Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Bevor wir uns unserer Tagesordnung widmen, möchte
ich gerne dem Kollegen Wolfgang Gunkel und dem
Kollegen Dr. Egon Jüttner zu ihren Geburtstagen gratulieren, die sie in den letzten Tagen gefeiert haben. Der
Kollege Wolfgang Gunkel feierte seinen 65. Geburtstag
und der Kollege Dr. Egon Jüttner seinen 70. Geburtstag.
Alle guten Wünsche im Namen des Hauses!
({0})
Die CDU/CSU-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kol-
lege Peter Altmaier aus bekannten Gründen aus dem
Vermittlungsausschuss und dem Gemeinsamen Aus-
schuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes ausschei-
det. Sie schlägt als Nachfolger den Kollegen Michael
Grosse-Brömer für beide Gremien als ordentliches Mit-
glied vor.1) - Ich stelle fest, dass niemand dagegen Einwände erhebt. Damit ist der Kollege Michael GrosseBrömer als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuss wie im Gemeinsamen Ausschuss bestimmt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Keine Vergemeinschaftung europäischer
Schulden - Euro-Bonds-Pläne der SPD: Haftung für deutsche Steuerzahler?({1})
ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren-
Ergänzung zu TOP 36
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 4. Oktober 2003 zur
Gründung des Globalen Treuhandfonds für
Nutzpflanzenvielfalt
- Drucksache 17/9696 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
EU-Bildungsprogramme modernisieren und
ausbauen - Mobilität und Austausch im Lebenslangen Lernen für eine integrationsfördernde europäische Bildungspolitik erweitern
- Drucksache 17/9575 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Ausschuss für Kultur und Medien -
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Übersetzungserfordernisse der nationalen
Parlamente in der mehrjährigen EU-Finanzplanung 2014-2020 berücksichtigen - Übersetzungen auch im intergouvernementalen Rahmen sicherstellen
- Drucksache 17/9736 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})-
Auswärtiger Ausschuss -
Innenausschuss -
Sportausschuss -
Rechtsausschuss -
Finanzausschuss -1) Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Ausschuss für Tourismus -
Ausschuss für Kultur und Medien -
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wohnungspolitische Verantwortung bei Übertragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen
sichern
- Drucksache 17/9737 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Haushaltsausschuss -
Federführung offen
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz
Kuhn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz zum Bau der ICE-Neubaustrecke
Wendlingen-Ulm herstellen
- Drucksache 17/9741 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Entlassung des Bundesumweltministers und
Handlungsfähigkeit der Bundesregierung
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verantwortung für die entwicklungspolitische
Dimension der EU-Fischereipolitik übernehmen
- Drucksachen 17/9399, 17/9714 Berichterstattung:Abgeordnete Helmut HeiderichDr. Sascha RaabeHarald LeibrechtNiema MovassatThilo Hoppe
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Stephan Kühn, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ursachen und Verantwortlichkeiten für das
Berliner Flughafendebakel lückenlos aufklären - Chancen für besseren Lärmschutz nutzen
- Drucksache 17/9740 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Tourismus Haushaltsausschuss
ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Demonstrationsfreiheit sichern - Occupy-Proteste nicht kriminalisieren
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll,
soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem
werden die Tagesordnungspunkte 3, 16, 25 a und 25 b
abgesetzt. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen des
Ablaufs.
Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:
Der am 26. April 2012 ({9}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({10}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung ({11})
- Drucksache 17/9369 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({12})Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Sind sie hiermit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 unserer Tagesordnung auf:
Eidesleistung des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, dass er
am 22. Mai 2012 gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland auf Vorschlag
der Frau Bundeskanzlerin den Bundesminister für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herrn
Präsident Dr. Norbert Lammert
Dr. Norbert Röttgen, aus seinem Amt als Bundesminister entlassen und Herrn Peter Altmaier zum neuen Bundesminister ernannt hat.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein
Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56
vorgesehenen Eid.
Herr Altmaier, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir
bitten.
({13})
Ich darf Sie bitten, den im Grundgesetz vorgesehenen
Eid zu leisten.
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Bundesminister, Sie haben den in der Verfassung
vorgesehenen Eid geleistet. Ich darf Ihnen für die Übernahme dieses Amtes alles Gute, Erfolg, solide Nerven
und Gottes Segen wünschen.
Das werde ich brauchen können. Vielen herzlichen
Dank.
({0})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich würde die Gratulationscour jetzt gerne einem vorläufigen Ende zuführen. Der Minister steht auch
in den künftigen Wochen für die Entgegennahme guter
Wünsche noch jederzeit zur Verfügung.
({0})
Nachdem wir ihn jetzt mit den guten Wünschen des
Hauses in sein neues Amt begleitet haben, möchte ich
die Gelegenheit nutzen, dem Kollegen Nobert Röttgen
auch im Namen des ganzen Hauses herzlich für seine
Tätigkeit in der Bundesregierung zu danken,
({1})
verbunden mit der ausdrücklichen Hoffnung auf weitere
Zusammenarbeit in anderen Aufgaben und Funktionen
im Deutschen Bundestag.
Da wir den Kollegen Peter Altmaier im Übrigen auch
im Ältestenrat vermutlich nicht mehr sehen werden
- denn alles gleichzeitig kann man nicht haben, jedenfalls nicht, solange wir ein gewisses Maß an Gewaltenteilung praktizieren -, will ich ihm gerne, sicher auch im
Namen aller Kolleginnen und Kollegen im Ältestenrat,
herzlich für die gute, freundschaftliche und kollegiale
Zusammenarbeit danken, die sehr dazu beigetragen hat,
dass wir das, was die Funktionsweise des Parlaments betrifft, in den allermeisten Fällen in großem Einvernehmen regeln konnten. Vielen Dank und noch einmal alle
guten Wünsche!
({2})
Nun ist wieder Alltag. Ich rufe den Tagesordnungs-
punkt 9 a bis c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
({3})
- Drucksache 17/9392 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4})
- Drucksache 17/9733 Berichterstattung:Abgeordnete Thomas Strobl ({5})-
Dr. Dieter Wiefelspütz-
Jörg van Essen-
Dr. Dagmar Enkelmann-
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Rechtsschutzes in
Wahlsachen
- Drucksache 17/9391 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({6})
- Drucksache 17/9733 Berichterstattung:Abgeordnete Thomas Strobl ({7})-
Dr. Dieter Wiefelspütz-
Jörg van Essen-
Dr. Dagmar Enkelmann-
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Ulla Jelpke,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung des Rechtsschutzes im Wahlrecht durch Einführung der Sonneborn-Regelung
- Drucksache 17/7848 21470
Präsident Dr. Norbert Lammert
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({8})
- Drucksache 17/9748 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelDr. Dieter WiefelspützGisela PiltzJan KorteWolfgang Wieland
Über den Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch
hierzu höre ich keinen Widerspruch. Also können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Günter Krings für die CDU/
CSU-Fraktion.
({9})
Aber nicht von mir, Herr Wiefelspütz.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Heute ist ein guter Tag für das Wahlrecht in
Deutschland. Heute kommen wir nach mehreren Monaten zum Abschluss unserer Beratungen und sorgen für
die Einführung - nicht für eine Verbesserung, sondern
für die Einführung - eines subjektiven Rechtsschutzes in
Wahlsachen. Heute ist also ein freudiger Tag.
Ich möchte ganz zu Beginn allen danken, die das
möglich gemacht haben. Wir haben in vier Fraktionen
des Deutschen Bundestages sehr konstruktive Beratungen durchgeführt.
({1})
Das zeigt: Wenn es um das Wahlrecht geht, kann man
gut zusammenarbeiten. Ich möchte mich, trotz mancher
Bedenken, zuerst bei Herrn Wiefelspütz bedanken, aber
natürlich auch beim Kollegen Ruppert von der FDP und
beim Kollegen Montag von den Grünen.
Ich will ausdrücklich anerkennen, dass auch die Linken einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der in die
richtige Richtung geht. Wir sind allerdings in allen anderen vier Fraktionen übereinstimmend der Auffassung gewesen, dass er in einigen Punkten etwas unausgegoren
war. Außerdem trägt er die, wie ich finde, sehr problematische Überschrift „Sonneborn-Regelung“. Ich finde
es nicht gut, das wichtige Anliegen des Rechtsschutzes
in Wahlsachen mit Herrn Sonneborn und der Partei „Die
Partei“ zu flankieren, die auch im NRW-Wahlkampf
wieder nichts anderes gemacht haben, als die Plakate anderer Parteien zu überkleben und Wahlveranstaltungen
zu stören. Das ist nicht Demokratie, die konstruktiv ist
und an guten Lösungen arbeitet. Wir sollten Herrn
Sonneborn zumindest nicht adeln, indem wir seinen Namen zum Titel eines Gesetzentwurfes erheben.
({2})
Wir wollen den subjektiven Rechtsschutz in Wahlsachen nicht verbessern, sondern ihn überhaupt erst einführen. Es gab ihn bisher nämlich nicht. Es gibt dazu ein
Bonmot des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten
Voßkuhle, der einmal sagte: Der Wahlrechtsschutz ist
bisher konsistent. Vor der Wahl gibt es ihn nicht, und
nach der Wahl gibt es ihn im subjektiven Sinne auch
nicht. - Diese „Konsistenz“ wollen wir durchbrechen.
