Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung ist Folgendes mitzuteilen: Interfraktionell ist vereinbart worden, dass der
von der Bundesregierung eingebrachte Gesetzentwurf
auf Drucksache 17/9340 sowie die dazu vorliegende Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9792 an den Verteidigungsausschuss zurücküberwiesen werden. Erneute
Mitberatungen anderer Ausschüsse sind nicht vorgesehen.
Der vom Haushaltsausschuss nach § 96 der Geschäftsordnung abgegebene Bericht auf Drucksache 17/9793 wird
an den Haushaltsausschuss zurücküberwiesen. Damit
sind Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({1})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({2}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({3}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksachen 17/9505, 17/9768 Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderUta ZapfDr. Rainer StinnerWolfgang GehrckeMarieluise Beck ({4})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/9772 Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserKlaus BrandnerDr. h. c. Jürgen KoppelinRoland ClausSven-Christian Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung stimmen wir im Anschluss namentlich ab. Es ist
verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu
sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist auch das
so beschlossen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Rainer Stinner
für die FDP-Fraktion.
({6})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Von den drei zivilen und militärischen internationalen Einsätzen im Kosovo - UNMIK, EULEX und
KFOR - ist nach meinem Dafürhalten der KFOR-Einsatz bislang mit Abstand der erfolgreichste gewesen.
KFOR war in der Lage, die gestellten Aufgaben über
Jahre hinweg zu erfüllen, nämlich Sicherheit und Stabilität im Kosovo herbeizuführen, und bis zum heutigen
Tage zu erhalten.
Machen wir uns klar, dass wir bei KFOR mit über
50 000 Soldaten angefangen haben, mittlerweile liegen
wir bei circa 5 000 Soldaten. Wir können in den nächsten Jahren davon ausgehen, diese Präsenz weiter zu verringern. Das ist ein wesentlicher Beitrag zur Stabilität
der Region und zur Stabilität Europas. Dieser Einsatz ist
richtig und wichtig.
({0})
Auch bei auftretenden Schwierigkeiten hat sich
KFOR bewährt. Ich erinnere daran, dass der Einsatz des
Reservebataillons in diesem Jahr mehrfach erfolgreich
verlaufen ist. Auch das hat gezeigt, dass wir in der Lage
sind, solche komplexen Aufgaben zu bewältigen.
Nach meinem Dafürhalten werden wir mit der heutigen Entscheidung, die mehrheitlich in diesem Hohen
Hause getroffen werden wird, weitere eindeutige Botschaften senden.
Die erste Botschaft lautet: Wir als Deutscher Bundestag erneuern unsere Bereitschaft, für die Region Verantwortung zu übernehmen. Das ist eine wichtige Botschaft; denn sie besagt: Das Ganze geschieht in Europa,
direkt vor unserer Haustür. Es ist unsere deutsche und
auch unsere europäische Verantwortung, hier entsprechende Maßnahmen zu treffen. Dieses Versprechen erneuern wir hier mit klaren und deutlichen Worten.
({1})
Wir können in Deutschland stolz darauf sein - und
zwar unabhängig davon, wer die Regierung gestellt hat -,
dass wir diese Verantwortung über Jahrzehnte hinweg
wahrgenommen haben. Wir können stolz und dankbar
gegenüber unseren Soldaten sein, die ihre Aufgabe im
Kosovo über Jahre hinweg in tadelloser Weise bewältigt
haben.
({2})
Die zweite Botschaft. Wir wissen auch heute: Der
Einsatz von Militär löst die Probleme nicht. Das Militär
kann den Rahmen bilden, um Probleme zivil zu lösen.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir parallel zu KFOR die
Mission EULEX verstärken. Wir müssen EULEX in die
Lage versetzen, ihre wichtige Aufgabe weiterhin wahrzunehmen. Im Kosovo gibt es nach wie vor Probleme
beim Aufbau staatlicher Strukturen, bei der Bekämpfung
der Korruption und vor allen Dingen beim Aufbau der
Wirtschaft. Auf diesen Gebieten muss EULEX weiterhin
tätig sein. Wir sind dafür, dass EULEX die Aufgaben im
Norden des Kosovo intensiver als bisher wahrnimmt;
denn das ist eindeutig der Schwachpunkt des bisherigen
EULEX-Einsatzes.
({3})
Die dritte Botschaft. Wir appellieren weiterhin an die
Institutionen im Kosovo, ihre Aufgabe für die Bevölkerung energischer wahrzunehmen. Der Aufbau von staatlichen Strukturen, die Bekämpfung von Kriminalität und
der Aufbau von Wirtschaftsstrukturen sind ungeheuer
wichtig. Ich sage sehr deutlich: Das Vorgehen von Präsident Thaci im letzten Jahr, seine Sicherheitskräfte ohne
Absprache mit der EULEX in der Konfliktregion Nordkosovo einzusetzen, war kein Geniestreich. Der Vertrauensbildung hat das nicht gedient. Wir müssen an Herrn
Thaci appellieren: Wenn wir unseren Beitrag leisten sollen, dann muss auch er seinen Beitrag leisten und sich
entsprechend verhalten.
({4})
Vierte Botschaft. Das Commitment der Europäischen
Union des Jahres 2003 gilt nach wie vor: Jawohl, der
Westbalkan ist Teil Europas, und wir wollen alles dafür
tun, den Westbalkan schrittweise an die Europäische
Union heranzuführen.
Die fünfte Botschaft ist klar und deutlich - der Außenminister hat es im letzten Jahr in Belgrad unmissverständlich gesagt -: Die Grenzen auf dem Balkan sind gezogen.
({5})
Wir als Deutscher Bundestag - ich hoffe, ich spreche für
Sie alle - sagen sehr klar und deutlich, dass wir jedwedem Ansinnen von welcher Seite auch immer, diese
Grenzen zu verändern - seien es albanische Träume, die
manchmal in die Welt gesetzt werden, seien es Initiativen von Serbien -, eine klare politische Absage erteilen.
Wer an den Grenzen auf dem Balkan rüttelt, verspielt die
Zukunftsfähigkeit seiner Region in Europa. Das muss
sehr klar sein.
({6})
Die nächste Botschaft lautet: Wir übernehmen weiterhin Verpflichtungen in der Region. In Serbien wurde gerade gewählt - mit für manche von uns überraschendem
Ausgang. Ich bin erfreut darüber, dass bei dieser Wahl in
Serbien erstmals nicht das Thema Kosovo und die Frage
„Bist du pro oder gegen Europa?“ im Vordergrund gestanden haben. Die Geschichte von Herrn Nikolic kennen wir. Ich plädiere dafür, dass wir ihn beim Wort nehmen. Das Entscheidende ist, was er jetzt macht. Daran
werden wir ihn messen.
({7})
Wir übernehmen weitere Aufgaben. Wir plädieren dafür, dass Mazedonien möglichst schnell in die NATO
aufgenommen wird. Wir wissen, wo da die Probleme liegen. Was Bosnien-Herzegowina angeht: Wir sind dafür,
dass wir schrittweise die Aufgaben des OHR an den europäischen Hohen Repräsentanten übergeben. So können
wir auf europäischer Ebene Verantwortung übernehmen.
Das Thema Kosovo ist eine Herausforderung für die
Handlungsfähigkeit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Bedauerlicherweise haben erst 22 von
27 europäischen Staaten den Kosovo anerkannt. Es ist
unsere Aufgabe auf parlamentarischer Ebene und die
Aufgabe der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass wir
europaweit noch einheitlicher auftreten, um Handlungsfähigkeit sicherzustellen. Nur so können wir dieser
schwierigen Region weiterhin eine europäische Perspektive geben. Dafür treten wir ein. Deshalb wird meine
Fraktion dem Antrag der Bundesregierung klar und deutlich zustimmen.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Rainer Arnold spricht für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
13 Jahre lang haben wir regelmäßig über das Thema
KFOR debattiert. Es darf trotzdem keine Routine für uns
werden. Ich habe aber manchmal das Gefühl, man
könnte die Reden vom letzten Jahr herausziehen und erneut halten; denn darin wurde alles Richtige schon gesagt.
Es darf deshalb keine Routine werden, weil wir schon
den Eindruck haben: Manchen Akteuren auf dem Balkan
ist KFOR bzw. die damit verbundene Sicherheitsvorsorge zu einem Stück Selbstverständlichkeit geworden.
Manche haben gar den Eindruck: KFOR ist fast schon
die Armee und die Polizei des Kosovo in einem. Das ist
aber falsch. Die Aufgaben, die dort zu erledigen sind
- Schaffung eines sicheren Umfelds, Herstellung von Bewegungsfreiheit und Aufbau der Sicherheitsarchitektur -,
müssen zukünftig zuerst von der kosovarischen Polizei,
dann erst von EULEX und, wenn dies nicht funktioniert,
von KFOR geleistet werden. Hier wurde schon oft appelliert bzw. die Forderung erhoben, dass es, damit dies
so funktionieren kann, erhebliche Verbesserungen in der
Zusammenarbeit der genannten drei Akteure geben
müsse.
Eines ist in diesem Jahr trotz Routine allerdings anders. Im Augenblick befindet sich ein Reservebataillon
deutscher Soldaten, die persönlich eine hohe Belastung
auf sich genommen haben, im Kosovo. Diesen Soldaten
gebühren natürlich unser Dank und unser Respekt. Ich
hätte mir aber gewünscht, dass das Verteidigungsministerium - es hat auch etwas mit falscher Planung zu tun,
dass es im Augenblick eine unzumutbare Belastung für
die jungen Frauen und Männer gibt - signalisiert hätte:
Es war ein Fehler, er darf sich nicht wiederholen. Dieser
Fehler ist zu bedauern.
Ich spreche den Soldaten Anerkennung aus, die teilweise auf Befragen gesagt haben: Ja, wir tun dies freiwillig noch einmal. - Ich sage aber aus Sicht der Politik:
Auch wenn sie es freiwillig tun, entbindet uns dies nicht
davon, unsere Verantwortung wahrzunehmen und dafür
zu sorgen, dass sie für eine ausreichende Zeit im sozialen Umfeld ihrer Heimat bleiben können und nicht, wie
es teilweise geschehen ist, fast 15 Monate mehr oder weniger ununterbrochen im Einsatz sind.
({0})
Diese 13 Jahre zeigen aber auch exemplarisch, was
ein Streitkräfteeinsatz bewirken kann und was Streitkräfte nicht leisten können. Streitkräfte können Konfliktpartner auseinanderhalten. Das werden die Linken vielleicht irgendwann auch einmal lernen. Streitkräfte
können das Morden stoppen. Das ist ein unglaublich hoher Wert. Deshalb ist dieser Einsatz alles Engagement
und auch unsere politische Unterstützung wert.
Streitkräfte können helfen, Sicherheitsstrukturen aufzubauen. Sie können am Rande auch humanitäre Hilfe
leisten. Eines können sie aber nicht tun: Sie können, von
außen kommend, keinen Staatsaufbau voranbringen.
Streitkräfte können auch keine politischen Prozesse initiieren. Das ist Aufgabe der anderen Akteure, zum Beispiel der Diplomaten. Es ist vor allen Dingen die Aufgabe derjenigen, die für den wirtschaftlichen Fortschritt
verantwortlich sind. Man denke nur an die vielen gut
ausgebildeten jungen Menschen im Kosovo, die nach
wie vor keine ökonomische Perspektive haben. Am
Ende aber sind diese Prozesse Aufgaben der Menschen
im Kosovo selbst.
Ohne einen wirklichen Prozess der Aufarbeitung und
ohne den gleichzeitigen Willen zur Versöhnung nach
diesen langen Jahren wird es - um es deutlich zu sagen im Kosovo kein Gelingen geben. Wir treffen im Kosovo
immer noch zu viele Menschen - ob Kosovo-Albaner
oder Serben -, die sich nach einer halben Stunde Diskussion in ihrer langen Geschichte mit all ihren Problemen
verhaken. Nein, man braucht dort eine Gesellschaft, die
eher bereit ist, in die Zukunft zu schauen und die richtigen Lehren aus der tragischen Geschichte zu ziehen.
({1})
Dazu gehört natürlich, dass Europa weiterhin den
Dialog befördern und manchmal auch darauf drängen
muss, dass die kosovarische Regierung mit den serbischen Minderheiten im nördlichen Kosovo weiter den
Dialog führt. Dazu gehört auch die wiederholte Ansage
an Belgrad - auch gegenüber dem neuen Präsidenten -,
dass die europäische Tür einen Spalt weit geöffnet ist,
dass aber, um sie ganz aufzumachen, die Grenzen und
dieses Gefüge auf dem Balkan so akzeptiert werden
müssen, wie sie im Augenblick sind. Wir laden alle ein,
diese Prozesse mitzugestalten, anstatt weiterhin auf der
Bremse zu stehen.
Wenn wir einen Blick auf die Sicherheit im Kosovo
werfen, stellen wir fest: Die 13 Jahre waren nicht vergeblich. Es hat sich eine ganze Menge verändert.
Manchmal gab es Trippelschritte, und manchmal ist
auch eine Ungeduld da, weil es logischerweise zu langsam geht. Manchmal geht es zwei Schritte nach vorn und
einen zurück. Richtig ist aber auch: In weiten Teilen des
Kosovos können heute auch Serben sicher leben. Das
Spannende und Gute ist, dass wir zunehmend serbische
Politiker als Bürgermeister bzw. als Parlamentsmitglieder antreffen. Diese haben erkannt, dass sie im Kosovo
nicht einfach in einer Parallelwelt leben dürfen, sondern
dass sie den Menschen dort zuliebe jetzt in eine Phase
eintreten müssen, in der sie den politischen Prozess des
souveränen Staates Kosovo aktiv mitgestalten. Das ist
der Weg, der in die Zukunft führen wird.
Zur Sicherheitslage: Im Norden sehen wir, dass
EULEX nicht so durchsetzungsfähig ist, wie wir uns das
gewünscht haben. Die Entsendung der kosovarischen
Polizei in den Norden war zumindest mit Auslöser der
Probleme, die in den letzten Monaten dort entstanden
sind. Wir reden manchmal von Parallelstrukturen im
Norden des Kosovos. Wenn wir genau hinschauen, stellen wir aber fest, dass es sich dort nicht einfach um
Parallelstrukturen, sondern um serbische Strukturen handelt. Natürlich treffen wir dort auch Menschen an, die
noch nicht erkannt haben, dass die Bewahrung der kulturellen Identität nicht zwangsläufig damit verbunden ist,
dass man den ihrer Meinung nach richtigen Pass hat.
Diesen Menschen ist noch nicht klar, dass in Europa der
Schutz der kulturellen Identität von der Staatsangehörigkeit unabhängig ist.
({2})
Natürlich geht es im Norden nicht nur um Nationalismus. Allzu viele Menschen mit krimineller Energie haben sich aufgrund des Sonderstatus des Nordens des
Kosovos dort sehr gut eingerichtet. Diese Menschen haben überhaupt kein Bedürfnis nach Veränderung. Manche von ihnen zündeln sogar. Die serbische Politik in
Belgrad muss endlich begreifen, dass sie diese Strukturen nicht auf Dauer materiell unterfüttern darf, zumal sie
in Wirklichkeit nicht den geringsten Einfluss auf diese
Strukturen hat. Dies muss in Belgrad endlich erkannt
werden.
Das Kosovo ist nicht der Hinterhof Europas. Das
Kosovo ist vielmehr mitten in Europa. Deshalb stimmen
wir dem neuen Antrag der Bundesregierung zu. Diese
Aufgabe bleibt auch in Zukunft für uns alle wichtig. Das
Kosovo und die Menschen sind uns nicht nur nah, sie gehen uns letztlich auch nahe.
Allerdings wollen wir nicht, dass KFOR ein noch größerer Akteur wird. Deshalb können wir dem Antrag der
Grünen, in dem viel Richtiges steht, auch nicht zustimmen. Es wäre falsch, KFOR weitere Aufgaben in den
Bereichen Grenzkontrolle und Aufbau von Rechtsstaatlichkeit zu geben. Diese Aufgaben müssen die Menschen im Kosovo in zunehmendem Maße selbst erledigen.
Wir glauben, dass dieses Mandat auch in Zukunft notwendig sein wird, allerdings mit einer Veränderung. Ich
wünsche mir, dass die Bundesregierung und wir alle in
Zukunft bei Problemen im Kosovo immer wieder neu
darüber nachdenken, ob wir die richtige Balance gefunden haben. Es geht um die richtige Balance. Auf der
einen Seite müssen wir sagen: Ja, KFOR - vor allen
Dingen im Bereich der Reserve - dient der Sicherheitsvorsorge. Auf der anderen Seite dürfen wir bei Problemen nicht allzu schnell nach KFOR rufen. Wir müssen
deutlicher zum Ausdruck bringen, dass zunächst einmal
aus dem Kosovo heraus mehr getan werden muss, um
die Probleme selbst zu lösen.
Ich weiß, dass das an der einen oder anderen Stelle
auch Risiken birgt. Man sollte vielleicht manchmal ein
Risiko eingehen und beispielsweise sagen: Dann bleibt
die errichtete Straßensperre halt eine Zeit lang bestehen;
denn sie schädigt auch diejenigen, die sie aufgebaut haben, und nicht nur die andere Seite. - Dies deutlich zu
machen, ist manchmal besser, als gleich nach KFOR zu
rufen. Ich fürchte, wenn wir diesen Weg nicht gehen,
werden wir Jahr für Jahr ein Mandat in gleichem Umfang, mit gleichem Aufwand, mit den gleichen Aufgaben
beschließen müssen. Das kann auf lange Sicht nicht der
Weg in die Zukunft sein. Das ist nur für die Übergangszeit der richtige Weg, damit andere im Kosovo die Arbeit zu Ende bringen können.
Herr Kollege.
Die Menschen im Kosovo wollen in der Mehrheit
nichts anderes als die meisten Menschen auf der Welt:
eine sichere Zukunft für sich und ihre Kinder. Weil es
um diese Menschen geht, ist es richtig, dass wir KFOR
wieder mit einem Mandat für ein Jahr versehen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Peter Beyer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Der ganze
Balkan ist nicht die Knochen eines einzigen preußischen
Grenadiers wert.“ Lassen wir uns durch diesen Ausspruch Otto von Bismarcks nicht in die Irre leiten. Es ist
nicht so, dass wir uns über die Situation auf dem Balkan
keine Gedanken machen müssen - das wäre fatal -; denn
die Geschehnisse auf dem westlichen Balkan sind integraler Bestandteil europäischer und damit auch unserer
deutschen Geschichte.
Wir haben es mehrfach gehört: Seit nunmehr 13 Jahren ist KFOR im Einsatz und sorgt als sogenannte dritte
Sicherheitsreihe für Schutz. Deutschland hat sich an dieser Operation von Anfang an beteiligt. Dies ist der
längste ununterbrochene Einsatz der Bundeswehr überhaupt. 29 Nationen stellen bei KFOR Truppen. Deutschland ist und bleibt mit rund 1 300 Soldatinnen und Soldaten stärkster Truppensteller im Kosovo. Die deutschen
Frauen und Männer im Einsatz haben einen wesentlichen Anteil an der Stabilisierung der gesamten Region.
Dafür sollten wir alle ihnen Dank zollen.
({0})
Noch vor einem Jahr hatte ich in der Debatte zur Verlängerung dieses Mandats davon gesprochen, dass wir
einen Erfolg verzeichnen können, der sich dadurch ausdrückt, dass die Truppenstärke reduziert werden konnte.
Eine weitere Reduzierung der Truppenstärke zum jetzigen Zeitpunkt wäre indes nicht angezeigt. Denn zur Sicherung der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in
Serbien hatte der Kommandeur der NATO-geführten
Schutztruppe KFOR erst vor wenigen Wochen die operative Einsatzreserve zur Verstärkung der KFOR-Truppen angefordert, woraufhin 550 plus 150 Soldatinnen
und Soldaten in das Kosovo verlegt wurden, nachdem
sie erst wenige Wochen zuvor abgezogen worden waren.
Diese Situation zeigt sehr deutlich, dass die ethnischen
Spannungen gerade im Norden des Kosovos um die geteilte Stadt Mitrovica herum auch viele Jahre nach Beendigung des Krieges noch lange nicht überwunden sind.
Zudem kann sich die EU-Rechtsstaatlichkeitsmission
EULEX noch immer nur sehr eingeschränkt bewegen.
Serbien betrachtet das Kosovo nach wie vor als eine
eigene abtrünnige Provinz. In der Tat leben im Kosovo,
insbesondere im Norden des Landes, heute noch circa
120 000 Serben. Völkerrechtlich stellt sich die Situation
wie folgt dar: Circa 90 Staaten weltweit haben das
Kosovo als einen eigenständigen souveränen Staat anerkannt, dazu gehört auch Deutschland. Vor diesem
Hintergrund ist es unerträglich, dass fünf EU-Mitgliedstaaten aus wenig substanziellen Gründen das Kosovo
immer noch nicht als einen souveränen Staat anerkennen.
Serbien und Kosovo verdienen eine Perspektive in
Europa, in der Europäischen Union, und zwar jeweils als
eigenständige souveräne Staaten. Wir werden es aber
nicht schaffen, beide Länder an einen Tisch zu bringen
und insbesondere die serbische Seite zu ernsthaften Anstrengungen zu bewegen, wenn wir in der EU falsche Signale aussenden. Solange wir es innerhalb der EU nicht
schaffen, eine einheitliche Position in Bezug auf den
völkerrechtlichen Status des Kosovos zu finden, können
wir wohl nicht ernsthaft daran glauben, dass Belgrad
EU-Forderungen umsetzt.
Wenn man sich zudem vor Augen hält, dass sich in einem Referendum im Januar dieses Jahres nahezu
100 Prozent der im Nordkosovo lebenden Serben gegen
eine Eingliederung in den jungen Staat Kosovo ausgesprochen haben, so zeigt dies auch, dass dringend über
die punktuelle Verstärkung der Schutztruppe hinaus ein
gesamteuropäisches Konzept auf den Tisch muss, das
mit den Menschen einen Lösungsweg beschreitet. Die
europäische Position darf sich dabei nicht in der Abarbeitung des Kriterienkatalogs für die spätere Mitgliedschaft erschöpfen, sondern die EU muss darüber hinaus
einen Plan parat haben. Dies ergibt sich aus der Verantwortung gegenüber Europa, seiner Geschichte und dem
Schicksal der Völker.
Es ist auch richtig, dass die Bundesregierung, allen
voran unsere Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, immer wieder von Belgrad die so wichtige Normalisierung
des Verhältnisses zu Pristina eingefordert hat. Bei ihrem
letzten Besuch Ende 2011 in Belgrad hat sie erneut eindringlich darauf hingewiesen. Deutschland und Europa
können keinen EU-Beitrittskandidaten akzeptieren - sie
werden dies auch nicht tun -, der die notwendige Normalisierung zwischen Serbien und Kosovo behindert.
({1})
Die europäischen Partner müssen da aber mitziehen.
Viel zu lange schon scheint sich Europa damit abzufinden, dass sich vor unserer Haustür, letztlich mitten in
Europa, zwei ethnische Gruppen feindselig gegenüberstehen. Die Lage ist nach den Präsidentschaftswahlen
am vergangenen Sonntag nicht einfacher; denn jetzt ist
ein Nationalist Präsident geworden.
Meine Damen und Herren, die Gespräche zwischen
Serbien und Kosovo zur gegenseitigen Annährung müssen endlich auch andere Themen abdecken. Bislang waren sie sehr technisch. Zu einer spürbaren Entspannung
der Lage haben sie noch keinen nennenswerten Beitrag
geleistet. Zudem wird nach unserer Überzeugung nach
wie vor viel zu wenig dafür getan, ausreichende Investitionen in die Infrastruktur des Kosovo zu fördern. Um
die Lebensqualität der Menschen dort zu erhöhen, müssen die vorhandenen Defizite im Bildungssektor, bei
Schulen und Hochschulen, angegangen werden. Auch
die Sicherheit gehört in diese Aufzählung mit hinein.
Denn auch das Gefühl von subjektiver Sicherheit und
eine gute objektive Sicherheitslage tragen zur Lebensqualität der Bevölkerung entscheidend bei.
Wir wollen, dass KFOR keine Dauerpräsenz wird.
Wir dürfen uns mit dieser Situation inmitten Europas
über 20 Jahre nach der Menschenrechtskatastrophe auf
dem Balkan nicht abfinden. Weitere Truppenreduzierungen können wir dann vornehmen, wenn das Ziel der UNResolution 1244, die die völkerrechtliche Grundlage des
KFOR-Einsatzes bildet, wieder ein Stück weit näher gerückt ist. Sicherheit ist die Grundlage für die Hoffnung
auf eine Zukunft des Kosovo in Europa. Dafür wird
KFOR gebraucht. Deswegen stimmt meine Fraktion
konstitutiv der Verlängerung des Einsatzes zu.
Ich danke Ihnen.
({2})
Die Kollegin Inge Höger hat das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
am Mittwoch aus Chicago zurückgekommen.
({0})
Dort habe ich an den Protesten gegen den NATO-Gipfel
teilgenommen.
({1})
Ich hoffe, Sie haben zur Kenntnis genommen, dass dort
20 000 Menschen gegen die NATO-Kriegspolitik demonstriert haben, darunter sehr viele Veteranen. Das
macht Mut.
({2})
Der Einsatz im Kosovo wird wie viele Interventionen
der NATO als Menschenrechtsmission dargestellt. In
Wirklichkeit geht es um die militärische Absicherung
der Machtinteressen von europäischen und nordamerikanischen Eliten. Dazu wird die Linke immer Nein sagen.
({3})
Der KFOR-Einsatz kann nicht losgelöst von der sonstigen Balkan-Politik der sogenannten internationalen
Gemeinschaft gesehen werden. Die Menschen vor Ort
zweifeln an dieser Politik, und zwar quer durch alle
Ethnien. In Pristina hing bis vor kurzem ein Plakat der
UN-Mission UNMIK, auf dem sich ein Hund und eine
Katze umarmen. Darunter stand der Satz: „Wenn die das
können, warum könnt ihr das dann nicht?“ Die Menschen im Kosovo möchten nicht mit Tieren verglichen
werden. Ich habe Verständnis dafür, dass sie das als rassistisch empfinden.
Man kann den Bundeswehreinsatz auch nicht losgelöst von der Geschichte des Kosovo-Konflikts beurteilen. Seit Jahren zementieren NATO und EU die ethnischen Spaltungen auf dem Balkan, auch im Kosovo. Sie
spielen damit - mal gewollt, mal ungewollt - den Nationalisten in die Hände. So haben sie eine Situation
geschaffen, die den KFOR-Einsatz nun scheinbar notwendig macht - aber eben nur scheinbar; denn die Spannungen im Kosovo werden ja nicht weniger. Militär
schafft keinen Frieden, weder in Mitrovica noch in
Srebrenica, dessen Opfer immer wieder als Rechtfertigung für NATO-Kriege herhalten müssen.
({4})
Die Toten würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie
wüssten, dass in ihrem Namen Kriege stattfinden.
({5})
Die KFOR-Mission steht außerdem in engem Zusammenhang mit der EU-Perspektive, die das Kosovo auf
Wunsch der Bundesregierung erhalten soll. Die Menschen, mit denen ich in der Region in Kontakt bin, spüren, dass ihre korrupten, nationalistischen Eliten und die
Europäische Union zwei Seiten einer Medaille sind. Das
wird besonders deutlich, wenn es um die Privatisierung
öffentlichen Eigentums geht. Die EU fordert den Ausverkauf staatlicher Unternehmen, und die lokalen Eliten
setzen das gerne um. Die Menschen auf dem Balkan, die
sich dagegen wehren, haben die Linke stets auf ihrer
Seite.
({6})
Gegen Privatisierungen sind wir überall auf der Welt.
Momentan ist das Kosovo de facto ein Protektorat der
EU. Wenn die EU so bleibt, wie sie ist, dann wird sich
bei einer EU-Mitgliedschaft für Pristina nicht viel ändern. Das Beispiel Griechenland zeigt, wie die Troika
mit der Peripherie der EU umgeht: Alles soll demokratisch aussehen, aber in Wahrheit bestimmen die EU und
der IWF. Sie bestimmen, wie der Staatshaushalt auszusehen hat. Sie machen die Vorgaben für Sozialabbau und
Privatisierungen.
Aber auch hier gibt es gute Nachrichten: Der Regierungswechsel in Frankreich und die guten Umfragewerte
wirklich linker Parteien in Griechenland und in den Niederlanden zeigen, dass ein anderes Europa möglich ist.
({7})
In diesem anderen, solidarischen Europa muss natürlich
der gesamte Balkan - inklusive des Kosovo - seinen
Platz haben. Die jetzige Balkanpolitik und die KFORMission führen in eine Sackgasse. In der Begründung Ihres Antrags ist immer wieder von Stabilität die Rede.
Das Einzige, was die Bundesregierung dort stabilisiert,
ist die Krise. Damit muss Schluss sein. Deshalb sagt die
Linke Nein zur Bundeswehr im Kosovo.
({8})
Omid Nouripour hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Kollegin Höger, ich weiß nicht, die wievielte
Debatte es ist, die wir miteinander führen. Eine Sache
habe ich noch nicht verstanden: Was ist Ihre Lösung,
wenn die Gefahr besteht, dass Konflikte politische Prozesse torpedieren? Bisher habe ich dazu nichts gehört. In
der ersten Lesung hat ein Redner der Linken, der Kollege Nord, zugegeben, dass es im Norden ohne die
KFOR zu einem bewaffneten Konflikt gekommen wäre.
Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass KFOR
nicht gebraucht wird, ist schlicht zynisch.
({0})
Es geht Ihnen überhaupt nicht um eine solidarische Vision für Europa. Sie knicken vor den Nationalisten ein.
Das ist nicht links, das ist schlicht zynisch.
Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass wir Debatten zum Thema Europa führen. Das ist gut so. Wir
führen Debatten über den Euro und über Griechenland,
und es ist wichtig, dass wir hier und heute über einen der
letzten nicht gelösten großen Konflikte mitten in Europa
sprechen. Der Sinn von KFOR kann nur sein, dass die
Politik alles daransetzt, damit diese Mission überflüssig
wird. Dafür muss KFOR ein Zeitfenster schaffen. Das
geschieht seit über zehn Jahren, und das ist gut. Unser
Dank geht nicht nur an das Reservebataillon, sondern
auch an die Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien,
die dieser Belastung ausgesetzt sind.
({1})
Trotzdem muss man sehen: Das, was wir immer wieder als Stabilität bezeichnen, wird von vielen Menschen
vor Ort auch als Stagnation verstanden. Der Prozess geht
viel zu langsam voran. In Serbien gab es jetzt Wahlen.
Es ist richtig gesagt worden: Die Wahlergebnisse der
Präsidentschaftswahl hatten nichts mit dem Kosovo zu
tun. Sie hatten in erster Linie mit der wirtschaftlichen
Lage in Serbien selbst zu tun. Wir sollten uns trotzdem
nicht entmutigen lassen. Der Weg ist steinig, aber gangbar.
Wichtig ist nun, darauf zu drängen, dass der neue Präsident Serbiens Realismus walten lässt. In diesem Zusammenhang sollte sich die EU überlegen, welche Lehre
man daraus zieht, dass man Boris Tadic seit Jahren offensichtlich unterstützt hat, und ob es nicht andere, bessere und dezentere Wege gegeben hätte.
Die zentrale Frage ist, wie lange die Menschen in Serbien angesichts der ökonomischen Lage dort akzeptieren, dass quasi aus Folkloregründen 1 Milliarde Euro pro
Jahr in den Norden des Kosovo fließt und dass das Einkommensniveau im Norden des Kosovo mittlerweile
fünf- bis sechsmal so hoch ist wie in Serbien. Auf lange
Sicht wird man sich in Serbien fragen, ob dies so tragbar
ist.
Wichtig ist deshalb, dass jetzt politische Initiativen
angestoßen werden, zum Beispiel bei der Administrative
Boundary Line. Das ist eine zentrale Frage, die zu lösen
ist, wenn es dazu kommen soll, dass es ein funktionierendes Grenzmanagement gibt, das von den Kosovaren
selbst geleistet werden kann. Das ist keine militärische
Frage, das ist eine ausschließlich von der Politik zu lösende Frage.
Ein Beispiel dafür ist die Frage der Überflüge über
das Kosovo. Das ist etwas, das die Politik lösen muss
und das alles andere als unwichtig ist - auch für das Einkommen des Staates Kosovo.
Wichtig ist auch, dass die Europäische Union erkennt,
dass sie nicht mit einer so starken Stimme sprechen
kann, wie sie könnte, solange es nicht 27, sondern
22 EU-Staaten sind, die in dieser Sache tatsächlich eine
gemeinsame Sprache sprechen. Die EU schwächt sich
selbst, und es wäre wichtig, dass auf europäischer Ebene
immer wieder versucht wird, zu einer gemeinsamen
Linie zu kommen. Damit würden wir eine klarere Sprache nicht nur gegenüber Serbien, sondern auch gegenüber dem Kosovo sprechen.
({2})
Wichtig ist auch, dass die EU-Perspektive für alle
Länder des Westbalkans offen bleibt. Natürlich muss es
Konditionen geben, und natürlich muss das Thema Kosovo auch bei den Besprechungen und Verhandlungen
mit Serbien eine Rolle spielen. Die Perspektive muss
aber offen bleiben. Genauso muss man aber auch darüber nachdenken, wie lange es noch haltbar ist, dass das
Kosovo als einziges Land in der Region keinerlei Erleichterungen bei der Vergabe von Visa erhält.
({3})
Die diplomatischen Zeitfenster schafft das Militär.
Das Militär ist dafür derzeit notwendig. Meine Fraktion
wird diesem Mandat mit sehr großer Mehrheit zustimmen.
({4})
Florian Hahn hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Auch nach 13 Jahren ist KFOR ein wesentlicher
Bestandteil der Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft, den Balkan zu stabilisieren und langfristig
in Europa zu integrieren.
KFOR ist und bleibt, wie der vergangene Mandatszeitraum vor Augen führte, eine wichtige Operation, die
für die Sicherheit des Kosovo derzeit noch unerlässlich
ist. Daher stimmen wir heute für die Fortsetzung der Beteiligung deutscher Soldatinnen und Soldaten an KFOR.
KFOR ist eine erfolgreiche Operation, die den Weg
für wichtige Fortschritte im politischen Bereich hat
ebnen können. Der von der EU vermittelte bilaterale
Dialog zwischen Serben und Kosovaren wäre ohne die
durch KFOR gewährleisteten stabilen Rahmenbedingungen ebenso wenig denkbar gewesen wie die Verleihung
des Status eines Beitrittskandidaten an Serbien im März
dieses Jahres; denn dank KFOR konnte die Sicherheitslage in den letzten Jahren kontinuierlich stabilisiert werden.
Im Großen und Ganzen kann man vorsichtig wieder
einen positiven Trend ausmachen. Dieser spiegelt sich
auch in der Tatsache wider, dass die Wahlen erfreulicherweise ruhig verlaufen sind. Damit haben diese Wahlen
dazu beigetragen, die Normalisierung der serbisch-kosovarischen Beziehungen weiter voranzutreiben. Es bleibt
nun im Sinne des europafreundlichen Kurses, den Serbien unter Tadic eingeschlagen hatte, zu hoffen, dass
dieser auch unter dem neuen Präsidenten Nicolic fortgesetzt wird. Jüngste Äußerungen von Nicolic hierzu klingen vielversprechend. Wir werden genau beobachten, ob
den Worten auch Taten folgen werden.
Für die Gewährleistung friedlicher Wahlen gebührt
mein Dank der OSZE, die die Wahlen bereits im Vorfeld
begleitet hat, aber auch den deutschen Soldatinnen und
Soldaten, die für KFOR im Einsatz sind, um die Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen politischen Prozess zu schaffen. Ich wünsche ihnen weiterhin viel Erfolg und Gottes Segen bei ihrem Einsatz.
({0})
Deutschland ist derzeit mit 1 222 Soldaten der größte
Truppensteller der KFOR und stellt mit Generalmajor
Drews derzeit zum dritten Mal und ab September 2012
zum vierten Mal in Folge den KFOR-Kommandeur. Ihrem besonnenen Tun und der verantwortungsvollen
Wahrnehmung der Führungsaufgaben durch Generalmajor Drews und seine Vorgänger verdanken wir nicht nur
einen großen Teil des Erfolgs der KFOR, sondern auch
unsere angesehene Reputation unter den NATO-Partnern
für unseren Einsatz dort.
Ebenso gebührt besonderer Dank den 550 deutschen
Soldaten des zweiten Reservebataillons, die, nachdem
sie gerade erst aus Afghanistan zurückgekommen waren,
in das Kosovo aufgebrochen sind, um dort einer Eskalation der Lage vorzubeugen. Dies ist eine enorme Belastung, gar keine Frage; das wurde schon gesagt. Ursache
war eine Fehlplanung; dies ist aber eingeräumt worden.
Es ist zugesagt worden, dass man aus diesem Fehler lernen möchte. Der Generalinspekteur wird in Bälde hierzu
persönlich mit den betroffenen Soldaten sprechen. Das
zeigt auch, dass ein Bewusstsein für diese doppelte Belastung und vor allem auch Respekt für die vorbildliche
Einsatzbereitschaft dieser Soldaten vorhanden sind.
({1})
Die Tatsache, dass das deutsch-österreichische Reservebataillon innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal aktiviert werden musste, zeigt allerdings auch, dass eine
Mandatsverlängerung für KFOR auf dem derzeitigen Niveau von 1 850 Soldatinnen und Soldaten weiterhin nötig ist. Es muss bei Bedarf kurzfristig eine Erweiterung
möglich sein, wenn die Sicherheitslage dies erfordert;
denn trotz der allgemein stabilen Lage bleibt das Eskalationspotenzial gerade im serbisch dominierten Norden
des Landes groß.
Daher ist die Präsenz der KFOR auch im kommenden
Jahr erforderlich; die Zahl der Soldaten kann nicht, wie
ursprünglich geplant, weiter reduziert werden. Je nach
weiterer Entwicklung der Lage wollen wir natürlich die
Anzahl in Zukunft reduzieren. Wie das aussehen wird,
kann man aber konkret nicht absehen.
Nur wenn EU und NATO gemeinsam mit der internationalen Staatengemeinschaft an einem Strang ziehen,
rückt die Perspektive eines europäischen Kosovo in
greifbare Nähe. Diese wollen wir weiterhin aktiv unterstützen und sollten beispielsweise unsere Bemühungen
verstärken, bei den fünf fehlenden europäischen Staaten
für eine Anerkennung des Kosovo zu werben. Die Zukunft des Landes - davon hat mich mein Besuch im letzten Dezember endgültig überzeugt - liegt in Europa. Ich
bitte Sie, zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 17/9768 zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in
Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 17/9505 anzunehmen.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen
besetzt? - Hier vorne an der Urne fehlt noch ein Schriftführer der Opposition. Da muss sich jemand spontan bereit erklären. - Gut. Sind jetzt alle Urnen besetzt? - Das
scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Sind Kolleginnen und Kollegen anwesend, die eine
Stimmkarte haben und sie noch nicht einwerfen konnten
und somit ihre Stimme noch nicht abgegeben haben? Dort oben gibt es noch einen Kollegen. Es gibt noch
sportliche Aktionen. Dann warten wir noch einen Moment.
Das gibt mir Gelegenheit, eine Gruppe junger
Schweizer Nationalrätinnen und Nationalräte herzlich zu begrüßen. Schön, dass Sie da sind.
({0})
Wir machen extra eine namentliche Abstimmung, damit
Sie bei uns etwas Besonderes erleben.
Dann haben jetzt offensichtlich alle ihre Stimmkarte
abgegeben. - Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/9769. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion. Alle anderen haben dagegen gestimmt.
Jetzt würde ich gerne den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen.
({1})
- Diese Formulierung deswegen, weil ich den Eindruck
habe, noch nicht alle in diesem Saal sind bereit, den Auf-
ruf des nächsten Tagesordnungspunktes zu würdigen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 31 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Kauder, Dr. Frank-Walter
Steinmeier, Gerda Hasselfeldt, Rainer Brüderle,
Dr. Gregor Gysi, Renate Künast, Jürgen Trittin
sowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz
- Drucksache 17/9030 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 17/9774 -
1) Ergebnis Seite 21684 A
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Berichterstattung:-
Abgeordnete Jens Spahn-
Dr. Carola Reimann-
Gabriele Molitor-
Dr. Martina Bunge-
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Transplantationsgesetzes
- Drucksache 17/7376 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- Drucksache 17/9773 Berichterstattung:Abgeordnete Stefanie VogelsangDr. Marlies VolkmerGabriele MolitorDr. Martina BungeDr. Harald Terpe
Zu dem erstgenannten Gesetzentwurf liegen zwei Änderungsanträge vor: ein Änderungsantrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Wolfgang Nešković, Matthias
Birkwald und weiterer Abgeordneter sowie ein Änderungsantrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg,
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender und weiterer Abgeordneter.
Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen
weiterhin ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD und FDP sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, eineinhalb
Stunden zu debattieren. Die Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer haben sich darauf verständigt, dass die Reden der Kolleginnen und
Kollegen, deren Redewunsch nicht berücksichtigt werden kann, zu Protokoll gegeben werden können. Sind Sie
mit dieser Vereinbarung einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann verfahren wir so.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Volker Kauder.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach langen und intensiven Beratungen können
wir heute ein Gesetzgebungsvorhaben zum Abschluss
bringen, auf das viele Menschen in unserem Land warten. Es sind diejenigen, die auf ein Organ warten, das ihnen das Leben retten kann. Das geltende Transplantationsgesetz hat die - zu diesem Schluss kommen wir,
wenn wir uns die Ergebnisse anschauen - damals in dieses Gesetz gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen können.
Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Die entscheidende
Ursache ist - so glauben Frank-Walter Steinmeier und
ich, die dieses Thema vorangetrieben haben -, dass wir
nicht häufig und intensiv genug auf die Menschen zugegangen sind, um sie aufzufordern und zu motivieren,
ihre Bereitschaft zu erklären, Organe zu spenden.
Es war eine schwierige Abstimmung. Ich sage allen
Kolleginnen und Kollegen, die diese Arbeit geleistet und
die vorbereitenden Gespräche geführt haben, herzlichen
Dank. So kann es heute möglich werden, dass wir im
Deutschen Bundestag eine breite und große Mehrheit für
dieses neue Gesetz bekommen. Diese breite und große
Mehrheit ist ein erster wichtiger Schritt, um den Menschen zu zeigen: Wir nehmen ihre Sorgen ernst. Aber
wir haben auch eine Lösung gefunden, wie wir denen
helfen können, die dringend auf Hilfe angewiesen sind.
({0})
Wir haben neben einer verbesserten Struktur in unseren Krankenhäusern - ein ganz entscheidender Punkt die Krankenkassen bei den offenen Fragen der Finanzierung mit ins Boot geholt. Wir haben unsere Haushälter
dafür gewinnen können, die notwendigen Mittel für die
Information, die gegeben werden muss, zuzusagen und
zur Verfügung zu stellen. So werden wir nun regelmäßig
an die Menschen herantreten und sie bitten und auffordern, sich zu überlegen, ob sie nicht doch Organspender
werden wollen.
Wir haben uns für diese Entscheidungslösung entschieden, weil wir in solch hochsensiblen Fragen gerade
keinen Druck ausüben wollen, weder direkt noch indirekt. Es gibt kein Recht darauf, von jemand anderem ein
Organ zu bekommen. Wir wollten auch keine - wie in
anderen Ländern üblich - Widerspruchslösung, wonach
die Menschen widersprechen müssen, wenn sie etwas
nicht wollen. Wir waren uns in allen Fraktionen darüber
einig: Wir wollen die Menschen motivieren. Das heißt,
wir wollen sie nicht zum Widerspruch, sondern zum Jasagen motivieren. Dafür sollen nun die Voraussetzungen
mit diesem Gesetz geschaffen werden.
({1})
Heute Morgen ist in den Zeitungen zu lesen, dass angeblich ein großer Teil der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gegen dieses Gesetz oder mit Enthaltung stimmen will. Dies ist nicht der Fall. Es gibt einen Punkt im
zweiten Teil des Gesetzgebungsvorhabens, in dem es um
die Organisation geht - beispielsweise die DSO - und zu
dem es noch Fragen gibt; dazu wird der Bundesgesundheitsminister später sicherlich noch etwas sagen. Es wurden zwar Verbesserungen erreicht. Aber richtig ist auch,
dass wir mehr Transparenz brauchen. Wir wollen in verstärktem Maße dafür sorgen, dass offene Fragen geklärt
werden.
Ich freue mich sehr darüber, dass dieser Punkt, in dem
wir nicht ganz einer Meinung sind, Frau Kollegin
Scharfenberg, nicht dazu führt, dass die große Botschaft
geschmälert wird: Jawohl, wir machen am heutigen Tag
einen großen, wichtigen Schritt und kommen in der Organspende auf freiwilliger Ebene motivierend voran.
Das ist eine gute Botschaft für viele betroffene, kranke
Menschen in unserem Land.
({2})
Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im
Kosovo auf Grundlage der Resolution 1244 bekannt - es
geht um die Drucksachen 17/9505 und 17/9768 -: Es
wurden 564 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben gestimmt
486 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein 70. 8 haben
sich enthalten. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 564;
davon
ja: 486
nein: 70
enthalten: 8
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({10})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({11})
Anita Schäfer ({12})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({13})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({14})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({16})
Andrea Astrid Voßhoff
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({17})
Peter Weiß ({18})
Sabine Weiss ({19})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Bärbel Bas
Lothar Binding ({20})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({21})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({22})
Hubertus Heil ({23})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann ({24})
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({25})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({26})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({27})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
René Röspel
Karin Roth ({28})
Michael Roth ({29})
Axel Schäfer ({30})
Bernd Scheelen
Werner Schieder ({31})
Carsten Schneider ({32})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({33})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({34})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({35})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({36})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({37})
Michael Link ({38})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({39})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({40})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({41})
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({42})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({43})
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({44})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({45})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({46})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Kerstin Müller ({47})
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({48})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Dr. Peter Gauweiler
FDP
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Annette Groth
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({49})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Hans-Christian Ströbele
Enthalten
SPD
Klaus Barthel
Petra Hinz ({50})
Waltraud Wolff
({51})
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Sylvia Kotting-Uhl
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Wir kommen zurück zu unserem Tagesordnungspunkt. Ich gebe das Wort dem Kollege Dr. Frank-Walter
Steinmeier.
({52})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn heute die beiden vorgelegten Gesetzentwürfe hier im Hohen Haus eine große und breite Mehrheit finden, dann ist das in erster Linie natürlich eine
Zustimmung zur Organspende, aber auch ein eindeutiges
Ja dieses Deutschen Bundestages zu Mitmenschlichkeit
und Solidarität. Daran, dass das möglich geworden ist,
haben ganz viele Anteil, diejenigen, die hier debattiert
haben, diejenigen, die die Gesetzentwürfe vorbereitet
haben, und diejenigen, die von außen geholfen und geschoben haben, dass es zu Gesetzentwürfen und zu Abstimmungen kommt. Deshalb zuvörderst mein ganz
herzliches Dankeschön, dass das möglich geworden ist.
({0})
Worum es geht - Kollege Kauder hat es eben gesagt -,
ist im Grunde genommen nicht mehr und nicht weniger,
als Hilfe zu organisieren für Todkranke, die ohne eine
Organspende nicht überleben können. Da können natürlich - das wissen Sie alle; da sind unsere Möglichkeiten
beschränkt - Gesetzgebung und Recht immer nur ein
Beitrag sein. Den größeren Beitrag liefern ganz ohne
Zweifel Wissenschaft, Medizin und Pflege in den Krankenhäusern. Aber Gesetzgebung und Recht können klären, Zweifel ausräumen und Richtung geben. Ich glaube,
dabei sind wir mit diesen beiden Gesetzentwürfen jetzt
ein großes Stück weitergekommen.
Dass es in der Vergangenheit Probleme gab, wird in
allen Fraktionen so gesehen. Vor 15 Jahren, im Juni
1997, hat der Deutsche Bundestag - auch damals gab es
eine intensive Debatte in der Öffentlichkeit und hier im
Bundestag - das Transplantationsgesetz beschlossen, übrigens auch damals in einer fraktionsübergreifenden Initiative. Das war ein erster Schritt, um Rechtssicherheit
zu schaffen. Aber wir wissen, dass das Gesetz, das damals auf den Weg gebracht worden ist, nicht alle Erwartungen erfüllt hat. Wenn wir so viel Leid wie möglich
lindern möchten, wenn wir so vielen Menschen wie
möglich helfen wollen, auch mit neuen Organen, dann
müssen wir nachbessern, und dazu bieten die beiden Gesetzentwürfe eine Grundlage.
Eine konkrete Verbesserung, über die wir vielleicht in
der Öffentlichkeit nicht so sehr gesprochen haben, aber
die ich für ganz entscheidend halte, ist zum Beispiel die
verpflichtende Bestellung von Transplantationsbeauftragten in den Krankenhäusern, die die Abläufe optimieren. Das ist ganz wichtig.
({1})
Eine zweite ganz wichtige Verbesserung, über die in
der Öffentlichkeit auch weniger bekannt ist, ist die Verbesserung der Situation der Lebendspender. Ich habe in
den letzten Monaten und anderthalb Jahren viele Briefe
mit teilweise haarsträubenden Geschichten erhalten, wie
Lebendspender entweder von ihren Arbeitgebern oder
von ihren Krankenkassen im Regen stehen gelassen wurden. Dass das jetzt bereinigt wird und hoffentlich in den
allermeisten Fällen ein Ende findet, dazu leisten die Gesetzentwürfe einen guten Beitrag. Auch dafür Dankeschön.
({2})
Ein weiterer Punkt ist - darüber haben wir mehr geredet, auch in der Öffentlichkeit - unsere Suche danach,
wie wir die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland erhöhen können. Eigentlich ist die Bereitschaft
- das haben wir uns gegenseitig oft genug versichert gar nicht das entscheidende Problem. Wenn gefragt
wird, dann sind die Menschen prinzipiell bereit, Organe
zur Verfügung zu stellen. Es hapert immer dann, wenn es
konkret wird, wenn die Menschen losgehen und sich einen Organspendeausweis besorgen müssen, wenn sie
diesen ausfüllen und möglichst so bereithalten müssen,
dass man ihn auch wiederfindet. Genau da setzt die Idee
an, die wir in dem Gesetzgebungsvorhaben verfolgt haben, nämlich die Idee der Entscheidungslösung: Es sollen sich auf Grundlage dieses Gesetzes mehr Menschen
vor dem eigenen Tod entscheiden, ob sie nach ihrem Tod
Organspender sein möchten oder nicht.
Wir wollen - das habe ich einmal Herrn Kollegen
Kauder in einer der Debatten gesagt - den Menschen tatsächlich - das darf man auch nicht bestreiten - etwas
mehr auf die Pelle rücken, indem wir fragen und nachfragen.
Das leisten viele Initiativen schon heute. Sie machen
eine tolle Aufklärungsarbeit, werben für die Organspende. Mit dem vorliegenden Gruppenantrag, den Sie
alle gesehen und diskutiert haben, nehmen jetzt wir, der
Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, unseren Teil der
Verantwortung wahr. Wir sagen damit klipp und klar: Es
ist auch unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Menschen sich mit der Frage der Organspende tatsächlich
auseinandersetzen.
Was dieser Gesetzentwurf anbietet, was wir darin verankert haben, das ist zunächst einmal eine Art zusätzliche Serviceleistung. Krankenkassen werden sich darum kümmern, dass die Organspendeausweise zu den
Menschen kommen. Wenn die Menschen das wünschen,
werden die Krankenkassen sogar deren Entscheidung
dokumentieren. Das heißt, dass man sich als Einzelner
darum nicht mehr kümmern muss. Bevor die Debatte
hier wieder losgeht: Das ist das Angebot einer Serviceleistung. Niemand wird verpflichtet und niemand wird
gezwungen, seine Entscheidung durch die Krankenkasse
dokumentieren zu lassen. Wir schaffen eine Möglichkeit.
Mindestens das ist aus meiner Sicht dringend notwendig.
({3})
Ich finde, manche Debatte über die Frage, ob der
Staat den Menschen eigentlich bedrängen darf, ob er ihn
zu einer Entscheidung drängen darf - solche Debatten
sind in der Vergangenheit geführt worden und werden
vielleicht auch in der Zukunft noch geführt werden -,
geht ein bisschen an der Sache vorbei. So einfach dürfen
wir uns diese Entscheidung eben nicht machen.
Im Kern geht es darum - das ist für den Gesetzgeber
doch nichts Ungewöhnliches -, zwischen zwei richtigen
Interessensgesichtspunkten abzuwägen. Das eine ist der
Interessensgesichtspunkt, vom Staat möglichst in Ruhe
gelassen zu werden, und das andere ist der Interessensgesichtspunkt von Todkranken, die ohne ein Organ nicht
überleben können. In dieser Abwägung sagen wir als
Gesetzgeber, der diese Gesetzentwürfe vorlegt: Es gibt
kein Recht auf Gleichgültigkeit. Es gibt auch kein unverbrüchliches Recht, im Hinblick auf Fragen durch den
Gesetzgeber bzw. durch öffentliche Einrichtungen in
Ruhe gelassen zu werden. Wir halten die Frage, ob jemand bereit ist, Organe zu spenden, und die Aufgabe,
sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, für zumutbar. Deshalb haben wir als Gesetzgeber in diese
Richtung abgewogen.
({4})
Zum Schluss. Es geht nicht darum, dass wir alle Menschen zu Organspendern machen wollen, sondern es
geht darum, dass wir Menschen auffordern, selbst Überlegungen anzustellen, sich selbst eine Position zu formulieren. Das ist hilfreich - das kann ich Ihnen versichern -,
nicht nur für uns alle selbst, sondern auch, um bei einem
plötzlichen Todesfall die Beantwortung der Frage nach
einem möglichen Spendewillen des Verstorbenen nicht
den nahen Angehörigen zu überlassen. Um es auf den
Punkt zu bringen: Es ist eine Frage der Verantwortung.
Die Entscheidung über das Maß der Verantwortung, das
wir zu tragen bereit sind, ist eine Frage, die ins Leben
gehört und nicht über den Tod hinausgeschoben werden
darf.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat Bundesminister Daniel Bahr.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir an Organspenden denken, dann denken wir an
die vielen Einzelschicksale und die Geschichten, die dahinterstehen. Eine Geschichte ist die von Jens Bossers,
den ich gestern Abend kennenlernen durfte, als er einen
Preis für sein Engagement erhalten hat. Er war noch
klein - er kann sich daran nicht erinnern -, als er den
Kampf seines Lebens bestand. Drei Wochen nach seiner
Geburt wird ein schwerer Herzfehler festgestellt; er besitzt nur eine Herzkammer.
Jens Bossers musste vier sehr schwere Herzoperationen über sich ergehen lassen. Es gab immer wieder neue
Komplikationen: einen Schlaganfall, Hirnhautentzündung, Lungenentzündung und Herzversagen. Jens hat
sich immer wieder in das Leben zurückgekämpft; doch
mit fünf Jahren brauchte er ein neues Herz. Nach Monaten des Wartens konnte ihm endlich ein Spenderorgan
eingepflanzt werden. Jens Bossers engagiert sich seitdem ganz besonders, um dafür zu werben, dass sich
mehr Menschen bereit erklären, einen Organspendeausweis auszufüllen. Das verweist auf eine der vielen Initiativen, mit denen bürgerschaftliches Engagement gezeigt
wird; davon hat auch schon Herr Steinmeier gesprochen.
Sie reichen jedoch nicht, um mehr Menschen zu überzeugen, einen Organspendeausweis auszufüllen.
Nirgends liegen das Leben und der Tod so nahe beieinander wie bei diesem Thema; denn der Tod des einen
Menschen bedeutet die Hoffnung auf ein neues Leben
für denjenigen, der auf einer Warteliste ist. Diese Verknüpfung löst bei den Menschen aber auch Ängste aus.
Deswegen ist es so, dass viele Menschen sich zwar darauf
verlassen wollen, dass dann, wenn sie in der Situation
sind, genügend Spenderorgane zur Verfügung stehen,
dass aber leider noch zu wenige sich einen Ruck geben
und selbst einen Ausweis ausfüllen. Nur etwa 25 Prozent
der Deutschen haben bisher einen solchen Ausweis.
Weil die Organspende ein Akt der Nächstenliebe ist,
auf den es keinen gesellschaftlichen oder moralischen
Anspruch gibt - zu der Organspende muss man sich aktiv entscheiden -, sagen wir den Bürgerinnen und Bürgern nur klipp und klar: Wenn mehr mitmachen, müssen
weniger Menschen warten. Deswegen ist es ein starkes
Signal, dass der Bundestag über die Parteigrenzen hinweg gemeinsam eine Entscheidungslösung vorlegt und
die Menschen in Deutschland dazu aufruft: Beschäftigt
euch mit der Organspende, mindestens einmal im Leben! Gebt euch einen Ruck! Entscheidet euch, am besten
für die Organspende! Wir akzeptieren, wenn ihr euch zu
einem bestimmten Zeitpunkt nicht entscheiden könnt.
Aber wir werden nicht lockerlassen und werden regelmäßig immer wieder informieren. Das sind wir den
Menschen schuldig, die auf einer Warteliste sind und
dringend auf ein Spenderorgan warten.
({0})
Wir sagen den Menschen auch: Jeder Organspender
ist ein Lebensretter. Jeder, der sich zu Lebzeiten für oder
eben auch gegen die Organspende entscheidet, nimmt
diese Entscheidung den Angehörigen ab, die sonst in einer ganz schwierigen Situation im Krankenhaus gefragt
werden: Wie sieht es aus? Können wir bei Ihrem Angehörigen mit einer Organspende rechnen? Dürfen wir die
dazu notwendigen Maßnahmen ergreifen? - In einer so
schwierigen Situation als Angehöriger die Entscheidung
zu treffen, wenn man nicht vorher, zu Lebzeiten sich entschieden hat, ist - das wissen wir - schwer. Es ist gut,
wenn die Menschen sich schon zu Lebzeiten entschieden
haben, weil damit Klarheit auch für die Angehörigen in
schwierigen Situationen besteht.
Das ist die eine Seite der beiden Gesetzentwürfe,
nämlich dass wir sehr viel dafür tun wollen, dass Menschen besser informiert werden, aufgeklärt werden, eben
auch dadurch, dass die Krankenkassen und Krankenversicherungen erstmals alle Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland anschreiben und einen Organspendeausweis zur Verfügung stellen, damit man den einmal in der
Hand hat, damit man ihn am besten gleich ausfüllen
kann. Das hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Das
ist das, was die Entscheidungslösung impliziert.
Aber nicht nur die Krankenversicherungen schreiben
ihre Versicherten regelmäßig an. In den Behörden werden Informationen ausgelegt. Wir werden eine große Öffentlichkeitskampagne starten, um die Menschen besser
aufzuklären; denn viele haben noch offene Fragen. Diese
Fragen können beantwortet werden.
Dazu gehört, dass wir auch die rechtlichen Rahmenbedingungen verbessern wollen. Es ist schon angesprochen worden: Nicht nur die Bereitschaft, einen Organspendeausweis auszufüllen, wollen wir steigern, sondern
wir wollen auch dafür sorgen, dass die Anzahl der Organspenden steigt. Ich will es nicht akzeptieren - das darf
uns nicht ruhen lassen -, wenn wir feststellen, dass in
den Regionen und auch in einzelnen Städten die Krankenhäuser unterschiedlich viele potenzielle Organspender melden. Es ist richtig, dass wir nun endlich gesetzlich dafür sorgen, dass in jedem Entnahmekrankenhaus
ein Transplantationsbeauftragter zu bestellen ist, der
konkreter Ansprechpartner für den Ablauf und den Prozess im Krankenhaus ist, damit mehr potenzielle Organspender gewonnen werden, die Abläufe verbessert werden und in den Krankenhäusern die Zuständigkeiten klar
geregelt sind.
Wir brauchen daneben rechtliche Rahmenbedingungen für die Lebendspende. Die Lebendspende ist ein altruistisches Handeln. Deswegen darf der, der sich für die
Lebendspende entscheidet, keine Nachteile erleiden. Wir
regeln jetzt endlich klar, dass die Versicherung des Empfängers - die Krankenversicherung im Wesentlichen auch für die Kosten beim Lebendspender zuständig ist.
Wir regeln ferner die Entgeltfortzahlung und die unfallversicherungsrechtlichen Fragen, sodass der Lebendspender sich auch darauf verlassen kann, dass er, wenn
er sich für diesen Weg entscheidet, keine Nachteile erleidet oder keinen Ärger bekommt.
({1})
Wir sorgen insofern für mehr Transparenz, für Verlässlichkeit und auch für mehr Vertrauen. Bei dem so
sensiblen Thema der Organspende ist es, glaube ich, das
Allerwichtigste, dass sich die Menschen auf etwas verlassen können.
Wichtig ist aber auch die Frage des Datenschutzes.
Ich will mich an die Grünen und die Linken wenden, die
einige Fragen und auch den einen oder anderen Kritikpunkt eingebracht haben. Ich will Ihnen die Sorgen nehmen.
Für mich ist völlig klar, dass weiterhin der Patient und
Versicherte Herr seiner Daten bleibt. Er entscheidet, wer
Zugang zu diesen Daten hat. Deswegen wird es auch mit
dieser Gesetzesänderung kein Schreibrecht der Krankenkassen oder auch keine Einsicht der Krankenkassen in
die hochsensiblen Gesundheitsdaten geben. Aber es ist
in diesem Gesetzentwurf vorgesehen, dass in einer Zeit,
in der das technisch möglich ist, die Erklärung zur Organspende natürlich auch auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden kann - nicht kombiniert
mit den Gesundheitsdaten, sondern in einem eigenen
Fach. Ich glaube, das ist sogar ein Stück mehr Datenschutz.
({2})
Der Zugriff auf die Erklärung, die eine hochsensible und
persönliche Entscheidung ist, ist beim Organspendeausweis, den ich offen trage, viel einfacher als bei der elektronischen Gesundheitskarte, bei der ich entscheide, wer
darauf zugreifen darf. Insofern ist diese Regelung ein
Mehr und nicht ein Weniger an Datenschutz.
({3})
Von den Grünen werden insbesondere die Regelungen
zur Forschung kritisiert. Ich sage klipp und klar, dass die
Datenschutzregeln bei der Forschung eingehalten werden. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat heute noch
einmal klipp und klar bestätigt, dass er die Regeln des
Datenschutzes gewahrt sieht und deswegen keine Bedenken gegen diese Regelung hat. Wir müssen aber auch
in der Forschung weiterkommen. Wir dürfen bei der Organtransplantationswissenschaft nicht haltmachen und
auf dem Stand von vor 10 oder 20 Jahren bleiben. Wir
sind den Menschen, die häufig auch Folgeschäden haben
und eine medikamentöse Behandlung benötigen, verpflichtet, alles dafür zu tun, in der Forschung weiterzukommen. Deswegen sind die Daten der Person anonymisiert. Nur wenn eine Einwilligung der Person vorliegt,
können personenbezogene Daten für Forschungszwecke
genutzt werden. Hier sind somit die Regeln des Datenschutzes gewahrt. Dies hat der Bundesdatenschutzbeauftragte bestätigt. Auch die Organtransplantationsmediziner bestätigen, wie wichtig es ist, dass wir in der
Forschung weiterkommen.
