortprogramm zum Energiekonzept ist Teil dieser sinnvollen Strategie. Ihm folgt Ende des Jahres der erste Bericht zur Umsetzung der Energiewende, der anschließend jährlich erscheint. Zudem erscheint ab 2014 alle drei Jahre ein umfassender Monitoringbericht. Er bringt eine solide Datenbasis und auf Grundlage mehrjähriger Erfahrungen einen vernünftigen Überblick über vorhandene Trends. ({8}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, hervorragendes Beispiel für das Funktionieren unseres Konzepts ist die anstehende Veröffentlichung des Entwurfs des Netzentwicklungsplans am kommenden Mittwoch. ({9}) Dem folgt dann der Entwurf des Bundesbedarfsplans. Ein weiteres Beispiel für zielführendes und schnelles Handeln ist die geplante Absicherung bei der Offshorenetzanbindung. ({10}) Hier meine ich speziell die Beschränkung des Haftungsrisikos. Die Haftung soll auf Fälle von vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Handeln beschränkt werden. Zudem soll eine Haftungshöchstgrenze eingeführt werden. Das macht die unternehmerischen Risiken bei den notwendigen Investitionen überhaupt erst vorhersehbar. Außerdem senkt diese Haftungsbeschränkung die Kosten für den Verbraucher; denn andernfalls müsste er für eine zweite Anbindung aufkommen, die unabdingbar wäre. Dieses Modell wäre erheblich teurer. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nächster Redner ist Jens Koeppen für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier vor einem Jahr den Umbau der Energieversorgung in Deutschland in einem gesamtgesellschaftlichen Konsens beschlossen. ({0}) - Ist es so, oder ist es nicht so, Rolf Hempelmann? ({1}) Es ist doch so. - Wir treiben den Umbau der Energieversorgung unbeirrt voran, zwar nicht immer zu Ihren Konditionen, aber im Rahmen des Zieldreiecks aus Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und vor allen Dingen Bezahlbarkeit. Wir müssen die Energiepreise in Deutschland im Auge behalten. Unzumutbare Energiepreiserhöhungen lassen die Akzeptanz des Umbaus in den privaten Haushalten und der deutschen Wirtschaft sinken. ({2}) Die hier beschlossenen Maßnahmen zur Modernisierung der Energieversorgung in Deutschland lassen sich leider nicht kurzfristig umsetzen. Es handelt sich um schrittweise, langfristig angelegte Prozesse. Der teilweise von Ihnen an den Tag gelegte Aktionismus, der neue, zum Teil unrealistische Ziele und Forderungen, nationale Alleingänge und egoistische Länderinteressen umfasst, bremst das Projekt. Um die ambitionierten Ziele, die wir uns gesetzt haben, zu erreichen, brauchen wir Maßnahmen, die umgesetzt werden können. Ich werde Ihnen einige der Maßnahmen aufzeigen, die wir in einem Jahr umgesetzt haben; dazu würden Sie wahrscheinlich zwei Legislaturperioden brauchen. ({3}) Das Zehn-Punkte-Sofortprogramm zum Energiekonzept - Klaus Breil hat es eben angeführt - ist zum größten Teil umgesetzt; der Bericht liegt vor. Von den 180 Einzelmaßnahmen des Energiekonzepts ist etwa ein Viertel umgesetzt. Das Monitoring zum Energiekonzept ist eingeleitet; der erste Bericht kommt Ende des Jahres. Eine Steuerungsgruppe auf der Ebene der Staatssekretäre unter Führung von BMU und Wirtschaftsministerium ist eingerichtet. Die Ressorts berichten, und die Vorgehensweisen werden gemeinsam abgestimmt. Die Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz ist verabschiedet. Die Novelle zum EEG ist im März verabschiedet worden, liegt jetzt allerdings im Bundesrat auf Eis. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist ebenso wie das CCS-Gesetz verabschiedet; beide liegen im Bundesrat. Das Netzausbaubeschleunigungsgesetz ist beschlossen. Man muss hier allerdings beachten, dass die Planungsbehörden bei den Ländern angesiedelt sind und dass es dort nicht vorwärtsgeht; das ist also keine Bundessache. An dieser Stelle könnte man durchaus die Überlegung anstellen, ob der Bund hier härter gegen die Länder vorgehen sollte. Das Energiewirtschaftsgesetz ist beschlossen, ebenso das Sondervermögen „Energie- und Klimafonds“. Das Planungsrecht ist verändert worden. Vergabeordnung und Biokraftstoffquote sind auf den Weg gebracht. Vor allen Dingen gibt es einen Dialog mit den Akteuren der Energiewende, also mit Fachleuten, Verbänden, dem Ministerium und Ingenieuren. Es gibt ein Forum „Zukunftsfähige Netze“, ein Forum „Erneuerbare Energien“ und ein Kraftwerksforum. Dort werden Handlungsempfehlungen erarbeitet. Diese Handlungsempfehlungen sind dann Grundlage unseres Masterplans. ({4}) Genau das ist die konzeptionelle Umsetzung des Energiekonzepts und der Energiewende. Sie können nicht jeden Tag mit neuen Koordinaten und immer neuen Zielrichtungen kommen, immer mit der Maschine auf volle Kraft voraus und immer auf einem neuen Kurs. Sie müssen das Schiff endlich einmal in ruhiges Fahrwasser bringen, und zwar mit klarem Kurs. Mir ist natürlich klar, dass wir Ihnen ein Thema weggenommen haben, das Sie gerne besetzen möchten. ({5}) Sie kommen nicht mit an Bord, Sie stehen an Land. Es ist ja klar: Die größten Kapitäne stehen immer an Land und machen die besten Vorschläge. Ich lade Sie ein: Kommen Sie an Bord, und gestalten Sie mit. ({6}) Als Brandenburger möchte ich Ihnen einige Punkte aufzeigen, wie auch Länder und Landesregierungen auf der Bremse stehen können. Die Landesregierung Brandenburg hat beinahe alles, was hier beschlossen wurde, abgelehnt, fordert aber gleichzeitig - wie Sie - einen Masterplan. Vorgestern hat Ministerpräsident Matthias Platzeck gefordert, es müsse einen Masterplan geben gerade der Platzeck, der im Land Brandenburg ein Großprojekt nach dem anderen versemmelt hat, jetzt erst wieder den BER. ({7}) Genau der Platzeck sagt auch Ja zum Atomausstieg. Wenn es aber darum geht, dass von Vattenfall nicht mehr Millionen in die Kassen Brandenburgs gespült werden, weil Vattenfall aus der Atomenergie ausgestiegen ist, dann ist das auch nicht genehm. ({8}) Gerade dieser Platzeck hat auch ein Junktim zwischen Kohleverstromung und CCS errichtet. Wenn es aber darum geht, dass CCS benötigt wird, dann verteufelt er das Ganze vor Ort. ({9}) Das können wir nicht dulden. Genau diese Landesregierung fordert Energieeinsparungen. Wenn es aber um das CO2-Gebäudesanierungsprogramm geht, dann wird es aus steuerlichen Gründen abgelehnt. ({10}) Genau diese Landesregierung ist es, die faire Energiepreise fordert, dann aber die Anpassung der Solarstromvergütung ablehnt. Das ist partikularer Egoismus, der endgültig überwunden werden muss. ({11}) - Ich weiß, dass das wehtut. ({12}) Wenn jeder nur damit beschäftigt ist, lieber Herr Hempelmann, die Fackel ins andere Feld zu werfen, dann werden wir mit der Modernisierung der Energieversorgung nicht vorankommen - also weg mit Ihren regionalen Befindlichkeiten. Das Ganze wird uns einiges kosten - das werden wir den Menschen sagen müssen -, dem Bund, den Ländern, den Kommunen, den privaten Haushalten und natürlich der deutschen Wirtschaft. In diesem Zusammenhang sind Kostentransparenz und Ehrlichkeit angesagt. Sie können nicht einfach sagen, die Energiewende sei zur Flatrate zu haben. Das wird Ihnen niemand glauben. Wir müssen - davon bin ich fest überzeugt - im Rahmen der Energiepolitik europäisch denken und sie europäisch vernetzen. Wir müssen die Förderkriterien anpassen. Zugleich müssen wir die Förderung deckeln; das heißt, wir brauchen Obergrenzen für subventionierten Strom. Daran werden wir uns in Zukunft gewöhnen müssen. Wir brauchen kluge statt blinder Einspeisung. Das bedeutet, dass wir einen Systemwechsel im EEG brauchen. Es geht nicht darum, die cleversten Kaufleute zu honorieren, sondern darum, auf eine smarte Energieversorgung hinzuwirken und Innovationen zu belohnen. Wenn wir zu kühn an die Sache herangehen, werden wir uns vor Übereifer verschlucken. Die Energieversorgung ist - dabei bleibe ich - eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und das auf Jahrzehnte hinweg, egal wer dereinst in diesem Hause sitzen wird. Bei diesem Thema können wir nur gemeinsam gewinnen oder gemeinsam verlieren. Ich lade Sie ein: Kommen Sie mit auf die Gewinnerseite. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/9729 und 17/9262 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ein Jahr Fukushima - Die Energiewende muss weitergehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9779, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8898 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 35 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({0}), Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 17/9724 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({2})SportausschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit fordert es, die Konferenz der Informationsbeauftragten in Deutschland fordert es, und manche Länder haben es bereits seit dem 18. Jahrhundert: ein Grundrecht auf Informationsfreiheit. Bei uns in Deutschland biss man bei dem Thema politisch lange Zeit auf Granit; doch nach zähem Ringen gelang es im Jahr 2005, wenigstens ein erstes Informationsfreiheitsgesetz zu verabschieden. Das war ein guter erster Schritt. ({0}) Damit zog der Bund insbesondere gegenüber den neuen Bundesländern spät nach, die unter dem frischen Eindruck der gerade überwundenen DDR nicht nur Gesetze zur Informationsfreiheit, sondern zugleich moderne Grundrechtsformulierungen in ihre Landesverfassungen aufnahmen. Bis heute fehlt ein solches Grundrecht im Grundgesetz. ({1}) Handelt es sich hierbei um eine Petitesse, um ein rein symbolisches Anliegen? Mitnichten! Es handelt sich um ein für die Praxis hochrelevantes Problem. Nach einer Studie von Professor Kloepfer scheitert die Durchsetzung der Informationsfreiheit in der konkreten Abwägung regelmäßig und vor allem an den allgegenwärtig angeführten Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen; denn diese sind gemäß Art. 14 GG abgesichert und setzen sich so viel zu oft gegen den Informationsanspruch der Bürgerinnen und Bürger durch. Die Studie zeigt glasklar: Hier sind wir - auch als Verfassungsgesetzgeber - in der Pflicht. ({2}) Diese Verpflichtung bezieht sich natürlich auch auf den Datenschutz, den wir in gesonderten Vorschlägen als eigenes Grundrecht eingefordert haben und weiter einfordern werden; denn die Digitalisierung der Grundrechte - so hat es einmal der schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte ausgedrückt - ist eine eigene Aufgabe in Zeiten der digitalen Revolution. Deshalb brauchen wir eine Verfassung der Bürgerinnen und Bürger: einfach, verständlich, hinreichend konkret und modern. Grundsätzlich richtet sich der Auskunftsanspruch zunächst und zuvorderst gegen die Verwaltung. Der innovative Kern unseres Antrags aber ist der Auskunftsanspruch gegenüber Privaten. Jetzt kommen Sie nicht mit der ausschließlichen Abwehrdimension gegenüber dem Staat. Seit Lüth sind die Urteile nicht nur zur mittelbaren Drittwirkung, sondern auch zu den Schutzpflichten eine tragende Säule unseres Grundrechtsverständnisses. ({3}) - Herr Kollege Wiefelspütz! ({4}) Wir wollen die einfachgesetzlichen Ansprüche, wie wir sie bereits aus dem UIG und dem VIG kennen, verfassungsrechtlich untermauern; ({5}) denn Transparenz und Informationsfreiheit sind Grundvoraussetzungen einer modernen, vitalen Demokratie, die auch die neuen technischen Möglichkeiten und Chancen für sich nutzt. Bürgerinnen und Bürger wollen sich informieren; sie wollen partizipieren. Darauf sollten wir dringend eingehen, meine Damen und Herren. Informationsfreiheit und Transparenz sind also unabdingbar. Sie sind aber eben auch nicht alles. Sie ersetzen nicht politische Standpunkte und Konzepte, auch wenn manche das glauben. Es geht auch nicht darum, dass alles einfach gut wird, wenn wir nur möglichst viel ins Netz stellen. Es ist also klar und Teil unserer Überzeugung, dass der Gesetzgeber das Informationszugangsgrundrecht beschränken muss, solange und soweit gewichtige private und öffentliche Interessen entgegenstehen. Insgesamt fügt sich unser Verständnis von Transparenz in dieser Frage an unser grünes Grundverständnis von Basisdemokratie, Demokratiepolitik und Bürgerrechten nahtlos an. ({6}) Die Informationsfreiheit muss insgesamt weiterentwickelt werden. Das zeigt auch der aktuelle Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Einerseits nehmen die Menschen zwar ihre neuen Rechte zunehmend in Anspruch, andererseits aber ist der eigentlich gewollte Paradigmenwechsel offensichtlich noch nicht vollzogen; denn die Ausnahmevorschriften verhindern regelmäßig eine tatsächliche Umsetzung des gewollten Freiheitsanspruchs. Bei der Weiterentwicklung der Informationsfreiheit müssen wir den Gedanken von Open Data mit dem Ziel einer proaktiven Veröffentlichungspflicht aufnehmen. Hierzu werden wir nach der Sommerpause eine eigene Initiative einbringen. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Mittlerweile sollten wir alle das Vertrauen in die angemessene und sachgerechte Nutzung dieses Instruments durch die Bürgerinnen und Bürger haben. Dieses Vertrauen können wir uns nicht nur leisten, wir sollten es uns leisten. Denn ich bin davon überzeugt, dass politische Entscheidungen besser werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger informiert sind und daran mitwirken können. Ganz herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Gesetzentwurf ist die vollkommen überflüssige Wiederholung der Vorlage, die Sie schon in der letzten Legislaturperiode eingebracht haben Stephan Mayer ({0}) und die schon damals mit einer klaren Mehrheit in diesem Hohen Hause abgelehnt wurde. ({1}) Man kann dazu also nur sagen: alter Wein in neuen Schläuchen. Vielleicht ist es aber nicht ganz so. Vielleicht ist es so, meine werten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass Ihnen die Piraten so sehr im Nacken sitzen, dass Sie Angst haben, nervös sind und deshalb jetzt versuchen, mit diesem Gesetzentwurf vermeintlich verlorenen Boden gegenüber den Piraten gutzumachen. ({2}) Wenn man Ihren Gesetzentwurf liest, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass es einen inflationären Gebrauch von Begriffen wie Transparenz, Mitbestimmung und Teilhabe gibt. Selbstverständlich fördert auch die christlich-liberale Koalition Transparenz in der Verwaltung sowie eine größere Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an und in politischen Entscheidungsprozessen. Als jüngste Beispiele hierfür seien die geplanten Änderungen für eine frühere Bürgerbeteiligung bei Großvorhaben oder aber der von Bundesverkehrsminister Dr. Ramsauer am 1. Mai dieses Jahres eröffnete Konsultationsprozess zur Neuregelung des Punktesystems und des Verkehrszentralregisters in Flensburg genannt. Wohlgemerkt: Die von uns in diesem Bereich durchgeführten Maßnahmen sind bereits alle nach dem geltenden Recht möglich und auch zulässig. Einer Änderung des Grundgesetzes bedarf es hierfür nicht. Darüber hinaus wirft der von Ihnen, meine werten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, vorgelegte Gesetzentwurf eher neue Fragen auf, als dass er vermeintlich bestehende Schwierigkeiten rund um den Zugang zu öffentlichen Informationen beseitigt. So werden nach dem Wortlaut der Ergänzung zusätzlich zu den Interessen der Allgemeinheit der Verbraucherschutz und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als besonders vorrangige Güter von Verfassungsrang hervorgehoben. Diese Hervorhebung ist allerdings aufgrund der bereits existierenden Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz und Art. 20 a Grundgesetz verfassungsrechtlich nicht geboten. Sie wirft in dieser Form eher neue verfassungsrechtliche Fragen insbesondere in Bezug auf das Verhältnis der einzelnen Normen zueinander auf, als dass verfassungsrechtliche Fragen gelöst werden. Aber auch die von Ihnen vorgelegte Begründung für die Erforderlichkeit einer Ergänzung des Grundgesetzes vermag nicht zu überzeugen. Wir haben gestern den Evaluationsbericht des Instituts für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation in Speyer zum Informationsfreiheitsgesetz bekommen. Er umfasst insgesamt über 560 Seiten. ({3}) - Ich muss gestehen: Ich habe ihn noch nicht ganz gelesen, ({4}) aber schon einmal durchgeblättert. Mir fiel auf, dass das, was auf Seite 345 aufgeführt wird, ({5}) den Schluss zulässt, dass Ihre Einschätzung nicht zutrifft. Das Institut kommt nämlich zu dem Ergebnis, dass die Gerichte sehr zurückhaltend und restriktiv vorgehen, wenn es um die Definition der von Ihnen angeführten Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse geht. Das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben, ist also der Fall. Die Gerichte sind sehr zurückhaltend, wenn behauptet wird, dass dem Auskunftsanspruch Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse entgegenstehen. Insoweit ist die von Ihnen beschriebene Konstellation, dass der einfachgesetzliche Anspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz aufgrund der Normenhierarchie häufig hinter möglichen Rechten mit Verfassungsrang zurücktritt, in der Praxis nicht relevant. ({6}) Hinzu kommt, dass viele Behörden ihre Informationspolitik bereits verändert haben und von sich aus eine Vielzahl von Daten und Informationen in entsprechenden Internetportalen zur Verfügung stellen. Dass diesbezüglich noch Verbesserungspotenzial besteht, ist unbestritten. ({7}) Entsprechende Initiativen des Bundesinnenministeriums sowie der Innenministerien der Länder zu Open Data wurden schon gestartet. Fakt ist auch, dass die Erhebungen im Zusammenhang mit dem Evaluationsbericht ergeben haben, dass in den letzten Jahren keine besondere Zunahme der Anfragen auf Zugang zu Informationen nach dem Informationsfreiheitsgesetz verzeichnet werden konnte. Zieht man einzelne Massenabfragen, querulatorische Abfragen ab, erhält man nahezu stagnierende Zahlen. ({8}) Auch andere Untersuchungen, zum Beispiel die Studie „Bürger online“ vom September 2011, kommen zu dem Ergebnis, dass sich durch die neuen Möglichkeiten des Internets und durch die Digitalisierung die partizipa21756 Stephan Mayer ({9}) tiven Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger - insgesamt betrachtet - keinesfalls verstärkt haben. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse der Evaluation, dass sich hinter den meisten Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz, über die vor Gericht entschieden werden musste, gerade nicht partizipationswillige Bürgerinnen und Bürger verbergen, sondern ungefähr zur Hälfte Lobbyisten, Rechtsanwälte, Anleger, Insolvenzverwalter und Pressevertreter, also durch die Bank Personen bzw. Berufsgruppen, die schon unter den vorhandenen rechtlichen Gegebenheiten und aufgrund spezialrechtlicher Vorschriften über umfangreiche Auskunftsrechte verfügen, zum Beispiel nach dem Aktiengesetz oder den Pressegesetzen der Länder. Daher sollte man auch über Fragen des Missbrauchs und nicht nur über eine Erweiterung des Rechts auf Informationszugang sprechen. Ich finde es zum Beispiel sehr interessant, dass in der Abteilung Sport des Bundesinnenministeriums derzeit zehn Mitarbeiter damit beschäftigt sind, 66 Anfragen von nur zwei Journalisten zu bearbeiten. Diese Anfragen führen dazu, dass Tausende von Seiten gewälzt werden müssen. ({10}) Man muss sich die Frage stellen, ob hier wirklich das Informationsinteresse im Vordergrund steht oder ob es darum geht, Recherchearbeiten, die ansonsten von Journalisten zu leisten sind, auf die Verwaltung zu verlagern. Um die Effektivität der Verwaltung zu sichern, müssen wir uns, glaube ich, intensiv damit beschäftigen, ob es hier nicht zu einer übermäßigen und überzogenen Bindung von wichtigen personellen Kapazitäten kommt, insbesondere in den Bundesministerien. Die von den Grünen vorgeschlagenen Änderungen des Grundgesetzes sind weder in der Sache erforderlich noch, wie von mir ausgeführt, rechtlich ausgereift. Sie würden vor allem neue und überflüssige Rechtsfragen aufwerfen. Ich glaube, wir sind gut beraten, den sehr umfangreichen Evaluationsbericht des Instituts aus Speyer zu lesen und auszuwerten. Wir sollten nicht vorschnell Hand an unser wichtigstes Gesetz legen, an unser Grundgesetz. Vor diesem Hintergrund kann man Ihrem Gesetzentwurf nur eine klare Absage erteilen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Dieter Wiefelspütz für die SPDFraktion. ({0})

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0}) Der Kollege von Notz ist ein netter Mensch. Er ist ein guter Mensch. Er meint es gut. Er ist ein netter Gutmensch. ({1}) Aber reicht das aus, wenn es darum geht, unser wunderbares Grundgesetz zu ändern? Ich glaube, dass das eher nicht ausreicht. Das sage ich einmal ganz zurückhaltend, Herr von Notz. Ich habe mir den von Ihnen vorgeschlagenen Gesetzestext angeschaut. Ich will jetzt gar nicht so sehr ins Detail gehen. In das Grundgesetz das Wort „insbesondere“ hineinzuschreiben, da bekomme ich Frostbeulen. ({2}) Das ist nicht nur sprachlich falsch. Was wollen Sie damit eigentlich zum Ausdruck bringen? Was sonst ist damit gemeint? Herr von Notz, das geht so gar nicht. Ich glaube, dass das, was Sie vorschlagen, gut gemeint ist, aber es ist leider nicht gut gemacht. Damit will ich meinen Redebeitrag nicht unbedingt schon beenden; denn das wäre, glaube ich, ein bisschen unfair. Es ist in der Tat so: Wir haben in Deutschland in unseren Regierungen und in unseren Behörden nach wie vor ein exklusives Informationsverständnis. Wir brauchen aber ein inklusives Informationsverständnis und Informationsverhalten, zumal wir im digitalen Informationszeitalter angekommen sind und ganz andere Möglichkeiten als früher haben. ({3}) Ich will jetzt nicht über vergangene Kriege reden, aber doch den kurzen Hinweis geben - das Wort ist schon mehrfach gefallen -, dass es auf der Ebene des Bundestages ein ganz mühevoller Prozess war, das Informationsfreiheitsgesetz zu verabschieden. Das war in rot-grüner Zeit ein ziemlich genau siebenjähriger Kampf gegen die rot-grüne Bundesregierung. ({4}) Wir waren umzingelt von Bedenkenträgern, die sagten: Das haben wir noch nie so gemacht, ({5}) wo kommen wir da hin. Es gab Bedenkenträger unabhängig vom Parteibuch, selbstverständlich auch bei Sozialdemokraten und bei Grünen. In den Ämtern und in den Regierungen, überall sind wir auf Mauern gestoßen. Wir haben zum Schluss nach langem Kampf mit etwas Glück und mithilfe der FDP im Bundesrat ({6}) die Mehrheit gefunden; sonst wäre es gescheitert. Jetzt haben wir dieses Gesetz seit fünf Jahren, und, Herr Geis, die Bundesrepublik Deutschland ist noch nicht untergegangen. ({7}) Sie lebt weiterhin und blüht. Es mag sein, dass die eine oder andere Erwartung nicht so eingetreten ist, wie es befürchtet oder auch erhofft worden ist, aber das Informationsfreiheitsgesetz, mit dem wir jetzt fünf Jahre lang Erfahrung haben, ist eine Errungenschaft. Ich bedaure sehr, dass es in einigen Bundesländern noch nicht existiert. Dieses Gesetz müssen wir nicht nur verteidigen, Herr von Notz, sondern wir müssen jetzt auch sozusagen die nächste Rakete starten. ({8}) Der nächste Schritt muss gemacht werden. Wir brauchen aber keine beliebigen Verfassungsänderungen, die nicht durchdacht sind, sondern eine kluge Weiterentwicklung bestehender Gesetze, ({9}) Herr Wieland, um aus einem exklusiven Informationsverständnis ein inklusives zu machen. Herr von Notz, das Wissen unserer Regierungen - es ist ja unglaublich, was in Berlin und Bonn und sogar bei Ihnen, Herr Stadler, an Wissen angesammelt worden ist ({10}) ist nicht das Wissen von Mandarinen, von Herrschaftstechnikern. Das ist Wissen für das Volk und nicht Wissen ohne oder gegen das Volk. ({11}) Ich glaube, wir haben heute im digitalen Zeitalter, in Zeiten des Internets unglaubliche Möglichkeiten, dieses Wissen an das Volk heranzutragen. ({12}) Wir sollten uns nicht ablenken lassen, lieber Herr von Notz, von Debatten über Grundgesetzänderungen, sondern wir sollten die praktischen Möglichkeiten, die es schon heute gibt, endlich ergreifen und weiterentwickeln. Ich glaube, es gibt auf der Ebene der Bundesregierung, auf der Ebene der Landesregierungen, auf der Ebene vieler Ämter und auf der Ebene der Gemeinden jede Menge Möglichkeiten. Da und dort werden diese auch schon genutzt. Ich glaube, dass wir deutlich hinter den Möglichkeiten zurückbleiben, die es schon heute gibt. Davor muss man keine Angst haben. Wir sollten dies nicht als Bedenkenträger angehen, sondern wir sollten gemeinsam die Initiative ergreifen, um hier voranzukommen. ({13}) - Stellen Sie mir bitte mehrere Fragen, lieber Herr Wieland!

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie gestatten also die Zwischenfrage? Bitte schön, Kollege Wieland.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Dr. Wiefelspütz, Sie haben sich gerade so furchtbar über das Wort „insbesondere“ ereifert und gesagt, dieses dürfe man nicht ins Grundgesetz schreiben. Sie haben gesagt, davon würden Sie Frostbeulen bekommen. Wie können Sie mir erklären, dass es in Art. 13 Abs. 7 unserer Verfassung heißt - dies wurde von Ihnen mit formuliert, mein lieber Herr Professor -: … dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden. Hat Ihr Körper da als Warnsignal versagt? ({0})

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst muss ich Ihnen widersprechen: Ich bin kein Professor, lieber Herr Wieland, ({0}) sondern bestenfalls ein gefühlter Professor. ({1}) Herr Wieland, schlecht bleibt schlecht, selbst wenn ich unter Umständen an der einen oder anderen Sache beteiligt gewesen sein sollte. ({2}) Das Wort „insbesondere“ gehört nicht ins Grundgesetz, Herr Wieland. ({3}) Setzen Sie sich bitte. ({4}) Letzten Endes bin ich bei aller Freude über die Debatte ganz ernsthaft der Auffassung, dass wir, Herr von Notz - das ist mir vielleicht sogar wieder etwas unangenehm -, ({5}) in der Sache ganz nah beieinander sind. Lassen Sie uns die Sache vorantreiben und nicht Scheindebatten über schlechte Formulierungen im Grundgesetz führen! Lassen Sie uns unser Grundgesetz lieber vor Verunstaltungen, insbesondere vor Verunstaltungen, schützen! ({6}) Herzlichen Dank für das Zuhören. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist kurz vor Pfingsten, und ich habe soeben ein Wunder erlebt. ({0}) Dass der Kollege Wiefelspütz immer unterhaltsam ist, würde ich nicht abstreiten. Aber dass ich einmal bei einer Rede von Ihnen, Herr Wiefelspütz, klatschen würde, weil ich mit Ihnen einer Meinung bin: Wow! Ich finde, jetzt können wir Pfingsten feiern. Respekt! ({1}) Man muss auch einmal fraktionsübergreifend Zustimmung signalisieren können. Im Hinblick auf die Fraktion, die den vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht hat, fällt mir das allerdings schwer. Als ich den ersten Absatz der Problembeschreibung im Gesetzentwurf der Grünen gelesen habe, ist mir eine Anekdote eingefallen, die ich über die neu in einen Landtag gewählte Fraktion der Piraten gehört habe. ({2}) Da kam einer der neuen Abgeordneten der Piraten - der aus Ihrer Sicht sicherlich zu der Spezies kompetenter Demokraten gehört - voll von berechtigter Wut, wie Sie es beschreiben, in seinen neuen Ausschuss und forderte die umgehende Herausgabe der Geheimdokumente. Die Verwunderung war sehr groß, als er feststellen musste, dass alle Dokumente, die im Parlament beraten werden, ganz offiziell im Internet, nämlich auf der Webseite des Landtages - also nicht etwa bei WikiLeaks oder irgendwo anders, sondern ganz offiziell auf der Homepage des Landtages -, abrufbar sind und jedem Menschen frei zur Verfügung stehen. ({3}) Ob daraufhin seine „berechtigte Wut“ verpuffte oder ob diese Erkenntnis seine Kompetenz als Bürger steigerte, ist nicht überliefert. Aber das zeigt, dass vieles gar nicht bekannt ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, über eines muss ich mich schon sehr wundern, nämlich über Ihr Parlamentsverständnis. Ich muss Sie wirklich ganz ernsthaft fragen, wie Sie als verantwortungsvolle Parlamentarier in Ihrer Problembeschreibung darlegen können, es entstünde berechtigte Wut, wenn gewählte Volksvertreter über den Kopf der Bürgerinnen und Bürger hinweg intransparente Entscheidungen träfen. Was ist das eigentlich für ein Verständnis? Auch Sie sitzen nämlich hier und machen Gesetze. Ich kann das nicht verstehen. Ich finde, Sie sollten sich noch einmal überlegen, ob das so richtig ist. Selbstverständlich kann man auch auf der Internetseite des Bundestages - das sage ich für alle, die uns zuhören und zuschauen -, unter www.bundestag.de, alle Entscheidungen nachvollziehen. Von intransparenten Entscheidungen kann man da, glaube ich, überhaupt nicht sprechen. ({4}) Man sollte meinen, dass auch die Grünen das eigentlich wissen könnten. Ich kann dem Kollegen Wiefelspütz insoweit folgen, als wir, was das Informationsfreiheitsgesetz betrifft, gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Sie haben netterweise darauf hingewiesen, dass wir dieses Vorhaben mit befördert haben. Wir sind darauf auch sehr stolz. Wir sind auch sehr stolz darauf, dass wir jetzt, nach fünf Jahren, eine Evaluierung auf den Weg gebracht haben. Ich glaube, hier kann man sicherlich noch an der einen oder anderen Stellschraube drehen. Die Grünen allerdings schüren Ressentiments gegen den Parlamentarismus. ({5}) Nachdem ich mir genau durchgelesen habe, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf schreiben, muss ich sagen: ({6}) Aus meiner Sicht leisten Sie dem wichtigen und gemeinsamen Anliegen der Stärkung der Informationsfreiheit eigentlich einen Bärendienst. Sie müssen sich wirklich fragen lassen, ob das im Sinne der Informationsfreiheit ist. ({7}) - Ja, gerne, Herr Präsident.