Wir wollen deshalb - das ist die am höchsten aufgehängte Regelung unseres Entwurfs - durch eine Grundgesetzänderung dafür sorgen, dass Parteien vor dem
Bundesverfassungsgericht ein Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung zu einer Wahl anstrengen können.
Meine Damen und Herren, man braucht, glaube ich,
nicht groß zu erklären, dass für eine Partei die Nichtzulassung zu einer Wahl fast ebenso einschneidend ist wie
ein Parteiverbot. Wenn man nicht an Wahlen teilnehmen
kann, kann man nicht politisch agieren. Art. 21 des
Grundgesetzes gebietet es, diesen Rechtsschutz einzuführen. Noch einmal ganz herzlichen Dank, dass wir das
gemeinsam so hinbekommen haben!
Wir gehen sogar ein Stück darüber hinaus. Es reicht
nämlich nicht, die Rechtsschutzchancen nur für Parteien
zu verbessern. „Das Wahlrecht ist das vornehmste Bürgerrecht.“ Das ist ein Zitat aus dem ersten Band der
Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Im Kern unserer Demokratie, sozusagen an der
Wiege der Demokratie in der Bundesrepublik, steht die
Erkenntnis: Das Wahlrecht ist das entscheidende, vornehmste Bürgerrecht. Auch dieses Recht muss mit
einem subjektiven Rechtsschutz im Interesse des Wahlbürgers versehen sein. Genau diesen subjektiven Rechtsschutz führen wir ein.
Wir haben lange überlegt, wie man das praktikabel
machen kann. Zum Schluss haben wir auch sehr intensiv
mit dem Wahlprüfungs- und Geschäftsordnungsausschuss darüber gesprochen. Ich bedanke mich an dieser
Stelle noch einmal bei den Kollegen dieses Ausschusses
und bei dem Vorsitzenden, dem Kollegen Strobl, die uns
dabei geholfen haben, das gemeinsam so hinzubekommen.
({3})
Wir führen den subjektiven Wahlrechtsschutz ein, indem wir ihn harmonisch in das Wahlprüfungsverfahren
integrieren, das schon gut funktioniert. Dieses Verfahren
sollten wir auch nicht schlechtreden. Wir erweitern es
jetzt aber um dieses subjektive Element. Das bedeutet,
dass der Einzelne unabhängig von einer Mandatsrelevanz und einer Sitzverteilungsrelevanz eines Wahlfehlers sein Wahlrecht einfordern und einklagen kann. Wir
schaffen daher beispielsweise das Erfordernis von
100 Unterschriften für eine Anrufung des BundesverfasDr. Günter Krings
sungsgerichts ab. Das sind klare Signale in Richtung eines subjektiven Rechtsschutzes.
Ich betone es noch einmal: Das Wahlrecht ist das
Recht des Bürgers und des Wählers, aber es ist auch das
Recht des Kandidaten, der sich bei einer Wahl aufstellen
lassen möchte. Deshalb ist die heutige Reform ein Meilenstein und die Schließung der vielleicht letzten Rechtsschutzlücke, die in unserem Staat mit seinen ansonsten
umfassenden Rechtswegen noch existiert.
Es gibt einen weiteren Punkt, der nicht übersehen
werden sollte. Wir ergänzen die Wahlausschüsse - den
Bundeswahlausschuss und die Landeswahlausschüsse um Richterpersonen. Bei den Landeswahlausschüssen
geschieht dies durch Richter an Oberverwaltungsgerichten, beim Bundeswahlausschuss geschieht dies durch
Richter am Bundesverwaltungsgericht. Bisher waren in
diesen Wahlausschüssen ausschließlich Vertreter von
Parteien. Hierfür gibt es sicherlich Argumente, zum Beispiel dass sie besondere Sachkenntnisse besitzen. Das
brachte jedoch gelegentlich den Vorwurf ein, dass es
eine Art „Closed Shop“ gebe und dass man kartellartig
versuche, Konkurrenten zu verhindern.
Ich habe nicht den Eindruck, dass dies in der Vergangenheit der Fall war, jedoch sollte schon allein diesem
Eindruck entgegengewirkt werden. Dies geschieht durch
die zusätzliche Kompetenz und Sachkunde, die durch
diese Richter eingebracht werden. Ich glaube, das ist ein
gutes Signal, was die Objektivierung und die weitere
Verbesserung der Arbeit der Wahlausschüsse angeht. So
kann ein Beitrag zu einem verbesserten Rechtsschutz
und zu einer verbesserten Rechtsstellung der betroffenen
Parteien, aber auch der Kandidaten geleistet werden.
Ich möchte noch betonen: Insgesamt ist es uns in
Zusammenarbeit mit dem Innenministerium und dem
Justizministerium, deren Vertreter hier gut zugearbeitet
haben, gelungen, zwei Ziele zu kombinieren. Zum einen
führen wir den Rechtsschutz in Wahlsachen tatsächlich
ein. Der Rechtsschutz existiert künftig vor dem Wahlprüfungsausschuss und vor dem Bundesverfassungsgericht. Ich frage: Vor welchem höheren Gericht könnte
dieser Rechtsschutz wahrgenommen werden als vor dem
Bundesverfassungsgericht? Zum anderen führen wir diesen Rechtsschutz ein, ohne die Durchführbarkeit von
Wahlen zugleich unzumutbar zu beeinträchtigen. So
wichtig der Rechtsschutz in Wahlsachen auch ist, ist es
meines Erachtens noch wichtiger, dass Wahlen überhaupt fristgerecht stattfinden können.
Wenn wir einen Rechtsschutz in der Art einführen
würden, wie er teilweise vorgeschlagen wurde, dass
nämlich alle Rechtsschutzmöglichkeiten schon vor der
Wahl genutzt werden können, dann wäre das Chaos vorprogrammiert. Es ist auch keine Lösung, flächendeckend
alle Verwaltungsgerichte vor oder nach der Wahl mit der
Wahlprüfung zu beauftragen. Dies muss ein gebündeltes
Verfahren bleiben. Wir haben die Kombination aus
Rechtsschutz und Praktikabilität erreicht. Dafür sage ich
noch einmal allen Beteiligten einen ganz herzlichen
Dank.
({4})
Dieter Wiefelspütz ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In dieser Angelegenheit ist alles gesagt worden.
({0})
Es war aber Nacht, als alles gesagt wurde. Herr Krings
hat heute noch einmal in vollem Sonnenlicht das Nötige
gesagt. Ich möchte mich sehr herzlich für die gute und
faire Zusammenarbeit bedanken. Herr Ruppert, Herr
Krings und Herr Montag, ich glaube, wir haben das ganz
solide auf die Reihe bekommen. Herr Ruppert und Herr
Krings, Sie kriegen zwar sonst nichts auf die Reihe.
Aber an dieser Stelle hat alles gut funktioniert, auch deswegen, weil wir geholfen haben.
({1})
Wir haben in Deutschland ein wunderbares Wahlrecht. Es ist geprägt von Subtilität und Perfektion. Das,
was wir bei unseren Bundestagswahlen auf die Reihe
kriegen, ist mit Blick sowohl auf die praktische Durchführung als auch auf den rechtlichen Bereich mehr als
erstaunlich. Allerdings glaube ich, dass man an bestimmten Stellen ausgeprägte mathematische Kenntnisse
haben muss, um die Fallstricke und Subtilitäten wirklich
zu begreifen.
Herr Krings, hier haben wir in der Tat einen Dissens
in einer wichtigen Nuance, die zum Glück nie wahlentscheidend geworden ist, es jedoch werden kann. Daher
werden wir um eine entsprechende Lösung an anderer
Stelle ringen. Es gibt einen Dissens in Bezug auf das
negative Stimmgewicht und die Überhangmandate. Hier
hat diese Konstruktivität leider gefehlt. Deswegen tragen
wir diesen Streit vor dem Bundesverfassungsgericht aus.
Herr Ruppert und Herr Krings, es ist aber wie so häufig
im Leben: Sie werden eine zweite Chance bekommen.
Sie werden die zweite Chance bekommen, nach der Entscheidung des Gerichts vernünftig mit uns über die
Schaffung der letzten Perfektion im Bereich des Wahlrechts erneut zu reden.
Das, was wir heute machen, hat mit negativem
Stimmgewicht und mit Überhangmandaten nichts zu
tun, sondern wir füllen jetzt eine kleine - man könnte
fast „blamable“ sagen - Lücke in unserem Wahlrecht in
der Tat mit Inhalt, nämlich bei der Parteienzulassung,
worauf Herr Krings zu Recht hingewiesen hat. Es war
eines entwickelten Verfassungsstaats im Grunde unwürdig, dass es, wenn es um die Zulassung einer Partei ging,
keinen Rechtsschutz vor einer Bundestagswahl gab. Das
betrifft sicherlich nicht die etablierten Parteien. Aber
auch die neue Konkurrenz, neue und junge Parteien,
muss eine faire Chance haben, zu reagieren, wenn über
ihre Existenz gestritten wird, und das schaffen wir jetzt.