({4})
Es ist insofern ein starkes Signal, dass sich der gesamte Bundestag einig ist, dass wir die Bürgerinnen und
Bürger auffordern, sich mit dem Thema Organspende zu
beschäftigen. Es ist auch ein starkes Signal, dass wir mit
großer Mehrheit Veränderungen im Transplantationsgesetz vornehmen, um die konkreten Abläufe und Rahmenbedingungen für die Organspende zu verbessern.
Heute ist ein guter Tag für die Menschen in Deutschland,
die vom Thema Organspende betroffen sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Die Kollegin Dr. Martina Bunge hat jetzt das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Seit 45 Jahren schafft der medizinische
Fortschritt die Möglichkeit, bei Organversagen durch
Transplantation eines Spenderorgans nicht mehr bedingungslos dem Tod ausgeliefert zu sein. Vor 15 Jahren hat
in Deutschland der Gesetzgeber nach einer langen gesellschaftlichen und parlamentarischen Debatte Organspende und Transplantation einen gesetzlichen Rahmen
gegeben. Natürlich gingen ethische, werteorientierte
Diskussionen weiter. Der medizinische Fortschritt hat
insbesondere durch die Computertechnik eine Dynamik
bekommen, die wir alle kaum erwartet haben. Es
brauchte also eines Impulses, um das Gesetz weiterzuentwickeln und zu verbessern.
Der Impuls für das Transplantationsänderungsgesetz
ist durch die EU-Richtlinie über Qualitäts- und Sicherheitsstandards gekommen. Der Gruppenantrag ist nach
der bekannten Vereinbarung aller Fraktionsvorsitzenden
im letzten Jahr auf den Weg gebracht worden. Dieser
Gesetzentwurf bittet alle Bürgerinnen und Bürger, sich
mit dem Thema Organspende zu beschäftigen, sich möglichst zu entscheiden und dies auch zu dokumentieren.
({0})
Ich sage aber auch: Für einen optimalen Rahmen für
Organspende und Transplantation werden die vorgelegten Gesetzesinitiativen allein nicht ausreichen. Organspende wie Transplantation brauchen zuallererst ein solidarisches Gesundheitssystem. Das Gesundheitssystem
der Bundesrepublik marschiert gerade in die andere
Richtung: in die der Privatisierung und Kommerzialisierung.
({1})
Aufgabe eines solidarischen Gesundheitssystems und
einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik ist für mich
zuallererst, Menschen gesund zu erhalten, um einen Organverlust möglichst zu vermeiden. Mir war es wichtig,
dass dieser Gedanke an prononcierter Stelle in den
Gruppenantrag eingebracht wurde. Ich denke: Der erste
Satz ist eine solche Stelle.
({2})
Lassen Sie mich zuerst aber noch einige Dinge zum
Transplantationsgesetz der Bundesrepublik sagen. Es
setzt auf Selbstlosigkeit und Vertrauen der Bürgerinnen
und Bürger. Dafür sind - der Minister sagte es eben Transparenz und Kontrolle der Abläufe unerlässlich.
Aufgabe der Novelle des Transplantationsgesetzes wäre
es gewesen, dass mehr Vertrauen geschaffen wird, indem
Unsicherheiten, die in den letzten 15 Jahren zutage getreten sind, abgebaut werden.
Leider haben die Bundesregierung und die Koalition
aber etliche Möglichkeiten, Besseres zu schaffen, ver21690
schenkt. So bleibt es beim komplizierten Netzwerk von
Kooperationsmustern und Entscheidungsprozessen. Insbesondere halten wir die Deutsche Stiftung Organtransplantation vom Rechtsstatus her als Koordinierungsstelle
für problematisch. Hier muss die Politik unbedingt dranbleiben.
({3})
Handlungsbedarf sehen wir bei der Ausgestaltung der
Beratungsangebote. Beratung allein über Broschüren
oder andere Printmedien den Krankenkassen und der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zu überlassen, wird der sensiblen und ethisch geprägten Problematik von Organspende und Transplantation nicht gerecht.
Offene Fragen bleiben bei den Zuteilungskriterien
von Organen. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse
zum Transport von expandierten Organen werden nicht
hinreichend berücksichtigt. Auch neue Erkenntnisse
zum Hirntod wurden nicht angefasst, nicht ausdiskutiert
und nicht berücksichtigt.
In unserem Entschließungsantrag haben wir unsere
Kritik an diesem Gesetzentwurf komplex dargelegt und
unsere Vorschläge fixiert. So werden wir, auch wenn die
Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen etliches Vernünftige gebracht haben - genannt sei die soziale Sicherung bei Lebendspenden -, den Gesetzentwurf zur
Änderung des Transplantationsgesetzes insgesamt ablehnen.
({4})
Schade, dass die Chancen vergeben wurden!
({5})
Ich habe mich an der Erarbeitung des Gruppenantrags
zur Entscheidungslösung beteiligt. Der Kompromiss war
nicht einfach, aber die Arbeit daran beispielhaft, denke
ich. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei allen Beteiligten aus den anderen Fraktionen und von der Bundesregierung recht herzlich vor allen Dingen für die
Fairness bedanken.
({6})
Mit dem Gesetzentwurf soll erreicht werden, dass die
vorhandene Bereitschaft in der Bevölkerung zur Organspende umfassender bzw. häufiger dokumentiert wird.
Die Kolleginnen und Kollegen aller anderen Fraktionen wollten, dass diese Entscheidung auch auf der künftigen Generation der elektronischen Gesundheitskarte
gespeichert wird. Mir war wichtig, dass die bekannte
Pappkarte erhalten bleibt, damit jeder auch mit einem
Stift sein Kreuz machen kann, um zu dokumentieren, ob
er das will oder nicht.
Obwohl meine Fraktion der elektronischen Gesundheitskarte skeptisch gegenübersteht, trage ich den vereinbarten Kompromiss mit und werde daher den vorliegenden Änderungsanträgen zur Streichung dieser
Passagen nicht zustimmen; denn ein Kompromiss hat
immer mehrere Bestandteile, und wenn man einen herausbricht, kann das ganze Gebäude zusammenfallen.
({7})
Im Ergebnis wird dieses Gesetz die Organspende und
die Transplantation hoffentlich stärker ins Bewusstsein
der Menschen rücken - immer mit dem Ziel, niemanden
zu einer Entscheidung zu zwingen, aber dann, wenn die
Entscheidung schon gefallen ist, sei sie nun zustimmend
oder ablehnend, das auch zu dokumentieren und die Entscheidung wahrlich nicht - der Minister hat die Situation
geschildert - den Familienangehörigen im Fall der Fälle
aufzuhalsen.
Ich hoffe, dass diese Gesetzesänderungen medial
nicht nur Horrorszenarien provozieren, sondern eine offene gesellschaftliche Diskussion entfachen werden.
Mit diesem Gesetzgebungsverfahren wird der Prozess
nicht abgeschlossen sein. Irgendwann werden wir wieder
darangehen müssen, vieles anders und besser zu regeln.
Ich hoffe, dass das dann auch fraktionsübergreifend geschieht; denn Organspende und Transplantation leben
von einem gesellschaftlichen Konsens.
Ich danke Ihnen.
({8})
Der Kollege Dr. Harald Terpe hat das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir befinden heute abschließend über zwei Gesetzentwürfe, die sich mit dem sensiblen Thema Organtransplantation beschäftigen - sensibel deshalb, weil
einerseits viele schwer Erkrankte auf den überlebenswichtigen Empfang eines intakten Organs hoffen und
andererseits im Falle der ernstzunehmenden, zumeist angewandten sogenannten postmortalen Organspende zutiefst individuelle Fragen von Sterben, Tod und körperlicher Integrität berührt sind. Umso beachtlicher ist es,
dass nach sehr ernsthafter und konstruktiver Diskussion
zwischen den Fraktionsvorsitzenden und den Fachpolitikern der im Bundestag vertretenen Parteien die übergroße Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen aus allen
Fraktionen des Hauses den vorliegenden Gruppenantrag
unterstützt.
Auch ich werbe für die Unterstützung dieses Gruppenantrages. Die weitreichende Bedeutung der Regelung
der Entscheidungslösung ergibt sich für mich zunächst
aus ganz grundsätzlichen Erwägungen. Die Systematik
des Gesetzentwurfs verfolgt das Ziel der informierten
Selbstentscheidung bezüglich der Organspendebereitschaft und deren Dokumentation. Hier wird also noch
einmal das Prinzip untermauert, dass Organspende nur
nach Zustimmung erfolgen kann und nicht der Spender
eine Fremdentscheidung abwehren muss.
Der Gesetzentwurf stellt darüber hinaus vernünftigerweise erstmals ausdrücklich klar, dass keine Person verpflichtet werden kann, eine Erklärung zur Organspende
abzugeben. Außerdem legt er fest, dass Bürgerinnen und
Bürger umfassend aufgeklärt und informiert werden
müssen.
({0})
Dabei muss die gesamte Tragweite der Entscheidung zur
Sprache kommen, beispielsweise hinsichtlich des den
Betroffenen oft nicht bekannten Einflusses, den eine
postmortale Organspende auf die Verlängerung des Sterbeprozesses haben kann.
Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal auf die
Hirntoddiskussion eingehen. Mit dem jetzigen Gesetzentwurf wird an der Hirntodkonzeption zunächst keine
Änderung vorgenommen. Das enthebt uns aber nicht der
Verpflichtung, uns in Zukunft auch darüber Gedanken zu
machen, dass unsere Techniken der Hirntoddiagnostik
dazu führen müssen, zweifelsfrei den Tod des gesamten
Gehirns - also des Stammhirns, des Großhirns und des
Kleinhirns - festzustellen.
({1})
Wir wissen, dass es Diskussionen zwischen den europäischen Ländern gibt. An dieser Stelle wird sicherlich
noch weiter diskutiert werden müssen.
Ich möchte noch eine Anmerkung zur Patientenverfügung machen. Man muss darauf hinweisen, dass es in
dem Zusammenhang Wertungswidersprüche geben
kann. Auch hier muss eine entsprechende Information an
die Versicherten erfolgen.
Gleichzeitig hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Strukturen und Abläufe in den
Krankenhäusern optimieren soll und damit vermutlich
ebenso entscheidend für eine Verbesserung der Transplantationsmedizin und für die Erhöhung der Zahl der
Organempfänger ist. Dazu gehört beispielsweise die verpflichtende Einführung von Transplantationsbeauftragten - hierzu ist schon einiges gesagt worden -; das halte
ich für eine sehr wichtige Maßnahme. All diese Maßnahmen werden zur Verbesserung der Situation beitragen,
und zwar in der Weise, dass es mehr spendenbereiten
Menschen als bisher ermöglicht wird, dies tatsächlich zu
tun. Das unterstütze ich ausdrücklich.
Sehr wichtig ist in diesem Gesetzentwurf die deutliche Qualitätsverbesserung, was die Lebendspende betrifft. Das ist anzuerkennen. Ganz grundlegend für die
Spendenbereitschaft als solche und damit verbunden die
Zahl der Organspenden ist allerdings das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger darin, dass beteiligte Personen
und Institutionen mit den gespendeten Organen sorgsam
und redlich umgehen. Vertrauen ist ein hohes Gut, das
aber auch schnell erschüttert werden kann. Deshalb
muss Vertrauen sorgsam bewahrt bzw. wiederhergestellt
werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur technisch-organisatorischen Veränderung des Transplantationsgesetzes
tut das nach unserer Auffassung nicht immer. Beispielsweise soll es nun möglich sein, dass zukünftig Krankendaten von Organspendern und -empfängern auch für
kommerzielle Forschungsvorhaben weitergegeben werden dürfen. Hierzu muss ich anmerken: Das ist ein
Bruch mit der bisherigen Gesetzeslage.
({2})
Das heißt nicht, dass Bündnis 90/Die Grünen gegen jede
Art von Forschung wären. Bereits im Rahmen des jetzigen Gesetzes waren Forschungsvorhaben möglich. Die
vorliegende Neuerung ist aber geeignet, das wichtige
Vertrauen der Menschen in die altruistische Organspende nachhaltig zu beeinträchtigen.
Ein weiterer heikler Punkt ist der Vertrauensverlust
gegenüber der DSO in den letzten Wochen und Monaten.
Unser gemeinsames Ziel muss sein, dass eine vertrauenswürdige und effektive, ethisch über jeden Zweifel erhabene Koordination des Organtransplantationswesens
sowohl personell als auch strukturell sichergestellt wird.
Deshalb ist es wichtig, jetzt Transparenz herzustellen
und nachhaltige Kontrollmechanismen durchzusetzen,
({3})
zumal der Gesetzgeber aufgrund der EU-Richtlinie Qualität und Sicherheit sicherzustellen hat. Eine Organisationsstruktur, in der beteiligte Organisationen und Personen zugleich Nutznießer und Kontrolleure sein können
- das ist kein Vorwurf -, erzeugt zwangsläufig Misstrauen in der Bevölkerung. Meiner Meinung nach schaffen weder Gesetzentwurf noch Entschließungsantrag
von Koalition und SPD diesbezüglich ausreichend Abhilfe. Ich konstatiere, dass etwas gemacht worden ist,
aber das geht meiner Meinung nach nicht weit genug.
({4})
Ich verspreche Ihnen, dass wir von Bündnis 90/Die
Grünen dieses Thema weiterverfolgen werden, um dann
möglichst einvernehmliche Lösungen zu erzielen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Jens Spahn hat jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Deutschland warten derzeit 12 000 Menschen auf ein
Spenderorgan. Jeden Tag sterben drei Menschen, weil
sie kein Spenderorgan erhalten haben. Sie warteten vergeblich. Jeder, der schon einmal mit Wartenden gesprochen hat, etwa mit jemandem, der regelmäßig zur Dialyse muss und auf eine Niere wartet, weiß, was das jeden
Tag an Einschränkungen für die Lebensqualität bedeutet,
und wie groß die Hoffnung ist, dass endlich der erlösende Anruf kommt, dass es einen Spender gibt. Er
weiß, dass wir sowohl im Deutschen Bundestag als auch
in der Gesellschaft die Verpflichtung haben, uns intensiv
mit der Frage zu beschäftigen, wie wir die Zahl derjenigen erhöhen könnten, die bereit sind, ein Organ zu spenden.
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt. Wir wissen
aus vielen Gesprächen, dass sich die Menschen in Bezug
auf das Thema Organspende Sorgen machen. Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen. Sie fragen sich: Wenn ich
als Organspender in ein Krankenhaus eingeliefert werde,
wird dann wirklich alles für mich getan? Wird man sich
wirklich um mich kümmern, oder werde ich schon als
potenzieller Organspender behandelt? Die Debatte in
den letzten Monaten hat gezeigt, dass wir uns sehr differenziert, sehr sachlich und tiefgehend mit diesem Thema
auseinandersetzen und die Ängste und Sorgen auf beiden
Seiten ernst nehmen.
Um es klar festzuhalten: Es gibt kein Recht auf eine
Spende, aber wir alle haben gegenüber denjenigen, die
warten, die Verpflichtung, dass wir uns mit diesem
Thema auseinandersetzen. Jeder Einzelne hat die Pflicht
- zumindest eine moralische -, für sich zu überlegen,
wie er sich zum Thema Organspende verhalten will. Ist
man im Fall der Fälle bereit, zu sagen: „Ja, ich bin Organspender“? Oder sagt man - was genauso legitim ist -:
„Nein, ich möchte aus verschiedenen, persönlichen
Gründen keine Organe spenden“? Diese Verpflichtung
hat man im Übrigen auch gegenüber den eigenen Angehörigen - das wurde eben schon erwähnt -; denn wenn
man sich nicht zu Lebzeiten entscheidet, dann müssen
im Regelfall die Angehörigen für einen entscheiden, für
die das eine wahnsinnig schwierig Situation ist; denn sie
müssen ermessen, was der Angehörige gewollt haben
könnte.
Ich bin dankbar, dass wir in den vergangenen Monaten fraktionsübergreifend und umfassend über dieses
Thema diskutiert haben, und heute über zwei Gesetzentwürfe zur Verbesserung des Transplantationsgesetzes
beschließen können. Dazu gehört zum einen, dass wir
die Abläufe in den Krankenhäusern verbessern. Das
klingt zunächst banal und sehr technisch, es ist aber für
die konkrete Situation wichtig. Es geht beispielsweise
um die Fragen: Wer spricht mit den Angehörigen, nachdem der Hirntod festgestellt wurde? Wer hat im Krankenhaus, wo es manchmal hektisch zugeht, den Überblick, überhaupt das Thema Organspende im Blick? Wer
achtet darauf, ob ein Patient auf der Intensivstation mit
einer entsprechenden Diagnostik einen Organspendeausweis hat oder nicht? Es stellt sich auch die Frage: Wie
wird eine Organentnahme vergütet? Für Krankenhäuser
ist es eine Herausforderung, wenn der Operationssaal
plötzlich stundenlang wegen einer Organentnahme belegt ist. Man muss auch darauf achten, dass niemand
finanzielle Nachteile hat und dadurch falsche Anreize
entstehen. Insofern regeln wir zum Teil sehr Technisches, was aber für die konkreten Abläufe in den Krankenhäusern sehr wichtig ist, um auch die Bereitschaft
zur Organspende derjenigen zu erhöhen, die sie am Ende
umsetzen müssen.
Zweitens komme ich zum Thema der Lebendspende,
das schon angesprochen worden ist. Bisher war es ein
unhaltbarer Zustand, dass diejenigen, die zu Lebzeiten
bereit waren, zu spenden, sich in einer sozialrechtlich
unsicheren Situation befanden, wenn es um Folgeerkrankungen, Verdienstausfall und vieles andere mehr ging.
Das wollten wir jetzt endlich regeln.
Drittens geht es um die gerade angesprochene Entscheidungslösung. Wir wollen mehr Informationen nicht
nur auf Plakatwände, sondern in die Familien bringen. In
Zukunft werden regelmäßig alle Versicherten - gesetzlich wie privat Versicherte - in Deutschland angeschrieben. Ich stelle mir schon ganz lebenspraktisch vor, dass
es Diskussionen am Frühstückstisch, am Mittagstisch
oder abends in der Familie bzw. im Freundeskreis geben
wird: Wie hältst du es denn eigentlich mit der Organspende? Weiter stelle ich mir vor, dass sich nach dieser
Diskussion miteinander in der Familie jeder besser als
bisher in der Lage sieht, eine Entscheidung zu treffen.
Deswegen wollen wir - manche empfinden übrigens
schon das als Zumutung - durch das Anschreiben eine
etwas regelmäßigere und ein wenig individuellere Konfrontation mit dem Thema Organspende erreichen, damit
die Menschen sich mit der, wie ich sie gerade nannte,
moralischen Verpflichtung auch gegenüber denjenigen,
die warten, auseinandersetzen. Wir wollen aber - das ist
der großen Mehrheit von uns hier wichtig - keinen
Zwang zur Entscheidung oder gar zur Organspende ausüben.
Das vierte wichtige Thema, das wir regeln, betrifft die
Nachsorge für Organspender. Hier gibt es heute zum Teil
Defizite. Es geht darum, dafür zu sorgen, dass diejenigen,
die Organe spendeten, und diejenigen, die die Organe
bekamen - manchmal gibt es ja Abwehrreaktionen des
Körpers -, eine gute Nachsorgebehandlung bzw. Unterstützung erhalten. Diese sollte spezialfachärztlich mit
entsprechenden Qualitätsstrukturen stattfinden.
Dazu gehört - ich möchte abschließend gerne noch
etwas zur problematischen Debatte der letzten Tage sagen - auch das Thema der Forschung in der Zukunft. Ich
war schon etwas überrascht, als aufseiten der Grünen das
Thema Datenschutz bei den Forschungsdaten gestern
noch einmal grundsätzlich, ohne dass es im Ausschuss
oder in den vorherigen Gesprächen noch einmal so intensiv thematisiert worden wäre, hochkam. Wir sehen
natürlich, was Ihr Punkt ist. Dazu haben wir auch in den
entsprechenden Anträgen etwas gesagt. Es geht da am
Ende um einen Spagat zwischen den individuellen Daten
und dem Interesse an Forschungsergebnissen. Das Problem ist nun einmal, dass die Zahl derjenigen, an denen
geforscht bzw. beobachtet werden kann, was eigentlich
nach einer Organspende passiert, welche entsprechenden
Folgeerkrankungen es gibt und wie bestimmte Medikamente wirken, ziemlich klein ist. Es gibt im Land im
Vergleich zu anderen Erkrankungen relativ wenige Fälle.
Deswegen ist es nicht immer möglich, bis hinauf zur
höchsten Ebene alles zu anonymisieren.
Dazu hat auch der Datenschutzbeauftragte hier gesagt: Angesichts des legitimen Interesses im Sinne derjenigen, die Hilfe brauchen, nach vorn zu kommen und dabei neue Forschungserkenntnisse zu gewinnen - dabei
geht es auch darum, wie entsprechende Arzneimittel
wirken -, ist es wichtig, diese Daten zu ermitteln. Deswegen glaube ich schon, dass das, was wir hier regeln,
unterm Strich vertretbar ist.
Abschließend will ich noch kurz etwas zur Deutschen
Stiftung Organtransplantation, DSO, sagen. Leider ist es
so, dass die Strukturen in dieser Organisation, die wir
damit beauftragt haben, die Organspenden in Deutschland abzuwickeln, die Abläufe zu organisieren und für
Strukturen zu sorgen, nicht so sind, wie sie sein sollten.
Zunächst einmal sind sie nicht transparent und nachvollziehbar. Da hat es - auch im Umgang mit Geld - Fehlverhalten gegeben. Es gibt nicht wenige, die sagen: Wer
schon mit Geld so schludrig umgeht, ist es dann vielleicht - und hier geht es ja um Leben und Tod - auch in
anderen Fällen. Deswegen müssen wir diese Debatte
sehr ernst nehmen. Wir müssen aufpassen, dass die Debatte über die DSO bzw. die Missstände, die es dort gibt
oder zumindest gab - wie weit sie abgestellt sind, müssen wir jetzt noch einmal nachvollziehen -, nicht die
Organspendebereitschaft zu reduzieren droht; denn die
Menschen sind natürlich zu Recht verunsichert und fragen sich, ob die Abläufe so in Ordnung sind. Deswegen
haben wir in der Koalition gesagt: Gemeinsam mit der
SPD wollen wir in einem ersten Schritt - durch diesen
Änderungsantrag - im Transplantationsgesetz mehr
Transparenz schaffen, zum Beispiel, indem wir dafür
sorgen, dass der Geschäftsbericht veröffentlicht werden
muss, und indem die Aufsichtsgremien dieser Stiftung
und die Auftraggeber noch stärker verpflichtet werden,
auf die Strukturen zu achten. Wir verpflichten uns dazu
- das steht im Entschließungsantrag -, die bei der DSO
für Organspende Verantwortlichen regelmäßig in den
Gesundheitsausschuss einzuladen und zu fragen, wie sie
dafür sorgen, dass die Strukturen besser werden, damit
Fälle wie die, über die in den Medien berichtet worden
ist, nicht wieder vorkommen können.
Ich bitte Sie, dass wir das gemeinsam angehen. Bei
aller Kritik, die wir hier gehört haben, sollten wir das
Ganze differenziert und nüchtern betrachten und nicht in
Abrede stellen, dass das, was wir heute gemeinsam beschließen wollen, ein Erfolg ist. Ich glaube, das Schlechteste, was passieren könnte, wäre, dass die Debatte über
die DSO - diese Debatte müssen wir führen, und wir haben uns vorgenommen, diese Debatte zu führen - die
Debatte über die Erfolge für die Menschen, die in
Deutschland auf ein Organ warten, und für die Menschen, die bereit sind, Organe zu spenden, überlagern
würde. Unterm Strich ist es doch eigentlich ein schönes
Zeichen, dass wir heute mit so großer Mehrheit etwas
Gutes für viele Menschen in Deutschland tun.
({0})
Kollegin Dr. Marlies Volkmer hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Beide Gesetzentwürfe, die
uns heute vorliegen, sowohl der Gesetzentwurf zur Regelung der Entscheidungslösung als auch der Gesetzentwurf zur Änderung des Transplantationsgesetzes, sind
im Rahmen einer intensiven interfraktionellen Zusammenarbeit entstanden. Uns eint der Wille, dass schwerkranke Menschen, die auf ein Organ warten, eine deutliche Verbesserung erfahren.
In der ersten Lesung habe ich davon gesprochen, dass
es dringend notwendig ist, die Situation von Lebendspendern, also von Menschen, die zum Beispiel einem
Angehörigen eine Niere gespendet haben, zu verbessern.
In der ersten Lesung haben wir auch über einen anderen
Punkt gesprochen. Wir haben gesagt: Wir müssen die organisatorischen Abläufe in den Krankenhäusern bei einer möglichen Organspende optimieren, und wir müssen
sie vereinheitlichen. All das erreichen wir mit der Neufassung des Transplantationsgesetzes.
Der Bundesregierung ging es ursprünglich darum,
eine europäische Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen. Doch was uns jetzt vorliegt, ist viel mehr. Durch gemeinsam von CDU/CSU, FDP und SPD eingebrachte
Änderungsanträge regeln wir im Gesetzentwurf nun zum
Beispiel die Lohnfortzahlung und die Krankengeldleistung für die Lebendspender, verbessern wir die Nachbehandlung für Lebendspender, und wir schaffen Klarheit
beim Versicherungsschutz, und das war dringend notwendig.
Im Gesetzentwurf steht, dass in den Krankenhäusern
künftig Transplantationsbeauftragte verbindlich vorgesehen sind. Auch ihre Kompetenzen und Aufgaben werden
beschrieben. Ziel ist es, dass potenzielle Organspender
besser identifiziert werden als heute und alle Mitarbeiter
im Krankenhaus für die Belange der Organspende sensibilisiert werden; denn es ist ganz entscheidend, welches
Klima in einem Krankenhaus herrscht. Wir können uns
nicht damit zufriedengeben, dass nur ungefähr die Hälfte
aller Krankenhäuser, die über Intensivstationen verfügen, potenzielle Organspender meldet.
Die Transplantationsbeauftragten haben auch die
Aufgabe, die Zusammenarbeit mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation zu koordinieren. Diese Stiftung organisiert alle Schritte des Organspendeprozesses
rund um die Uhr, einschließlich des Transports der Organe zu den Transplantationszentren, sodass eine Organentnahme in jedem Krankenhaus möglich ist. Für die
Vermittlung der Organe ist die DSO allerdings nicht zuständig. Dafür ist die gemeinnützige europäische Stiftung Eurotransplant zuständig, an der acht europäische
Länder beteiligt sind. Uns als Parlamentarierinnen und
Parlamentariern ist sehr daran gelegen, dass die Menschen Vertrauen in diese Organisation haben können.
Dies ist mir auch ganz persönlich wichtig; denn ich habe
schon lange einen Organspenderausweis und möchte,
dass im Fall der Fälle mit mir bzw. meinen Organen gut
und verantwortlich umgegangen wird.
Nun ist dieses Vertrauen in der letzten Zeit durch Vorwürfe in den Medien gegen die DSO belastet worden.
Wir haben uns im Gesundheitsausschuss mit diesen Fragen beschäftigt. Dabei ging es nicht um die eigentliche
Arbeit der DSO, also die Koordination der Organspende,
sondern um Ungereimtheiten in internen Abläufen. Von
daher ist es richtig, dass sich die DSO jetzt eine Strukturreform verordnet hat, um Mängel in der Geschäftsführung zu beseitigen und für mehr Transparenz zu sorgen.
Der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages wird diesen Reformprozess kritisch begleiten. Wir
werden uns regelmäßig Bericht erstatten lassen, welche
Satzungsänderungen vorgenommen werden und welche
Fortschritte es zu dem jeweiligen Zeitpunkt gibt. Das haben wir im Entschließungsantrag bekräftigt, der heute
zur Abstimmung vorliegt. Uns als SPD war es wichtig,
dass wir darüber hinaus auch im Gesetz die Kontrolle
der Stiftung verschärfen. Von der Verpflichtung, den Geschäftsbericht zu veröffentlichen, erwarten wir, dass die
Arbeit transparenter wird.
Wir verabschieden heute beide Gesetzentwürfe mit
einer breiten Mehrheit. Die Gesetze müssen dann mit
Leben erfüllt werden. Die Aufgabe, die Menschen zu einer informierten Entscheidung für die Organspende zu
motivieren, obliegt nicht allein den Krankenkassen und
auch nicht allein der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung, die künftig verstärkt zum Thema Organspende informiert und die entsprechende finanzielle
Ausstattung dafür erhalten wird. Auch Ärztinnen und
Ärzte sowie Apothekerinnen und Apotheker haben sich
selbst verpflichtet, über die Organspende aufzuklären.
Ich denke, auch wir sind gefragt. Bei unseren Veranstaltungen und Gesprächen können wir als Multiplikatoren wirken. Wir können die Menschen informieren, und
wir können mit ihnen diskutieren. Wir müssen ihre Bedenken ernst nehmen, aber ich denke, wir können auch
viele ihrer Bedenken ausräumen. Viele von uns sind
schon lange Zeit in diesem Bereich engagiert. Ich appelliere an die Übrigen, es uns gleichzutun.
({0})
Michael Kauch hat das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe. Der Gruppenantrag,
der fraktionsübergreifend erarbeitet wurde, zielt auf die
erhöhte Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod.
Ein großer Knackpunkt im Transplantationswesen in
Deutschland ist aber auch die Umsetzung von Organspenden in den Krankenhäusern. Deshalb hat der Bundesgesundheitsminister dankenswerterweise nicht nur
die EU-Richtlinie zu Qualitäts- und Sicherheitsstandards
von Organspenden umgesetzt, sondern auch Anforderungen an die Organisation in den Krankenhäusern in
seinen Gesetzentwurf aufgenommen.
Durch einen Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen und der SPD sollen auch die Fragen der versicherungsrechtlichen Behandlung von Lebendspenden geregelt werden. Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht
der modernen Medizin“ hatte bereits im Jahr 2005 einen
Zwischenbericht zur Lebendspende an den Deutschen
Bundestag abgegeben, in dem ein zentraler Punkt die
Verbesserung der versicherungsrechtlichen Regelungen
war. Es ist richtig: Immer noch sind Menschen, die ihren
Angehörigen oder engen Freunden aus Nächstenliebe
eine Niere oder einen Teil ihrer Leber spenden, sozial
unzureichend abgesichert. Ich glaube, es ist ein Gebot
der Fairness, dies zu ändern. Dieses Parlament sollte mit
seiner heutigen Entscheidung dafür sorgen, dass im Hinblick auf die Lebendspender Fairness in das Versicherungsrecht Einzug hält.
({0})
Meine Damen und Herren, ich danke insbesondere
Daniel Bahr, dass er an dieser Stelle sehr hartnäckig war
und mit seinem Ministerium sehr viel Unterstützung
gleistet hat. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt
hatte seinerzeit dieses Thema nämlich leider vier Jahre
schleifen lassen, obwohl wir auch damals hier im Parlament entsprechende Debatten geführt haben.
Was wird geändert? Entgeltfortzahlung und Krankengeld gibt es künftig in voller Höhe, und zwar auf Kosten
der Krankenkasse des Empfängers. Wir werden den
Streit über den Umfang der Leistungen im Bereich von
Rehabilitation und Nachsorge beenden. Wir glauben, die
Menschen müssen wissen, dass sie die bestmögliche
Reha und die bestmögliche Nachsorge bekommen und
dass hinterher kein Streit über die Kostenübernahme entsteht.
({1})
Generell ist es wichtig, dass der immer wieder aufgetretene Streit zwischen der gesetzlichen Unfallversicherung und den Krankenkassen über die Frage, ob eine Erkrankung Spätfolge einer Transplantation ist, beendet
wird. Bei gesetzlich Versicherten kann man sagen: Sie
bekommen die Leistung, und die Krankenkasse streitet
sich hinterher mit der Unfallversicherung, wer sie bezahlt. - Bei Privatversicherten ist das heute anders.
Wenn die Krankenkasse sagt: „Die Unfallversicherung
ist zuständig“, dann muss ein Privatversicherter erst einmal in Vorleistung treten, wenn die Unfallversicherung
nicht zahlt. Es kann nicht sein, dass Menschen, die aus
Nächstenliebe gehandelt haben, dann vor Gericht die Erstattung ihrer Kosten einklagen müssen. Das ist ein ganz
zentraler Punkt, den wir mit dem Gesetzentwurf, den wir
heute beschließen, regeln.
({2})
Meine Damen und Herren, in der Debatte um die Lebendspende gibt es natürlich weitere Fragen, die wir
heute nicht regeln. In der Schweiz ist der Anteil der Lebendspender an der Gesamtzahl der Transplantationen
signifikant höher als in Deutschland. Das liegt natürlich
auch an den Regelungen des Transplantationsgesetzes.
So haben wir es beispielsweise immer noch mit einer
rechtlichen Grauzone zu tun, wenn Paare über Kreuz Organe spenden, weil beim eigenen Partner eine Blutgruppenunverträglichkeit vorliegt. Dafür finden Ärzte heute
Lösungen. Aber das ist immer noch eine Grauzone, die
man aus meiner Sicht rechtlich klären müsste.
Das Prinzip der Nachrangigkeit der Lebendspende im
deutschen Transplantationsrecht führt dazu, dass Menschen, die einen Angehörigen haben, der beispielsweise
eine Niere spenden will, bei Verfügbarkeit eines postmortal gespendeten Organs das medizinisch schlechtere
postmortal gespendete Organ nehmen müssen. Ich
glaube, es ist an der Zeit, auf die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu vertrauen und eine persönliche
Entscheidung über den eigenen Körper zuzulassen. Dies
sollte aus meiner Sicht in einem weiteren Schritt geprüft
werden.
Wir konfrontieren die Bürger mit unserem Gruppenantrag zur Regelung der Organspende intensiver mit
dem Thema „Organspende nach dem Tod“. Dabei ist
zweierlei sehr zentral:
Erstens haben wir uns klar für das Prinzip der Freiwilligkeit entschieden. Wir wollen keine Widerspruchslösung, und wir wollen auch nicht, dass man Menschen
quasi zur Organspende zwingt. Es wurde ja unter anderem vorgeschlagen, dass Menschen, die sich in dieser
Frage nicht entscheiden, keine elektronische Gesundheitskarte bekommen sollen. Solche Regelungen waren
mit uns, waren mit der Koalition nicht zu machen. Ich
glaube, es war eine richtige Entscheidung, die wir hier
getroffen haben.
({3})
Zweitens ging es uns um den Datenschutz. Es muss
klar sein, dass es, was höchstpersönliche Entscheidungen betrifft, keine zentralen Datensammelstellen gibt. Es
ist richtig und wichtig, dass wir entschieden haben: An
die entsprechenden Daten kommt nur das medizinische
Personal. Herr über die Daten ist der Bürger und nicht
die Krankenkasse. Kein Mitarbeiter einer Verwaltung,
sondern nur der einzelne Bürger und die Ärzte seines
Vertrauens, die die medizinischen Entscheidungen treffen, sollen Zugang zu den Daten haben.
({4})
Schließlich: Ich finde es gut, dass durch den flächendeckenden Einsatz von Transplantationsbeauftragten mit
dem föderalen Flickenteppich Schluss gemacht wird.
Die Bundesländer haben sehr unterschiedliche Erfolge
mit ihren regionalen Lösungen. Mecklenburg-Vorpommern war jahrelang Spitzenreiter. Dort gibt es etwa
34 Transplantationen pro 1 Million Einwohner. In Baden-Württemberg gibt es etwa zehn Transplantationen.
Das ist die föderale Spannweite. Bevor in NRW das
Transplantationsgesetz geändert wurde, gab es dort sogar nur etwa acht Transplantationen pro 1 Million Einwohner. Das zeigt: Es macht einen Unterschied, wie man
die Krankenhäuser organisiert. Deshalb haben wir von
den besten Ländern gelernt und deren Regelungen in das
Bundesgesetz eingebracht, damit die Situation bundesweit besser wird und nicht nur in den Ländern, die bereits vorn liegen.
Vielen Dank.
({5})
Kathrin Vogler hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte über die Organspende, die wir heute führen,
ist wichtig und notwendig. Viel Richtiges wurde dazu
schon gesagt. Ich möchte einige kritische Fragen auch an
unsere eigene Adresse richten.
Viele Kolleginnen und Kollegen haben es schon gesagt: Wir wissen, dass viele Menschen bei Umfragen
ihre Bereitschaft angeben, nach ihrem Tod Organe für
Transplantationen zu spenden. Die Frage, warum diese
sehr hohe Bereitschaft nicht die Konsequenz hat, dass
diese Menschen sich auch einen Organspendeausweis in
die Brieftasche stecken, haben wir meines Erachtens bisher zu oberflächlich betrachtet.
Den Menschen wird unterstellt, sie seien schlicht zu
bequem, sie verdrängten die unangenehme Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod und mit dem Leiden anderer. Ich bin aber überzeugt, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. In Wirklichkeit ist es doch so, dass die
Menschen viele Fragen haben, dass sie verunsichert sind
und dass sie deswegen nicht die Entscheidung für oder
gegen eine Organspende treffen. Wir sollten diese Verunsicherung ernst nehmen und alle Maßnahmen zur Erhöhung der Spendenbereitschaft daran messen, ob sie
geeignet sind, die berechtigten Sorgen und Fragen der
Menschen angemessen zu beantworten.
Eine Bürgerin hat mich zum Beispiel gefragt: Wenn
ich Organspenderin bin, kann ich dann trotzdem sicher
sein, dass im Fall der Fälle alles getan wird, um mein
Leben zu retten? - Umgekehrt gab es diese Frage: Muss
ich im Sterbeprozess durch die nötigen intensivmedizinischen Maßnahmen vielleicht zusätzlich leiden? - Ein anderer fragte mich, ob seine Organe wirklich diejenigen
bekommen, die sie am dringendsten benötigen, oder ob
da nicht auch wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen. Auch ethische, moralische und religiöse Vorstellungen sowie familiäre Beziehungen und Wertesysteme beeinflussen die Entscheidung.
Was versucht der hier vorliegende Gesetzentwurf dagegenzusetzen? - Moralische Appelle, Werbekampagnen
oder rein technische Lösungen. Ich fürchte, das reicht
nicht, um diese Fragen zu beantworten.
Ich spüre in dieser Debatte immer wieder eine große
Angst davor, dass Menschen von einer Organspende abgehalten werden könnten, wenn wir diese Fragen und
Zweifel zuließen. Ich meine, das ist genau der falsche
Ansatz. Wenn wir Menschen überzeugen und gewinnen
wollen, dann müssen wir ihre Sorgen und Zweifel ernst
nehmen. Wir müssen uns darum kümmern. Wir brauchen nicht nur eine qualifizierte und unabhängige Beratung für die Versicherten, sondern auch eine vollkommene Offenheit und Transparenz bei jeder Stelle, die
damit zu tun hat.
({0})
Ich finde, der Entschließungsantrag der Linken zum
Transplantationsgesetz gibt eine gute Richtung vor, und
ich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen.
Keine Transparenz darf über die ganz persönliche
Entscheidung des Bürgers oder der Bürgerin zur Organspende hergestellt werden. Darin sind wir uns hier hoffentlich alle einig. Darum habe ich gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen einen Änderungsantrag zum
Gruppenantrag für die Entscheidungslösung vorgelegt.
Wir wollen, dass sämtliche Regelungen zur elektronischen Gesundheitskarte aus diesem Gesetz gestrichen
werden,
({1})
denn das würde uns die Möglichkeit geben, uns ausschließlich für die Entscheidungslösung zu entscheiden.
Wir wollen die Entscheidungslösung pur.
Worum geht es uns? - Die öffentlichen Debatten und
auch die heutige Debatte haben den Menschen deutlich
gemacht, was von ihnen erwartet wird, nämlich die Bereitschaft zur Organspende. Selbst wenn wir mit diesem
Gesetz keine weiteren Kontroll- oder Sanktionsmechanismen installieren, kann bei dem Einzelnen der Eindruck entstehen, dass andere - Krankenkassen, der Staat,
medizinisches Personal - kontrollieren könnten, ob und
wie er sich entschieden hat. Die individuelle Entscheidungsfreiheit wird bereits durch diese Vermutung, mag
sie noch so weit hergeholt sein, beeinträchtigt.
Ich will Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen:
Wenn Sie in einem Raum sind, in dem eine Videokamera
installiert ist, dann werden Sie sich so verhalten, als ob
sie eingeschaltet wäre und Sie beobachtet würden. Selbst
wenn ich Ihnen sage, die Kamera sei gar nicht eingeschaltet, können Sie sich nie ganz sicher sein, ob ich
nicht doch vom Nebenraum aus zusehe, wie Sie sich in
der Nase bohren. Das heißt, Ihre Privatsphäre und Ihre
persönliche Freiheit werden durch das bloße Vorhandensein einer solchen technischen Einrichtung eingeschränkt.
({2})
Die Möglichkeit, die Entscheidung zur Organspende
in einer Datenbank zu speichern, installiert ein Kontrollregime, auch wenn Sie alle - und das glaube ich Ihnen das vielleicht gar nicht wollen.
Die Kolleginnen und Kollegen, die mit mir diesen
Änderungsantrag gestellt haben, und ich möchten gerne
den Gruppenantrag zur Einführung der Entscheidungslösung unterstützen, solange die Entscheidung definitiv
und unumstößlich freiwillig bleibt. Das wäre gegeben,
wenn Sie unserem Änderungsantrag zustimmen und die
E-Card aus dem Gesetzentwurf streichen würden. Die
Millionen Euro, die wir dadurch einsparen, könnten etwa
für eine qualifizierte und unabhängige Beratung ausgegeben werden, um den Menschen zu helfen, ihre berechtigten Fragen zu beantworten.
Ich bitte Sie daher um Unterstützung für den Änderungsantrag. Damit würden Sie uns eine Zustimmung zu
dem Gruppenantrag ermöglichen.
({3})
Elisabeth Scharfenberg hat jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute neben einem Gesetzentwurf zur strukturellen Verbesserung auch einen
Gesetzentwurf zur Entscheidungslösung. In diesem Gesetzentwurf sind für mich zwei zentrale Punkte verankert:
Erstens. Die Erklärung zur Organspende bleibt freiwillig. Niemand darf zu einer Entscheidung gezwungen
werden. Das war uns Grünen angesichts der hohen ethischen und auch persönlichen Bedeutung dieses Themas
sehr wichtig.
({0})
Zweitens. Die Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger wird ernst genommen und konsequent umgesetzt.
Das Thema Organspende wird in die Gesellschaft und in
die Familien getragen. Genau dort, in die Familien, gehört es hin.
Diese Aufklärung - das war uns sehr wichtig - muss
ergebnisoffen sein. Sie darf nicht beeinflussen.
({1})
Aufklärung bedeutet nicht, die Menschen zur Zustimmung zur Organspende zu drängen. Aufklärung bedeutet
nicht: Nur ein Ja zur Organspende ist eine richtige Entscheidung.
Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich über alle
Aspekte der Organspende informieren können. Nur so
ist eine bewusste Entscheidung für oder auch gegen eine
Spende möglich. Wie läuft eine Organspende oder auch
eine Organentnahme ab? Was bedeutet der Hirntod genau? Werde ich überhaupt noch ordentlich versorgt,
wenn bekannt ist, dass ich Organspender bin? Das sind
doch die Fragen, die uns allen durch den Kopf gehen.
({2})
Der eingetretene Hirntod und die Bereitschaft zur Organspende verändern den Sterbeprozess und den Abschied von dem Verstorbenen. Das müssen die Menschen auch wissen - diejenigen, die vielleicht einmal
Organe spenden, und auch diejenigen, die Menschen
verlieren.
({3})
Meine Damen und Herren, die Freiwilligkeit der Erklärung und die Ergebnisoffenheit der Aufklärung sind
wichtige Erfolge. Dennoch haben einige Mitglieder dieses Hauses in einigen Punkten erhebliche Bedenken.
Es ist geplant, dass die Krankenkassen ab 2016 die
Organspendeerklärung der Versicherten auf der elektronischen Gesundheitskarte speichern und löschen können. Eine Mehrheit der Abgeordneten der Bündnisgrünen lehnt diese Regelung ab.
Meine Bedenken dazu sind nicht neu. Ich habe sie bereits in der ersten Lesung hier geäußert und auch einen
Änderungsantrag angekündigt. Dieser Änderungsantrag
ist Ihnen allen im März zugegangen, und meine Meinung hat sich nicht geändert: Die geplante Neuregelung
stellt eine Verletzung der bisherigen strengen Datenschutzregeln für die elektronische Gesundheitskarte dar.
Für uns gilt der Grundsatz: Die Kassen haben keinerlei Zugriff auf sensible Versichertendaten - auch nicht
als Serviceleistung.
({4})
Das darf sich nicht ändern.
Das sehen andere übrigens genauso. Der Datenschutzbeauftragte Peter Schaar, die Bundesärztekammer,
die Verbraucherzentralen: Alle haben zum Ausdruck gebracht, dass sie diese Neuregelung nicht für gelungen
halten.
Wir haben deshalb den Änderungsantrag auf der
Drucksache 17/9776 eingebracht, mit dem diese Regelung wieder gestrichen werden soll. Ich bitte Sie, diesem
Änderungsantrag zuzustimmen.
({5})
Das Schreibrecht der Kassen zu streichen, schadet
dem Anliegen der Entscheidungslösung überhaupt nicht;
das Gegenteil ist der Fall. Mit einem Schreibrecht laufen
wir Gefahr, das Vertrauen der Bevölkerung in die Gesundheitskarte und womöglich auch das Vertrauen in die
Organspende zu beschädigen. Aber - das möchte ich
ganz deutlich sagen - dieser Änderungsantrag stellt für
mich persönlich nicht den gesamten Gesetzentwurf zur
Entscheidungslösung infrage; dafür ist das Thema Organspende in der Gesamtschau zu wichtig. Deshalb
werde ich dem Gesetzentwurf zur Entscheidungslösung
unabhängig vom Ausgang der Abstimmung zu unserem
Änderungsantrag zustimmen.
({6})
Mit der heutigen Diskussion über die Organspende ist
das Thema längst nicht beendet. Wir gehen einen ersten
und einen wichtigen Schritt. Aber die ethischen Grenzfragen werden uns weiter beschäftigen. Ich meine hier
etwa den Umgang mit den Hirntodkriterien oder eben
auch die Struktur der Deutschen Stiftung Organtransplantation, der DSO. Wir werden aber auch akzeptieren
müssen, dass wir nie eine ausreichende Anzahl an Spendeorganen haben werden. Wartelisten und Wartezeiten
wird es auch weiterhin geben. Die heutige Verabschiedung der Gesetzentwürfe geschieht aber mit der Hoffnung, die Wartelisten erheblich zu verkürzen.
Vielen Dank.
({7})
Die Kollegin Widmann-Mauz hat jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dass es Menschen gibt, die sich nicht gerne mit
dem Thema Organspende befassen - manche tun es gar
nicht, andere verdrängen es -, das kann ich durchaus
nachvollziehen, löst es doch Empfindungen und Gefühle
in den Menschen aus, die höchst persönlich sind und im
wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen.
Das Aus-dem-Weg-Gehen, das Wegschieben, das
Ignorieren ist eine allzu menschliche Verhaltensweise.
Auch wenn es mir angesichts Tausender von Menschen,
die auf die Spendebereitschaft von anderen hoffen,
schwerfällt, dieses Verhalten zu akzeptieren, so ist es
doch Ausdruck persönlicher Handlungsfreiheit, die es zu
respektieren gilt;
({0})
denn selten ist es die ganz bewusste Ablehnung der Organspende an sich. Vielmehr ist es allzu oft ein persönlicher
Schutz als Reaktion auf Unbehagen, auf Unsicherheit,
Ängste und Misstrauen, so etwas wie ein individueller
Fluchtweg.
Manchem gelingt es nicht, diesem Thema aus dem
Weg zu gehen! Menschen, die als Schwerkranke selbst
betroffen sind und auf ein Spendeorgan warten oder die
als Angehörige konkret vor die Frage gestellt sind, Spender für einen nächsten Angehörigen zu sein oder den
mutmaßlichen Willen eines verstorbenen Angehörigen
zu erklären. Und wieder andere haben ein hörendes Herz
für die Not anderer, ganz unabhängig von einer persönlichen Betroffenheit.
Allen Gruppen gegenüber stehen wir in der Verantwortung. Es ist unsere Aufgabe, durch umfassende und
durch ergebnisoffene Information und Aufklärung informierte, selbstbestimmte Entscheidungen zu ermöglichen und Vertrauen in den gesamten Organspendeprozess und in die daran Beteiligten zu schaffen. Genau
das tun wir mit den beiden Gesetzentwürfen, über die
wir heute abstimmen.
Das Vertrauen der Bevölkerung ist ganz entscheidend,
wenn die Anstrengungen für eine Erhöhung der Organspendebereitschaft Erfolg haben sollen. Das geltende
Transplantationsgesetz gibt bereits einen sicheren gesetzlichen Rahmen für die Anforderungen an die Organisation und an den Ablauf einer Organspende. Mit den
Änderungen zum Transplantationsgesetz, die wir jetzt
vornehmen, wird dieser Rahmen ausgebaut und gestärkt,
die Strukturen werden verbessert und die Transparenz
erhöht.
Die beauftragte Koordinierungsstelle nimmt in diesem Prozess eine ganz zentrale Aufgabe wahr, bis hinein
in die einzelnen Krankenhäuser. Das hat sich - das
möchte ich bei dieser Gelegenheit durchaus einmal erwähnen - in den vergangenen zehn Jahren grundsätzlich
bewährt. Es ist aus meiner Sicht nicht von vornherein erkennbar und nachvollziehbar, dass für eine ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung im Bereich der Organtransplantation zwingend eine andere Organisationsstruktur
oder gar eine Behörde erforderlich sein soll.
Die zentrale Rolle der Koordinierungsstelle wird auch
daran erkennbar, dass in der EU-Richtlinie wesentliche
Aufgaben für sie festgelegt werden, und wir setzen diese
Richtlinie ja um. Im Übrigen ist es allein dieser Umsetzung geschuldet, dass der Gesetzentwurf zusätzliche
Kompetenzen für die Koordinierungsstelle vorsieht.
Gerade wegen dieser grundsätzlichen Bedeutung der
Koordinierungsstelle verstärken wir auch die Kontrolle.
Bereits in dem von uns eingebrachten Regierungsentwurf
haben wir die Überwachungskommission und die Auskunftspflicht der Koordinierungsstelle gegenüber der
Überwachungskommission gesetzlich verankert. Stellt
die Überwachungskommission in Zukunft Rechtsverstöße fest, ist sie verpflichtet, die zuständigen Behörden
der Länder zu informieren, damit alle notwendigen Konsequenzen eingeleitet werden können.
Auch im Hinblick auf die Geschäftsführung werden
mit dem Gesetzentwurf die Kontrollrechte und Kontrollpflichten der Auftraggeber über die Koordinierungsstelle
deutlich gestärkt. Neben der Kontrolle ist in diesem
höchst sensiblen Bereich aber auch die Schaffung von
mehr Transparenz wesentlich. Insbesondere möchte ich
in diesem Zusammenhang auf die Vorlagepflicht der Koordinierungsstelle gegenüber ihren Auftraggebern zum
Beispiel im Falle von grundsätzlichen finanziellen und
organisatorischen Entscheidungen hinweisen, aber auch
auf die Verpflichtung, in Zukunft den Geschäftsbericht
zu veröffentlichen.
Der Gesetzgeber hat also die Weichen in die richtige
Richtung gestellt. Darüber hinaus ist es dennoch erforderlich, dass sich die Akteure, also diejenigen, die wir in
die Verantwortung nehmen, auch zu ihrer Verantwortung
bekennen und entsprechend handeln.
Deshalb ist der sogenannte Masterplan des Stiftungsrats der DSO ein wichtiger und richtiger Schritt. Er war
im Übrigen notwendig, und ich erwarte jetzt von den Beteiligten, dass die sich daraus ergebenden Maßnahmen
von ihnen zügig umgesetzt und vor allen Dingen auch
transparent gemacht werden. Aber ich plädiere an dieser
Stelle auch dafür, dass wir dem Stiftungsrat die Chance
geben, die von ihm selbst aufgezeigten Maßnahmen in
die Tat umzusetzen, bevor wir über andere Alternativen
oder Rechtsformen diskutieren.
In dieser Debatte sind mehrere Aspekte angesprochen
worden, in denen Zweifel geäußert wurden, zum Beispiel zum Stichwort „Warteliste“ und zu der Frage, ob es
dabei immer richtig zugeht. Die Richtlinien wurden und
werden durch die Ständige Kommission Organtransplantation bei der Bundesärztekammer erstellt. Dort ist der
medizinische Fachverstand vorhanden. Das ist die richtige Stelle, um diese weiter dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand anzupassen, wenn es erforderlich ist. Sie
werden veröffentlicht und sind damit transparent.
Das ist der richtige Weg. Wegen der grundlegenden
Bedeutung dieser Richtlinien haben wir zudem die Bundesärztekammer verpflichtet, klare Regeln für die Erarbeitung der Richtlinien und für ihre Beschlussfassung
festzulegen.
Auch die Geschäftsordnung wird in Zukunft Regelungen zu den Einzelheiten der personellen und der verfahrensmäßigen Anforderungen enthalten. Das ist wichtig
und trägt zu mehr Vertrauen bei.
Sie haben das Thema Hirntod angesprochen. Auch
hierzu hat die Bundesärztekammer Richtlinien erarbeitet,
die im Falle eines neuen wissenschaftlichen Erkenntnisstands entsprechend angepasst werden. Aber wir im Parlament sollten dieser wissenschaftlichen Debatte nicht
vorgreifen; wir sollten vielmehr die Möglichkeit schaffen, dass sie stattfinden kann.
Genauso verhält es sich bei der Frage des Transports
der Organe. Auch hier ist es richtig, die wissenschaftlichen und technischen Fragen durch die Fachleute klären zu lassen. Was die von Ihnen angesprochene Widersprüchlichkeit bei einer Patientenverfügung angeht: Wir
werden sicherlich nicht jede persönliche Festlegung für
verschiedene Lebenssituationen gesetzlich regeln können. Aber es kommt darauf an, dass die Menschen auf
gute Art und Weise aufgeklärt und informiert werden, sie
sich dieser Widersprüche bewusst sind und wissen, dass
wir ihnen Hilfestellungen anbieten.
Ich bin sehr froh, dass wir im Bereich der Lebendspende zu deutlichen Verbesserungen in den verschiedensten Sozialgesetzbüchern gekommen sind und
es auch geschafft haben, eine Altfallregelung im Bereich
der Unfallversicherung zu etablieren. Das sind wichtige
Fortschritte, die helfen, die Organspendebereitschaft zu
fördern. Eine Organspende ist ein Geschenk des Lebens.
Niemand kann sie verlangen oder sie erzwingen. Und:
Sie ist und bleibt eine Sache des Vertrauens.
Ich bin sehr zufrieden, dass es in den Beratungen zwischen den Fraktionen, im Parlament und mit der Bundesregierung gelungen ist, diese beiden Grundsätze zu stärken und damit die Voraussetzungen dafür zu schaffen,
dass mehr Menschen in unserem Land nicht Fluchtwege
suchen müssen, sondern neue Wege in Richtung Nächstenliebe gehen können.
Herzlichen Dank.
({1})
Die nächste Rednerin ist Dr. Carola Reimann.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was lange währt, wird endlich gut. Mit der heutigen
Beratung der beiden Gesetzentwürfe zur Reform des
Transplantationsgesetzes führen wir einen langen, einen
umfassenden Diskussionsprozess zu einem erfolgreichen
Ende. Nach zwei großen Anhörungen im letzten Sommer,
nach vielen fraktionsübergreifenden Fachgesprächen,
nach Ausschussberatungen und einem zusätzlichen Expertengespräch mit dem Datenschutzbeauftragten im
Ausschuss haben wir eine gute, eine tragfähige Lösung
gefunden.
({0})
Ich bin mir sicher, dass dieser breite, überparteiliche
Diskussionsprozess dazu beiträgt, dass die Neuregelungen auch auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz stoßen werden. Unser Ziel muss sein, das Vertrauen und die
positive Haltung der Bevölkerung zur Organspende weiter zu stärken. Ich denke, hier sind wir einen guten
Schritt vorangekommen.
Weil es sich bei der Organspende um einen so sensiblen
Bereich handelt, bei dem Vertrauen die unverzichtbare
Grundlage ist, haben wir uns bewusst gegen weitergehende, radikalere Lösungen entschieden. Natürlich
verbindet uns mit den Befürwortern der Widerspruchsregelung der Wunsch, dass den vielen Menschen, die
zurzeit auf ein passendes Spenderorgan warten, geholfen
werden kann. Doch wir können und dürfen in diesem
Haus nicht außer Acht lassen, dass dieses Thema auch
mit Ängsten besetzt ist, weil es mit dem eigenen Lebensende zu tun hat, dass für viele Menschen die Frage, ob
sie Organe spenden wollen, den intimsten Bereich ihrer
persönlichen, menschlichen Selbstbestimmung berührt.
Nichtbefassung mit dem Thema dabei billigend als Zustimmung in Kauf zu nehmen, halte ich deshalb für den
falschen Weg. Wir wollen eine eigene, eine informierte
Entscheidung. Wir wollen vor allen Dingen eine freie
Entscheidung.
({1})
Ich bin davon überzeugt, dass wir so unser Ziel, die Förderung der Organspende, besser erreichen, als dies bei
den vermeintlich einfacheren Lösungen der Fall ist.
Wir wollen keinen gesetzgeberischen Zwang. Aber
wir wollen mit der nachdrücklichen Aufforderung zur
Entscheidung die Menschen ermutigen, sich mit dem
Thema auseinanderzusetzen. Denn jedem sollte klar
sein: Sich mit dem Thema nicht zu befassen, heißt nicht
unbedingt, dass man die Entscheidung umgehen kann.
Im Falle des Todes trifft die Last der Entscheidung dann
die Angehörigen umso härter. Sie müssen dann im Moment der Trauer für den Verstorbenen entscheiden. Sie
sollen es in seinem Sinne entscheiden, aber nicht selten
müssen sie das ohne Kenntnis seiner Haltung zur Organspende tun. Deshalb ist es gut, die Entscheidung zur Organspende ins Leben zu holen.
Wir setzen mit dieser Reform auf Information, auf
Aufklärung und auch auf einen gewissen Nachdruck.
Aber wir setzen weiterhin auf Freiwilligkeit. Wir wollen
Menschen mit guten Argumenten davon überzeugen,
eine Entscheidung zu treffen und sie zu dokumentieren.
Aber wir werden niemanden dazu zwingen. Wir überlassen den Bürgerinnen und Bürgern auch die Wahl, auf
welchem Medium sie ihre Haltung dokumentieren wollen. Wer die Dokumentation auf dem herkömmlichen
Papierausweis, den wir alle haben, favorisiert, kann
seine Haltung dort festhalten. Wer künftig keinen weiteren Ausweis mit sich herumtragen will, hat die elektronische Versichertenkarte als neue weitere Option, wenn
mit der nächsten Kartengeneration die technischen Voraussetzungen geschaffen sind. Auch hier bleibt es den
Versicherten überlassen, ob sie ihre Haltung selbst auf
der Karte speichern oder hierfür die Hilfe ihrer Kasse,
ihres Arztes oder ihres Apothekers in Anspruch nehmen.
Ziel dieser Regelung ist es nämlich, neben der Entscheidungsfindung auch die Dokumentation so leicht
wie möglich zu machen und jedem Versicherten möglichst viele und einfache Wege der Dokumentation anzubieten. Strenge Datenschutzstandards, mit dem Datenschutzbeauftragten abgestimmt, und die ausdrückliche
Zustimmung und Freiwilligkeit des Versicherten sind im
Gruppenantrag hierfür vorgesehen. Die vorliegenden
Änderungsanträge von Scharfenberg/Terpe und auch
von Vogler/Nešković ändern nichts am ohnehin hohen
Datenschutzstandard.
({2})
Letztlich schränken sie aber die Dokumentationsmöglichkeiten für die Versicherten ein. Aus diesem Grund
halte ich diese beiden Anträge für nicht zielführend.
Ich habe zu Beginn meiner Rede von Vertrauen als
unverzichtbarer Grundlage für diesen sensiblen Bereich
gesprochen. Dazu gehört auch eine transparente und verantwortungsvolle Arbeitsweise der Deutschen Stiftung
Organtransplantation. Die berechtigte Kritik an der DSO
wird nun zu einer Neuausrichtung führen. Mit dem von
der SPD-Fraktion unterstützten Entschließungsantrag
unterstreichen wir die Forderung nach einer Neuausrichtung und machen deutlich, dass wir diesen Prozess im
Gesundheitsausschuss intensiv begleiten werden. Abhängig davon wird zu entscheiden sein, ob weitere Maßnahmen zur Reform der DSO in die Wege geleitet werden müssen.
Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Gruppenantrag zur Entscheidungslösung eine gute, eine tragfähige Lösung gefunden haben. Sie wird unser Ziel, die
Entscheidung zur Organspende zu erleichtern, erreichen.
Zusammen mit dem Gesetzentwurf zu den technisch-organisatorischen Fragen der Organspende, der hier schon
angesprochen wurde, bringen wir ein gutes Paket auf
den Weg. Dazu zählen nicht nur die Verbesserung der
Abläufe in und zwischen den Krankenhäusern sowie die
verbindliche Einführung von Transplantationsbeauftragten in den Kliniken - die Kollegen haben darüber berichtet - sondern auch die bessere Absicherung von Lebendspendern, was ein wirklich großer und guter Schritt
ist. Ich bitte Sie deshalb um Unterstützung für beide Gesetzentwürfe.
Danke schön.
({3})
Jetzt hat Stefanie Vogelsang das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Sicherlich, wir
haben über die Entscheidungslösung und auch über das
Transplantationsgesetz im Vorfeld eine lange Zeit debattiert. Die erste Lesung beider Gesetzentwürfe hatten wir
hier aber erst kurz vor Ostern. Ich glaube, es war Ende
März, als wir uns hier zusammengesetzt und darüber gesprochen haben. Wir waren froh darüber und stolz darauf, dass unsere Fraktionsvorsitzenden eine geeinte
Position zur Entscheidungslösung gefunden hatten.
Gleichzeitig beraten wir ein Gesetz, das Transplantationsgesetz, das sich mit den Einzelheiten - der Teufel
liegt bekanntlich im Detail - beschäftigt. Wir haben uns
im Ausschuss - die Kollegin Ausschussvorsitzende,
Frau Reimann, hat darüber berichtet - intensiv in Anhörungen mit Expertenmeinungen und unterschiedlichen
Aspekten des Gesetzes auseinandergesetzt.
({0})
Wir haben hier heute in der Debatte die unterschiedlichen Schwerpunkte und Positionen gehört.
Deswegen möchte ich jetzt, gegen Ende der Debatte,
deutlich machen, worauf es mir ankommt und was für
mich wichtig ist. Für mich ist zum Ersten wichtig, dass
sich jeder freiwillig entscheiden kann, ob er Organe und
Gewebe spendet oder ob er das nicht möchte. Jeder kann
sagen, dass er sich beispielsweise jetzt noch nicht entscheiden kann, und jeder kann sich entscheiden, zwar einige Organe zu spenden, andere aber von der Spende
auszunehmen. Also kann jeder für sich eine differenzierte Position beziehen und im Falle seines Todes ganz
frei über seinen Körper, seine Organe entscheiden. Das
finde ich ganz wichtig.