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Also, bitte schön.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Frau Kollegin Piltz, auch weil der Kollege Schulz bei der Beschreibung des erfreulichen Status quo so intensiv klatscht: Können Sie vielleicht erklären, warum die Bundestagsdokumente, die wir haben, bei uns eben nicht alle wie im Europäischen Parlament online zugänglich sind? Warum sagen auch Vertreter Ihrer Fraktion und Ihre Sachverständigen in der EnqueteKommission „Internet und digitale Gesellschaft“ selbstverständlich, dass wir auch im Bereich des Parlamentarismus eine Verbesserung der Transparenz brauchen? Ich wehre mich stark gegen den Vorwurf, ich würde den Parlamentarismus madig machen. Es geht darum, ihn weiterzubringen und offener zu gestalten. Bisher habe ich es immer so verstanden, dass das auch die Linie von anderen ist. Sie können aber jetzt gern davon Abstand nehmen und sagen, dass Sie das nicht wünschen und das nicht wollen.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege von Notz, selbstverständlich ist es das Anliegen von allen hier, so offen und so transparent wie möglich mit dem, was wir hier tun, umzugehen. Ich glaube, hier gibt es überhaupt keinen Streitpunkt. Sie sagen hier zum einen über sich und den Parlamentarismus: Wir sind nicht transparent. Das ist schon heute Unsinn. Zum anderen hat das, was Sie mit Ihrem Antrag beabsichtigen, nur begrenzt mit dem Parlamentarismus zu tun. Das geht darüber hinaus. Wenn Sie mögen, können Sie sich setzen. Ich glaube, dann haben Sie mehr Spaß. Wenn Ihnen meine Antwort nicht gefällt: Da müssen Sie durch. Ich glaube, Sie irren auch, wenn Sie meinen, dass es zur Verwirklichung der Informationsfreiheit einer Änderung des Grundgesetzes bedürfe. Ich habe für den Fall, dass Sie mir nicht glauben, extra das Grundgesetz mitgebracht. Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz des Grundgesetzes hat jeder das Recht, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“. All denjenigen, die vielleicht nicht jeden Tag so genau ins Grundgesetz schauen, sage ich: Es gibt auch ein Grundrecht auf Datenschutz. Das ist vom Verfassungsgericht fortentwickelt worden. Es ist nicht so, dass das alles nicht existent wäre, nur weil es nicht im Grundgesetz steht. Das gibt es alles. Sie erwecken hier einen Eindruck, der am Ende nicht richtig ist. Ich glaube, das hilft unserem gemeinsamen Anliegen am Ende überhaupt nicht. Das Informationsfreiheitsgesetz bestimmt die Zugänglichkeit von Informationen der Verwaltung und macht diese dadurch zu allgemein zugänglichen Informationen, indem sie nur ausnahmsweise zurückgehalten werden dürfen. Damit unterliegen sie schon heute dem bestehenden Grundrecht auf Informationsfreiheit. Die weitere Frage, ob die im Informationsfreiheitsgesetz bestimmten Ausnahmen zu weit gehen und mithin den Anspruch der Bürger zu sehr einschränken, ist hier und heute nicht zu debattieren, auch wenn das heute eine spannende Debatte wäre. ({0}) Es ist aber falsch, dass sich die im Informationsfreiheitsgesetz normierten Grenzen durch die hier vorgelegte Grundgesetzänderung verschieben würden. Dazu bedürfte es aus meiner Sicht schlicht einer Änderung des einfachen Rechts - eines Rechts, dem die Grünen selbst diese Grenzen auferlegt haben - und nicht einer Änderung der Verfassung. Das möchte ich hier betonen. Wäre es anders, dann hätten Sie das schon damals in dem von Herrn Wiefelspütz korrekt beschriebenen Kampf - ich kann mich gut daran erinnern - gegen die rot-grüne Bundesregierung durchgesetzt. Sie haben es so gewollt. Wahrscheinlich waren Sie in der Vorlesung „Grundrechte Teil I“ oder so ähnlich, als wir das Informationsfreiheitsgesetz auf den Weg gebracht haben. ({1}) - Entschuldigung, das musste sein. Sie verkennen immer noch den Charakter der Grundrechte. Sie schlagen hier ein Informationszugangsgrundrecht vor, das sich auch auf Private erstreckt, also auf Unternehmen. Auch gegenüber diesen soll das Grundrecht gelten. Ich weiß, Sie protestieren jetzt. Sie wollen dieser Problematik begegnen, indem Sie eine Gewährleistungspflicht des Gesetzgebers einführen wollen, also ein Grundrecht auf eine ganz bestimmte und schon konkret vorgegebene Gesetzgebung nach dem Motto: Umweltschutz ist immer wichtiger. Das funktioniert nicht, wenn man die Grundrechte kennt. Das kann das Grundgesetz auch nicht leisten. Deshalb sind Sie hier auf einem Holzweg. Ich will das Thema Status positivus zur Norm machen nicht vertiefen. Sie wissen das alles. Sie tun so, als ob dies kein Problem wäre. Selbstverständlich ist das ein Problem. Auch das Wirtschaftsverständnis der Grünen, das hinter diesem Vorschlag steckt, finde ich erstaunlich, denn es ist aus meiner Sicht mit der sozialen Marktwirtschaft unvereinbar. Die Verbraucherinformation ist für unsere Marktwirtschaft ein zentraler Punkt, das ist unbestritten. Wir waren am Verbraucherinformationsgesetz beteiligt. Wir hätten es uns vielleicht sogar anders gewünscht, aber nur mündige Verbraucher können ihre Marktmacht entsprechend ausüben. Mündige Verbraucher sind notwendigerweise informierte Verbraucher. ({2}) Ebenso haben aber Unternehmen in der Marktwirtschaft selbstverständlich das Recht, ihre Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse vor ihren Mitbewerbern zu bewahren. Das spiegelt sich auch in der geltenden Rechtslage wider. ({3}) In den Fällen, in denen bereits Umwelt- oder Gesundheitsgefahren bestehen, geht es bei Verbraucherinformationen gerade nicht um Ansprüche gegen die Unternehmen, sondern um Informationen, die von Behörden weitergegeben worden sind. Der Gesetzentwurf würde also bedeuten, dass Umweltschutz und Verbraucherschutz quasi über allen anderen Grundrechten schweben. Wie eben gesagt: Umweltschutz ist besser als alles andere. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall würde gar nicht mehr stattfinden. Das ist etwas, was wir Liberale, die sich jeden Tag mit Grundrechten beschäftigen und damit sehr gut auskennen, nicht mitmachen können. ({4}) - Ich weiß, Sie glauben das nicht. ({5}) - Nein, ich will auch keine Professorin sein, niemals nicht. Das unterscheidet mich von Herrn Wiefelspütz. Damit bin ich wieder am Anfang. Es ist schön, dass wir eine gemeinsame Meinung dazu haben. Überlegen Sie sich gut, ob Sie die Grundrechte so ändern wollen. Sie sind damit ziemlich alleine im Parlament, und das ist, ehrlich gesagt, auch gut so. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen möchte das Recht auf Zugang zu öffentlichen Informationen im Grundgesetz verankern. Das ist selbstverständlich zu begrüßen. Eine informierte und aktive Zivilgesellschaft ist die Voraussetzung für unsere Demokratie, und dazu braucht es selbstverständlich auch ein Zugangsrecht zu Informationen. ({0}) Man könnte natürlich darüber streiten, ob dies einer Grundgesetzänderung bedarf und ob nicht auch die Informationsfreiheitsgesetze der Länder und des Bundes präzisiert werden sollten. Eine Festschreibung dieses Rechts auch im Grundgesetz ist aber richtig und kann nicht schaden. Zu einer aktiven demokratischen Gesellschaft gehört aber auch und vor allem - da werden Sie mir sicher zustimmen - das Recht, seine Meinung ungehindert ausdrücken zu dürfen. Die Grünen wollen mit ihrem Gesetzentwurf den Art. 5 des Grundgesetzes erweitern. Wie beginnt dieser Artikel? Er beginnt mit den Worten: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“. Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Ihr Vorstoß ist richtig und wichtig. Es ist richtig, sich um die Erweiterung und Präzisierung unserer Rechte zu kümmern. Es ist aber ebenso wichtig, für die Einhaltung und Durchsetzung der Grundrechte zu sorgen. Da erstaunt es schon, dass die Grünen hier mit dem Gestus einer Vollblutbürgerrechtspartei auftreten. Sie machen sich hier und heute zwar stark für die Erweiterung des Art. 5 des Grundgesetzes, letzte Woche in Frankfurt haben Sie sich aber ganz anders verhalten. Da haben Sie mitgeholfen, die grundgesetzlich verankerte Meinungsfreiheit einzuschränken. ({1}) - Es war genau so. Danke für den Zwischenruf aus der Koalition. ({2}) Vergangene Woche wollten sich Menschen in Frankfurt am Main versammeln, um ihre Meinung zu dem Spardiktat von Troika und Regierung und zu dem undemokratischen EU-Fiskalpakt kundzutun. ({3}) - Ja, ich bin mir sicher, dass ich zum richtigen Tagesordnungspunkt rede. Es geht ja um die Erweiterung des Art. 5 des Grundgesetzes. Es geht um die Erweiterung der Meinungsfreiheit, und in diesem Zusammenhang kann man doch auch über die aktuelle Gewährleistung dieses Artikels reden und debattieren. ({4}) Es sollten drei aktionsreiche und lebendige Tage in Frankfurt werden, Tage der direkten und demokratischen Meinungsäußerung. ({5}) Zelten auf öffentlichen Plätzen, Kundgebungen und Konzerte an verschiedenen Orten der Stadt und eine Demonstration als Abschluss waren geplant. Schon im Vorfeld hatte die Stadt Frankfurt aber angekündigt, das Versammlungsrecht massiv einzuschränken, und die schwarz-grün geführte Stadtregierung hat diese Einschränkung der Meinungsfreiheit wirklich knallhart umgesetzt. ({6}) 17 Kundgebungen und Aktionen wurden verboten. Von den geplanten 73 inhaltlichen Veranstaltungen konnten lediglich 8 an Ausweichorten stattfinden. Die Innenstadt wurde abgeriegelt. 5 000 Polizistinnen und Polizisten waren im Einsatz. Ein derartig umfassendes Demonstrationsverbot hat es in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nicht gegeben. ({7}) - Das ist aber so. - Dass das ausgerechnet von den Grünen in Regierungsverantwortung verordnet und exekutiert wurde, ist ein politischer Skandal, und auch das müssen Sie sich anhören. ({8}) Ich war von Mittwoch bis Samstag als Beobachterin in Frankfurt und habe selbst erfahren, wie die Demokratie durch diese Verbotspraxis mit Füßen getreten wurde. Drei Busse aus Berlin wurden noch auf der Autobahn zur Rückkehr nach Berlin aufgefordert. Anreisende Menschen erhielten für drei Tage Platzverweise für die Stadt Frankfurt, übrigens auch für den Zeitraum der genehmigten Demonstration. Junge Menschen wurden stundenlang in Polizeikesseln festgehalten. Insgesamt wurden 1 430 Personen in Gewahrsam genommen. Auch die Presse - wenn wir über Art. 5 des Grundgesetzes reden, dann reden wir auch über die Gewährleistung der Pressefreiheit - wurde immer wieder daran gehindert, zu berichten. Von den Frankfurter Grünen kam keinerlei Widerstand gegen diese Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Stattdessen bezeichnet der Fraktionsvorsitzende Manuel Stock die Verbote als „Verwaltungsakt“. ({9}) Die Durchsetzung von Verboten und Verwaltungsakten, das ist kein Bürgerrechtsverständnis. ({10}) Die gute Nachricht ist: Trotz aller Verbote lassen sich Protest und das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht verbieten. Tausende von Menschen folgten dem Aufruf des Bündnisses. An der Demonstration am Samstag beteiligten sich knapp 30 000 Menschen. Das war die größte Demonstration in Frankfurt seit mindestens zehn Jahren. Wenn also die Grünen heute nach diesen Vorkommnissen einen Gesetzentwurf zur Erweiterung des Art. 5 Grundgesetz auf freie Meinungsäußerung einbringen, dann sage ich Ihnen: Sorgen Sie dafür, dass dort, wo Sie Verantwortung wie in Frankfurt tragen, das Recht auf Meinungsfreiheit gewährleistet wird. ({11}) Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zum Tagesordnungspunkt 35 hat jetzt Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, es gibt selten ein Land in Europa oder vielleicht sogar weltweit, das das Recht auf Meinungsfreiheit in einem solchen Maße achtet, wie das bei uns der Fall ist, und zwar von der Verwaltung her und von der Polizei her, aber auch das Recht der Meinungsfreiheit im privaten Bereich. Das sollten Sie hier nicht anzweifeln. Die Vorfälle von Frankfurt müssen Sie sich erst einmal genau ansehen. ({0}) Dann werden Sie vielleicht zu dem Schluss kommen ich weiß es nicht -, dass die dort beschlossenen Einschränkungen mit Recht geschehen sind. ({1}) Es gibt kein absolut freies Recht auf Meinungsäußerung. Es geht aber hier im Augenblick nicht so sehr um die Meinungsfreiheit, sondern um die Informationsfreiheit. Das ist das Anliegen der Grünen. Der Parlamentarische Rat hat in der Tat die Meinungsfreiheit und die Informationsfreiheit in einem Atemzug genannt und sie in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes niedergeschrieben. Das ist richtig. Das heißt aber nicht, dass die Informationsfreiheit, weil in der öffentlichen Meinung - das haben wir eben wieder gehört - meistens das Thema Meinungsfreiheit dominiert, weniger ein Grundrecht wäre. Beides gehört zusammen. Es ist auch sinnvoll, beides zusammen zu erwähnen, weil man keine Meinung haben kann, ohne sich vorher informiert haben zu können. Die Informationsfreiheit gehört zur Meinungsfreiheit genau so wie die Meinungsfreiheit umgekehrt zur Informationsfreiheit gehört. Trotzdem sind es zwei verschiedene Rechtspositionen. Beide haben einen besonderen Schutzbereich. Es ist nicht so, dass bei einer Einschränkung der Meinungsfreiheit zugleich auch die Informationsfreiheit einzuschränken ist. Das haben wir in Frankfurt gesehen. Es ist auch so: Wenn die Informationsfreiheit eingeschränkt wird, wird nicht