Wir haben noch eine zweite Verbesserung eingeführt.
Dabei geht es um den subjektiven Wahlrechtsschutz. Wir
haben in Deutschland ein perfektes Wahlprüfungsverfahren. Ich will das einmal anmerken: Dinge, die in Florida vor einigen Jahren passiert sind, sind in Deutschland
undenkbar, weil es bei uns an dieser Stelle perfekt funktioniert. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass im
Wahlprüfungsrecht die Tatsache berücksichtigt wird,
dass es das Königsrecht der Bürger ist, zu wählen. Von
daher ist es eine gute Verbesserung, dass wir in Zukunft
auch den subjektiven Wahlrechtsschutz im Wahlprüfungsverfahren wiederfinden. So gesehen haben wir hier
eine vernünftige Reform auf die Reihe gebracht.
Ich bedanke mich noch einmal sehr herzlich für die
konstruktive Zusammenarbeit. Ich wünsche alles Gute
und hoffe auf ein genauso vernünftiges Wiedersehen,
Herr Ruppert und Herr Krings, nach der Entscheidung
von Karlsruhe zum negativen Stimmgewicht.
Schönen Dank fürs Zuhören.
({2})
Stefan Ruppert von der FDP-Fraktion ist der nächste
Redner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Wiefelspütz, ich sehe Sie immer gerne wieder,
in der Sache Wahlrecht reicht die Zahl der Begegnungen
jetzt allerdings. Ich glaube, wir haben an zwei Stellen
ordentliche Verbesserungen in Bezug auf das Wahlrecht
erreicht: einmal beim eigentlichen Wahlverfahren und
jetzt beim subjektiven Wahlrechtsschutz. Beide Teile
dieser Reform werden Bestand haben.
Wenn man dieser Tage die Bilder aus Ägypten sieht,
wenn man sieht, wie sich die Menschen vor Wahllokalen
anstellen, wie sie warten und geduldig ausharren, um ihr
vornehmstes und neues Recht, das Wahlrecht, wahrnehmen zu können, wenn man sieht, welche Begeisterung
sie für neue demokratische Strukturen und Möglichkeiten entwickeln, dann spürt man etwas vom Zauber, den
Demokratie bei Menschen auslösen kann.
Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg und auch am
Ende der 60er- und in den 70er-Jahren ganz hohe Wahlbeteiligungen gehabt, die klar zeigten: Jeder wollte seine
politische Überzeugung zum Ausdruck bringen und daher sein Wahlrecht ausüben. Mittlerweile, nach 60 Jahren gefestigter Demokratie in Deutschland, ist klar geworden, dass die Menschen diesen Institutionen und
diesem Wahlsystem vertrauen und dass es sich bewährt
hat.
Es ist ein gutes Zeichen, dass man trotzdem weiter an
der Befestigung eines so guten bestehenden Systems
arbeitet, die Missstände behebt und die Teile, die noch
nicht gut gelungen sind, noch weiter verbessert. Das
haben wir mit dieser Reform zum subjektiven Wahlrechtsschutz heute getan. Ich glaube, alle Demokraten,
und zwar von der Linkspartei über die SPD, die Grünen
und die CDU/CSU bis hin zur FDP, können gemeinsam
stolz darauf sein, dass wir ein solch gutes, funktionierendes Wahlsystem in Deutschland haben.
({0})
Ich bin über die Änderungen froh. In Deutschland
kann man gegen die Anbringung einer Dachrinne und
gegen Glühbirnen beim Nachbarn klagen. Gegen alles
Mögliche ist Rechtsschutz möglich. Trotzdem war es bis
heute nicht möglich, dass eine Partei, die am demokratischen Prozess teilnehmen und sich in dieses Gemeinwesen einbringen wollte, gegen eine ablehnende Entscheidung des Bundeswahlausschusses Rechtsmittel einlegen
konnte.
({1})
Das ist undenkbar. Dieser Missstand musste beseitigt
werden. Dafür war es höchste Zeit.
({2})
Der Gesetzentwurf muss die notwendige Balance
zwischen den Belangen von funktionierenden Institutionen unserer Demokratie, der Bestandsfähigkeit und der
Arbeitsfähigkeit des Bundestages auf der einen Seite und
dem subjektiven Wahlrechtsschutz auf der anderen Seite
finden. Deswegen haben wir gesagt: Es muss möglich
sein, nach der Wahl die Feststellung treffen zu können,
ob der Ausschluss von der Wahl, ob die Nichtzulassung
einer Landesliste rechtmäßig oder rechtswidrig war,
ohne dass wir andererseits den Bestand und die Arbeitsfähigkeit funktionierender demokratischer Gremien wie
dieses Bundestages gefährden. Diese Balance haben wir
in diesem Gesetzentwurf meiner Meinung nach gut
erreicht.
Jetzt stellt sich mir als drittem Redner an einer solch
prominenten Stelle - die Kollegin Wawzyniak und der
Kollege Montag werden diese Erfahrung gleich nach mir
machen - die Frage: Soll man bei dieser Gelegenheit so
ausführlich über die Gemeinsamkeiten von Demokraten
reden? Ich sage den Zuhörern und Zuschauern, aber
auch allen hier im Saal: Ja, man soll, weil wir wieder
einmal bewiesen haben, dass in der repräsentativen
Demokratie mittels einer Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg ein Konsens gefunden werden kann und
auch große praktische Probleme aus dem Weg geräumt
werden können. Gespräche führen dazu, dass diese
Demokratie wunderbare und, wie ich finde, sehr sachgerechte Kompromisse und Ergebnisse zeitigt. Darüber
können wir als Demokraten alle sehr froh sein, und darauf können wir stolz sein.
({3})
Ich bin froh, dass jetzt nach zwei Jahren die Debatte
mit Fachleuten und Wissenschaftlern zu einem Abschluss gekommen ist. Man muss auch einmal sagen:
Ein wichtiger Impuls zur Reform des Wahlrechts kam
aus der Wissenschaft.
({4})
Der Kollege Heinrich Lang hat 1996 in seiner Dissertation einen Vorschlag gemacht, der dem, den wir heute
verwirklichen, sehr ähnlich ist. Es ist doch einmal schön,
zu sehen, wie wissenschaftliche Debatten Eingang in die
Arbeit des Bundestages finden. Ich bin froh, dass wir
diesen Gesetzentwurf weiterentwickelt haben.
Ich danke auch Herrn Strobl, der uns zur rechten Zeit
auf die notwendigen Erfordernisse der Praxis, auf die
Arbeitsfähigkeit eines Wahlprüfungsausschusses und
darauf, dass wir auch in angemessener Zeit bei der Wahlprüfung zu Ergebnissen kommen müssen, hingewiesen
hat. Insofern haben wir es auch an dieser Stelle
geschafft, die sehr wohlbegründeten Bedenken einzuarbeiten, und am Ende einen wunderbaren Gesetzentwurf
vorgelegt. Ich empfehle Ihnen allen die Zustimmung.
Ich habe auch mit der Fraktion Die Linke wiederholt
Gespräche geführt.
({5})
Auch ihr Gesetzentwurf enthält viele positive Elemente,
denen ich zustimme. Aber beim Fristenregime und bei
der Frage des Rechtsschutzes hinsichtlich der Parteienzulassung vor den Verwaltungsgerichten kommt unser
ansonsten robustes Wahlsystem zu leicht ins Schwanken.
Deswegen folge ich Ihnen aus fachlichen Gründen an
dieser Stelle nicht. Aber ich erkenne an, dass meiner
Meinung nach auch Sie in die richtige Richtung gedacht
haben. Vielleicht schaffen wir es beim nächsten Mal,
wenn wieder solche Fragen auftauchen, alle gemeinsam
zusammenzuarbeiten. Darauf freue ich mich.
Ich stimme unseren Gesetzentwürfen aus vollem Herzen zu.
Vielen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Wawzyniak das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin außerordentlich erfreut, dass alle anderen Parteien der Linken folgen und eine Sonneborn-Regelung
zum Rechtsschutz im Wahlrecht einführen wollen. Sie
dürfen das natürlich nicht so nennen. Die Sonneborn-Regelung ist bei Ihnen außerdem nur eine halbe SonnebornRegelung. Das werde ich Ihnen jetzt anhand der KringsKriterien erläutern.
Herr Krings hat in der Debatte zum Gesetzentwurf
der Linken Kriterien an unseren Gesetzentwurf angelegt.
Diese Kriterien legen wir jetzt einmal an Ihren Gesetzentwurf an.
({0})
Da stellen wir zunächst fest: In Ihrem Gesetzentwurf
beträgt die Frist zwischen der Entscheidung des Bundeswahlausschusses und des Bundesverfassungsgerichts im
schlimmsten Falle 16 Tage, im Gesetzentwurf der Linken 18 Tage. Zudem enthält der Gesetzentwurf der anderen Fraktionen keinerlei Regelung, wie es in dem Falle
zuzugehen hat, wenn eine vorgezogene Bundestagswahl
stattfindet. Wir fanden das nicht schlimm und haben deshalb in unseren Gesetzentwurf keine Regelung dazu aufgenommen. Herr Krings fand das aber schlimm. Eine
Regelung dazu ist jedoch auch in Ihrem Gesetzentwurf
nicht enthalten.