Wichtig finde ich aber auch, dass sich jeder nach dem
Gebot der Menschlichkeit entscheiden sollte und dass
der sanfte Druck erhöht wird, dass sich die Menschen
mit diesem Thema beschäftigen. Viele von uns haben
den Organspendeausweis. Viele von uns erklären in Umfragen, dass sie bereit sind, ein Organ zu spenden; aber
die wenigsten diskutieren im Familienkreis darüber. Bei
den wenigsten Menschen ist es so, dass die Angehörigen
wissen, welchen Umgang mit seinen Organen derjenige,
den man lieb hat und für den man im Zweifel der
Rechtsnachfolger bei der Entscheidung im Krankenhaus
ist, wünscht. Werbung für Organtransplantation und Organspende, etwa mit großen Plakaten an Wänden, ist
zweifellos wichtig. Aber über dieses Thema muss auch
in den Familien, am Küchentisch, intensiv debattiert
werden, damit die Angehörigen Bescheid wissen.
Mich freut, dass wir noch einmal in die Tiefe gegangen sind, uns mit den Details beschäftigt haben, dass wir
die Abläufe in den Krankenhäusern klargestellt haben,
dass wir die Schaffung von Transplantationsbeauftragten
vereinbart haben. Im gesamten Gesetzentwurf ist immer
wieder von Organen und Geweben die Rede. Wir sehen
also nicht nur Herz und Niere, sondern auch die vielfach
benötigte Aorta, die Herzklappe oder die Hornhaut für
das Auge. Darüber wird wenig geredet, aber es ist für
viele Menschen genauso wichtig.
Mir persönlich ist außerdem wichtig - ich habe das in
der ersten Lesung gesagt -, dass wir uns mit dem Thema
Nachsorge beschäftigt haben. Wir erhöhen die Organspendebereitschaft. Wir erhöhen die Zahl von Organtransplantationen. Aber wir kümmern uns bisher zu wenig um qualitätsbezogene Richtlinien, die klären, wie
man eine einheitliche Qualitätssicherung auf dem Gebiet
der Nachsorge bei Empfängern und auch bei Lebendspendern gewährleisten kann. Die Verbesserung der
Nachsorge, die neuen Richtlinien, die Möglichkeit der
Bundesärztekammer, Richtlinien zur Qualitätssicherung
zu verabschieden, sind etwas Bedeutungsvolles. Das haben wir gemeinsam in der Diskussion erreicht.
Wir kennen die Realitäten in unseren Krankenhäusern. Wir wissen, dass sich die Einnahmesituation der
Krankenhäuser und das Leid der Patienten immer wieder
gegenüberstehen. Angesichts dessen muss sichergestellt
sein, dass die Aufwendungen der Krankenhäuser für die
Transplantation von Organen von den Krankenkassen refinanziert werden.
({1})
Auch die Verwaltungsleiter der Krankenhäuser sollten
ohne schlechtes Gewissen beim Blick auf ihr Budget die
Möglichkeit haben, ihre Mitarbeiter anzuhalten, sich um
dieses ethisch so wichtige Thema zu kümmern.
Ich glaube, dass wir mit dem Entwurf eines Gesetzes
zur Regelung der Entscheidungslösung, mit der Freiwilligkeit, aber auch mit dem sanften Druck zur Entscheidung auf der einen Seite und mit den Transplantationsbeauftragten, mit der Bezahlung und mit der
Hervorhebung von Gewebespenden auf der anderen
Seite einen großen Schritt in die richtige Richtung gegangen sind.
Nächste Woche Samstag, am 2. Juni, ist der Tag der
Organspende. Ich glaube, dass dann unser Gesetzentwurf in Kraft getreten sein wird, wenn wir ihn heute hier
verabschieden. Ich denke, dass wir uns vielleicht nächstes Jahr am Tag der Organspende darüber unterhalten
können werden, dass wir eine Erhöhung der Anzahl der
in Deutschland gespendeten Organe verzeichnen können. Das würde uns alle sehr freuen.
Danke schön.
({2})
Jetzt hat der Kollege Stephan Stracke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Die Entscheidung für eine Organ- oder
Gewebespende ist ein Geschenk. Sie ist ein Akt der
Nächstenliebe. Den Empfängern ermöglicht sie das Weiterleben oder eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität. Viele empfinden sie als ein zweites Leben, das
einem geschenkt wird.
In Deutschland warten derzeit rund 12 000 Menschen
auf Spenderorgane. Demgegenüber konnten im letzten
Jahr nur rund 5 000 Organe transplantiert werden.
Seit dem 1. Dezember 1997 bildet das deutsche
Transplantationsgesetz einen sicheren Rechtsrahmen für
Organspenden. Es regelt die Spende, Entnahme, Vermittlung und Übertragung von Organen, die nach dem Tod
oder zu Lebzeiten gespendet werden. Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen, dem fraktionsübergreifenden und
dem der Bundesregierung, wollen wir zwei wesentliche
Verbesserungen erreichen: Wir wollen erstens den Organspendeprozess als solchen verbessern und zweitens
die Spendebereitschaft als solche erhöhen.
Zum ersten Punkt. Der Verbesserung des Organspendeprozesses kommt eine ganz zentrale Bedeutung zu.
Allein die Einsetzung von qualifizierten und professionellen Transplantationsbeauftragten kann nach Schätzungen zu einer Verbesserung der Situation um bis zu
80 Prozent beitragen. Im Vordergrund steht dabei eine
vernünftige und sensible Gesprächsführung.
Dabei ist auch ein Blick ins Ausland hilfreich. In der
Diskussion wird immer wieder das spanische Modell angeführt. Man stellt fest: Entscheidend für den Erfolg der
Organspende in Spanien sind vor allem eine flächendeckende Versorgung mit qualifizierten und geschulten
Transplantationsbeauftragten und eine effektive Organisation des Organspendeprozesses.
Deswegen gehen wir das an. Eine bessere Organisation der Organspende und der Organtransplantation wird
sicherlich auch in Deutschland zu einem verantwortungsvollen Umgang mit diesen ebenso seltenen wie
sensiblen Ressourcen beitragen.
Ein Zweites ist wichtig, nämlich die Erhöhung der
Spendebereitschaft. Der Erfolg der Organspende in
Deutschland hängt auch von der Spendebereitschaft ab.
Rund 75 Prozent der Befragten - das wurde hier schon
öfter angeführt - stehen der Organspende grundsätzlich
positiv gegenüber, aber nur 25 Prozent haben tatsächlich
einen Organspendeausweis. Das liegt daran, dass man
sich mit dem Tod eigentlich nicht auseinandersetzen
will, dass man Angst hat, dass beispielsweise Ärzte sich
nicht mehr entsprechend kümmern könnten, oder dass
man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht entscheiden kann oder will.
Die vorliegenden Gesetzentwürfe zielen daher darauf
ab, die Lücke zwischen der potenziellen und der tatsächlichen Bereitschaft zur Organspende und zu der entsprechenden Erklärung zu verringern. Im Mittelpunkt steht
dabei das Leitbild des verantwortlich handelnden, weil
informierten und aufgeklärten Bürgers. Das Selbstbestimmungsrecht tasten wir nicht an. Dies ermöglicht
denjenigen, die durch eine Spende anderen helfen möchten, dies zu tun. Wir billigen aber in gleicher Weise,
wenn jemand kein Spender sein will; denn wir wissen:
Freiwilligkeit und der Respekt vor dem Willen des Einzelnen, das ist einer der wichtigsten Punkte, wenn es um
die Akzeptanz der Organspende geht.
Dabei nehmen wir drei Dinge in den Blick: erstens informieren, zweitens entscheiden und drittens dokumentieren.
Erstens. Die Menschen sollen sich mit dem Thema
Organspende befassen. In regelmäßigen Abständen wollen wir sie darüber informieren. Ich weiß, diese Konfrontation ist etwas, das nicht von allen in der Bevölkerung gewünscht ist, aber sie ist hier ganz bewusst
gewollt. Es ist gewollt, dass man sich damit auseinandersetzt, dass man sich im Familienkreis mit diesem Thema
befasst.
Zweitens wollen wir die Versicherten auffordern, sich
auch tatsächlich zu entscheiden - für sich selber, für den
Organspendeempfänger und nicht zuletzt für die Angehörigen; denn wir wissen: In dem Moment, wo jemand
beispielsweise einen plötzlichen Hirntod erleidet, besteht eine emotionale Ausnahmesituation vor allem für
die nächsten Angehörigen. Deshalb ist es auch wichtig,
dass man sich entschieden hat, dass man im Familienkreis darüber gesprochen hat.
Drittens. Das Allerbeste ist, dies dann auch entsprechend dokumentiert zu haben. Deswegen wollen wir - es
gibt ja schon den Organspendeausweis in Papierform mit der elektronischen Gesundheitskarte Verbesserungen
erreichen. Dann ist der Wille dokumentiert, und es bedarf nicht der Nachfragen bei anderen, um die Information zu bekommen.
Zusammen mit den aus meiner Sicht wichtigen Verbesserungen bei der Organisation der Organspende und
der Infrastruktur kann es gelingen, die Situation bei der
Organspende spürbar zu verbessern, ohne dass massiv in
die Freiheit des Menschen eingegriffen wird.
Ich denke, die vorliegenden Gesetzentwürfe bringen
das Thema Organspende deutlich voran. Ich bitte Sie
herzlich um Zustimmung.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Es wurden die Reden von den Kollegen Molitor,
Seifert und Behm sowie Erklärungen gemäß § 31 unse-
rer Geschäftsordnung1) der Kollegen Dittrich und
Sharma zu Protokoll gegeben2).
1) Anlage 2
2) Anlage 3
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Abgeordneten Volker Kauder, Frank-Walter Steinmeier,
Gerda Hasselfeldt, Gregor Gysi, Renate Künast, Jürgen
Trittin sowie weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz. Der Ausschuss für Gesundheit hat in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9774 empfohlen, über diesen Gesetzentwurf einen Beschluss herbeizuführen. Eine darüber hinausgehende Beschlussempfehlung hat der Ausschuss
nicht abgegeben. Zu diesem Gesetzentwurf liegen zwei
Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Kathrin Vogler,
Wolfgang Nešković, Matthias Birkwald sowie weiterer
Abgeordneter auf Drucksache 17/9775. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen und einigen
Stimmen aus der Fraktion Die Linke gegen viele Stimmen aus der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Harald
Terpe, Birgitt Bender sowie weiterer Abgeordneter auf
Drucksache 17/9776. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD, FDP und jeweils Stimmen aus der Fraktion Die
Linke und der Grünen abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit sehr großer Mehrheit bei einigen
Gegenstimmen aus der Fraktion Die Linke und den Grünen und einigen Enthaltungen bei den Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP
und der Mehrheit der Fraktion Die Linke und der Grünen
bei jeweils einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen aus der Fraktion der Linken und jeweils einer
Enthaltung bei den Grünen und der FDP angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Transplantationsgesetzes. Der Ausschuss
für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/9773, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/7376 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Linksfraktion bei Enthaltung der
Grünen und einer Enthaltung aus den Reihen der FDP
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU,
SPD und FDP auf Drucksache 17/9777. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/9778. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt.
({0})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 32 a und b so-
wie Zusatzpunkt 6 auf:
32 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Flughafen Berlin Brandenburg: Flugrouten,
Lärmauswirkungen
- Drucksachen 17/6942, 17/8514 -
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Herbert Behrens,
Thomas Nord, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes
- Drucksache 17/8129 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({1})
- Drucksache 17/9452 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Wichtel
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ursachen und Verantwortlichkeiten für das Berliner Flughafendebakel lückenlos aufklären Chancen für besseren Lärmschutz nutzen
- Drucksache 17/9740 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Tourismus Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Die Fraktion Die Linke hat zu der Antwort der Bundesregierung auf ihre Große Anfrage einen Entschließungsantrag eingebracht.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Gregor Gysi
für die Fraktion Die Linke das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte findet statt, weil die Bundesregierung auf
eine Große Anfrage der Fraktion Die Linke geantwortet
hat. Es geht um eines der berühmten Großprojekte in
Deutschland. Aber egal, welches Großprojekt ich
nehme, ob ich an den Flughafen in Frankfurt oder an
Stuttgart 21 denke: Es ist noch nie gelungen, die Bevölkerung so einzubeziehen, dass solche Großprojekte widerspruchsfrei realisiert werden konnten. Immer wurden
Auseinandersetzungen in Kauf genommen. Genau so ist
es beim Flughafen Berlin Brandenburg, der wohl den
Namen Willy Brandt tragen soll.
Was ist das Problem? Wenn man Großprojekte in einer Gesellschaft wie unserer startet, wird die Demokratie
nur dann gewahrt, wenn man die Bürgerinnen und Bürger rechtzeitig und umfassend einbezieht.
({0})
Man wird nie alle Widersprüche auflösen können; aber
man muss das Gespräch suchen. Hier ist nun etwas ganz
Groteskes passiert: Man hat sich bestimmte Flugrouten
ausgedacht. Auf dieser Grundlage wurden Gespräche
geführt und Lärmschutzmaßnahmen durchgeführt. Dann
meinte das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung beim
Bundesverkehrsministerium: Wir nehmen ganz andere
Routen. - Diese Routen waren bis dahin überhaupt noch
nicht diskutiert worden und wurden ziemlich willkürlich
gewählt, sodass mit denen, die jetzt betroffen sind, nie
gesprochen worden ist. Die Betroffenen haben also keinen Lärmschutz, und diejenigen, die welchen haben,
brauchen ihn gar nicht mehr. Ich muss sagen: Etwas Irreres habe ich überhaupt noch nicht erlebt, auch was die
Kosten anbetrifft.
({1})
Das Nächste ist, dass zwei Seen betroffen sein sollten:
der Wannsee und der Müggelsee. Bei beiden Seen gibt
es auch Naturschutzgebiete. Da ist mir eines aufgefallen
- das bin ich seit so vielen Jahren leid -: Wo geht Klaus
Wowereit hin? Er protestiert dagegen, dass der Wannsee
belastet wird; beim Müggelsee war er nie. Kann das
nicht einmal aufhören?
({2})
Ist es nicht unsere Pflicht, beide Seen zu schützen, das
heißt den Müggelsee und den Wannsee?
({3})
Das ist wirklich grotesk.
({4})
Herr Kollege Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Wellmann?
Ja, gerne.
Kollege Gysi, sind Sie denn bereit, sich daran zu erinnern, dass Sie von der Linken in Berlin zehn Jahre lang
Regierungsverantwortung getragen haben
({0})
und dass es Ihr Parteifreund Wolf war, der als Wirtschaftssenator für den Flughafen zuständig war?
Letzteres ist leider ein Irrtum; aber es ist wahr, dass
wir in der Zeit in der Regierung waren. Es ist auch wahr,
dass die besten Maßnahmen von uns gekommen sind.
({0})
- Passen Sie auf; ich werde Ihnen das gleich belegen. Dass Wowereit als Aufsichtsratsvorsitzender bei dem
Termin derartig versagt hat, liegt nur daran, dass er jetzt
mit der CDU und nicht mehr mit den Linken regiert. Das
wäre bei uns gar nicht möglich gewesen.
({1})
Abgesehen davon tragen wir eine große Verantwortung. Mir geht es jetzt aber gar nicht um Parteien, sondern um die Betroffenen.
({2})
Ich weiß schon, wer die Verantwortung auf Bundesebene
trug; ich komme noch zu Herrn Wissmann und den anderen.
({3})
Ich werde Ihnen darauf noch Antworten geben.
Die ganze Lärmproblematik gäbe es gar nicht, wenn
man sich damals für Sperenberg entschieden hätte.
({4})
Wer war gegen Sperenberg? Die Bundesregierung, mit
Wissmann an der Spitze.
({5})
Und warum? Weil Wissmann eine Konkurrenz zu den
Flughäfen München und vor allen Dingen Frankfurt am
Main verhindern wollte. Das steckte dahinter.
Warum war Diepgen, der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin - übrigens in Koalition mit der
SPD, nicht mit uns, wie Sie ja wissen -, gegen Sperenberg? Er hat erklärt, dass den Westberlinerinnen und
Westberlinern eine Reise bis Sperenberg nicht zuzumuten sei, sondern maximal bis Schönefeld. Etwas Kleinkarierteres habe ich nach Herstellung der deutschen Einheit
überhaupt noch nicht gehört.
({6})
Herr Stolpe war der Einzige, der für Sperenberg war.
Aber der ist, wie es bei Sozialdemokraten üblich ist, umgefallen. Das ist die Wahrheit. Sonst hätten wir die Probleme, mit denen wir uns jetzt auseinandersetzen müssen, überhaupt nicht.
({7})
Ich sage Ihnen noch etwas: Das Bundesverwaltungsgericht hat das Nachtflugverbot in seiner Entscheidung
leider nur von 0 Uhr bis 5 Uhr erteilt. Dagegen richtet
sich eine Verfassungsbeschwerde. Wir werden abwarten,
wie das Bundesverfassungsgericht darüber entscheidet.
Möglicherweise muss sogar der Europäische Gerichtshof darüber entscheiden. Das lasse ich aber offen, weil
es eine generelle Frage gibt: Was hat eigentlich Vorrang,
wenn man einen Flughafen unmittelbar an der Grenze zu
einer Hauptstadt baut? Ist es wirklich so, dass die Wirtschaftlichkeit Vorrang hat vor der Gesundheit Hunderttausender Bürgerinnen und Bürger?
({8})
Der Maßstab, der dort angelegt wurde, ist überhaupt
nicht vertretbar.
Wie hat das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung begründet? Es hat unter anderem gesagt, dass
bei einer Überschreitung von 55 Dezibel bei geschlossenen Fenstern Lärmschutz gewährt werden muss. Ich
habe mich dann in einem Brief an die Bundeskanzlerin
- Sie tun immer so, als ob der Bund nicht zuständig sei;
der Bund ist auch Eigner, das muss man hier einmal ganz
klar sagen -, an den Regierenden Bürgermeister von
Berlin und an den Ministerpräsidenten von Brandenburg
gewandt und aufgezeigt, welche Probleme die Bürgerinnen und Bürger bei der Gewährung von Lärmschutz haben. Denn wenn man schon ein derart enges Nachtflugverbot hat und wenn man schon Schönefeld statt
Sperenberg genommen hat, dann könnte man doch wenigstens im Hinblick auf die Gewährung von Lärmschutz großzügig sein. Es ging darum, dass es keinen
Lärmschutz für Wintergärten gibt und dass gesagt
wurde, manche Räume seien zu niedrig, es seien gar
keine Räume im baurechtlichen Sinne. Das ist grotesk.
Da wohnt eine Frau seit 40 Jahren in ihrem Haus, und
dann wird ihr der Lärmschutz mit dieser Begründung
verweigert. Das ist doch kleinkarierter Mist.
Jetzt haben Sie ihre Haltung allerdings - das muss ich
zugeben - ein wenig geändert. Nun wurde entschieden,
in all diesen Fällen die Lärmschutzmaßnahmen zu übernehmen. Durch den Druck der Bürgerinnen und Bürger
und übrigens auch durch unseren Druck ist es erreicht
worden, dass sich der Flughafenbetreiber zumindest
diesbezüglich bewegt hat.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Wellmann?
({0})
Ja.
Herr Kollege Gysi, ist Ihnen bekannt, dass Ihre Partei
im Land Brandenburg mitregiert und dass das Land
Brandenburg im Verhältnis der drei Eigentümer die Federführung bei der Errichtung des Flughafens hat?
Mir war sehr wohl bereits bekannt - aber ich danke
Ihnen für den Hinweis -, dass die Linke in Brandenburg
regiert,
({0})
allerdings erst seit kurzer Zeit. Sie hat bereits einiges
durchgesetzt.
({1})
- Hören Sie mal zu! - Sie hat durchgesetzt, dass jetzt
auch für Wintergärten und für niedrige Räume Lärmschutz gewährt wird. Das ist das Verdienst der Linken in
Brandenburg.
({2})
- Das ist nicht Ihre Sorge. Sie wohnen ja auch nicht dort,
Herr Trittin. Dann kann man immer eine große Klappe
haben. Aber wenn man dort wohnt und derartig belastet
wird, dann sieht man die Situation ganz anders.
({3})
- Ich wusste, dass Sie sich so aufregen. Ich habe mich
deshalb schon auf diese Debatte gefreut.
({4})
Nun hat der Betreiber bei der Planfeststellungskommission in Brandenburg, die leider unabhängig ist, einen
Antrag gestellt. Trotzdem kann und muss die Regierung
Einfluss nehmen. Man will, dass festgestellt wird, dass
täglich sechsmal die Marke von 55 Dezibel im geschlossenen Raum überschritten werden darf, bevor überhaupt
Lärmschutzmaßnahmen greifen. Das widerspricht dem
bisherigen Planfeststellungsbeschluss und vor allem
- darauf wird viel zu wenig eingegangen - dem Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts. Das Bundesverwaltungsgericht führt auf Seite 122 seines Urteils aus: Dürfte es
mehr als sechs Überschreitungen geben, dann würde ein
solcher Umstand „jeder inneren Rechtfertigung entbehren“.
Sollte die Planfeststellungskommission wirklich der
Meinung sein, dass die sechsmalige Überschreitung von
55 Dezibel bei geschlossenen Räumen zulässig ist, dann
hieße das, dass die Rechtsgrundlage für die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben ist.
Das geht überhaupt nicht. Die Planfeststellungskommission muss sagen: Es bleibt dabei. Wenn einmal die
Marke von 55 Dezibel überschritten ist, dann gibt es einen Rechtsanspruch auf Lärmschutz.
({5})
Jetzt zum Thema Verschiebung.
Herr Kollege, Sie wissen, dass Sie Ihre Redezeit überschritten haben?
({0})
Wissen Sie, wenn ich die ganze Zeit unterbrochen
werde, dann kann ich keine klaren Ausführungen machen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch kurz Folgendes
sagen: Das ist eine Blamage. Das hat Provinzniveau.
({0})
Klaus Wowereit ist immerhin der Vorsitzende des Aufsichtsrats.
({1})
Die Kontrolle hat vollständig versagt. Um diese Tatsache kommen Sie alle nicht herum. Wir können uns entscheiden: Blamieren wir uns weiterhin
({2})
oder machen es endlich vernünftig, nämlich mit den
Bürgerinnen und Bürgern unter Gewährung eines großzügigen Lärmschutzes.
({3})
Das Wort hat nun Peter Wichtel für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag der Grünen und den Gesetzentwurf der Linkspartei
gelesen habe, dachte ich, dass wir uns heute mit wichtigen Themen wie Luftverkehr und Lärmschutz beschäftigen. Die Ausführungen meines Vorredners haben aber
gezeigt, dass es ihm gar nicht so sehr um die Sache geht,
({0})
sondern mehr um Polemik.
({1})
Hier sollen die Bürgerinnen und Bürger gegeneinander
ausgespielt werden.
Zum Verfahren. Es ist meiner Meinung nach sehr bedauerlich, dass in den Anträgen keinerlei Verbesserungsvorschläge gemacht worden sind, über die man hier gemeinsam diskutieren könnte.
({2})
Die Problematik ist einfach: Wir haben ein Luftverkehrsgesetz und internationale Vorschriften. Im Rahmen
der internationalen Vorschriften und des Gesetzes wird
- das wird schlichtweg unterschlagen - bei der Planung
von An- und Abflugverfahren dem Lärmschutzinteresse
der Menschen in der unmittelbaren Umgebung von Flughäfen Rechnung getragen. Natürlich haben die direkt betroffenen Anwohner immer ein besonderes Interesse; das
ist doch vollkommen klar. Wir müssen aber insgesamt
zwischen den Interessen der Wirtschaft, des Luftverkehrs, unserer eigenen Import- und Exportwirtschaft und
den Interessen der Reisenden weltweit und auch in unserem Land abwägen. Ganz so einfach, wie Sie es sich hier
machen, ist es also nicht.
Im Planungsverfahren gelten andere Handlungsspielräume; das habe ich bereits bei Einbringung der Vorlage
der Linken festgestellt. Im Planfeststellungsverfahren
wird untersucht: Mit welchen An- und Abflugverfahren
kann die entsprechende Kapazität erreicht werden? Das
wird dann auch im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens festgelegt. Wenn später die Flugrouten geplant
werden - das genau ist der Punkt, über den wir heute
streiten -, kommen natürlich auf einmal Betroffenheiten
zustande, die man während des Planfeststellungsverfahrens zum Teil gar nicht erkennen konnte.
Ich will, um es ganz deutlich zu machen, ein Beispiel
nennen: Sie werden von keinem Bürger, der entlastet
wird, ein Lob erhalten; aber ein anderer, der belastet
wird, wird sich mit Sicherheit bei Ihnen melden und sich
darüber beschweren. Mein Beispiel ist der Anflug Berlin.
({3})
Dabei wird die Stadt Erkner belastet. Sie wird ein zweites Mal im Abflugverfahren belastet. Die Bürger hatten
sich beschwert; erst danach haben sich die Flugsicherung und die Fluglärmkommission damit noch einmal
befasst. Eigentlich sollte die Fluglärmkommission eine
Art Bürgerbeteiligung sein; denn in ihr sind Landräte,
Bürgermeister und Erste Stadträte vertreten. Man erwartet eigentlich, dass dort dementsprechend auch Bürgerinteresse eingebracht wird.
({4})
Wenn entschieden wird, dass das Abflugverfahren
über dem Bereich des Müggelsees stattfindet, wird es
vonseiten der Bürger in Erkner keinen Applaus geben.
Die werden das genüsslich zur Kenntnis nehmen, während sich die Bürger von Müggelsee bei uns beschweren
werden. Deswegen muss man, wenn man sich über diese
Themen unterhält, nüchtern und trocken darauf schauen:
Wo können wir mit welchen An- und Abflugverfahren
die Menschen am besten berücksichtigen? Wo können
wir ihnen am besten entgegenkommen?
Ich weise noch einmal darauf hin, dass dies das Anliegen jeder Frau und jeden Mannes hier ist. Im Deutschen
Bundestag befindet sich, glaube ich, niemand, der Flugrouten bzw. An- und Abflugverfahren will, durch welche
Menschen mutwillig belastet werden.
({5})
Deswegen halte ich das Theaterstück, das hier teilweise
aufgeführt wird, für mehr als bedenklich.
Ich finde es kritikwürdig, wenn nicht sogar beschämend, was hinsichtlich der ersten und der zweiten Verschiebung bei der Inbetriebnahme des Flughafens geschehen ist. Die Geschäftsführung hat hier, denke ich,
ein besonderes Problem, nämlich ein Informationsproblem.
({6})
Sie hat aus meiner Sicht nicht nur ein Problem gegenüber der Bevölkerung, sondern auch in Bezug darauf,
wie sie mit ihrem eigenen Kontrollorgan umgeht. Im
Ausschuss hat uns ein Aufsichtsratsmitglied mitgeteilt,
dass seit dem 20. April ein Controlling-Bericht für das
erste Quartal 2012 vorliegt und dass mit der Vorlage
dieses Controlling-Berichts erstmals klar wurde, dass die
Inbetriebnahme gefährdet ist.
({7})
Danach fand keine weitere Information bis zu dem Tag
statt, an dem gesagt wurde: Es geht jetzt wirklich
nicht. - Das halte ich schon für mehr als bedenklich.
Wenn behauptet wird, die Geschäftsführung der FBB,
welche die hauptsächliche Verantwortung für die unmögliche Situation trägt, habe auf ganzer Linie versagt,
ist das noch gelinde ausgedrückt, meine sehr verehrten
Damen und Herren.
Es ist allerdings besonders ärgerlich, wenn hier insbesondere im Zuge der nun geführten Debatte versucht
wird, die Bundesregierung massiv anzugreifen und in
die Verantwortung zu bringen. Hierzu ist festzuhalten,
dass die beiden Landesregierungen hauptsächlich Verantwortung im Bereich des Prozesses tragen.
({8})
Ich stelle fest, dass Genehmigung und Abnahme in den
Ländern Brandenburg und Berlin stattfinden müssen.
Für mehr als unglaubwürdig halte ich es, wenn hier so
getan wird, als habe der Regierende Bürgermeister von
Berlin, Herr Wowereit - er ist Aufsichtsratsvorsitzender -, oder Herr Platzeck als Ministerpräsident keinerlei
Ahnung, was ihre Verwaltungen machen.
({9})
Sie seien erst bei der Aufsichtsratssitzung am 20. April
informiert worden. Das kann doch nicht stimmen. In
Zeitungsberichten, die jetzt auftauchen, wurde das deutlich. Da ist von internem Schriftverkehr - dabei geht es
um E-Mails zwischen der Staatskanzlei in Brandenburg
und anderen - die Rede.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gysi?
({0})
Ja.
Entschuldigen Sie, Herr Kollege, ich habe nur eine
Frage: Ist Ihnen bekannt, dass die Verträge für das Bodenpersonal in Tegel, die ursprünglich nur bis Ende Juni
gingen, schon Anfang März bis September verlängert
wurden? Wie ist das zu erklären, wenn man erst Ende
April davon erfahren haben will? Das ist mir unerklärlich.
({0})
Herr Gysi, ich kann Ihnen nur das sagen, was ich gerade vorgetragen habe. Dass ich das, was uns im Ausschuss vorgetragen worden ist, nicht glaube, habe ich
wohl zum Ausdruck gebracht. Diese Zwischenfrage war
eigentlich überflüssig.
({0})
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass hier
endlich eine lückenlose und transparente Aufarbeitung
erfolgen muss. Diese Aufarbeitung ist notwendig. Dabei
ist die Geschäftsführung besonders gefordert. Deswegen
erwarte ich, dass dem Verkehrsausschuss des Deutschen
Bundestages der Controlling-Bericht 1/2012 ungekürzt
vorgelegt wird.
({1})
Ich erwarte, dass wir ihn einsehen können, und zwar ungeschwärzt.
({2})
Im Gegensatz zu Herrn Trittin erwarten wir, dass Herr
Wowereit, nachdem er auch die zweite Einladung abgelehnt hat, die dritte annimmt. Wir erwarten, dass er nach
der Aufsichtsratssitzung am 22. Juni 2012 in den Ausschuss kommt und dort Rede und Antwort steht zur
Finanzierungsthematik - dieses Thema ist noch offen;
das wird zurzeit geprüft ({3})
und zu möglichen Regressansprüchen der Flughafenbetreiber gegenüber den Mitbauern und Kontrolleuren. Wir
erwarten aber auch, dass er aufzeigt, welche Regressansprüche die betroffenen Firmen gegen die Flughafenbetreiber erheben können, damit wir ein abgerundetes
Bild von dem bekommen, was dort passiert. Wir von der
Koalition erwarten, dass die Beteiligten die notwendigen
Auskünfte erteilen und zur Aufklärung beitragen.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung befasst sich mit dem Thema. Dieser Vorlagen hätte
es nicht bedurft. Ich denke, es ist gut, dass wir das hier
einmal deutlich machen konnten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Sören Bartol für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Zuschauer, die eigentliche Debatte findet gerade in den Abgeordnetenreihen statt. Es ist schade, dass
man das nicht live verfolgen kann. Es ist schon spannend, worüber hier gerade diskutiert wird.
Eigentlich wollten wir heute sachlich und entspannt
über die Frage reden, wie man den Lärmschutz für Anwohnerinnen und Anwohner von Flughäfen, insbesondere in Berlin, verbessern kann. So habe ich die Vorlagen,
über die wir heute beraten, verstanden. Aber ich verstehe, warum das nicht so einfach ist, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Die einen haben ihre Wahlniederlage
noch nicht verarbeitet - das sind die Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen -,
({0})
und die anderen sind die Kollegen von den Linken. Der
Kollege Gysi taucht immer dann ab, wenn er die Möglichkeit hat, etwas mitzugestalten. Ich erinnere Sie einmal daran: Wer war denn Kurzzeitsenator in Berlin?
({1})
Wer hatte denn die Möglichkeit, mitzugestalten? Immer
wenn ihr die Möglichkeit habt, mitzugestalten, dann
macht ihr euch ganz schnell vom Acker.
({2})
Lieber Herr Gysi, Fahnenflucht ist etwas, was Sie können.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Enkelmann?
Wenn die Uhr angehalten wird, gerne.
Herr Präsident, ich möchte gerne eine Zwischenbemerkung machen.
Herr Kollege, ich gehe davon aus, dass Ihnen bekannt
ist, dass die Entscheidung über den Standort des Flughafens lange vor der Zeit gefallen ist, als die damalige
PDS in Berlin Regierungsverantwortung übernommen
hat, und erst recht lange vor der Zeit, als sie in Brandenburg Regierungsverantwortung übernommen hat.
({0})
Ich gehe davon aus, dass Ihnen auch bekannt ist, dass
die zuständigen Entscheidungsträger - das waren Herr
Stolpe, Herr Diepgen und Herr Bundeskanzler Kohl SPD und CDU angehören. Ihnen ist sicher auch bekannt,
dass dieser Flughafen seitdem ein Pleiten-Pech-undPannen-Flughafen ist. Die Entscheidung über den Standort, die Entscheidung über das Drehkreuz und die
fehlende Entscheidung über ein nationales Luftverkehrskonzeptes - für all das sind Regierungen verantwortlich,
an denen die Linke nicht beteiligt war. Ich gehe davon
aus, dass Ihnen das bekannt ist. Ich finde, das sollte hier
auch gesagt werden.
({1})
Ich nehme mir die Zeit und antworte auf Ihre Zwischenbemerkung. Ich frage mich: Was ist die Essenz
dessen, was Sie uns jetzt hier gesagt haben? Ist die Essenz, dass wir immer dann, wenn eine Entscheidung getroffen wurde, sozusagen jegliche parlamentarische Arbeit einstellen? Ist die Essenz, dass man ({0})
- jetzt hören Sie bitte zu -, wenn man in Regierungsverantwortung kommt, immer sagt: „Wir waren es ja nicht,
das waren die anderen“, und dann am besten noch wie
Kollege Gysi nach ein paar Wochen alles wieder hinwirft?
({1})
Frau Enkelmann, Sie müssen auch zuhören können.
({0})
Das muss man sich überlegen. Aber das ist wahrscheinlich genau die Art und Weise, wie man als Fundamentalopposition im Deutschen Bundestag arbeitet.
({0})
Mit dem Thema Lärmschutz, um das es heute eigentlich gehen soll, hat das alles nur in einer Hinsicht etwas
zu tun: Die Verschiebung der Flughafeneröffnung bietet
nun die Möglichkeit, die baulichen Maßnahmen zum
Lärmschutz rechtzeitig vor der Eröffnung des Flughafens zu beenden und damit die Anwohnerinnen und Anwohner besser vor den Folgen des Fluglärms zu schützen. Das ist vielleicht der einzige positive Aspekt dieses
zu Recht sogenannten Dramas hier in Berlin.
Lärmschutz ist ohne jeden Zweifel eine der ganz
drängenden Aufgaben der Verkehrspolitik. Wenn es hier
nicht deutlich vorangeht, dann werden wir erleben, dass
die Akzeptanz für große Infrastrukturvorhaben weiter
sinkt. Lärmschutz lässt sich aber nicht isoliert betrachten. Flughäfen haben eine enorme wirtschaftliche Bedeutung. Fliegen ist heute kein Luxusgut begüterter
Schichten mehr, sondern Bestandteil der Mobilität und
Lebensqualität großer Teile der Bevölkerung. Lärmschutz muss daher mit dem Mobilitätsbedürfnis der
Menschen und mit den Erfordernissen der Wirtschaft
und den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Einklang gebracht werden.
({1})
Wir sind der festen Überzeugung, dass dies nur möglich ist, wenn die Politik alle Beteiligten an einen Tisch
bringt. Wir brauchen deshalb eine Bürgerbeteiligung, die
diesen Namen verdient. Ich finde, es ist beschämend,
wenn die Bundesregierung auf all die Bürgerproteste,
die wir erleben, als Reaktion nun solch einen Gesetzentwurf vorlegt; jetzt muss ich auch einmal etwas in diese
Richtung sagen.
Herr Kollege, gestatten Sie vorher eine Zwischenfrage des Kollegen Gysi?
Ja.
Herr Kollege, ich wollte aufgrund Ihrer Ausführungen nur eine Frage an Sie stellen. Sie haben gesagt, dass
man abwägen muss. Was hat denn dagegen gesprochen,
dass die Flugzeuge die verlängerte Autobahn für Abflug
und Anflug - das würde dann etwa den Bedingungen
von Sperenberg entsprechen - entlangfliegen? Es wäre
ein kleiner Umweg gewesen. Das einzige Gegenargument, das ich gehört habe, ist, dass es teurer wäre. Aber
100 000 Menschen wären dadurch entlastet worden.
Wäre es denn so schlimm, einen kleinen Umweg in Kauf
zu nehmen, durch den 100 000 Menschen entlastet werden würden, nur weil es dann etwas teurer wird? Ich
kann das wirklich nicht verstehen.
Herr Gysi, darauf antworte ich Ihnen sehr gerne. Ich
wollte in meiner Rede gleich noch etwas dazu sagen. Ich
glaube, dass wir uns in Zukunft genau überlegen müssen, wie wir mit der Festlegung der An- und Abflugverfahren umgehen. Ich glaube, dass dort auch technisch
noch einiges an Spielraum vorhanden ist. Wir müssen
vielleicht auch bei der Lösung der einen oder anderen
Frage den Fokus ein Stück verschieben in Richtung: Was
kostet es, und was bringt es? Aber wir haben natürlich
immer auch - dazu sage ich gleich noch etwas - Zielkonflikte. Jedes veränderte Anflugverfahren bedeutet
meistens, dass man mehr Kerosin verbraucht. Dadurch
bekommt man zum Beispiel Probleme bei der Erreichung von Klimaschutzzielen. Die Festlegung von Flugrouten ist eine der komplexesten Aufgaben überhaupt.
Ich betone noch etwas, damit es nicht untergeht: Die Sicherheit darf man in dieser Sache niemals vernachlässigen. Wenn man etwas isoliert betrachtet, denkt man oft,
dass man es besser weiß; aber es handelt sich um ein
sehr schwieriges Verfahren.
({0})
Ich war bei dem, was die Bundesregierung uns vorgelegt hat. Ich sage Ihnen: Das ist zu wenig. Laut Ihnen
soll die zuständige Behörde künftig, so ist es in dem Entwurf zu lesen, „darauf hinwirken“, dass der Vorhabenträger die betroffene Öffentlichkeit frühzeitig unterrichtet.
Man findet kein Wort von verbindlicher Beteiligung.
Stattdessen stellen Sie die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in das Belieben von Behörden und Planungsträgern. Das ist Beteiligung nach Gutsherrenart:
Wenn es mir passt, dann beteilige ich, wenn nicht, dann
lasse ich es sein.
Es ist beschämend, dass die Bundesregierung bis
heute keinen Finger rührt, um die Flughafenanwohner
endlich frühzeitig bei der Festlegung der Flugrouten zu
beteiligen. So werden Sie die Akzeptanzprobleme von
Flughäfen und das Lärmproblem nicht lösen. Grundvoraussetzung für den Lärmschutz der Anwohner ist, dass
sie frühzeitig eingebunden werden, und zwar sowohl bei
Bauvorhaben als auch bei der Festlegung von Flugrouten. Wir haben relativ detaillierte Vorschläge dazu vorgelegt. Sie sind gerne eingeladen, liebe Kolleginnen und
Kollegen aus der Koalition - aber auch die anderen -,
sich daran zu beteiligen, damit wir vielleicht einen vernünftigen Konsens in diesem Hause hinbekommen.
Wenn wir unser Land als Wirtschaftsstandort sichern
wollen, dann brauchen wir einen gesellschaftlichen Konsens über die dafür notwendige Infrastruktur. Wir brauchen zugleich einen Konsens darüber, wie wir die Belastungen, die von dieser Infrastruktur ausgehen, möglichst
gering halten, wie wir also zum Beispiel Fluglärm reduzieren, ohne Arbeitsplätze in Berlin oder anderswo aufs
Spiel zu setzen. Wir als Fraktion werden dazu im
Sommer ein detailliertes Papier vorlegen. Wir laden alle
Beteiligten, alle Betroffenen ein, mit uns vorurteilsfrei
und intensiv über dieses Papier zu diskutieren.
({1})
Wir sind davon überzeugt: Einen Kompromiss bekommt man nicht durch schnell gestrickte Anträge hin,
sondern nur, indem man mit allen Betroffenen intensive
Gespräche führt. Wir werden dabei auch offen darüber
diskutieren, ob es Sinn macht, die Rangfolge der Kriterien bei der Festlegung der Flugrouten zu ändern. Natürlich hört es sich erst einmal gut an, dass der Lärmschutz
künftig vor wirtschaftlichen Belangen rangieren soll.
Aber ich frage mich, ob es wirklich mehr für die Umwelt
bringt, wenn wir Flugzeuge aus Lärmschutzgründen
zum Beispiel weitere Umwege fliegen lassen, sodass sie
mehr CO2 ausstoßen. Ich sagte gerade in meiner Antwort
auf Ihre Frage: Genau das ist der Zielkonflikt, in dem
wir uns - das kann man nicht wegreden - befinden.
Diese Balance ist aus unserer Sicht nicht gewahrt,
wenn man pauschal für alle Flughäfen ein Nachtflugverbot fordert. Selbstverständlich müssen Nachtflüge auf
das absolute Mindestmaß begrenzt und mit möglichst
leisen Maschinen durchgeführt werden. Ich bezweifle
aber, dass wir als weltweit führender Logistikstandort
ganz auf Nachtflüge verzichten können. Jedenfalls wollen wir dies zuvor mit allen Beteiligten klären.
({2})
Dazu gehören auch diejenigen, die auf den Flughäfen ihr
tägliches Brot verdienen. Wir dürfen, wenn wir über
diese Frage diskutieren, die Interessen der dort Beschäftigten und der Unternehmen, die diese Beschäftigungsverhältnisse sichern, nicht einfach außen vor lassen.
({3})
Offen gestanden sind mir insbesondere die Linken mit
ihrem Antrag um einiges zu kurz gesprungen. Wenn man
den Fluglärm reduzieren will, dann reicht es eben nicht,
nur die Grenzwerte herabzusetzen und Nachtflüge zu
verbieten. Wir brauchen einen Ansatz, der alle verfügbaren Mittel zur Lärmreduzierung miteinander verknüpft.
Dazu gehören die Durchsetzung lärmarmer An- und Abflugverfahren. Dazu gehören vernünftige Start- und Landegebühren, die noch stärker als bisher Anreize zur Verwendung lärmarmer Flugzeuge setzen. Dazu gehört
natürlich auch, dass wir uns vor allen Dingen auf internationaler Ebene für strengere Lärmgrenzwerte einsetzen. Das ist, glaube ich, eine große Aufgabe. Jeder, der
das schon einmal gemacht hat, weiß, wie schwierig das
ist.
Vor allen Dingen eines dürfen wir nicht tun - ich
hoffe, das bessert sich im Laufe dieser Debatte noch ein
bisschen -: die Interessen der Anwohner und der Beschäftigten gegeneinander ausspielen. Es ist wohlfeil, jeder Gruppe das zu versprechen, was sie in diesem Augenblick gerade hören will. Natürlich macht es sich gut,
die verschobene Flughafeneröffnung zum Anlass zu
nehmen, Maximalforderungen im Hinblick auf den
Lärmschutz zu erheben.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Konsens sieht
ganz anders aus. Ein Konsens setzt einen Dialog mit allen Betroffenen und nicht nur mit isolierten Gruppen voraus. Genau das vermisse ich in Ihren Anträgen.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzter Kollege Bartol, was ich vermisst habe, war ein
Wort der Sozialdemokraten zur Verantwortung der Regierungen der Länder Berlin und Brandenburg in dieser
Angelegenheit.
({0})
Auch dazu kann man hier etwas sagen. Denn der Aufsichtsratsvorsitzende der Berliner Flughafen-Gesellschaft ist der Regierende Bürgermeister von Berlin,
({1})
und derjenige, der für die Bauaufsicht zuständig ist, ist
der Ministerpräsident von Brandenburg.
({2})
Die Sozialdemokraten können gerne noch mehrere
Anhörungen durchführen, in denen es um die Frage geht,
ob die Lärmschutzmaßnahmen zu verbessern sind oder
nicht. Irgendwann müssen Sie aber auch einmal sagen,
was Sie wollen.
({3})
Wollen Sie eine generelle Einschränkung des Nachtflugverkehrs, wie es sie am Flughafen Köln/Bonn gibt, oder
wollen Sie sie nicht? Auch dazu muss man hier Auskunft
geben.
({4})
Es reicht nicht, zu sagen, man müsse mit allen Betroffenen sprechen.
({5})
Was ist am Ende wichtiger? Darum geht es, liebe Freundinnen und Freunde.
({6})
So einfach wie Sie kann man es sich nicht machen.
Geschätzter Herr Kollege Gysi, ich sage Ihnen eines:
Ihre Rede stand ein bisschen unter dem Motto „Vorwärts, Genossen, wir wollen zurück!“.
({7})
Wir können die Debatte um die Standortauswahl gerne
noch einmal führen. Nur: Das bringt die Menschen, die
am BBI wohnen, keinen Millimeter weiter. Es nützt niemandem, wenn wir diese Debatte noch einmal führen.
Insofern ist es völlig egal, wer wann wo eine falsche
Standortentscheidung getroffen hat.
({8})
Wir müssen die Probleme der Menschen, die am Flughafen Berlin Brandenburg International wohnen, lösen.
Das ist Aufgabe der Verkehrspolitik, die wir im Deutschen Bundestag machen.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gysi?
Gerne.
Sie haben recht, dass das nicht zurückzudrehen ist;
das weiß ich. Aber ich will daran erinnern: Man hat sich
damals nicht für den Standort Sperenberg entschieden.
Man wollte den Flughafen in der Nähe der Hauptstadt
bauen. Dann muss man in Sachen Lärmschutz allerdings
besonders großzügige Regelungen treffen. Für den
Lärmschutz sind bisher 144 Millionen Euro vorgesehen,
während für den gesamten Flughafen weit über 2 Milliarden Euro vorgesehen waren.
({0})
Was wäre denn so schlimm daran, zu sagen: Wir treffen
im Sinne der Betroffenen großzügige Lärmschutzregelungen?
Herr Kollege Gysi, Sie müssen zumindest versuchen,
die Sache richtig darzustellen. Derzeit haben 13 000
Menschen einen Kostenübernahmebescheid der Flughafengesellschaft für Lärmschutzmaßnahmen an ihren Gebäuden. Das ist die Hälfte derjenigen, die derzeit anspruchsberechtigt sind. Dass die meisten dieser
Menschen, über 90 Prozent dieser 13 000 Menschen,
derzeit diese Baumaßnahmen noch nicht durchgeführt
haben, obwohl die Kosten vom Flughafen übernommen
würden, kann man nicht der Flughafengesellschaft vorwerfen. Es ist aber auch logisch: Wenn der Flugbetrieb
erst im März 2013 aufgenommen wird, dann muss man
eine Entscheidung für neue Lärmschutzfenster nicht im
Mai dieses Jahres treffen. Das ist der Punkt.
({0})
Es gibt die Bereitschaft, die Anspruchsberechtigten
zu befriedigen. Ich bin bereit, parlamentarisch darüber
zu reden, ob wir den Kreis der Anspruchsberechtigten
im Rahmen einer Änderung des Luftverkehrsgesetzes erweitern müssen
({1})
und wer die Kosten zu tragen hat. Dazu steht in den vorliegenden Anträgen oder in der Großen Anfrage jedoch
kein Wort. Wir müssen uns dann noch einmal mit der Sache befassen. Das können wir gern tun. Wir müssen aber
aufpassen, dass am Ende nicht jeder, der irgendwann
über seinem Garten in 4 000 oder 5 000 Fuß Höhe ein
Flugzeug sieht, Lärmschutzansprüche hat. Das ist nämlich unbezahlbar, das wissen wir, liebe Kolleginnen und
Kollegen.
({2})
In dieser Sache geht es darum: Wer hat wann was gewusst, und wer hat wann was falsch gemacht? Mir
kommt das Verhalten der Geschäftsführung so vor: Man
hat bis zuletzt geglaubt, dass die brandenburgische Landesregierung als ein wichtiger Aktionär diesen Wahnsinn, die Brandmeldeanlage dieser Infrastruktur per
Hand oder - wie es so schön heißt - halbautomatisch zu
betreiben, am Ende doch genehmigen wird. Dass die
Bauordnungsbehörde im zuständigen Landkreis den Mut
hatte, dagegenzuhalten, spricht für die dort Tätigen. Es
war falsch, so lange zu warten und mit einer halbautomatischen Lösung in das Verfahren zu gehen.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, darum geht
es. Herr Gysi hat danach gefragt: Was hat eigentlich Vorrang? - Ich sage Ihnen: Vorrang vor den Lärmschutzinteressen und den Wirtschaftsinteressen hat die Sicherheit.
Gerade nach den Erfahrungen in Düsseldorf war es von
den Betreibern unverantwortlich, überhaupt eine halbautomatische Brandmeldeanlage für diesen Flughafen vorzusehen.
({4})
Daran wird sich die Frage entscheiden, wer wann was
wusste. Der Kollege Wichtel hat es gesagt: Ich bin der
festen Überzeugung, dass an dieser Stelle ein Transparenzproblem zwischen den Aufsichtsbehörden und dem
Aufsichtsrat besteht, denn ganz offensichtlich gibt es
Controlling-Berichte, die sorgfältig erstellt wurden, bei
denen jedoch diejenigen, die innerhalb der Gesellschaft
für das Controlling zuständig sind, darauf angewiesen
waren, dass die Daten, die ihnen von ihren Kollegen zugeleitet werden, auch stimmen. Daher war es von Anfang an ein Fehler, kein externes Controlling für diese
Gesellschaft vorzusehen, sondern Erfahrungen im Kollegenkreis auszutauschen. Jetzt muss man die Chance ergreifen, von außen in alles hineinzuleuchten, denn miteinander hat es ganz offensichtlich nicht funktioniert. Das
sind wir auch denjenigen schuldig, die einen besonderen
wirtschaftlichen Schaden erlitten haben, nämlich den
Gewerbetreibenden, den Anwohnerinnen und Anwohnern und den Beschäftigten der Flughafengesellschaft.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es liegt ein
Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen zu Veränderungen
vor. In diesem Antrag steht viel Kluges. Dort steht auch
ein Punkt, der hier in den Debatten eine Rolle spielt,
nämlich die Frage, wie Flugrouten festgelegt werden
und ob diese zukünftig bereits im Planfeststellungsverfahren erörtert werden sollen. Diese Diskussion kann
man gern führen, und sie ist im Lichte der Erfahrungen
mit dem BBI sicher neu zu bewerten. Meine Sorge ist
aber, dass wir ein gewisses Maß an Flexibilität verlieren,
wenn wir die Frage, welche Arten oder Klassen von
Flugzeugen - Langstrecken- oder Kurzstreckenflugzeuge - wie den Flughafen anfliegen, im Planfeststellungsverfahren festlegen. Das Problem ist, dass Sie diese
Flugrouten dann während des Betriebs des Flughafens,
der einen Zeitraum von 20, 30 oder 40 Jahren umfassen
kann, nicht mehr ändern können, obwohl es vielleicht
lärmmindernder oder ökologischer wäre, sie zu ändern,
wenn es eine neue Generation von Flugzeugen gibt. Daher bin ich sehr skeptisch, ob dies die richtige Lösung
ist.
Klar ist aber auch, dass sich die Fluglärmkommission,
die die Große Koalition im Rahmen der Novelle des
Luftverkehrsgesetzes und des Fluglärmgesetzes eingeführt hat, ganz offensichtlich nicht bewährt hat. Sie wird
nicht als ordentliche Bürgerbeteiligung wahrgenommen.
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen, deshalb finde ich
es gut, wenn wir auf der Fachebene noch einmal darüber
sprechen, ob man an dieser Stelle nicht bessere und
transparentere Bürgerbeteiligungsverfahren einführen
kann.
({6})
Bei dieser Debatte geht es nicht nur um die Frage,
was hier in Berlin passiert, auch wenn uns selbst, viele
Bürgerinnen und Bürger und viele, die die Bundesrepublik Deutschland betrachten, das bewegt. Letztendlich
hat sich Deutschland unfassbar blamiert. Wir erwecken
im Ausland nämlich den Eindruck, als wären wir besonders gut im Bau von Infrastrukturen. Wenn man dann
hierherkommt, dann sieht man, dass wir, die bundesrepublikanische Gesellschaft, ganz offenbar nicht in der
Lage sind - sowohl aufgrund der Verwaltungsverfahren
als auch bedingt durch die durchführende Gesellschaft
und, ganz offen, vielleicht auch aufgrund mancher politischen Fehlentscheidung -, Flughäfen neu zu errichten,
Bahnhöfe neu zu errichten und überhaupt Infrastrukturen
zur Verfügung zu stellen, die einer Industrienation würdig sind.
Deshalb lohnt es sich, unsere Planfeststellungsverfahren zu überprüfen. Es geht nicht nur um mehr Bürgerbeteiligung - dafür sind wir auch -, sondern auch um mehr
Effizienz und mehr Schnelligkeit, damit wir Infrastrukturen bekommen, die leistungsfähig sind. Das braucht
nämlich die Bundesrepublik Deutschland, und im Gegensatz zu anderen hier bekennen wir uns auch dazu.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will
einmal eines klarstellen: Bei der Kontrolle der Vorgänge
rund um den BBI Willy Brandt - so heißt der Flughafen;
wahrscheinlich ärgert sich Willy Brandt in diesen Tagen,
wenn er hört, was über den Flughafen erzählt wird - geht
es um drei Gesellschafter, die tätig geworden sind bzw.
untätig waren. Wir stellen fest: Eines der vielleicht bekanntesten Infrastrukturprojekte in Deutschland ist richtig versemmelt worden.
({0})
Ich stelle jetzt nicht die Frage, die Gregor Gysi vielleicht gerne stellen würde, ob der Standort richtig ist,
weil ich glaube, am heutigen Tag geht es um etwas anderes, nämlich um aus dem Ruder laufende Kosten, sehenden Auges der Geschäftsführung und aller Mitglieder im
Aufsichtsrat.
({1})
Das Ding sollte einmal weniger als halb so viel kosten.
({2})
Wer bezahlt das? Offenbar hat kaum einer der Verantwortlichen einen Überblick über die Art und Weise des
Baus. Die Öffnung wurde schon einmal verschoben.
Was haben wir jetzt? Jetzt haben wir die Situation,
dass sich die Airlines und auch der Non-Aviation-Bereich, also das Gewerbe dort, fragen, ob sie aufgrund der
erneuten Verschiebung überhaupt Schadensersatz bekommen. Verträge wurden abgeschlossen, die besagen,
dass eine Verschiebung von 18 Monaten hinzunehmen
ist. Dahinter stecken bis zu 400 Menschen, die jetzt
Kündigungen erhalten. Dahinter stecken Azubis, die
dachten, am 1. September 2012 könnten sie mit einer
Ausbildung anfangen. Dahinter steckt, dass der Steuerzahler nicht weiß, wie viel er am Ende auf allen drei
Ebenen - in Berlin, in Brandenburg und im Bund - für
eklatantes Missmanagement zuschießen muss.
({3})
Das ist das Thema des heutigen Tages.
Herr Ramsauer hüllt sich ja in Schweigen und bietet
uns eine Ersatz-Soko an. An dieser Stelle kann ich Ihnen
nur sagen: Nehmen Sie uns als Haushaltsgesetzgeber
und als Kontrolleur ernst! Wir können es uns nämlich
gar nicht gefallen lassen, dass es plötzlich doppelt so
teuer wird und dass aufgrund der ganzen Hektik der letzten Monate noch mehr Kosten entstehen.
In den letzten Monaten ist man, nur um den Termin
3. Juni 2012 politisch zu halten, damit man sich nicht
blamiert, so weit gegangen, osteuropäische Tagelöhner
mit dem mündlichen Versprechen von 5 Euro die Stunde
vom S-Bahnhof Grünau ohne Sicherheitskontrolle in
Bussen auf den Flughafen zu karren. Auch hier fragen
wir: Was war da? Wer wusste davon? Wer musste davon
wissen? Diese Fragen stelle ich an alle drei Gesellschafter.
({4})
Wir lassen uns nicht mit dem lapidaren Satz abspeisen, Sie hätten es nicht gewusst und irgendjemand aus
der Planungsabteilung hätte nicht genug gesagt, und wir
lassen uns auch nicht mit dem lapidaren Satz abspeisen:
Dann müssen jetzt all die Menschen, die in der Einflugschneise in Tegel leben, den Lärm vermehrt hinnehmen.
Dazu sagen wir ein ganz klares Nein. Herr Ramsauer,
Sie werden das Problem schon anders lösen müssen.
({5})
Jetzt brauchen wir eine tabulose Aufklärung. Wir
werden uns nicht mit dem Bauernopfer Körtgen zufriedengeben, der mal eben weggeschoben wurde. Ich
glaube nicht - davon bin ich nicht zu überzeugen -, dass
2010 ein Eröffnungstermin verschoben wird und man
danach als Geschäftsführung und als Aufsichtsratsmitglied nicht erkennt, dass man jetzt einmal die Zügel ein
bisschen anziehen und sich um diese Baustelle wöchentlich kümmern muss. Das verstehe ich nicht. Ich kann
dieses Konstrukt nicht akzeptieren, dass Planung und
Controlling zusammengehören. Das macht doch kein
Mensch mehr, das macht auch kein Unternehmen mehr.
({6})
Sie hatten recht, Herr Döring: Das ist nicht nur altmodisch, das ist gaga.
Ich kann nicht akzeptieren, dass angeblich der Brandschutz der einzige heikle Punkt sein soll. Ich habe eben
von den Tagelöhnern gesprochen. Mir wird von Handwerksfirmen erzählt: Da haben wir schnell Wände hochgezogen, die wir eine Woche später wieder abgerissen
haben, weil wir gemerkt haben, dass da ein bisschen was
fehlt. - So nicht.
Auch beim Brandschutz sage ich: Ich lasse mir nicht
unterschieben - ich denke, die Mehrheit des Hauses
auch nicht -, der Aufsichtsrat habe erst mit Datum vom
20. April 2012 davon erfahren.
({7})
No way. Es kann mir keiner erzählen, dass die Entfernung zu groß war. Der zu bauende Flughafen ist ja nicht
3 000 Kilometer weit von Berlin entfernt. Die Verantwortlichen begegnen sich doch ständig alle paar Tage
und Wochen. Und dabei sollen die Aufsichtsratsmitglieder und ein Herr Schwarz nicht miteinander geredet haben? Es wäre noch aufzuklären, ob dem wirklich so ist.
Ich habe da so meine Zweifel.
Ich kann mir schon gar nicht vorstellen, dass das Problem erst im Dezember 2011 aufgefallen ist. Vorher hat
man Herrn Körtgen geholt, weil dieser den Umbau am
Düsseldorfer Flughafen geleitet hat, nachdem dort bei
einem Brand Menschen ums Leben gekommen sind.
Man hat gesagt: Hierher kommt die modernste Technik.
Dabei merkt man nicht, dass man das zielgenau führen
muss? Das glaubt doch kein Mensch. Dann setzen Sie im
Februar eine Taskforce Brandschutz ein. Davon soll der
Aufsichtsrat nichts gewusst haben? Dafür bieten Sie uns
jetzt Herrn Körtgen als Bauernopfer. No way.
Dann gibt es eine Interimslösung. Man will die Entrauchungsanlagen und die Feuertüren im Handbetrieb
bedienen. Handbetrieb statt Hightech auf dem größten
internationalen Flughafen! Ich sage Ihnen ehrlich: Das
lasse ich mir von niemandem bieten: nicht von Herrn
Wowereit, nicht von Herrn Platzeck und auch nicht von
Herrn Ramsauer.
({8})
Dann pfeifen die Spatzen von den Dächern, dass die
Aufsichtsbehörden in Dahme-Spreewald animiert werden sollten, die Erlaubnis für die Anlagen im Handbetrieb zu geben. Aber der Witz ist: Diese wissen, dass sie
als kleine Mitarbeiter dafür persönlich haften - ich
möchte wissen, was hier Brandenburg gemacht hat -, sodass sie nachts nicht mehr schlafen könnten, wenn einer
auf dem Flughafen sterben würde. Aber die Aufsichtsratsmitglieder dachten: Wir werden uns schon rausreden. - Das kann ich nicht akzeptieren.
({9})
Ich will Ihnen als letzten Satz eines sagen. Ich akzeptiere nach all diesen Vorfällen nicht, dass man sagt: Wir
haben nichts gewusst. - Schauen Sie in die Kommentare
zum Aktiengesetz. Dort steht: Zu den Aufgaben eines
Aufsichtsrats gehört Verschaffen und Behalten eines
Überblicks über die wesentlichen wichtigen Geschäftsvorfälle.
Frau Kollegin, Sie wollten doch nur noch einen Satz
sagen. Ihre Redezeit ist überschritten.
Sofort, danke. Ich mache den Satz jetzt wirklich zu
Ende. - Weiter heißt es: Bestehen Anzeichen auf eine
ungünstige Geschäftsentwicklung, dann intensiviert sich
die Pflicht der Aufsichtsräte.
Auf dieser Basis kann ich nur sagen: tabulose Aufklärung! Alles muss auf den Tisch und nichts in die Geheimschutzräume. Wir müssen die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass notfalls die Verantwortlichen persönlich in Regress genommen werden. Das ist die Aufgabe der Parlamente.
Frau Kollegin.
Wir werden sie wahrnehmen.
({0})
Das Wort hat nun Jan-Marco Luczak für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Frau Künast, das Leben könnte ja so einfach sein! Wenn wir Ihren Vorschlägen gefolgt wären,
dann hätten wir bloß einen Regionalflughafen gehabt,
dann hätten wir all diese Probleme nicht. Aber das Leben ist nun einmal nicht schwarz oder weiß. Sie sind mit
Ihrer Kritik alles andere als glaubwürdig. Das, was Sie
heute hier vortragen, ist heuchlerisch.
({0})
Aber richtig ist: Es ist kein schöner Anlass, dass wir
uns heute über dieses Thema unterhalten müssen. Die
Verschiebung der Eröffnung des Flughafens BER ist tatsächlich ein Desaster. Das ist ein großer Imageschaden
für Berlin. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Deswegen ist es richtig: Die Ursachen müssen jetzt aufgeklärt
werden. Nichts darf unter den Tisch gekehrt werden. Wir
müssen uns überlegen: Wo gab es Fehler im Controlling? Wo gab es Fehler im Risikomanagement? Wer sind
die Verantwortlichen in der Geschäftsführung? All das
muss rückhaltlos aufgeklärt werden.
Aber so wichtig das auch ist: Mich interessiert vor allen Dingen, wie es in der Zukunft weitergeht. Ich finde
es gut und richtig, dass der Bundesverkehrsminister eine
Sonderkommission im Verkehrsministerium eingesetzt
hat, die eine enge Zusammenarbeit zwischen Berlin,
Brandenburg und dem Bund sicherstellt
({1})
und genau prüft, welche Fragen noch offen sind. Das ist
das Entscheidende: dass wir vor allen Dingen in den
kommenden Monaten erst einmal den Flugverkehr in der
Region Berlin und Brandenburg über den Flughafen
Tegel sicherstellen können.