gleichzeitig die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Beide Rechte stehen nebeneinander. Beide haben einen eigenen Schutzbereich. Beide können selbstständig bedroht werden. Nachdem wir diese beiden Rechte im Grundgesetz bereits verankert haben, und zwar seit Bestehen des Grundgesetzes, ist die Frage, ob es notwendig ist, das Recht auf Informationsfreiheit noch einmal eigens in einem neuen Art. 5 Abs. 2 a zu betonen. Dies weisen wir zurück. Das, glauben wir, ist nicht notwendig. Wir haben bereits gesetzliche Regelungen, die sich gerade auf Art. 5 des Grundgesetzes beziehen - sie sind hier genannt worden -, das Recht auf Informationsfreiheit, das von Rot-Grün geschaffen wurde; das ist richtig. Es gibt auch entsprechende Rechte in den Ländern. Es gibt in den verschiedenen Rechtsgebieten bzw. Politikbereichen eigene Informationsrechte, wie im Umweltbereich, wie im Verbraucherschutz. Beispielsweise ist auch das Stasi-Unterlagen-Gesetz ein solches Informationsfreiheitsgesetz. In vielen anderen Gesetzen, beispielsweise im Verwaltungsverfahrensgesetz, gibt es das Recht auf Information. Es gibt in der Strafprozessordnung das Recht des Betroffenen auf Information. Dieses Recht auf Information, das ganz stark neben dem Recht auf Meinungsfreiheit steht und nicht weniger geachtet wird, haben wir bereits. Wir glauben nicht, dass es unbedingt notwendig ist, dieses eine Recht auf Information noch einmal eigens zu betonen. ({2}) Wir meinen sogar, das könnte unter Umständen zu einer Missdeutung führen. Es könnte vielleicht sogar zu einer ungewollten Überbetonung des Informationsrechts beispielsweise gegenüber dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung führen, das auch ein Grundrecht ist. Denn wenn der Einzelne Zugang zu den Akten hat - hier wird die Transparenz der Verwaltung gefordert - und darin nachlesen kann, dann kommt er auch immer an Daten der einzelnen Bürger, die ihre Daten der Verwaltung anvertraut haben, in der Hoffnung, dass die Verwaltung sorgsam mit diesen Daten umgeht. Wie kann aber die Verwaltung sorgsam mit diesen Daten, auch wenn es nicht immer ganz persönliche Daten sind, umgehen? Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass jemand einen Bauplan vorlegt, in dem aufgezeichnet ist, wo er sein Wohnzimmer, sein Schlafzimmer und seine Küche hat. Was geht das einen Dritten an? Aber der Dritte hätte dann nach Ihrer Auffassung ein Grundrecht darauf. Es könnte so ausgelegt werden. Der Gesetzgeber könnte es so auslegen, lieber Herr von Notz, und die Gerichte könnten es so auslegen. Deshalb glauben wir, dass dadurch die Ermessensfreiheit, die die Verwaltung bisher in der Frage hat, ob dem einzelnen Bürger ein Akt gezeigt werden kann, eingeschränkt würde. Sie würde durch den Gesetzgeber oder die Gerichte unter Umständen zu einem Befehl ausgestaltet werden. Wir meinen, dadurch käme ein anderes Gewicht hinein. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass die Verwaltung weiter frei entscheiden kann, ob sie dem Einzelnen Einblick in die Akten gewährt. Es kommt ein Weiteres hinzu - das möchte ich abschließend erwähnen -: Darin ist unter Umständen auch ein Eingriff in den Kernbereich der Exekutive zu sehen. Denn es ist immer die Frage, ob es notwendig ist, einen bestimmten Verwaltungsvorgang transparent zu machen, und ob dadurch der Entscheidungsprozess offenbart wird. Ich halte das nicht unbedingt für notwendig. Deswegen meinen wir, dass das Grundrecht auf Information, wie es jetzt im Grundgesetz niedergelegt ist, nicht durch das vorliegende Gesetzesvorhaben geändert werden muss. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die politische Absicht der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Informationszugangsrechte zu erweitern, ist grundsätzlich begrüßenswert, Herr von Notz, oder um es mit Professor h. c. Wiefelspütz zu sagen: Es ist gut gemeint. Herr Wiefelspütz hat aber zum Schluss auch gesagt: Wir sind in der Sache nicht weit auseinander. Das stimmt. Denn Meinungsbildung geht nur über Informationsmöglichkeiten und Informationsrechte. Letztlich geht es nur über Rechte gegenüber dem Staat und vor allen Dingen auch gegenüber den Kommunen. Ich gebe Ihnen auch in einem weiteren Punkt recht. Der Begriff Amtsgeheimnis ist ein Begriff aus vordemokratischer Zeit. Er ist ein Relikt der Vergangenheit. Ich habe auch gerade mit dem Kollegen Wiefelspütz darüber gesprochen: Bevor ich Abgeordneter war, habe ich schon einmal gearbeitet. ({0}) Ich war nämlich Bürgermeister. Insofern weiß ich: In einer modernen Verwaltung gibt es Portale, und moderne Verwaltungen öffnen sich. Moderne Verwaltungen sind auch immer Ansprechpartner für ihre Bürger, und sie verstehen Transparenz in der Praxis. Die Frage ist nur, Herr von Notz: Brauchen wir über die bestehenden Gesetze hinaus eine Verfassungsänderung? Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir 2005 das sogenannte Informationsfreiheitsgesetz geschaffen haben, das 2006 wirksam geworden ist. Herr Wiefelspütz hat es schon gesagt: Es war damals gar nicht so einfach, das politisch durchzusetzen. Es ist auch damals erheblich diskutiert worden, was Transparenz von Verwaltungs- und Regierungsentscheidungen heißt und was das in der Praxis bedeutet. Herr Wiefelspütz hat auch gesagt: Die FDP hat im Bundesrat ein bisschen geholfen. Aber es gibt immer noch fünf schwarze Länder. Ich sehe gerade den neuen PGF, Herrn Grosse-Brömer. Niedersachsen hat, glaube ich, auch noch kein Landesgesetz erlassen. ({1}) Vielleicht könnten wir dort auch noch ein bisschen mehr Transparenz schaffen, Herr Grosse-Brömer. Aber mir leuchtet die Begründung nicht ein, Herr von Notz - darüber habe ich schon mit dem geschätzten Kollegen Montag diskutiert -, dass, um die Länder zu bewegen, entsprechende Gesetze zu erlassen, grundgesetzliche Änderungen vorgenommen werden müssen. Ich glaube, hier hat der Föderalismus Vorrang. Sie müssen Mehrheiten in den Ländern gewinnen, um das, was Sie wollen, politisch durchzusetzen. Bei Grundgesetzänderungen sollte man grundsätzlich vorsichtig sein. Wir haben in letzter Zeit sowohl im Innenausschuss als auch im Rechtsausschuss oft über die Verankerung neuer Staatsziele in der Verfassung diskutiert. Nach meiner Meinung führt die Aufnahme zusätzlicher Staatsziele, etwa das des Tierschutzes in Art. 20 a des Grundgesetzes, eher dazu, dass wichtige Grundrechte wie das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 entwertet werden. Zum Gesetzentwurf noch zwei Anmerkungen - es ist das eine oder andere ja schon im Detail angemerkt worden -: Sie wollen ein schrankenloses Informationszugangsgrundrecht gegenüber öffentlichen Stellen gewährleisten. Herr von Notz, wenn Sie sich die Verwaltungspraxis anschauen - darauf hat Herr Geis eben auch verwiesen -, dann stellen Sie fest, dass es manchmal wirklich gute Gründe gibt, die rechtfertigen, Vertraulichkeit zu wahren und bestimmte Informationen aus dem öffentlichen Bereich und insbesondere aus dem kommunalen Bereich nicht schrankenlos nach außen zu geben. Wenn Ihr Vorschlag Gesetz würde, gäbe es ein aus dem Grundgesetz abgeleitetes schrankenloses subjektiv-öffentliches Informationszugangsrecht. Das könnte man jedoch meiner Meinung nach nicht gewährleisten. Des Weiteren wird vorgeschlagen, ein verfassungsrechtlich determiniertes Recht auf Information gegenüber Privaten zu gewährleisten. Es wurde, aus meiner Sicht jedenfalls zu Recht, schon darauf hingewiesen, was passieren würde, wenn es ein solches Recht gäbe. Letztlich gelten Rechte aus Art. 12 und Art. 14 des Grundgesetzes für Private oder Dritte. Insofern gäbe es eine Schranke. Aus meiner Sicht liefe auch diese zweite Konstellation in der Praxis weitgehend ins Leere. Man sollte sich eher bemühen, sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene Mehrheiten zu gewinnen, um die Rechte auf einfachgesetzlicher Grundlage, zum Beispiel im Rahmen des Verbraucherinformationsgesetzes, zu erweitern. Genauso wie gegenüber der Einführung von neuen Staatszielen sollte man gerade auch hinsichtlich subjektiv-öffentlicher Rechte Vorsicht walten lassen und das Grundgesetz nur ausnahmsweise ändern. Ich glaube, hier sollte man politisch eher das Augenmerk auf die Erweiterung von Spezialgesetzen legen. Auf dieser Ebene sollten die Rechte der Bürger gegenüber staatlichen und insbesondere kommunalen Institutionen erweitert werden. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Kollegen Patrick Sensburg das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gleich zu Beginn eine Anregung an die Adresse der Fraktion Die Linke: Da Sie, Frau Kollegin Gohlke, in Ihrer kämpferischen Rede den letzten Tagesordnungspunkt schon vorgezogen haben und ich nicht erwarten kann, dass die Kollegen Buchholz und Maurer dezidiert Tiefgründigeres liefern: Überlegen Sie doch einmal, ob es nicht möglich ist, die Aktuelle Stunde abzusetzen. Schließlich haben Sie schon alles gesagt, was man von Ihnen erwarten kann. ({0}) Zur Sache. Beim Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen ist mir zuallererst das Gleiche aufgefallen wie der Kollegin Piltz. ({1}) Als ich den Gesetzentwurf und insbesondere die Problembeschreibung gelesen hatte, habe ich zuerst gedacht: Was haben Sie bloß für ein Bild von der Tätigkeit eines Abgeordneten und des demokratischen Alltags der Politik in Deutschland! Als ob die Politik nur aus Filz, Kumpanei, Regieren über die Köpfe der Menschen hinweg und Korruption bestünde! ({2}) - Wer hat da „sehr richtig“ gesagt? Liebe Damen und Herren von der Linken, da sagen Sie „sehr richtig“? Das ist das Bild, das man von der Politik in Deutschland malen sollte? Es ist extrem erschreckend, was Sie gerade machen. Ich glaube auch nicht, dass Kollege von Notz das so meint. ({3}) Ich möchte nur, dass der Antrag nicht falsch verstanden wird. Aber Sie scheinen es wirklich so zu meinen. Sie sollten Ihr Politikverständnis einmal überdenken. ({4}) Es ist eben nicht so, dass die vielen Kreistagsmitglieder und die vielen Ratsmitglieder, die sich ehrenamtlich in der Kommunalpolitik engagieren, oder auch die Mitglieder in den Landtagen und im Bundestag diesem Bild entsprechen. Nein, es ist anders. Die Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen leisten exzellente Arbeit; das tun sie ganz offen und ganz transparent. So ist es auch bei den anderen Fraktionen, anscheinend mit Ausnahme der Linken. Daher liefert die Begründung zur Einleitung doch ein etwas falsches Bild. In der Sache ist der Gesetzentwurf genauso erschreckend, nämlich erschreckend bezüglich der Unkenntnis der Bürgerrechte. Wenn man einmal genauer hinschaut, fragt man sich unwillkürlich: Wissen Sie es nicht besser, oder wollen Sie die Bürger für dumm verkaufen? Sie schreiben in Ihrer Begründung - ich zitiere -: Denn bei der im Einzelfall zu treffenden Abwägung steht regelmäßig ein grundrechtlich geschütztes Interesse … dem einfachgesetzlichen Informationsanspruch der Bürgerinnen und Bürger gegenüber. Sie zitierten dazu eben den Kollegen Kloepfer und behaupteten, er habe gesagt, dieses grundrechtlich geschützte Interesse überwiege. Erstens hat Kloepfer das gar nicht gesagt. Ich empfehle Ihnen zur Lektüre das Handbuch des Staatsrechts von Kloepfer. Im zweiten Band aus dem Jahre 2010 steht eindeutig, dass man eine Einzelabwägung im konkreten Fall vornehmen muss. Nur dann kann man schauen, welches Recht überwiegt. Nicht Normenhierarchie, Grundrecht über einfachem Gesetz. Das ist völlig falsch. ({5}) Zweitens muss man ganz deutlich sagen: Es geht um individuelle Rechte, auf der einen Seite vielleicht die eines Unternehmers, auf der anderen Seite vielleicht desjenigen, der einen Anspruch auf Umweltinformationen geltend machen will. Da müssen Sie genau hinschauen, welches Recht überwiegt. ({6}) Dabei geht es nicht um die Frage, ob es ein Recht aus Art. 12 oder Art. 14 ist, oder ob es sich um Umweltrechte handelt. Hier muss eine Einzelfallabwägung vorgenommen werden. ({7}) Deswegen ist die Begründung Ihres Antrags in sich nicht stimmig. ({8}) Einen absoluten Bruch - auch das haben wir eben schon gesehen - stellt Ihr Formulierungsvorschlag für Art. 5 Abs. 2 a dar: Hier fordern Sie einmal einen Grundrechtsanspruch gegenüber öffentlichen Einrichtungen und dann einen bundesgesetzlich ausgestalteten Anspruch gegenüber Privaten. Das ist ein Bruch in sich: Einmal wollen Sie es einfachgesetzlich ausgestaltet haben; zugleich sagen Sie, dass wegen der Normenhierarchie eine einzelgesetzliche Regelung nicht ausreicht. Sie widersprechen sich also in einem Absatz selber. Das zeigt im Grunde, dass Sie rein darauf aus sind, ideologische Gräben aufzureißen. ({9}) Schauen Sie doch einmal - Frau Piltz hat es schon gesagt - in das Grundgesetz. Wir haben die grundgesetzliche Ausgestaltung im Art. 5. Wir haben das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Wir haben die Verbindung von Art. 5 und dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. ({10}) All das haben wir. Durch Ihre Regelung, gemäß der aus dem Grundgesetz einfache Ansprüche abgeleitet werden sollen, würden Sie das Grundgesetz im Grunde zu einem Verwaltungsverfahrensgesetz degradieren. ({11}) Das ist nicht angezeigt. Ich empfehle Ihnen - da komme ich auf das zurück, was auch der Kollege Wiefelspütz angesprochen hat, der eine Rakete starten wollte - in Nordrhein-Westfalen, wo SPD und Grüne demnächst wieder regieren wollen, ({12}) doch einmal das zu machen, was wir von CDU und FDP in der Legislaturperiode, in der wir regiert haben, beschlossen haben. Wir haben uns die einfachgesetzliche Situation angeschaut: ({13}) Circa 50 einfachgesetzlich ausgestaltete Informationsansprüche haben wir in NRW in den verschiedensten Gesetzen ausgemacht: Straßenwegegesetz, Gesetz über den Zugang zu digitalen Geodaten, Bodenschutzgesetz, Gemeindeordnung, IFG. Wir haben dann ein Projekt auf den Weg gebracht und gesagt: All das könnte man in einem Gesetz, in einem allgemeinen Informationsgesetz, bündeln. Das war der Vorschlag, den wir erarbeitet haben. Ich empfehle Ihnen das aktuelle Heft des Verwaltungsarchivs. Da habe ich mit zwei Kollegen, die das Projekt durchgeführt haben, genau dieses Thema beschrieben. ({14}) - So ein Heftchen kostet gar nicht so viel. ({15}) Wenn Sie es ernst meinen würden, dann würden Sie die Sache da anpacken, wo Sie regieren. Dann würden Sie die Informationsrechte dort so ausgestalten, dass die Bürger sie in einem Gesetz finden. Dann würden Sie nicht fordern, das Grundgesetz zu ändern, sondern das machen, was den Menschen etwas bringt, nämlich einen zentralen Anspruch für alle Informationsrechte. Sie aber handeln doppelzüngig: Wenn Sie in der Opposition sind, dann fordern Sie, aber wenn Sie an der Regierung sind, machen Sie nichts. Wir können Ihrem Gesetzentwurf deshalb mit Sicherheit nicht zustimmen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Wenn Sie dann auch noch das Heft kaufen, bin ich noch glücklicher. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9724 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Innenausschuss liegen soll. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 7 auf: Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Demonstrationsfreiheit sichern - Occupy-Proteste nicht kriminalisieren Ich eröffne die Aussprache und erteile Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der schwarz-grüne Magistrat der Stadt Frankfurt und das Land Hessen haben Frankfurt zur verbotenen Stadt gemacht. ({0}) Sie haben die europaweiten Aktionstage des Bündnisses „Blockupy Frankfurt“ über vier Tage untersagt. Doch die Demonstranten haben sich das Recht auf Versammlungsfreiheit nicht nehmen lassen. ({1}) Frankfurt hat einen bunten und friedlichen Protest gegen Kapitalismus und Bankenmacht erlebt. Von den Demonstranten ging keine Gefahr aus. 5 000 Polizisten, teilweise in martialischem Aufzug, haben die Innenstadt abgeriegelt und somit effektiv das Bankenviertel blockiert. Ich selbst war die ganze Zeit anwesend, also auch am 17. Mai auf dem historischen Paulsplatz. ({2}) Dort hatte das Komitee für Grundrechte und Demokratie aus Protest gegen das Demonstrationsverbot eine Kundgebung für Versammlungsfreiheit angemeldet, die ebenfalls verboten wurde. Mein Dank gilt den Demonstrantinnen und Demonstranten auf dem Paulsplatz, die trotzdem gekommen sind und Versammlungsfreiheit über mehrere Stunden im Kessel der Polizei verteidigt haben. ({3}) Ihr Einsatz war entscheidend dafür, dass die Tage so erfolgreich und friedlich verlaufen sind. Die Polizei hat insgesamt 1 430 Menschen in Gewahrsam genommen - nur weil sie sich versammelt haben. ({4}) Mehreren Hundert Menschen hat die Polizei die Einreise nach Frankfurt versagt. Diese Platzverweise hat die Polizei auch dann noch ausgesprochen, als sie vom Gericht als unrechtmäßig eingestuft wurden. In einem Polizeibericht steht als Grund der Festnahme: „Antikapitalismus“. ({5}) Wo bleibt hier die Meinungsfreiheit? ({6}) Es ist die bittere Ironie der Geschichte, dass Boris Rhein, der heutige hessische Innenminister, mit dem hohen Stellenwert des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit 2007 den polizeilichen Großeinsatz zum Schutz einer Nazidemonstration mit 1 500 gewalttätigen Neonazis gerechtfertigt hat. Das ist Versammlungsfreiheit, wie sie die hessische CDU versteht. ({7}) Folgenden Bericht einer 60-jährigen Stuttgarterin habe ich erhalten: Wir nahmen trotz Verbot das Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch. … Unsere Gruppe wurde umgehend von Polizeitrupps flankiert, besprungen, ({8}) gestoppt, gekesselt, abtransportiert ins Polizeipräsidium, dort erst mal im Käfig gehalten, dann wiederholte zähe, schwerfällige Personalienkontrolle, danach der Höhepunkt der Demütigung: Nacktkontrolle mit der Drohung: „Wenn Sie sich nicht selbst ausziehen, tun wir das für Sie“. Von der Käfighaltung bis zur Entlassung vergingen circa 4,5 Stunden. Auch ich habe selbst mehrfach Provokationen von Polizisten erlebt. Es ist ein Hohn, wenn die Oberbürgermeisterin Roth den Polizeieinsatz im Nachhinein als „besonnen“ rechtfertigt. Die Einzigen, die an diesen Tagen wirklich besonnen waren, waren die Demonstranten, die auf diese Provokationen nicht reagiert haben. ({9}) Das Demonstrationsverbot war rein politisch motiviert. Der Protest gegen das Spardiktat der Troika wurde bewusst diffamiert und kriminalisiert. Ich frage Sie: Warum haben Sie so viel Angst vor den Protesten im Frankfurter Bankenviertel? Weil die Kritik der Demonstranten ins Schwarze trifft. Weil Sie eine Politik für das reichste Prozent der Bevölkerung machen. Weil Sie die Profite der Banken und Konzerne sichern und mit dem Fiskalpakt einen europaweiten Sozialkahlschlag erzwingen wollen. Ihre Sparauflagen sind Verarmungsprogramme für die arbeitende Bevölkerung in Europa. Sie haben Angst, dass diese sich gegen Ihre Politik wehrt. ({10}) Um das zu verhindern, hebeln Sie demokratische Rechte aus. Das ist ein Skandal. ({11}) - Sie zum Beispiel. Die Regierung. ({12}) Da machen wir nicht mit. Die Unterstützung, die wir von der Bevölkerung in Frankfurt erfahren haben zeigt, dass wir damit nicht alleine stehen. Wir fordern die rückhaltlose Aufklärung über die Polizeiübergriffe in Frankfurt, und wir unterstützen das Bündnis „Blockupy Frankfurt“ in seiner Klage gegen das Versammlungsverbot. ({13}) Wir versprechen Ihnen: Wir kommen wieder. ({14}) Die Linke ist die einzige im Bundestag vertretene Partei, die an den Protesten von Anfang an beteiligt war. Ich sage: Ich hätte mir gewünscht, dass sich Grüne und SPD stärker in diesen Prozess eingebracht hätten. ({15}) Wir stehen mit unserem Protest an der Seite der Griechinnen und Griechen, die den Angriff auf ihre Lebensgrundlagen ablehnen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war gerade in Griechenland ({16}) und habe die Angst und die Wut der Menschen gespürt, die wissen, dass dann, wenn nicht eine linke Antwort kommt, eine Regierung an die Macht kommt, die bereits im Juni 12 Milliarden Euro bei den Renten und im Gesundheitsbereich kürzen wird - und das, obwohl schon jetzt nicht genug Spritzen und Handschuhe da sind, um alle lebensnotwendigen Operationen durchführen zu können. Ihre Freiheit ist nicht die Demonstrationsfreiheit, sondern die Freiheit der Banken. ({17}) Wir stehen für ein Europa von unten - gegen ein Europa der Banken und Konzerne! Und das können Sie uns nicht verbieten. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die Unionsfraktion. ({0})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Buchholz, wo leben Sie eigentlich? Sie sind Realitätsverweigerin. ({0}) Die Stadt Frankfurt am Main und alle Gerichte haben die Demonstrationsfreiheit gesichert. Es gab eine Großveranstaltung am 19. Mai im Frankfurter Bankenviertel. ({1}) Das ermöglichte fast 20 000 Menschen - 20 000 Menschen! -, quer durch die Stadt zu demonstrieren. ({2}) - Nein, das wurde genehmigt, auch von der Stadt Frankfurt. ({3}) Eine Dauerblockade der gesamten Frankfurter Innenstadt über vier ganze Tage war nicht zu verantworten. Das wäre zudem, wie deutlich wurde, rechtswidrig gewesen. Alle Sicherheitsaspekte, aber natürlich auch die Grundrechte der in diesem Bereich lebenden und arbeitenden Menschen waren gute Gründe für dieses Verbot. Für die Feuerwehren und für die Rettungswagen wäre überhaupt kein Durchkommen mehr gewesen, wenn man all das zugelassen hätte, was angemeldet worden ist. ({4}) Man muss wissen: Blockupy hatte dazu aufgerufen, als Blockadehilfsmittel - das hören Sie sich einmal an! Krankenhausbetten auf die Straße zu stellen, ({5}) Einkaufswagen, ({6}) Leitern, Schlauchboote, Einrichtungsgegenstände und Transparente mitzubringen, ({7}) um ein Durchkommen völlig unmöglich zu machen. Es wurde dazu aufgerufen, das Polizeiaufgebot durch die Masse der Demonstranten zu „fluten“. ({8}) Die Gerichte haben dazu festgestellt: Selbst wenn solche gezielten Blockaden noch unter den Schutz der Versammlungsfreiheit fallen sollten, weil sie nur „demonstrativ“ gemeint seien und nicht mit Gewalttätigkeiten einhergingen, seien sie jedenfalls deswegen rechtswidrig, weil den damit verbundenen Grundrechtsbeeinträchtigungen der in diesem Bereich wohnenden Frankfurter Bürger … und der Vielzahl der sonst von derartigen Aktionen Betroffenen … größeres Gewicht einzuräumen ist. Blockupy ist nicht allein auf der Welt. Es gibt auch noch andere Menschen. ({9}) Zudem war bekannt, dass Gruppierungen mobilisiert hatten - da sind Sie aktiv, die Hauptinitiatoren -, ({10}) die bereits am 31. März 2012 in Frankfurt am Main für höchst gewalttätige Ausschreitungen verantwortlich waren. ({11}) Das Gericht und die Stadt Frankfurt sahen in diesen Aktionen mit gutem Grund am Ende eine massive Störung der öffentlichen Sicherheit ({12}) und bewerteten sie als Straftaten, zumindest aber als strafbare Nötigung der davon betroffenen Bürger. Paramilitärische Vokabeln der Blockupy-Aufrufe - Sie haben die Vokabeln selber gewählt - wie „Belagerung“, „Besetzung“, „Eroberung“, „Verpfropfen von Zufahrtswegen“, „Wegspülen von Polizeikräften“ haben ganz ungeniert Gewaltbereitschaft signalisiert und angekündigt. ({13}) - Es war zu lesen im Internet, in Aufrufen, in Flugblättern. - Die Organisatoren der Aktion - das finde ich bedenklich - reklamierten für sich ein schrankenloses Selbstbestimmungsrecht, auch mit illegalen Aktionen zulasten anderer. Eine Originalaussage lautete: „Unsere Aktionsplanung ist nicht abhängig davon, ob Gerichte meinen, dass wir das dürfen oder nicht. Rechte leben davon, dass man sie sich nimmt.“ - Wir leben hier doch nicht im Wilden Westen! ({14}) Wir leben in einem Rechtsstaat. Da kann sich nicht jeder nehmen, was er gerade möchte. ({15}) Diese Aussage spricht Bände. Sie haben ein feines Rechtsverständnis, wenn Sie darauf beharren. ({16}) Blockupy reklamiert für sich einen ganz eigenen rechtsfreien Raum als persönliches Recht. ({17}) Gesetze lassen Sie nicht gelten. Deshalb ist für die Beurteilung der Aktionen, wie der Hessische Verwaltungsgerichtshof ja feststellte, von Bedeutung, dass die Organisatoren der Blockupy-Frankfurt-Tage offenbar gar nicht daran denken, sich an gerichtlich bestätigte Versammlungsverbote zu halten. Die Linkspartei war federführende Antragstellerin für dieses Aktionsbündnis. Aber selbstverständlich waren viele einschlägig bekannte Gewaltgruppen dabei. Mich erschreckt die Tatsache, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten - das will ich ganz offen sagen -, ({18}) dass sich die Jungsozialisten an die Seite dieser rechtswidrigen Aktionen gestellt haben. ({19}) Die Jungsozialisten haben sich damit ganz offen mit dem gewalttätigen Aktionsbündnis solidarisiert. ({20}) Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben damit ein Problem mit einer Scharnierfunktion in den Linksextremismus. Darüber sollten Sie schon einmal nachdenken. ({21}) Ein Wort zu den Banken: Wir sind in einer schwierigen Situation, was die Schuldenkrise angeht. Ich kann nur eines sagen: Ein Mensch, der keine Schulden macht, eine Stadt, die keine Schulden macht, ein Land, das keine Schulden macht - über all die hat die Bank keine Macht. Wenn alle Schulden machen, dann geben wir den Banken Macht in die Hand. ({22}) Deshalb ist es richtig, eine Schuldenbremse einzuziehen und künftig keine Schulden mehr zu machen. ({23})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Rüdiger Veit hat nun für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal an Ihre Adresse, Frau Buchholz: Es gibt durchaus einige Sozialdemokraten, die sich mit dem Kernanliegen der Occupy-Bewegung identifizieren könnten und womöglich an der Demonstration hätten teilnehmen können. ({0}) - Ist ja in Ordnung. Ich persönlich wollte Ihnen gerade sagen, warum ich nicht dort war: Zur gleichen Zeit fand in Berlin ein Familienfest statt. Ansonsten hätte ich inhaltlich keine Probleme gehabt, an einer Demonstration teilzunehmen. ({1}) Kollegin Steinbach muss ich allerdings in einigen Punkten widersprechen. Zunächst einmal ist es schön, dass Sie sich um unsere Jusos in Frankfurt Gedanken machen. ({2}) - Das tun wir manchmal auch, vielleicht aus anderen Gründen. - In diesem Punkt kann ich es aber nicht beanstanden, wenn sie sich mit den Inhalten und den Zielen der Demonstration identifizieren und sich mit anderen Sozialdemokraten gegebenenfalls daran beteiligt haben - ganz im Gegenteil. Um es einmal überspitzt zu formulieren: Es waren Ihre Parteifreundinnen und -freunde, Frau Kollegin Steinbach - der hessische Innenminister Rhein, die Oberbürgermeisterin Roth und der Ordnungsdezernent Frank -, die die Stadt Frankfurt und damit auch das Land Hessen in, wie ich finde, ziemlich unerträglicher Weise in ihrem Image geschädigt und ihren Ruf ausgesprochen blamiert haben. ({3}) Frankfurt bezeichnet sich gerne als die Hauptstadt des europäischen Kapitals. Deswegen waren die OccupyAktivisten durchaus an der richtigen Adresse. Wo anders als im Bankenviertel hätte man gegen das, was vielleicht nicht alle hier im Hause, aber einige Sozialdemokraten und auch andere beklagen, demonstrieren sollen, wo sonst hätte man die Verursacher der Finanzkrise in die Verantwortung nehmen sollen und dafür kämpfen sollen, dass diejenigen nicht davonkommen, die die Finanz- und Euro-Krise mit verursacht haben bzw. mit falschen Mitteln bekämpfen wollen? Aber diese Diskussion würde jetzt hier im Plenum zu weit führen. Es verhielt sich vielmehr umgekehrt: Die, gegen die demonstriert werden sollte, waren diejenigen, die es nicht ausgehalten haben; man könnte fast sagen: Das große Kapital hatte große Angst ({4}) vor Krankenhausbetten und Einkaufswagen. Man glaubt es kaum! Frau Kollegin Steinbach, Ihre Ausführungen haben mich nicht überzeugt. Denn ich meine, man muss nach vier Tagen der Blockupy-Aktivität bzw. Nichtaktivität, weil viele Aktionen nicht stattfinden konnten, sagen: Das Bündnis der Demonstranten, die friedlich waren, hat gewonnen, die Stadt, ein Stück weit auch das Land Hessen haben sich blamiert. Ich bleibe dabei. ({5}) Ich habe jetzt keine große Lust - das wird vielleicht ein Kollege von mir noch machen -, Ausführungen dazu zu machen, warum die rechtliche Erwägung seitens der Stadt, seitens des Verwaltungsgerichts Frankfurt und seitens des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vielleicht richtig gewesen sein könnte, dass man eine dreitägige, dauerhafte Blockade mit vielen Tausend Menschen innerhalb eines Innenstadtkerns selbst bei Beachtung des Rechts der Versammlungsfreiheit und der Meinungsäußerung kritisch sehen muss, wenn es um die Frage geht, ob dadurch andere Grundrechtsträger hätten beeinträchtigt werden können. ({6}) Es ist doch eines festzuhalten - das ist das Blamable -: Frankfurt wollte das Ganze völlig plattmachen. Erst das Verwaltungsgericht Frankfurt und der Hessische Verwaltungsgerichtshof mussten entscheiden: Die Demonstration jedenfalls darf stattfinden. Es war die Stadt, die im Übrigen gegen den entsprechenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt dann auch noch in die zweite Instanz gegangen ist, um es dort verbieten zu lassen. Deswegen ist es richtig, wenn ich vorhin gesagt habe: Die Stadt hat sich blamiert; das Bündnis und die Idee, die es vertreten hat, haben im Grunde genommen gewonnen. ({7}) Ich sprach von der Angst. Da würde ich gerne mit einem Zitat aus der FAZ schließen: Solch große Angst kann nur einem schlechten Gewissen entspringen. Man denkt an die hübsche Maxime von Georges Pompidou, nach der eine Revolution dann gesiegt hat, wenn sich die Idee ihrer Unvermeidlichkeit in den Köpfen ihrer Gegner festgesetzt hat. Und wenn eine ganze Stadt, eine ganze Branche sich aus lauter Angst tot stellt, so sieht das schon sehr eingeschüchtert aus. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Stefan Ruppert. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Gewährung der Versammlungsfreiheit und der Demonstration derer, die genau gegen das demonstrieren, was man vielleicht selbst für richtig und wichtig erachtet, beweist oft ein wirklich liberales Grundrechtsverständnis. Insofern war ich durchaus erleichtert, als ich gelesen habe - ich kann es nicht beurteilen -, dass die Hauptdemonstration von Occupy weitgehend friedlich verlaufen ist. ({0}) Auf der anderen Seite sind Sie es sehr häufig, die dann, wenn Menschen demonstrieren, die nicht Ihrer Meinung und auch nicht unserer Meinung sind - Menschen von pro NRW und anderen Gruppierungen -, danach rufen, ebendiese Versammlungsfreiheit einzuschränken. ({1}) Glauben Sie mir: Bei all diesen Demonstrationen beschleicht mich oft das Gefühl, dass die Demonstranten genau das Gegenteil dessen sagen, was ich persönlich denke, und trotzdem setze ich mich dafür ein, dass die Demonstrationsfreiheit und die Versammlungsfreiheit geschützt werden. Nur, im Fall von Occupy gingen die Dinge etwas weiter. Glauben Sie mir: Beim Bundesverfassungsgericht gibt es seit vielen Jahren eine gefestigte Rechtsprechung, die sich regelmäßig pro Versammlungsfreiheit ausspricht. Ich habe schon ein Zutrauen in unsere Gerichte, dass das Verbot einer Versammlung, das hier ausgesprochen und von allen Instanzen bestätigt worden ist - auch vor dem Bundesverfassungsgericht hatte das Verbot Bestand -, nicht einer Willkür entsprang, sondern sehr wohl begründet war. ({2}) Sie tun ja so, als ob Sie einzelne schwer vermögende Banker sozusagen daran gehindert hätten, ihren vermeintlichen „Untaten“ nachzugehen. ({3}) Nein, dieses Bündnis hatte zum Ziel, Teile der gesamten Stadt sozusagen in Geiselhaft zu nehmen. ({4}) Ich weiß, wovon ich spreche: Ich wohne da und wollte an dem Tag mit dem Zug nach Karlsruhe bzw. Mannheim fahren. Das war nicht zielgenau, sondern das wäre eine Zumutung für viele Bürger dieser Stadt gewesen, wenn Sie die Dinge hätten so durchziehen können, wie das damals intendiert war. ({5}) Grundsätzlich halte ich es für gut, dass eine Demonstration stattgefunden hat, wenn ich auch deren Inhalte nicht teile. Ich bin aber zugleich froh, dass es nicht möglich war, die gesamte Stadt Frankfurt und all diejenigen sozusagen in Geiselhaft zu nehmen, die überhaupt nichts mit den Banken zu tun haben, nämlich Menschen, die einfach nur dort leben und ihrer Arbeit nachgehen. ({6}) Insofern war das Ganze absolut verhältnismäßig. ({7}) Ich will jetzt nicht zu sehr ins Parteipolitische abgleiten, möchte aber Folgendes feststellen: Sie haben zu dieser Frage eine ganz klare Meinung, ebenso wie CDU/ CSU und FDP. Diese Meinungen sind diametral entgegengesetzt. Ganz interessant in diesem Zusammenhang ist die Haltung der Frankfurter Grünen dazu. Auf der einen Seite bilden sie mit den Magistrat - wobei der Ordnungsdezernent nur ein Teil der ganzen Veranstaltung ist - und tragen somit politische Verantwortung für diese Stadt, auf der anderen Seite kritisieren sie in der Person des Fraktionsvorsitzenden vehement, dass so viel unter21770 sagt worden ist. Ich bewundere oft diese Taktik der Grünen, sowohl für das eine als auch für das andere zu sein. Als überzeugter Demokrat jedoch müsste man sich irgendwann doch einmal für eine Meinung entscheiden. Dafür kann ich nur plädieren. ({8}) Sie haben das auch bei der Frankfurter Oberbürgermeisterwahl sehr geschickt gemacht - hier könnte man in eine genauere Exegese gehen -, indem Sie nämlich so getan haben, als ob Sie eigentlich für die Veranstaltung seien, ({9}) dann aber daran mitgewirkt haben, diese Veranstaltung zu verbieten. Am Ende bleibt: Wir müssen auch die Versammlungen aushalten, die uns von den Inhalten her nicht gefallen. Das tun wir. Wir müssen uns aber nicht gefallen lassen, dass eine Versammlung eine gesamte Stadt in Geiselhaft nimmt. Das ist in Frankfurt zum Glück unterblieben. Dafür bin ich ausgesprochen dankbar. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist alles nett, was hier gesagt wird. Ja, ich bin demonstrationserfahren und auch schon ein paar Jahre älter als die Kollegin Gohlke, die vorhin geredet hat und meinte, das sei das erste Totalverbot für eine Demonstration in einer Stadt gewesen. Das war es beileibe nicht. Ich habe das in Berlin-West erlebt, ich habe das in Dortmund und in vielen anderen Orten erlebt. ({0}) - Lassen Sie mich das doch klarstellen. Ich muss auch sagen: Wenn ich Sie hier so sitzen sehe, dann sehe ich all diejenigen, denen in dieser Woche Oskar Lafontaine abhanden gekommen ist. ({1}) Das ist ein richtiger Ausschnitt aus der Fraktion der Linkspartei. So waren auch Ihre bisherigen Redebeiträge. ({2}) Ich habe mich wirklich gefragt: Was soll denn diese Debatte am Freitag vor Pfingsten um 16 Uhr? Das ist eine Debatte, die eigentlich in die Stadtverordnetenversammlung von Frankfurt am Main oder in den Hessischen Landtag gehört, aber wahrlich nicht in den Bundestag. ({3}) - Liebe Freundinnen und Freunde, ich genieße ja diesen Agit-Prop-Auftritt, also weiter so. Aber einige Wahrheiten wird man doch sagen dürfen. Wir finden die Ziele der Occupy-Bewegung sogar richtig. Solange die Finanzmärkte die Politik bestimmen und nicht die Politik die Finanzmärkte, gibt es Handlungsbedarf und Grund für Proteste. Aber man muss doch auch berücksichtigen, dass diese Proteste in Frankfurt am Main schon seit Monaten stattfinden. Dort gibt es ein Camp in der Taunusanlage, in das die Banker sogar hineingegangen sind. Ich selber habe mir das schon im November vergangenen Jahres angesehen. Sie verweisen jetzt so gerne auf den schwarz-grünen Magistrat in Frankfurt. Als hier in Berlin noch Rot-Rot regierte, wurde ein solches Camp nicht einen Tag lang vom Senat geduldet. ({4}) Es musste auf Privatgelände gezeltet werden. In Frankfurt hingegen darf jetzt wieder in der Taunusanlage kampiert werden, auch weil sich die Grünen dafür eingesetzt haben. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Wir sind uns alle einig: Art. 8 des Grundgesetzes ist ein essenzielles Grundrecht. Insbesondere wir als Parlament müssen es zu schätzen wissen. Adolf Arndt hat es einmal als Stachel im Fleisch der repräsentativen Demokratie bezeichnet. Wir respektieren es. Ich stelle fest, dass Frau Steinbach in diesem Zusammenhang recht hat. ({5}) - Ja, sie kann auch einmal recht haben. ({6}) - Lieber Kollege Wiefelspütz, Sie haben fast jeden Tag recht und Frau Steinbach einmal im Jahr. ({7}) In dieser Relation werden wir uns doch näherkommen können. Das Recht, eine ganze Innenstadt lahmzulegen, wie es in den Aufrufen stand, ist aus Art. 8 nicht abzuleiten, da beißt die Maus keinen Faden ab. ({8}) Lieber Herr Kollege Veit, wenn es um Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs oder des Bundesverfassungsgerichts geht, bin ich als Teil der Legislative etwas zurückhaltend und sage nicht: Das sind falsche Urteile, das hätten sie anders machen müssen. ({9}) Wir hätten uns gemäß der Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wirklich ein anderes Verhältnis zwischen Veranstaltern und Versammlungsbehörde gewünscht. Wir hätten uns Abrüstung gewünscht, keine Paranoia, keine Banker in Kapuzenpulli etc., sondern ein differenziertes Vorgehen. ({10}) - Lieber Kollege Ruppert, was Sie hier alles sagen, gehört in die Stadtverordnetenversammlung. Wir können uns nur fragen: Was geht das den Bundestag an? Als Bundestag können wir nicht einfach sagen: Diese abwägenden Entscheidungen der Justiz waren falsch. ({11}) - Sie können das Grundgesetz offenbar besser auslegen als das Bundesverfassungsgericht; das sehe ich. Glauben Sie wirklich, dass Sie als Linkspartei uns belehren können, wie man das Demonstrationsrecht wahrt? Da sind Sie genau die Richtigen. Als Sie noch SED hießen, gingen Sie mit Panzern gegen demonstrierende Arbeiter vor. Das haben wir nicht vergessen. ({12}) Eine Belehrung von Ihnen über Demonstrationsrecht verbitten wir uns. Angesichts der bevorstehenden Feiertage will ich versöhnlich enden. Ich wünsche uns allen Erleuchtung, insbesondere der Linkspartei. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die Unionsfraktion. ({0}) - Kollege Wiefelspütz, zurzeit hat Kollege Schuster das Wort. ({1}) Man hat Ihnen doch Redezeit gegeben; Sie sind gleich dran. ({2}) Zügeln Sie Ihre Ungeduld, und hören Sie erst einmal dem Kollegen Schuster zu.

Armin Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Wiefelspütz, ich möchte Ihnen recht geben. ({0}) Ich habe soeben den gesamten verfassungsrechtlichen Teil aus meinem Manuskript gestrichen, weil ich der schwarz-grünen Erklärung vom Abgeordneten Wieland inhaltlich vollständig folge. Das hätte ich mir vor einigen Jahren noch nicht vorstellen können, vor allen Dingen dann, wenn es um das Versammlungsrecht geht. Herr Wieland, herzlichen Dank. ({1}) Lebensqualität in einem demokratischen Rechtsstaat bedeutet für mich, mit Freude und mit Freunden friedlich zu demonstrieren, seine politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen zeigen zu können: Jung und Alt auf der Straße, bunte Plakate und keine schwarzen vermummten Blocks, sondern witzige Aktionen, aber auch ernste Töne und starke Aussagen. ({2}) Lebensqualität bedeutet für die allermeisten von uns nicht, Innenstädte zu blockieren, Angst haben zu müssen, von Steinen getroffen zu werden, abgefackelte Autos, spießrutenlaufende Bankangestellte und Rauchschwaden. Das sind Bilder, die wir aus mancher Großstadt kennen und die für uns nichts mit Versammlungsfreiheit zu tun haben. Jetzt überspringe ich den Teil über das Verfassungsrecht, verweise auf den Abgeordneten Wieland und komme direkt zum Bundesverfassungsgerichtsurteil. ({3}) Das Bundesverfassungsgericht hat letztlich auf der Grundlage einer polizeilichen Gefahrenprognose der Stadt Frankfurt recht gegeben. Wie kommt die Polizei eigentlich zu einer Gefahrenprognose? Da hilft ein Blick ins Einsatztagebuch: Armin Schuster ({4}) 31. März 2012: Ausschreitungen bei einer kapitalismuskritischen Demo in Frankfurt am Main. Farbbeutel gegen die EZB. Pflastersteine gegen Schaufensterscheiben. 15 Beamte wurden verletzt. ({5}) Wie richtig die Prognose war, zeigen die Eintragungen vom 17. Mai 2012: Polizei löst eine nicht genehmigte, aber stundenlang tolerierte Demo am Frankfurter Rathausplatz auf. Es kommt zu Rangeleien bei der Räumung des Zeltlagers. 18. Mai 2012: Aktivisten versuchen trotz Verbots, verschiedene Plätze in der Frankfurter City zu besetzen. ({6}) Die Polizei soll geflutet werden. 19. Mai 2012: Es wurden 600 Personen in Gewahrsam genommen. Vorkontrollstellen sind ein sehr bewährtes Mittel, die wirklich Demonstrationswilligen durchzulassen, ihnen ihr Recht zu geben und die anderen ein wenig zu beschäftigen. Meine Damen und Herren, in Frankfurt am Main wurde am 19. Mai die Versammlungsfreiheit durch das besonnene Vorgehen der Behörden und der Oberbürgermeisterin Petra Roth auf kluge Art und Weise bewahrt. ({7}) Die Blockupy-Aktivisten - immerhin 20 000 - durften demonstrieren. Das geschah, obwohl vor Ort 2 000 gewaltbereite Randalierer - Demonstranten nenne ich die jetzt nicht - bereit waren, ihr Unwesen zu treiben. Massive Polizeipräsenz schirmte diesen schwarzen Block ab und gewährleistete so den wirklichen Versammlungsteilnehmern, dass sie für ihre Anliegen friedlich werben konnten. ({8}) - Ich werte das gar nicht, aber ich finde gut, dass sie dafür werben konnten. So sieht Versammlungsfreiheit im Rechtsstaat aus. Apropos Rechtsstaat: Ihnen, meine Damen und Herren, müssen wir diese Aktuelle Stunde zugestehen, ganz sicher aber nicht die Kompetenz, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Diskussion zu stellen. ({9}) Eine größere Legitimation hätte die Stadt Frankfurt für ihr Vorgehen gar nicht erhalten können. ({10}) Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass wir so die Gelegenheit haben, das Vorgehen der Stadt, der hessischen Landesregierung und der Polizeieinsatzleitung ausdrücklich zu loben. Wir, die christlich-liberale Koalition, freuen uns richtig über jede deutsche Stadt, der es gelingt, den Menschen mit einer friedlichen Versammlungskultur ein Stück mehr Lebensqualität zu bieten und gleichzeitig Chaotenstadl als Dauerevent gar nicht erst entstehen zu lassen. Das hat Frankfurt sehr wirkungsvoll geschafft. ({11}) Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, auf die eingesetzten Polizeibeamtinnen und -beamten hinzuweisen. ({12}) Die Einsatzstrategie hat dafür gesorgt, dass eines unserer Kernprobleme zurzeit, nämlich steigende Gewalt gegen Polizeibeamte, jedenfalls am 19. Mai nicht zum Tragen kam. Wer als Politiker in Reden die deutlich steigende Gewalt gegen Polizisten ehrlich bedauert - wie zum Beispiel die Gewalt gegen die 15 verletzten Beamten am 31. März -, der hat in Debatten wie heute die Chance, Farbe zu bekennen, Herr Veit. Es geht - da haben Sie recht - nicht um die Krankenhausbetten, aber um 15 verletzte Beamte. Heute können Sie die Verantwortlichen für deren Strategie loben, dass es zu einer ähnlichen Situation nicht gekommen ist. Oder vielleicht geben Sie doch nur Lippenbekenntnisse ab, und ein paar verletzte Beamte müssen quasi als Bauernopfer herhalten. Entscheiden Sie sich! - Sie haben sich entschieden, Ihre Linie ist mir klar. Das kann ich nur kritisieren. ({13}) Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Linken, jetzt bin ich gut zwei Jahre hier und habe mich gerade an Ihre Anwesenheit gewöhnt. Wenn Sie sich diese Aktuelle Stunde vor Pfingsten gespart und stattdessen Ihre parteiinternen Auflösungserscheinungen bekämpft hätten, dann wäre das mit Sicherheit wesentlich sinnvoller gewesen. ({14}) In Frankfurt jedenfalls wurde die Demonstrationsfreiheit eindrucksvoll gesichert und die Kriminalisierung von Teilnehmern verhindert. Dafür herzlichen Dank an die Hessen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat der Kollege Dieter Wiefelspütz für die SPDFraktion das Wort.