({1})
Wir müssen drittens feststellen, dass Sie allein den
Rechtsschutz für die Nichtzulassung als Partei regeln.
Was Sie nicht regeln, ist der Rechtsschutz vor der Wahl,
wenn eine Landesliste oder ein Kreiswahlvorschlag
nicht zugelassen wird. Damit haben Sie nur die halbe
Sonneborn-Regelung vorgesehen.
Herr Krings, man kann eine Landesliste und einen
Kreiswahlvorschlag selbst dann nicht zulassen, wenn die
Parteieigenschaft festgestellt worden ist. Insofern zieht
Ihr Argument, dass es zu widersprüchlichen Entscheidungen kommen könnte, in keinem Fall.
({2})
Sie lösen das Problem der Wahlausschüsse aus meiner
Sicht etwas unbefriedigend. Wir haben das Problem
- das sehen Sie offensichtlich auch so -, dass die Konkurrenz, nämlich die Parteien, die im Bundestag vertreten sind, über die Zulassung der anderen Parteien
entscheiden. Nun kommen Sie auf die Idee, die Wahlausschüsse auch mit Richterinnen und Richtern zu besetzen. Wir haben unsere Erfahrungen mit Richterinnen
und Richtern, aber das ist ein Placebo. Denn es ändert
nicht wirklich etwas an dem Problem, dass die Konkurrenz über die Zulassung entscheidet.
Sie haben uns vorgeworfen, dass wir in unserem Gesetzentwurf keine Grundgesetzänderung vorsehen. Ja,
wir hielten das nicht für nötig. Sie halten das für nötig.
Deswegen stimmen wir auch nicht dagegen.
({3})
Sie sagen: Sie regeln in Ihrem Gesetzentwurf den
subjektiven Rechtsschutz, nämlich dass sich Bürgerinnen und Bürger, die der Meinung sind, bei der Wahl in
ihren Rechten eingeschränkt worden zu sein, dagegen
wehren können. Sie alle haben verschwiegen, dass das,
was Sie in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen haben,
auf Anregung der Fraktion Die Linke geschehen ist. Das
ist gut; es geht aber nicht weit genug. Denn am Ende
bleibt es nur ein nachträglicher Rechtsschutz. Auch das
geht nicht weit genug; es schadet aber auch nicht. Deswegen stimmen wir auch an dieser Stelle nicht dagegen.
Besonders schwierig finde ich aber, dass Sie Fragen
offengelassen haben. Was passiert eigentlich, wenn das
Bundesverfassungsgericht die Parteieigenschaft bejaht?
Wie lange gilt das? Für vier, drei oder zwei Jahre? Was
passiert, wenn das Bundesverfassungsgericht in der von
Ihnen gesetzten Frist nicht über die Parteieigenschaft
entscheidet?
Wir finden, dass im Zweifelsfall die Parteieigenschaft
festgestellt werden sollte. Das heißt, Sie hätten klarstellen müssen: Wenn das Bundesverfassungsgericht nicht
entscheidet, gilt eine Partei als zugelassen.
Abschließend muss ich Ihnen sagen: Wir machen
keine halben Sachen.
({4})
Weil Sie nur halbe Sachen machen und nur die halbe
Sonneborn-Regelung aufnehmen, werden wir uns bei Ihrem Gesetzentwurf enthalten.
({5})
Der Kollege Montag ist der nächste Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Rede, die wir von der Kollegin Wawzyniak gehört haben, ist so ausgefallen, weil die Union sich der Linken
gegenüber in einer bestimmten Art und Weise verhält.
({0})
Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir mit Frau
Wawzyniak verhandelt hätten, dann hätten wir gute
Kompromisse gefunden. Dann hätte sie keinen Grund
gehabt, eine solch mäkelige Rede zu unserem Gesetzentwurf zu halten.
({1})
Denn in der Sache sind die Kritikpunkte nicht berechtigt.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit
in Europa, die OSZE, hat 2009 die Bundestagswahlen
beobachtet. Es ist nicht verwunderlich: Die Kommission, die die Rechtmäßigkeit und demokratische Durchführung der Wahlen in Deutschland beobachtet hat, hat
uns beste Zeugnisse ausgestellt - bis auf einen Punkt:
Parteien, die an Wahlen teilnehmen wollen, benötigen
eine Zulassung. Eine solche Zulassung spricht nur der
Bundeswahlausschuss aus. Wenn er eine Zulassung ablehnt, kann die Partei an den Wahlen nicht teilnehmen.
Obwohl es die Grundrechtsgarantie des Rechtswegs vor
die ordentliche Gerichten gibt, kann die Partei bisher ihr
Recht auf Teilnahme an den Wahlen nicht einklagen.
Das ist ein Missstand. Das ist in einer gewachsenen
Demokratie ein Fehler. Das ist auch der zentrale Punkt
unserer Reform.
Wir benötigen eine Grundgesetzänderung, damit das
Bundesverfassungsgericht in den besagten Fällen die
Möglichkeit erhält, noch vor der Wahl den betroffenen
Gruppierungen mitzuteilen, ob sie an den Wahlen teilnehmen dürfen oder nicht. Dies ist der entscheidende
Punkt der Reform, die wir durchführen.
Der zweite genauso wichtige Punkt ist, dass Bürgerinnen und Bürger manchmal an der Ausübung ihres
Rechts, sich an Wahlen zu beteiligen - entweder aktiv,
indem sie wählen gehen wollen, oder passiv, indem sie
über Landeslisten oder als Direktkandidaten gewählt
werden wollen -, in dem hochkomplexen Verfahren einer Bundestagswahl - ein Verfahren, das nicht fehlerlos
ist - gehindert werden. Einige werden nicht zur Wahl zugelassen. Einigen wird verwehrt, zu wählen. Es ist ein
Manko, dass sich die betroffenen Bürgerinnen und Bürger - es handelt sich zum Glück nur um wenige - nur
nach der Wahl beim Bundestag darüber beschweren können.
Wir haben darüber nachgedacht, wie wir die Position
dieser Menschen stärken können. Unsere Lösung ist:
Wir stellen die Wahl als insgesamt funktionierendes Unternehmen nicht infrage, bieten den betroffenen Menschen aber ein Verfahren an, an dessen Ende ihnen gesagt wird, ob ihnen Unrecht geschehen ist oder nicht.
Das ist subjektiver Rechtsschutz; den führen wir nun
mithilfe von Wahlausschüssen, Beschwerdeinstanzen
und der Entscheidung des Bundestages ein. Wir werden
in Zukunft nicht nur feststellen, ob die Wahl insgesamt
ordnungsgemäß durchgeführt wurde, sondern auch, ob
dem Einzelnen Unrecht geschehen ist oder nicht.
({2})
Alles in allem freue ich mich sehr darüber, dass ich
mich an dieser Reform beteiligen konnte. Ich empfehle
Ihnen allen, sowohl die Grundgesetzänderung als auch
die Gesetzesänderungen anzunehmen. Ich wünsche mir,
dass wir recht bald ein ähnlich hohes Maß der Zusammenarbeit bei der Reform des Wahlrechts, das für dieses
Parlament notwendig ist, auch bei den strittigen Fragen
des negativen Stimmgewichts erreichen werden.
Danke schön.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Strobl für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele, die
diese Debatte in diesem Hause als Abgeordneter, als Zuhörer oder außerhalb des Deutschen Bundstages verfolgen, sind vielleicht etwas erstaunt über die Abstraktheit
des Themas.
({0})
Aber es geht um eine Materie, die die Wählerinnen und
Wähler in Deutschland ganz konkret betrifft. Es geht darum, wann und wie kontrolliert wird, ob eine Bundestagswahl ordnungsgemäß abgelaufen ist und ob die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages tatsächlich
dem Willen der Wählerinnen und Wähler entspricht.
Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel aus der Praxis des Wahlprüfungsausschusses nennen, um das zu
verdeutlichen. So beklagte etwa ein Einspruchsführer,
dass sein Wahllokal in der Schalterhalle einer Sparkasse
eingerichtet wurde, obwohl die Überwachungskameras
aus versicherungstechnischen Gründen nicht abgeschaltet werden konnten. Er fühlte sich bei seiner Stimmabgabe unzulässig beobachtet. Sein Gefühl täuschte ihn
nicht. Er hatte freilich recht.
Das Grundgesetz besagt nun, dass die Wahlprüfung
Sache des Bundestags bzw. des Wahlprüfungsausschusses ist. So erreichten uns bei der letzten Bundestagswahl
163 Einsprüche. Bei vorangegangenen Bundestagswahlen waren es zum Teil 500 bis 600 Einsprüche. Obwohl
immer wieder zahlreiche Wahlfehler festgestellt werden,
ist noch nie eine Bundestagswahl wiederholt worden.
Dies lag daran, dass sich bei der Prüfung keiner der
Wahlfehler als so umfassend herausgestellt hat, dass er
Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestags gehabt hat oder auch nur in irgendeiner Art und Weise
hätte haben können. Wir untersuchen also ganz konkrete
Fälle. Wenn es nicht denkbar ist, dass man zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, selbst wenn alle Stimmen, die in unrechtmäßiger Art und Weise nicht gezählt
worden sind, dem nicht gewählten Abgeordneten zugefallen wären, dann wird der Einspruch abgewiesen.