({2})
Das ist nicht einfach. Der Flughafen Tegel arbeitet
schon jetzt an der Belastungsgrenze. Deswegen wird es
für uns erst einmal darauf ankommen, dass wir die
Mehrbelastungen, zu denen es für die Menschen um den
Flughafen Tegel herum kommen wird - das wird wohl
unvermeidbar sein -, auf das absolut notwendige Minimum reduzieren. Das ist jetzt die Aufgabe des Senats gemeinsam mit den Airlines und dem Flughafen.
Wichtig ist mir: Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln,
dass der feststehende Termin im März des kommenden
Jahres tatsächlich unumstößlich eingehalten wird. Denn
bei aller berechtigten Kritik muss klar sein, dass der
BER das größte und wichtigste Infrastrukturprojekt für
die Entwicklung und die Zukunft der Region BerlinBrandenburg ist.
Der Flughafen ist für diese Region der Anschluss an
die Welt. Er wird pro Jahr 25 Millionen Fluggäste und
mehr zählen. Er hilft uns, die großen Potenziale, die Berlin hat, für die Berliner Wirtschaft zu heben. Nicht zuletzt ist er der Jobmotor für die Region. Über 40 000 Arbeitsplätze werden hier entstehen. Das ist gut für die
Berlinerinnen und Berliner und auch für die Brandenburger.
({3})
Deswegen bin ich überzeugt, dass dieser Flughafen
ein großartiger Erfolg für die Menschen in dieser Region
werden muss und wird. Wir stehen auch eindeutig und
klar hinter dieser Entscheidung und setzen sie um.
Aber natürlich hat ein solches Projekt auch Kritiker.
Wenn man will, dass solch ein großes Projekt Erfolg hat,
dann muss man die Kritik auch ernst nehmen. Nur dann
wird der Flughafen akzeptiert werden.
Lassen Sie mich vielleicht zuerst einmal zu den Flugrouten kommen. Ich bin Abgeordneter aus TempelhofSchöneberg. Mein Wahlkreis, insbesondere der Stadtteil
Lichtenrade, wäre von den Flugrouten, wie sie die DFS
im September 2010 vorgeschlagen hat, erheblich betroffen worden. Ich war mit den Menschen in meinem Wahlkreis, in Steglitz-Zehlendorf und auch in den Berliner
Umlandgemeinden entsetzt, als diese Flugrouten vorgestellt worden sind. Denn sie hatten mit dem, was über
Jahre diskutiert und auch im Planfeststellungsbeschluss
angesprochen worden ist, nichts, aber auch gar nichts
mehr zu tun.
Nach diesen Vorschlägen wären die Menschen, die
darauf vertraut haben, dass die Flugrouten so verlaufen,
wie sie diskutiert und im Planfeststellungsbeschluss angesprochen worden sind, in ihrem Vertrauen enttäuscht
worden. Diese Menschen haben auf der Grundlage dieses Vertrauens Entscheidungen getroffen. Sie haben zum
Beispiel in einer bestimmten Region ein Haus gekauft
und dort eine Familie gegründet. Ich finde, dieses Vertrauen durften wir nicht enttäuschen.
Deswegen habe ich mich mit vielen anderen gemeinsam mit den Menschen vor Ort, den Bürgerinitiativen
und der lokalen Politik dafür eingesetzt, dass diese
neuen Flugrouten nicht Wirklichkeit werden, sondern
die langjährig diskutierten Flugrouten die Grundlage für
den BER bleiben. Es gab dann ein sehr intensives Zusammenwirken zwischen den Bürgerinitiativen, der Verwaltung und der Politik. Es gab sehr viele gemeinsame
Sitzungen im Verkehrsministerium, in denen man die
Bürger in die weiteren Überlegungen und auch in die Suche nach Lösungen eingebunden hat. Das Wichtigste,
was man gemacht hat, war: Man hat einander zugehört.
Die Betroffenen sind hier im besten Sinne zu Beteiligten
gemacht worden. Das sollte auch Vorbild für andere Bereiche werden.
({4})
Auch Bundeskanzlerin Merkel und Verkehrsminister
Ramsauer haben sich in der Diskussion klar und ohne
Wenn und Aber festgelegt, dass die Menschen sich darauf verlassen können müssen, was ihnen Politik und
Verwaltung jahrelang gesagt haben. Diesen beiden und
insbesondere auch Staatssekretär Scheurle im BMVBS
möchte ich an dieser Stelle persönlich und auch im Namen der Bürgerinitiativen noch einmal ganz herzlich
danken. Das war ein vorbildliches Verfahren, das bei den
Menschen wieder Vertrauen zurückgeholt hat. Vielen
Dank an dieser Stelle.
({5})
Dieses Verfahren hat dann auch Erfolg gehabt. Es gab
dann auch deutliche Verbesserungen bei den Flugrouten.
({6})
- Sie sprechen die Situation am Müggelsee an. Da muss
es tatsächlich noch Optimierungen und Verbesserungen
geben. - Aber unter dem Strich steht: Die Politik hat zugehört. Die Politik hat sich bewegt, und sie hat auch etwas geändert. Das ist gut und richtig.
({7})
Aber welche Lehren ziehen wir jetzt daraus? Kann
man sagen: „Ende gut, alles gut“? Ich finde, das wäre ein
bisschen zu einfach. Ich glaube, dass es richtig und
wichtig ist, die Betroffenen früher und intensiver in die
Planungen einzubeziehen. Dazu müssen wir jetzt geeignete Verfahren finden.
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch mehr Verbindlichkeit bei der
Festlegung der Flugrouten brauchen. Es ist eine größere
Rechts- und Planungssicherheit für alle Betroffenen, für
die Bürger, aber auch für die Airlines und die Flughafenbetreiber, notwendig. Deswegen sollten wir noch einmal
prüfen - der Kollege Döring hat das bereits angesprochen -, ob sich im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens möglicherweise Instrumente finden lassen, die eine
stärkere Verankerung der frühen Beteiligung bei der
Festlegung von Flugrouten ermöglichen und trotzdem
die notwendige Flexibilität gewährleisten.
Es gibt noch einen Punkt, bei dem ich mir mehr Verbindlichkeit wünsche, nämlich bei der Umsetzung der
festgelegten Flugrouten. Es kann ja nicht sein, dass man
sich monatelang über die Festlegung der Flugrouten
streitet und dass Tausende Menschen monatelang auf die
Straße gehen, dann aber die gemeinsam mit der Politik
entwickelten Lösungen ausgehöhlt werden. Zum Teil
passiert das aber momentan. In der Praxis kann die DFS
Piloten eine Einzelfreigabe erteilen, wenn sie eine solche
verlangen. In Einzelfällen kommt man daran auch nicht
vorbei, wenn es beispielsweise darum geht, einem Gewitter auszuweichen. Aber es kann nicht sein, dass Einzelfreigaben zum Regelfall werden und man so dauerhaft von den festgelegten Flugrouten abweicht.
Nun stellt sich die Frage, wie wir eine größere Verbindlichkeit erreichen können. Die DFS ist eine Behörde
und ist an Gesetze gebunden. Das maßgebliche Gesetz
ist das Luftverkehrsgesetz. Danach muss der Luftverkehr „sicher, geordnet und flüssig“ abgewickelt werden.
Das lässt viel Interpretationsspielraum. Deswegen sollDr. Jan-Marco Luczak
ten wir uns genau anschauen, ob wir möglicherweise die
Bestimmungen des Luftverkehrsgesetzes präzisieren
können. Natürlich - das ist hier schon gesagt worden -:
An erster Stelle steht hier immer die Sicherheit; das
muss auch so bleiben. Aber dann gibt es noch die betrieblichen, die wirtschaftlichen Interessen, und es gibt
den Aspekt des Lärmschutzes. Diese Interessen stehen
meistens in einem Gegensatz zueinander.
Ich finde, wir müssen hier schon darüber nachdenken,
ob wir den Lärmschutz nicht stärker betonen können;
denn in den letzten Jahren ist die Tendenz zu beobachten, dass die Gerichte den Gesundheitsschutz in den Vordergrund stellen. Mir ist es auch wichtig, im Zusammenhang mit dem Lärmschutz zu betonen: Hier geht es nicht
um Befindlichkeiten, sondern wirklich um die Gesundheit der Menschen.
({8})
Denn alle nationalen und internationalen Studien zeigen:
Eine Beschallung mit Lärm kann erhebliche Gesundheitsstörungen hervorrufen. Das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt dann dramatisch. Da der Fluglärm ständig zunimmt, müssen wir uns unserem
politischen Gestaltungsauftrag, den wir im Deutschen
Bundestag haben, stellen. Wir dürfen uns das nicht von
den Gerichten aus der Hand nehmen lassen. Ich begrüße
sehr, dass die Gerichte mehr Gesundheitsschutz fordern.
Aber wir sollten sehr genau darüber nachdenken
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
- einen kleinen Augenblick; den Satz möchte ich
noch zu Ende führen -, ob es im Rahmen eines Abwägungsprozesses möglich ist, den Gesundheitsschutz im
Luftverkehrsgesetz stärker zu berücksichtigen.
({0})
Ich gestatte nun die Zwischenfrage, Herr Präsident.
Aber bitte halten Sie die Uhr an.
Sie können Ihre Redezeit nur verlängern; denn sie ist
eigentlich abgelaufen.
Dann verlängere ich sie mit einem letzten Satz.
({0})
Nein, das können Sie nur, indem Sie auf die Zwischenfrage eingehen.
Lassen Sie mich zum Schluss betonen: Ich möchte,
dass der BER ein Erfolg wird. Wir müssen daher die Kritik, die geäußert wurde, sehr ernst nehmen und darüber
nachdenken, was wir bei der Verbindlichkeit der Festlegung von Flugrouten und bei der Verbesserung des
Lärm- und Gesundheitsschutzes machen können. Nur
das schafft Akzeptanz und damit die Voraussetzung für
den wirtschaftlichen Erfolg dieses Großflughafens. Das
alles wollen wir.
({0})
Herr Kollege, wollen Sie jetzt noch eine Nachfrage
gestatten?
({0})
Das können wir sehr gerne machen.
Herr Liebich, bitte.
({0})
Herr Kollege Luczak, Ihre Partei ist in Berlin in der
Landesregierung. Die unglückliche Situation, in die wir
nun geraten sind, hat zur Folge, dass die geplanten zusätzlichen Flüge weiter über Tegel abgewickelt werden.
Das trifft viele Anwohnerinnen und Anwohner in Reinickendorf und in Pankow. Es gibt nun den Vorschlag,
dass noch früher am Morgen losgeflogen und noch länger in der Nacht geflogen werden soll. Was sagen Sie als
Vertreter einer in Berlin regierenden Partei zu diesen
Vorschlägen?
Sehr geehrter Herr Kollege Liebich, in der Tat ist die
CDU seit einigen Monaten in Berlin in der Regierungsverantwortung. Ich finde es gut, dass wir Sie nach zehn
Jahren abgelöst haben; das will ich gleich am Anfang
feststellen.
({0})
Natürlich müssen wir - das habe ich in meiner Rede
auch gesagt - jetzt erst einmal darüber nachdenken, wie
wir gerade in den Sommermonaten, wenn viele Berlinerinnen und Berliner in den Urlaub fliegen möchten, den
Flugbetrieb in dieser Region sicherstellen können.
Es wird - auch das habe ich ausgedrückt - natürlich
zu einer Mehrbelastung für die Menschen kommen. Uns
liegen momentan die Anträge der Airlines vor. Es geht
um etwa 130 Flüge in den Tagesrandzeiten. Es geht also
nicht um die Kernzeit. Wir reden von Flügen bis
23.15 Uhr und ab 5.20 Uhr früh am Morgen. Das wird
jetzt sehr genau geprüft werden. Für uns ist das Entscheidende, dass so weit wie möglich an den Kern- und
Tagesrandzeiten festgehalten wird. Wir müssen also ein
Verfahren finden, das die Mehrbelastung so gering wie
möglich hält. Das werden wir auch finden; darauf können Sie sich verlassen.
({1})
Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Hier sind schon einige sehr emotionale Reden gehalten worden, die sicherlich die verschiedensten Motivationen hatten. Das Thema, um das wir uns hier heute
zu kümmern haben, nämlich den Luftverkehr in
Deutschland zu gestalten, ist gleichwohl eine sehr wesentliche Aufgabe.
Es ist zunächst einmal wichtig, dass auch wir im Parlament das Signal aussenden, dass Deutschland Luftverkehr braucht, und zwar an verschiedenen Standorten,
weil in einer Industrienation wie der unseren Menschen
auf Mobilität und damit auch auf Luftverkehr angewiesen sind. Dazu müssen wir uns eindeutig bekennen.
({0})
Weiterhin - da ist unsere Gestaltungskraft gefragt geht es um die Frage, ob wir als Gesetzgeber gehalten
sind, das bisher gültige Luftverkehrsgesetz zu überarbeiten und, wenn ja, in welcher Form. Dabei geht es auch
darum, wie wir den von Lärm Betroffenen besser helfen
und mehr Akzeptanz für den Flugverkehr erreichen können. Dazu gibt es Vorschläge. Hier gilt es nun, in kluger
Art und Weise die verschiedenen Aspekte abzuwägen,
über die wir zu reden haben, nämlich den Luftverkehr
und die Gesundheitsvorsorge für Menschen.
Ein dritter Punkt, über den wir debattieren, ist die
Panne beim BER und der damit verbundene Imageschaden. Das ist sehr ernst zu nehmen, weil das nicht nur den
Berliner Raum betrifft, sondern die Bundesrepublik
Deutschland insgesamt. Solche Pannen sollten bei Großprojekten in Deutschland nicht so häufig vorkommen,
weil wir uns das international nicht leisten können.
({1})
Das, was beim Planfeststellungsverfahren und dann in
Bezug auf die Flugrouten zwischen der Deutschen Flugsicherung und dem Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung abgelaufen ist, entsprach den gültigen Gesetzen
und war, so denke ich, nachvollziehbar. Das ist nicht zu
kritisieren. Die Frage ist, ob wir daraus Lehren ziehen
müssen, wenn bestimmte Ergebnisse - Kollege Gysi und
andere haben das ja vorhin anhand praktischer Beispiele
dargestellt - uns nachdenklich stimmen, weil sie gewisse
Effekte nach sich ziehen. Ich spreche hier von der Stimmung der Bevölkerung, die sagt: „Das kann ja wohl
nicht wahr sein“, und deren Akzeptanz durch die Ereignisse zerstört worden ist. An diesem Punkt ist die Politik
gefordert. Jetzt müssen Minister und Parlamentarier bald
mit der Bevölkerung ins Gespräch kommen, um die Akzeptanz zu erhöhen.
Gestatten Sie mir auch ein Wort zu den Investitionen
und zu der Pannenserie. Nach den Anhörungen, die wir
im Verkehrsausschuss gehabt haben, habe ich den Eindruck, dass dieser Flughafen zum Juni dieses Jahres
nicht fertig geworden wäre, auch wenn, wie es geplant
war, zusätzliche 700 Studenten oder Hilfskräfte für
irgendwelche Schließvorgänge eingesetzt worden wären.
Der Lufthansa-Chef zum Beispiel hat darauf hingewiesen, dass die gesamte IT und das Brandschutzsystem
nicht in Ordnung waren, die Lounges nicht fertiggestellt
waren und die Zahl der Abfertigungsschalter unzureichend gewesen wäre. Das zeigt doch, dass zwischen
dem, was hätte fertiggestellt sein sollen, und dem, was
tatsächlich fertiggestellt war, eine Riesenlücke klaffte.
Das ist dem Umstand geschuldet - das darf man nicht
vergessen -, dass in den letzten Jahren immer wieder
Beschlüsse gefasst wurden, den Flughafen zu erweitern.
Das hatte auch Auswirkungen auf die Kosten. Während
der Planungs- und Bauphase ist der Flughafen faktisch
um 50 Prozent erweitert worden.
({2})
Das hat das Controlling möglicherweise sehr kräftig beeinträchtigt und das Ganze teilweise unüberschaubar gemacht. Ich will da niemanden entschuldigen.
Stichwort „Entschuldigung“: Ich finde es gut, dass
sich Wowereit und Platzeck vor ihren jeweiligen Landtagen gegenüber der Öffentlichkeit entschuldigt haben.
({3})
Dieses Thema ist, denke ich, auch richtig von ihnen beurteilt worden.
Wichtig ist aus meiner Sicht, dass sich die Geschäftsführung und auch der Aufsichtsrat - darüber haben wir
uns im Ausschuss unterhalten - beim Thema Transparenz bewegen: Controlling-Berichte müssen für die Parlamentarier transparent sein und in den parlamentarischen Gesprächen genutzt werden können.
({4})
Uns hilft es nichts, dass die entsprechenden Berichte in
der Geheimschutzstelle liegen und dort möglicherweise
von keinem eingesehen werden können. Controlling-Berichte sind vielmehr dazu da, nachvollziehbar zu machen, was misslich und was gut gelaufen ist.
({5})
Zum Thema „Schaden und Regress“. Ich bin einer
derjenigen gewesen, die im Ausschuss danach sehr prononciert gefragt haben. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Schaden und Regress nicht nur einen Geschäftsführer und vielleicht zwei oder drei Firmen
betreffen. Dieses Thema hat einen besonderen Tiefgang.
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland Gesetze,
um dem gerecht zu werden. Es gab auch in der VerganUwe Beckmeyer
genheit schon richterliche Entscheidungen bezüglich
dieser Fragen. Dieses Thema wird eine Eigendynamik
bekommen; da bin ich mir sicher. Es wird nicht nur die
Politik, sondern auch Gerichte beschäftigen - und das ist
auch gut so.
Zum Thema Mehr- und Minderkosten. Natürlich wird
das gesamte Thema, das wir hier behandeln, uns, die Gesellschaften und die sie tragenden Gesellschafter belasten. Natürlich bedarf der Flughafenfertigstellungsprozess weiteren Kapitals. Zurzeit werden, glaube ich,
insgesamt 3,4 Milliarden Euro aufgewendet, teilweise
durch Kredite, teilweise durch Einlagen der Gesellschafter, aber auch durch Eigenmittel der Gesellschaft. Nun
stellt sich die Frage, ob weiteres Geld benötigt wird. Es
ist davon die Rede, dass monatlich aufgrund von Mindereinnahmen bei Landegebühren usw. Kosten in Höhe
von 15 Millionen Euro entstehen. Ich als Sozialdemokrat
sage an dieser Stelle aber auch: Vergessen wir dabei bitte
nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
({6})
die in dieser Angelegenheit die A-Karte haben; denn sie
bekommen entweder keinen oder nur verspätet einen
Job. Wenn wir uns über Entschädigungen, über Mehrund Minderkosten unterhalten, dann müssen wir uns
auch bewusst machen, dass es dabei nicht nur um die
Companys geht, sondern auch um die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter, die hier ganz schön gebeutelt sind und
blöd dastehen.
({7})
Zum letzten Punkt. Was muss die Politik, Bund und
Land, eigentlich leisten? Sie muss dafür sorgen, dass
dieser bisherige Pannenflughafen endlich zu einer Erfolgsstory wird. Das ist die einzige konsequente Antwort
auf die Fragen, die sich uns jetzt stellen. Der Flughafen
Berlin Brandenburg „Willy Brandt“
({8})
muss eine Erfolgsstory werden. Das ist unsere Aufgabe,
an der wir jetzt alle zusammen arbeiten müssen. Der
Aussage von Bundesminister Ramsauer: „Berliner Flughafen ist keine ,Pommes-Bude‘“, stimme ich ausdrücklich zu.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!
Beim Flughafen BER in Schönefeld handelt es sich ja
um eines der größten Infrastrukturvorhaben der Region.
Er ist für die deutsche Hauptstadt Berlin von zentraler
Bedeutung. Ich sage an dieser Stelle klar: Ich glaube, es
gibt kaum ein größeres Infrastrukturprojekt in Deutschland oder sonst wo, bei dem es nicht zu Verzögerungen
kommt. Das ist nicht der springende Punkt.
Wir, die FDP, hatten uns aus diesem Grund übrigens
immer für die Offenhaltung des Flughafens Tempelhof
bis zur Inbetriebnahme dieses Flughafens eingesetzt.
({0})
Es ging darum, die Kapazitäten des Flughafens Tempelhof nicht vorfristig aufzugeben. Aber der Regierende
Bürgermeister hat deutlich mehr Energie in die Schließung dieses Flughafens als in die Eröffnung des neuen
Flughafens gelegt. Das ist der springende Punkt.
({1})
Hinzu kommt das Problem des Zeitpunkts, zu dem die
Verzögerung mitgeteilt wurde. Gleichzeitig Einladungskarten zu verschicken und drei Tage später die Absage
mitzuteilen, das ist schlichtweg unseriös und ein Ausweis des Versagens von Management und von Klaus
Wowereit in Berlin.
({2})
Jetzt wissen Sie, jetzt weiß die ganze Republik, was
Wowereit in Berlin unter „Chefsache“ versteht. Hätte er
es lieber gelassen! Hätte er es gelassen, wären, glaube
ich, die Chancen größer gewesen und wäre es zur rechtzeitigen Eröffnung dieses Flughafens gekommen.
({3})
Dieser Regierende Bürgermeister hat vollkommen
versagt. Er ist ein glänzender Repräsentant der deutschen Hauptstadt bei der Berlinale und anderen Veranstaltungen. Aber Voraussetzung ist, dass der rote Teppich
schon liegt. Alles, was vor dem roten Teppich kommt,
kann er nicht. Das ist eine Nummer zu groß gewesen.
({4})
Daraus leiten sich auch meine Forderungen ab:
Erstens muss dieser Regierende Bürgermeister, der
das zur Chefsache gemacht hat, der Vorsitzender des
Aufsichtsrats ist, unverzüglich vom Aufsichtsratsvorsitz
der Flughafengesellschaft zurücktreten.
({5})
Zweitens. Ich begrüße es außerordentlich, dass Minister
Ramsauer die Sonderkommission eingesetzt hat. Aber es
Dr. Martin Lindner ({6})
muss dann konsequenterweise darum gehen - das sage
ich auch als Landesvorsitzender meiner Partei in
Berlin -, dass bis zur Inbetriebnahme von BBI der Aufsichtsratsvorsitz von einem Vertreter des Bundes übernommen wird.
({7})
Wowereit kann es nicht, und die Brandenburger können
es auch nicht.
({8})
Die Frau Künast möchte eine Frage stellen. Ich würde
sie auch beantworten.
Herr Kollege, gestatten Sie die Zwischenfrage?
Selbstverständlich gern.
Herr Kollege, wo wir schon über den Aufsichtsrat reden: Was würden Sie denn davon halten, wenn einmal
einer oder eine in den Aufsichtsrat ginge, der oder die
Ahnung hat,
({0})
mal einen Flughafen betrieben oder gebaut hat und deshalb auf Augenhöhe, fachlich und beruflich kompetent
Fragen stellen kann?
({1})
Das würde ich noch für viel wichtiger halten, als noch
jemanden aus dem Ministerium von Herrn Ramsauer,
der keine Ahnung hat, in den Aufsichtsrat zu schicken.
({2})
Frau Kollegin Künast, ich glaube schon, dass es in
diesem Aufsichtsgremium nicht darauf ankommt, dass
die Mitglieder selbst Baufachmann oder Flughafenbetreiber sind.
({0})
Im Aufsichtsrat, egal welcher Gesellschaft, kommt es in
erster Linie darauf an, dass man sich für seine Controlling-Rechte starkmacht, insbesondere dann, wenn man
den Aufsichtsratsvorsitz hat; ich glaube, da stimmen Sie
mir auch zu, Frau Kollegin Künast.
({1})
Wir beide hätten in einer solchen Position deutlich mehr
Engagement gezeigt, zumindest dann, wenn wir das als
Chefsache deklariert hätten, als dieser Partymeister von
Berlin. Ich glaube, da kommen wir zusammen.
({2})
Ich schließe die dritte Forderung an. Der neue Aufsichtsratsvorsitzende hat eine Sonderprüfung vorzunehmen bzw. in Auftrag zu geben. Ziel muss es sein, den finanziellen Schaden zeitnah zu erfassen und alle
Verantwortlichen im Management, aber auch in den
Aufsichtsgremien, in den Kontrollgremien, unter den beauftragten Dritten und Behörden festzustellen.
Viertens sind natürlich auch Schadenersatzansprüche
zu prüfen. Es kann nicht sein, dass der Steuerzahler, egal
wo, ob in Berlin, in Brandenburg oder im gesamten Bundesgebiet, am Ende für diese Pfuscherei geradestehen
muss, ohne dass die Verantwortlichen in Regress genommen werden.
Ich sage Ihnen weiter: Der Bundestag muss hierzu bis
spätestens Ende September einen Bericht vorgelegt bekommen. Natürlich muss der Bundestag auch viel stärker involviert werden; denn im Abgeordnetenhaus von
Berlin gibt es im Moment keine Opposition, die am Eröffnen von Flughäfen wirklich interessiert ist.
({3})
- Nein, gibt es nicht, Frau Künast.
({4})
Mit der einen Oppositionsfraktion kann man vielleicht
einen Froschtunnel unter der Runway betreiben, die
zweite Oppositionsfraktion mutmaßt hinter jeder Halle
ein böses kapitalistisches Interesse.
({5})
- Mit Ihnen gibt es vielleicht ein Nachtflugverbot von
13 Uhr nachmittags bis 11 Uhr vormittags, um Werktätige und Hartz-IV-Empfänger zu schützen, aber Flughäfen kann man mit Ihnen jedenfalls nicht betreiben.
({6})
Die einzige Ausnahme gibt es vielleicht, wenn Sie Bundesparteitag haben und die Massen von saarländischen
Delegierten nach Berlin eingeflogen werden müssen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Liebich?
Aber selbstverständlich.
({0})
Meine Kollegen sind traurig, dass ich Ihre Redezeit
verlängere, aber die Frage muss sein. Sie erinnern sich
vielleicht noch, dass Sie für den Wahlkreis Pankow für
den Deutschen Bundestag, wenn auch erfolglos, kandidiert haben.
({0})
So ganz erfolglos kann es nicht gewesen sein.
Was sagen Sie den Menschen in Pankow, die die
halbe Nacht nicht mehr schlafen können, mal abgesehen
von solchen Sprüchen wie „Nachtflugzeiten ab 13 Uhr“?
Was erzählen Sie den Bürgerinnen und Bürgern in Pankow und Reinickendorf nun? Diese müssen ja die Suppe
auslöffeln.
Ich sage Ihnen das, Herr Liebich, was ich überall
sage. Wenn man Großprojekte, Infrastrukturprojekte, die
das Land braucht, betreibt, ist das immer mit Ärger und
Belästigungen für andere Menschen verbunden. Eine
populistische Partei wie Ihre drückt sich um diese Verantwortung. Sie verlangt zwar Infrastruktur, damit Menschen mit einem schmalen Geldbeutel überall hinkommen,
in den Urlaub fliegen können, sich bewegen können,
mobil sein können.
({0})
Wenn es aber darum geht, Verantwortung zu übernehmen, drückt sich eine linkspopulistische Partei wie Ihre
weg. Dann kann man mit ihr nicht rechnen. Deswegen
sitzen Sie zu Recht in der Opposition im Deutschen
Bundestag, in Berlin, und zukünftig sitzen Sie überhaupt
nicht mehr in den Parlamenten. Das kann ich Ihnen an
dieser Stelle auch sagen.
({1})
Ich sage auch ganz klar: Wenn der Regierende Bürgermeister weiter meint, er brauche Einladungen des Verkehrsausschusses und anderer Ausschüsse des Deutschen Bundestages nur anzunehmen, wenn er gar nichts
anderes zu tun hat, und nur dann sein Gläschen oder
seine Tasse zwischendurch einmal abstellt,
({2})
dann muss sich dieses Haus im eigenen Interesse überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, eine andere Form von
Ausschuss einzurichten, hinter dessen Einladungen ein
Ausrufezeichen steht.
({3})
Ich glaube, die Zeit des Pfuschens und Vertuschens ist
vorbei. Vor allen Dingen für diese Stadt, für diese Regierung in Berlin, für diesen Senat ist das Rumgetrödel und
Rumgepfusche vorbei.
({4})
Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Herr Wowereit
sollte sich einmal daran erinnern, wie er 2001 ins Amt
kam. Zu dieser Zeit ging es darum, dass in einer großen
Gesellschaft Berlins, die dem Staat gehörte, zulasten der
Steuerzahler gepfuscht wurde. Als er noch Fraktionsvorsitzender war, hat er auf eine andere Partei mit dem Finger gedeutet
({5})
und hat an ihre Verantwortung in den Aufsichtsgremien
erinnert. Das war der Grund, warum es Neuwahlen gab
und warum der alte Senat zusammengebrochen ist. Ich
prophezeie diesem Regierenden Bürgermeister: Wenn
sich dies so weiter entwickelt, wird er ein ähnliches
Schicksal erleiden wie sein Vorgänger vor zehn Jahren.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Herbert Behrens für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielleicht ist es doch notwendig, dass ich zu Beginn
meines Beitrags einige Dinge klarstelle, über die wir gerade reden. Es geht um Menschen, die heute beispielsweise in Schönefeld 210-mal am Tag davon betroffen
sind, dass Düsenjets über ihre Köpfe hinwegbrausen. Sie
wissen, dass es nicht am 3. Juni, sondern wohl erst in einem Jahr so weit sein wird, dass sie 780 Flugbewegungen ertragen müssen. Das ist der Kern der Debatte. Das
ist der Grund, warum wir unsere Große Anfrage gestellt
und nachgefragt haben, welche Alternativen es für diese
unzumutbare Belastung der Menschen in Berlin und
auch anderswo gibt.
({0})
Wenn angesichts des Desasters der Flughafeneröffnung darüber nachgedacht wird, wo die Verantwortlichkeiten liegen, wer wo zu welchem Zeitpunkt Informationen unterdrückt, nicht wahrgenommen und nicht zur
Kenntnis genommen hat, dann muss auch diskutiert werden, ob man nicht doch über die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses nachdenken sollte, um diese
Fragen grundlegend bewerten zu können.
({1})
Ich will noch einmal auf den Kern der Debatte zurückkommen. Das Desaster, das uns in den letzten Tagen
beschäftigt hat, wird sehr stark betont. Ich meine, ein
Stück zu Unrecht; denn die Probleme der Menschen in
der Nähe des Flughafen sind noch in einem Jahr zu spüren und insbesondere auch zu hören.
Der Flugverkehr soll weiter wachsen. Das wird von
den anderen Fraktionen offenbar nicht infrage gestellt.
Hier in Berlin, in der Bundesrepublik Deutschland und
in Europa soll der Flugverkehr wachsen. Bis 2025 soll
sich der Flugverkehr insgesamt verdoppeln. Das ist eine
Vision, die uns nicht wirklich zufriedenstellen sollte, die
uns eher Angst machen kann. Für die Gesundheit der
Menschen an den Flughäfen, aber auch für die Umwelt
ist das eine enorme Belastung. Die Linke will aber Entlastung. Die Menschen an Flughäfen hier in Berlin, in
Brandenburg und anderswo haben ein Recht darauf, dass
an ihrem Wohnort ein lebenswertes Leben möglich ist,
dass ihre Gesundheit im Vordergrund aller Entscheidungen steht.
({2})
Unsere Ziele einer vernünftigen Verkehrspolitik lauten Vermeiden - dieser Begriff wurde hier überhaupt
noch nicht angesprochen -, Verlagern und Verbessern.
Wir haben herausgefunden - die Bundesregierung hat
entsprechend geantwortet -: Rund 67 000 Inlandsflüge
starteten und landeten 2010 in Tegel; rund 50 000 dieser
Flüge steuerten Ziele an bzw. waren an Orten gestartet,
die mit der Bahn in maximal sechs Stunden erreichbar
sind. Fast 75 Prozent aller Flüge sind also offenbar vermeidbar. Diese Zahlen beweisen auch - das wurde angesprochen -, dass es gar nicht nötig ist, jetzt darüber
nachzudenken, in Tegel noch einmal die Randzeiten anzugreifen und 120 Flüge weiter in die Nacht hinein zu
verschieben. Das ist nicht nötig.
({3})
Aber auch der verbleibende Flugverkehr kann viel erträglicher gestaltet werden, wenn wirklich die richtigen
Prioritäten gesetzt werden. Dazu gehören Nachtflugverbote, verringerte Lärmpegel und geeignete Flugrouten;
das wurde hier schon ausführlich gewürdigt.
Dass es möglich ist, die Nachtflugzeiten - nicht in der
Weise, wie es gerade von Herrn Lindner ein bisschen salopp dargestellt worden ist - auszuweiten, zeigt ein Beispiel - Sie haben es vielleicht in unserer Großen Anfrage
nachgelesen -: Die Anwohnerinnen und Anwohner auf
der deutschen Seite der Anflugschneise des Züricher
Flughafens haben werktags zwischen 21 und 6 Uhr, am
Sonntag sogar zwischen 20 und 9 Uhr Ruhe am Himmel.
Es ist möglich. Das haben deutsche Behörden gegen den
Protest der Züricher Flughafengesellschaft durchgesetzt. Wo es einen politischen Willen gibt, gibt es offensichtlich auch einen entsprechenden Weg, und den wollen wir gehen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon vor dem
Flughafeneröffnungsdesaster hat es das Desaster mit den
Flugrouten gegeben: Mit einem Mal waren 620 000
Menschen mehr betroffen, als ursprünglich geplant war.
Das darf uns in Zukunft nicht wieder passieren. Wir wollen konkret etwas verändern, um das künftig zu vermeiden. Die Bürgerinnen und Bürger sind von Anfang an zu
beteiligen und müssen das Planungsverfahren bis zum
Ende begleiten können. Wenn sich irgendwann herausstellt, dass andere Flugrouten nötig sind, dann muss das
Beteiligungsverfahren wieder aufleben. Darum ist der
Vorschlag im Antrag der Grünen, das in das Planfeststellungsverfahren aufzunehmen, nicht unbedingt tragfähig.
Da muss es ein anderes Verfahren geben.
Wir müssen hier im Bundestag unserer Verantwortung für die Gesundheit und Lebensqualität der Menschen gerecht werden. Darum haben wir diesen Antrag
gestellt; davon ist unsere Große Anfrage geprägt. Wir
finden es wichtig, dass dieses Signal auch von anderen
mitgetragen wird.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Daniela Ludwig für die CDU/CSUFraktion.
({0})
- Entschuldigung, ich habe eine Übersprunghandlung
vorgenommen. - Das Wort hat Stephan Kühn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Je mehr
Details man in der Angelegenheit BER erfährt, umso
deutlicher wird: Es galt das Prinzip Hoffnung. Die Geschäftsführung hat die Brandschutzprobleme am neuen
Hauptstadtflughafen massiv unterschätzt. Wir wissen nun,
dass bereits im Dezember das Problem bekannt war, dass
der vollautomatische Betrieb der Entrauchungsanlage
nicht bis zum Eröffnungstermin möglich sein wird. Erst
im Februar, also Monate später, hat man dann eine sogenannte Taskforce Brandschutz eingerichtet, um mit der
zuständigen Baugenehmigungsbehörde zu klären, ob
eine teilautomatische Lösung, die sogenannte MenschMaschine-Lösung, überhaupt genehmigungsfähig wäre.
Im April hat man dann den Aufsichtsrat über diesen
Sachverhalt informiert.
Stichwort Aufsichtsrat. Ich denke, es ist notwendig,
sich genauer anzugucken, wer da was wusste, wer da
was überprüft und wo nachgefragt hat. Denn in der
Taskforce Brandschutz, die ab Februar fünfmal getagt
hat, waren natürlich auch zuständige Landesbehörden
involviert. Da frage ich mich, ob im Zeitraum von Februar bis April nicht auch einmal Berichte nach oben gegeben wurden, an die Institutionen und die Personen, die
im Aufsichtsrat vertreten sind.
({0})
Wir reden heute leider in Abwesenheit von Staatssekretär Gatzer und Staatssekretär Bomba. Es ist dann
auch die Frage zu stellen, ob die beiden Herren denn die
Unterlagen, die dem Aufsichtsrat zur Verfügung gestellt
wurden, ganz allein im stillen Kämmerlein lesen mussten oder ob sie nicht ein Ministerium hinter sich haben,
das fachlich beurteilen kann, ob diese Information und
die Einschätzung der Sachverhalte, die dort enthalten
sind, tatsächlich hieb- und stichfest sind. Gerade die
Frage der Brandschutzanlage hätte einige Nachfragen
hervorrufen müssen, wenn man denn hört, wie seitens
der Flughafengeschäftsführung damit umgegangen
wurde.
Wir haben am Mittwoch erlebt, wie Professor
Schwarz diese Frage ein Stück weit beiseitegewischt hat,
indem er gesagt hat, es sei nicht unüblich, dass teilautomatische Lösungen genutzt würden, zum Beispiel bei
der O2 World hier in Berlin. Das macht deutlich, dass
man die Dimensionen überhaupt nicht erkannt hat. Wie
kann man eine Veranstaltungshalle mit ein paar Tausend
Besuchern, die nur stundenweise in Betrieb ist, mit einem Airport, der mehrere Hunderttausend Besucher am
Tag hat, und mit einem Gebäudekomplex, der angeblich
zu den größten in Europa zählen soll, vergleichen? Diese
Dimensionen sind offenbar völlig unterschätzt worden.
Es wäre wichtig gewesen, im Aufsichtsrat zusammen
mit den Fachleuten aus dem BMVBS eine Bewertung
vorzunehmen, ob diese Brandschutzanlage überhaupt
genehmigungsfähig hätte sein können, wenn sie nur teilautomatisch betrieben werden kann.
({1})
Dass die Reißleine viel zu spät gezogen wurde, ist
jetzt bekannt. Es gab keine Rückfallebene. Das ist nicht
nur ein riesiger Imageschaden, sondern auch ein finanzielles Desaster. Für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie kleine und mittelständische Unternehmen und nicht zuletzt für die Bürgerinnen und Bürger
führt das Ganze zu erheblichen Problemen. Das betrifft
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen in Tegel zum Juni dieses Jahres gekündigt wurde. Das betrifft
diejenigen, die im Juni in Schönefeld ihre Geschäfte eröffnen wollten. Das betrifft die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die jetzt teilweise 17 Monate lang
warten müssen - wir reden bereits von der zweiten Verzögerung -, bis sie ihre Einrichtungen im Non-AviationBereich vielleicht im März 2013 eröffnen können. Diesen Unternehmen muss jetzt unbürokratisch geholfen
werden. Wir schlagen einen Entschädigungsfonds vor.
Es müssen Überbrückungskredite bereitgestellt werden;
Schadenersatzansprüche müssen zügig bearbeitet werden.
Betroffen sind aber auch die Menschen in den Stadtteilen Pankow, Reinickendorf, Spandau sowie die Menschen im Berliner Umland, die jetzt länger dem Fluglärm ausgesetzt werden. An dieser Stelle frage ich nach
der Rolle des Senats. Der Senat hat angekündigt, Anträge der Airlines zu genehmigen, in Tegel nach 23 Uhr
starten und landen zu dürfen, obwohl in Schönefeld ausreichend Kapazitäten vorhanden wären, um diejenigen
Flüge dorthin zu verlegen, die jetzt am Hauptstadtflughafen nicht möglich sind. Es ist aus unserer Sicht nicht
hinnehmbar, dass das Desaster beim BER dazu führt,
dass die Menschen im Berliner Norden jetzt stärker
durch Fluglärm belastet werden.
({2})
Deshalb: Keine Ausweitung der Betriebszeiten, sondern
Nutzung der Kapazitäten in Schönefeld.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Mein letzter Punkt ist das Thema Schallschutzprogramm beim BER. Ich kann nur an die Verantwortlichen
appellieren, jetzt dafür zu sorgen, dass das Schallschutzprogramm für alle Anspruchsberechtigten bis
Ende März nächsten Jahres endlich umgesetzt wird. Bisher sind erst 5 Prozent der betroffenen Haushalte mit
entsprechenden Schallschutzfenstern ausgestattet worden. Ziehen Sie den Klarstellungsantrag zur Frage, ob
sechsmal am Tag die 55 dB überschritten werden dürfen,
zurück.
({0})
Das muss endlich auch im Aufsichtsrat zum Thema werden. Dann müssen die Betroffenen den Schallschutz
zeitnah erhalten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun Daniela Ludwig für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Das vermeintliche Paradeprojekt von Klaus Wowereit und Matthias Platzeck
ist von Meisterhand geplant, meisterlich ausgeführt und
meisterlich überwacht. - So viel zum Wunsch von uns
allen hier.
({0})
Die Realität - in der sind wir krachend aufgeschlagen sieht bedauerlicherweise anders aus. Wir erleben sowohl
ein Planungs- wie auch ein Baudesaster.
({1})
Dieses sehr teure und größte Infrastrukturprojekt Ostdeutschlands sollte den Ruf Berlins wiederherstellen
oder vielmehr überhaupt erst einmal einen Ruf Berlins
begründen. Man wollte zeigen, dass man hier in der
Lage ist, Infrastruktur ordentlich zu planen, zu bauen
und pünktlich fertigzustellen.
Das Ziel war, einen einer Hauptstadt würdigen Flughafen zu bauen. Ich glaube, es war absolut angemessen,
dieses Projekt anzugehen. Nun müssen wir aber leider
feststellen, dass alle Beteiligten auf höchster Ebene versagt haben,
({2})
insbesondere die nunmehr Gott sei Dank entlassene Planungsgruppe, aber auch die gesamte Geschäftsführung
des Flughafens.
({3})
Man wollte einen modernen Flughafen, und dafür hat
man Tempelhof und Tegel geopfert, wenn Sie mir diesen
Ausdruck gestatten.
({4})
Man wollte einen Flughafen bauen mit bester und auch
funktionierender Technik - darauf komme ich gleich -,
nach den neuesten und besten Sicherheitsstandards
- auch dazu ist einiges zu sagen -, also einen Flughafen,
den man gerne mit dem Etikett „Made in Germany“ versehen hätte, weil das für gute Qualität steht. Leider muss
ich immer den Konjunktiv verwenden. Nun kann man
sagen: Gut Ding will Weile haben, das kann auch einmal
etwas länger dauern. Man kann aber auch sagen: Ist der
Ruf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert.
({5})
In einer Sitzung des Verkehrsausschusses des Bundestages am Mittwochmorgen konnten uns Herr Platzeck und
Herr Wowereit keine zufriedenstellenden Antworten geben; denn sie waren schlicht und einfach nicht anwesend. Herr Wowereit hat uns mitteilen lassen, er habe
keine Zeit. Wir konnten der Presse entnehmen, dass er
lieber einen Staatsgast aus Costa Rica empfangen hat.
Ich glaube, der eine oder andere hätte sich - um es ganz
vorsichtig zu formulieren - eine andere Prioritätensetzung des Regierenden Bürgermeisters vorstellen können.
({6})
Jeden Tag erfahren wir aus der Presse neue Details
über den Bauverlauf. Es sei dahingestellt, ob die Schuldzuweisungen berechtigt sind oder nicht. Wir müssen uns
aber jetzt dringend mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Was ist mit den Kosten passiert? Warum laufen sie
derart aus dem Ruder, und zwar schon vor der Verschiebung der Eröffnung? Was ist mit den zusätzlichen Kosten, die durch die Verschiebung entstehen, Stichwort
Lärmschutz und Schadenersatzforderungen? Wie wirkt
sich das alles auf unseren Haushalt aus bzw. welche
Haushalte müssen dafür geradestehen? Welche Personen
müssen dafür geradestehen? Diese Fragen werden wir
sehr intensiv zu prüfen haben.
Der Bundesminister hat ein Machtwort gesprochen
und die Soko „BER“ eingerichtet. Das war das einzig
Richtige, was er an dieser Stelle tun konnte. Diese Soko
wird sich mit den Auswirkungen der Verschiebung der
Inbetriebnahme intensiv auseinandersetzen. Tegel und
Schönefeld müssen jetzt weiter betrieben werden, mit allen Belastungen. Bezüglich der Sicherheit stellt sich die
Frage: Was passiert, wenn die Flughäfen an die Grenzen
ihrer Kapazität kommen? Das muss man einkalkulieren.
Ich wünsche den Beteiligten wirklich ein gutes Händchen für die jetzt anstehenden Entscheidungen; denn ich
glaube, dass sie das gut brauchen können.
Mir geht es wie Ihnen auch um die Unternehmen, die
jetzt unter den Tisch zu fallen drohen. Wir werden politisch Sorge dafür zu tragen haben, dass das nicht passiert. Es geht nicht nur um Unternehmen, die ihr Geschäft gerne schon jetzt auf dem Flughafengelände
eröffnet hätten, sondern es geht auch um ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich am Ende der Kette
befinden und sehr stark unter den massiven Fehlern insbesondere der Flughafengesellschaft zu leiden haben.
Um die tut es mir wirklich leid. Wir haben eine große
politische Verpflichtung, die durch die Verschiebung
entstandenen Probleme zu lösen.
({7})
Bitter ist auch,
({8})
dass sich alle über die bei diesem Großprojekt entstandenen Kosten streiten. Sind wir schon bei den 3 Milliarden
Euro angelangt? Werden wir sie deutlich überschreiten?
Das ist alles ziemlich katastrophal. Der Bürger draußen
im Land versteht die Welt nicht mehr, wenn er beobachtet, was hier abläuft. Dieses Gefühl teilen wir mit ihm.
Es ist ebenfalls bitter, dass bei einem so großen Projekt
die Planung und die Überwachung nicht unabhängig
voneinander durchgeführt wurden. Sie kennen das Prinzip mit der einen Krähe und der anderen. Es ist schon irgendwie logisch, dass man immer wieder versucht hat,
sich gegenseitig den Flughafen gesundzubeten und zu
hoffen, dass man doch noch den 3. Juni einhalten
könnte.
Nun kommt die ganze Geschichte mit der Vollautomatik beim Brandschutz hinzu. Schon im Dezember
wusste die Geschäftsführung, dass das nicht funktionieren wird. Trotz der Erfahrungen mit dem Brand am Düsseldorfer Flughafen kommt man jetzt auf die krude Idee,
Studenten an die Türen zu stellen, die die Türen auf- und
zumachen können, wenn es brennt.
({9})
Ich frage: Was ist denn, wenn es brennt? Holen die dann
die Freiwilligen Feuerwehren aus dem Umland, oder
was?
Es ist ausgesprochen schwierig, sich das Ganze zu erklären. Deswegen sage ich: Herr Schwarz muss noch
sehr viel mehr Antworten liefern als bisher,
({10})
um überhaupt noch den Anschein von Glaubwürdigkeit
zu behalten. Das ist bitter genug.
({11})
Ich möchte ganz kurz - weil schon sehr viel dazu gesagt wurde - zu dem extrem wichtigen Thema Flugrouten Stellung nehmen. Ich kann mich dem Kollegen
Luczak nur anschließen, der das alles aus unmittelbarer
Nähe mitverfolgt hat. Ich bin ausgesprochen froh, dass
man hier im wahrsten Sinne des Wortes noch die richtige
Kurve gekriegt hat. Es kann nicht sein, dass man Bürger
über Monate einbindet, ihnen Dinge zusagt, dann öffentlich etwas völlig anderes erklärt, und es erst quasi eines
Machtworts von ganz oben bedurfte, um auch diese
Fehlentwicklung wieder einzufangen.
Ich sage ehrlich, dass ich nicht ganz einverstanden
mit dem im Luftverkehrsgesetz angelegten Weg bin,
ganz allgemein etwas anderes zu regeln. Der Ansatzpunkt muss, glaube ich, zunächst einmal sein, an die
Fluglärmkommission heranzugehen. Es war sicherlich
gut gemeint und auch gut überlegt, als wir sie gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Wenn es aber tatsächlich so ist, dass bei den Bürgern nicht unbedingt das ankommt, was wir wollten - nämlich dass sie ordentlich
vertreten werden; vielleicht hängt das, so ist das nun
mal, auch manchmal mit den Personen zusammen, die
darin sitzen -, müssen wir uns auch in Bezug auf die
Fluglärmkommission noch einmal wesentlich intensiver
Gedanken darüber machen, wie wir hier Bürgerbeteiligung verlässlich institutionalisieren. Wir sollten Regelungen nicht von Einzelfällen abhängig machen, sondern
festschreiben, wie die Bürgerbeteiligung künftig auszusehen hat. Ich bin ganz beim Kollegen Bartol, der gesagt
hat, dass Flugrouten vermutlich das Komplexeste sind,
was wir zu regeln haben. Ich traue mir da keine endgültige Beurteilung zu. Wir brauchen dafür viel Fachverstand.
Fachverstand schließt aber bekanntlich Bürgerbeteiligung nicht aus. Im Rahmen eines Planungsdialogs in
meinem Wahlkreis habe ich die Erfahrung sammeln dürfen, dass die Bürger manchmal recht gute Ideen haben,
die weit über das hinausgehen, was die eine oder andere
Autobahndirektion oftmals vorschlägt. Man muss zugeben, dass es sich lohnt, über Ideen der Bürger nachzudenken. Das wäre für mich der Weg, den wir gehen müssen. Da müssen wir uns politisch bewegen; aber auch die
Verwaltungen und die Behörden vor Ort müssen sich bewegen. Nur so werden wir mehr Akzeptanz für Großprojekte - so sie denn irgendwann ihren Betrieb aufnehmen
sollten - wie diesen Flughafen bekommen.
Ich stimme mit Ihnen überein: Das wird für uns die
Zukunftsaufgabe sein, was große Infrastrukturprojekte
und überhaupt die gesamte Infrastrukturpolitik betrifft.
Wir können, glaube ich, vom Berliner Beispiel ganz viel
lernen. Das wollen wir auch gerne tun. Wir sind für alle
Vorschläge offen, die dann endlich auf den Tisch gelegt
werden. Ich bin wirklich sehr dafür, Bürger angemessen
und auch institutionalisiert verlässlich einzubinden.
Ein Letztes: Wir alle hoffen, dass dieser Flughafen
tatsächlich im März eröffnet wird. Die Region hätte es
absolut verdient. Da Herr Körtgen mittlerweile mit seiner Doktorarbeit fertig geworden ist, kann er sich nun
damit beschäftigen, wie es vor 20 Jahren in München gelaufen ist. Auch da gab es immer mal wieder Probleme.
Aber wir haben es hinbekommen. Es gab einen generalstabsmäßig geplanten Umzug in einer Nacht. Ganz Bayern saß am Fernseher und hat das beobachtet. Jetzt haben
wir den Flughafen München Franz Josef Strauß, und er
läuft ganz hervorragend.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe jetzt über eine Stunde dieser Debatte
gelauscht und dabei festgestellt, dass viele Verdächtigungen ausgesprochen worden sind. Viele haben gesagt,
wer alles Schuld hatte und wer etwas hätte machen sollen. Ich fand aber - um der Reihe nach vorzugehen ganz besonders erstaunlich, dass sich die Linke hier
ohne Ende über den Aufsichtsrat, der angeblich versagt
habe, ereifert hat. In diesem Aufsichtsrat sitzen zwei
Minister der Linken. Herr Gysi, Sie hätten sich die Zusammensetzung des Aufsichtsrats vielleicht vorher einmal angucken sollen, dann wäre das, was Sie hier gesagt
haben, nicht ganz so peinlich gewesen.
({0})
Zum anderen kann man natürlich - das hat meine
Vorrednerin, die Kollegin Ludwig, in ihrer Rede gerade
getan - diesen Aufsichtsrat angreifen. Dass sie damit
gleichzeitig ihren eigenen Minister angegriffen hat, fand
ich schon ganz erstaunlich.
({1})
Wenn jemand aus der CSU einen Kollegen aus der eigenen Partei angreift, dann ist das zumindest bemerkenswert, zeugt aber auch davon, dass vielleicht in den Reihen der Koalition nicht ganz so viel Klarheit herrscht,
wie man sich das vorstellt.
Wenn wir uns das hier heute angehört haben werden,
werden wir am Ende nicht ernsthaft viel schlauer sein.
Wir alle wissen, dass es Probleme gegeben hat. Der Regierende Bürgermeister, Klaus Wowereit, und auch Ministerpräsident Platzeck haben zu dem Thema sehr deutlich etwas gesagt. Sie haben sich entschuldigt.
({2})
- Natürlich haben die auch etwas gemacht. Wenn Sie
sich ansehen, wie sich dieser Flughafen in den letzten
Jahren verändert hat, werden Sie das zugeben müssen.
Leider haben wir heute überhaupt nichts von dem zuständigen Bundesminister Ramsauer gehört.
({3})
Er saß hier einsam auf seinem Stuhl. Eckart von Klaeden
war inzwischen so nett, dazuzukommen.
({4})
Abgesehen von der einen oder anderen verständnislosen
Handbewegung, während seine Kollegin von der CSU
gesprochen hat, hat man von ihm nichts mitbekommen.
({5})
Genauso ist es in den letzten Jahren bei diesem Flughafen gewesen.
Wir haben auch mitbekommen, wie diejenigen, die
die letzte Berlin-Wahl verloren haben, reagieren.
({6})
Man kann den Frust darüber ruhig hier abladen. Das
kann man alles tun.
Ich glaube, dass man diesen Vorgang in den nächsten
Monaten aufklären wird. Dafür hätte es dieser Debatte
nicht bedurft. Natürlich ist es so, dass solche Vorgänge
sachlich aufgeklärt gehören, und dann muss man etwas
daraus lernen. Ich glaube allerdings auch, dass man am
Ende hier einen Flughafen haben wird, auf den die Region stolz sein kann. Sie hat einen solchen Flughafen nötig. Die Entscheidung für diesen Flughafen war richtig,
wichtig und gut. Es ist auch gut für die Region, dass der
Flughafen vergrößert worden ist.
Ich glaube, dass man am Ende dieser Debatte, sofern
man sie überlebt hat, feststellen kann, dass hier zwar viel
geredet, aber wenig gesagt worden ist.
({7})
Man wird den Vorgang untersuchen. So ist das.
All die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt langsam
aus ihrem Tiefschlaf erwachen, können ihren Senf gerne
dazugeben. Das wird aber nicht zur Aufklärung beitragen. Die Aufklärung wird durch die zuständigen Gremien erfolgen. Ich verstehe nicht, warum die Linkspartei
dieses Thema hier heute angemeldet hat. Sie war selber
dabei. Ihr eigenes Versagen hat sie hervorragend dokumentiert. Alle zuständigen Wahlkreisabgeordneten haben sich hier äußern können. Das war wie immer ganz
großartig.
({8})
Das hat dem Sachverhalt aber nicht gedient und hat uns
alle nicht weitergebracht.
Die zuständigen Parlamente sind informiert worden;
sie machen eine gute Arbeit. Wenn man sich vor Augen
führt, wie die zuständige Kollegin von der CSU hier ihren eigenen Minister runtermacht,
({9})
dann fragt man sich, ob das in der Landesgruppe ein
Nachspiel haben wird. Außerdem kann man sich überlegen, ob die FDP, die in Berlin 1,8 Prozent erreicht hat,
glücklicher wird.
({10})
Auch die Linkspartei hat hier heute ihren Beitrag geleistet.
Erlauben Sie mir, meine Rede jetzt zu beenden
({11})
und zu hoffen, dass der Sachverhalt irgendwann einmal
aufgeklärt wird; denn solche Debatten braucht der Bundestag garantiert nicht, und schon gar nicht, wenn sie anderthalb Stunden dauern.
Vielen Dank.
({12})
Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
ich Jens Koeppen für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Zusammenfassung dieser Debatte
möchte ich mit Erlaubnis der Grünen mit einem Zitat aus
ihrem Antrag beginnen. Ich stimme ja nicht immer mit
Ihnen überein, aber das trifft es wirklich eins zu eins.
Das finde ich wirklich sehr gut. Deswegen darf ich zitieren:
Der Bau des Flughafens Berlin-Brandenburg ({0})
ist zu einer Provinzposse geworden, über den die
gesamte Welt lacht. Der Imageschaden für die
Hauptstadtregion, aber auch für Deutschland insgesamt ist groß. Die Absage der Eröffnung … ist …
eine Notbremse für offensichtliche Schlamperei
großen Stils bei Planung, Bau und vor allem auch
Controlling der Maßnahmen durch das Management und den Aufsichtsrat.
Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Das ist schlimm für
Deutschland, für Berlin und auch für mein Heimatland
Brandenburg.
({1})
Berlin wirkt oft zweitklassig. Leider gibt es auch Parallelen zum Abstieg von Hertha BSC, den ich persönlich sehr bedauere.
({2})
Hertha hat immer gesagt: Wir schaffen das noch in den
letzten Spielen. Wir werden das noch irgendwie hinkriegen. - Letztlich haben sie es einschließlich des letzten
Spiels versemmelt.
Beim BER ist das ganz genauso gewesen. Der BERGeschäftsführer und der Aufsichtsrat haben gesagt:
Keine Sorge, wir schaffen das schon. Es könnte zwar ein
bisschen schwierig werden, aber der 3. Juni steht. - Das
ist nicht nur arm und sexy. Das ist arm, sexy und ziemlich unfähig. Da kann man die Landesregierung Brandenburg gleich mit einbeziehen.
({3})
Wir haben in dieser Stunde gehört, was bei dem größten Infrastrukturprojekt in meiner Heimatregion alles
schiefgelaufen ist. Das ist nicht nur verdammt peinlich,
sondern - das müssen wir sagen - das wird auch verdammt teuer werden.
Die Verzögerung bei der Fertigstellung von Großprojekten ist in Deutschland inzwischen eher die Regel als
die Ausnahme. Das ist leider nicht immer zu verhindern.
Es ist aber zu verhindern, dass der Aufsichtsrat und die
Geschäftsführung in dreister Art und Weise Bürger, Anwohner, Betreiber, Pächter, Airlines und Abgeordnete
aus Bund, Ländern und Kommunen hinter die Fichte
führen. Das ist unakzeptabel!
({4})
Herr Kahrs, so wird man keine Akzeptanz für dieses
Großprojekt erhalten. Es gibt schon genügend Akzeptanzprobleme bei diesem Flughafen, und zwar wegen
der nachträglichen Flugroutenfestlegungen, wegen des
miesen Lärmschutzmanagements,
({5})
und jetzt auch noch wegen der Kostenexplosion. Man
spricht von 15 Millionen Euro monatlich;
({6})
dieser Betrag umfasst übrigens keine etwaigen Schadenersatzzahlungen. Gleichzeitig wird bei den Lärmschutzmaßnahmen um jeden einzelnen Cent gefeilscht. Die
Menschen werden hier mit - Kollege Danckert hat es so
genannt - Billigschallschutz abgespeist. Das ist ungeheuerlich.
Mir scheint, dass die Geschäftsführung mit den Aufgaben überfordert ist. Die Ausführungen von Herrn
Schwarz im Verkehrsausschuss am vergangenen Mittwoch haben mich nicht vom Gegenteil überzeugen können. Herr Schwarz sprach von üblichen Lösungen bei
Großprojekten
({7})
- Herr Kahrs, hören Sie zu -, zum Beispiel von InterimsCheck-in-Hallen; damit meint er Zelte, die dort aufgestellt und in denen die Passagiere abgefertigt werden sollen.
({8})
Er sprach von halbautomatischen Brandschutzanlagen.
Ich weiß nicht, ob er sich dort hinstellen und die Sprinkleranlage per Hand aufdrehen möchte.
Er sprach auch von der Mensch-Maschine-Lösung bei
den Brandschutztüren. Er hat allerdings nicht gesagt, wie
er das machen will, ob mit der Freiwilligen Feuerwehr,
mit 1-Euro-Jobbern oder sonstigen Freiwilligen, die,
wenn alle das Gebäude verlassen haben, die Türen
schließen. Ich glaube nicht, dass das übliche Lösungen
sind. Jede Firma wäre achtkantig von der Baustelle geflogen, wenn sie nur ansatzweise solche Vorschläge gemacht hätte. Vor allen Dingen gäbe es niemals eine Genehmigung dafür. Dieses Versagen des Managements
sollte jetzt schöngeredet werden.
Da hilft auch kein Versprechen für mehr Transparenz,
wenn gleichzeitig die Aushändigung der bereits zugesagten Controlling-Berichte von der Geschäftsführung
mit dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse verweigert
wird.
Ganz schlimm ist: Herr Schwarz hat sich erfreut gezeigt, dass Regressforderungen von mittelständischen
Unternehmen, die sich dort ansiedeln wollen, abgewehrt
werden können, weil in den Verträgen eine Verzögerungsklausel von 18 Monaten verankert ist. Im Klartext
bedeutet das: Die Unternehmen bleiben auf ihren Krediten sitzen, bleiben auf ihren Waren sitzen und bleiben
auf den Arbeitsverträgen mit den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern sitzen. Das finde ich schäbig und unverantwortlich.
({9})
Was macht jetzt der Regierende Bürgermeister von
Berlin, also der Aufsichtsratsvorsitzende, und was macht
Ministerpräsident Platzeck, der Aufsichtsratsvize?
({10})
Beide haben in den jeweiligen Parlamenten berichtet.
Wowereit war bemüht, gute Laune zu verbreiten.
({11})
Arm, aber sexy - das ist seine Art. Von Selbstzweifeln
ist nichts zu sehen.
({12})
Ministerpräsident Platzeck wiederum wollte ein Wir-Gefühl verbreiten, nach dem Motto: Wir sind quasi irgendwie alle daran schuld. Er versuchte also eine Kollektivierung der Verantwortung. Das ist wiederum seine Art.
Selbstzweifel? Fehlanzeige.
({13})
Platzeck hat allerdings verschwiegen, dass die Behörden
für alle Genehmigungen rund um dieses Flughafenprojekt nicht Bundesbehörden, sondern brandenburgische
Landesbehörden sind.
Ich finde es abenteuerlich, wenn der Infrastrukturminister oder das Infrastrukturministerium
({14})
- Herr Kahrs, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen ({15})
seit Februar in der Taskforce zur Lösung der Flughafenprobleme sitzt, und der Ministerpräsident dann völlig
überrascht ist, dass der Flughafen nicht eröffnet werden
kann, nachdem er bereits 40 000 Einladungen unterschrieben hat.
({16})
Am Montag sagte er dann, er sei stocksauer, dass es zu
dieser Verspätung kommt. Das ist völlig abenteuerlich.
Herr Platzeck selbst sagt ja, dass er kein Fan von Aktenlesen ist.
({17})
Das ist vielleicht auch für den Ministerpräsidenten von
Brandenburg nicht notwendig. Aber er könnte ja uns das
Aktenlesen überlassen, indem er als Aufsichtsratsvize
die Controlling-Berichte zur Verfügung stellt oder dafür
sorgt, dass sie zur Verfügung gestellt werden.
({18})
Ich schlage heute vor, dass wir Herrn Platzeck das Lesen
abnehmen. Das würde die Transparenz in diesem Fall
wesentlich nach vorne bringen.
({19})
Ich komme zum Fazit. Sie können noch so sehr tröten, auch nach dieser Debatte bleibt vieles ungeklärt:
Der Lärmschutz bleibt ungeklärt, der Brandschutz bleibt
ungeklärt, die Flugrouten bleiben ungeklärt, die Kostenfrage sowieso, die Schadenersatzforderungen - dazu haben Sie nichts gesagt - und die Regressforderungen bleiben ungeklärt,
({20})
Transparenz und Akteneinsicht bleiben ungeklärt, und
der endgültige Eröffnungstermin bleibt ebenfalls ungeklärt.