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist konstitutiv für unsere Demokratie. ({0}) Es hat einen überragend hohen Rang. Die Versammlungsfreiheit ist das Recht, sich zu versammeln - friedlich und ohne Waffen. Das heißt: Auf dieses Grundrecht kann ich mich nur dann berufen, wenn ich friedlich bin und wenn ich nicht bewaffnet bin. Wer nicht friedlich ist und wer bewaffnet ist, der kann das Versammlungsrecht nicht in Anspruch nehmen. Das gilt für uns alle, von links bis rechts. ({1}) Das ist die Grundlage unserer Verfassung. Ich bin der festen Überzeugung, dass es selbstverständlich das gute Recht von vielen Menschen ist, sich heute, morgen oder übermorgen in Frankfurt zu versammeln und gegen einen Turbokapitalismus zu demonstrieren - fantasievoll, wie auch immer, auch in ungewöhnlichen, neuen Formen des Protestes. Das ist das gute Recht der Menschen. Ich kann das gut nachvollziehen. Dieses Recht nehmen unter Umständen Zehntausende von Menschen wahr. Herr Ruppert hat sicherlich recht. - Es kommt selten vor, dass ich Ihnen recht gebe, Herr Ruppert, aber wenn Sie recht haben, haben Sie recht. - Herr Ruppert möchte nicht, dass ganze Stadteile sozusagen in Geiselhaft genommen werden - das ist etwas militant ausgedrückt -, wenn ein Grundrecht wahrgenommen wird. Umgekehrt will ich aber auch sagen: Es darf nicht sein, dass die große Mehrheit von Menschen, die friedlich demonstrieren wollen, in Geiselhaft genommen wird, weil einige, vielleicht auch einige wenige Hundert, gewaltbereit sind. Das ist, glaube ich, das schwierige Problem, das man in Frankfurt hat lösen müssen. Das ist möglicherweise - ich sage das mit aller Vorsicht, weil ich ungern Ferndiagnosen stelle - nicht ganz optimal gelöst worden. Dass gegen Finanzkapitalismus, Turbokapitalismus und so etwas friedlich demonstriert werden kann, ist eine Selbstverständlichkeit. Wir alle müssen, auch wenn wir nicht dabei sind, mit Leidenschaft für dieses Recht eintreten, selbst wenn man in der Sache anderer Auffassung ist. ({2}) Das ist konstitutiv für unseren Verfassungsstaat. Was aber nicht geht, ist, dass ein ganzer Stadtteil durch Demonstrationen sozusagen abgesperrt wird und - ich sage es einmal ganz drastisch - Arbeitnehmer nicht zu ihrer Arbeit gehen können. Das geht nicht. Ich fliege hin und wieder in die USA. Ich fliege wie Sie von Frankfurt aus. Wenn ich montags fliege, erkundige ich mich vorher, ob dort eine Demonstration stattfindet. Ich finde es völlig richtig, dass Menschen gegen Lärm im Terminal des Flughafens Frankfurt demonstrieren können. Dass ich als Nichtdemonstrant dadurch behindert werde, ist auch eine Selbstverständlichkeit. Das muss ich ertragen. Deswegen fahre ich dann einen Zug früher und bin eine oder zwei Stunden früher am Flughafen. Was aber nicht geht, ist, dass der ganze Flughafen dichtgemacht wird und Zehntausende von Menschen daran gehindert werden, zu fliegen. Überträgt man dieses Beispiel auf die aktuellen Vorkommnisse in Frankfurt, heißt das: Es muss möglich sein, diesen friedlichen Anspruch realisieren zu können. Das ist eine große Verantwortung. Es kommt selten vor, dass dieser schwarz-grüne Wieland einen richtigen Gedanken hat, aber an dieser Stelle hatte er ihn. Ich will das jetzt nicht oberlehrerhaft und besserwisserisch sagen, was ich am liebsten tue ({3}) - an dieser Stelle aber nicht -: Ich glaube, dass man jetzt, im Nachhinein, darüber nachdenken muss, ob in Frankfurt die Veranstalter der Versammlung und die Behörde optimal miteinander umgegangen sind. Hier haben alle eine große Verantwortung, die Behörde, aber auch die Veranstalter. Ich will keine Leute vorführen. Ich will in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass in einem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Kassel - das ist immerhin ein hohes Gericht -, bestätigt durch das Bundesverfassungsgericht, gesagt worden ist, dass die Veranstalter, die über das Internet kommuniziert haben, durch Verwendung geradezu paramilitärischer Sprachhülsen - Besetzung, Belagerung, Eroberung, Verpfropfung von Zufahrtswegen zur Zentralbank, Wegspülen von Polizeikräften - vor allem Gruppen und Personen ansprechen, die vor Gewalttaten nicht zurückschrecken und sie für ein legitimes Mittel zur Störung des öffentlichen Lebens halten. Ich unterstelle Ihnen von der Linkspartei nicht, dass Sie sich das zu eigen gemacht haben. Aber es ist natürlich ein Problem, wenn in dieser Art die Stimmung aufgeheizt wird und nur noch gegeneinander und nicht miteinander agiert wird. Das Versammlungsrecht muss gemeinsam hergestellt werden, sowohl von den Ordnungsbehörden wie auch von den Veranstaltern. ({4}) Da haben wir alle große Verantwortung. Herr Wieland hat recht - das ist jetzt aber das letzte Mal, dass ich ihm recht gebe -, wenn er sagt: Der Geist von Brokdorf, der Geist dieser wunderbaren großartigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, bedeutet „zusammenwirken“. Wir haben es leider als Gesetzgeber versäumt, dies rechtzeitig zusammenzuführen. Wir alle haben bei vielen Demonstrationen mitgemacht, ({5}) wir haben eine große Verantwortung dafür, dass die Demonstrationen friedlich ablaufen. Deswegen glaube ich, dass man in Frankfurt Grund hat, nachzuarbeiten; denn solche Dinge können sich wiederholen. Es darf nicht sein, dass wir solche Bilder erneut im Fernsehen sehen. Letztlich verliert die Demokratie, wenn friedliches Demonstrieren nicht möglich ist. Das ist das Bedauerliche. 95 Prozent oder 98 Prozent der Menschen dort wurden an diesen Tagen gehindert, ihren Demokratieanspruch friedlich zu verwirklichen. Ich denke, dieses Problem müssen wir gemeinsam lösen. Deswegen glaube ich, dass wir hier darüber diskutieren müssen. Das geht nicht mit Konfrontation, sondern nur im Miteinander.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Wiefelspütz, ich bin ein geduldiger Mensch, aber Sie müssen zum Schluss kommen.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin am Ende meiner Rede, Frau Präsidentin, und bedanke mich dafür, dass Sie mich heute zum zweiten Mal ertragen haben. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich unterbreche ja ungern den Disput, aber wir haben uns hier Regeln gegeben und müssen diese Regeln gemeinsam einhalten. ({0}) - Und friedlich; das ist richtig. - Das Wort hat der Kollege Marco Buschmann für die FDP-Fraktion. ({1})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Demonstrationen - das ist, glaube ich, Konsens in diesem Haus - finden wir alle gut. Uns allen hier ist jeder friedliche Demonstrant lieber als der heimliche Nörgler, der zu Hause auf dem Sofa sitzt und auf den starken Mann oder die starke Frau wartet, der oder die dann die Verhältnisse mit Gewalt ändert. Das ist selbstverständlich. Selbstverständlich weiß auch jeder hier den Grundgedanken der Brokdorf-Entscheidung zu schätzen, dass nämlich durch die gemeinsame Willensbekundung in Versammlungen erreicht werden kann, gerade in unserer Mediendemokratie Aufmerksamkeit auf Probleme zu wenden, die in der Öffentlichkeit möglicherweise noch nicht entsprechend stark Anklang finden. Deshalb ist es richtig, dass in unserer Rechtsordnung die Versammlungsfreiheit eine so wichtige Stellung hat und grundrechtlich geschützt ist. Das gilt selbstverständlich auch für die friedlichen Demonstranten in Frankfurt, und das gilt auch gerade dann, wenn man anderer Meinung ist als die Demonstranten; da schließe ich mich ausdrücklich den Ausführungen des Kollegen Ruppert an. Die Stärke der Versammlungsfreiheit wird bewiesen, wenn man das Recht zu demonstrieren auch für diejenigen verteidigt, die anderer Meinung sind als man selber. Ich möchte hier klarstellen: Ich halte das, wofür da demonstriert wird, für falsch. Ich glaube, dass uns Globalisierung und Freihandel nicht geschwächt haben. Ich glaube, dass der ärmste Teil der Weltbevölkerung davon profitiert hat. ({0}) Das kann man auch belegen. Die ärmsten 20 Prozent der Weltbevölkerung haben in den letzten Jahrzehnten ihren Lebensstandard - diese Berechnung ist inflations- und kaufkraftbereinigt - verdoppeln können. Das hat den Menschen also geholfen. Da bin ich anderer Meinung als die Demonstranten in Frankfurt. Aber das ist egal; sie sollen trotzdem demonstrieren können. ({1}) Ich bin auch nicht der Meinung, dass allein in Frankfurt die Ursachen für die Finanzkrise zu finden sind; denn wenn wir diese riesigen Schuldenberge nicht aufgetürmt hätten, dann könnten sie uns heute nicht bedrohen. ({2}) Zum Schuldenmachen gehört nicht nur jemand, der Kredite ausreicht, sondern auch jemand, der sie abruft. Das war die Politik. Über Jahrzehnte wurde eine hemmungslose Verschuldungspolitik betrieben. ({3}) Da bin ich ausdrücklich anderer Meinung als die Demonstranten in Frankfurt. Trotzdem sollen sie ihre Meinung sagen können; das gehört selbstverständlich dazu. Aber: Niemandes Recht ist es, den freiheitlichen Rahmen, den unser Grundgesetz zu genau diesem Zweck bietet - darüber ist hier schon viel gesprochen worden -, gezielt zu missachten. Insofern ist die Grundthese der Linken in dieser Aktuellen Stunde - hier wird von Kriminalisierung gesprochen - grundfalsch. Das Grundgesetz sieht nämlich Schranken der Versammlungsfreiheit vor. Dadurch soll der schwierige Ausgleich zwischen den verschiedenen Grundrechtsträgern, von dem auch Herr Kollege Wiefelspütz gerade gesprochen hat, hergestellt werden. Es ist richtig - auch das ist hier schon vorgetragen worden -, dass Polizei und Gerichte die Versammlungsfreiheit nicht als schrankenlos ansehen und sie nur kontemplativ betrachten sollen, sondern dass sie die Grenzen der Versammlungsfreiheit konkretisieren müssen. ({4}) Über Monate hinweg ist in Frankfurt bereits demonstriert worden. Über Monate hinweg haben dort Aktionen stattgefunden. Man kann nicht ernsthaft behaupten, dass dieses Anliegen in Frankfurt nicht in die Öffentlichkeit getragen werden konnte. ({5}) Was war denn der Grund, weshalb die Gerichte, die Polizei und der Magistrat dort eingeschritten sind? Es ging nicht nur um die Rhetorik im Internet, auf die Herr Kollege Wiefelspütz hingewiesen hat, sondern es spielte auch eine Rolle, dass am 31. März dieses Jahres wirklich schlimme Zustände in Frankfurt geherrscht haben. Schuld daran war natürlich nicht das Gros der Demonstranten. Aber Sie wissen, dass der schwarze Block eiMarco Buschmann nen Polizisten lebensgefährlich zusammengetreten hat, einem anderen Polizisten ätzende Chemikalien ins Gesicht gesprüht hat und dass weitere Polizisten verletzt worden sind. Sie wissen auch: Wenn erst einmal Gewalt in der Luft liegt, ist die Situation gefährlich, weil sich die Gewalt schnell ausbreitet. Auch das gehört zum Bild dazu. Wenn man angesichts einer konkreten Gefahr für die Polizisten versucht, die Gewalt einzudämmen und unsere Polizisten, die jeden Tag für friedliche Verhältnisse eintreten und ihren Kopf hinhalten müssen, vor solchen Angriffen zu schützen - ich füge hinzu: vor solchen feigen Angriffen zu schützen; denn Menschen, die am Boden liegen, lebensgefährlich zusammenzutreten, ist feige -, dann hat das nichts damit zu tun, dass eine Meinung unterdrückt werden soll. ({6}) Vielmehr wird auf diese Weise gegen eine Haltung der Rücksichtslosigkeit vorgegangen. Meine Damen und Herren, gegen den Geist der Rücksichtslosigkeit vorzugehen, hat nichts mit der Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit zu tun. Gegen Rücksichtslosigkeit vorzugehen, ist Rechtsstaatlichkeit. ({7}) Es wäre schön, wenn Sie lernen würden, wo die Grenze zwischen Rücksichtslosigkeit und Rechtsstaat zu ziehen ist. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Buschmann, zunächst will ich ganz deutlich sagen: Wenn es jemanden gibt, der Gewalt ablehnt, dann sind wir das. ({0}) - Was gibt es denn da zu lachen? - Allerdings: In der Logik dessen, was Sie gerade gesagt haben, müssten Sie sämtliche Spiele der ersten Fußball-Bundesliga untersagen, weil dort gewaltbereite Chaoten auf der Tribüne sitzen oder stehen. Das ist Ihre Logik. ({1}) Frau Kollegin Steinbach, wenn Sie sagen, Begriffe wie Blockade, Belagerung und Besetzung zu verwenden, sei die Aufforderung zur Gewaltbereitschaft, dann sage ich Ihnen: Nach Ihrer Logik war Mahatma Gandhi ein gefährlicher Gewalttäter. Das ist Ihre Logik. ({2}) Sie sind nicht in der Lage, die Grenzen, die hier gezogen werden müssen, vernünftig zu ziehen. ({3}) Jetzt komme ich zu den Gerichtsentscheidungen; auch ich bin ja Jurist. ({4}) Die Hessische Landesregierung, die Polizeiführung und der Frankfurter Magistrat haben von dem, was da angeblich bevorstand, ein Horrorszenario gemalt. Natürlich kann man auch Gerichte beeindrucken und zu falschen Entscheidungen führen. Sie haben es sogar geschafft, ein Informationszelt unserer Fraktion, in dem wir über unsere politischen Vorschläge zur Bewältigung der Finanzmarktkrise informieren wollten, zu verbieten. ({5}) Auch das wird übrigens noch ein juristisches Nachspiel haben. (Zuruf des Abg. Wolfgang Wieland ({6}) - Kollege Wieland, auf Sie möchte ich wirklich nicht eingehen. ({7}) Wie oft müssen Sie Ihre maoistische Vergangenheit denn noch unter dem Beifall der Union abarbeiten? ({8}) - Ja, das hat er verdient, nachdem er anlässlich dieser Veranstaltung sogar den Geist von Lafontaine über das Wasser hat schweben lassen. ({9}) Jetzt komme ich auf den Kern zu sprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich zitiere einmal ihren ehemaligen Generalsekretär Heiner Geißler. Unter der Überschrift „Der Kapitalismus zeigte wieder mal seine Krallen“ äußerte er sich folgendermaßen: Genau gegen diesen Stillstand und Reformstau wollte die Blockupy-Bewegung am Wochenende in Frankfurt demonstrieren, wurde aber von der deutschen und hessischen Obrigkeit in massiver Weise behindert. Wieder einmal hatten sich hier die Interessen der Finanzmärkte als stärker erwiesen als die Bürgerrechte des Grundgesetzes. ({10}) Heiner Geißler - Wort für Wort wahr. Was wir aus Frankfurt lernen, ist Folgendes: Wenn man in einer der Zentralen des Raubtierkapitalismus de21776 monstriert, dann kriegt man eine militarisierte Antwort, wie es sie in den letzten Jahren nicht gegeben hat. ({11}) Das zeigt mir etwas über die Machtverhältnisse in Deutschland. ({12}) Der nächste Schritt ist wahrscheinlich, dass Sie um das Bankenviertel eine Bannmeile ziehen wie um den Deutschen Bundestag. ({13}) Auch das würde eine hervorragende Darstellung der Machtverhältnisse sein, die hier ausgeübt werden. Sie reden hier über Gewalt. Das ist übrigens das, was einen Mann wie Heiner Geißler treibt. Ich empfehle Ihnen, in Zukunft über die mörderische Gewalt nachzudenken, die von den Spekulationen auf Nahrungsmittel ausgeht. ({14}) Das läuft an Ihnen herunter wie an irgendwelchen lackierten Anzügen. Ich empfehle Ihnen, über die mörderische Gewalt nachzudenken, die dadurch ausgeübt wird, dass Menschen in Griechenland, die Diabetes haben, kein Insulin mehr bekommen, und über die mörderische Gewalt, die sich dadurch zeigt, dass Operationen nicht durchgeführt werden. Wenn sich zum Beispiel eine 60-jährige Schwäbin, die sich unter der Androhung, es werde ihr sonst dabei geholfen, nackt ausziehen muss, darüber empört, dann, so muss ich sagen, liegen da unsere Sympathien und nicht bei Ihnen. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Sensburg das Wort. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, wenn Sie mehr Zeit mit den Bürgern verbringen und ihnen zuhören würden, ({0}) wenn Sie mehr Zeit im Parlament verbringen würden statt in der außerparlamentarischen Opposition und im Straßenkampf, dann würden Sie vielleicht wissen, dass demokratische Rechte und Grundfreiheiten etwas anderes bedeuten, als zu Gewalttätigkeiten aufzurufen und mit martialischen Begriffen um sich zu werfen. ({1}) Ich habe es schon im Rahmen eines anderen Tagesordnungspunkts gesagt: Welches Demokratieverständnis haben Sie, wenn in einer freiheitlichen Gesellschaft solche Begrifflichkeiten genannt werden? Ich mache mir große Sorgen, wenn Sie als Mitorganisator dieser Veranstaltung jedwede Verantwortung für die Gewalttaten von sich weisen. ({2}) Meine Damen und Herren von der Linken, Sie sind verantwortlich für Gewalttaten und für Ausschreitungen gegen die Polizei. Das können Sie nicht abschütteln. ({3}) Vielleicht müssen Sie sich einfach einmal ein wenig darüber informieren, was das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit beinhaltet. Ich schließe mich den professoralen Ausführungen des Kollegen Wiefelspütz völlig an, der zu Recht darauf hingewiesen hat, dass es um friedliche Versammlungen ohne Waffen geht. ({4}) Auf diesen hat man das Recht, jede Meinung zu sagen, Plakate hochzuhalten, sich in Gruppen zu versammeln und sich laut oder leise zu äußern. ({5}) Man hat aber nicht das Recht, bewaffnet, in Uniform, in einheitlicher Kleidung, aufzutreten. ({6}) Man hat nicht das Recht, zu prügeln, Ausschreitungen zu begehen, zu schlagen, zu beleidigen, zu verletzen, zu nötigen und zu treten. ({7}) Zu alldem gibt Art. 8 des Grundgesetzes kein Recht, auch wenn Sie es scheinbar immer noch anders meinen. ({8}) Der Kollege Wiefelspütz hat schon versucht, Ihnen Art. 8 näherzubringen. ({9}) Ich versuche es mit § 3 des Versammlungsgesetzes. Dieser Paragraf sieht das Verbot der Uniformierung, also des Tragens der gleichen Kleidung, vor. All das hat seinen Sinn. Es hat auch nach der schlimmen nationalsozialisDr. Patrick Sensburg tischen Vergangenheit seinen Sinn, dass man so nicht auftritt. Es ist wichtig, dass wir ein zentrales Recht der Demokratie nicht mit Füßen treten und es schützen. Es ist wichtig, dass wir Demonstrationen schützen. Das bezieht sich auf all das, was Sie machen, auch verbal. Die Kollegin Buchholz sprach davon, Sie hätten den Kessel verteidigt. Wo leben Sie denn? Was machen Sie mit diesem zentralen Grundrecht der Demokratie? Dadurch dass wir Straftäter verfolgen, schützen wir das Demonstrationsrecht und die Versammlungsfreiheit. ({10}) Aber Sie wollen das ja vielleicht gar nicht. ({11}) Sie wollen anscheinend Ausschreitungen fördern, und dann übernehmen Sie noch nicht einmal die Verantwortung. Ich finde das schändlich und traurig. ({12}) Der Kollege Schuster hat Ihnen berichtet, was passiert ist. Ich weiß nicht, ob Ihnen das alles nichts ausmacht. Polizisten wurden verletzt. ({13}) Sind das für Sie keine Menschen mit Familien? Dass 15 Polizisten teilweise schwer verletzt worden sind, dass Autonome einen Vermittler der Polizei geschlagen, zu Boden getreten und dann auf ihn eingeprügelt und ihn mit Reizgas besprüht haben, welches sie vorher mit Chemikalien vermischt haben, scheint Ihnen egal zu sein. ({14}) Meine Damen und Herren von der Linken, wichtig ist für uns, dass das Demonstrationsrecht nicht missbraucht wird und dass diejenigen, die demonstrieren wollen, auch demonstrieren können. ({15}) Das muss gesichert werden, weil es bei Demonstrationen anscheinend immer wieder eine Gruppe gibt, die die jeweilige Demonstration nutzt und Gewalttaten begeht. Wir setzen uns auf der einen Seite für das Demonstrationsrecht ({16}) und auf der anderen Seite für den Schutz der Demonstration und die Verfolgung der Straftaten ein. Das ist wichtig; denn das eine geht nur, wenn das andere auch gewährleistet ist. ({17}) Meine Damen und Herren von der Linken, diese Aktuelle Stunde ist nach meiner Meinung unsinnig und überflüssig. Sie zeigt, dass Sie versuchen, mit dem Demonstrationsrecht zu spielen, und dass Sie Bürgerrechte mit Rechten von Gewalttätern vermischen. ({18}) Das sind zwei Paar Schuhe, und ich hoffe, das werden auch Sie irgendwann lernen. Was Sie anscheinend nicht lernen, ist, dass man, wenn man innerparteiliche Schwierigkeiten hat und die Umfragewerte heruntergehen, nicht versucht, diese mit einem zentralen Recht der Demokratie wieder aufzupuschen. Anscheinend ist es bei Ihnen schon so weit, dass Sie Stimmen von Gewalttätern brauchen. An denen scheinen Sie Ihre Politik inzwischen auszurichten. Das finde ich traurig. Sie sind die Spalter der Demokratie. Ich glaube, hier hilft auch nicht der Heilige Geist von Pfingsten. Auf Sie wird er wohl nicht niederkommen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Feiertag. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Sebastian Edathy hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Sensburg, als gelernter Protestant und Sohn eines langjährigen Pastors kann ich Ihnen sagen: Der Heilige Geist ist für uns alle da. ({0}) Davon wollen wir auch die Linkspartei nicht ausnehmen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, die Tatsache, dass Sie uns hier an einem sonnigen Freitagnachmittag in der Aktuellen Stunde mit einem Thema behelligen, das von der Materie her eher in den Stadtrat von Frankfurt gehört, macht, glaube ich, deutlich, dass Sie mittlerweile gar keine Freunde mehr haben, mit denen Sie etwas anderes machen könnten, als uns hier aufzuhalten. ({2}) Ich muss jetzt nicht redundant werden und werde meine Redezeit von fünf Minuten auch nicht ausschöpfen. Eigentlich ist schon alles, was man sagen musste, von vielen vernünftigen Kollegen gesagt worden. Es gibt ein Recht auf Versammlungsfreiheit, und es gibt auch ein Demonstrationsrecht, aber es gibt eben kein Besetzungsrecht, und es gibt auch kein Blockaderecht. ({3}) Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wenn Sie das anders sehen, dann legen Sie doch einen Gesetzentwurf vor - das wäre übrigens auch ein Anlass, uns hier damit zu beschäftigen -, der das beinhaltet. Wenn wir aber über das geltende Recht sprechen, dann bin ich nicht bereit, mich hier kritisch über eine Genehmigungsbehörde zu äußern - das war nicht der Deutsche Bundestag, das war die Stadt Frankfurt -, und dann habe ich auch nicht die Absicht, mich als Teil des Bundestages kommentierend zu gerichtlichen Entscheidungen bis hin zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu äußern. ({4}) Was soll also die Debatte an dieser Stelle? Das ist nach meinem Dafürhalten ein reiner Profilierungsversuch. Herr Maurer hat hier mit viel Verve vorgetragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der ganz linken Seite des Hauses, wenn Sie sich im Rahmen Ihrer guten Kontakte zu Kuba ähnlich intensiv für die Gewährung von prokapitalistischen Demonstrationen in Havanna ({5}) wie für antikapitalistische in Frankfurt einsetzen würden, dann wäre uns allen mehr gedient. ({6}) Wir hier brauchen in Sachen Demokratie und in Sachen Grundrechte keine Belehrungen, jedenfalls nicht von Ihnen. Vielen Dank. Schönes Wochenende! ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die Unionsfraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am vergangenen Freitag kam ich an einer gesperrten Straße in Frankfurt mit einem Polizisten ins Gespräch. Er kam aus Nordrhein-Westfalen und war wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen für die Dauer der Proteste nach Frankfurt beordert worden. Vermutlich hätte er wie seine Kolleginnen und Kollegen auch viel lieber Zeit mit seinen Kindern, mit Freunden verbracht, den Feiertag mit einem anschließenden Brückentag ins Wochenende genossen, wie etwa der Kollege Veit. Stattdessen haben die Polizistinnen und Polizisten das Demonstrationsrecht geschützt, aber auch Leben und Eigentum der Menschen in Frankfurt. Sie haben sich angesichts der Drohungen gewaltbereiter Randalierer im Internet Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Die Sorgen der Angehörigen dieser Polizistinnen und Polizisten, ihrer Kinder, ihrer Eltern, ihrer Freunde waren durchaus berechtigt. ({0}) Ich bin froh, dass alle Polizistinnen und Polizisten wieder gesund und wohlbehalten nach Hause gekommen sind. Ihnen gilt unser besonderer Dank. ({1}) Unser Dank gilt auch der Polizeiführung und den Sicherheitsbehörden in Frankfurt am Main und Hessen, die dafür gesorgt haben, dass es in Frankfurt nicht zu Gewaltexzessen wie im März gekommen ist. Der hessische Innenminister Boris Rhein und der Frankfurter Ordnungsdezernent Markus Frank haben umsichtig und klug gehandelt. Umso erstaunter war ich, von der SPD-Generalsekretärin zu lesen, die Stadt Frankfurt habe den Sinn der Versammlungsfreiheit nicht verstanden. ({2}) Es ist schon mutig, aus der beschaulichen Idylle der Eifel die Sachlage in einer Stadt beurteilen zu wollen, die eine lange Tradition der Liberalität hat und mit Grundrechten nicht leichtfertig umgeht. ({3}) Deswegen sei zur Vorgeschichte Folgendes angemerkt: Für den Zeitraum von Mittwoch bis Samstag waren insgesamt 20 Veranstaltungen angemeldet, 17 davon sollten zentrale Punkte der Stadt blockieren, dazu eine Kundgebung und ein Rave-Event am Mittwoch und eine Demonstration am Samstag. Die Sicherheitsbehörden haben früh darauf hingewiesen: Es gibt hier kein Sicherheitskonzept. In einem Notfall kann für Leib und Leben der Menschen nicht garantiert werden. - Die Stadt hat in Gesprächen mit den Veranstaltern alternative Standorte vorgeschlagen, ({4}) die aber nicht angenommen worden sind. Überdies waren die Veranstalter selbst in der gerichtlichen Anhörung nicht bereit, sich von den Gewaltaufrufen zu distanzieren. Daraufhin hat die Stadt die Veranstaltungen verboten. Das Verwaltungsgericht hat dann die Verbote der Stadt weitgehend bestätigt. In der nächsten Instanz, die von den Aktivisten angerufen worden ist, wurde das Verbot dann noch erweitert. Es ist also alles mit rechten Dingen zugegangen, ({5}) und die Verantwortlichen hatten gute Gründe für ihre Entscheidungen. Es gibt kein schrankenloses Selbstbestimmungsrecht der Veranstaltungsform, vor allen Dingen dann nicht, wenn andere Grundrechte damit verletzt werden. ({6}) Man wünscht sich deshalb, dass Frau Nahles geschwiegen hätte. Umgekehrt hätte ich mir gewünscht, dass der neue designierte Frankfurter SPD-Oberbürgermeister etwas gesagt hätte. ({7}) Mich interessiert schon, welchen Stellenwert in einer solchen Situation für ihn die berechtigten Interessen der Frankfurterinnen und Frankfurter haben, die er demnächst als Oberbürgermeister vertreten soll. Diese erste Chance, deutlich Farbe zu bekennen, hat er leider verpasst. Im Vorfeld der genehmigten Demonstration am Samstag hat die Polizei dann feststellen müssen, dass ihre Befürchtungen nicht unzutreffend waren. Es wurden über 20 Depots mit Steinen, Latten, Flaschen und Böllern am Rande des genehmigten Demonstrationswegs gefunden. Das spricht ebenso für den Willen zur Randale wie etwa die Aufrufe im Internet, in Frankfurts Geschäften zu chaotisieren, um Polizeikräfte zu binden. Dass bis auf wenige Sachschäden nicht mehr passiert ist, kann nur dem klugen Einsatzverhalten der Polizei zugeschrieben werden. ({8}) In einem Nebensatz möchte ich auch noch erwähnen, dass der Frankfurter Einzelhandel alleine für den Samstag Umsatzeinbußen von 10 Millionen Euro beklagt. Demonstrieren leitet sich aus dem Lateinischen ab. Es bedeutet, dass man etwas zeigt, dass man etwas deutlich machen will. Ich fand es bedauerlich, dass das inhaltliche Anliegen der Demonstranten von dem Willen weniger zur Randale in den Schatten gestellt wurde. ({9}) Denn in Frankfurt schätzen wir das offene Wort, die Debatte, die kritische Auseinandersetzung. Wir tun dies in der Tradition der Liberalität einer stolzen freien Stadt und der Wiege der deutschen Demokratie. Aber wir verteidigen diese Liberalität auch gegen zugereiste Chaoten und ihre politischen Stichwortgeber. ({10}) Wir werden uns von ihnen unsere Stadt nicht wegnehmen lassen. Das ist die politische Botschaft der vergangenen Woche, auch wenn diese Aktuelle Stunde ein Zeichen dafür zu sein scheint, dass dies noch nicht jeder verstanden hat. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. Juni 2012, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, über die Feiertage gute Erholung und uns allen vielleicht auch manch neue Einsicht.