Nun wollen wir die Tatsache, dass ein Wahlfehler
passiert ist, auch wenn es eine Abweisung des Einspruchs aufgrund mangelnder Mandatsrelevanz gibt, in
der Tenorierung des Beschlusses deutlich herausstellen.
Wir wollen dies nicht nur deswegen tun, damit diejenigen, die Einspruch erheben, etwas zufriedener sind, sondern wir erhoffen uns dadurch eine stärkere Wirkung,
dass sich solche Wahlfehler in Zukunft nicht wiederholen.
Das Wahlrecht darf nicht nur auf dem Papier gelten,
sondern es muss aufmerksam und sorgfältig kontrolliert
und weiterentwickelt werden. Das Wahlrecht ist ein Essential, ein Grundrecht unserer Demokratie, auf dem
letztlich alles andere aufbaut. Um es mit den Worten des
Bundesverfassungsgerichts zu sagen: Der permanente
Prozess der Willensbildung des Volkes mündet ein in
den entscheidenden Akt der Parlamentswahl. Hierdurch
übt das Volk den ihm gebührenden Einfluss auf die Bildung des staatlichen Willens durch seine verfassten Organe aus.
Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist der
Schutz des Wahlrechts unserer Bürgerinnen und Bürger
in jedem Fall eine der vornehmsten Pflichten des Parlaments selber.
Dazu gehört auch der zweite Punkt, der heute beschlossen werden soll. Bisher hatten insbesondere kleine
und neue Parteien, denen vor der Wahl die Zulassung als
Partei versagt und damit die Chance genommen wurde,
von den Wählerinnen und Wählern überhaupt gewählt
werden zu können, nur die Möglichkeit, nach einer Wahl
dagegen Einspruch einzulegen. Für mich persönlich war
das eine Rechtsschutzlücke, die wir heute richtigerweise
schließen.
({1})
Durch eine wirklich sehr konstruktive Zusammenarbeit im Ausschuss ist es uns gelungen, den ursprünglichen Entwurfstext durch einige wenige Detailregelungen, die das Verfahren im Wahlprüfungsausschuss
betreffen, zu konkretisieren. Wir haben Regelungen
gefunden, die den Wahlprüfungsausschuss und den
Deutschen Bundestag nicht überfordern und den Ermittlungsaufwand in angemessenen Grenzen halten. Die
Wahlprüfungsverfahren sollen, auch wenn es mehrere
Hundert sind, nicht erst dann abgeschlossen werden können, wenn die nächste Bundestagswahl schon vor der
Tür steht. Hier war ein sorgfältiger Abwägungsprozess
vorzunehmen.
Ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen
herzlich dafür bedanken, dass wir Regelungen gefunden
und Abwägungen in einer Art und Weise vorgenommen
haben, die einerseits die nötige Schnelligkeit der Wahlprüfung mit einem vertretbaren Aufwand ermöglichen
und andererseits auch dem Interesse des Einsprechenden
gerecht werden, und dass wir Wahlfehler in der Tenorierung des Beschlusses explizit feststellen, auch wenn wir
den Einspruch mangels Mandatsrelevanz abweisen müssen.
({2})
Herzlichen Dank insbesondere den Kollegen Dr. Krings,
Dr. Wiefelspütz, Dr. Ruppert und Herrn Kollegen
Montag.
Es ist immer wieder gut, dass die demokratischen Parteien in diesem Hause bei allem notwendigen und leidenschaftlich geführten Streit auch in der Lage sind,
fraktionsübergreifend das zu gestalten, was gemeinsam
gestaltet werden sollte. Zu dem, was gemeinsam gestaltet werden sollte, gehört meines Erachtens auch das
Thomas Strobl ({3})
Wahlrecht; denn das Wahlrecht gilt für alle. Insofern
möchte ich mich insgesamt bei den Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die
Grünen dafür bedanken, dass wir nun ein gemeinsames
Ergebnis zur Stärkung und zum Schutz unseres Wahlrechts gefunden haben. Ich möchte mich auch für die angekündigte Zustimmung bei der Schlussabstimmung zu
diesen Gesetzesänderungen bedanken, die eine Weiterentwicklung des Wahlrechts, aber auch eine Weiterentwicklung unserer Verfassung, des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland, beinhalten.
Ihnen allen danke ich herzlich für das Zuhören.
({4})
Nun bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit für die letzte
Rednerin, die Kollegin Steffen,
({0})
bevor wir dann zu der namentlichen Abstimmung kommen. Nehmen Sie doch bitte noch einen Augenblick
Platz, und sorgen Sie mindestens für die notwendige
Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Dr. Ruppert hat vorhin schon auf die Wahlen in
Ägypten verwiesen, die dort mit viel Begeisterung wahrgenommen werden. Bei uns in Deutschland sieht die Situation etwas anders aus. Gerade in Zeiten der Politikund Parteienverdrossenheit, wie wir sie hier erleben,
können wir es uns meines Erachtens nicht leisten, im
Wahlrechtsschutz Lücken zu lassen, die das subjektive
Wahlrecht abwerten und neuen Parteien den Zugang zu
Wahlen erschweren.
Als Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung war ich erst gegen Ende der parlamentarischen Beratungen einbezogen. Auch ich möchte an dieser Stelle
meinen Kollegen danken, die über viele Monate - wir
haben vorhin gehört, dass es zwei Jahre waren - die Beratungen geführt und die Ausarbeitung des Gesetzentwurfs vorangetrieben haben. Sie sind zu einem guten Ergebnis gekommen - auch durch die Erkenntnis, dass der
Geschäftsordnungsausschuss hier mit einbezogen werden muss.
Auf Vorschlag des 1. Ausschusses - der Kollege
Strobl hat es bereits gesagt - sind nun noch einige Präzisierungen vorgenommen worden. Letztendlich wird sich
erst in der Praxis zeigen, ob wir Regelungen gefunden
haben, die einen ausgewogenen Kompromiss zwischen
der Stärkung des subjektiven Wahlrechts einerseits und
der Praktikabilität andererseits darstellen.
({0})
Es gibt unzählige Beispiele - einige davon sind schon
genannt worden -, wie das Wahlrecht verletzt werden
kann.
Einen Augenblick, bitte. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich darf Sie nun wirklich bitten, noch einen
Augenblick zuzuhören und mit der gebotenen Aufmerksamkeit diese Debatte - wir ändern gleich das Grundgesetz - zu einem angemessenen Abschluss zu führen.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. Es ist tatsächlich etwas
schwierig, gegen die Geräuschkulisse anzureden.
Um welche Beispiele geht es? Zu nennen sind unter
anderem die fehlende Prüfung der Ausweispflicht im
Wahllokal, nicht vorhandene Briefmarken für die Briefwahl, der verspätete Erhalt der Briefwahlunterlagen und
Wahlwerbung unmittelbar vor dem Wahllokal. Es gibt
unzählige Beispiele. Viele der Kolleginnen und Kollegen, die heute hier sitzen, dürften schon ähnliche Fälle
erlebt haben oder während Bürgersprechstunden vorgetragen bekommen haben.
Natürlich ist es nicht Sache des Wahlprüfungsausschusses, jede gefühlte Verletzung des Wahlrechts zukünftig kleinteilig zu prüfen. Hier muss der Ausschuss
eine Möglichkeit haben, ein gewisses Ermittlungsermessen auszuüben. Das haben wir in dem Entwurf auch so
vorgesehen.
Schade ist - das hat der Kollege Montag vorhin schon
gesagt -, dass bei dem wichtigen Thema Wahlrechtsschutz, das alle Parlamentarier betrifft und eigentlich
überparteilich gelöst werden müsste, immer wieder Ausgrenzereien stattfinden. Ich würde mir wünschen, meine
Damen und Herren von der Regierungskoalition, dass
Sie zukünftig alle Fraktionen mit einbeziehen, also auch
die der Linken - wobei ich mir nach Ihrer Rede, Frau
Wawzyniak, allerdings nicht sicher bin, inwieweit Ihre
Fraktion tatsächlich zu einer konstruktiven Mitarbeit bereit gewesen wäre.
({0})
Meine Damen und Herren, der Präsident hat schon
darauf hingewiesen, dass wir heute das Grundgesetz ändern. Gerade meine Kolleginnen und Kollegen aus dem
Rechtsausschuss werden mir zustimmen, dass wir es uns
mit Änderungen des Grundgesetzes nie einfach machen.
Neben der erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Parlament bedürfen Grundgesetzerweiterungen einer ganz besonderen Bedeutung.