({21})
Ich finde, dass auch die Frage nach persönlichen Konsequenzen von Geschäftsführung und Aufsichtsrat ungeklärt ist.
({22})
Über all das muss jetzt konsequenterweise gesprochen werden. Die zeitnahe Realisierung der Lärmschutzmaßnahmen ist für den Erfolg des Projekts wichtiger als
der Verbleib von Herrn Schwarz in der Geschäftsführung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/9750. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen ab-
gelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Luftver-
kehrsgesetzes. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/9452, den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8129 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Enthal-
tung der SPD abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge-
schäftsordnung die weitere Beratung.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Zusatzpunkt 6. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 17/9740 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Ta-
gesordnungspunkt 33 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Mortler, Ingbert Liebing, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Horst Meierhofer,
Jens Ackermann, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tourismus in ländlichen Räumen - Potenziale
erkennen, Chancen nutzen
- Drucksache 17/9570 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus ({0})-
Sportausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Elvira Drobinski-Weiß, Hans-Joachim
Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Tourismus in ländlichen Räumen durch schlüssiges Gesamtkonzept stärken
- Drucksache 17/9571 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus ({1})-
Sportausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur
Entwicklung ländlicher Räume
- Drucksache 17/8499 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Ernst Burgbacher das Wort.
({3})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
der Vorstellung des Gutachtens „Wirtschaftsfaktor Tourismus Deutschland“, das unser Ministerium initiiert und
der Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft
als Projektträger durchgeführt hat, haben viele Menschen in Deutschland erkannt, welch wichtiger Jobmotor
und Wachstumsfaktor der Tourismus ist.
Nur ganz wenige Zahlen. 7 Prozent der Erwerbstätigen, nämlich 2,9 Millionen, sind direkt im Tourismus in
Deutschland beschäftigt. Wenn wir die indirekten und induzierten Arbeitsplätze hinzurechnen, sind es 4,9 Millionen bzw. 12 Prozent. 4,4 Prozent der Bruttowertschöpfung werden im Tourismus erzeugt; das entspricht einem
Betrag von fast 100 Milliarden Euro. Meine Damen und
Herren, wir sind stolz darauf, dass Deutschland ein Industrieland geblieben ist; überhaupt keine Frage. Aber wir
sollten endlich erkennen: Deutschland ist auch zu einem
Tourismusland geworden, und zwar zu einem ganz wichtigen. Der Tourismus ist Jobmotor und Wachstumsfaktor.
Das muss endlich in die Köpfe der Menschen.
({0})
Wir hatten 2011 in Deutschland 394 Millionen Übernachtungen und 64 Millionen ausländische Gäste. Wir
denken, dass wir dieses Jahr die Schallmauer von
400 Millionen Übernachtungen durchbrechen. Dies wiederum schafft neue Arbeitsplätze, übrigens zum größten
Teil solche, die nicht exportierbar sind. Diese Arbeitsplätze entstehen im gesamten Spektrum der Qualifikationen. Davon profitieren also auch die Menschen, die am
Arbeitsmarkt sonst geringe Chancen haben. Auch das ist
ein äußerst positives Signal.
({1})
Aber, meine Damen und Herren, bei genauerer Betrachtung müssen wir erkennen: Das eigentliche Wachstum findet vor allem in den Städten statt. Es findet gerade hier in Berlin statt, aber auch in vielen anderen
Städten. Viele profitieren davon. Das ist im ländlichen
Raum erheblich schwieriger. Deshalb begrüße ich es
ausdrücklich, dass das Thema heute auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages steht.
Wir haben einiges getan. Mit unseren Handlungsempfehlungen zum Gesundheitstourismus und mit dem Marketingkonzept Wassertourismus haben wir Weichen für
ein Wachstum in diesen Bereichen gestellt. Gerade heute
Morgen konnte ich im Verkehrsministerium mit meinem
dortigen Staatssekretärskollegen die D-Route 3 vorstellen. Das ist eine Fahrradroute, die über fast 1 000 Kilometer von der holländischen Grenze über Berlin bis an
die Oder reicht. Es gibt tolle Projekte, die dem Tourismus im ländlichen Raum erheblich nützen werden.
In der Landwirtschaft haben wir gute Ansätze. Das
Thema Urlaub auf dem Bauernhof ist für viele Landwirte unverzichtbar. Es trägt dazu bei, die Kulturlandschaft zu erhalten und den ländlichen Raum lebenswerter für die Menschen zu machen. Genau hier wollen wir
weitermachen. Deshalb wurde in unserem Haus, dem
Wirtschaftsministerium, die Studie „Tourismusperspektiven in ländlichen Räumen“ gestartet. Dabei stehen wir
in einem ganz engen Schulterschluss mit dem Landwirtschaftsministerium und mit dem Deutschen Reiseverband als Projektträger. Wir wollen kein Tourismuskonzept erstellen, sondern wir wollen Anfang 2013
Handlungsempfehlungen, Praxisleitfäden und gute Praxisbeispiele vorlegen. Darum haben uns die Fachleute
gebeten. Von dem, was wir hier machen, kann der Tourismus im ländlichen Raum wirklich profitieren, und
zwar in jedem Bundesland, in vielen Kreisen und Gemeinden. Das bringt den Deutschlandtourismus tatsächlich weiter.
({2})
Wir starten jetzt mit vier Regionalkonferenzen. Wir
werden sehr zügig vorangehen, und ich bin ganz sicher,
dass hier neue Ansätze sichtbar werden.
Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit ganz kurz auf
zwei Themen der Anträge eingehen. Das erste ist das
Thema Breitband. Die Breitbandversorgung im ländlichen Raum ist eminent wichtig. Wir haben aber auch
schon viel erreicht. Ende des ersten Quartals 2012 haben
wir eine Abdeckung von 99,2 Prozent der Haushalte mit
mindestens 1 Megabit und von über 50 Prozent der
Haushalte mit mindestens 50 Megabit erreicht. Wir werden mit LTE und Satellitennutzung erhebliche Fortschritte machen. Wir erreichen auch in diesem Bereich
über 10 Megabit. Hier ist also einiges geschehen, was
für den Tourismus im ländlichen Raum sehr wichtig ist.
Ein zweites Thema. Wir müssen erreichen, dass die
Länder ihre Sommerferienregelung ändern.
({3})
Wir waren einmal bei einem Gesamtzeitraum von über
90 Tagen. Jetzt sind es nur noch etwas mehr als 80 Tage.
Das kann nicht sein. Deshalb habe ich alle Ministerpräsidenten angeschrieben und noch einmal darum gebeten,
hier tätig zu werden. Ich wäre Ihnen für Ihre Unterstützung sehr dankbar.
({4})
Meine Damen und Herren, ich bin ganz sicher: Heute
senden wir für den Tourismus im ländlichen Raum ein
gutes Zeichen aus. Wir haben enorme Potenziale, wir haben enorme Wachstumschancen und auch die Chance
auf mehr Arbeitsplätze. Der Tourismus ist ein Jobmotor,
und er ist ein Wachstumsmotor. Unser tolles Land hat es
wirklich verdient, dass noch viel mehr Menschen zu uns
kommen und bei uns Urlaub machen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Heinz Paula für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Burgbacher, Sie wissen, dass ich Sie persönlich
sehr schätze. Ich erkenne auch Ihre Bemühungen an. Als
Sie vorhin allerdings ausführten, dass Sie so weitermachen wie bisher, konnte ich nur sagen: Um Gottes
willen, bewahren Sie uns davor.
Sie haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass im
Bereich des ländlichen Tourismus enorme Potenziale zu
finden sind, die bei weitem noch nicht ausgeschöpft
sind. Es gibt enorme Potenziale für die Gastronomie, den
Einzelhandel, das Handwerk usw. und so für die Arbeitsplätze vor Ort. In der Großen Koalition wurde von uns
gemeinsam, also sowohl seitens der CDU/CSU als auch
seitens der SPD, ein weitreichender Antrag eingebracht,
der im Grunde genommen darauf wartet, endlich inhaltlich umgesetzt zu werden. Schon damals war nämlich
klar, dass vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels und landwirtschaftlicher Strukturveränderungen sowie unter Klimaschutzaspekten mehr getan werden muss.
Ich darf Sie als Bundesregierung auch daran erinnern,
dass Sie selber in Ihren Koalitionsvertrag explizit aufgenommen haben, eine Gesamtkonzeption für den ländlichen Raum zu entwickeln. Tja, wie weit sind Sie hier gekommen? Sie haben ein paar Einzelbeispiele aufgezeigt:
Wassertourismus, Kulturtourismus. Das alles kann ich
unterstreichen; das ist eine sehr gute Sache. Entscheidend ist aber: Es gibt keinerlei Ansatz für ein Gesamtkonzept. Mit Verlaub: Das ist mager!
({0})
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und
der FDP, Sie selber haben ja erkannt, wie dünn das
Ganze ist, was bisher geschehen ist; denn nicht umsonst
bringen auch Sie einen Antrag ein. Man höre und staune!
Gut so!
In einigen Punkten sind unsere Forderungen nahezu
identisch. Ich darf nur ein paar Punkte auflisten:
Ein klares Ja auch von unserer Seite: Die Deutsche
Zentrale für Tourismus muss den ländlichen Tourismus
zusammen mit den Akteuren besser vermarkten. Das unterstreichen wir.
Herr Kollege Burgbacher, den Gesamtferienzeitraum
müssen wir in der Tat deutlich fixieren. Sie nennen zwar
das Problem, aber wir waren bereits 2008 so weit, dass
wir 90 Tage gefordert haben. Das wäre konkret. Wie gesagt, in Ihrem Antrag fehlt das leider.
Sie sprechen die Breitbandversorgung an. Das ist hervorragend. Ich muss Sie aber ganz ehrlich fragen: Was
soll das, 99 Prozent der Betroffenen mit einer MagerstHeinz Paula
geschwindigkeit anzubinden? Das ist doch schlicht und
ergreifend dünn. So kann es wohl nicht laufen, wenn
man den ländlichen Tourismus fördern möchte.
({1})
Ich komme zurück auf den Antrag von 2008. Es stellen sich doch folgende Fragen: Warum haben Sie noch
nicht mehr umgesetzt? Wo ist das Konzept, das die Heterogenität, die Vielfalt unserer Regionen berücksichtigt?
Wo ist ein integriertes Konzept, das dem Tourismus in
seiner Querschnittsfunktion gerecht wird, ihn in den verschiedenen Ressorts besser verankert und ihm in der interministeriellen Zusammenarbeit und in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern endlich einen
höheren Stellenwert einräumt, schlicht und ergreifend
ein umfassendes Gesamtkonzept, das alle ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimensionen berücksichtigt? Genau dies wollen wir mit unserem Antrag
nämlich erreichen.
Wir wollen zum Beispiel endlich eine bundesweite
Grundlagenuntersuchung fördern, die wirklich belastbare Daten zum Tourismus in den ländlichen Räumen
liefert. Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
der FDP, es ist sehr spannend, wenn man sich Ihren Antrag genauer ansieht. Sie arbeiten mit Zahlen, allerdings
für den Gesamtbereich des Tourismus. Warum Sie das
tun, ist klar: Sie haben
({2})
keine exakten Daten für den Tourismus in den ländlichen
Regionen. Das wird überdeutlich; das unterstreichen Sie
durch Ihre Form der Darstellung.
Sie haben kein Konzept und sagen in Ihrem Antrag
kein Wort zur Grundlagenuntersuchung. Wir waren 2008
schon weiter. Damals stand es nämlich explizit in unserem Antrag.
Wir fordern, dass attraktive und vitale Natur- und
Kulturlandschaften erhalten und gepflegt werden; denn
sie sind das Lebenselixier des Tourismus im ländlichen
Raum. Die Schönheit und die Vielfalt der Natur in Verbindung mit historisch gewachsenen Ortschaften und
Kulturstätten ziehen die Menschen an. Sie alle kennen
die ADAC-Untersuchung, die vor kurzem vorgestellt
wurde. An erster Stelle stehen intakte Landschaften. Das
ist der Wunsch der Besucherinnen und Besucher.
({3})
Tourismus und Umweltschutz dürfen sich nicht ausschließen, sondern bedingen einander. Eine intakte Natur
ist Magnet für die Touristen. Einnahmen aus dem Tourismus können in Projekte für den Umweltschutz investiert
werden. Der Kreis schließt sich. Hier hätte ich schon erwartet, Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
dass Sie die Natur- und Nationalparke und die Biosphärenreservate mit den touristischen Leistungsträgern vor
Ort weiter ausbauen wollen. In Ihrem Antrag steht dazu
allerdings kein Wort.
({4})
Lassen Sie mich zu einem anderen Punkt kommen.
Bauernhöfe sowie Natur- und Nationalparke sollen noch
stärker als außerschulische Lernorte ins Schulleben integriert werden; denn so kann man bei Jugendlichen das
Bewusstsein für ihre Umwelt, für nachhaltige Landwirtschaft, Nahrungsmittelherstellung und gesunde Ernährung entsprechend fördern. Was machen Sie? Sie begrüßen die Initiativen des Deutschen Bauernverbandes
dazu, aber zu konkreten Maßnahmen höre ich kein einziges Wort.
Für uns Sozialdemokraten ist es besonders wichtig,
Menschen mit geringem Einkommen Urlaub in ländlichen Räumen zu ermöglichen, zum Beispiel in Jugendherbergen und Jugendfreizeitstätten. Bei Ihnen finde ich
kein einziges Wort dazu. Das ist erbärmlich.
({5})
Lassen Sie mich kurz die Infrastruktur ansprechen.
Auch hier muss man feststellen, dass es dringend neuer
Wege bedarf; denn die traditionellen Wege, Schiene oder
Straße, sind in dieser Form im Grunde genommen nicht
mehr ausreichend. Wo sind hier bei Ihnen kreative Ansätze?
Lassen Sie mich kurz etwas zum Stichwort „Barrierefreiheit“ sagen. Das ist ein unwahrscheinlich wichtiges
Qualitätskriterium für die An- und Abreise und bei den
Unterkünften. Wir wollen, dass alle Menschen in die
ländlichen Regionen reisen können. Wir brauchen mehr
Komfort für Reisende mit eingeschränkter Mobilität.
Die Anbieter müssen durch Aufklärung und geeignete
Fördermaßnahmen unterstützt werden. Ich erinnere an
unseren hervorragenden Antrag zum barrierefreien Tourismus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, halten Sie sich
fest: Wenn Sie den Antrag der CDU/CSU nehmen, dann
können Sie so lange blättern und lesen, wie Sie wollen mit keinem einzigen Wort wird der barrierefreie Tourismus erwähnt. Mit Verlaub: Erbärmlich!
({6})
Wir wollen, dass das bürgerschaftliche Engagement
und das Vereinswesen gestärkt werden. Wir kennen doch
alle die tollen Traditionen, Frau Mortler, zum Beispiel in
Bayern. Diese gibt es aber nicht nur in Bayern, sondern
eigentlich in allen Bundesländern. Tja, in Ihrem Antrag
- das vermuten wir schon - findet sich dazu kein einziges Wort. Das ist genauso schwach.
Der Tourismus in ländlichen Regionen verdient endlich ein Gesamtkonzept auf der Grundlage einer innovativen, ressourcenschonenden, umwelt- und sozialverträglichen Politik für die ländlichen Räume. Die
Menschen vor Ort profitieren vom Tourismus. Im Gegenzug profitiert der Tourismus von der Besonderheit
der Regionen. Der Herr Staatssekretär hat vorhin darauf
hingewiesen: Der Tourismus ist in den ländlichen Regionen ein Jobmotor, den es entsprechend zu stärken gilt.
({7})
Immer wieder wird auf das Best-Practice-Modell hingewiesen. Interessant! Aber, bei Gott, das kann es doch
in Anbetracht der Chancen, die der ländliche Tourismus
bietet, nicht sein. Sie bieten ein durchaus löbliches, aber
nicht im Ansatz den Herausforderungen gerecht werdendes System an. Das könnte ein Baustein in einem Gesamtkonzept sein. Fakt ist: Die Bundesregierung hat es
bisher nicht im Ansatz geschafft - Herr Staatssekretär,
Sie haben das leider bestätigt -, ein schlüssiges Gesamtkonzept für den Tourismus in den ländlichen Regionen
zu erarbeiten. Nicht einmal der Wunsch ist mehr da, hier
auf die Koalitionsvereinbarungen einzugehen.
({8})
Lassen Sie mich Ihnen, Kolleginnen und Kollegen,
schlicht und ergreifend anbieten, Ihren zwar bemühten,
aber doch in weiten Bereichen vollkommen ungenügenden Antrag zu einem wirklich guten Antrag zu entwickeln. Ich möchte vorschlagen: Lassen Sie uns versuchen, in den anschließenden Beratungen zu einem
gemeinsamen Antrag zu kommen. Der ländliche Tourismus, alle Beteiligten hätten es verdient, dass wir etwas
rundum Gutes auf den Weg bringen.
Ich bedanke mich sehr herzlich.
({9})
Die Kollegin Marlene Mortler hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gleich zu Ihnen, Herr Paula: Wenn unser
Konzept dünn ist, dann sind Ihr Konzept und Ihr Vortrag
so dünn, dass man sogar durchschauen kann.
({0})
Natürlich konnten wir in diesen speziellen Antrag, in
dem es darum geht, Potenziale und Chancen des Tourismus im ländlichen Raum zu erkennen, nicht alles hineinpacken.
({1})
Das gilt zum Beispiel für das Thema barrierefreier Tourismus.
({2})
Auch das Thema Landschaftspflege kann natürlich mit
dem Thema Tourismus im ländlichen Raum verknüpft
werden. Zu all diesen Themen haben wir Anträge gestellt und längst Maßnahmen auf den Weg gebracht. Wir
haben heute aber ganz bewusst den Tourismus im ländlichen Raum im Fokus.
Wer sich in der Medienlandschaft aufmerksam umschaut, der hat festgestellt, dass die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 20. Mai 2012 dem ländlichen
Raum sechs Seiten gewidmet hat, sozusagen ein sechsseitiges Wirtschaft Spezial. Dort hieß es unter anderem:
„Die Sehnsucht nach dem Echten: Die Deutschen entdecken ihre Liebe zur Provinz.“ Das ist im positiven Sinne
die neue Landlust.
({3})
Selbst Magazinmacher wie beim Spiegel verfolgen
seit einiger Zeit verblüfft den Höhenflug der Zeitschrift
Landlust. Sie knackte nämlich die Millionenauflage, indem sie die Sehnsucht nach Echtem und Urigem mit
Hochglanzbildern stillt. Damit trifft sie offenbar den
Nerv der Zeit.
„Lust auf Land“, liebe Kollegen von der Opposition,
war für mich schon im letzten Jahr ein Thema. Ich hatte
Landfrauen in die Bayerische Landesvertretung eingeladen. Dabei handelte es sich um eine Initiative, die den
ländlichen Raum eindrucksvoll in Szene setzt. Die Landfrauen haben engagiert gezeigt, wie sie dem Strukturwandel trotzen und den ländlichen Raum vital halten,
kurz: wie sie Lust auf Land machen.
Unseren Antrag haben wir nicht nur deshalb vorgelegt, weil das Thema im Koalitionsvertrag steht,
({4})
sondern er ist auch mir persönlich eine Herzensangelegenheit, weil ich vom Land komme und auch auf dem
Land arbeite, wenn ich nicht in Berlin bin.
({5})
Ich bin stolz auf die Vielfalt unserer ländlichen
Räume. Sie sind es wert, dass wir alle verfügbaren Hebel
in Bewegung setzen, um sie vital zu halten.
({6})
Tourismus ist ein zentraler Hebel. Er ist ein Jobmotor.
Herr Staatssekretär Burgbacher, ich kann Ihre Zahlen
- 2,9 Millionen Arbeitsplätze und 100 Milliarden Euro
Wertschöpfung - nur bestätigen.
Aber das Geschäft mit der Reiselust ist kein Selbstläufer. Die Konkurrenz ist über alle Zeitzonen rund um
den Erdball unterwegs und gut aufgestellt. Auch wir sind
derzeit gut aufgestellt. Mit nahezu 394 Millionen Gästeübernachtungen haben wir einen absoluten Rekord,
({7})
von dem allerdings mehr die Städte profitieren als der
ländliche Raum.
Gerade in unserem Antrag richten wir den Blick darauf, wie wir ländliche Räume und den Tourismus stärken können. Denn er schafft Jobs und Einkommen
gerade in strukturschwachen Regionen. Mehr Lebensqualität hilft, qualifizierte Arbeitsplätze im ländlichen
Raum zu erhalten.
Welche Hebel haben wir auf Bundesebene? Damit
komme ich zu Ihrem Antrag zurück. Was nützt es, etwas
in den Antrag zu schreiben, das nicht der Realität entspricht? Für den Tourismus sind nun einmal in erster Linie die Bundesländer zuständig.
({8})
Die Frage ist: Was können wir in diesem Haus realistisch
bewegen?
({9})
Erstens. Ein wichtiger Punkt ist für uns, dass die Bundesregierung die Deutsche Zentrale für Tourismus auffordert, noch intensiver mit den Akteuren des ländlichen
Tourismus ins Gespräch zu kommen und das Thema
ländlicher Tourismus noch stärker in den Fokus zu nehmen und noch professioneller zu vermarkten.
Zweitens. Fördermittel sind nicht immer wichtig und
richtig, aber wir brauchen gerade auch im Bereich der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur
und des Küstenschutzes“ verlässliche Fördermittel. Dafür setzen wir uns ein.
Das gilt drittens selbstverständlich auch für EFRE,
den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Wir
sind hier ständig im Gespräch.
Viertens muss es, so wie es die Bund-Länder-Arbeitsgruppe gibt, sehr geehrter Herr Staatssekretär, in Zukunft
eine Arbeitsgruppe mit den landtouristischen Akteuren
aus allen Bundesländern geben, bei der die Bundesregierung eine wichtige Hilfestellung leistet, um die Arbeit
der Landestourismus- bzw. Marketingorganisationen
besser zu koordinieren.
Der Staatssekretär hat das neue Projekt „Tourismusperspektiven in ländlichen Räumen“ angesprochen. Dieses Projekt soll 2013 zu Ende gebracht und im Rahmen
der Internationalen Grünen Woche mit Handlungsempfehlungen und Praxisleitfäden vorgestellt werden. Unser
Antrag soll mit dazu beitragen, dass dieses Projekt auch
nach der Beendigung anhaltend positiv wirken kann.
Unterschätzen wir nicht die Best-Practice-Beispiele.
Es gibt viel mehr, als wir glauben. Erste Einblicke, Analysen und Bewertungen zeigen, dass es viele nachahmenswerte Beispiele für Unternehmergeist, Ideenreichtum und nachhaltiges Wachstum gibt. Ich empfehle,
einen Blick auf die Internetplattform www.tourismusfuers-land.de zu werfen, die seit Februar einsehbar ist.
Gerade diese Plattform soll über das genannte Projekt
hinaus als Forum zu Information, Kommunikation und
Vernetzung dienen. Sie soll bestehen bleiben; denn die
dort genannten guten Beispiele müssen in Zukunft verstärkt Schule machen.
Nicht alles ist rosig. Sonst wäre unser Antrag nicht
nötig. Aber ein Blick in die Regionen lohnt sich allemal.
Ich weiß nicht, ob der Kollege Hochbaum anwesend ist,
aber in seiner Heimat habe ich kürzlich die Erlebniswelt
Musikinstrumentenbau besucht. Weil dort der Musikinstrumentenbau so gut in Szene gesetzt wird, dirigiert
diese Erlebniswelt Musikfreunde aus ganz Deutschland
als Touristen ins Vogtland.
Ich darf an dieser Stelle auf die Bundesarbeitsgemeinschaft für Urlaub auf dem Bauernhof und Landtourismus
in Deutschland verweisen. Vor einem Jahr wurde im
Rahmen meiner Veranstaltung in der Bayerischen Landesvertretung das Landsichten-Portal eröffnet. Diese
Buchungsplattform ist ein ganz wichtiges Instrument,
um touristische Angebote im ländlichen Raum zu koordinieren.
Bei mir zu Hause läuft seit heute das erste Kletterfestival im Pegnitztal. Zehntausend Besucherinnen und
Besucher werden erwartet. In meinem Landkreis zum
Beispiel stehen Radfahren, Kanutourismus und Wandertourismus sehr hoch im Kurs.
Ich komme zum Schluss. Natürlich möchten wir - das
wäre ideal - ein Gesamtkonzept auf den Weg bringen.
Wir orientieren uns aber einfach an der Realität. Es ist
besser, zu koordinieren und vom Einzelnen zu lernen,
und zwar unter starker Begleitung der Bundesregierung
bzw. des zuständigen Wirtschaftsministeriums. Wenn
wir das Gros der Hebel, die eigentlich in der Hand der
Länder liegen, entsprechend umlegen, dann sind wir auf
einem guten Weg und gar nicht so weit voneinander entfernt, lieber Herr Paula, wie Sie dem Publikum weismachen wollen.
Kollegin Mortler, Sie müssen jetzt wirklich zum
Schluss kommen. Sonst hat das Konsequenzen für die
anderen Redner.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich bin im Grunde genommen fertig.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Kollege Alexander Süßmair für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung
über zwei Anträge zum Tourismus im ländlichen Raum
und einen Bericht der Bundesregierung. Ich möchte mit
dem Bericht der Regierung beginnen und hier zwei
Punkte aufgreifen.
Das Erste ist das Aktionsprogramm regionale Daseinsvorsorge für jene ländlich strukturierten Regionen,
„in denen die Grundversorgung mit kommunalen Leistungsangeboten wie Schulen, Kindergärten, Gesundheits- und Beratungseinrichtungen, ÖPNV, Straßen und
technischer Ver- und Entsorgung gefährdet ist“. Was soll
man dazu sagen? Da werden seit Jahren öffentliches Eigentum und Daseinsvorsorge privatisiert und zerstört,
den Kommunen werden die finanziellen Mittel abgegraben - unter maßgeblicher Beteiligung von CDU/CSU
und FDP -, und dann empfiehlt die schwarz-gelbe Regierung ein Programm zu deren Wiederaufbau. Das ist
absoluter Hohn.
({0})
Der zweite Punkt betrifft die Vergabe von Mikrokrediten für Kleinunternehmen im ländlichen Raum. Der
Bericht der Bundesregierung zeigt auf, wie sinnvoll
diese Kredite sind. Doch warum brauchen denn Selbstständige oder kleine Unternehmen Mikrokredite? Warum bekommen sie keine normalen Kredite? Das kann
ich Ihnen sagen: Die Kaufkraft ist nicht da. Die Kunden
haben kein Geld und die Urlauber auch nicht. Das liegt
an der Niedriglohnpolitik und der Zerstörung unseres
Sozialstaats seit Jahren durch leider alle Bundesregierungen.
({1})
CDU/CSU und FDP setzen auf den Export und nicht auf
den Binnenmarkt. Das trifft gerade die Tourismusbranche im ländlichen Raum besonders hart.
Nun komme ich zu dem Antrag von CDU/CSU und
FDP mit dem Titel „Tourismus in ländlichen Räumen Potenziale erkennen, Chancen nutzen“. Im Rahmen des
Projektes „Tourismusperspektiven in ländlichen Räumen“ wollen Sie Handlungsempfehlungen entwickeln.
Dieses Projekt wird von einem Projektbeirat unterstützt.
Aber in diesem Beirat sitzen keine Gewerkschafter, also
keine Vertreter von Beschäftigten, und es gibt keine
Fachleute für sozialen Tourismus oder für Tourismus
von Kindern und Jugendlichen. Das hätten Sie in Ihrem
Antrag nachbessern können, aber anscheinend wollen
Sie das nicht. Das kritisieren wir ausdrücklich.
({2})
Die soziale Dimension des ländlichen Tourismus
kommt in Ihrem Antrag überhaupt nicht vor. Dabei sind
besonders im ländlichen Raum die Löhne am niedrigsten
und die Arbeitsbedingungen in Hotels und Gaststätten
häufig am schlechtesten. Wir von der Linken sagen, was
der ländliche Raum dringend braucht:
Erstens: keine weitere Intensivierung der Landwirtschaft. Wenn keine Kühe auf der Weide stehen und riesige Monokulturen die Felder beherrschen, dann wird
Tourismus auf dem Lande immer weniger attraktiv.
({3})
Es ist aber genau diese Bundesregierung, die auf EUEbene den Umweltschutz und die naturnahe Bewirtschaftung im Rahmen der Reformen zur EU-Agrarpolitik von Anfang an blockieren wollte. Der ländliche
Raum braucht aber biologische Vielfalt, um touristisch
interessant und erholsam zu sein.
({4})
Zweitens. Sie beklagen, dass der öffentliche Personennahverkehr zu wenig auf den Tourismus abgestimmt sei.
Aber genau das ist das Ergebnis einer falschen Verkehrspolitik von CDU/CSU und FDP. Gerade in den Ballungsgebieten gibt es immer mehr Menschen, die kein
Auto haben. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden, attraktiven und bezahlbaren öffentlichen Nahverkehr, damit die Menschen aufs Land kommen können.
({5})
Drittens. Sie beklagen in Ihrem Antrag die rückläufigen Besucherzahlen in den Kurorten aufgrund der Gesundheitsreform. Wer ist denn dafür verantwortlich,
wenn nicht Sie? Mit Haushaltssanierungen auf Kosten
von Kurgästen haben Sie schon 1996 unter Ihrem ehemaligen Gesundheitsminister Seehofer begonnen. Deshalb brauchen wir endlich wieder eine umfassende soziale
Gesundheitsversorgung.
({6})
Viertens. Wir brauchen endlich Barrierefreiheit im
ländlichen Tourismus. Aber Menschen mit Behinderung
und Familien mit kleinen Kindern und mit Kinderwagen
- das hat auch der Kollege Paula schon angesprochen kommen in Ihrem Antrag leider gar nicht vor. Da möchte
ich Ihnen, Frau Mortler, widersprechen. Das ist ein sehr
wichtiges Thema. Die UN-Konvention über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen hat uns mit auf den
Weg gegeben, dass dieses Thema in jedem Antrag und
bei jedem Aspekt berücksichtigt werden sollte.
({7})
Fünftens. Wir brauchen endlich eine ausreichende
finanzielle Ausstattung für die Kommunen. Dann entsteht Kaufkraft, und die Kommunen können selbst den
Tourismus ausbauen und fördern.
({8})
Sechstens. Alle Menschen müssen es sich leisten können, überhaupt Urlaub zu machen. Gerade für die ländlichen Räume wäre die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns überlebenswichtig.
({9})
Wir brauchen auch Angebote für Kinder, Jugendliche
und Familien mit geringen Einkommen. Mehr noch: Insbesondere Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IVEmpfänger können sich Urlaub selbst in ihrer näheren
Umgebung nicht leisten. Deshalb muss Hartz IV endlich
weg und durch eine bedarfsdeckende, sanktionsfreie, soziale Mindestsicherung ersetzt werden. Dies fordert die
Linke schon lange.
({10})
Was ist das Fazit? Die schwarz-gelbe Regierung hat
kein nachhaltiges Konzept für den ländlichen Raum als
Ganzes. Das haben Sie selbst gerade zugegeben. Auch
im Bereich des ländlichen Tourismus sehe ich nur heiße
Luft. Sie halten es hier wie mit vielen anderen Politikbereichen auch: Aus einer durchaus kritischen Analyse in
einem Bericht leiten Sie eine Politik des Weiter-so ab;
das wurde schon angesprochen. Das ist für die Linke
nicht akzeptabel. Wir brauchen einen ländlichen Raum,
in dem die Menschen gern leben und Urlaub machen.
Dafür setzen wir von der Linken uns ein.
Wenn ich noch kurz zum Antrag der SPD kommen
darf. Sie kommen diesem Anliegen deutlich näher als
die Koalitionsfraktionen.
({11})
Allerdings hätte ich mir von der SPD noch gewünscht,
dass sie die Situation der Beschäftigten in der Tourismusbranche in ihrem Antrag wenigstens streift.
({12})
Ich denke, da können wir bei den Beratungen in den
Ausschüssen noch nachbessern.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat der Kollege Markus Tressel für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Touristische Entwicklungen in ländlichen Regionen, das
ist eine klassische Querschnittsaufgabe. Frau Kollegin
Mortler, auch ich muss Ihnen widersprechen: Das
Thema Barrierefreiheit wird in Ihrem Antrag nicht einmal gestreift. Das halte ich für absolut nicht sachgerecht.
({0})
Was wir brauchen, sind übergreifende Konzepte für
touristische Entwicklungen. Wir müssen über demografischen Wandel, über Verkehrspolitik, über Klimapolitik,
über Energiepolitik und über viele weitere Bereiche reden.
({1})
- Lassen Sie mich doch erst einmal weitermachen. Sie
brauchen mich doch nicht schon nach 30 Sekunden zu
unterbrechen.
({2})
In den Anträgen ist immer wieder, was ich sehr befürworte, von Urlaub auf dem Bauernhof die Rede. Ich
halte das für ein ganz wichtiges Segment. Da gibt es
große Potenziale. Ich habe jedoch die große Besorgnis,
dass wir dieses umfangreiche Thema auf Urlaub auf dem
Bauernhof verengen.
({3})
Wir haben in den ländlichen Räumen große Herausforderungen in unterschiedlichem Ausmaß zu bewältigen:
Kaufkraftverlust, demografischer Wandel, Misere der
kommunalen Haushalte und Klimaveränderung, die wir
in den Mittel- und Hochgebirgen schon heute zu spüren
bekommen. Angesichts dessen ist ein Weiter-so, wie es
propagiert wird, nicht sinnvoll.
Wir müssen uns folgende Leitfrage stellen, wenn wir
eine wirklich nachhaltige Entwicklung in den Destinationen wollen: Wie können wir über den Tourismus die
regionalen Wirtschaftsstrukturen nachhaltig verbessern?
Wir haben im Moment einen sehr geringen Nettodevisenzufluss: Von 100 umgesetzten Euro bleiben nur rund
36 Euro in der Region. Das ist viel zu wenig. Deswegen
müssen wir an dieser Stelle deutlich nachlegen.
Wir müssen uns weiterhin fragen: Wie wird Mobilität
nachhaltig? Die Kollegen haben es vorhin angesprochen:
Die Gesellschaft wird immer älter. Wir haben auch andere Probleme, was die Mobilität anbelangt. Nur dort,
wo Menschen auch unter den Bedingungen veränderten
Mobilitätsverhaltens gut hinkommen und wo sie auch
während des Urlaubs mobil sein können, kann Tourismus wachsen.
({4})
Im Zusammenhang mit dem Thema Entwicklung des
ländlichen Tourismus müssen wir auch über die Fragen
sprechen: Wie stellen wir den Schienenfernverkehr in
der Fläche sicher? Wie können vor Ort Elektromobilitätskonzepte entwickelt werden? Dafür gibt es gute Beispiele, Stichwort Best-Practice-Beispiele. Ich glaube,
dass es nicht ausreicht, solche Beispiele zu sammeln.
Wir müssen auch in diesem Bereich für Weiterentwicklungen sorgen.
Außerdem müssen wir über die Energiepolitik sprechen. Landauf, landab wird über die Energiewende diskutiert. Ich glaube, dass das Ganze auch für die Entwicklung des ländlichen Raumes von großer Bedeutung ist,
vor allem für die - dabei habe ich jetzt nicht nur ökologische, sondern auch ökonomische Aspekte im Blick Tourismusunternehmer vor Ort; für diese Unternehmer
ist die Energiefrage eine besondere. Wir brauchen Konzepte, wie wir die Energieeffizienz voranbringen und
wie wir dafür sorgen, dass ländliche Betriebe energieeffizient aufgestellt sind, um bei steigenden Preisen im
Energiebereich wettbewerbsfähig zu bleiben.
Außerdem müssen wir etwas gegen den Investitionsstau in diesem Bereich tun. In fast 80 Prozent der Landkreise wurde ein Investitionsstau im Beherbergungsgewerbe und in mehr als 60 Prozent in der Gastronomie
festgestellt. Das alles ist verbunden mit einer Eigenkapitalquote von 2,8 Prozent, während die Eigenkapitalquote
im Dienstleistungssektor bei knapp 20 Prozent liegt. Da
braucht es Lösungen, und dazu habe ich in den vorlie21734
genden Anträgen wenig bis gar nichts Konkretes gelesen. Gute Worte und Prüfaufträge helfen da nicht weiter.
Auch eine Sammlung von Best-Practice-Beispielen hilft
da nicht weiter, Herr Burgbacher.
({5})
Wir stehen noch vor weiteren Herausforderungen; ich
habe es vorhin angesprochen. Ich verweise auf die Misere in den kommunalen Haushalten, Stichwort Bettensteuer. Die Kommunen müssen sich natürlich refinanzieren, wenn sie vor Ort investieren wollen - und sie
müssen vor Ort investieren.
Wenn wir über die Entwicklung der ländlichen Regionen sprechen, müssen wir uns auch mit der Frage befassen: Wie überwinden wir das Kirchturmdenken? Nicht
jede Destination endet an den Grenzen des Landkreises.
Daran müssen wir alle gemeinsam arbeiten.
Ein weiteres Problem - das hat der Kollege Süßmair
schon angesprochen - ist das Personal. Ohne Fachpersonal wird es im ländlichen Raum keine Entwicklung geben. Deswegen muss man sich die Frage stellen: Wie
sieht es denn mit den Arbeitsbedingungen aus, und wie
können wir dem Fachkräftemangel in der Branche im
ländlichen Raum wirksam begegnen? Ich glaube, dass
wir dazu neue Lösungen im Rahmen eines Gesamtkonzepts entwickeln müssen.
Ein Punkt, der ganz wichtig ist, ist das Marketing.
Dazu ist in allen Anträgen immer die DZT angesprochen. Ich glaube aber, dass es zu kurz gesprungen ist,
stets die DZT aufzufordern, im Marketing neue Anstrengungen zu unternehmen. Wir müssen vielmehr darüber
nachdenken, welche Institutionen bei der Vermarktung,
etwa im Ausland, noch genutzt werden können. Da gibt
es eine breite Palette. Ich glaube, es wäre auch der DZT
gegenüber nur fair, nicht alles immer bei ihr abzuladen.
Da sind kreative Lösungen gefragt.
Sie haben landsichten.de angesprochen. Ich bin froh,
dass es das in Deutschland endlich gibt, und danke den
Machern außerordentlich herzlich dafür. Aber im Gegensatz zu dem Pendant in Österreich war es für unsere
deutschen Kollegen nicht möglich, EU-Fördermittel zu
bekommen. Auch das ist ein Problem. Auch hier müssen
wir etwas ändern.
Was wir zunächst brauchen, ist eine ehrliche Bestandsanalyse. Ich glaube, das ist die Grundlage für alles
das, was wir in der Folge konzeptionell erarbeiten. Wir
müssen Hemmnisse beseitigen und den Weg für Chancen freimachen, bevor wir die Chancen in einem Konzept skizzieren. Eine Bundesstudie zu den Tourismuspotenzialen im ländlichen Raum kann hier wesentliche
Grundlagen legen. Deswegen befürworten wir das, was
die SPD in ihrem Antrag gefordert hat.
({6})
Aber eines muss man an dieser Stelle auch sagen: Es
ist nicht überall sinnvoll, in die Förderung von Tourismus zu investieren. Wir sprechen hier auch über Nachhaltigkeit. Da muss man sehr genau hinschauen: Wo ist
das Investieren überhaupt sinnvoll? Dort, wo es sinnvoll
ist, müssen wir vor allem über Ansätze zur Verbesserung
von Wertschöpfungsketten sprechen; denn nur dann,
wenn mehr Geld in der Region bleibt, ist die Entwicklung im ländlichen Raum nachhaltig.
Wir haben als Grüne im Januar einen Fraktionsbeschluss gefasst, in dem wir verschiedene Vorschläge machen. Ich würde gern daran mitarbeiten, dass wir entsprechend dem Vorschlag von Herrn Paula zu einem
interfraktionellen Antrag kommen, wie es auch bei anderen Themen im Tourismusbereich schon gute Sitte war.
Wir sollten gemeinsam versuchen, unsere Vorschläge
zusammenzuführen und dann im Interesse der ländlichen
Regionen in Deutschland eine gute Lösung zu finden.
({7})
Unsere Prämisse: Es muss nachhaltig sein; es muss
zukunftsgerichtet sein. Wenn das gegeben ist, dann sehen Sie uns an Ihrer Seite. Das ist im Moment noch nicht
gegeben. Wenn wir einen gemeinsamen Antrag hinbekommen, ist das umso besser.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Der Kollege Dr. Edmund Geisen hat nun für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! „Das Gute bewahren und mit neuen Ideen in
eine ökologisch orientierte Zukunft gehen“, das war
mein Slogan seit Jahrzehnten, und er bleibt es auch.
({0})
Dieser Slogan passt auch zum Thema Ländliche Räume.
Ich freue mich sehr darüber, dass die Bedeutung der
ländlichen Räume von der christlich-liberalen Koalition
so stark in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt worden
ist. Das zeigt der aktuelle Fortschrittsbericht in seinen
Handlungsschwerpunkten. Das zeigen aber auch die
Einsetzung der koalitionsübergreifenden Arbeitsgruppe
„Ländliche Räume“ und die Durchführung des Kongresses „Ländliche Räume, regionale Vielfalt - wie gestalten
wir Zukunft?“ am 11. Juni dieses Jahres. Verehrter Herr
Paula, es gibt übrigens ein Tourismuskonzept. Das wird
in vier Konferenzen vorgestellt. Ich wiederhole damit,
was Staatssekretär Burgbacher eben ausgeführt hat.
Unsere ländlichen Räume sind die Stützpfeiler und
das Rückgrat unserer Gesellschaft. Hier existieren noch
Bürgergesellschaften. Hier kann man noch von „intakter
Gesellschaft“ sprechen. Hier übernehmen die Bürgerinnen und Bürger noch Verantwortung. Kurz: Die sozialen
Probleme sind gering. Es gibt keine sozialen BrennDr. Edmund Peter Geisen
punkte und wenige Arbeitslose. Die Sozialbudgets werden am geringsten belastet.
Diese Stabilität hat sehr viel mit Multifunktionalität
zu tun. Die attraktiven Kulturlandschaften sind zu beliebten Reisezielen vieler Erholungsuchender geworden
und haben zum Auf- und Ausbau des Tourismus beigetragen. Aber: ohne gute Landwirtschaft keine prosperierenden ländliche Räume.
({1})
Für mich ist eine gute Infrastruktur die Voraussetzung
für florierende ländliche Räume. Diese Infrastruktur ist
vergleichbar mit dem Blutkreislauf des Körpers. Der
Kreislauf muss geschlossen sein. Lücken sind schädlich
für den gesamten Organismus.
Unverantwortlich ist es deshalb für mich, dass rotgrüne Regierungen zum Beispiel in NRW und Rheinland-Pfalz wichtige Infrastrukturmaßnahmen wie den
Lückenschluss der A 1 in meiner schönen Heimat, der
Eifel, zum Nachteil der Menschen und der Umwelt ausbremsen.
({2})
- Nein, Sie haben durch 36 immer wieder neu geforderte
Gutachten die Schließung der Lücke ausgebremst. Dort
besteht eine offene Wunde an der Hauptschlagader. Das
muss endlich aufhören.
({3})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, schnelle Lückenschlüsse und notwendige Umgehungsstraßen, vernünftige Bahnanbindungen und schneller Breitbandausbau sind unabdingbare Voraussetzungen für eine gute
Entwicklung,
({4})
und dafür müssen wir sorgen, wenn uns die ländlichen
Räume wirklich am Herzen liegen und der Gesellschaft
so wichtig sind, wie es hier zum Ausdruck kommt. Hier
drückt die christlich-liberale Koalition endlich aufs
Tempo wie nie zuvor. Nur so geht Zukunft.
({5})
Für einen zukunftsträchtigen ländlichen Raum kämpfen heißt: Landwirtschaft, Tourismus und Mittelstand erhalten und stärken sowie Multifunktionalität und Daseinsvorsorge attraktiv gestalten. Dazu gehören auch
Kultur- und Traditionspflege. Dafür steht ganz besonders die Zukunftspolitik unserer christlich-liberalen Koalition.
Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören und wünsche Ihnen
frohe Pfingsttage. Alles Gute!
({6})
Das Wort hat der Kollege Willi Brase für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über
den Tourismus, aber auch über den Fortschrittsbericht der
Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume.
Dieser Bericht enthält viele Bilder, Modelle, Projekte,
Best-Practice-Beispiele. Wenn wir uns Teilbereiche der
ländlichen Regionen anschauen, dann finden wir diese
nicht wieder.
({0})
Für das Minimodellprojekt „LandZukunft“ werden insgesamt 9 Millionen Euro für den Zeitraum 2011 bis 2014
angesetzt. Auf der anderen Seite werden die Haushaltsmittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ um 100 Millionen Euro gekürzt.
({1})
- Nicht nur unerhört, Herr Kollege. So kann man keine
vernünftige Entwicklung der ländlichen Räume voranbringen.
Wir erfahren von der EU, dass die unterschiedlichen
Fördertöpfe nebeneinander herlaufen und dass es keine
integrierte, aufeinander abgestimmte Politik gibt. Das
muss man kritisieren. Auch die Perspektive „Europa
2020“ sieht als Ziel vor, die Weiterentwicklung einer integrierten gemeinsamen regionalen Politik auf den Weg
zu bringen. Das halte ich für richtig und notwendig.
({2})
In meiner Fraktion hatten wir kürzlich eine Debatte
über die Situation im Bereich der Intensivtierhaltung.
Mittlerweile muss man in Deutschland von Schlachttourismus reden. Dänische Unternehmen bringen ihre
Schweine nach Deutschland, weil Deutschland in diesem Bereich ein absolutes Billiglohnland ist.
({3})
Ich sage deutlich: Es ist eine Schande, dass in unserem
Land rumänische Werkvertragsarbeitnehmer für 2,78 Euro
in der Stunde arbeiten müssen. Sie bekommen 3 Euro
Auslöse pro Tag und müssen davon Ernährung, Kleidung und Unterkunft bezahlen. Es ist eine Schande für
dieses Land. Das gehört endlich geändert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Es wird Sie nicht verwundern, wenn ich sage, dass dort
der Mindestlohn notwendig und richtig wäre; das brauche ich gar nicht zu erklären. Er würde den Menschen
helfen, und wir könnten tatsächlich von einer sozialen
Marktwirtschaft reden.
({5})
Gehen wir zum Tourismus im Hotel- und Gaststättenbereich über. Es klang eben ein bisschen an: Alle Statistiken weisen heute aus, dass die Hälfte aller Beschäftigten im DEHOGA-Bereich auf der Basis von Minijobs
arbeiten. Was sind das für Zukunftsperspektiven? Diese
Menschen kommen später an und brauchen die Grundsicherung, die wir alle bezahlen müssen. Das ist der falsche Weg. Hier müssen dringend Änderungen her.
({6})
Gehen wir weiter: Im Fortschrittsbericht wurde auch
ausgeführt, dass es einen Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland gibt.
Das ist richtig. Die Ausbildungsplatzzahlen - das kann
ich als Berichterstatter eindeutig bewerten - haben sich
verbessert. Aber in den ländlichen Regionen sind immer
noch gut 300 000 junge Leute in Übergangsmaßnahmen.
Wo ist eigentlich das Konzept der Bundesregierung für
die jungen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren, die
keinen Berufsabschluss haben? Sie haben das Problem
im Pakt selber beschrieben und schreiben: Wir wollen
diesen Pakt weiterentwickeln. Wo ist das Konzept, damit
diese jungen Leute endlich qualifiziert werden, damit
wir im Fachkräftebereich auch im ländlichen Raum endlich nach vorne kommen?
({7})
Der Bund der Deutschen Landjugend ist mittlerweile
auf dem Weg und sagt: Wir stehen im ländlichen Bereich
in Konkurrenz zu industriellen gewerblichen Strukturen,
und wir möchten, dass ein Qualifizierungsfonds aufgelegt wird; wir wollen also Angebote für junge Menschen
auf hohem qualifikatorischem Niveau auf den Weg bringen. - Das halten wir für gut. Es gibt das schon in
Schleswig-Holstein, im Baubereich - das ist bekannt und im Gerüstbaubereich. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung dies ein Stück weit aufgreifen würde.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir uns die
Situation der jungen Frauen im ländlichen Bereich an.
Da gibt es drei Aspekte, die man beachten muss:
Erstens. Die Entgeltlücke zwischen Männern und
Frauen beträgt grundsätzlich im Durchschnitt immer
noch 23 Prozent zulasten der Frauen. Im ländlichen Bereich ist die Lücke teilweise um 10 Prozentpunkte größer.
Zweitens. Wir wissen, dass wir auch im ländlichen
Bereich Kinderbetreuungseinrichtungen brauchen; dort
haben wir Defizite. Ich kann es Ihnen heute hier nicht ersparen: Es ist der völlig falsche Weg, dann das Betreuungsgeld auf den Weg zu bringen, um Partikularinteressen der CSU zu befriedigen; er führt in die Irre.
({9})
Die jungen Frauen haben etwas anderes, etwas Besseres
verdient.
Drittens. Wir haben die Abwanderung der jungen
Menschen aus den ländlichen Räumen. Teilweise ist
diese sehr groß. Nur noch 80 junge Frauen kommen auf
100 junge Männer: Vor allem in Ostdeutschland erleben
wir solche Verwerfungen. Auch hier entdecke ich wenig
bis gar nichts Konzeptionelles.
Was ist zu tun? Ich glaube, dass wir Entwicklungskonzepte entwickeln und auf den Weg bringen müssen.
Wir haben dazu in Nordrhein-Westfalen gesagt, dass wir
so etwas wie regionale Strukturpolitik brauchen. Es gibt
ländliche Räume, die sehr stark industrialisiert sind, in
denen es sowohl Landwirtschaft - Grünland - und Tourismus als auch starke industrielle mittelständische Unternehmen gibt. Ich verweise auf Südwestfalen. Der
Hinweis im Fortschrittsbericht, dass das überwiegend in
Süddeutschland der Fall ist, ist nicht ganz richtig.
Schauen Sie sich die deutsche Landkarte an: Die Situation hat sich verbessert; das Phänomen hat sich verbreitert. Es hat sich deshalb verbessert und verbreitert, weil
wir mit der regionalen Strukturpolitik alle Aspekte ländlicher Entwicklung ins Visier nehmen. Es fängt an bei
Tourismusprojekten; es hört auf bei der Qualifizierung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist gut,
dass es immer wieder Bundesländer gibt, die neue Fachoberschulen gründen, um einen vernünftigen Wissenstransfer auf den Weg zu bringen.
Es gibt also eine Menge zu tun. Die Daseinsvorsorge
und die Infrastruktur sind angesprochen worden. Das ist
wichtig; da müssen wir den Kommunen helfen. Ich sage
hier: Es ist gut, dass die Gemeindefinanzreform scheiterte, dass die Gewerbesteuer bleibt. Gerade jetzt, in
wirtschaftlich guten Zeiten, erweist sie sich als eine gute
Sache.
({10})
Also: Weniger Hochglanz, mehr tun!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Der Kollege Christoph Poland hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Es wird jetzt
etwas weniger gewerkschaftlich. Die Bundeskanzlerin
hat 2007 erkannt, welche politische und ökonomische
Bedeutung dem ländlichen Raum zukommt. In Deutschland lebt rund die Hälfte aller Menschen in ländlichen
Räumen. Die demografische Entwicklung zwingt uns, zu
handeln.
Die Bundesregierung hat mit der Arbeitsgruppe
„Ländliche Räume“ richtig reagiert. Vorrangiges Ziel der
Arbeitsgruppe ist die Stärkung des ländlichen Raums als
eigenständiger Wirtschafts- und Lebensraum. Er leistet
einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung gleichwertiger
Lebensverhältnisse in Deutschland. Die Bundesregierung hat drei Handlungsfelder identifiziert: Wirtschaft
und Arbeit, Daseinsvorsorge und ländliche Infrastrukturen sowie Natur und Umwelt. Diese übergreifende Strategie stärkt die ländliche Region als lebenswerte Räume.
Ein Schwerpunkt liegt auf der Bildung und Ausbildung von Fachkräften. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftsförderung und mit besseren Finanzierungsmöglichkeiten für Gewerbetreibende ergibt sich der Ausbau
von Tourismuspotenzialen. Gerade Bildung muss sich
regional und arbeitsmarktorientiert entfalten. Mit neuen
Finanzierungsinstrumenten ist sie das Fundament für die
Stabilisierung von Wirtschaft, Kultur und Tourismus.
({0})
Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung zeigt,
dass die formulierten Ziele bereits umgesetzt werden
und die ländlichen Räume davon profitieren. Ein Beispiel ist das Konjunkturpaket II, mit dem Finanzhilfen
für Investitionen der Kommunen und der Länder bereitgestellt wurden. Außerdem wurden die Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ und „Verbesserung der Agrarstruktur und des
Küstenschutzes“ ausgebaut.
Ein weiteres Beispiel ist das Modellprojekt „LandZukunft“. Dieses Projekt fördert regionale Unternehmen in
peripheren Regionen mit einer ungünstigen Alters- und
Wirtschaftsstruktur und ist ein erster Schritt zur wirtschaftlichen Stabilisierung. Kleinunternehmer und Existenzgründer im ländlichen Raum können über einen
Mikrokreditfonds Kredite bis zu einer Höhe von
20 000 Euro aufnehmen. Auf diese Weise haben Unternehmen und Existenzgründer bereits mehr als
1 800 Klein- und Kleinstkredite erhalten. Das ist ein Volumen von über 10 Millionen Euro Kreditsumme.
Die Bemühungen der Bundesregierung zeigen Wirkung. Die Zahl der Breitbandanschlüsse wurde seit 2003
vervierfacht. Damit liegt Deutschland um 42 Prozent
über dem europäischen Durchschnitt, wenn wir auch
noch nicht in jedem Bereich zufrieden sind.
Seit 1. Januar 2012 ist das Versorgungsstrukturgesetz
in Kraft. Zu Beginn dieses Monats meldete die Kassenärztliche Vereinigung den erfolgreichen Stopp des Ärzteschwunds auf dem Land.
({1})
Als Grund gibt die Vereinigung die Aufhebung der Altersgrenzen an sowie bessere Möglichkeiten, Mitarbeiter
einzustellen. Das ist ein wirklicher Erfolg für die Landbevölkerung.
Auch die Energiewende vollzieht sich auf dem Land.
Erneuerbare Energien sind Landenergien. Ein großer
Beitrag wird dezentral im ländlichen Raum geleistet. Sowohl Bioenergie als auch Sonnen- und Windenergie, darüber hinaus Geothermie beanspruchen Fläche - Flächen
der Landwirte und Waldbesitzer. Problematisch ist der
damit verbundene Ausbau der Energieleitungen, die den
Flächenverzehr anheizen. Deshalb muss man sich der
Kampagne „Stoppt Landfraß“ des Bauernverbandes anschließen. Der Verlust von wertvollem Ackerland, einer
unserer wertvollsten Ressourcen, muss eingedämmt
werden, denn der Landwirt ist zugleich Landschaftspfleger. Damit schützt er die Natur und pflegt sie auch für
die Touristen. Die Landwirtschaft ist die tragende Säule
der ländlichen Räume. 50 Prozent der Flächen sind landwirtschaftliche Flächen.
In Verbindung mit Kultur auf dem Land und Tourismus auf dem Land ergibt sich ein attraktiver ländlicher
Raum. Ich selbst stehe als ein beredtes Beispiel dafür.
Seitdem mein „LandKulturHof“ funktioniert, kennen
viele Leute in der Umgebung das Dorf; die Touristen
kommen von weit her. Es ist wichtig, dass Landwirte lernen, ihre Höfe zu vermarkten, jedoch nicht nur im Bereich „Ferien auf dem Bauernhof“ oder als Kuschelzoos
mit Kühen zum Anfassen.
({2})
Vielmehr sollen die Menschen reale Landwirtschaft erleben.
Zur Kampagne „Stoppt Landfraß“. Wir müssen alle
Verantwortlichen - BVVG, Landgesellschaften und
Landräte - aufrufen, darauf zu achten, dass möglichst
nur tätige Landwirte Land erwerben können. Bodenspekulationen schaden der Landwirtschaft. Wir brauchen lebensfähige Hofstrukturen.
Ebenso wichtig ist das Thema Hochkultur im ländlichen Raum. Sie ist unverzichtbar. Weiche Standortfaktoren ziehen Touristen und Bürger an. Der Wirtschaftsjournalist Ralph Bollmann schreibt in seinem Buch
Walküre in Detmold über die kleinen Theater im ländlichen Raum. Er stellt fest, dass Deutschlands Musiktheater doppelt so viele Besucher haben wie die Bundesliga. Das muss man sich einmal vorstellen: 20 Millionen
verkaufte Tickets in den kleinen Theatern im ländlichen
Raum, die wir aus der absolutistischen Zeit geerbt haben.
({3})
Die Bundesregierung hat mit der Arbeitsgruppe
„Ländliche Räume“ den Grundstein für die Zukunftsfähigkeit der Region außerhalb der Ballungszentren gelegt. Die Probleme wurden identifiziert und Lösungen
erarbeitet. Durch die Umsetzung der genannten Maßnahmen wird der ländliche Raum bereits heute gefördert.
Wir arbeiten daran, dass er kulturell und ökonomisch attraktiver wird und jungen Menschen auch in Zukunft
eine Perspektive bietet.
Herzlichen Dank.
({4})
Der Kollege Ingbert Liebing hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Fraktionskollegin Marlene Mortler hatte eingangs
geschildert, welch positiven Beitrag die Tourismuswirtschaft für die Entwicklung der ländlichen Räume leistet.
Sie hat die positiven Ansätze, die vielen Initiativen der
vergangenen Jahre geschildert, die dazu beigetragen haben, diesem touristischen Segment zu einer Erfolgsgeschichte zu verhelfen.
({0})
Es wurde deutlich, dass wir in Bezug auf die touristische
Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten sind. Aber
der Tourismus in den ländlichen Räumen hat über den
Beitrag zur Tourismusentwicklung hinaus noch besondere Bedeutung für die Entwicklung der ländlichen
Räume insgesamt.
({1})
Die ländlichen Räume stehen jetzt und in den nächsten Jahren noch viel mehr vor besonderen Herausforderungen. Wir kennen die Entwicklung der Demografie:
die Bevölkerung schrumpft, sie wird älter. Es leben
immer weniger Menschen in den ländlichen Räumen.
Die Gesichter unserer Dörfer verändern sich: Dem
Kaufmann fehlen die Kunden, dem Arzt fehlen die Patienten und den Schulen fehlen die Kinder. Junge Familien, die sich nach einer neuen Heimat umsehen, sagen:
Da ziehen wir doch nicht hin! Sie verlassen die ländlichen Räume, und der ländliche Raum dünnt dadurch zunehmend aus. Das ist sicherlich nicht überall der Fall.
Die ländlichen Räume sind vielfältig, aber im Osten findet diese Entwicklung schon viel früher und heftiger
statt als anderswo. So entwickelt sich eine Teufelsspirale, die Entwicklung geht nach unten.
Früher hatten wir eine gegenteilige Entwicklung. Man
hat eher von der Flucht aus den Städten auf das Land gesprochen. In den Dörfern wurden Neubaugebiete für
junge Familien ausgewiesen, heute haben wir eine umgekehrte Entwicklung. Die Auswirkungen des demografischen Wandels sind angekommen. Wir werden ihn
nicht aufhalten und erst recht nicht umkehren können.
Angesichts dieser Entwicklung müssen wir stabilisierend auf die ländlichen Räume wirken, indem wir neue
Entwicklungen anregen und neue Anreize setzen. Wir
müssen aber auch dort Anpassungen vornehmen, wo wir
bestimmte Entwicklungen nicht verändern können.
Im „Fortschrittsbericht der Bundesregierung zur Entwicklung ländlicher Räume“ wird auf die genannten
Entwicklungen Bezug genommen und deutlich gemacht,
in welchen Bereichen sich die Bundesregierung den anstehenden Aufgaben stellt und handelt. Mein Fraktionskollege Christoph Poland hat dies eben herausgearbeitet.
Wir als Koalitionsfraktionen nehmen diese Aufgabe
sehr ernst. Die Tatsache, dass die Führungen der Koalitionsfraktionen eine gemeinsame Koalitionsarbeitsgruppe eingesetzt haben, zeigt, dass wir diesem Thema
eine besonders hohe Bedeutung beimessen.
({2})
Die heutige Debatte ist ebenfalls ein Beitrag dafür. Der
Koalitionsantrag zum Tourismus in den ländlichen Räumen zeigt auch, dass wir gerade diesem Aspekt eine besondere Bedeutung beimessen und Aufmerksamkeit
widmen. Wenn wir nicht nur reagieren, sondern selber
handeln, steuern und gestalten wollen, müssen wir - das
vor allem ist unser übergeordnetes Ziel - Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen in Stadt und Land erreichen. Dabei setzen wir darauf, die Potenziale der Regionen, die wir nutzen wollen, anzureizen und zu wecken.
Wir wollen die eigenen Kräfte in den Regionen unterstützen, damit sie ihre Möglichkeiten zum Ausdruck
bringen können. Auch da wiederum spielt der Tourismus
eine entscheidende Rolle. Dies macht unser Antrag mit
seinen Inhalten deutlich. Auch der Kongress, der in wenigen Wochen hier in diesem Hause durch die Koalitionsfraktionen veranstaltet wird, macht das deutlich.
Dabei ist der Tourismus in den ländlichen Räumen einer
von drei Schwerpunktbereichen.
Mir liegt aber auch sehr daran, aufzuzeigen, dass dies
kein Gegensatz zu einem städtischen Tourismus sein
muss. Wir wissen, dass der städtische Tourismus in den
letzten Jahren einer der Wachstumsmotoren gewesen ist.
Es geht aber nicht um ein Gegeneinander und auch nicht
um ein Entweder-oder in Bezug auf die Frage, was wir
stärker fördern müssen, sondern es geht um beides. Wir
müssen alle Regionen, Ansätze und Segmente ihren
Potenzialen entsprechend fördern und unterstützen.
({3})
Was für den Tourismus gilt - sowohl der ländliche
Tourismus als auch der städtische Tourismus sollen im
Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützt werden -, das
gilt für die Regionalentwicklung gleichermaßen. Wenn
wir für eine Unterstützung, eine Förderung der ländlichen Regionen werben, heißt das nicht, dass das zulasten
der Städte gehen muss, sondern es geht um einen fairen
Interessenausgleich und, wie ich eingangs sagte, darum,
die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in städtischen und in ländlichen Regionen sicherzustellen. Wir
müssen uns aber darum kümmern, dass es auch im ländlichen Raum funktioniert. Deshalb müssen die Voraussetzungen bzw. die Rahmenbedingungen für den Tourismus geschaffen werden. Dazu will ich drei von vielen
Stichworten nennen.
Das Stichwort Mobilität ist mir - gerade im Hinblick
auf den Tourismus in den ländlichen Regionen - wichtig; denn die Gäste müssen auch in die ländlichen Regionen hinkommen. Die Verkehrsanbindung ist wichtig.