Mit den vorliegenden Gesetzentwürfen stärken wir
unsere parlamentarische Demokratie und das Wahlrecht
als ihren fundamentalsten Bestandteil.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes kommen, möchte ich mich auch persönlich noch einmal bei allen beteiligten Kolleginnen und
Kollegen aus allen Fraktionen für die Regelung bedanken, die sie mit großer Übereinstimmung gefunden haben. Der eine oder andere mag sich daran erinnern, dass
ich zu Beginn dieser Legislaturperiode an dieser Stelle
ausdrücklich Regelungsbedarf angemeldet habe. Denn
gerade mit Blick auf das auch international hochgeschätzte deutsche Wahlrecht war das Thema, das wir
heute regeln, mehr als ein Schönheitsfehler. Sosehr uns
diese Regelung abstrakt vorkommen mag, im konkreten
Fall hätte sie handfeste Folgen für unser eigenes Verständnis von der Legitimität von Wahlen. Insofern findet
heute eine scheinbar unauffällige, aber wesentliche Ausbesserung einer ärgerlichen Lücke statt. Deswegen noch
einmal herzlichen Dank an alle, die diese einvernehmliche Regelung ermöglicht haben.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ausschuss für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 17/9733, den Gesetzentwurf auf der
Drucksache 17/9392 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit breiter Mehrheit
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke in zweiter Bera-
tung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass zur
Annahme des Gesetzentwurfs die Mehrheit von zwei
Dritteln der Mitglieder des Bundestages erforderlich ist;
das sind mindestens 414 Stimmen.
Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf namentlich
ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind von den
Schriftführern alle Plätze an den Abstimmungsurnen be-
setzt? - Das sieht so aus. Dann eröffne ich hiermit die
Abstimmung.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein
Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht
abgegeben hat? - Dann empfehle ich den Schriftführe-
rinnen und Schriftführern, ihre Stimmkarte einzuwerfen,
schließe damit die Abstimmung und bitte, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen
Abstimmung teilen wir wie immer während der weiteren
Sitzung mit.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Tagesordnungspunkt 9 b. Hier geht es um die Abstimmung über den
von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur
Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen. Der
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf der schon zitierten Drucksache 17/9733,
den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache
17/9391 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist der Gesetzentwurf mit der großen Mehrheit
des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke
angenommen.
Wir kommen nun unter dem Tagesordnungspunkt 9 c
zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke zur Stärkung des Rechtsschutzes im Wahlrecht durch Einführung der sogenannten Sonneborn-Regelung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/9748, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/7848 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den vorhin genannten Mehrheiten abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 4:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Hubertus
Heil ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Chancen eröffnen und Fachkräfte sichern
- Drucksache 17/9725 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({3})1) Ergebnis Seite 21479 D
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fachkräftesicherung wird zur zentralen ökonomischen, aber auch zur zentralen sozialen Frage des
nächsten Jahrzehnts. Das weiß jeder, der sich mit der
Entwicklung am Arbeitsmarkt auskennt. Aber, meine
Damen und Herren, es ist wie so oft: Diese Bundesregierung - ähnlich wie beim Thema Energiewende, ähnlich
wie bei der Bewältigung der Krise in Europa - unterschätzt die Bedeutung dieses Themas.
({0})
Worum geht es? Es geht darum, angesichts der Veränderungen in der Demografie, die sich am Arbeitsmarkt
in den nächsten Jahren auswirken werden, zu begreifen,
dass wir an einer Weggabelung stehen. Entweder wir lassen zu, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland sich weiter
spaltet, dass auf der einen Seite immer mehr Unternehmen händeringend qualifizierte Fachkräfte suchen und
auf der anderen Seite viel zu viele Menschen durch
Langzeitarbeitslosigkeit oder prekäre Arbeitsverhältnisse abgehängt werden, dass diese Spaltung sich also
vertieft, oder wir nützen die Entwicklung dafür, dass der
soziale Aufstieg in diesem Land wieder zum Thema
wird, dass Menschen die Möglichkeit haben, teilzunehmen, dass wir uns einmal ein ambitioniertes Ziel vornehmen, nämlich dass Menschen in guter Arbeit sind und in
10 bis 15 Jahren in diesem Land wieder Vollbeschäftigung herrscht. Vor dieser Wahl stehen wir, wenn es um
das Thema Fachkräftesicherung geht.
Und was tun Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition? Schöne Reden halten. Es gab im letzten Jahr
einen Gipfel mit den Sozialpartnern - wenn Sie sich mit
Leuten treffen, nennen Sie das immer „Gipfel“ - in Meseberg. Dort ist unverbindlich über dieses Thema geredet worden. Dieser Gipfel gibt aber keine Antwort auf
die Frage, wie man die gemeinsame Kraftanstrengung
zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik gestaltet, um den Herausforderungen des Fachkräftebedarfs
der Zukunft zu begegnen.
Wir dagegen schlagen vor, dass wir uns auf den Weg
machen, die Chancen, die diese Entwicklung bietet, zu
nutzen, um die Spaltung am Arbeitsmarkt zu überwinden. Dazu muss man sich das Potenzial der Menschen in
diesem Land vergegenwärtigen, die wir dringend brauchen und denen wir eine Chance geben müssen, damit
sie in diesem Land am Arbeitsleben teilhaben können.
Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Die Bundesagentur für
Arbeit hat uns das ins Stammbuch geschrieben.
In erster Linie müssen wir die Frage beantworten, wie
wir es schaffen, dass mehr junge Leute die Chance auf
schulische Bildung, einen Schulabschluss und Ausbildung haben.
({1})
In Deutschland verlassen Jahr für Jahr 65 000 Menschen
die Schulen ohne schulischen Abschluss. Wenn wir nicht
aufpassen, organisieren wir den Nachwuchs für Langzeitarbeitslosigkeit. Das können wir uns aber weder sozial noch ökonomisch leisten. Die Zahl der Ausbildungsabbrecher in diesem Land ist ein Problem. 1,5 Millionen
Menschen in Deutschland zwischen 20 und 30 Jahren
haben keine berufliche Erstausbildung. Das Potenzial
müssen wir heben. Dafür müssen wir die frühe und individuelle Förderung von Kindern und das längere gemeinsame Lernen in den Schulen durchsetzen. Das ist
der Auftrag an die Bundesländer in Deutschland.
({2})
Wir müssen uns aber auch um die kümmern, die
schon einmal gescheitert sind. Wir brauchen eine Kultur
der zweiten Chance. In diesem Zusammenhang ist es
sträflich, dass die Bundeministerin von der Leyen, die
jetzt nicht da ist, die Chancen der jungen Leute, die es
von Haus aus schwer haben und den Einstieg bereits einmal verpasst haben, durch die Kürzungen im Bereich der
Arbeitsmarktpolitik noch weiter verschlechtert. Das
nenne ich fahrlässig. Das ist das Gegenteil von Fachkräftesicherung.
({3})
Die größte Ressource - auch das sagt die Bundesagentur für Arbeit - für die Fachkräftesicherung in unserem Land sind neben den jungen Menschen mit den Bereichen der schulischen Bildung, der Ausbildung und
des Hochschulzugangs die Frauen in Deutschland.
({4})
In diesem Land haben wir eine Generation von gut ausgebildeten jungen Frauen, besser denn je. Wenn man
sich aber die Chancen für den beruflichen Einstieg und
Aufstieg von Frauen ansieht, stellt man fest: Das ist unmöglich und nicht mehr zeitgemäß. Im Bereich der Erhöhung der Frauenerwerbsquote in diesem Land und des
Arbeitsvolumens von Frauen, die unfreiwillig in der
Teilzeitfalle stecken, liegt ein Riesenpotenzial. Und was
macht diese Bundesregierung? Anstatt Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf im Interesse von Männern und Frauen zu verbessern, wollen Sie ein unsinniges Betreuungsgeld, eine
Fernhalteprämie einführen, um Frauen vom Arbeitsmarkt und Kinder von der frühkindlichen Förderung
fernzuhalten.
({5})
Das ist das Gegenteil von Fachkräftesicherung.
Sie haben nicht begriffen, dass man gerade in guten
Zeiten - in Deutschland sind wir in wirtschaftlich guten
Zeiten - in die Zukunft investieren, dass man säen muss,
um ernten zu können. Sie haben das nicht begriffen. Das
betrifft vor allem die Chancen der Jugendlichen und die
Chancen von Frauen.
Was ist das dritte große Potenzial? Es steckt in der
Frage, ob wir es schaffen, dass die Menschen beschäftigungsfähig bleiben, dass Menschen über 55 Jahren nicht
zum alten Eisen gehören und dass sie eine Chance zum
Arbeiten haben. Wenn man das will, dann muss man geHubertus Heil ({6})
gen unwürdige, prekäre Arbeitsverhältnisse in diesem
Land vorgehen,
({7})
dann muss man den Gesundheitsschutz fördern und Weiterbildung betreiben. Auch da gibt es nur schöne Broschüren, warme Worte und keine konkreten Maßnahmen
dieser Bundesregierung.
Wir schlagen Ihnen vor, mit diesem Thema anders
umzugehen. Wir wissen, dass es vor allen Dingen die
Aufgabe der Wirtschaft und der Unternehmen selbst ist,
sich diesem Thema zu widmen, weil sie dringend qualifizierte Fachkräfte suchen. Viele kluge Unternehmen haben das schon begriffen und stellen sich darauf ein. Einige Unternehmen müssen in diesem Bereich noch viel
nachholen. Wir müssen uns aber auch als Staat zusammen mit der Wirtschaft, den Tarifparteien, der Bundesagentur für Arbeit, den Wohlfahrtsverbänden und den
kommunalen Spitzenverbänden diesem Thema zuwenden. Nach meiner festen Überzeugung wird nach wie vor
unterschätzt, was in den nächsten Jahren an Risiken und
Chancen auf uns zukommt. Um die Chancen zu nutzen
und den Risiken entgegenzuwirken reicht es jedoch nicht
aus, unverbindliche Gipfeltreffen zu organisieren, auf
denen man über dieses Thema nach dem Motto „Es ist
wichtig, dass man darüber geredet hat“ spricht. Wir werden zu konkreten Vereinbarungen kommen müssen.
Bundesarbeitsminister Olaf Scholz hat im Jahr 2009
dazu die ersten Schritte getan. Die Allianz für Fachkräfte, die er auf den Weg gebracht hat, war der erste
Schritt hin zu einer besseren Koordinierung zwischen
den verschiedenen Akteuren.
Wir schlagen vor, dass wir einen Schritt weiter gehen.
Wir wollen mit Ihnen darüber diskutieren, ob es nicht
sinnvoll ist, in diesem Land einen „Rat für Fachkräftesicherung“ einzuführen. Dieser sollte hochkarätig angesiedelt sein, damit die Kompetenzen in den Ministerien
nicht weiter verstreut sind, sich diese nicht weiter wechselseitig blockieren, lediglich Broschüren produzieren
und am Ende des Tages unverbindliche Gespräche führen.
({8})
Damit können wir die Potenziale in diesem Land tatsächlich mobilisieren.
Noch etwas: Wenn ich die Verlautbarungen der Bundesregierung zum Thema Fachkräftesicherung lese,
dann fällt mir auf, dass - zu Recht, gar keine Frage sehr viel davon die Rede ist, dass wir mehr hochqualifizierte Akademikerinnen und Akademiker in diesem
Lande brauchen. Dazu braucht man übrigens erhebliche
Anstrengungen zwischen Bund und Ländern, was den
Ausbau von Studienplätzen betrifft. Es müssen auch
mehr Möglichkeiten geschaffen werden, dass Menschen
auch ohne allgemeine Hochschulreife die Chance haben,
aufsteigen zu können.
Ein Thema jedoch spielt bei Ihnen fast keine Rolle,
nämlich die Notwendigkeit, in der Breite der Qualifikation, im Bereich der dualen Berufsausbildung voranzukommen. Sie unterschätzen diesen Standortvorteil. Auch
hier gibt es keine Initiativen. Wir sagen Ihnen: Wir müssen umkehren und dafür sorgen, dass diese Fragen wieder zu einem großen Thema in der Politik werden, und
zwar nicht nur im Hinblick auf das Reden, sondern vor
allem im Hinblick auf das Handeln.
({9})
Herr Kollege.
Ich will Ihnen abschließend sagen: Es sind die zentralen Fragen unserer Zeit, die sich beim Thema Fachkräftesicherung bündeln. Es geht um die Fragen, ob wir wirtschaftlich erfolgreich bleiben, ob wir Vollbeschäftigung
erreichen, ob wir es schaffen, dass die Generationen in
diesem Lande, die sich im Altersaufbau verändern werden, gut zusammenleben, ob gleiche Bildungschancen
für alle möglich sind, ob wir die Gleichstellung von
Männern und Frauen durchsetzen und ob wir eine weltoffene, integrationsfähige Gesellschaft bleiben.
Das sind die Fragen, die sich in diesem Thema wie in
einem Brennglas bündeln. Ich kann nur sagen: Es ist
sträflich, dass die Bundesregierung diese wichtigen Fragen - wie bei der Energiewende, wie bei der Krise in
Europa - derart vernachlässigt.
({0})
Wir setzen Konzepte dagegen, wir machen Vorschläge.
Bewegen Sie sich auf uns zu. Das wäre gut für Deutschland.
Herzlichen Dank.
({1})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen zur Änderung des Grundgesetzes mitteilen: abgegebene Stimmen
576. Für die Annahme ist nach den Regelungen unserer
Verfassung die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages erforderlich, das sind 414 Stimmen. Enthalten haben sich 66 Kolleginnen und
Kollegen, mit Ja gestimmt haben 510. Es hat keine Neinstimmen gegeben. Damit ist der Gesetzentwurf mit der
erforderlichen Mehrheit angenommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 576;
davon
ja: 510
enthalten: 66
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({11})
Michaela Noll
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({13})
Anita Schäfer ({14})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({15})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({16})
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({23})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({24})
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({25})
Hubertus Heil ({26})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({27})
Frank Hofmann ({28})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({29})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({30})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({31})
Ullrich Meßmer
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({32})
Michael Roth ({33})
Marlene Rupprecht
({34})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({35})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({36})
Werner Schieder ({37})
Carsten Schneider ({38})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({39})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
({40})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({41})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({42})
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({43})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({44})
Michael Link ({45})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({46})
Burkhardt Müller-Sönksen
({47})
Dirk Niebel
({48})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
({49})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({50})
BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Katja Dörner
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({53})
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Katja Keul
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({54})
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({55})
Beate Müller-Gemmeke
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({56})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Präsident Dr. Norbert Lammert
Enthalten
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({57})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
({58})
Wir setzen die Aussprache fort. Ich erteile das Wort
dem Kollegen Karl Schiewerling für die CDU/CSUFraktion.
({59})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es, dass die SPD-Fraktion sich des Problems des
Fachkräftemangels annimmt. Die Bundesregierung hat
das schon lange getan.
({0})
Am 22. Juni 2011 wurde ein Konzept im Kabinett
verabschiedet. Dieses Konzept sieht als notwendige Voraussetzung vor, auf allen Ebenen und in allen Bereichen
zusammenzuarbeiten, weil man das Problem alleine
nicht gelöst bekommt. Hier sind neben dem Bund auch
die Länder, die Kommunen, die Innungen und die Sozialpartner gefordert. Außerdem sind diejenigen gefordert, die im dualen System aktiv tätig sind.
Ich habe nicht den Eindruck, dass in der Industrie
oder in der Wirtschaft das Problem des Fachkräftemangels nicht angekommen sei. Dort hat man das Problem
sehr wohl erkannt, man ist zur Kooperation bereit. Die
Bundesregierung koordiniert schon seit längerer Zeit
sehr zielgerichtet Maßnahmen in diesen Bereichen.
({1})
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen: Bei über
41 Millionen Erwerbstätigen und einer Arbeitslosenzahl
von unter 3 Millionen rede ich bei einem dank der dualen Ausbildung niedrigen Stand der Jugendarbeitslosigkeit - mit die niedrigste in Europa - im Rahmen einer
insgesamt guten wirtschaftlichen Entwicklung lieber
über Fachkräftemangel als über 5 Millionen Arbeitslose.
({2})
In der Tat: Es kommen einige Entwicklungen zusammen, die man zusammen betrachten muss. Vor dem Hintergrund der guten konjunkturellen Entwicklung und der
wirtschaftlichen Erfolge, die auf einer guten und weitsichtigen Wirtschaftspolitik sowie entsprechenden Rahmenbedingungen basieren, reden wir auch über die Problematik der demografischen Entwicklung. Wir reden
über Fachkräfte, weil wir sie brauchen und weil wir wissen, dass wir im Jahr 2030 aufgrund der demografischen
Entwicklung nur noch 79 Millionen Einwohner und
6,5 Millionen Arbeitskräfte weniger haben werden, die
dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Es ist daher
notwendig, die Problematik konsequent anzugehen.
Der Jobmonitor des Bundesarbeitsministeriums liefert präzise Informationen darüber, in welchen Regionen
wie viele Fachkräfte für welche Branchen gesucht werden. Das ist ein zentraler Punkt; denn wir dürfen nicht
versuchen, diese Problematik von oben herab zu lösen,
indem wir die Situation pauschal betrachten. Vielmehr
ist es wichtig, sowohl die regionale Situation als auch
die Situation in den entsprechenden Branchen differenziert zu betrachten, um differenzierte Lösungen finden
zu können.
({3})
Das Bundesarbeitsministerium hat ein Innovationsbüro „Fachkräfte für die Region“ eingerichtet, um die
unterschiedlich handelnden Partner vor Ort zu vernetzen, damit sie sich auf ein gemeinsames Vorgehen konzentrieren können. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie
wir das inländische Arbeitskräftepotenzial heben und
nutzen können. Unsere Aufgabe ist es, diejenigen, die
arbeitslos sind, zu qualifizieren, sie an die Hand zu nehmen und ihnen Hilfestellung zu geben, damit sie den
Weg in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Dass das sogar
bei Langzeitarbeitslosen gelingt - zwar nicht in dem umfänglichen Maße, wie wir das gerne hätten, aber es gelingt -, sehen wir daran, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen seit 2006 um 1 Million gesunken ist.
({4})
Im Bereich der Aktivierung und Beschäftigungssicherung Älterer bleibt es spannend. Wir haben zurzeit
500 000 offene Stellen. Es kommt jetzt darauf an, durch
entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen dafür zu sorgen, dass diejenigen, die einen Arbeitsplatz suchen, auch
einen Arbeitsplatz bekommen. Dem diente übrigens
auch die Instrumentenreform, die wir im letzten Jahr auf
den Weg gebracht haben. Es war unser erklärtes Ziel, für
mehr Entscheidungsfreiheit vor Ort zu sorgen. Dazu ist
es notwendig, den Markt und die Situation der einzelnen
Menschen genau zu beobachten.