Das gilt für Straße wie für Schiene, aber auch für die
Mobilität innerhalb der ländlichen Räume selbst; denn
die Gäste wollen sich bewegen und die Gegend erkunIngbert Liebing
den. Deswegen reicht es nicht - das sage ich ausdrücklich an die Adresse der Grünen -, hier nur Mobilität zu
fordern, sondern man muss konkret werden, wenn es um
die einzelnen Projekte geht. Dann darf man nicht einfach
immer nur dagegen sein.
({4})
Als zweites Stichwort nenne ich die Breitbandversorgung. Ich möchte ausdrücklich das loben, was die Bundesregierung mit ihren Initiativen dazu auf den Weg gebracht hat. Wir als Koalitionsfraktionen werden dazu in
Kürze noch weitere Vorschläge vorlegen. Breitbandversorgung bzw. schnelles Internet ist das A und O für die
Entwicklung in den ländlichen Regionen. Das gilt gerade auch für den Tourismus. Darauf sind die Vermieter
angewiesen, die wie selbstverständlich ihre Angebote
ins Internet einstellen. Onlinebuchbarkeit ist heute zwingende Voraussetzung. Das gilt aber auch für die Gäste.
Natürlich wollen die Gäste auch im Urlaub chatten, skypen und ihre E-Mails empfangen. Wenn es die Eltern
nicht wollen, dann erwarten es mindestens die Kinder.
Wir wissen doch selber, wie es ist: Am Ende bestimmen
oft genug die Kinder die Urlaubsplanung der Familie.
Breitbandausbau ist zwingende Voraussetzung. Dafür
tun wir viel über die GAK und das Telekommunikationsgesetz.
({5})
Unser Ziel ist es, bis 2018 eine flächendeckende Versorgung mit mindestens 50 MBits zu erreichen. Das werden
wir auch schaffen.
Ich nenne als drittes Stichwort die Infrastrukturförderung auch für den Tourismus. Zurzeit werden die Weichen auf europäischer Ebene neu gestellt. Marlene
Mortler hat bereits das Stichwort EFRE genannt. Gerade
in den ländlichen Räumen brauchen wir eine gute Infrastruktur, um qualitativ hochwertige Standards zu
gewährleisten und immer wieder neue Angebote zu
schaffen. Dabei ist gerade das Element der investiven
Tourismusförderung über EFRE von Bedeutung. Die
Bundesregierung setzt sich dafür ein. Wir unterstützen
sie dabei.
Meine Damen und Herren, unser Ziel ist es, Menschen in den ländlichen Räumen zu halten, ihnen Lebens- und Zukunftsperspektiven zu bieten. Dafür brauchen sie Arbeitsplätze. Der Tourismus in den ländlichen
Räumen kann diesbezüglich einen wichtigen Beitrag
leisten.
Die Menschen brauchen aber mehr als Arbeit. Sie fragen nach Lebensqualität, auch nach Möglichkeiten zur
Verbindung von Arbeit und Familie. Das, was wir früher
als weiche Standortfaktoren bezeichnet haben, Bildung,
Kindergarten, Schule, soziale Infrastruktur und kulturelle Angebote, wird zunehmend zu harten Standortfaktoren im Wettbewerb. Die ländlichen Regionen müssen
versuchen, Schritt zu halten. Das ist bei einer zurückgehenden Bevölkerungsdichte nicht einfach. Aber es sind
genau diese Faktoren, nach denen die Menschen entscheiden, wo sie Zukunftsperspektiven für sich und ihre
Familien sehen.
Wenn wir den Menschen in den ländlichen Räumen
Zukunftsperspektiven bieten wollen, dann müssen wir
die regionale Entwicklung im Zusammenhang sehen.
Das ist die Voraussetzung für eine gute touristische Entwicklung in den ländlichen Regionen. Wenn Sie von der
Opposition dies einfordern, dann kann ich Ihnen nur den
Rat geben: Schauen Sie sich die Papiere genau an. Sowohl in unserem Antrag als auch in dem Bericht, den die
Bundesregierung vorlegt, steht genau das. Darin wird
aufgezeigt, dass wir die integrierte Regionalentwicklung
zum Schwerpunkt unserer Arbeit machen.
({6})
Das, was Sie heute lautstark einfordern, tun wir bereits.
Wir handeln.
({7})
Wir widmen uns dem ländlichen Raum, damit die
Menschen eine Zukunftsperspektive in ihrer Heimat und
für ihre Heimat bekommen. Dafür arbeiten wir.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/9570, 17/9571 und 17/8499 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt
Duin, Hubertus Heil ({0}), Rolf Hempelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für ein konzeptionelles Vorgehen der Bundesregierung bei der Energiewende - Masterplan
Energiewende
- Drucksache 17/9729 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des 10-Punkte-Sofortprogramms zum
Energiekonzept
- Drucksache 17/9262 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})-
Rechtsausschuss-
Finanzausschuss-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Vizepräsidentin Petra Pau
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ein Jahr Fukushima - Die Energiewende muss
weitergehen
- Drucksachen 17/8898, 17/9779 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Georg NüßleinMarco BülowMichael KauchDorothée MenznerBärbel Höhn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Garrelt Duin für die SPD-Fraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben das Thema Energiewende heute auf die Tagesordnung gesetzt, weil wir der festen Überzeugung
sind, dass es in politischer und handwerklicher Hinsicht
dringend an der Zeit ist, einen Masterplan für die Energiewende vorzulegen.
Ich will zu Beginn in Erinnerung rufen, dass wir nicht
erst vor einem Jahr mit der Energiewende in Deutschland angefangen haben. Vor mehr als zehn Jahren hat die
damalige Bundesregierung die Maßnahmen ergriffen,
die notwendig sind,
({0})
um aus der Nutzung der Atomkraft auszusteigen und
dem Bereich der erneuerbaren Energien in Deutschland
eine wirkliche Chance zu geben.
({1})
Das war der richtige Weg.
({2})
Diese Entwicklung haben Sie von der Koalition durch
eine Pirouette vorübergehend zum Stillstand gebracht.
Der damalige Energiekonsens wurde nicht von den
Herren Röttgen, Rösler und Pofalla erarbeitet, sondern von
dem damaligen Wirtschaftsminister Müller, dem damaligen Umweltminister Trittin und vor allen Dingen dem damaligen Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier.
({3})
Damals wurde nicht in Ethikkommissionen oder auf
Gipfeln irgendetwas gemacht, sondern - das ist der Unterschied zu heute - es wurde wirkliche Kärrnerarbeit
geleistet. Es wurde detailliert geschaut, was zu machen
ist, und genau daran mangelt es im Jahr 2012 bei dieser
Bundesregierung.
({4})
Vor wenigen Wochen, Ende April, hat Matthias
Kurth, der ehemalige Chef der Bundesnetzagentur, in
der Süddeutschen Zeitung einen Namensartikel veröffentlicht. Er begann mit einem Bonmot. Das darf ich
noch einmal in Erinnerung rufen - ich darf zitieren -: Er
sagte, jedes Projekt bestehe aus fünf Phasen - dieser
Witz kursiere unter den Planern -, „erstens der Begeisterung, zweitens der Verwirrung, drittens der Ernüchterung; dann folge viertens die Suche nach Schuldigen und
fünftens die Bestrafung von Unschuldigen sowie die Belobigung von Unbeteiligten.“ Als Matthias Kurth dies
am 27. April 2012 schrieb, dachte er, wir seien in Phase
drei. Inzwischen sind wir, wie wir seit den Ereignissen in
den letzten Tagen alle wissen, in Phase fünf angekommen. Das ist aber kein gutes Zeichen; ich möchte wieder
etwas Ernst in diese Debatte zurückbringen. Es zeigt,
dass Sie nicht handwerklich ordentlich diese Kärrnerarbeit leisten. Sie machen nur Showveranstaltungen, zum
Beispiel Gipfel, und sagen dann: Oh, wir treffen uns in
einem halben Jahr wieder. - Dadurch geht viel zu viel
Zeit ins Land. Es ist jetzt notwendig, einen Masterplan
für die Energiewende in Deutschland und in Europa vorzulegen.
({5})
Sie beklagen das ja selbst. Herr Kauder sagte in dieser
Woche: „Wir brauchen jetzt eine Regierung, die stark
und handlungsfähig ist.“ Das wünschen wir uns schon
seit einiger Zeit. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis. Sie kommt ein bisschen spät. Ich möchte Ihnen
an einigen Punkten deutlich machen, worum es bei einem solchen Masterplan, wie wir ihn fordern, geht.
Es geht erstens um die Koordinierung der Energiewende. Eine bessere Koordination der federführenden
Ressorts Wirtschaft und Umwelt ist dabei dringend notwendig. Nicht nur wir kritisieren die bisherige Koordination. Auch Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender
Michael Fuchs sagte vor einer Woche, die Zusammenarbeit beider Häuser sei zuletzt nicht optimal gewesen.
Das ist weit untertrieben. Um es auf den Punkt zu bringen: Es knackt doch an jeder Stelle.
Zweitens geht es um die Bund-Länder-Koordinierung. Herr Oettinger sagte: Die Energieversorgungskonzepte der 16 Bundesländer und des Bundes sind nicht
aufeinander abgestimmt. Hinzu kommen tausend kommunale Energieversorgungspläne. Da geht zu viel durcheinander. Selbst Herr Rösler sagt, es sei nicht hilfreich,
wenn 16 einzelne Länder eigene Konzepte vorlegen. Wir
bräuchten eine bessere Synchronisation. Jetzt hören wir
aus Bayern, dass ein noch zu gründendes Bayernwerk in
Zukunft eine ganz wichtige Rolle spielen könnte. Aber
es ist doch die Aufgabe des Bundeswirtschaftsministers,
des Bundesumweltministers und des Kanzleramtsministers - mindestens diese drei sind dafür verantwortlich -,
diese Koordinierung in die Hand zu nehmen und nicht
darauf zu warten, dass sie irgendwann vom Himmel
fällt.
({6})
Genauso wichtig ist die Einbettung in den europäischen Kontext. Die Einbettung unseres nationalen Energiekonzeptes in den europäischen Kontext ist doch überfällig. Auch daran fehlt es. Ich bin mir gar nicht sicher,
ob Herr Rösler in den letzten Monaten überhaupt einmal
in Brüssel gewesen ist, um dort zielführende Gespräche
zu diesem Thema zu führen. Jeder, der sich mit dem
Thema auseinandersetzt, weiß, wie wichtig es wäre, auf
der europäischen Ebene zu agieren.
Das Dritte, das wir einfordern und das in einem solchen Energiemasterplan enthalten sein sollte, ist ein Monitoring. VCI-Präsident Klaus Engel hat diese Konzeptlosigkeit bei der Energiewende mehrfach angeprangert,
zuletzt im April. Er sagte - ich zitiere wörtlich -: „Das
von der Bundesregierung beschlossene Monitoring eignet sich zwar gut als Fahrtenschreiber, aber als Navigationssystem taugt es nicht.“ Wozu hat man denn ein
Monitoring? Man hat es doch, um die nächsten Schritte
aus den daraus resultierenden Ergebnissen abzuleiten.
Wir brauchen ein Navigationssystem. Bei dem von uns
geforderten Masterplan geht es darum, ein Projektmanagement aufzusetzen, um die Dinge, die so vielfältig
sind - das wissen wir alle -, miteinander zu verknüpfen
und auf die geeignete Bahn zu setzen.
Viertens geht es um Kommunikation. Auch diesen
Punkt beginne ich mit einem Zitat, in diesem Fall vom
DIHK-Präsidenten Driftmann vom 14. Mai. Er sagte:
Die Kommunikation ist hundsmiserabel. Wenn man
eine solche radikale Idee
- er meint die Energiewende umsetzen will, muss man dafür vor Ort intensiv
werben.
Ich erlebe viele Kollegen von CDU, CSU und FDP
vor Ort und auch auf verschiedenen Podiumsdiskussionen, die genau das Gegenteil tun, indem sie immer noch
zum Ausdruck bringen, dass sie die Energiewende eigentlich von Herzen bedauern und dass sie im Grunde
gar nicht so gut finden, was hier gemeinsam beschlossen
worden ist. Mit einer solchen Haltung kommt man nicht
voran. Wenn Sie sich selbst und Ihre Vorschläge diskreditieren, werden Sie die Akzeptanz in der Bevölkerung
nicht erreichen. Sie müssen anders agieren.
({7})
Ich sage zum Schluss: Wir brauchen Planungssicherheit für die Unternehmen. Wir brauchen Sicherheit für
die Bürgerinnen und Bürger, sie müssen wissen, dass
diese Energiewende funktioniert. Das muss man mit einer entsprechenden Haltung verkörpern. Man muss sagen: Es ist politisch, administrativ und auch technisch
machbar. Wir wollen die nächsten Schritte gehen. Man
muss den Leuten und auch den Unternehmen in
Deutschland klar sagen, wohin die nächsten Schritte führen. Daran mangelt es absolut in dieser Bundesregierung. Sie haben noch kein Konzept. Herr Seehofer hat
das im Übrigen erkannt. Er hat nämlich gesagt: Wir
brauchen einen Plan für die Energiewende. - Herr
Seehofer würde unserem Antrag, in dem wir einen Masterplan von Ihnen fordern, hier und heute also zustimmen. Ich hoffe, Sie, liebe Mitglieder der Koalition, werden das auch tun.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Duin, Sie haben in gewisser Weise ein Eigentor geschossen, als Sie darauf hingewiesen haben,
dass die Energiewende schon vor zehn Jahren eingeleitet
worden ist.
({0})
Ich kann mich erinnern, dass Rot-Grün kein Energiekonzept zustande gebracht hat.
({1})
Sie sprachen von einem Energiekonsens. Es gab damals
zwar viel beschriebenes Papier. Daraus ist aber nichts
entstanden.
({2})
Das Konzept für eine wirkliche Energiewende haben
wir letztes Jahr hier im Deutschen Bundestag beschlossen.
({3})
An dieser Diskussion haben auch Sie sich lange beteiligt. Insofern: Wenn Sie im Hinblick auf die Energiewende auf Rot-Grün hinweisen, zeigen Sie aus meiner
Sicht in die falsche Richtung.
({4})
In der Überschrift des Antrags der Grünen heißt es:
„Die Energiewende muss weitergehen“.
({5})
Ich würde Ihnen empfehlen, diesen Saal und Ihre Büros
gelegentlich einmal zu verlassen und sich die Situation
in unserem Land anzusehen. Was heißt „weitergehen“?
Die Energiewende ist in vollem Gange.
({6})
Wenn Sie das nicht wahrnehmen wollen, dann kann ich
Ihnen nicht helfen.
({7})
Ich will Ihnen dennoch einige Fakten nennen, um
deutlich zu machen, welche Prozesse gerade stattfinden,
damit Sie sehen, was für ein Bündel von Maßnahmen
bereits eingeleitet worden ist, um die Energiewende - sie
ist ja eines der größten Projekte der neueren deutschen
Geschichte - voranzutreiben.
({8})
- Ja, ja. Sie lachen. Sie wissen aber ganz genau, dass es
so ist, Herr Hempelmann. Es ist ja nicht so, dass man ein
Atomkraftwerk ausschaltet, ein paar Solarzellen ans
Netz bringt, und schon ist die Welt heil.
({9})
Die Umstellung eines Energiesystems, das über Jahrhunderte gewachsen ist, ist mehr als das, was Rot-Grün vor
zehn Jahren zu Papier gebracht hat.
({10})
Meine Damen und Herren, ein Schlüssel zur Energiewende ist die Energieeffizienz. 40 Prozent des Energiebedarfs entfallen auf Wohngebäude. Die christlich-liberale Koalition will diesen sogenannten schlafenden
Riesen natürlich wecken, und zwar durch Anreize und
nicht durch Zwang, so wie es die linke Seite dieses Hauses immer wieder propagiert. Zur Hebung der Energieeffizienz verfolgen wir den Dreiklang aus CO2-Gebäudesanierung, Mietrechtsänderungsgesetz und steuerlicher
Förderung, die ich im Übrigen für enorm wichtig halte.
Wenn man sich das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ansieht, stellt man fest: Es ist eine wirtschaftspolitische und eine klimapolitische Erfolgsgeschichte.
Von 2006 bis 2010 wurden seitens der Kreditanstalt für
Wiederaufbau über 900 000 Kredite bewilligt. Damit
konnten 2,4 Millionen Wohnungen in Deutschland energieeffizient umgebaut werden.
({11})
Durch dieses Programm konnten 340 000 Arbeitsplätze
in Deutschland gesichert oder neu geschaffen werden alles Arbeitsplätze, die nicht exportiert werden können.
Die Mietrechtsnovelle ist vom Bundeskabinett beschlossen worden.
({12})
Sie wird den Bundestag in den nächsten Tagen erreichen. Dann werden wir sicherlich auch hier darüber diskutieren. Die Mietrechtsnovelle ist notwendig, um das
Energieeffizienzprogramm umsetzen zu können.
Das dritte Element ist die steuerliche Förderung von
energetischen Sanierungsmaßnahmen. An dieser Stelle
kann man deutlich sehen, wie ernst Sie es mit der Unterstützung der Energiewende wirklich meinen. Denn dieses Gesetz, hier im Deutschen Bundestag beschlossen,
liegt beim Bundesrat - es liegt und liegt und liegt -,
({13})
weil rot-grün regierte Bundesländer nicht bereit sind, einen eigenen Beitrag zu leisten, um das Energieeffizienzprogramm zum Erfolg zu führen. Das ist Ihre Politik,
meine Damen und Herren.
({14})
So versuchen Sie, die Energiewende mit kleinen Nadelstichen zu behindern. Herr Duin, ich wäre an Ihrer Stelle
etwas vorsichtiger. Schauen Sie erst einmal in Ihre Richtung, bevor Sie in die Richtung der Bundesregierung
schauen.
Der zweite große Baustein ist der Ausbau der erneuerbaren Energien. Keiner kann in Zweifel ziehen, dass
dieser in den letzten vier bis fünf Jahren ein großer Erfolg war. Man braucht sich bloß umzugucken. In der Solarindustrie sind jetzt Anlagen mit 21 Gigawatt am Netz.
Heute scheint die Sonne. Im Moment braucht zwar niemand den Strom, aber der Strom wird erzeugt. Das war
in den letzten drei Jahren ein gigantisches Zubauprogramm.
({15})
Natürlich haben wir auch die Kehrseite zu betrachten,
denn der gigantische Zubau im Bereich der Solarindustrie führt auch zu gigantischen Belastungen der Stromkunden.
({16})
Wir werden es sehen. Im Herbst dieses Jahres werden
die neuen Zahlen im Zusammenhang mit der EEG-Umlage vorgelegt. Wir werden dann sehen, was die Kehrseite der Medaille ist. Daher haben wir uns entschlossen,
das Erneuerbare-Energien-Gesetz zu novellieren. Auch
hier kann man sagen: Von Ihrer Seite kam nichts Konstruktives. Im Gegenteil, Sie wollten das ErneuerbareEnergien-Gesetz noch ausweiten. Auch das steht völlig
im Widerspruch zu dem, was Sie sonst erzählen.
({17})
Meine Damen und Herren, ich könnte noch viele
Dinge erwähnen. Sie alle kennen das Thema Kraftwerksbau. Es ist in aller Munde. Der Kraftwerksbau ist
natürlich eine wichtige Angelegenheit. In dieser Woche
haben wir hier im Bundestag Änderungen im KraftWärme-Kopplungsgesetz beschlossen. Es ist ein sehr
wichtiger Baustein, um diesen Technologien zum
Durchbruch zu verhelfen; denn die Kraft-Wärme-Kopplung kann einen wichtigen Beitrag leisten, um die Energiewende zu einem Erfolg zu bringen.
({18})
Das Thema Netzausbau ist ein weiterer Punkt, bei
dem ich in die Richtung von Rot-Grün schaue; denn genau dort liegt im Prinzip das Problem. Auf den Ebenen
der Länder und der Kommunen sind Sie diejenigen, die
den Netzausbau blockieren, und zwar seit Jahren.
({19})
Der Ausbau der Offshorewindenergie kommt zum Beispiel nicht voran, weil ganz einfach die Netze fehlen.
({20})
- Ich würde mich an meine eigene Nase fassen.
Wenn wir die Energiewende gemeinsam zu einem Erfolg bringen wollen, dann sollten Sie sich an die Spitze
der Bewegung setzen und nicht den Leuten erzählen,
dass sie gegen Projekte auf die Straße gehen sollen. Sie
sollten mit dafür kämpfen, dass in Deutschland überhaupt noch Projekte umgesetzt werden können.
({21})
Herr Duin hat einen Bereich angesprochen, in dem
wir keine abweichende Meinung haben. Er betrifft das
Projektmanagement dieser Energiewende. Hier sehen
wir noch Optimierungsbedarf, und hier sind wir im Gespräch.
({22})
Sie wissen, dass die Monitoringkommission eingerichtet wurde. Das Monitoring funktioniert also. Als Ingenieur bin ich der Auffassung, dass man ein so großes
Projekt wie die Energiewende außerhalb des bürokratischen Apparats managen muss. Die politischen Entscheidungen fallen letztlich hier im Deutschen Bundestag bzw. bei der Bundesregierung. Ich denke, diese
Frage muss man noch einmal diskutieren. Man muss die
Bundesregierung fragen, welche Pläne sie in diesem Bereich hat.
Zusammenfassend ein letzter Satz: Wir stehen mitten
im Prozess.
({23})
Die Energiewende läuft auch ohne Ihre Anträge, und sie
läuft immer schneller.
({24})
Vielleicht hätten Sie uns heute eine Stunde Zeit ersparen können, dann hätten wir draußen die Sonne genießen
können.
Vielen Dank dafür, dass Sie so aufmerksam waren.
({25})
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Lämmel, beim Thema Energiekonzept kann
man nach Ihrer Rede, aber auch nach den sonstigen Verlautbarungen der Koalition, den Eindruck gewinnen,
dass es richtig vorangeht. Vorgestern trafen sich die Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung im Kanzleramt zu einem gemeinsamen Aufbruch zur Energiewende. Die anschließende Pressekonferenz vermittelte
mir - und ich vermute, nicht nur mir - folgende Botschaft: Wir halten an den Verlautbarungen fest, die wir
bereits seit Jahren formulieren. Um uns dieser Verlautbarungen weiterhin gemeinsam versichern zu können, werden wir uns weiter jedes halbe Jahr treffen. Vermeintlich
wurde es dann sogar konkreter:
({0})
Die Kanzlerin kündigte einen Netzausbauplan an - diesmal bis Ende 2012. Die Welt ist ja schnelllebig, und wir
sind manchmal vergesslich. Deswegen möchte ich an Ihr
Energiekonzept erinnern, das Sie 2010 vorgelegt haben.
Den peinlichen Punkt über die Wichtigkeit der Atomtechnik lasse ich jetzt einmal weg. Ich zitiere aus diesem
Energiekonzept von 2010:
Die Bundesregierung wird 2011 … ein Konzept für
ein „Zielnetz 2050“ entwickeln, um daraus den Bedarf für die zukünftig erforderliche Infrastruktur abzuleiten.
({1})
- Ja, aber Sie haben es für 2011 angekündigt.
({2})
Vorgestern haben Sie so getan, als ob das ein ganz neuer
Aufbruch wäre, und jetzt kündigen Sie es für Ende des
Jahres an.
({3})
Nächstes Beispiel. Die Kanzlerin betonte in dieser
Woche ausdrücklich, den Ausgleich für die fluktuierende
Einspeisung durch erneuerbare Energien über Kapazitätsmärkte regeln und darüber nachdenken zu wollen,
wie das geschehen könne. Klasse! Wir freuen uns, wenn
Menschen denken. Aber auch hier möchte ich an Ihr
Energiekonzept von 2010 erinnern, wo zu lesen ist:
Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob und wie in
Zukunft die Bereitstellung von Kapazitäten behandelt wird ({4}).
Ich frage Sie: Wo war in dieser Woche das Innovative,
das Neue? Was ist in den letzten zwei Jahren vorwärtsgegangen? Wo ist konkretes Handeln?
Es ist doch bemerkenswert, dass es immer nur dann
konkretes Handeln gibt, wenn es beispielsweise um die
Kürzung der Solareinspeisevergütung geht oder wenn
Offshorewindkraft gefördert werden soll, um den großen
Energiekonzernen ein Investitionsfeld in Bezug auf erneuerbare Energien zu eröffnen, was für kleine und mittlere Unternehmen eher nicht gewollt ist.
Hier wird deutlich, dass Sie weiterhin auf ein Konzept
mit vier großen Konzernen und eher nicht mit kleinen
und mittleren kommunalen Unternehmen sowie Unternehmen in Bürgerhand setzen. Das zeigt auch klar auf,
dass unter den gegenwärtigen Wettbewerbsbedingungen,
die diese Regierung fördert, keine wirkliche Energiewende möglich ist; denn die Linke sagt ganz klar und
deutlich: Die Energiewende muss nicht nur einen ökologischen Nutzen haben, sondern zwingend auch sozial
gerecht vonstattengehen.
({5})
Mit einer auf Profite ausgerichteten Energiewirtschaft, seien es die großen Energieversorger oder seien
es die großen Übertragungsnetzbetreiber, wird soziale
Gerechtigkeit im Energiesektor nicht zu machen sein,
({6})
und es wird auch nicht möglich sein, die komplexen, dringend notwendigen planerischen Prozesse zu verwirklichen, mit denen die Netz- und Kraftwerksinfrastruktur
umgebaut werden muss. Wie auch? Das Übertragungsnetz
in Deutschland ist in vier Gebiete aufgeteilt, in denen die
Netzbetreiber ähnlich wie Landgrafen ihre Strukturen
haben und darüber wachen.
({7})
Die Bundesrepublik hätte schon mehrfach die Chance
gehabt, diese Netze durch eigene Netzgesellschaften
aufzukaufen. Die Politik hätte dann jetzt einen direkten
Zugriff auf Netzbestandteile. Die Wähler könnten mit
ihrer Wahlentscheidung Einfluss darauf nehmen, in welche Richtung und mit welcher Geschwindigkeit sich der
Umbau der Energiewirtschaft vollzieht.
({8})
Die Politik müsste dann nicht mit Marktmechanismen
Unternehmen anreizen, damit sie die notwendigen Investitionen vornehmen. Nein, sie könnte es selber tun.
Der Souverän hätte die direkte Kontrolle darüber, dass
die Netzentgelte der Verbraucher direkt ins Netz investiert werden und zurückfließen. Überschüsse könnten
entweder in den Staatshaushalt oder zu den Bürgerinnen
und Bürgern fließen - und nicht in Investmentfonds beispielsweise in Australien.
({9})
Nein, stattdessen gehören die Netze in Niedersachsen,
Hessen und Bayern jetzt einem niederländischen Staatskonzern. Ich habe die Zwischenrufe sehr wohl gehört.
Ein niederländischer Staatskonzern! Ein staatliches Unternehmen! Die Niederlande stehen nicht richtig im Verdacht, dass dort kommunistische Planwirtschaft herrscht.
Es geht in anderen europäischen Ländern also durchaus.
({10})
Die Linke hält es für kontraproduktiv und unsozial,
den Energiesektor, diesen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge, allein dem Markt zu überlassen. Damit
die Energiewende überhaupt konsequent beginnen kann,
müssen sich die Bundesregierung und der Bundestag
mehr Zugriffsmöglichkeiten verschaffen.
({11})
Zuletzt möchte ich auf den hier vorliegenden Antrag
der Grünen kurz eingehen. Sie legen ein Jahr nach Fukushima eine Zwischenbewertung vor und führen aus, was
demnach jetzt möglich wäre. Vieles von dem, was die
Grünen vorschlagen, ist sinnvoll, notwendig und auch
zwangsläufig.
({12})
Aber bei drei Punkten können wir als Linke nicht mitgehen. Ich möchte sie benennen.
Erstens. Sie ignorieren vollständig das Versagen der
Strombörse angesichts eines stetig steigenden Anteils erneuerbarer Energien. Sie machen sich noch nicht einmal
im Ansatz Gedanken darüber, wie wir zukünftig eine Regulierung erreichen, wie eine Preisbildung funktionieren
kann, gerade wenn wir nicht mehr mit schwerfälligen
Grundlastkraftwerken, also nicht mehr mit Kohle- und
Atomkraftwerken, arbeiten wollen, sondern mit schnell
zuschaltbaren Gaskraftwerken.
Zweitens. Sie schlagen zwar eine Deutsche Netz AG
für die Anbindung der Offshorewindparks vor. So weit,
so gut. Aber heißt das, die öffentliche Hand soll da einspringen, wo die privaten Investoren nicht wollen, aber
den privaten Investoren bleibt weiterhin der Bereich
überlassen, wo sie weiter nach Lust und Laune Gewinne
machen können? Das greift zu kurz.
({13})
Drittens. Sie loben - diese Kritik müssen Sie sich gefallen lassen - den Merkel’schen Atomausstieg. Es wird
nicht deutlich, dass dieser Automausstieg weder ein sofortiger noch ein schnellstmöglicher war und dass er vor
allem nicht unumkehrbar ist. Aus Fukushima ist das etwas wenig gelernt. Wir glauben, dass da sehr viel mehr
notwendig und möglich gewesen wäre.
Ich danke.
({14})
Der Kollege Michael Kauch hat nun für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es gerade wieder gehört: Der Staat ist für die Linke
immer die Lösung. Ich kann mich nicht daran erinnern,
dass die Stromwirtschaft in der DDR besonders effektiv
gewesen wäre.
({0})
Ich glaube auch nicht, dass sich die Struktur des Energiemarktes der 90er-Jahre, vor der Liberalisierung, in der
Bundesrepublik dazu geeignet hätte, erneuerbare Energien in den Markt zu bringen. Im Gegenteil: Staatliche
Monopole schaden dem Wettbewerb, schaden den erneuerbaren Energien und schaden der dezentralen Energieversorgung.
({1})
Deshalb stehen wir Liberalen nicht für die Rückkehr
zur Staatswirtschaft. Wir stehen auch nicht für ein
Bayernwerk. Wir stehen auch nicht dafür, dass man Unternehmen zwingt, unwirtschaftliche Kraftwerke
zwangsweise weiter zu betreiben.
Kollege Kauch, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Duin?
Nein. - Wir setzen sowohl beim Strom als auch bei
der Gebäudesanierung auf eine klare Leitlinie. Diese
heißt: Anreize statt Zwang. Das muss auch für das Energiesystem gelten.
({0})
Wenn wir über Anreize sprechen, dann müssen wir
uns über die richtigen Marktinstrumente Gedanken machen. Da gilt es, auch das Thema Kapazitätsmärkte zu
prüfen, um Anreize für Reservekraftwerke zu setzen, die
beispielsweise schwankende Windenergieeinspeisung abpuffern können. Aber das Ganze darf nicht so weit gehen, dass am Schluss der Verbraucher wieder derjenige
ist, der die Hauptzeche zahlt.
({1})
Wir müssen schauen, dass wir Anreize nur dort setzen,
wo wir in regionalen Problemzonen wirklich keine andere Lösung finden. Diese Debatte müssen wir in den
nächsten Monaten in der Tat führen.
Die Kraftwerkswirtschaft macht sich Gedanken über
ihren übernächsten Investitionszyklus: Was passiert in
der Zeit nach 2022? Die Energiewirtschaft sagt, sie
braucht Planungssicherheit. Das sehe ich auch so. Deshalb finde ich den Beitrag des Vorsitzenden des Vorstandes von Eon spannend, über ein Klimaziel für 2030
nachzudenken, damit auch langfristige Perspektiven gegeben sind.
({2})
Hier gilt es wiederum, die Interessen unterschiedlicher Unternehmen der deutschen Wirtschaft zusammenzubringen: auf der einen Seite der Energiewirtschaft,
die gerne langfristige Rahmenbedingungen hat, und auf
der anderen Seite der energieintensiven Unternehmen,
die in den nächsten Jahren nicht übermäßig belastet werden dürfen. Vor dieser Aufgabe steht die Politik heute.
Man kann es sich nicht so einfach machen wie die Grünen
in ihrem Antrag: Man muss nur das EU-Klimaziel bis
2020 auf 30 Prozent anheben, und alles wird gut. Gleichzeitig werden in den Klimaschutzgesetzen der Bundesländer die Klimaziele gesenkt.
Wir müssen uns auch die Frage stellen, welchen Sinn
es macht, dass Bundesländer eigene Energiekonzepte
und Klimaschutzgesetze vorlegen, angesichts unserer
Wirtschaft, die deutschlandweit, europäisch und zum
Teil auch global vernetzt ist, und angesichts eines Energieversorgungssystems, das beispielsweise nicht an der
baden-württembergischen Landesgrenze endet, sondern
offene Märkte hat. Deswegen ist es, glaube ich, richtig,
dass die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung und der
Bundeswirtschaftsminister auf dem Energiegipfel mit
den Ländern zusammen vereinbart haben, dass man
künftig gemeinsam die Strategien entwickelt - gemeinsam im Bund und gemeinsam zwischen Bund und Ländern -; denn nur so werden wir angesichts der unterschiedlichen Kompetenzen der staatlichen Ebenen zu
einem guten Management der Energiewende kommen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Hans-Josef Fell für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In ihrer Regierungserklärung zum Atomausstieg erklärte Kanzlerin Merkel im Juni 2011 an diesem Rednerpult:
Wir können als erstes Industrieland der Welt die
Wende zum Zukunftsstrom schaffen.
Recht hat sie: Das kann Deutschland schaffen. Nur, ein Jahr
später bietet sich ein trostloses Bild der Merkel’schen
Energiewende.
Die Insolvenzwelle der Solarwirtschaft rast immer
weiter. Den Niedergang der Biokraftstoffbranche haben
Sie ebenfalls weiter beschleunigt. Damit liefern Sie die
Autofahrer schutzlos den Interessen der Mineralölkonzerne aus. Eine Unterstützung des Speicherausbaus haben Sie bis heute nicht hinbekommen. Ausgerechnet der
deutsche Wirtschaftsminister blockiert die Umsetzung
der EU-Effizienzrichtlinie, und die Gebäudesanierung
stagniert auf niedrigem Niveau.
Stattdessen wollen Sie jetzt große wärmevernichtende
klimaschädliche Kohle- und Erdgaskraftwerke subventionieren, die in kalten Winterzeiten die Stromversorgung sichern sollen, genau dann, wenn es besorgniserregende Erdgasengpässe gibt und Präsident Putin wieder
mal mit Abschaltungen drohen könnte.
({0})
Statt den Atomausstieg selbst richtig zu organisieren,
haben Sie ihn in vielen Politikbereichen noch gar nicht
durchgezogen. Die Bundesregierung finanziert immer
noch die Atomwirtschaft über Euratombeiträge und stellt
sogar Forschungsgelder und Hermesbürgschaften für
den Neubau von Atomreaktoren zur Verfügung.
({1})
Es ist unglaublich, aber diese Energiewendearbeit von
Frau Merkel ist schlicht mangelhaft.
({2})
Es scheint im Kabinett Merkel und insgesamt bei
Schwarz-Gelb fast einen Wettbewerb zu geben, wer die
erneuerbaren Energien besser deckeln, abschaffen und
ausbremsen kann.
({3})
Herrn Altmaier gestehe ich zu, dass er im Amt des
Umweltministers noch neu ist. Doch seine Äußerungen
kürzlich lassen mich aufhorchen. Er hatte behauptet, der
Ausbau der Photovoltaik könne mit der Netzintegration
nicht Schritt halten. Das ist in der Realität längst widerlegt.
In Bayern, wo Herr Seehofer dasselbe behauptet, gibt
es mit Abstand den stärksten Zubau der Photovoltaik.
Eon Netz hat vor kurzem die Erfolgsmeldung gebracht,
dass sie bereits 8 Prozent Solarstrom in die Netze integriert haben. Es geht also. Was Eon Netz in Bayern
kann, können auch alle anderen Netzbetreiber in
Deutschland.
({4})
Sie müssen den Ausbau der Photovoltaik nicht bremsen. Hören Sie lieber auf die Kritik Ihrer eigenen Bundesländer, und achten Sie im Vermittlungsausschuss darauf, dass wir wirklich eine gute Solarpolitik machen!
Dann gibt es noch eine andere Behauptung - der Kollege Lämmel hat sie eben wieder vorgebracht -: Der
Ausbau der Photovoltaik sei zu teuer und für die steigenden Strompreise verantwortlich. Tatsache ist: Bei einer
durchschnittlichen Strompreiserhöhung von rund 1 Cent
pro Kilowattstunde zum Jahresanfang lag der Anteil für
den Zubau aller erneuerbaren Energien inklusive der
Photovoltaik lediglich bei 0,02 Cent.
({5})
Es muss also andere Gründe für die Strompreiserhöhung
geben. Die erneuerbaren Energien sind es nicht. Was die
EEG-Umlage wirklich teuer macht, ist nicht der Ausbau
der erneuerbaren Energien, sondern es sind Ihre falschen
Sonderposten, die Sie eingebaut haben: die weiterhin
uferlose Privilegierung bestimmter Industriezweige und
die nutzlose Aufblähung der Marktprämie. Reduzieren
Sie endlich die Erleichterungen für die Industrie auf das
notwendige Maß - das gibt es -, und schaffen Sie die
Marktprämie ab! Dann wird die EEG-Umlage mit dem
weiteren Ausbau der Erneuerbaren sogar sinken.
({6})
Dann hören wir von Ihnen oft das Argument mit dem
Blackout, dass also die Lichter ausgehen, wenn die
Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, und dass
wir französischen Atomstrom brauchen. Nun sind acht
Atomkraftwerke abgeschaltet, und Deutschland hat mit
Solarstrom- und Windstromexporten die Atomstromfranzosen vor einem Blackout im kalten Februar gerettet. Die deutschen Börsenstrompreise sind in den letzten
sieben Monaten sogar niedriger gewesen als die im
Atomland Frankreich. Ökostrom, meine Damen und
Herren von Schwarz-Gelb, senkt die Strompreise und erhöht sie nicht.
({7})
Nun warnen viele - ich höre das immer wieder auf
Podiumsdiskussionen -, dass die Energiewende sogar zu
einer Deindustrialisierung in Deutschland führen könnte.
Dabei haben wir in Teilen Europas schon eine Deindustrialisierung durch die Euro-Krise. Vielfach wird übersehen, dass hierfür die europäische Abhängigkeit von
Energierohstoffen eine entscheidende Rolle spielt.
Schauen Sie sich doch einmal die Studie aus dem Europaparlament im Auftrag von Sven Giegold an. Dort wird
akribisch nachgewiesen, dass die Außenhandelsdefizite
vieler europäischer Länder exakt von den Importen von
Erdöl, Kohle und Erdgas abhängen. Alleine von Oktober
2010 bis Oktober 2011 betrug diese Importabhängigkeit
der 27 EU-Länder 408 Milliarden Euro. Im gleichen
Zeitraum war das europäische Leistungsbilanzdefizit
aber 119 Milliarden Euro. Gäbe es nicht diese riesige
Abhängigkeit vom Import dieser konventionellen Rohstoffe, gäbe es Leistungsbilanzüberschüsse. Die Leistungsbilanzdefizite in den EU-Ländern steigen mit dem
Öl- und Gaspreis weiter. Es wird nun versucht, diese Defizite mit zunehmender Staatsverschuldung auszugleichen. Die Euro-Krise ist also eng verknüpft mit den steigenden Rohstoffpreisen. Daher leistet eine schnelle
Umstellung auf erneuerbare Energien in Verbindung mit
Effizienzsteigerung auch einen unverzichtbaren Beitrag
zur Bekämpfung der Euro-Krise und stellt eben keine
Belastung für die Wirtschaft dar, wie Sie immer wieder
behaupten.
({8})
Trotz der Notwendigkeit der Umstellung auf erneuerbare Energien und anderer ökologischer Maßnahmen
täuschen Sie noch immer die Öffentlichkeit mit der Behauptung über die billige Stromerzeugung der konventionellen Energiewirtschaft. Beispiel Braunkohle: Gerade
erst hat der Chef des Bergbausanierers in der Lausitz
verkündet, dass er schon wieder 1 Milliarde Euro Steuergelder für die Rekultivierung der Braunkohlegruben
braucht. Dann sind es schon 10 Milliarden Euro. Schaffen Sie doch lieber eine Braunkohleumlage, und erhöhen
Sie den Strompreis entsprechend! Berücksichtigen Sie
auch die Sanierungskosten, die fehlende Förderabgabe
für die Braunkohle, die fehlende Grundwasserabgabe
und vieles andere mehr! Dann werden Sie sehen, dass
Braunkohlestrom viel teuer ist.
({9})
Schaffen Sie auch eine Atomstromumlage, bei der Sie
auch die Sanierungskosten der Asse, die bereits unnötig
geflossenen Steuergelder und die fehlende Haftung berücksichtigen. Dann werden Sie sehen, dass das Gerede
vom teuren Ökostrom nichts anderes als eine Propagandalüge für die Interessen der Atom- und Kohlekonzerne
ist, der Sie auf den Leim gehen.
({10})
Kollege Fell!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ich bitte darum.
Wann endlich ziehen Sie die Lehren aus Ihren Wahlniederlagen? Baden-Württemberg haben Sie wegen Ihrer
Proatompolitik und Nordrhein-Westfalen wegen Ihrer
Antisolarpolitik schon verloren.
({0})
Die Wählerinnen und Wähler wollen eine echte Energiewende und keine à la Schwarz-Gelb.
({1})
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat nun für die
Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Weil
Pfingsten vor der Tür steht und vielleicht bei dem einen
oder anderen der Heilige Geist anklopfen könnte, versuche ich es einmal mit zwei freundlichen Bitten zu Beginn meiner Rede.
Die erste Bitte ist: Ich würde mich freuen, wenn Sie
auf der linken Seite aufhören würden, uns krampfhaft
nachzusagen, wir würden der alten Welt der Kernenergie
nachtrauern. Ich verstehe das politische Kalkül, ich verstehe, dass Sie sich Relikte aus alten Kernkraftdebatten
erhalten wollen, weil Ihnen offenkundig zu diesem
Thema nichts Besseres einfällt, als eben diesen Punkt
immer wieder aufzuwärmen.
({0})
Die Grünen fühlen an der Stelle offenbar schon einen
Phantomschmerz, weil ihnen das Thema abhanden gekommen ist.
({1})
Meine zweite Bitte richtet sich speziell an den Kollegen Fell: Hören Sie auf, die Energiewende als Trivialität
darzustellen,
({2})
als wäre sie so einfach zu erreichen und als ob schon
morgen aller Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren
Energien kommen könnte.
({3})
Das erinnert mich an Vertreter von Eon, die vor etlichen
Jahren die Gezeitenkraftwerke beworben haben, die es
noch gar nicht gab. Damit führen Sie die Leute in die
Irre.
({4})
Wir müssen doch den Leuten offen und ehrlich sagen,
dass das, was wir tun, ein schwieriger Prozess ist, der
nicht in einem Jahr beendet sein wird, sondern der einige
Legislaturperioden dauern wird. Man wird sich immer
wieder neu orientieren müssen. Technische Neuerungen
und neue Forschungs- und Entwicklungsergebnisse werden uns hoffentlich neue Wege weisen, was dringend
notwendig ist.
Es kann sein, dass der eine oder andere auf der linken
Seite des Hauses in Zukunft wieder an einer Regierung
beteiligt ist. Dann ist es ganz gut, wenn man sich nicht
zu weit aus dem Fenster gelehnt und so getan hat, als ob
die Energiewende schon morgen zu schaffen wäre, sondern wenn man ein realistischeres Bild gezeichnet hat.
({5})
Wenn man hier die Frage diskutieren will, wer den
Fortschritt behindert, dann muss man an vorderer Stelle
den Bundesrat erwähnen. Die steuerliche Sanierungsförderung wurde bereits von der FDP angesprochen. Offenbar hört bei einigen Bundesländern der Klima- und Umweltschutz beim Geldbeutel auf. Wenn es aber um das
Geld der Bürgerinnen und Bürger geht - Stichwort
Photovoltaik -, verhält sich der Bundesrat genau umgekehrt.
({6})
Auch das ist spannend. Genau da verhält sich der Bundesrat anders und sagt: Wenn die Bürgerinnen und Bürger zahlen müssen, dann können wir großzügiger sein. Auch da sollten Sie sich an unsere Seite stellen; denn
das, was wir ins EEG geschrieben haben, ist doch der
Ausweis dafür, dass die Stromgewinnung durch Photovoltaik funktioniert. Das ist doch das, was man sagen
muss.
({7})
Jetzt, nach zwölf Jahren Förderung, sind wir an einem
Punkt, wo wir feststellen müssen: Strom vom Dach ist so
teuer wie der Strom des Energieversorgers. Irgendwann
einmal ist doch der Punkt erreicht, an dem man den
Strom, den man selber produziert, auch selber verbraucht, anstatt diesen Strom teuer zu verkaufen und
konventionellen Strom, womöglich Atomstrom, Kollege
Fell, billig einzukaufen.
({8})
Darin müssten Sie sich doch eigentlich wiederfinden.
Sie müssten doch sagen: Jawohl, das machen Sie richtig,
da sind wir auf einem guten Weg. - Sie sollten nicht verbreiten, dass die Produzenten von Photovoltaikanlagen
in Deutschland an der EEG-Vergütung scheitern würden.
Das ist nicht der Fall. Selbst wenn man sie verdoppeln
würde, wenn die Einspeisevergütung also steigen würde,
würden für die Investoren billige chinesische Module
immer noch Rendite bringen. Alle Hersteller von Modulen müssen sich fragen lassen, warum sie nicht besser
sind als die chinesischen Hersteller. Die zu hohe Einspeisevergütung könnte vielleicht dabei eine Rolle gespielt haben, dass die deutschen Hersteller sich zurückgelehnt haben, weil sie geglaubt haben, es gehe immer
weiter so. Das muss man in der Deutlichkeit einmal ansprechen. Ich bitte auch in dieser Hinsicht, die Leute
nicht für dumm zu verkaufen.
Ich will das unterstreichen, was zu Baden-Württemberg gesagt wurde; ich fand das nämlich spannend. Die
grün-rote Regierung in Baden-Württemberg hat das
CO2-Ziel so korrigiert, dass es niedriger als das der
CDU-FDP-Vorgängerregierung ist.
({9})
Daher muss man sich doch fragen: Was wollen sie denn
eigentlich? Wofür stehen sie? Die grün-rote Landesregierung will bis 2020 eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes gegenüber 1990 um 25 Prozent herbeiführen,
während die schwarz-gelbe Vorgängerregierung 30 Prozent erreichen wollte; die Bundesregierung hat das Ziel
von 40 Prozent vorgegeben. Die Politik der grün-roten
Landesregierung von Baden-Württemberg ist ein aufschlussreicher Hinweis auf das, was man dort letztendlich denkt.
({10})
Ich habe vor kurzem in Baden-Württemberg eine Veranstaltung abgehalten. Da ging es um den Ausbau erneuerbarer Energien. Eine Menge Menschen waren da. Sie
haben alle gesagt: Wir würden gern investieren, wir würden vieles machen; aber wir sehen jetzt schon: Es gibt
einen engen Schulterschluss zwischen den Grünen und
den üblichen Verdächtigen aus den Naturschutzverbänden; sie werden das alles zunichtemachen. - Die Leute
sehen jetzt schon, dass da etliches klemmt.
Ich erinnere mich, dass Herr Trittin seinerzeit dazu
aufgerufen hat, gegen Castortransporte weder singend
noch tanzend noch sitzend noch stehend zu demonstrieren.
({11})
Ich warte darauf, dass die Grünen einmal dazu aufrufen,
nicht gegen den Ausbau der Erneuerbaren und nicht geDr. Georg Nüßlein
gen den Ausbau der Netze zu demonstrieren, wenn es
konkret wird. Das wäre doch einmal ein spannender
Aufruf, den Trittin und andere an dieser Stelle machen
könnten.
({12})
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Rolle
Europas eingehen. Uns wird vielfach vorgehalten, wir
seien bezüglich der EU-Energieeffizienzrichtlinie nicht
so kooperativ, wie es sich der eine oder andere vorstellt.
Wir akzeptieren verbindliche Zielvereinbarungen für
alle; das ist wichtig. Aber Brüssel sollte aufhören, uns
bei der Umsetzung bis ins Detail hineinzuregieren. Dass
das aufhört, das ist an dieser Stelle ganz entscheidend.
Ich wünsche mir, dass die Grünen dabei fest an unserer
Seite stehen.
Die Geschichte geht ja weiter. Heute verlangt man
1,5 Prozent Energieeinsparung pro Jahr pro Unternehmen. Morgen versucht man womöglich, eine ähnliche
Harmonisierung bei den erneuerbaren Energien vorzunehmen. Man braucht eine Übereinstimmung bei den
Zielen; das ist absolut richtig. Aber die Vorgehensweise,
die Instrumente dürfen wir uns doch nicht von Brüssel
diktieren lassen; sonst ist das EEG irgendwann weg, und
wir bekommen Zielvereinbarungen und letztendlich
Quotenmodelle. Das würde ich für problematisch halten,
weil ich weiß, was das heißt: dass sich die großen Konzerne auf eine gemeinsame Vorgehensweise einigen und
dass sich Mittelstand und ländliche Räume nicht beteiligen können. Ich möchte zu all dem ganz klar sagen:
Wehret den Anfängen!
Ich glaube, dass wir insgesamt auf einem Weg sind,
der sehr gut ist. Ich bin der Überzeugung, dass wir mit
dem Netzausbauplan ebenfalls einen sehr guten Pfad beschreiten. Allerdings müssen wir noch etwas ergänzen,
nämlich die Antwort auf die Frage: Wer macht das? In
unserem Koalitionsvertrag steht: Wir wollen eine Netzgesellschaft Deutschland gründen. Ich glaube, dass wir
über diesen Punkt noch einmal offensiv nachdenken
müssen. Es geht dabei nicht um die Frage, wie man die
bestehenden Netze in den Netzausbauplan integriert,
sondern darum, dass wir festlegen müssen, wer die großen Übertragungsnetze mit welchem Interesse baut. Im
Hinblick auf die Bereiche, in denen, volkwirtschaftlich
sinnvoll, natürliche Monopole entstehen müssen, soll
man sich noch einmal dringend Gedanken darüber machen, ob es sinnvoll ist, eine solche Netzgesellschaft
Deutschland zu gründen.
Wir müssen, was die fossilen Ersatzkapazitäten angeht, ehrlich sein: Wir brauchen sie - grüne Träumerei
hilft nichts, Kollege Fell -, weil nachts keine Sonne
scheint und weil auch Wind nicht immer weht.
({13})
Wir werden deshalb noch einmal über Kapazitätsmärkte
diskutieren müssen.
Ich hoffe, Sie wollen das Ganze auch an anderen Stellen konstruktiv begleiten. Ich habe noch eine Bitte an
Sie. Bei dem Thema Endlagersuche waren wir vor kurzem ganz nahe an einem Kompromiss, weil sich die
rechte Seite dieses Hauses massiv bewegt hatte, in der
festen Überzeugung, dass diese Generation, die die
Kernenergie genutzt hat, es schaffen muss, die Endlagerungsproblematik zu lösen. Ich wünsche mir, dass Sie
uns offensiv entgegenkommen und uns auch an diesem
Punkt der Energiepolitik entsprechend unterstützen.
Vielen herzlichen Dank.
({14})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Rolf
Hempelmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Dr. Nüßlein, Sie haben die Bitte geäußert,
wir mögen aufhören, Ihnen zu unterstellen, dass Sie nach
wie vor der Atomtechnologie anhängen. Ich glaube, darin liegt gar nicht so sehr das Problem. Herr Kurth - er
wurde eben zitiert - hat gesagt, womit eigentlich jedes
erfolgreiche Projekt beginnen muss: mit der Phase der
Begeisterung. Die Phase haben Sie übersprungen. Die
erste Phase Ihres Projekts Energiewende war Ernüchterung, vielleicht sogar Erschrecken nach Fukushima. Das
Umsteuern war dadurch bedingt, dass Sie erkannt haben,
dass anders ein Machterhalt mittel- und langfristig gar
nicht möglich sein würde. Ich glaube, das eigentliche
Problem ist: Das, was „Energiewende“ bedeutet, erfordert Begeisterung, und die ist auf Ihrer Seite leider nicht
gegeben.
({0})
Die Behauptung, die Energiewende habe im letzten
Jahr begonnen, ist - Sie wissen das doch selbst - purer
Unsinn. Sie versuchen, uns sozusagen in die Schuhe zu
kippen: Ihr habt da im Jahr 2000 so einen Atomausstieg
beschlossen, habt auch ein bisschen für die erneuerbaren
Energien gemacht, aber sonst nichts. - Wahr ist doch: Im
Jahr 2000 hat erstens genau dieser Atomausstieg begonnen, hat zweitens ein offensiver Zubau der Erneuerbaren
begonnen und hat es drittens eine Ankündigung von
Schwarz-Gelb gegeben: Wenn wir wieder die Bundesregierung stellen, dann gibt es eine Laufzeitverlängerung. - Welche Motivation sollten denn die integrierten
Konzerne, die Kraftwerke und auch Netze besitzen, haben, um in Netze zu investieren, wenn sie damit letztlich
ihre Kraftwerke entwerten? Welche Motivation sollten
sie haben, in Speicher, also in Flexibilität, zu investieren,
wenn sie doch ihre Kraftwerke dauernd am Laufen halten wollen? Diejenigen, die dafür gesorgt haben, dass
wir nicht schon im Jahr 2000 eine komplette, das System
umbauende Energiewende bekommen haben, waren Sie
mit Ihrer Ankündigung.
({1})
Das hat mir in dieser Woche bei einer Veranstaltung
hier in Berlin mit Vertretern der Stadtwerken ein renommiertes ehemaliges Mitglied Ihrer Fraktion ausdrücklich
bestätigt. Er hat gesagt: Es war ein fataler Fehler, dass
Schwarz-Gelb im Jahr 2000 nicht erklärt hat: Wir sind
mit dem, was ihr da macht, nicht wirklich glücklich, aber
wir stehen dazu; wir gehen den Weg mit, damit wir für
diesen Schlüsselsektor klare, verlässliche, auf Dauer angelegte Rahmenbedingungen haben, über die Legislaturperioden hinaus. - Das haben Sie nicht gemacht, und das
ist nach wie vor Ihre Verantwortung.
({2})
Was heißt denn „Energiewende“? Was heißt es, wenn
wir aus den konventionellen Energien herausgehen,
nicht nur aus Atom, sondern sukzessive natürlich auch
aus Kohle, und Erneuerbare - das sind in Deutschland
im Wesentlichen Wind und Sonne - ausbauen? Das heißt
letztlich, dass Erzeugung volatiler wird und dass die Einspeisungen von Elektrizität weniger verlässlich werden.
Die Folge ist: Wir brauchen den Netzausbau. Die
Folge ist: Wir brauchen den Speicherausbau. Die Folge
ist: Wir brauchen mehr Flexibilität auf der Nachfrageseite, also beispielsweise auch Lösungen zum Thema
„zu- und abschaltbare Last aufseiten der Industrie“ und
vieles andere mehr.
Die Dinge gehören in einen Zusammenhang. Was wir
bemängeln, ist, dass Sie immer nur an Einzelbaustellen
arbeiten, aber den Menschen nie diesen Zusammenhang
erklären, dass Sie kein Konzept entwickelt haben, in
dem deutlich wird, welchen Mix von Maßnahmen wir
brauchen für eine vernünftige, auch kostenorientierte
und an den Zielen der Versorgungssicherheit und Sauberkeit ausgerichtete Energiepolitik. Das ist Ihr Versäumnis. Das bemängeln wir. All das fordern wir ein.
({3})
Es ist doch nicht nur die Meinung der SPD-Bundestagsfraktion oder der Opposition hier im Hause, dass es
bei der Energiewende an jeder Ecke und an jedem Ende
hakt. Das kommt doch aus Ihren eigenen Reihen; Herr
Seehofer ist zitiert worden, auch Herr Oettinger. Sie haben die schärfsten Kritiker in Ihren eigenen Reihen. Sie
brauchen uns nicht zu unterstellen, wir würden Sie nicht
unterstützen; Sie haben doch schon längst die Unterstützung Ihrer eigenen Leute verloren. Niemand in Ihren eigenen Reihen ist wirklich voll zufrieden; viele sind noch
unzufriedener, als wir es sind.
Wir haben heute die Forderung aufgestellt: Machen
Sie so etwas wie einen Masterplan, und sorgen Sie für
ein vernünftiges Projektmanagement! Dazu habe ich
heute von Ihnen gehört: Darüber müssen wir mal offensiv nachdenken.
({4})
Das ist natürlich eine interessante Äußerung. Ich könnte
sagen: Das ist ermutigend; wir sind damit schon ziemlich zufrieden. - Aber ich mache darauf aufmerksam: Es
ist seit unseren Beschlüssen zur Energiewende ein Jahr
vergangen. Jetzt wollen Sie offensiv über Projektmanagement nachdenken. Diesen Vorschlag haben wir
schon vor einem Jahr gemacht. Nicht nur wir im Parlament, sondern auch viele Beteiligte in der Öffentlichkeit,
aus dem Energiesektor und andere Betroffene sowie die
von Ihnen installierte Ethik-Kommission haben Ihnen
das gesagt. Trotzdem ist seit einem Jahr nichts passiert.
Sie wollen offensiv nachdenken. Gratulation!
({5})
Es ist schon gesagt worden, dass zwischen dem Wirtschaftsminister und dem Umweltminister Blockade
herrscht, mehr als das jemals in der Vergangenheit vorgekommen ist. Man kann nur hoffen, dass sich mit dem
jetzt wieder einmal erfolgten Personalwechsel daran etwas ändert. Wir gewöhnen uns immer wieder an neue
Gesichter auf den Kabinettsbänken. Jetzt ist es also Herr
Altmaier. Ich habe ihn noch nicht so sehr wahrgenommen
({6})
im Zusammenhang mit der Umwelt- und Energiepolitik;
aber er soll seine Chance bekommen. Ich wünsche ihm
im Interesse der Sache viel Erfolg. Es kommt darauf an,
dass diese beiden Minister endlich zusammenarbeiten.
Wenn das immer noch nicht funktioniert, dann trägt das
Kanzleramt hier die Verantwortung. In der Vergangenheit war es durchaus so, dass ein Kanzleramtsminister
Steinmeier mit den Ministern gesprochen und dafür gesorgt hat, dass sie schneller zu Entscheidungen gekommen
sind. Hier versagt Frau Merkel. Das ist nicht zu ersetzen
durch hektisch einberufene Gipfel, im Zweifelsfall ohne
die Minister. Das ist das Gegenteil von Koordination;
das ist Show. Davon hatten wir genug.
({7})
Die Vorschläge liegen auf dem Tisch. Sie können uns
nicht absprechen, dass wir bereit sind, mit Ihnen konstruktiv zusammenzuarbeiten; das beweisen wir jeden Tag
mit unseren Vorschlägen. Wir haben Sie gestern dafür
gelobt, dass Sie, wenn auch mit zweieinhalb Jahren Verzögerung, unsere Vorschläge zum Thema Kraft-WärmeKopplung weitgehend übernommen haben - leider nicht
weitgehend genug, sonst hätten wir Ihnen gestern sogar
zugestimmt.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD fordert einen Masterplan zur Energiewende. Sie bekommt heute den Bericht zur Umsetzung
des Zehn-Punkte-Sofortprogramms zum Energiekonzept, also einen Zwischenbericht unseres Konzepts.
({0})
Dazu wurde gestern - Sie haben es erwähnt, Herr
Hempelmann - unser KWK-Gesetz auf einem silbernen
Tablett serviert. Vielen Dank für Ihre lobenden Worte
dazu.
Das erste Energiepaket, das im letzten Sommer beschlossen wurde, beginnt Wirkung zu entfalten: fachlicher Beirat für die Netzplattform, 5 Milliarden Euro für
Offshorewindparks, erweiterte Befreiung der Speicherkraftwerke von den Netzentgelten usw. Die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen für eine zukünftige
Netzinfrastruktur ist in vollem Gange. Die planbare Refinanzierung der künftigen Netzinfrastruktur, der Übergang zu intelligenten Netzen, die gerechte Verteilung der
anstehenden Lasten und vieles mehr sind gerade in Arbeit.
Leider helfen unsere guten Ideen und Gesetze nur
mittelbar, wenn sie im Bundesrat oder vor Ort blockiert
werden. Dies gilt für die energetische Gebäudesanierung
oder die Förderung der Photovoltaik. Gleiches gilt für
den heftigen Widerstand beim Bau von Übertragungsnetzen. Ich nenne beispielsweise das Ausbremsen der
sogenannten Thüringer Strombrücke, die für die Versorgungssicherheit von Bayern, Baden-Württemberg und
ganz Deutschland von zentraler Bedeutung ist,
({1})
dies vor allem vor dem Hintergrund, dass nach der für
Ende 2015 vorgesehenen Abschaltung des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld 1 300 Megawatt fehlen. Allein
das Verzögern einer solchen Maßnahme ist schlichtweg
verantwortungslos.
Sie werfen uns in Ihrem Antrag Konzeptlosigkeit vor,
doch Sie beschreiben damit Ihr eigenes Doppelspiel
({2})
- hören Sie doch zu; hier können Sie etwas lernen -: Im
Bundestag fordern, im Bundesrat blockieren und, wenn
das scheitert, vor Ort bremsen.
({3})
Das ist Teil Ihrer Strategie, die ich als betrüblich empfinde. Wenigstens kann ich Ihre Motivation zu dieser
Strategie noch irgendwie nachvollziehen: Es ist der
Neid, weil nicht Sie es sind, die die Wende bewirken;
({4})
genug Zeit dafür hatten Sie ja. Den unglaublichen Schaden, den Sie damit anrichten, kann ich Ihnen allerdings
nicht durchgehen lassen.
({5})
Schon deshalb setzen wir nicht auf starre Strukturen
wie den von Ihnen geforderten Masterplan. Mit unserem
Energiekonzept bauen wir bis in das Jahr 2050 auf einen
flexiblen Entwicklungspfad. Basis dafür sind die wissenschaftlichen Gutachten, die dem Energiekonzept der
Bundesregierung zugrunde liegen. So gestalten wir die
Energiewende dynamisch und gehen auf die sich ständig
verändernden Umstände ein, wissenschaftlich, technisch, gesellschaftlich.
({6})
Vor allem aber haben wir das wirtschaftliche Umfeld im
Blick. So werden wir natürlich auch Kapazitätsmärkte
prüfen müssen.
({7})
Selbstverständlich spielen unsere europäischen Partner
dabei eine ebenso bedeutsame Rolle.
Das Zehn-Punkte-Sofortprogramm zum Energiekonzept ist Teil dieser sinnvollen Strategie. Ihm folgt Ende
des Jahres der erste Bericht zur Umsetzung der Energiewende, der anschließend jährlich erscheint. Zudem erscheint ab 2014 alle drei Jahre ein umfassender Monitoringbericht. Er bringt eine solide Datenbasis und auf
Grundlage mehrjähriger Erfahrungen einen vernünftigen
Überblick über vorhandene Trends.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, hervorragendes Beispiel für das Funktionieren unseres Konzepts
ist die anstehende Veröffentlichung des Entwurfs des
Netzentwicklungsplans am kommenden Mittwoch.
({9})
Dem folgt dann der Entwurf des Bundesbedarfsplans.
Ein weiteres Beispiel für zielführendes und schnelles
Handeln ist die geplante Absicherung bei der Offshorenetzanbindung.
({10})
Hier meine ich speziell die Beschränkung des Haftungsrisikos. Die Haftung soll auf Fälle von vorsätzlichem
oder grob fahrlässigem Handeln beschränkt werden. Zudem soll eine Haftungshöchstgrenze eingeführt werden.
Das macht die unternehmerischen Risiken bei den notwendigen Investitionen überhaupt erst vorhersehbar. Außerdem senkt diese Haftungsbeschränkung die Kosten
für den Verbraucher; denn andernfalls müsste er für eine
zweite Anbindung aufkommen, die unabdingbar wäre.
Dieses Modell wäre erheblich teurer.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist Jens Koeppen für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier vor einem Jahr den Umbau der
Energieversorgung in Deutschland in einem gesamtgesellschaftlichen Konsens beschlossen.
({0})
- Ist es so, oder ist es nicht so, Rolf Hempelmann?
({1})
Es ist doch so. - Wir treiben den Umbau der Energieversorgung unbeirrt voran, zwar nicht immer zu Ihren Konditionen, aber im Rahmen des Zieldreiecks aus Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und vor allen
Dingen Bezahlbarkeit. Wir müssen die Energiepreise in
Deutschland im Auge behalten. Unzumutbare Energiepreiserhöhungen lassen die Akzeptanz des Umbaus in
den privaten Haushalten und der deutschen Wirtschaft
sinken.
({2})
Die hier beschlossenen Maßnahmen zur Modernisierung der Energieversorgung in Deutschland lassen sich
leider nicht kurzfristig umsetzen. Es handelt sich um
schrittweise, langfristig angelegte Prozesse. Der teilweise von Ihnen an den Tag gelegte Aktionismus, der
neue, zum Teil unrealistische Ziele und Forderungen, nationale Alleingänge und egoistische Länderinteressen
umfasst, bremst das Projekt.
Um die ambitionierten Ziele, die wir uns gesetzt haben, zu erreichen, brauchen wir Maßnahmen, die umgesetzt werden können. Ich werde Ihnen einige der Maßnahmen aufzeigen, die wir in einem Jahr umgesetzt
haben; dazu würden Sie wahrscheinlich zwei Legislaturperioden brauchen.
({3})
Das Zehn-Punkte-Sofortprogramm zum Energiekonzept - Klaus Breil hat es eben angeführt - ist zum größten Teil umgesetzt; der Bericht liegt vor. Von den 180
Einzelmaßnahmen des Energiekonzepts ist etwa ein
Viertel umgesetzt. Das Monitoring zum Energiekonzept
ist eingeleitet; der erste Bericht kommt Ende des Jahres.
Eine Steuerungsgruppe auf der Ebene der Staatssekretäre unter Führung von BMU und Wirtschaftsministerium ist eingerichtet. Die Ressorts berichten, und die
Vorgehensweisen werden gemeinsam abgestimmt.
Die Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz ist
verabschiedet. Die Novelle zum EEG ist im März verabschiedet worden, liegt jetzt allerdings im Bundesrat auf
Eis. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist ebenso
wie das CCS-Gesetz verabschiedet; beide liegen im
Bundesrat. Das Netzausbaubeschleunigungsgesetz ist
beschlossen. Man muss hier allerdings beachten, dass
die Planungsbehörden bei den Ländern angesiedelt sind
und dass es dort nicht vorwärtsgeht; das ist also keine
Bundessache. An dieser Stelle könnte man durchaus die
Überlegung anstellen, ob der Bund hier härter gegen die
Länder vorgehen sollte.
Das Energiewirtschaftsgesetz ist beschlossen, ebenso
das Sondervermögen „Energie- und Klimafonds“. Das
Planungsrecht ist verändert worden. Vergabeordnung
und Biokraftstoffquote sind auf den Weg gebracht. Vor
allen Dingen gibt es einen Dialog mit den Akteuren der
Energiewende, also mit Fachleuten, Verbänden, dem
Ministerium und Ingenieuren. Es gibt ein Forum „Zukunftsfähige Netze“, ein Forum „Erneuerbare Energien“
und ein Kraftwerksforum. Dort werden Handlungsempfehlungen erarbeitet. Diese Handlungsempfehlungen
sind dann Grundlage unseres Masterplans.
({4})
Genau das ist die konzeptionelle Umsetzung des
Energiekonzepts und der Energiewende. Sie können
nicht jeden Tag mit neuen Koordinaten und immer neuen
Zielrichtungen kommen, immer mit der Maschine auf
volle Kraft voraus und immer auf einem neuen Kurs. Sie
müssen das Schiff endlich einmal in ruhiges Fahrwasser
bringen, und zwar mit klarem Kurs. Mir ist natürlich
klar, dass wir Ihnen ein Thema weggenommen haben,
das Sie gerne besetzen möchten.
({5})
Sie kommen nicht mit an Bord, Sie stehen an Land. Es
ist ja klar: Die größten Kapitäne stehen immer an Land
und machen die besten Vorschläge. Ich lade Sie ein:
Kommen Sie an Bord, und gestalten Sie mit.
({6})
Als Brandenburger möchte ich Ihnen einige Punkte
aufzeigen, wie auch Länder und Landesregierungen auf
der Bremse stehen können. Die Landesregierung Brandenburg hat beinahe alles, was hier beschlossen wurde,
abgelehnt, fordert aber gleichzeitig - wie Sie - einen
Masterplan. Vorgestern hat Ministerpräsident Matthias
Platzeck gefordert, es müsse einen Masterplan geben gerade der Platzeck, der im Land Brandenburg ein Großprojekt nach dem anderen versemmelt hat, jetzt erst wieder den BER.
({7})
Genau der Platzeck sagt auch Ja zum Atomausstieg.
Wenn es aber darum geht, dass von Vattenfall nicht mehr
Millionen in die Kassen Brandenburgs gespült werden,
weil Vattenfall aus der Atomenergie ausgestiegen ist,
dann ist das auch nicht genehm.
({8})
Gerade dieser Platzeck hat auch ein Junktim zwischen
Kohleverstromung und CCS errichtet. Wenn es aber darum geht, dass CCS benötigt wird, dann verteufelt er das
Ganze vor Ort.
({9})
Das können wir nicht dulden.
Genau diese Landesregierung fordert Energieeinsparungen. Wenn es aber um das CO2-Gebäudesanierungsprogramm geht, dann wird es aus steuerlichen Gründen
abgelehnt.
({10})
Genau diese Landesregierung ist es, die faire Energiepreise fordert, dann aber die Anpassung der Solarstromvergütung ablehnt. Das ist partikularer Egoismus, der
endgültig überwunden werden muss.
({11})
- Ich weiß, dass das wehtut.
({12})
Wenn jeder nur damit beschäftigt ist, lieber Herr
Hempelmann, die Fackel ins andere Feld zu werfen,
dann werden wir mit der Modernisierung der Energieversorgung nicht vorankommen - also weg mit Ihren regionalen Befindlichkeiten. Das Ganze wird uns einiges
kosten - das werden wir den Menschen sagen müssen -,
dem Bund, den Ländern, den Kommunen, den privaten
Haushalten und natürlich der deutschen Wirtschaft. In
diesem Zusammenhang sind Kostentransparenz und
Ehrlichkeit angesagt. Sie können nicht einfach sagen, die
Energiewende sei zur Flatrate zu haben. Das wird Ihnen
niemand glauben.
Wir müssen - davon bin ich fest überzeugt - im Rahmen der Energiepolitik europäisch denken und sie europäisch vernetzen. Wir müssen die Förderkriterien anpassen. Zugleich müssen wir die Förderung deckeln; das
heißt, wir brauchen Obergrenzen für subventionierten
Strom. Daran werden wir uns in Zukunft gewöhnen
müssen. Wir brauchen kluge statt blinder Einspeisung.
Das bedeutet, dass wir einen Systemwechsel im EEG
brauchen. Es geht nicht darum, die cleversten Kaufleute
zu honorieren, sondern darum, auf eine smarte Energieversorgung hinzuwirken und Innovationen zu belohnen.
Wenn wir zu kühn an die Sache herangehen, werden
wir uns vor Übereifer verschlucken. Die Energieversorgung ist - dabei bleibe ich - eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und das auf Jahrzehnte hinweg, egal wer
dereinst in diesem Hause sitzen wird. Bei diesem Thema
können wir nur gemeinsam gewinnen oder gemeinsam
verlieren. Ich lade Sie ein: Kommen Sie mit auf die Gewinnerseite.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9729 und 17/9262 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ein Jahr Fukushima - Die Energiewende muss weitergehen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9779, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8898 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung
von SPD und Linken angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 35 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({0}),
Memet Kilic, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 17/9724 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({2})SportausschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Konstantin von
Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit fordert es, die
Konferenz der Informationsbeauftragten in Deutschland
fordert es, und manche Länder haben es bereits seit dem
18. Jahrhundert: ein Grundrecht auf Informationsfreiheit. Bei uns in Deutschland biss man bei dem Thema
politisch lange Zeit auf Granit; doch nach zähem Ringen
gelang es im Jahr 2005, wenigstens ein erstes Informationsfreiheitsgesetz zu verabschieden. Das war ein guter
erster Schritt.
({0})
Damit zog der Bund insbesondere gegenüber den neuen
Bundesländern spät nach, die unter dem frischen Eindruck der gerade überwundenen DDR nicht nur Gesetze
zur Informationsfreiheit, sondern zugleich moderne
Grundrechtsformulierungen in ihre Landesverfassungen
aufnahmen. Bis heute fehlt ein solches Grundrecht im
Grundgesetz.
({1})
Handelt es sich hierbei um eine Petitesse, um ein rein
symbolisches Anliegen? Mitnichten! Es handelt sich um
ein für die Praxis hochrelevantes Problem. Nach einer
Studie von Professor Kloepfer scheitert die Durchsetzung der Informationsfreiheit in der konkreten Abwägung regelmäßig und vor allem an den allgegenwärtig
angeführten Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen; denn
diese sind gemäß Art. 14 GG abgesichert und setzen sich
so viel zu oft gegen den Informationsanspruch der Bürgerinnen und Bürger durch. Die Studie zeigt glasklar:
Hier sind wir - auch als Verfassungsgesetzgeber - in der
Pflicht.
({2})
Diese Verpflichtung bezieht sich natürlich auch auf
den Datenschutz, den wir in gesonderten Vorschlägen als
eigenes Grundrecht eingefordert haben und weiter einfordern werden; denn die Digitalisierung der Grundrechte - so hat es einmal der schleswig-holsteinische
Datenschutzbeauftragte ausgedrückt - ist eine eigene
Aufgabe in Zeiten der digitalen Revolution. Deshalb
brauchen wir eine Verfassung der Bürgerinnen und Bürger: einfach, verständlich, hinreichend konkret und modern.
Grundsätzlich richtet sich der Auskunftsanspruch zunächst und zuvorderst gegen die Verwaltung. Der innovative Kern unseres Antrags aber ist der Auskunftsanspruch gegenüber Privaten. Jetzt kommen Sie nicht mit
der ausschließlichen Abwehrdimension gegenüber dem
Staat. Seit Lüth sind die Urteile nicht nur zur mittelbaren
Drittwirkung, sondern auch zu den Schutzpflichten eine
tragende Säule unseres Grundrechtsverständnisses.
({3})
- Herr Kollege Wiefelspütz! ({4})
Wir wollen die einfachgesetzlichen Ansprüche, wie wir
sie bereits aus dem UIG und dem VIG kennen, verfassungsrechtlich untermauern;
({5})
denn Transparenz und Informationsfreiheit sind Grundvoraussetzungen einer modernen, vitalen Demokratie,
die auch die neuen technischen Möglichkeiten und
Chancen für sich nutzt. Bürgerinnen und Bürger wollen
sich informieren; sie wollen partizipieren. Darauf sollten
wir dringend eingehen, meine Damen und Herren.
Informationsfreiheit und Transparenz sind also unabdingbar. Sie sind aber eben auch nicht alles. Sie ersetzen
nicht politische Standpunkte und Konzepte, auch wenn
manche das glauben. Es geht auch nicht darum, dass alles
einfach gut wird, wenn wir nur möglichst viel ins Netz
stellen. Es ist also klar und Teil unserer Überzeugung,
dass der Gesetzgeber das Informationszugangsgrundrecht beschränken muss, solange und soweit gewichtige
private und öffentliche Interessen entgegenstehen. Insgesamt fügt sich unser Verständnis von Transparenz in dieser Frage an unser grünes Grundverständnis von Basisdemokratie, Demokratiepolitik und Bürgerrechten nahtlos
an.
({6})
Die Informationsfreiheit muss insgesamt weiterentwickelt werden. Das zeigt auch der aktuelle Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und
die Informationsfreiheit. Einerseits nehmen die Menschen zwar ihre neuen Rechte zunehmend in Anspruch,
andererseits aber ist der eigentlich gewollte Paradigmenwechsel offensichtlich noch nicht vollzogen; denn die
Ausnahmevorschriften verhindern regelmäßig eine tatsächliche Umsetzung des gewollten Freiheitsanspruchs.
Bei der Weiterentwicklung der Informationsfreiheit
müssen wir den Gedanken von Open Data mit dem Ziel
einer proaktiven Veröffentlichungspflicht aufnehmen.
Hierzu werden wir nach der Sommerpause eine eigene
Initiative einbringen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Mittlerweile
sollten wir alle das Vertrauen in die angemessene und
sachgerechte Nutzung dieses Instruments durch die Bürgerinnen und Bürger haben. Dieses Vertrauen können
wir uns nicht nur leisten, wir sollten es uns leisten. Denn
ich bin davon überzeugt, dass politische Entscheidungen
besser werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger informiert sind und daran mitwirken können.
Ganz herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorgelegte Gesetzentwurf ist die vollkommen überflüssige Wiederholung der Vorlage, die Sie
schon in der letzten Legislaturperiode eingebracht haben
Stephan Mayer ({0})
und die schon damals mit einer klaren Mehrheit in diesem Hohen Hause abgelehnt wurde.
({1})
Man kann dazu also nur sagen: alter Wein in neuen
Schläuchen. Vielleicht ist es aber nicht ganz so. Vielleicht ist es so, meine werten Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, dass Ihnen die Piraten so sehr im Nacken sitzen, dass Sie Angst haben, nervös sind und deshalb jetzt versuchen, mit diesem Gesetzentwurf vermeintlich verlorenen Boden gegenüber den Piraten
gutzumachen.
({2})
Wenn man Ihren Gesetzentwurf liest, kann man sich
nicht des Eindrucks erwehren, dass es einen inflationären Gebrauch von Begriffen wie Transparenz, Mitbestimmung und Teilhabe gibt. Selbstverständlich fördert
auch die christlich-liberale Koalition Transparenz in der
Verwaltung sowie eine größere Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an und in politischen Entscheidungsprozessen. Als jüngste Beispiele hierfür seien die geplanten
Änderungen für eine frühere Bürgerbeteiligung bei
Großvorhaben oder aber der von Bundesverkehrsminister Dr. Ramsauer am 1. Mai dieses Jahres eröffnete Konsultationsprozess zur Neuregelung des Punktesystems
und des Verkehrszentralregisters in Flensburg genannt.
Wohlgemerkt: Die von uns in diesem Bereich durchgeführten Maßnahmen sind bereits alle nach dem geltenden Recht möglich und auch zulässig. Einer Änderung
des Grundgesetzes bedarf es hierfür nicht.
Darüber hinaus wirft der von Ihnen, meine werten
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, vorgelegte
Gesetzentwurf eher neue Fragen auf, als dass er vermeintlich bestehende Schwierigkeiten rund um den Zugang zu öffentlichen Informationen beseitigt. So werden
nach dem Wortlaut der Ergänzung zusätzlich zu den Interessen der Allgemeinheit der Verbraucherschutz und
der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als besonders vorrangige Güter von Verfassungsrang hervorgehoben. Diese Hervorhebung ist allerdings aufgrund der bereits existierenden Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz und
Art. 20 a Grundgesetz verfassungsrechtlich nicht geboten. Sie wirft in dieser Form eher neue verfassungsrechtliche Fragen insbesondere in Bezug auf das Verhältnis
der einzelnen Normen zueinander auf, als dass verfassungsrechtliche Fragen gelöst werden. Aber auch die
von Ihnen vorgelegte Begründung für die Erforderlichkeit einer Ergänzung des Grundgesetzes vermag nicht zu
überzeugen.
Wir haben gestern den Evaluationsbericht des Instituts für Gesetzesfolgenabschätzung und Evaluation in
Speyer zum Informationsfreiheitsgesetz bekommen. Er
umfasst insgesamt über 560 Seiten.
({3})
- Ich muss gestehen: Ich habe ihn noch nicht ganz gelesen,
({4})
aber schon einmal durchgeblättert. Mir fiel auf, dass das,
was auf Seite 345 aufgeführt wird,
({5})
den Schluss zulässt, dass Ihre Einschätzung nicht zutrifft. Das Institut kommt nämlich zu dem Ergebnis, dass
die Gerichte sehr zurückhaltend und restriktiv vorgehen,
wenn es um die Definition der von Ihnen angeführten
Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse geht. Das Gegenteil
von dem, was Sie gesagt haben, ist also der Fall. Die Gerichte sind sehr zurückhaltend, wenn behauptet wird,
dass dem Auskunftsanspruch Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse entgegenstehen. Insoweit ist die von Ihnen beschriebene Konstellation, dass der einfachgesetzliche
Anspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz aufgrund der Normenhierarchie häufig hinter möglichen
Rechten mit Verfassungsrang zurücktritt, in der Praxis
nicht relevant.
({6})
Hinzu kommt, dass viele Behörden ihre Informationspolitik bereits verändert haben und von sich aus eine
Vielzahl von Daten und Informationen in entsprechenden Internetportalen zur Verfügung stellen. Dass diesbezüglich noch Verbesserungspotenzial besteht, ist unbestritten.
({7})
Entsprechende Initiativen des Bundesinnenministeriums
sowie der Innenministerien der Länder zu Open Data
wurden schon gestartet.
Fakt ist auch, dass die Erhebungen im Zusammenhang mit dem Evaluationsbericht ergeben haben, dass in
den letzten Jahren keine besondere Zunahme der Anfragen auf Zugang zu Informationen nach dem Informationsfreiheitsgesetz verzeichnet werden konnte. Zieht
man einzelne Massenabfragen, querulatorische Abfragen ab, erhält man nahezu stagnierende Zahlen.
({8})
Auch andere Untersuchungen, zum Beispiel die Studie „Bürger online“ vom September 2011, kommen zu
dem Ergebnis, dass sich durch die neuen Möglichkeiten
des Internets und durch die Digitalisierung die partizipa21756
Stephan Mayer ({9})
tiven Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger - insgesamt betrachtet - keinesfalls verstärkt haben.
Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse der Evaluation,
dass sich hinter den meisten Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz, über die vor Gericht entschieden
werden musste, gerade nicht partizipationswillige Bürgerinnen und Bürger verbergen, sondern ungefähr zur Hälfte
Lobbyisten, Rechtsanwälte, Anleger, Insolvenzverwalter
und Pressevertreter, also durch die Bank Personen bzw.
Berufsgruppen, die schon unter den vorhandenen rechtlichen Gegebenheiten und aufgrund spezialrechtlicher Vorschriften über umfangreiche Auskunftsrechte verfügen,
zum Beispiel nach dem Aktiengesetz oder den Pressegesetzen der Länder. Daher sollte man auch über Fragen des
Missbrauchs und nicht nur über eine Erweiterung des
Rechts auf Informationszugang sprechen.
Ich finde es zum Beispiel sehr interessant, dass in der
Abteilung Sport des Bundesinnenministeriums derzeit
zehn Mitarbeiter damit beschäftigt sind, 66 Anfragen
von nur zwei Journalisten zu bearbeiten. Diese Anfragen
führen dazu, dass Tausende von Seiten gewälzt werden
müssen.
({10})
Man muss sich die Frage stellen, ob hier wirklich das Informationsinteresse im Vordergrund steht oder ob es darum geht, Recherchearbeiten, die ansonsten von Journalisten zu leisten sind, auf die Verwaltung zu verlagern.
Um die Effektivität der Verwaltung zu sichern, müssen
wir uns, glaube ich, intensiv damit beschäftigen, ob es
hier nicht zu einer übermäßigen und überzogenen Bindung von wichtigen personellen Kapazitäten kommt,
insbesondere in den Bundesministerien.
Die von den Grünen vorgeschlagenen Änderungen
des Grundgesetzes sind weder in der Sache erforderlich
noch, wie von mir ausgeführt, rechtlich ausgereift. Sie
würden vor allem neue und überflüssige Rechtsfragen
aufwerfen. Ich glaube, wir sind gut beraten, den sehr
umfangreichen Evaluationsbericht des Instituts aus
Speyer zu lesen und auszuwerten. Wir sollten nicht vorschnell Hand an unser wichtigstes Gesetz legen, an unser
Grundgesetz. Vor diesem Hintergrund kann man Ihrem
Gesetzentwurf nur eine klare Absage erteilen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat nun Dieter Wiefelspütz für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
({0})
Der Kollege von Notz ist ein netter Mensch. Er ist ein
guter Mensch. Er meint es gut. Er ist ein netter Gutmensch.
({1})
Aber reicht das aus, wenn es darum geht, unser wunderbares Grundgesetz zu ändern? Ich glaube, dass das eher
nicht ausreicht. Das sage ich einmal ganz zurückhaltend,
Herr von Notz.
Ich habe mir den von Ihnen vorgeschlagenen Gesetzestext angeschaut. Ich will jetzt gar nicht so sehr ins
Detail gehen. In das Grundgesetz das Wort „insbesondere“ hineinzuschreiben, da bekomme ich Frostbeulen.
({2})
Das ist nicht nur sprachlich falsch. Was wollen Sie damit
eigentlich zum Ausdruck bringen? Was sonst ist damit
gemeint? Herr von Notz, das geht so gar nicht. Ich
glaube, dass das, was Sie vorschlagen, gut gemeint ist,
aber es ist leider nicht gut gemacht.
Damit will ich meinen Redebeitrag nicht unbedingt
schon beenden; denn das wäre, glaube ich, ein bisschen
unfair. Es ist in der Tat so: Wir haben in Deutschland in
unseren Regierungen und in unseren Behörden nach wie
vor ein exklusives Informationsverständnis. Wir brauchen aber ein inklusives Informationsverständnis und
Informationsverhalten, zumal wir im digitalen Informationszeitalter angekommen sind und ganz andere Möglichkeiten als früher haben.
({3})
Ich will jetzt nicht über vergangene Kriege reden,
aber doch den kurzen Hinweis geben - das Wort ist
schon mehrfach gefallen -, dass es auf der Ebene des
Bundestages ein ganz mühevoller Prozess war, das
Informationsfreiheitsgesetz zu verabschieden. Das war
in rot-grüner Zeit ein ziemlich genau siebenjähriger
Kampf gegen die rot-grüne Bundesregierung.
({4})
Wir waren umzingelt von Bedenkenträgern, die sagten:
Das haben wir noch nie so gemacht,
({5})
wo kommen wir da hin. Es gab Bedenkenträger unabhängig vom Parteibuch, selbstverständlich auch bei Sozialdemokraten und bei Grünen. In den Ämtern und in
den Regierungen, überall sind wir auf Mauern gestoßen.
Wir haben zum Schluss nach langem Kampf mit etwas
Glück und mithilfe der FDP im Bundesrat
({6})
die Mehrheit gefunden; sonst wäre es gescheitert.
Jetzt haben wir dieses Gesetz seit fünf Jahren, und,
Herr Geis, die Bundesrepublik Deutschland ist noch
nicht untergegangen.
({7})
Sie lebt weiterhin und blüht. Es mag sein, dass die eine
oder andere Erwartung nicht so eingetreten ist, wie es
befürchtet oder auch erhofft worden ist, aber das Informationsfreiheitsgesetz, mit dem wir jetzt fünf Jahre lang
Erfahrung haben, ist eine Errungenschaft. Ich bedaure
sehr, dass es in einigen Bundesländern noch nicht existiert.
Dieses Gesetz müssen wir nicht nur verteidigen, Herr
von Notz, sondern wir müssen jetzt auch sozusagen die
nächste Rakete starten.
({8})
Der nächste Schritt muss gemacht werden. Wir brauchen
aber keine beliebigen Verfassungsänderungen, die nicht
durchdacht sind, sondern eine kluge Weiterentwicklung
bestehender Gesetze,
({9})
Herr Wieland, um aus einem exklusiven Informationsverständnis ein inklusives zu machen.
Herr von Notz, das Wissen unserer Regierungen - es
ist ja unglaublich, was in Berlin und Bonn und sogar bei
Ihnen, Herr Stadler, an Wissen angesammelt worden ist ({10})
ist nicht das Wissen von Mandarinen, von Herrschaftstechnikern. Das ist Wissen für das Volk und nicht Wissen
ohne oder gegen das Volk.
({11})
Ich glaube, wir haben heute im digitalen Zeitalter, in
Zeiten des Internets unglaubliche Möglichkeiten, dieses
Wissen an das Volk heranzutragen.
({12})
Wir sollten uns nicht ablenken lassen, lieber Herr von
Notz, von Debatten über Grundgesetzänderungen, sondern wir sollten die praktischen Möglichkeiten, die es
schon heute gibt, endlich ergreifen und weiterentwickeln. Ich glaube, es gibt auf der Ebene der Bundesregierung, auf der Ebene der Landesregierungen, auf der
Ebene vieler Ämter und auf der Ebene der Gemeinden
jede Menge Möglichkeiten. Da und dort werden diese
auch schon genutzt. Ich glaube, dass wir deutlich hinter
den Möglichkeiten zurückbleiben, die es schon heute
gibt.
Davor muss man keine Angst haben. Wir sollten dies
nicht als Bedenkenträger angehen, sondern wir sollten
gemeinsam die Initiative ergreifen, um hier voranzukommen.
({13})
- Stellen Sie mir bitte mehrere Fragen, lieber Herr
Wieland!
Herr Kollege, Sie gestatten also die Zwischenfrage? Bitte schön, Kollege Wieland.
Herr Kollege Dr. Wiefelspütz, Sie haben sich gerade
so furchtbar über das Wort „insbesondere“ ereifert und
gesagt, dieses dürfe man nicht ins Grundgesetz schreiben. Sie haben gesagt, davon würden Sie Frostbeulen bekommen. Wie können Sie mir erklären, dass es in
Art. 13 Abs. 7 unserer Verfassung heißt - dies wurde
von Ihnen mit formuliert, mein lieber Herr Professor -:
… dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der
Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder
zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden.
Hat Ihr Körper da als Warnsignal versagt?
({0})
Zunächst muss ich Ihnen widersprechen: Ich bin kein
Professor, lieber Herr Wieland,
({0})
sondern bestenfalls ein gefühlter Professor.
({1})
Herr Wieland, schlecht bleibt schlecht, selbst wenn ich
unter Umständen an der einen oder anderen Sache beteiligt gewesen sein sollte.
({2})
Das Wort „insbesondere“ gehört nicht ins Grundgesetz,
Herr Wieland.
({3})
Setzen Sie sich bitte.
({4})
Letzten Endes bin ich bei aller Freude über die Debatte ganz ernsthaft der Auffassung, dass wir, Herr von
Notz - das ist mir vielleicht sogar wieder etwas unangenehm -,
({5})
in der Sache ganz nah beieinander sind. Lassen Sie uns
die Sache vorantreiben und nicht Scheindebatten über
schlechte Formulierungen im Grundgesetz führen! Lassen Sie uns unser Grundgesetz lieber vor Verunstaltungen, insbesondere vor Verunstaltungen, schützen!
({6})
Herzlichen Dank für das Zuhören.
({7})
Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist kurz vor Pfingsten, und ich habe soeben ein Wunder erlebt.
({0})
Dass der Kollege Wiefelspütz immer unterhaltsam ist,
würde ich nicht abstreiten. Aber dass ich einmal bei einer Rede von Ihnen, Herr Wiefelspütz, klatschen würde,
weil ich mit Ihnen einer Meinung bin: Wow! Ich finde,
jetzt können wir Pfingsten feiern. Respekt!
({1})
Man muss auch einmal fraktionsübergreifend Zustimmung signalisieren können.
Im Hinblick auf die Fraktion, die den vorliegenden
Gesetzentwurf eingebracht hat, fällt mir das allerdings
schwer. Als ich den ersten Absatz der Problembeschreibung im Gesetzentwurf der Grünen gelesen habe, ist mir
eine Anekdote eingefallen, die ich über die neu in einen
Landtag gewählte Fraktion der Piraten gehört habe.
({2})
Da kam einer der neuen Abgeordneten der Piraten - der
aus Ihrer Sicht sicherlich zu der Spezies kompetenter
Demokraten gehört - voll von berechtigter Wut, wie Sie
es beschreiben, in seinen neuen Ausschuss und forderte
die umgehende Herausgabe der Geheimdokumente. Die
Verwunderung war sehr groß, als er feststellen musste,
dass alle Dokumente, die im Parlament beraten werden,
ganz offiziell im Internet, nämlich auf der Webseite des
Landtages - also nicht etwa bei WikiLeaks oder irgendwo anders, sondern ganz offiziell auf der Homepage
des Landtages -, abrufbar sind und jedem Menschen frei
zur Verfügung stehen.
({3})
Ob daraufhin seine „berechtigte Wut“ verpuffte oder ob
diese Erkenntnis seine Kompetenz als Bürger steigerte,
ist nicht überliefert. Aber das zeigt, dass vieles gar nicht
bekannt ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
über eines muss ich mich schon sehr wundern, nämlich
über Ihr Parlamentsverständnis. Ich muss Sie wirklich
ganz ernsthaft fragen, wie Sie als verantwortungsvolle
Parlamentarier in Ihrer Problembeschreibung darlegen
können, es entstünde berechtigte Wut, wenn gewählte
Volksvertreter über den Kopf der Bürgerinnen und Bürger hinweg intransparente Entscheidungen träfen. Was
ist das eigentlich für ein Verständnis? Auch Sie sitzen
nämlich hier und machen Gesetze. Ich kann das nicht
verstehen. Ich finde, Sie sollten sich noch einmal überlegen, ob das so richtig ist. Selbstverständlich kann man
auch auf der Internetseite des Bundestages - das sage ich
für alle, die uns zuhören und zuschauen -, unter
www.bundestag.de, alle Entscheidungen nachvollziehen.
Von intransparenten Entscheidungen kann man da,
glaube ich, überhaupt nicht sprechen.
({4})
Man sollte meinen, dass auch die Grünen das eigentlich
wissen könnten.
Ich kann dem Kollegen Wiefelspütz insoweit folgen,
als wir, was das Informationsfreiheitsgesetz betrifft, gar
nicht so weit voneinander entfernt sind. Sie haben netterweise darauf hingewiesen, dass wir dieses Vorhaben mit
befördert haben. Wir sind darauf auch sehr stolz. Wir
sind auch sehr stolz darauf, dass wir jetzt, nach fünf Jahren, eine Evaluierung auf den Weg gebracht haben. Ich
glaube, hier kann man sicherlich noch an der einen oder
anderen Stellschraube drehen.
Die Grünen allerdings schüren Ressentiments gegen
den Parlamentarismus.
({5})
Nachdem ich mir genau durchgelesen habe, was Sie in
Ihrem Gesetzentwurf schreiben, muss ich sagen:
({6})
Aus meiner Sicht leisten Sie dem wichtigen und gemeinsamen Anliegen der Stärkung der Informationsfreiheit
eigentlich einen Bärendienst. Sie müssen sich wirklich
fragen lassen, ob das im Sinne der Informationsfreiheit
ist.
({7})
- Ja, gerne, Herr Präsident.
Also, bitte schön.
Vielen Dank. - Frau Kollegin Piltz, auch weil der
Kollege Schulz bei der Beschreibung des erfreulichen
Status quo so intensiv klatscht: Können Sie vielleicht erklären, warum die Bundestagsdokumente, die wir haben,
bei uns eben nicht alle wie im Europäischen Parlament
online zugänglich sind? Warum sagen auch Vertreter Ihrer Fraktion und Ihre Sachverständigen in der EnqueteKommission „Internet und digitale Gesellschaft“ selbstverständlich, dass wir auch im Bereich des Parlamentarismus eine Verbesserung der Transparenz brauchen? Ich
wehre mich stark gegen den Vorwurf, ich würde den Parlamentarismus madig machen. Es geht darum, ihn weiterzubringen und offener zu gestalten. Bisher habe ich es
immer so verstanden, dass das auch die Linie von anderen ist. Sie können aber jetzt gern davon Abstand nehmen und sagen, dass Sie das nicht wünschen und das
nicht wollen.
Herr Kollege von Notz, selbstverständlich ist es das
Anliegen von allen hier, so offen und so transparent wie
möglich mit dem, was wir hier tun, umzugehen. Ich
glaube, hier gibt es überhaupt keinen Streitpunkt.
Sie sagen hier zum einen über sich und den Parlamentarismus: Wir sind nicht transparent. Das ist schon heute
Unsinn. Zum anderen hat das, was Sie mit Ihrem Antrag
beabsichtigen, nur begrenzt mit dem Parlamentarismus
zu tun. Das geht darüber hinaus.
Wenn Sie mögen, können Sie sich setzen. Ich glaube,
dann haben Sie mehr Spaß. Wenn Ihnen meine Antwort
nicht gefällt: Da müssen Sie durch.
Ich glaube, Sie irren auch, wenn Sie meinen, dass es
zur Verwirklichung der Informationsfreiheit einer Änderung des Grundgesetzes bedürfe. Ich habe für den Fall,
dass Sie mir nicht glauben, extra das Grundgesetz mitgebracht. Nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 zweiter Halbsatz des
Grundgesetzes hat jeder das Recht, „sich aus allgemein
zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“.
All denjenigen, die vielleicht nicht jeden Tag so genau ins Grundgesetz schauen, sage ich: Es gibt auch ein
Grundrecht auf Datenschutz. Das ist vom Verfassungsgericht fortentwickelt worden. Es ist nicht so, dass das
alles nicht existent wäre, nur weil es nicht im Grundgesetz steht. Das gibt es alles. Sie erwecken hier einen Eindruck, der am Ende nicht richtig ist. Ich glaube, das hilft
unserem gemeinsamen Anliegen am Ende überhaupt
nicht.
Das Informationsfreiheitsgesetz bestimmt die Zugänglichkeit von Informationen der Verwaltung und
macht diese dadurch zu allgemein zugänglichen Informationen, indem sie nur ausnahmsweise zurückgehalten
werden dürfen. Damit unterliegen sie schon heute dem
bestehenden Grundrecht auf Informationsfreiheit.
Die weitere Frage, ob die im Informationsfreiheitsgesetz bestimmten Ausnahmen zu weit gehen und mithin
den Anspruch der Bürger zu sehr einschränken, ist hier
und heute nicht zu debattieren, auch wenn das heute eine
spannende Debatte wäre.
({0})
Es ist aber falsch, dass sich die im Informationsfreiheitsgesetz normierten Grenzen durch die hier vorgelegte
Grundgesetzänderung verschieben würden. Dazu bedürfte es aus meiner Sicht schlicht einer Änderung des
einfachen Rechts - eines Rechts, dem die Grünen selbst
diese Grenzen auferlegt haben - und nicht einer Änderung der Verfassung. Das möchte ich hier betonen. Wäre
es anders, dann hätten Sie das schon damals in dem von
Herrn Wiefelspütz korrekt beschriebenen Kampf - ich
kann mich gut daran erinnern - gegen die rot-grüne Bundesregierung durchgesetzt.
Sie haben es so gewollt. Wahrscheinlich waren Sie in
der Vorlesung „Grundrechte Teil I“ oder so ähnlich, als
wir das Informationsfreiheitsgesetz auf den Weg gebracht haben.
({1})
- Entschuldigung, das musste sein.
Sie verkennen immer noch den Charakter der Grundrechte. Sie schlagen hier ein Informationszugangsgrundrecht vor, das sich auch auf Private erstreckt, also auf
Unternehmen. Auch gegenüber diesen soll das Grundrecht gelten. Ich weiß, Sie protestieren jetzt. Sie wollen
dieser Problematik begegnen, indem Sie eine Gewährleistungspflicht des Gesetzgebers einführen wollen, also
ein Grundrecht auf eine ganz bestimmte und schon konkret vorgegebene Gesetzgebung nach dem Motto: Umweltschutz ist immer wichtiger. Das funktioniert nicht,
wenn man die Grundrechte kennt. Das kann das Grundgesetz auch nicht leisten. Deshalb sind Sie hier auf einem Holzweg.
Ich will das Thema Status positivus zur Norm machen
nicht vertiefen. Sie wissen das alles. Sie tun so, als ob
dies kein Problem wäre. Selbstverständlich ist das ein
Problem. Auch das Wirtschaftsverständnis der Grünen,
das hinter diesem Vorschlag steckt, finde ich erstaunlich,
denn es ist aus meiner Sicht mit der sozialen Marktwirtschaft unvereinbar. Die Verbraucherinformation ist für
unsere Marktwirtschaft ein zentraler Punkt, das ist unbestritten. Wir waren am Verbraucherinformationsgesetz
beteiligt. Wir hätten es uns vielleicht sogar anders gewünscht, aber nur mündige Verbraucher können ihre
Marktmacht entsprechend ausüben. Mündige Verbraucher sind notwendigerweise informierte Verbraucher.
({2})
Ebenso haben aber Unternehmen in der Marktwirtschaft
selbstverständlich das Recht, ihre Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse vor ihren Mitbewerbern zu bewahren.
Das spiegelt sich auch in der geltenden Rechtslage
wider.
({3})
In den Fällen, in denen bereits Umwelt- oder Gesundheitsgefahren bestehen, geht es bei Verbraucherinformationen gerade nicht um Ansprüche gegen die Unternehmen, sondern um Informationen, die von Behörden
weitergegeben worden sind. Der Gesetzentwurf würde
also bedeuten, dass Umweltschutz und Verbraucherschutz quasi über allen anderen Grundrechten schweben.
Wie eben gesagt: Umweltschutz ist besser als alles andere. Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall
würde gar nicht mehr stattfinden.
Das ist etwas, was wir Liberale, die sich jeden Tag
mit Grundrechten beschäftigen und damit sehr gut auskennen, nicht mitmachen können.
({4})
- Ich weiß, Sie glauben das nicht.
({5})
- Nein, ich will auch keine Professorin sein, niemals
nicht. Das unterscheidet mich von Herrn Wiefelspütz.
Damit bin ich wieder am Anfang. Es ist schön, dass
wir eine gemeinsame Meinung dazu haben. Überlegen
Sie sich gut, ob Sie die Grundrechte so ändern wollen.
Sie sind damit ziemlich alleine im Parlament, und das
ist, ehrlich gesagt, auch gut so.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen möchte das Recht auf Zugang zu öffentlichen Informationen im Grundgesetz verankern. Das ist selbstverständlich zu begrüßen. Eine
informierte und aktive Zivilgesellschaft ist die Voraussetzung für unsere Demokratie, und dazu braucht es
selbstverständlich auch ein Zugangsrecht zu Informationen.
({0})
Man könnte natürlich darüber streiten, ob dies einer
Grundgesetzänderung bedarf und ob nicht auch die Informationsfreiheitsgesetze der Länder und des Bundes
präzisiert werden sollten. Eine Festschreibung dieses
Rechts auch im Grundgesetz ist aber richtig und kann
nicht schaden.
Zu einer aktiven demokratischen Gesellschaft gehört
aber auch und vor allem - da werden Sie mir sicher zustimmen - das Recht, seine Meinung ungehindert ausdrücken zu dürfen. Die Grünen wollen mit ihrem Gesetzentwurf den Art. 5 des Grundgesetzes erweitern. Wie
beginnt dieser Artikel? Er beginnt mit den Worten: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und
Bild frei zu äußern und zu verbreiten“.
Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Ihr Vorstoß ist richtig und wichtig. Es ist richtig, sich um die Erweiterung und Präzisierung unserer Rechte zu kümmern.
Es ist aber ebenso wichtig, für die Einhaltung und
Durchsetzung der Grundrechte zu sorgen. Da erstaunt es
schon, dass die Grünen hier mit dem Gestus einer Vollblutbürgerrechtspartei auftreten. Sie machen sich hier
und heute zwar stark für die Erweiterung des Art. 5 des
Grundgesetzes, letzte Woche in Frankfurt haben Sie sich
aber ganz anders verhalten. Da haben Sie mitgeholfen,
die grundgesetzlich verankerte Meinungsfreiheit einzuschränken.
({1})
- Es war genau so. Danke für den Zwischenruf aus der
Koalition.
({2})
Vergangene Woche wollten sich Menschen in Frankfurt am Main versammeln, um ihre Meinung zu dem
Spardiktat von Troika und Regierung und zu dem undemokratischen EU-Fiskalpakt kundzutun.
({3})
- Ja, ich bin mir sicher, dass ich zum richtigen Tagesordnungspunkt rede. Es geht ja um die Erweiterung des
Art. 5 des Grundgesetzes. Es geht um die Erweiterung
der Meinungsfreiheit, und in diesem Zusammenhang
kann man doch auch über die aktuelle Gewährleistung
dieses Artikels reden und debattieren.
({4})
Es sollten drei aktionsreiche und lebendige Tage in
Frankfurt werden, Tage der direkten und demokratischen
Meinungsäußerung.
({5})
Zelten auf öffentlichen Plätzen, Kundgebungen und
Konzerte an verschiedenen Orten der Stadt und eine Demonstration als Abschluss waren geplant. Schon im Vorfeld hatte die Stadt Frankfurt aber angekündigt, das
Versammlungsrecht massiv einzuschränken, und die
schwarz-grün geführte Stadtregierung hat diese Einschränkung der Meinungsfreiheit wirklich knallhart umgesetzt.
({6})
17 Kundgebungen und Aktionen wurden verboten. Von
den geplanten 73 inhaltlichen Veranstaltungen konnten
lediglich 8 an Ausweichorten stattfinden. Die Innenstadt
wurde abgeriegelt. 5 000 Polizistinnen und Polizisten
waren im Einsatz. Ein derartig umfassendes Demonstrationsverbot hat es in der Geschichte der Bundesrepublik
bisher nicht gegeben.
({7})
- Das ist aber so. - Dass das ausgerechnet von den Grünen in Regierungsverantwortung verordnet und exekutiert wurde, ist ein politischer Skandal, und auch das
müssen Sie sich anhören.
({8})
Ich war von Mittwoch bis Samstag als Beobachterin
in Frankfurt und habe selbst erfahren, wie die Demokratie durch diese Verbotspraxis mit Füßen getreten wurde.
Drei Busse aus Berlin wurden noch auf der Autobahn
zur Rückkehr nach Berlin aufgefordert. Anreisende
Menschen erhielten für drei Tage Platzverweise für die
Stadt Frankfurt, übrigens auch für den Zeitraum der genehmigten Demonstration. Junge Menschen wurden
stundenlang in Polizeikesseln festgehalten. Insgesamt
wurden 1 430 Personen in Gewahrsam genommen. Auch
die Presse - wenn wir über Art. 5 des Grundgesetzes reden, dann reden wir auch über die Gewährleistung der
Pressefreiheit - wurde immer wieder daran gehindert, zu
berichten.
Von den Frankfurter Grünen kam keinerlei Widerstand gegen diese Einschränkungen der Meinungs- und
Versammlungsfreiheit. Stattdessen bezeichnet der Fraktionsvorsitzende Manuel Stock die Verbote als „Verwaltungsakt“.
({9})
Die Durchsetzung von Verboten und Verwaltungsakten,
das ist kein Bürgerrechtsverständnis.
({10})
Die gute Nachricht ist: Trotz aller Verbote lassen sich
Protest und das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht
verbieten. Tausende von Menschen folgten dem Aufruf
des Bündnisses. An der Demonstration am Samstag beteiligten sich knapp 30 000 Menschen. Das war die
größte Demonstration in Frankfurt seit mindestens zehn
Jahren.
Wenn also die Grünen heute nach diesen Vorkommnissen einen Gesetzentwurf zur Erweiterung des Art. 5
Grundgesetz auf freie Meinungsäußerung einbringen,
dann sage ich Ihnen: Sorgen Sie dafür, dass dort, wo Sie
Verantwortung wie in Frankfurt tragen, das Recht auf
Meinungsfreiheit gewährleistet wird.
({11})
Vielen Dank.
({12})
Das Wort zum Tagesordnungspunkt 35 hat jetzt Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, es gibt selten ein Land in Europa
oder vielleicht sogar weltweit, das das Recht auf Meinungsfreiheit in einem solchen Maße achtet, wie das bei
uns der Fall ist, und zwar von der Verwaltung her und
von der Polizei her, aber auch das Recht der Meinungsfreiheit im privaten Bereich. Das sollten Sie hier nicht
anzweifeln. Die Vorfälle von Frankfurt müssen Sie sich
erst einmal genau ansehen.
({0})
Dann werden Sie vielleicht zu dem Schluss kommen ich weiß es nicht -, dass die dort beschlossenen Einschränkungen mit Recht geschehen sind.
({1})
Es gibt kein absolut freies Recht auf Meinungsäußerung. Es geht aber hier im Augenblick nicht so sehr um
die Meinungsfreiheit, sondern um die Informationsfreiheit. Das ist das Anliegen der Grünen. Der Parlamentarische Rat hat in der Tat die Meinungsfreiheit und die Informationsfreiheit in einem Atemzug genannt und sie in
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes niedergeschrieben. Das ist richtig. Das heißt aber nicht, dass die Informationsfreiheit, weil in der öffentlichen Meinung - das
haben wir eben wieder gehört - meistens das Thema
Meinungsfreiheit dominiert, weniger ein Grundrecht
wäre. Beides gehört zusammen. Es ist auch sinnvoll, beides zusammen zu erwähnen, weil man keine Meinung
haben kann, ohne sich vorher informiert haben zu können.
Die Informationsfreiheit gehört zur Meinungsfreiheit
genau so wie die Meinungsfreiheit umgekehrt zur Informationsfreiheit gehört. Trotzdem sind es zwei verschiedene Rechtspositionen. Beide haben einen besonderen
Schutzbereich. Es ist nicht so, dass bei einer Einschränkung der Meinungsfreiheit zugleich auch die Informationsfreiheit einzuschränken ist. Das haben wir in Frankfurt gesehen. Es ist auch so: Wenn die Informationsfreiheit
eingeschränkt wird, wird nicht gleichzeitig die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Beide Rechte stehen nebeneinander. Beide haben einen eigenen Schutzbereich.
Beide können selbstständig bedroht werden.
Nachdem wir diese beiden Rechte im Grundgesetz
bereits verankert haben, und zwar seit Bestehen des
Grundgesetzes, ist die Frage, ob es notwendig ist, das
Recht auf Informationsfreiheit noch einmal eigens in einem neuen Art. 5 Abs. 2 a zu betonen. Dies weisen wir
zurück. Das, glauben wir, ist nicht notwendig. Wir haben
bereits gesetzliche Regelungen, die sich gerade auf
Art. 5 des Grundgesetzes beziehen - sie sind hier genannt worden -, das Recht auf Informationsfreiheit, das
von Rot-Grün geschaffen wurde; das ist richtig. Es gibt
auch entsprechende Rechte in den Ländern.
Es gibt in den verschiedenen Rechtsgebieten bzw. Politikbereichen eigene Informationsrechte, wie im Umweltbereich, wie im Verbraucherschutz. Beispielsweise
ist auch das Stasi-Unterlagen-Gesetz ein solches Informationsfreiheitsgesetz. In vielen anderen Gesetzen, beispielsweise im Verwaltungsverfahrensgesetz, gibt es das
Recht auf Information. Es gibt in der Strafprozessordnung das Recht des Betroffenen auf Information.
Dieses Recht auf Information, das ganz stark neben
dem Recht auf Meinungsfreiheit steht und nicht weniger
geachtet wird, haben wir bereits. Wir glauben nicht, dass
es unbedingt notwendig ist, dieses eine Recht auf Information noch einmal eigens zu betonen.
({2})
Wir meinen sogar, das könnte unter Umständen zu einer
Missdeutung führen. Es könnte vielleicht sogar zu einer
ungewollten Überbetonung des Informationsrechts beispielsweise gegenüber dem Recht auf informationelle
Selbstbestimmung führen, das auch ein Grundrecht ist.
Denn wenn der Einzelne Zugang zu den Akten hat - hier
wird die Transparenz der Verwaltung gefordert - und darin nachlesen kann, dann kommt er auch immer an Daten
der einzelnen Bürger, die ihre Daten der Verwaltung anvertraut haben, in der Hoffnung, dass die Verwaltung
sorgsam mit diesen Daten umgeht.
Wie kann aber die Verwaltung sorgsam mit diesen
Daten, auch wenn es nicht immer ganz persönliche Daten sind, umgehen? Stellen Sie sich zum Beispiel vor,
dass jemand einen Bauplan vorlegt, in dem aufgezeichnet ist, wo er sein Wohnzimmer, sein Schlafzimmer und
seine Küche hat. Was geht das einen Dritten an? Aber
der Dritte hätte dann nach Ihrer Auffassung ein Grundrecht darauf. Es könnte so ausgelegt werden. Der Gesetzgeber könnte es so auslegen, lieber Herr von Notz,
und die Gerichte könnten es so auslegen.
Deshalb glauben wir, dass dadurch die Ermessensfreiheit, die die Verwaltung bisher in der Frage hat, ob dem
einzelnen Bürger ein Akt gezeigt werden kann, eingeschränkt würde. Sie würde durch den Gesetzgeber oder
die Gerichte unter Umständen zu einem Befehl ausgestaltet werden. Wir meinen, dadurch käme ein anderes
Gewicht hinein. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass
die Verwaltung weiter frei entscheiden kann, ob sie dem
Einzelnen Einblick in die Akten gewährt.
Es kommt ein Weiteres hinzu - das möchte ich abschließend erwähnen -: Darin ist unter Umständen auch
ein Eingriff in den Kernbereich der Exekutive zu sehen.
Denn es ist immer die Frage, ob es notwendig ist, einen
bestimmten Verwaltungsvorgang transparent zu machen,
und ob dadurch der Entscheidungsprozess offenbart
wird. Ich halte das nicht unbedingt für notwendig.
Deswegen meinen wir, dass das Grundrecht auf Information, wie es jetzt im Grundgesetz niedergelegt ist,
nicht durch das vorliegende Gesetzesvorhaben geändert
werden muss.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die
politische Absicht der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
die Informationszugangsrechte zu erweitern, ist grundsätzlich begrüßenswert, Herr von Notz, oder um es mit
Professor h. c. Wiefelspütz zu sagen: Es ist gut gemeint.
Herr Wiefelspütz hat aber zum Schluss auch gesagt: Wir
sind in der Sache nicht weit auseinander. Das stimmt.
Denn Meinungsbildung geht nur über Informationsmöglichkeiten und Informationsrechte. Letztlich geht es nur
über Rechte gegenüber dem Staat und vor allen Dingen
auch gegenüber den Kommunen.
Ich gebe Ihnen auch in einem weiteren Punkt recht.
Der Begriff Amtsgeheimnis ist ein Begriff aus vordemokratischer Zeit. Er ist ein Relikt der Vergangenheit. Ich
habe auch gerade mit dem Kollegen Wiefelspütz darüber
gesprochen: Bevor ich Abgeordneter war, habe ich
schon einmal gearbeitet.
({0})
Ich war nämlich Bürgermeister. Insofern weiß ich: In einer modernen Verwaltung gibt es Portale, und moderne
Verwaltungen öffnen sich. Moderne Verwaltungen sind
auch immer Ansprechpartner für ihre Bürger, und sie
verstehen Transparenz in der Praxis.
Die Frage ist nur, Herr von Notz: Brauchen wir über
die bestehenden Gesetze hinaus eine Verfassungsänderung? Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass wir
2005 das sogenannte Informationsfreiheitsgesetz geschaffen haben, das 2006 wirksam geworden ist. Herr
Wiefelspütz hat es schon gesagt: Es war damals gar nicht
so einfach, das politisch durchzusetzen. Es ist auch damals erheblich diskutiert worden, was Transparenz von
Verwaltungs- und Regierungsentscheidungen heißt und
was das in der Praxis bedeutet.
Herr Wiefelspütz hat auch gesagt: Die FDP hat im
Bundesrat ein bisschen geholfen. Aber es gibt immer
noch fünf schwarze Länder. Ich sehe gerade den neuen
PGF, Herrn Grosse-Brömer. Niedersachsen hat, glaube
ich, auch noch kein Landesgesetz erlassen.
({1})
Vielleicht könnten wir dort auch noch ein bisschen mehr
Transparenz schaffen, Herr Grosse-Brömer. Aber mir
leuchtet die Begründung nicht ein, Herr von Notz - darüber habe ich schon mit dem geschätzten Kollegen
Montag diskutiert -, dass, um die Länder zu bewegen,
entsprechende Gesetze zu erlassen, grundgesetzliche
Änderungen vorgenommen werden müssen. Ich glaube,
hier hat der Föderalismus Vorrang. Sie müssen Mehrheiten in den Ländern gewinnen, um das, was Sie wollen,
politisch durchzusetzen.
Bei Grundgesetzänderungen sollte man grundsätzlich
vorsichtig sein. Wir haben in letzter Zeit sowohl im Innenausschuss als auch im Rechtsausschuss oft über die
Verankerung neuer Staatsziele in der Verfassung diskutiert. Nach meiner Meinung führt die Aufnahme zusätzlicher Staatsziele, etwa das des Tierschutzes in Art. 20 a
des Grundgesetzes, eher dazu, dass wichtige Grundrechte wie das Sozialstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 entwertet werden.
Zum Gesetzentwurf noch zwei Anmerkungen - es
ist das eine oder andere ja schon im Detail angemerkt
worden -: Sie wollen ein schrankenloses Informationszugangsgrundrecht gegenüber öffentlichen Stellen gewährleisten. Herr von Notz, wenn Sie sich die Verwaltungspraxis anschauen - darauf hat Herr Geis eben auch
verwiesen -, dann stellen Sie fest, dass es manchmal
wirklich gute Gründe gibt, die rechtfertigen, Vertraulichkeit zu wahren und bestimmte Informationen aus dem
öffentlichen Bereich und insbesondere aus dem kommunalen Bereich nicht schrankenlos nach außen zu geben.
Wenn Ihr Vorschlag Gesetz würde, gäbe es ein aus dem
Grundgesetz abgeleitetes schrankenloses subjektiv-öffentliches Informationszugangsrecht. Das könnte man
jedoch meiner Meinung nach nicht gewährleisten.
Des Weiteren wird vorgeschlagen, ein verfassungsrechtlich determiniertes Recht auf Information gegenüber Privaten zu gewährleisten. Es wurde, aus meiner
Sicht jedenfalls zu Recht, schon darauf hingewiesen,
was passieren würde, wenn es ein solches Recht gäbe.
Letztlich gelten Rechte aus Art. 12 und Art. 14 des
Grundgesetzes für Private oder Dritte. Insofern gäbe es
eine Schranke. Aus meiner Sicht liefe auch diese zweite
Konstellation in der Praxis weitgehend ins Leere.
Man sollte sich eher bemühen, sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene Mehrheiten zu gewinnen, um die Rechte auf einfachgesetzlicher Grundlage,
zum Beispiel im Rahmen des Verbraucherinformationsgesetzes, zu erweitern. Genauso wie gegenüber der Einführung von neuen Staatszielen sollte man gerade auch
hinsichtlich subjektiv-öffentlicher Rechte Vorsicht walten lassen und das Grundgesetz nur ausnahmsweise ändern. Ich glaube, hier sollte man politisch eher das Augenmerk auf die Erweiterung von Spezialgesetzen legen.
Auf dieser Ebene sollten die Rechte der Bürger gegenüber staatlichen und insbesondere kommunalen Institutionen erweitert werden.
Danke schön.
({2})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Kollegen Patrick Sensburg das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Gleich zu Beginn eine Anregung an
die Adresse der Fraktion Die Linke: Da Sie, Frau Kollegin Gohlke, in Ihrer kämpferischen Rede den letzten Tagesordnungspunkt schon vorgezogen haben und ich
nicht erwarten kann, dass die Kollegen Buchholz und
Maurer dezidiert Tiefgründigeres liefern: Überlegen Sie
doch einmal, ob es nicht möglich ist, die Aktuelle Stunde
abzusetzen. Schließlich haben Sie schon alles gesagt,
was man von Ihnen erwarten kann.
({0})
Zur Sache. Beim Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die
Grünen ist mir zuallererst das Gleiche aufgefallen wie
der Kollegin Piltz.
({1})
Als ich den Gesetzentwurf und insbesondere die Problembeschreibung gelesen hatte, habe ich zuerst gedacht: Was haben Sie bloß für ein Bild von der Tätigkeit
eines Abgeordneten und des demokratischen Alltags der
Politik in Deutschland! Als ob die Politik nur aus Filz,
Kumpanei, Regieren über die Köpfe der Menschen hinweg und Korruption bestünde!
({2})
- Wer hat da „sehr richtig“ gesagt? Liebe Damen und
Herren von der Linken, da sagen Sie „sehr richtig“? Das
ist das Bild, das man von der Politik in Deutschland malen sollte? Es ist extrem erschreckend, was Sie gerade
machen. Ich glaube auch nicht, dass Kollege von Notz
das so meint.
({3})
Ich möchte nur, dass der Antrag nicht falsch verstanden
wird. Aber Sie scheinen es wirklich so zu meinen. Sie
sollten Ihr Politikverständnis einmal überdenken.
({4})
Es ist eben nicht so, dass die vielen Kreistagsmitglieder und die vielen Ratsmitglieder, die sich ehrenamtlich
in der Kommunalpolitik engagieren, oder auch die Mitglieder in den Landtagen und im Bundestag diesem Bild
entsprechen. Nein, es ist anders. Die Kollegen vom
Bündnis 90/Die Grünen leisten exzellente Arbeit; das
tun sie ganz offen und ganz transparent. So ist es auch
bei den anderen Fraktionen, anscheinend mit Ausnahme
der Linken. Daher liefert die Begründung zur Einleitung
doch ein etwas falsches Bild.
In der Sache ist der Gesetzentwurf genauso erschreckend, nämlich erschreckend bezüglich der Unkenntnis
der Bürgerrechte. Wenn man einmal genauer hinschaut,
fragt man sich unwillkürlich: Wissen Sie es nicht besser,
oder wollen Sie die Bürger für dumm verkaufen? Sie
schreiben in Ihrer Begründung - ich zitiere -:
Denn bei der im Einzelfall zu treffenden Abwägung
steht regelmäßig ein grundrechtlich geschütztes Interesse … dem einfachgesetzlichen Informationsanspruch der Bürgerinnen und Bürger gegenüber.
Sie zitierten dazu eben den Kollegen Kloepfer und behaupteten, er habe gesagt, dieses grundrechtlich geschützte Interesse überwiege.
Erstens hat Kloepfer das gar nicht gesagt. Ich empfehle Ihnen zur Lektüre das Handbuch des Staatsrechts
von Kloepfer. Im zweiten Band aus dem Jahre 2010 steht
eindeutig, dass man eine Einzelabwägung im konkreten
Fall vornehmen muss. Nur dann kann man schauen, welches Recht überwiegt. Nicht Normenhierarchie, Grundrecht über einfachem Gesetz. Das ist völlig falsch.
({5})
Zweitens muss man ganz deutlich sagen: Es geht um
individuelle Rechte, auf der einen Seite vielleicht die
eines Unternehmers, auf der anderen Seite vielleicht desjenigen, der einen Anspruch auf Umweltinformationen
geltend machen will. Da müssen Sie genau hinschauen,
welches Recht überwiegt.
({6})
Dabei geht es nicht um die Frage, ob es ein Recht aus
Art. 12 oder Art. 14 ist, oder ob es sich um Umweltrechte handelt. Hier muss eine Einzelfallabwägung vorgenommen werden.
({7})
Deswegen ist die Begründung Ihres Antrags in sich nicht
stimmig.
({8})
Einen absoluten Bruch - auch das haben wir eben
schon gesehen - stellt Ihr Formulierungsvorschlag für
Art. 5 Abs. 2 a dar: Hier fordern Sie einmal einen
Grundrechtsanspruch gegenüber öffentlichen Einrichtungen und dann einen bundesgesetzlich ausgestalteten
Anspruch gegenüber Privaten. Das ist ein Bruch in sich:
Einmal wollen Sie es einfachgesetzlich ausgestaltet haben; zugleich sagen Sie, dass wegen der Normenhierarchie eine einzelgesetzliche Regelung nicht ausreicht. Sie
widersprechen sich also in einem Absatz selber. Das
zeigt im Grunde, dass Sie rein darauf aus sind, ideologische Gräben aufzureißen.
({9})
Schauen Sie doch einmal - Frau Piltz hat es schon gesagt - in das Grundgesetz. Wir haben die grundgesetzliche Ausgestaltung im Art. 5. Wir haben das Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung. Wir haben die
Verbindung von Art. 5 und dem Demokratie- und
Rechtsstaatsprinzip.
({10})
All das haben wir. Durch Ihre Regelung, gemäß der aus
dem Grundgesetz einfache Ansprüche abgeleitet werden
sollen, würden Sie das Grundgesetz im Grunde zu einem
Verwaltungsverfahrensgesetz degradieren.
({11})
Das ist nicht angezeigt.
Ich empfehle Ihnen - da komme ich auf das zurück,
was auch der Kollege Wiefelspütz angesprochen hat, der
eine Rakete starten wollte - in Nordrhein-Westfalen, wo
SPD und Grüne demnächst wieder regieren wollen,
({12})
doch einmal das zu machen, was wir von CDU und FDP
in der Legislaturperiode, in der wir regiert haben, beschlossen haben. Wir haben uns die einfachgesetzliche
Situation angeschaut:
({13})
Circa 50 einfachgesetzlich ausgestaltete Informationsansprüche haben wir in NRW in den verschiedensten Gesetzen ausgemacht: Straßenwegegesetz, Gesetz über den
Zugang zu digitalen Geodaten, Bodenschutzgesetz, Gemeindeordnung, IFG. Wir haben dann ein Projekt auf
den Weg gebracht und gesagt: All das könnte man in einem Gesetz, in einem allgemeinen Informationsgesetz,
bündeln. Das war der Vorschlag, den wir erarbeitet haben. Ich empfehle Ihnen das aktuelle Heft des Verwaltungsarchivs. Da habe ich mit zwei Kollegen, die das
Projekt durchgeführt haben, genau dieses Thema beschrieben.
({14})
- So ein Heftchen kostet gar nicht so viel.
({15})
Wenn Sie es ernst meinen würden, dann würden Sie
die Sache da anpacken, wo Sie regieren. Dann würden
Sie die Informationsrechte dort so ausgestalten, dass die
Bürger sie in einem Gesetz finden. Dann würden Sie
nicht fordern, das Grundgesetz zu ändern, sondern das
machen, was den Menschen etwas bringt, nämlich einen
zentralen Anspruch für alle Informationsrechte. Sie aber
handeln doppelzüngig: Wenn Sie in der Opposition sind,
dann fordern Sie, aber wenn Sie an der Regierung sind,
machen Sie nichts. Wir können Ihrem Gesetzentwurf
deshalb mit Sicherheit nicht zustimmen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Wenn Sie dann auch
noch das Heft kaufen, bin ich noch glücklicher.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9724 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die
Federführung beim Innenausschuss liegen soll. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Demonstrationsfreiheit sichern - Occupy-Proteste nicht kriminalisieren
Ich eröffne die Aussprache und erteile Christine
Buchholz für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
schwarz-grüne Magistrat der Stadt Frankfurt und das
Land Hessen haben Frankfurt zur verbotenen Stadt gemacht.
({0})
Sie haben die europaweiten Aktionstage des Bündnisses
„Blockupy Frankfurt“ über vier Tage untersagt. Doch
die Demonstranten haben sich das Recht auf Versammlungsfreiheit nicht nehmen lassen.
({1})
Frankfurt hat einen bunten und friedlichen Protest gegen
Kapitalismus und Bankenmacht erlebt. Von den Demonstranten ging keine Gefahr aus.
5 000 Polizisten, teilweise in martialischem Aufzug,
haben die Innenstadt abgeriegelt und somit effektiv das
Bankenviertel blockiert. Ich selbst war die ganze Zeit
anwesend, also auch am 17. Mai auf dem historischen
Paulsplatz.
({2})
Dort hatte das Komitee für Grundrechte und Demokratie
aus Protest gegen das Demonstrationsverbot eine Kundgebung für Versammlungsfreiheit angemeldet, die ebenfalls verboten wurde.
Mein Dank gilt den Demonstrantinnen und Demonstranten auf dem Paulsplatz, die trotzdem gekommen
sind und Versammlungsfreiheit über mehrere Stunden
im Kessel der Polizei verteidigt haben.
({3})
Ihr Einsatz war entscheidend dafür, dass die Tage so erfolgreich und friedlich verlaufen sind.
Die Polizei hat insgesamt 1 430 Menschen in Gewahrsam genommen - nur weil sie sich versammelt haben.
({4})
Mehreren Hundert Menschen hat die Polizei die Einreise
nach Frankfurt versagt. Diese Platzverweise hat die Polizei auch dann noch ausgesprochen, als sie vom Gericht
als unrechtmäßig eingestuft wurden. In einem Polizeibericht steht als Grund der Festnahme: „Antikapitalismus“.
({5})
Wo bleibt hier die Meinungsfreiheit?
({6})
Es ist die bittere Ironie der Geschichte, dass Boris
Rhein, der heutige hessische Innenminister, mit dem
hohen Stellenwert des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit 2007 den polizeilichen Großeinsatz zum Schutz
einer Nazidemonstration mit 1 500 gewalttätigen Neonazis gerechtfertigt hat. Das ist Versammlungsfreiheit,
wie sie die hessische CDU versteht.
({7})
Folgenden Bericht einer 60-jährigen Stuttgarterin
habe ich erhalten:
Wir nahmen trotz Verbot das Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch. … Unsere Gruppe
wurde umgehend von Polizeitrupps flankiert, besprungen,
({8})
gestoppt, gekesselt, abtransportiert ins Polizeipräsidium, dort erst mal im Käfig gehalten, dann wiederholte zähe, schwerfällige Personalienkontrolle,
danach der Höhepunkt der Demütigung: Nacktkontrolle mit der Drohung: „Wenn Sie sich nicht selbst
ausziehen, tun wir das für Sie“. Von der Käfighaltung bis zur Entlassung vergingen circa 4,5 Stunden.
Auch ich habe selbst mehrfach Provokationen von
Polizisten erlebt. Es ist ein Hohn, wenn die Oberbürgermeisterin Roth den Polizeieinsatz im Nachhinein als
„besonnen“ rechtfertigt. Die Einzigen, die an diesen Tagen wirklich besonnen waren, waren die Demonstranten,
die auf diese Provokationen nicht reagiert haben.
({9})
Das Demonstrationsverbot war rein politisch motiviert. Der Protest gegen das Spardiktat der Troika wurde
bewusst diffamiert und kriminalisiert. Ich frage Sie: Warum haben Sie so viel Angst vor den Protesten im Frankfurter Bankenviertel? Weil die Kritik der Demonstranten
ins Schwarze trifft. Weil Sie eine Politik für das reichste
Prozent der Bevölkerung machen. Weil Sie die Profite
der Banken und Konzerne sichern und mit dem Fiskalpakt einen europaweiten Sozialkahlschlag erzwingen
wollen. Ihre Sparauflagen sind Verarmungsprogramme
für die arbeitende Bevölkerung in Europa. Sie haben
Angst, dass diese sich gegen Ihre Politik wehrt.
({10})
Um das zu verhindern, hebeln Sie demokratische Rechte
aus. Das ist ein Skandal.
({11})
- Sie zum Beispiel. Die Regierung.
({12})
Da machen wir nicht mit. Die Unterstützung, die wir von
der Bevölkerung in Frankfurt erfahren haben zeigt, dass
wir damit nicht alleine stehen.
Wir fordern die rückhaltlose Aufklärung über die
Polizeiübergriffe in Frankfurt, und wir unterstützen das
Bündnis „Blockupy Frankfurt“ in seiner Klage gegen
das Versammlungsverbot.
({13})
Wir versprechen Ihnen: Wir kommen wieder.
({14})
Die Linke ist die einzige im Bundestag vertretene
Partei, die an den Protesten von Anfang an beteiligt war.
Ich sage: Ich hätte mir gewünscht, dass sich Grüne und
SPD stärker in diesen Prozess eingebracht hätten.
({15})
Wir stehen mit unserem Protest an der Seite der Griechinnen und Griechen, die den Angriff auf ihre Lebensgrundlagen ablehnen. Ich weiß, wovon ich rede. Ich war
gerade in Griechenland
({16})
und habe die Angst und die Wut der Menschen gespürt,
die wissen, dass dann, wenn nicht eine linke Antwort
kommt, eine Regierung an die Macht kommt, die bereits
im Juni 12 Milliarden Euro bei den Renten und im Gesundheitsbereich kürzen wird - und das, obwohl schon
jetzt nicht genug Spritzen und Handschuhe da sind, um
alle lebensnotwendigen Operationen durchführen zu
können.
Ihre Freiheit ist nicht die Demonstrationsfreiheit, sondern die Freiheit der Banken.
({17})
Wir stehen für ein Europa von unten - gegen ein Europa
der Banken und Konzerne! Und das können Sie uns
nicht verbieten.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Buchholz, wo leben Sie eigentlich? Sie
sind Realitätsverweigerin.
({0})
Die Stadt Frankfurt am Main und alle Gerichte haben
die Demonstrationsfreiheit gesichert. Es gab eine Großveranstaltung am 19. Mai im Frankfurter Bankenviertel.
({1})
Das ermöglichte fast 20 000 Menschen - 20 000 Menschen! -, quer durch die Stadt zu demonstrieren.
({2})
- Nein, das wurde genehmigt, auch von der Stadt Frankfurt.
({3})
Eine Dauerblockade der gesamten Frankfurter Innenstadt über vier ganze Tage war nicht zu verantworten.
Das wäre zudem, wie deutlich wurde, rechtswidrig gewesen. Alle Sicherheitsaspekte, aber natürlich auch die
Grundrechte der in diesem Bereich lebenden und arbeitenden Menschen waren gute Gründe für dieses Verbot.
Für die Feuerwehren und für die Rettungswagen wäre
überhaupt kein Durchkommen mehr gewesen, wenn
man all das zugelassen hätte, was angemeldet worden
ist.
({4})
Man muss wissen: Blockupy hatte dazu aufgerufen, als
Blockadehilfsmittel - das hören Sie sich einmal an! Krankenhausbetten auf die Straße zu stellen,
({5})
Einkaufswagen,
({6})
Leitern, Schlauchboote, Einrichtungsgegenstände und
Transparente mitzubringen,
({7})
um ein Durchkommen völlig unmöglich zu machen. Es
wurde dazu aufgerufen, das Polizeiaufgebot durch die
Masse der Demonstranten zu „fluten“.
({8})
Die Gerichte haben dazu festgestellt:
Selbst wenn solche gezielten Blockaden noch unter
den Schutz der Versammlungsfreiheit fallen sollten,
weil sie nur „demonstrativ“ gemeint seien und nicht
mit Gewalttätigkeiten einhergingen, seien sie jedenfalls deswegen rechtswidrig, weil den damit verbundenen Grundrechtsbeeinträchtigungen der in
diesem Bereich wohnenden Frankfurter Bürger …
und der Vielzahl der sonst von derartigen Aktionen
Betroffenen … größeres Gewicht
einzuräumen ist. Blockupy ist nicht allein auf der Welt.
Es gibt auch noch andere Menschen.
({9})
Zudem war bekannt, dass Gruppierungen mobilisiert
hatten - da sind Sie aktiv, die Hauptinitiatoren -,
({10})
die bereits am 31. März 2012 in Frankfurt am Main für
höchst gewalttätige Ausschreitungen verantwortlich waren.
({11})
Das Gericht und die Stadt Frankfurt sahen in diesen Aktionen mit gutem Grund am Ende eine massive Störung
der öffentlichen Sicherheit
({12})
und bewerteten sie als Straftaten, zumindest aber als
strafbare Nötigung der davon betroffenen Bürger.
Paramilitärische Vokabeln der Blockupy-Aufrufe
- Sie haben die Vokabeln selber gewählt - wie „Belagerung“, „Besetzung“, „Eroberung“, „Verpfropfen von Zufahrtswegen“, „Wegspülen von Polizeikräften“ haben
ganz ungeniert Gewaltbereitschaft signalisiert und angekündigt.
({13})
- Es war zu lesen im Internet, in Aufrufen, in Flugblättern. - Die Organisatoren der Aktion - das finde ich bedenklich - reklamierten für sich ein schrankenloses
Selbstbestimmungsrecht, auch mit illegalen Aktionen
zulasten anderer. Eine Originalaussage lautete: „Unsere
Aktionsplanung ist nicht abhängig davon, ob Gerichte
meinen, dass wir das dürfen oder nicht. Rechte leben davon, dass man sie sich nimmt.“ - Wir leben hier doch
nicht im Wilden Westen!
({14})
Wir leben in einem Rechtsstaat. Da kann sich nicht jeder
nehmen, was er gerade möchte.
({15})
Diese Aussage spricht Bände. Sie haben ein feines
Rechtsverständnis, wenn Sie darauf beharren.
({16})
Blockupy reklamiert für sich einen ganz eigenen
rechtsfreien Raum als persönliches Recht.
({17})
Gesetze lassen Sie nicht gelten.
Deshalb ist für die Beurteilung der Aktionen, wie der
Hessische Verwaltungsgerichtshof ja feststellte, von Bedeutung, dass die Organisatoren der Blockupy-Frankfurt-Tage offenbar gar nicht daran denken, sich an gerichtlich bestätigte Versammlungsverbote zu halten. Die
Linkspartei war federführende Antragstellerin für dieses
Aktionsbündnis. Aber selbstverständlich waren viele
einschlägig bekannte Gewaltgruppen dabei.
Mich erschreckt die Tatsache, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Sozialdemokraten - das will ich ganz
offen sagen -,
({18})
dass sich die Jungsozialisten an die Seite dieser rechtswidrigen Aktionen gestellt haben.
({19})
Die Jungsozialisten haben sich damit ganz offen mit dem
gewalttätigen Aktionsbündnis solidarisiert.
({20})
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben damit
ein Problem mit einer Scharnierfunktion in den Linksextremismus. Darüber sollten Sie schon einmal nachdenken.
({21})
Ein Wort zu den Banken: Wir sind in einer schwierigen Situation, was die Schuldenkrise angeht. Ich kann
nur eines sagen: Ein Mensch, der keine Schulden macht,
eine Stadt, die keine Schulden macht, ein Land, das
keine Schulden macht - über all die hat die Bank keine
Macht. Wenn alle Schulden machen, dann geben wir den
Banken Macht in die Hand.
({22})
Deshalb ist es richtig, eine Schuldenbremse einzuziehen
und künftig keine Schulden mehr zu machen.
({23})
Der Kollege Rüdiger Veit hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal an Ihre Adresse, Frau Buchholz: Es
gibt durchaus einige Sozialdemokraten, die sich mit dem
Kernanliegen der Occupy-Bewegung identifizieren
könnten und womöglich an der Demonstration hätten
teilnehmen können.
({0})
- Ist ja in Ordnung. Ich persönlich wollte Ihnen gerade
sagen, warum ich nicht dort war: Zur gleichen Zeit fand
in Berlin ein Familienfest statt. Ansonsten hätte ich inhaltlich keine Probleme gehabt, an einer Demonstration
teilzunehmen.
({1})
Kollegin Steinbach muss ich allerdings in einigen
Punkten widersprechen. Zunächst einmal ist es schön,
dass Sie sich um unsere Jusos in Frankfurt Gedanken
machen.
({2})
- Das tun wir manchmal auch, vielleicht aus anderen
Gründen. - In diesem Punkt kann ich es aber nicht beanstanden, wenn sie sich mit den Inhalten und den Zielen
der Demonstration identifizieren und sich mit anderen
Sozialdemokraten gegebenenfalls daran beteiligt haben - ganz im Gegenteil.
Um es einmal überspitzt zu formulieren: Es waren
Ihre Parteifreundinnen und -freunde, Frau Kollegin
Steinbach - der hessische Innenminister Rhein, die
Oberbürgermeisterin Roth und der Ordnungsdezernent
Frank -, die die Stadt Frankfurt und damit auch das Land
Hessen in, wie ich finde, ziemlich unerträglicher Weise
in ihrem Image geschädigt und ihren Ruf ausgesprochen
blamiert haben.
({3})
Frankfurt bezeichnet sich gerne als die Hauptstadt des
europäischen Kapitals. Deswegen waren die OccupyAktivisten durchaus an der richtigen Adresse. Wo anders
als im Bankenviertel hätte man gegen das, was vielleicht
nicht alle hier im Hause, aber einige Sozialdemokraten
und auch andere beklagen, demonstrieren sollen, wo
sonst hätte man die Verursacher der Finanzkrise in die
Verantwortung nehmen sollen und dafür kämpfen sollen,
dass diejenigen nicht davonkommen, die die Finanz- und
Euro-Krise mit verursacht haben bzw. mit falschen Mitteln bekämpfen wollen? Aber diese Diskussion würde
jetzt hier im Plenum zu weit führen.
Es verhielt sich vielmehr umgekehrt: Die, gegen die
demonstriert werden sollte, waren diejenigen, die es
nicht ausgehalten haben; man könnte fast sagen: Das
große Kapital hatte große Angst
({4})
vor Krankenhausbetten und Einkaufswagen. Man glaubt
es kaum!
Frau Kollegin Steinbach, Ihre Ausführungen haben
mich nicht überzeugt. Denn ich meine, man muss nach
vier Tagen der Blockupy-Aktivität bzw. Nichtaktivität,
weil viele Aktionen nicht stattfinden konnten, sagen:
Das Bündnis der Demonstranten, die friedlich waren, hat
gewonnen, die Stadt, ein Stück weit auch das Land Hessen haben sich blamiert. Ich bleibe dabei.
({5})
Ich habe jetzt keine große Lust - das wird vielleicht
ein Kollege von mir noch machen -, Ausführungen dazu
zu machen, warum die rechtliche Erwägung seitens der
Stadt, seitens des Verwaltungsgerichts Frankfurt und seitens des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vielleicht
richtig gewesen sein könnte, dass man eine dreitägige,
dauerhafte Blockade mit vielen Tausend Menschen innerhalb eines Innenstadtkerns selbst bei Beachtung des
Rechts der Versammlungsfreiheit und der Meinungsäußerung kritisch sehen muss, wenn es um die Frage
geht, ob dadurch andere Grundrechtsträger hätten beeinträchtigt werden können.
({6})
Es ist doch eines festzuhalten - das ist das Blamable -:
Frankfurt wollte das Ganze völlig plattmachen. Erst das
Verwaltungsgericht Frankfurt und der Hessische Verwaltungsgerichtshof mussten entscheiden: Die Demonstration jedenfalls darf stattfinden. Es war die Stadt, die im
Übrigen gegen den entsprechenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Frankfurt dann auch noch in die zweite
Instanz gegangen ist, um es dort verbieten zu lassen.
Deswegen ist es richtig, wenn ich vorhin gesagt habe:
Die Stadt hat sich blamiert; das Bündnis und die Idee,
die es vertreten hat, haben im Grunde genommen gewonnen.
({7})
Ich sprach von der Angst. Da würde ich gerne mit einem Zitat aus der FAZ schließen:
Solch große Angst kann nur einem schlechten Gewissen entspringen. Man denkt an die hübsche Maxime von Georges Pompidou, nach der eine Revolution dann gesiegt hat, wenn sich die Idee ihrer
Unvermeidlichkeit in den Köpfen ihrer Gegner festgesetzt hat. Und wenn eine ganze Stadt, eine ganze
Branche sich aus lauter Angst tot stellt, so sieht das
schon sehr eingeschüchtert aus.
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Stefan Ruppert.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Gewährung der Versammlungsfreiheit und
der Demonstration derer, die genau gegen das demonstrieren, was man vielleicht selbst für richtig und wichtig
erachtet, beweist oft ein wirklich liberales Grundrechtsverständnis. Insofern war ich durchaus erleichtert, als ich
gelesen habe - ich kann es nicht beurteilen -, dass die
Hauptdemonstration von Occupy weitgehend friedlich
verlaufen ist.
({0})
Auf der anderen Seite sind Sie es sehr häufig, die
dann, wenn Menschen demonstrieren, die nicht Ihrer
Meinung und auch nicht unserer Meinung sind - Menschen von pro NRW und anderen Gruppierungen -, danach rufen, ebendiese Versammlungsfreiheit einzuschränken.
({1})
Glauben Sie mir: Bei all diesen Demonstrationen beschleicht mich oft das Gefühl, dass die Demonstranten
genau das Gegenteil dessen sagen, was ich persönlich
denke, und trotzdem setze ich mich dafür ein, dass die
Demonstrationsfreiheit und die Versammlungsfreiheit
geschützt werden.
Nur, im Fall von Occupy gingen die Dinge etwas weiter. Glauben Sie mir: Beim Bundesverfassungsgericht
gibt es seit vielen Jahren eine gefestigte Rechtsprechung,
die sich regelmäßig pro Versammlungsfreiheit ausspricht. Ich habe schon ein Zutrauen in unsere Gerichte,
dass das Verbot einer Versammlung, das hier ausgesprochen und von allen Instanzen bestätigt worden ist - auch
vor dem Bundesverfassungsgericht hatte das Verbot Bestand -, nicht einer Willkür entsprang, sondern sehr
wohl begründet war.
({2})
Sie tun ja so, als ob Sie einzelne schwer vermögende
Banker sozusagen daran gehindert hätten, ihren vermeintlichen „Untaten“ nachzugehen.
({3})
Nein, dieses Bündnis hatte zum Ziel, Teile der gesamten
Stadt sozusagen in Geiselhaft zu nehmen.
({4})
Ich weiß, wovon ich spreche: Ich wohne da und wollte
an dem Tag mit dem Zug nach Karlsruhe bzw. Mannheim fahren. Das war nicht zielgenau, sondern das wäre
eine Zumutung für viele Bürger dieser Stadt gewesen,
wenn Sie die Dinge hätten so durchziehen können, wie
das damals intendiert war.
({5})
Grundsätzlich halte ich es für gut, dass eine Demonstration stattgefunden hat, wenn ich auch deren Inhalte
nicht teile. Ich bin aber zugleich froh, dass es nicht möglich war, die gesamte Stadt Frankfurt und all diejenigen
sozusagen in Geiselhaft zu nehmen, die überhaupt nichts
mit den Banken zu tun haben, nämlich Menschen, die
einfach nur dort leben und ihrer Arbeit nachgehen.
({6})
Insofern war das Ganze absolut verhältnismäßig.
({7})
Ich will jetzt nicht zu sehr ins Parteipolitische abgleiten, möchte aber Folgendes feststellen: Sie haben zu dieser Frage eine ganz klare Meinung, ebenso wie CDU/
CSU und FDP. Diese Meinungen sind diametral entgegengesetzt. Ganz interessant in diesem Zusammenhang
ist die Haltung der Frankfurter Grünen dazu. Auf der einen Seite bilden sie mit den Magistrat - wobei der Ordnungsdezernent nur ein Teil der ganzen Veranstaltung ist
- und tragen somit politische Verantwortung für diese
Stadt, auf der anderen Seite kritisieren sie in der Person
des Fraktionsvorsitzenden vehement, dass so viel unter21770
sagt worden ist. Ich bewundere oft diese Taktik der Grünen, sowohl für das eine als auch für das andere zu sein.
Als überzeugter Demokrat jedoch müsste man sich irgendwann doch einmal für eine Meinung entscheiden.
Dafür kann ich nur plädieren.
({8})
Sie haben das auch bei der Frankfurter Oberbürgermeisterwahl sehr geschickt gemacht - hier könnte man
in eine genauere Exegese gehen -, indem Sie nämlich so
getan haben, als ob Sie eigentlich für die Veranstaltung
seien,
({9})
dann aber daran mitgewirkt haben, diese Veranstaltung
zu verbieten.
Am Ende bleibt: Wir müssen auch die Versammlungen aushalten, die uns von den Inhalten her nicht gefallen. Das tun wir. Wir müssen uns aber nicht gefallen lassen, dass eine Versammlung eine gesamte Stadt in
Geiselhaft nimmt. Das ist in Frankfurt zum Glück unterblieben. Dafür bin ich ausgesprochen dankbar.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist
alles nett, was hier gesagt wird. Ja, ich bin demonstrationserfahren und auch schon ein paar Jahre älter als die
Kollegin Gohlke, die vorhin geredet hat und meinte, das
sei das erste Totalverbot für eine Demonstration in einer
Stadt gewesen. Das war es beileibe nicht. Ich habe das in
Berlin-West erlebt, ich habe das in Dortmund und in vielen anderen Orten erlebt.
({0})
- Lassen Sie mich das doch klarstellen. Ich muss auch
sagen: Wenn ich Sie hier so sitzen sehe, dann sehe ich all
diejenigen, denen in dieser Woche Oskar Lafontaine abhanden gekommen ist.
({1})
Das ist ein richtiger Ausschnitt aus der Fraktion der
Linkspartei. So waren auch Ihre bisherigen Redebeiträge.
({2})
Ich habe mich wirklich gefragt: Was soll denn diese
Debatte am Freitag vor Pfingsten um 16 Uhr? Das ist
eine Debatte, die eigentlich in die Stadtverordnetenversammlung von Frankfurt am Main oder in den Hessischen Landtag gehört, aber wahrlich nicht in den Bundestag.
({3})
- Liebe Freundinnen und Freunde, ich genieße ja diesen
Agit-Prop-Auftritt, also weiter so. Aber einige Wahrheiten wird man doch sagen dürfen.
Wir finden die Ziele der Occupy-Bewegung sogar
richtig. Solange die Finanzmärkte die Politik bestimmen
und nicht die Politik die Finanzmärkte, gibt es Handlungsbedarf und Grund für Proteste. Aber man muss
doch auch berücksichtigen, dass diese Proteste in Frankfurt am Main schon seit Monaten stattfinden. Dort gibt
es ein Camp in der Taunusanlage, in das die Banker sogar hineingegangen sind. Ich selber habe mir das schon
im November vergangenen Jahres angesehen. Sie verweisen jetzt so gerne auf den schwarz-grünen Magistrat
in Frankfurt. Als hier in Berlin noch Rot-Rot regierte,
wurde ein solches Camp nicht einen Tag lang vom Senat
geduldet.
({4})
Es musste auf Privatgelände gezeltet werden. In Frankfurt hingegen darf jetzt wieder in der Taunusanlage kampiert werden, auch weil sich die Grünen dafür eingesetzt
haben. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
Wir sind uns alle einig: Art. 8 des Grundgesetzes ist
ein essenzielles Grundrecht. Insbesondere wir als Parlament müssen es zu schätzen wissen. Adolf Arndt hat es
einmal als Stachel im Fleisch der repräsentativen Demokratie bezeichnet. Wir respektieren es. Ich stelle fest,
dass Frau Steinbach in diesem Zusammenhang recht hat.
({5})
- Ja, sie kann auch einmal recht haben.
({6})
- Lieber Kollege Wiefelspütz, Sie haben fast jeden Tag
recht und Frau Steinbach einmal im Jahr.
({7})
In dieser Relation werden wir uns doch näherkommen
können.
Das Recht, eine ganze Innenstadt lahmzulegen, wie es
in den Aufrufen stand, ist aus Art. 8 nicht abzuleiten, da
beißt die Maus keinen Faden ab.
({8})
Lieber Herr Kollege Veit, wenn es um Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs oder des Bundesverfassungsgerichts geht, bin ich als Teil der Legislative etwas
zurückhaltend und sage nicht: Das sind falsche Urteile,
das hätten sie anders machen müssen.
({9})
Wir hätten uns gemäß der Brokdorf-Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts wirklich ein anderes Verhältnis zwischen Veranstaltern und Versammlungsbehörde
gewünscht. Wir hätten uns Abrüstung gewünscht, keine
Paranoia, keine Banker in Kapuzenpulli etc., sondern ein
differenziertes Vorgehen.
({10})
- Lieber Kollege Ruppert, was Sie hier alles sagen, gehört in die Stadtverordnetenversammlung. Wir können
uns nur fragen: Was geht das den Bundestag an? Als
Bundestag können wir nicht einfach sagen: Diese abwägenden Entscheidungen der Justiz waren falsch.
({11})
- Sie können das Grundgesetz offenbar besser auslegen
als das Bundesverfassungsgericht; das sehe ich. Glauben
Sie wirklich, dass Sie als Linkspartei uns belehren können, wie man das Demonstrationsrecht wahrt? Da sind
Sie genau die Richtigen. Als Sie noch SED hießen, gingen Sie mit Panzern gegen demonstrierende Arbeiter
vor. Das haben wir nicht vergessen.
({12})
Eine Belehrung von Ihnen über Demonstrationsrecht
verbitten wir uns.
Angesichts der bevorstehenden Feiertage will ich versöhnlich enden. Ich wünsche uns allen Erleuchtung, insbesondere der Linkspartei.
({13})
Das Wort hat der Kollege Armin Schuster für die
Unionsfraktion.
({0})
- Kollege Wiefelspütz, zurzeit hat Kollege Schuster das
Wort.
({1})
Man hat Ihnen doch Redezeit gegeben; Sie sind gleich
dran.
({2})
Zügeln Sie Ihre Ungeduld, und hören Sie erst einmal
dem Kollegen Schuster zu.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Wiefelspütz, ich möchte Ihnen recht geben.
({0})
Ich habe soeben den gesamten verfassungsrechtlichen
Teil aus meinem Manuskript gestrichen, weil ich der
schwarz-grünen Erklärung vom Abgeordneten Wieland
inhaltlich vollständig folge. Das hätte ich mir vor einigen Jahren noch nicht vorstellen können, vor allen Dingen dann, wenn es um das Versammlungsrecht geht.
Herr Wieland, herzlichen Dank.
({1})
Lebensqualität in einem demokratischen Rechtsstaat
bedeutet für mich, mit Freude und mit Freunden friedlich zu demonstrieren, seine politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen zeigen zu können: Jung und
Alt auf der Straße, bunte Plakate und keine schwarzen
vermummten Blocks, sondern witzige Aktionen, aber
auch ernste Töne und starke Aussagen.
({2})
Lebensqualität bedeutet für die allermeisten von uns
nicht, Innenstädte zu blockieren, Angst haben zu müssen, von Steinen getroffen zu werden, abgefackelte Autos, spießrutenlaufende Bankangestellte und Rauchschwaden. Das sind Bilder, die wir aus mancher
Großstadt kennen und die für uns nichts mit Versammlungsfreiheit zu tun haben.
Jetzt überspringe ich den Teil über das Verfassungsrecht, verweise auf den Abgeordneten Wieland und
komme direkt zum Bundesverfassungsgerichtsurteil.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat letztlich auf der
Grundlage einer polizeilichen Gefahrenprognose der
Stadt Frankfurt recht gegeben. Wie kommt die Polizei
eigentlich zu einer Gefahrenprognose? Da hilft ein Blick
ins Einsatztagebuch:
Armin Schuster ({4})
31. März 2012: Ausschreitungen bei einer kapitalismuskritischen Demo in Frankfurt am Main. Farbbeutel
gegen die EZB. Pflastersteine gegen Schaufensterscheiben. 15 Beamte wurden verletzt.
({5})
Wie richtig die Prognose war, zeigen die Eintragungen vom 17. Mai 2012: Polizei löst eine nicht genehmigte, aber stundenlang tolerierte Demo am Frankfurter
Rathausplatz auf. Es kommt zu Rangeleien bei der Räumung des Zeltlagers.
18. Mai 2012: Aktivisten versuchen trotz Verbots,
verschiedene Plätze in der Frankfurter City zu besetzen.
({6})
Die Polizei soll geflutet werden.
19. Mai 2012: Es wurden 600 Personen in Gewahrsam genommen.
Vorkontrollstellen sind ein sehr bewährtes Mittel, die
wirklich Demonstrationswilligen durchzulassen, ihnen
ihr Recht zu geben und die anderen ein wenig zu beschäftigen.
Meine Damen und Herren, in Frankfurt am Main
wurde am 19. Mai die Versammlungsfreiheit durch das
besonnene Vorgehen der Behörden und der Oberbürgermeisterin Petra Roth auf kluge Art und Weise bewahrt.
({7})
Die Blockupy-Aktivisten - immerhin 20 000 - durften
demonstrieren. Das geschah, obwohl vor Ort 2 000 gewaltbereite Randalierer - Demonstranten nenne ich die
jetzt nicht - bereit waren, ihr Unwesen zu treiben. Massive Polizeipräsenz schirmte diesen schwarzen Block ab
und gewährleistete so den wirklichen Versammlungsteilnehmern, dass sie für ihre Anliegen friedlich werben
konnten.
({8})
- Ich werte das gar nicht, aber ich finde gut, dass sie dafür werben konnten. So sieht Versammlungsfreiheit im
Rechtsstaat aus.
Apropos Rechtsstaat: Ihnen, meine Damen und Herren, müssen wir diese Aktuelle Stunde zugestehen, ganz
sicher aber nicht die Kompetenz, Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts zur Diskussion zu stellen.
({9})
Eine größere Legitimation hätte die Stadt Frankfurt für
ihr Vorgehen gar nicht erhalten können.
({10})
Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass wir so
die Gelegenheit haben, das Vorgehen der Stadt, der hessischen Landesregierung und der Polizeieinsatzleitung
ausdrücklich zu loben.
Wir, die christlich-liberale Koalition, freuen uns richtig über jede deutsche Stadt, der es gelingt, den Menschen mit einer friedlichen Versammlungskultur ein
Stück mehr Lebensqualität zu bieten und gleichzeitig
Chaotenstadl als Dauerevent gar nicht erst entstehen zu
lassen. Das hat Frankfurt sehr wirkungsvoll geschafft.
({11})
Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, auf
die eingesetzten Polizeibeamtinnen und -beamten hinzuweisen.
({12})
Die Einsatzstrategie hat dafür gesorgt, dass eines unserer
Kernprobleme zurzeit, nämlich steigende Gewalt gegen
Polizeibeamte, jedenfalls am 19. Mai nicht zum Tragen
kam. Wer als Politiker in Reden die deutlich steigende
Gewalt gegen Polizisten ehrlich bedauert - wie zum Beispiel die Gewalt gegen die 15 verletzten Beamten am
31. März -, der hat in Debatten wie heute die Chance,
Farbe zu bekennen, Herr Veit. Es geht - da haben Sie
recht - nicht um die Krankenhausbetten, aber um 15 verletzte Beamte. Heute können Sie die Verantwortlichen
für deren Strategie loben, dass es zu einer ähnlichen Situation nicht gekommen ist. Oder vielleicht geben Sie
doch nur Lippenbekenntnisse ab, und ein paar verletzte
Beamte müssen quasi als Bauernopfer herhalten. Entscheiden Sie sich! - Sie haben sich entschieden, Ihre Linie ist mir klar. Das kann ich nur kritisieren.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den
Linken, jetzt bin ich gut zwei Jahre hier und habe mich
gerade an Ihre Anwesenheit gewöhnt. Wenn Sie sich
diese Aktuelle Stunde vor Pfingsten gespart und stattdessen Ihre parteiinternen Auflösungserscheinungen bekämpft hätten, dann wäre das mit Sicherheit wesentlich
sinnvoller gewesen.
({14})
In Frankfurt jedenfalls wurde die Demonstrationsfreiheit
eindrucksvoll gesichert und die Kriminalisierung von
Teilnehmern verhindert. Dafür herzlichen Dank an die
Hessen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Nun hat der Kollege Dieter Wiefelspütz für die SPDFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist
konstitutiv für unsere Demokratie.
({0})
Es hat einen überragend hohen Rang. Die Versammlungsfreiheit ist das Recht, sich zu versammeln - friedlich und ohne Waffen. Das heißt: Auf dieses Grundrecht
kann ich mich nur dann berufen, wenn ich friedlich bin
und wenn ich nicht bewaffnet bin. Wer nicht friedlich ist
und wer bewaffnet ist, der kann das Versammlungsrecht
nicht in Anspruch nehmen. Das gilt für uns alle, von
links bis rechts.
({1})
Das ist die Grundlage unserer Verfassung.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es selbstverständlich das gute Recht von vielen Menschen ist, sich
heute, morgen oder übermorgen in Frankfurt zu versammeln und gegen einen Turbokapitalismus zu demonstrieren - fantasievoll, wie auch immer, auch in ungewöhnlichen, neuen Formen des Protestes. Das ist das gute
Recht der Menschen. Ich kann das gut nachvollziehen.
Dieses Recht nehmen unter Umständen Zehntausende
von Menschen wahr.
Herr Ruppert hat sicherlich recht. - Es kommt selten
vor, dass ich Ihnen recht gebe, Herr Ruppert, aber wenn
Sie recht haben, haben Sie recht. - Herr Ruppert möchte
nicht, dass ganze Stadteile sozusagen in Geiselhaft genommen werden - das ist etwas militant ausgedrückt -,
wenn ein Grundrecht wahrgenommen wird. Umgekehrt
will ich aber auch sagen: Es darf nicht sein, dass die
große Mehrheit von Menschen, die friedlich demonstrieren wollen, in Geiselhaft genommen wird, weil einige,
vielleicht auch einige wenige Hundert, gewaltbereit sind.
Das ist, glaube ich, das schwierige Problem, das man in
Frankfurt hat lösen müssen. Das ist möglicherweise
- ich sage das mit aller Vorsicht, weil ich ungern Ferndiagnosen stelle - nicht ganz optimal gelöst worden.
Dass gegen Finanzkapitalismus, Turbokapitalismus
und so etwas friedlich demonstriert werden kann, ist eine
Selbstverständlichkeit. Wir alle müssen, auch wenn wir
nicht dabei sind, mit Leidenschaft für dieses Recht eintreten, selbst wenn man in der Sache anderer Auffassung
ist.
({2})
Das ist konstitutiv für unseren Verfassungsstaat. Was
aber nicht geht, ist, dass ein ganzer Stadtteil durch Demonstrationen sozusagen abgesperrt wird und - ich sage
es einmal ganz drastisch - Arbeitnehmer nicht zu ihrer
Arbeit gehen können. Das geht nicht.
Ich fliege hin und wieder in die USA. Ich fliege wie
Sie von Frankfurt aus. Wenn ich montags fliege, erkundige ich mich vorher, ob dort eine Demonstration stattfindet. Ich finde es völlig richtig, dass Menschen gegen
Lärm im Terminal des Flughafens Frankfurt demonstrieren können. Dass ich als Nichtdemonstrant dadurch behindert werde, ist auch eine Selbstverständlichkeit. Das
muss ich ertragen. Deswegen fahre ich dann einen Zug
früher und bin eine oder zwei Stunden früher am Flughafen. Was aber nicht geht, ist, dass der ganze Flughafen
dichtgemacht wird und Zehntausende von Menschen daran gehindert werden, zu fliegen.
Überträgt man dieses Beispiel auf die aktuellen Vorkommnisse in Frankfurt, heißt das: Es muss möglich
sein, diesen friedlichen Anspruch realisieren zu können.
Das ist eine große Verantwortung. Es kommt selten vor,
dass dieser schwarz-grüne Wieland einen richtigen Gedanken hat, aber an dieser Stelle hatte er ihn. Ich will das
jetzt nicht oberlehrerhaft und besserwisserisch sagen,
was ich am liebsten tue
({3})
- an dieser Stelle aber nicht -: Ich glaube, dass man
jetzt, im Nachhinein, darüber nachdenken muss, ob in
Frankfurt die Veranstalter der Versammlung und die Behörde optimal miteinander umgegangen sind. Hier haben
alle eine große Verantwortung, die Behörde, aber auch
die Veranstalter.
Ich will keine Leute vorführen. Ich will in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass in einem Urteil
des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Kassel - das
ist immerhin ein hohes Gericht -, bestätigt durch das
Bundesverfassungsgericht, gesagt worden ist, dass die
Veranstalter, die über das Internet kommuniziert haben,
durch Verwendung geradezu paramilitärischer Sprachhülsen - Besetzung, Belagerung, Eroberung, Verpfropfung von Zufahrtswegen zur Zentralbank, Wegspülen
von Polizeikräften - vor allem Gruppen und Personen
ansprechen, die vor Gewalttaten nicht zurückschrecken
und sie für ein legitimes Mittel zur Störung des öffentlichen Lebens halten.
Ich unterstelle Ihnen von der Linkspartei nicht, dass
Sie sich das zu eigen gemacht haben. Aber es ist natürlich ein Problem, wenn in dieser Art die Stimmung aufgeheizt wird und nur noch gegeneinander und nicht miteinander agiert wird. Das Versammlungsrecht muss
gemeinsam hergestellt werden, sowohl von den Ordnungsbehörden wie auch von den Veranstaltern.
({4})
Da haben wir alle große Verantwortung. Herr Wieland
hat recht - das ist jetzt aber das letzte Mal, dass ich ihm
recht gebe -, wenn er sagt: Der Geist von Brokdorf, der
Geist dieser wunderbaren großartigen Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts, bedeutet „zusammenwirken“. Wir haben es leider als Gesetzgeber versäumt, dies
rechtzeitig zusammenzuführen.
Wir alle haben bei vielen Demonstrationen mitgemacht,
({5})
wir haben eine große Verantwortung dafür, dass die Demonstrationen friedlich ablaufen. Deswegen glaube ich,
dass man in Frankfurt Grund hat, nachzuarbeiten; denn
solche Dinge können sich wiederholen. Es darf nicht
sein, dass wir solche Bilder erneut im Fernsehen sehen.
Letztlich verliert die Demokratie, wenn friedliches Demonstrieren nicht möglich ist. Das ist das Bedauerliche.
95 Prozent oder 98 Prozent der Menschen dort wurden
an diesen Tagen gehindert, ihren Demokratieanspruch
friedlich zu verwirklichen. Ich denke, dieses Problem
müssen wir gemeinsam lösen. Deswegen glaube ich,
dass wir hier darüber diskutieren müssen. Das geht nicht
mit Konfrontation, sondern nur im Miteinander.
Kollege Wiefelspütz, ich bin ein geduldiger Mensch,
aber Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin am Ende meiner Rede, Frau Präsidentin, und
bedanke mich dafür, dass Sie mich heute zum zweiten
Mal ertragen haben.
({0})
Ich unterbreche ja ungern den Disput, aber wir haben
uns hier Regeln gegeben und müssen diese Regeln gemeinsam einhalten.
({0})
- Und friedlich; das ist richtig. - Das Wort hat der Kollege Marco Buschmann für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Demonstrationen - das ist, glaube ich, Konsens in
diesem Haus - finden wir alle gut. Uns allen hier ist jeder friedliche Demonstrant lieber als der heimliche
Nörgler, der zu Hause auf dem Sofa sitzt und auf den
starken Mann oder die starke Frau wartet, der oder die
dann die Verhältnisse mit Gewalt ändert. Das ist selbstverständlich.
Selbstverständlich weiß auch jeder hier den Grundgedanken der Brokdorf-Entscheidung zu schätzen, dass
nämlich durch die gemeinsame Willensbekundung in
Versammlungen erreicht werden kann, gerade in unserer
Mediendemokratie Aufmerksamkeit auf Probleme zu
wenden, die in der Öffentlichkeit möglicherweise noch
nicht entsprechend stark Anklang finden. Deshalb ist es
richtig, dass in unserer Rechtsordnung die Versammlungsfreiheit eine so wichtige Stellung hat und grundrechtlich geschützt ist.
Das gilt selbstverständlich auch für die friedlichen
Demonstranten in Frankfurt, und das gilt auch gerade
dann, wenn man anderer Meinung ist als die Demonstranten; da schließe ich mich ausdrücklich den Ausführungen des Kollegen Ruppert an. Die Stärke der Versammlungsfreiheit wird bewiesen, wenn man das Recht
zu demonstrieren auch für diejenigen verteidigt, die anderer Meinung sind als man selber.
Ich möchte hier klarstellen: Ich halte das, wofür da
demonstriert wird, für falsch. Ich glaube, dass uns Globalisierung und Freihandel nicht geschwächt haben. Ich
glaube, dass der ärmste Teil der Weltbevölkerung davon
profitiert hat.
({0})
Das kann man auch belegen. Die ärmsten 20 Prozent der
Weltbevölkerung haben in den letzten Jahrzehnten ihren
Lebensstandard - diese Berechnung ist inflations- und
kaufkraftbereinigt - verdoppeln können. Das hat den
Menschen also geholfen. Da bin ich anderer Meinung als
die Demonstranten in Frankfurt. Aber das ist egal; sie
sollen trotzdem demonstrieren können.
({1})
Ich bin auch nicht der Meinung, dass allein in Frankfurt die Ursachen für die Finanzkrise zu finden sind;
denn wenn wir diese riesigen Schuldenberge nicht aufgetürmt hätten, dann könnten sie uns heute nicht bedrohen.
({2})
Zum Schuldenmachen gehört nicht nur jemand, der Kredite ausreicht, sondern auch jemand, der sie abruft. Das
war die Politik. Über Jahrzehnte wurde eine hemmungslose Verschuldungspolitik betrieben.
({3})
Da bin ich ausdrücklich anderer Meinung als die Demonstranten in Frankfurt. Trotzdem sollen sie ihre Meinung sagen können; das gehört selbstverständlich dazu.
Aber: Niemandes Recht ist es, den freiheitlichen Rahmen, den unser Grundgesetz zu genau diesem Zweck
bietet - darüber ist hier schon viel gesprochen worden -,
gezielt zu missachten. Insofern ist die Grundthese der
Linken in dieser Aktuellen Stunde - hier wird von Kriminalisierung gesprochen - grundfalsch. Das Grundgesetz sieht nämlich Schranken der Versammlungsfreiheit
vor. Dadurch soll der schwierige Ausgleich zwischen
den verschiedenen Grundrechtsträgern, von dem auch
Herr Kollege Wiefelspütz gerade gesprochen hat, hergestellt werden. Es ist richtig - auch das ist hier schon vorgetragen worden -, dass Polizei und Gerichte die Versammlungsfreiheit nicht als schrankenlos ansehen und
sie nur kontemplativ betrachten sollen, sondern dass sie
die Grenzen der Versammlungsfreiheit konkretisieren
müssen.
({4})
Über Monate hinweg ist in Frankfurt bereits demonstriert worden. Über Monate hinweg haben dort Aktionen stattgefunden. Man kann nicht ernsthaft behaupten,
dass dieses Anliegen in Frankfurt nicht in die Öffentlichkeit getragen werden konnte.
({5})
Was war denn der Grund, weshalb die Gerichte, die
Polizei und der Magistrat dort eingeschritten sind? Es
ging nicht nur um die Rhetorik im Internet, auf die Herr
Kollege Wiefelspütz hingewiesen hat, sondern es spielte
auch eine Rolle, dass am 31. März dieses Jahres wirklich
schlimme Zustände in Frankfurt geherrscht haben.
Schuld daran war natürlich nicht das Gros der Demonstranten. Aber Sie wissen, dass der schwarze Block eiMarco Buschmann
nen Polizisten lebensgefährlich zusammengetreten hat,
einem anderen Polizisten ätzende Chemikalien ins Gesicht gesprüht hat und dass weitere Polizisten verletzt
worden sind. Sie wissen auch: Wenn erst einmal Gewalt
in der Luft liegt, ist die Situation gefährlich, weil sich
die Gewalt schnell ausbreitet. Auch das gehört zum Bild
dazu.
Wenn man angesichts einer konkreten Gefahr für die
Polizisten versucht, die Gewalt einzudämmen und unsere Polizisten, die jeden Tag für friedliche Verhältnisse
eintreten und ihren Kopf hinhalten müssen, vor solchen
Angriffen zu schützen - ich füge hinzu: vor solchen feigen Angriffen zu schützen; denn Menschen, die am
Boden liegen, lebensgefährlich zusammenzutreten, ist
feige -, dann hat das nichts damit zu tun, dass eine Meinung unterdrückt werden soll.
({6})
Vielmehr wird auf diese Weise gegen eine Haltung der
Rücksichtslosigkeit vorgegangen. Meine Damen und
Herren, gegen den Geist der Rücksichtslosigkeit vorzugehen, hat nichts mit der Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit zu tun. Gegen
Rücksichtslosigkeit vorzugehen, ist Rechtsstaatlichkeit.
({7})
Es wäre schön, wenn Sie lernen würden, wo die Grenze
zwischen Rücksichtslosigkeit und Rechtsstaat zu ziehen
ist.
({8})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Buschmann, zunächst will ich ganz deutlich sagen: Wenn es jemanden gibt, der Gewalt ablehnt, dann
sind wir das.
({0})
- Was gibt es denn da zu lachen? - Allerdings: In der
Logik dessen, was Sie gerade gesagt haben, müssten Sie
sämtliche Spiele der ersten Fußball-Bundesliga untersagen, weil dort gewaltbereite Chaoten auf der Tribüne sitzen oder stehen. Das ist Ihre Logik.
({1})
Frau Kollegin Steinbach, wenn Sie sagen, Begriffe
wie Blockade, Belagerung und Besetzung zu verwenden,
sei die Aufforderung zur Gewaltbereitschaft, dann sage
ich Ihnen: Nach Ihrer Logik war Mahatma Gandhi ein
gefährlicher Gewalttäter. Das ist Ihre Logik.
({2})
Sie sind nicht in der Lage, die Grenzen, die hier gezogen
werden müssen, vernünftig zu ziehen.
({3})
Jetzt komme ich zu den Gerichtsentscheidungen;
auch ich bin ja Jurist.
({4})
Die Hessische Landesregierung, die Polizeiführung und
der Frankfurter Magistrat haben von dem, was da angeblich bevorstand, ein Horrorszenario gemalt. Natürlich
kann man auch Gerichte beeindrucken und zu falschen
Entscheidungen führen. Sie haben es sogar geschafft, ein
Informationszelt unserer Fraktion, in dem wir über unsere politischen Vorschläge zur Bewältigung der Finanzmarktkrise informieren wollten, zu verbieten.
({5})
Auch das wird übrigens noch ein juristisches Nachspiel
haben.
(Zuruf des Abg. Wolfgang Wieland ({6})
- Kollege Wieland, auf Sie möchte ich wirklich nicht
eingehen.
({7})
Wie oft müssen Sie Ihre maoistische Vergangenheit denn
noch unter dem Beifall der Union abarbeiten?
({8})
- Ja, das hat er verdient, nachdem er anlässlich dieser
Veranstaltung sogar den Geist von Lafontaine über das
Wasser hat schweben lassen.
({9})
Jetzt komme ich auf den Kern zu sprechen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich zitiere einmal ihren ehemaligen Generalsekretär Heiner Geißler.
Unter der Überschrift „Der Kapitalismus zeigte wieder
mal seine Krallen“ äußerte er sich folgendermaßen:
Genau gegen diesen Stillstand und Reformstau
wollte die Blockupy-Bewegung am Wochenende in
Frankfurt demonstrieren, wurde aber von der deutschen und hessischen Obrigkeit in massiver Weise
behindert. Wieder einmal hatten sich hier die Interessen der Finanzmärkte als stärker erwiesen als die
Bürgerrechte des Grundgesetzes.
({10})
Heiner Geißler - Wort für Wort wahr.
Was wir aus Frankfurt lernen, ist Folgendes: Wenn
man in einer der Zentralen des Raubtierkapitalismus de21776
monstriert, dann kriegt man eine militarisierte Antwort,
wie es sie in den letzten Jahren nicht gegeben hat.
({11})
Das zeigt mir etwas über die Machtverhältnisse in
Deutschland.
({12})
Der nächste Schritt ist wahrscheinlich, dass Sie um das
Bankenviertel eine Bannmeile ziehen wie um den Deutschen Bundestag.
({13})
Auch das würde eine hervorragende Darstellung der
Machtverhältnisse sein, die hier ausgeübt werden.
Sie reden hier über Gewalt. Das ist übrigens das, was
einen Mann wie Heiner Geißler treibt. Ich empfehle Ihnen, in Zukunft über die mörderische Gewalt nachzudenken, die von den Spekulationen auf Nahrungsmittel
ausgeht.
({14})
Das läuft an Ihnen herunter wie an irgendwelchen lackierten Anzügen. Ich empfehle Ihnen, über die mörderische
Gewalt nachzudenken, die dadurch ausgeübt wird, dass
Menschen in Griechenland, die Diabetes haben, kein Insulin mehr bekommen, und über die mörderische Gewalt, die sich dadurch zeigt, dass Operationen nicht
durchgeführt werden.
Wenn sich zum Beispiel eine 60-jährige Schwäbin,
die sich unter der Androhung, es werde ihr sonst dabei
geholfen, nackt ausziehen muss, darüber empört, dann,
so muss ich sagen, liegen da unsere Sympathien und
nicht bei Ihnen.
({15})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Sensburg
das Wort.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrte
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, wenn Sie mehr Zeit mit den Bürgern
verbringen und ihnen zuhören würden,
({0})
wenn Sie mehr Zeit im Parlament verbringen würden
statt in der außerparlamentarischen Opposition und im
Straßenkampf, dann würden Sie vielleicht wissen, dass
demokratische Rechte und Grundfreiheiten etwas anderes bedeuten, als zu Gewalttätigkeiten aufzurufen und
mit martialischen Begriffen um sich zu werfen.
({1})
Ich habe es schon im Rahmen eines anderen Tagesordnungspunkts gesagt: Welches Demokratieverständnis haben Sie, wenn in einer freiheitlichen Gesellschaft
solche Begrifflichkeiten genannt werden? Ich mache mir
große Sorgen, wenn Sie als Mitorganisator dieser Veranstaltung jedwede Verantwortung für die Gewalttaten von
sich weisen.
({2})
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie sind verantwortlich für Gewalttaten und für Ausschreitungen gegen die Polizei. Das können Sie nicht abschütteln.
({3})
Vielleicht müssen Sie sich einfach einmal ein wenig
darüber informieren, was das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit beinhaltet. Ich schließe mich den professoralen Ausführungen des Kollegen Wiefelspütz völlig an,
der zu Recht darauf hingewiesen hat, dass es um friedliche Versammlungen ohne Waffen geht.
({4})
Auf diesen hat man das Recht, jede Meinung zu sagen,
Plakate hochzuhalten, sich in Gruppen zu versammeln
und sich laut oder leise zu äußern.
({5})
Man hat aber nicht das Recht, bewaffnet, in Uniform,
in einheitlicher Kleidung, aufzutreten.
({6})
Man hat nicht das Recht, zu prügeln, Ausschreitungen zu
begehen, zu schlagen, zu beleidigen, zu verletzen, zu nötigen und zu treten.
({7})
Zu alldem gibt Art. 8 des Grundgesetzes kein Recht,
auch wenn Sie es scheinbar immer noch anders meinen.
({8})
Der Kollege Wiefelspütz hat schon versucht, Ihnen
Art. 8 näherzubringen.
({9})
Ich versuche es mit § 3 des Versammlungsgesetzes. Dieser
Paragraf sieht das Verbot der Uniformierung, also des
Tragens der gleichen Kleidung, vor. All das hat seinen
Sinn. Es hat auch nach der schlimmen nationalsozialisDr. Patrick Sensburg
tischen Vergangenheit seinen Sinn, dass man so nicht
auftritt.
Es ist wichtig, dass wir ein zentrales Recht der Demokratie nicht mit Füßen treten und es schützen. Es ist
wichtig, dass wir Demonstrationen schützen. Das bezieht sich auf all das, was Sie machen, auch verbal. Die
Kollegin Buchholz sprach davon, Sie hätten den Kessel
verteidigt. Wo leben Sie denn? Was machen Sie mit diesem zentralen Grundrecht der Demokratie? Dadurch
dass wir Straftäter verfolgen, schützen wir das Demonstrationsrecht und die Versammlungsfreiheit.
({10})
Aber Sie wollen das ja vielleicht gar nicht.
({11})
Sie wollen anscheinend Ausschreitungen fördern, und
dann übernehmen Sie noch nicht einmal die Verantwortung. Ich finde das schändlich und traurig.
({12})
Der Kollege Schuster hat Ihnen berichtet, was passiert
ist. Ich weiß nicht, ob Ihnen das alles nichts ausmacht.
Polizisten wurden verletzt.
({13})
Sind das für Sie keine Menschen mit Familien? Dass
15 Polizisten teilweise schwer verletzt worden sind, dass
Autonome einen Vermittler der Polizei geschlagen, zu
Boden getreten und dann auf ihn eingeprügelt und ihn
mit Reizgas besprüht haben, welches sie vorher mit Chemikalien vermischt haben, scheint Ihnen egal zu sein.
({14})
Meine Damen und Herren von der Linken, wichtig ist
für uns, dass das Demonstrationsrecht nicht missbraucht
wird und dass diejenigen, die demonstrieren wollen,
auch demonstrieren können.
({15})
Das muss gesichert werden, weil es bei Demonstrationen
anscheinend immer wieder eine Gruppe gibt, die die jeweilige Demonstration nutzt und Gewalttaten begeht.
Wir setzen uns auf der einen Seite für das Demonstrationsrecht
({16})
und auf der anderen Seite für den Schutz der Demonstration und die Verfolgung der Straftaten ein. Das ist wichtig; denn das eine geht nur, wenn das andere auch gewährleistet ist.
({17})
Meine Damen und Herren von der Linken, diese Aktuelle Stunde ist nach meiner Meinung unsinnig und
überflüssig. Sie zeigt, dass Sie versuchen, mit dem Demonstrationsrecht zu spielen, und dass Sie Bürgerrechte
mit Rechten von Gewalttätern vermischen.
({18})
Das sind zwei Paar Schuhe, und ich hoffe, das werden
auch Sie irgendwann lernen.
Was Sie anscheinend nicht lernen, ist, dass man, wenn
man innerparteiliche Schwierigkeiten hat und die Umfragewerte heruntergehen, nicht versucht, diese mit einem zentralen Recht der Demokratie wieder aufzupuschen. Anscheinend ist es bei Ihnen schon so weit, dass
Sie Stimmen von Gewalttätern brauchen. An denen
scheinen Sie Ihre Politik inzwischen auszurichten. Das
finde ich traurig.
Sie sind die Spalter der Demokratie. Ich glaube, hier
hilft auch nicht der Heilige Geist von Pfingsten. Auf Sie
wird er wohl nicht niederkommen.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Feiertag.
({19})
Der Kollege Sebastian Edathy hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Lieber Kollege Sensburg, als gelernter Protestant und
Sohn eines langjährigen Pastors kann ich Ihnen sagen:
Der Heilige Geist ist für uns alle da.
({0})
Davon wollen wir auch die Linkspartei nicht ausnehmen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
die Tatsache, dass Sie uns hier an einem sonnigen Freitagnachmittag in der Aktuellen Stunde mit einem Thema
behelligen, das von der Materie her eher in den Stadtrat
von Frankfurt gehört, macht, glaube ich, deutlich, dass
Sie mittlerweile gar keine Freunde mehr haben, mit denen Sie etwas anderes machen könnten, als uns hier aufzuhalten.
({2})
Ich muss jetzt nicht redundant werden und werde
meine Redezeit von fünf Minuten auch nicht ausschöpfen. Eigentlich ist schon alles, was man sagen musste,
von vielen vernünftigen Kollegen gesagt worden.
Es gibt ein Recht auf Versammlungsfreiheit, und es
gibt auch ein Demonstrationsrecht, aber es gibt eben
kein Besetzungsrecht, und es gibt auch kein Blockaderecht.
({3})
Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wenn Sie
das anders sehen, dann legen Sie doch einen Gesetzentwurf vor - das wäre übrigens auch ein Anlass, uns hier
damit zu beschäftigen -, der das beinhaltet. Wenn wir
aber über das geltende Recht sprechen, dann bin ich
nicht bereit, mich hier kritisch über eine Genehmigungsbehörde zu äußern - das war nicht der Deutsche Bundestag, das war die Stadt Frankfurt -, und dann habe ich
auch nicht die Absicht, mich als Teil des Bundestages
kommentierend zu gerichtlichen Entscheidungen bis hin
zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu
äußern.
({4})
Was soll also die Debatte an dieser Stelle? Das ist
nach meinem Dafürhalten ein reiner Profilierungsversuch.
Herr Maurer hat hier mit viel Verve vorgetragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der ganz linken
Seite des Hauses, wenn Sie sich im Rahmen Ihrer guten
Kontakte zu Kuba ähnlich intensiv für die Gewährung
von prokapitalistischen Demonstrationen in Havanna
({5})
wie für antikapitalistische in Frankfurt einsetzen würden, dann wäre uns allen mehr gedient.
({6})
Wir hier brauchen in Sachen Demokratie und in Sachen
Grundrechte keine Belehrungen, jedenfalls nicht von Ihnen.
Vielen Dank. Schönes Wochenende!
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am vergangenen Freitag kam ich an einer gesperrten Straße in
Frankfurt mit einem Polizisten ins Gespräch. Er kam aus
Nordrhein-Westfalen und war wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen für die Dauer der Proteste nach Frankfurt beordert worden. Vermutlich hätte er wie seine Kolleginnen und Kollegen auch viel lieber Zeit mit seinen
Kindern, mit Freunden verbracht, den Feiertag mit einem anschließenden Brückentag ins Wochenende genossen, wie etwa der Kollege Veit.
Stattdessen haben die Polizistinnen und Polizisten das
Demonstrationsrecht geschützt, aber auch Leben und Eigentum der Menschen in Frankfurt. Sie haben sich angesichts der Drohungen gewaltbereiter Randalierer im Internet Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Die
Sorgen der Angehörigen dieser Polizistinnen und Polizisten, ihrer Kinder, ihrer Eltern, ihrer Freunde waren
durchaus berechtigt.
({0})
Ich bin froh, dass alle Polizistinnen und Polizisten wieder gesund und wohlbehalten nach Hause gekommen
sind. Ihnen gilt unser besonderer Dank.
({1})
Unser Dank gilt auch der Polizeiführung und den Sicherheitsbehörden in Frankfurt am Main und Hessen, die
dafür gesorgt haben, dass es in Frankfurt nicht zu Gewaltexzessen wie im März gekommen ist. Der hessische
Innenminister Boris Rhein und der Frankfurter Ordnungsdezernent Markus Frank haben umsichtig und klug
gehandelt. Umso erstaunter war ich, von der SPD-Generalsekretärin zu lesen, die Stadt Frankfurt habe den Sinn
der Versammlungsfreiheit nicht verstanden.
({2})
Es ist schon mutig, aus der beschaulichen Idylle der Eifel die Sachlage in einer Stadt beurteilen zu wollen, die
eine lange Tradition der Liberalität hat und mit Grundrechten nicht leichtfertig umgeht.
({3})
Deswegen sei zur Vorgeschichte Folgendes angemerkt: Für den Zeitraum von Mittwoch bis Samstag waren insgesamt 20 Veranstaltungen angemeldet, 17 davon
sollten zentrale Punkte der Stadt blockieren, dazu eine
Kundgebung und ein Rave-Event am Mittwoch und eine
Demonstration am Samstag. Die Sicherheitsbehörden
haben früh darauf hingewiesen: Es gibt hier kein Sicherheitskonzept. In einem Notfall kann für Leib und Leben
der Menschen nicht garantiert werden. - Die Stadt hat in
Gesprächen mit den Veranstaltern alternative Standorte
vorgeschlagen,
({4})
die aber nicht angenommen worden sind. Überdies waren die Veranstalter selbst in der gerichtlichen Anhörung
nicht bereit, sich von den Gewaltaufrufen zu distanzieren. Daraufhin hat die Stadt die Veranstaltungen verboten.
Das Verwaltungsgericht hat dann die Verbote der
Stadt weitgehend bestätigt. In der nächsten Instanz, die
von den Aktivisten angerufen worden ist, wurde das Verbot dann noch erweitert. Es ist also alles mit rechten
Dingen zugegangen,
({5})
und die Verantwortlichen hatten gute Gründe für ihre
Entscheidungen. Es gibt kein schrankenloses Selbstbestimmungsrecht der Veranstaltungsform, vor allen Dingen dann nicht, wenn andere Grundrechte damit verletzt
werden.
({6})
Man wünscht sich deshalb, dass Frau Nahles geschwiegen hätte. Umgekehrt hätte ich mir gewünscht,
dass der neue designierte Frankfurter SPD-Oberbürgermeister etwas gesagt hätte.
({7})
Mich interessiert schon, welchen Stellenwert in einer
solchen Situation für ihn die berechtigten Interessen der
Frankfurterinnen und Frankfurter haben, die er demnächst als Oberbürgermeister vertreten soll. Diese erste
Chance, deutlich Farbe zu bekennen, hat er leider verpasst.
Im Vorfeld der genehmigten Demonstration am Samstag hat die Polizei dann feststellen müssen, dass ihre Befürchtungen nicht unzutreffend waren. Es wurden über
20 Depots mit Steinen, Latten, Flaschen und Böllern am
Rande des genehmigten Demonstrationswegs gefunden.
Das spricht ebenso für den Willen zur Randale wie etwa
die Aufrufe im Internet, in Frankfurts Geschäften zu
chaotisieren, um Polizeikräfte zu binden. Dass bis auf
wenige Sachschäden nicht mehr passiert ist, kann nur
dem klugen Einsatzverhalten der Polizei zugeschrieben
werden.
({8})
In einem Nebensatz möchte ich auch noch erwähnen,
dass der Frankfurter Einzelhandel alleine für den Samstag Umsatzeinbußen von 10 Millionen Euro beklagt.
Demonstrieren leitet sich aus dem Lateinischen ab. Es
bedeutet, dass man etwas zeigt, dass man etwas deutlich
machen will. Ich fand es bedauerlich, dass das inhaltliche Anliegen der Demonstranten von dem Willen weniger zur Randale in den Schatten gestellt wurde.
({9})
Denn in Frankfurt schätzen wir das offene Wort, die Debatte, die kritische Auseinandersetzung. Wir tun dies in
der Tradition der Liberalität einer stolzen freien Stadt
und der Wiege der deutschen Demokratie. Aber wir verteidigen diese Liberalität auch gegen zugereiste Chaoten
und ihre politischen Stichwortgeber.
({10})
Wir werden uns von ihnen unsere Stadt nicht wegnehmen lassen. Das ist die politische Botschaft der vergangenen Woche, auch wenn diese Aktuelle Stunde ein Zeichen dafür zu sein scheint, dass dies noch nicht jeder
verstanden hat.
({11})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. Juni 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, über die Feiertage gute Erholung und uns allen vielleicht auch manch neue Einsicht.