Es stehen ausreichend Mittel zur Verfügung. Es bereitet mir große Sorge, dass jetzt im Mai die Mittel, die für
entsprechende Maßnahmen vorgesehen waren, noch
längst nicht ausgeschöpft sind. So viel steht fest: An den
Mitteln liegt es nicht. Offensichtlich liegen die Probleme
woanders. Wir müssen dafür sorgen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Instrumente ihre Wirkung entfalten.
({5})
Es stimmt mich positiv, dass sich die Zahl der Arbeitslosen über 55 halbiert hat, dass sich die Zahl der Erwerbstätigen zwischen 55 und 65 deutlich erhöht hat und
dass sich die Erwerbsquote der 60- bis 65-Jährigen in
den letzten Jahren verdoppelt hat und jetzt bei rund
40 Prozent liegt. Wir haben also die richtigen Entscheidungen getroffen, um dem Problem Fachkräftemangel
entgegenzutreten. Wir sind auf einem guten Weg. Die
Bevölkerung spürt, dass die Menschen gebraucht werden.
({6})
Herr Heil, Sie haben einen ausreichenden Gesundheitsschutz gefordert. Für den Bereich der über 55-Jährigen haben wir das längst angepackt und auf den Weg gebracht. Als Beispiel ist das wichtige Projekt INQA zu
nennen, das vom Bundesarbeitsministerium auf den Weg
gebracht wurde,
({7})
um in den Betrieben für gesundheitlichen Schutz zu sorgen und mehr Bewusstsein für das Thema „Gesundheit
am Arbeitsplatz“ zu schaffen.
({8})
In den Bereichen, in denen wir gerade Älteren eine
Perspektive aufzeigen, können wir eine gute Entwicklung beobachten. Aber ich gestehe zu, dass viele
Betriebe erst noch begreifen müssen, dass ältere Arbeitslose sehr wohl qualifiziert sind und auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden. Ich bin der Überzeugung: Je
weniger Chancen für Betriebe bestehen, die von ihnen so
sehnlichst gewünschten jüngeren Mitarbeiter zu bekommen - weil die einfach nicht mehr da sind -, desto mehr
werden die Betriebe auf ältere Arbeitnehmer zurückgreifen.
In Bezug auf die Erwerbstätigkeit von Frauen gibt es
großes Potenzial, das ist gar keine Frage. 6,3 Millionen
Frauen im erwerbsfähigen Alter sind nicht berufstätig.
Ich glaube, dass hier alle Wege gegangen werden müssen, um denjenigen, die erwerbstätig sein wollen, den
Weg entsprechend zu ebnen und ihnen die entsprechenden Perspektiven zu eröffnen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einen anderen Punkt
einfügen, weil Sie, Herr Kollege Heil, auf das Betreuungsgeld eingegangen sind. Ich kann uns nur davor warnen, weiterhin gemeinsam so zu tun, als sei Familienpolitik ein Anhängsel der Arbeitsmarktpolitik oder der
Wirtschaftspolitik.
({9})
Meine Damen und Herren, es gibt zwei existenzielle
Bereiche im Leben eines Menschen: den Bereich Familie, in dem Leben entsteht, und den Bereich Betrieb, wo
die Wertschöpfung geschieht.
({10})
Beide Bereiche sind aufeinander angewiesen. Ich sage
Ihnen aber in aller Klarheit: Art. 6 Abs. 2 der Verfassung
regelt, dass die Eltern die Verantwortung für die Erziehung der Kinder tragen. Der Staat hat lediglich die Aufgabe, darauf zu achten, dass das Kindeswohl beachtet
wird. Und ich sage Ihnen: Der Staat hat nicht vorzuschreiben, wie die Eltern die Kinder erziehen.
({11})
Deswegen bin ich vom Grundsatz her anderer Auffassung und sage aus tiefer Überzeugung und mit großer
Sorge: Wenn wir Familienpolitik weiterhin als Teil der
Arbeitsmarktpolitik betrachten, wenn weiterhin von
bestimmten Kräften - auch aus dem Arbeitgeberlager Familienpolitik als Baustein einer nachgelagerten Wirtschaftspolitik betrachtet wird,
({12})
werden wir den Menschen in diesem Land und der Erziehungsverantwortung, die die Familien tragen, nicht
gerecht.
({13})
Herr Kollege Schiewerling, darf der Kollege Heil
kurz vor dem Ende Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage stellen?
Ja, der Kollege Heil immer gern. - Hoffentlich.
Lieber Kollege Schiewerling, als Vertreter zweier
Volksparteien und auch, weil wir beide Christen sind,
teilen wir die Auffassung, dass man Familien nicht ökonomistisch oder ökonomisch betrachten darf.
({0})
Das gilt übrigens auch für Bildung. Bildung hat etwas
mit Persönlichkeitsentwicklung zu tun. Sie wissen aber
auch, dass beides miteinander zu tun hat. Der Hauptfokus von Familienpolitik muss darauf gelegt werden,
dafür zu sorgen, dass Kinder - gar keine Frage - in dieser Gesellschaft gut aufwachsen können. Es gibt aber
doch einen Zusammenhang zwischen Bildung, Erziehung, Familienpolitik, Gleichstellung und der Lage am
Arbeitsmarkt. Das ist doch nicht zu leugnen.
Deshalb habe ich eine Frage an Sie. Sie müssen nicht
auf die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft hören,
die allesamt dieses Betreuungsgeld ablehnen. Sie müssen nicht auf die Wissenschaft hören, die dieses Betreuungsgeld insgesamt ablehnt. Sie müssen nicht auf die
Gewerkschaften hören, die dieses unsinnige Betreuungsgeld ablehnen.
({1})
Können Sie aber vielleicht einmal auf diejenigen hören, die sich gerade um Kinder kümmern, denen es nicht
so gut geht? Das sind die Wohlfahrtsverbände in diesem
Land. Die sagen: Nehmt das Geld besser in die Hand,
um in die Bildung der Kinder zu investieren, aber nicht
dafür, um aus ideologischen Gründen oder um Herrn
Seehofer zu gefallen, die Kinder von der frühkindlichen
Förderung und die Frauen vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. Das ist das Argument gegen das Betreuungsgeld.
Meine Bitte ist, uns nicht zu unterstellen, Kinder verstaatlichen zu wollen. Das ist albern. Es entspricht nicht
der Lebensrealität der Menschen in diesem Land. Wir
wollen gleiche Chancen.
({2})
Meine Bitte ist, dass Sie da keinen Popanz aufbauen.
Ich will Sie fragen: Wie bewerten Sie es, dass die frühere Familienministerin Ursula von der Leyen, die jetzt
Arbeitsministerin ist und von Ihrer Seite so viel Lobhudelei erfährt, in diesem Punkt einmal recht hat? Sie hält
dieses Betreuungsgeld eigentlich für Unsinn; aber sie
traut sich nicht mehr, das öffentlich zu sagen. Ich kann
mich aber gut an eine Fernsehsendung aus dem Jahr
2010 erinnern, wo sie diesen Unsinn abgelehnt hat. Sind
Sie nicht der Meinung, dass Frau von der Leyen zumindest in diesem Punkt recht hat?
({3})
Erstens. Frau von der Leyen hat in vielen Fragen
recht. Wir haben eine äußerst tüchtige Familienministerin in ihr gehabt und haben jetzt eine äußerst tüchtige
und erfolgreiche Arbeits- und Sozialministerin.
({0})
Ich bin froh - das habe ich Ihnen schon einmal gesagt -,
dass sie bei uns ist. Sie würden sich freuen, wenn sie bei
Ihnen wäre.
({1})
Zweitens. Ich will auf die Inhalte zu sprechen kommen. In der Tat habe ich auf die anderen nicht gehört.
Wissen Sie, auf wen ich gehört habe? Auf die Bürgerinnen und Bürger in meinem ländlichen Wahlkreis im
Münsterland habe ich gehört. Ich habe junge Familien
eingeladen und denen gesagt: Wir diskutieren im Augenblick das Betreuungsgeld. Was ist denn eure Meinung
dazu? Es sind zahlreiche junge Familien aus unterschiedlichen Bereichen gekommen. Sie haben mir gesagt: „Wir freuen uns, wenn der Ausbau der U-3-Betreuung weiter voranschreitet; aber wir haben uns bewusst
dafür entschieden, in den ersten drei Jahren zur Erziehung unserer Kinder zu Hause zu bleiben. Wir wollen,
dass uns das niemand vorschreibt.
({2})
Wir freuen uns, wenn wir dabei Unterstützung bekommen.“ - Sie haben das sehr differenziert beobachtet.
Eines meiner großen Anliegen ist, dass wir aus dieser
Debatte die Ideologisierung herausbekommen.
({3})
Ja, ich weiß, was ich da sage. Ich möchte, dass wir uns
endlich auf den vorhin von mir zitierten Art. 6 Abs. 2 der
Verfassung besinnen: Die Eltern tragen Verantwortung
für die Erziehung der Kinder.
({4})
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Man kann unterschiedlicher Meinung sein, wie man dieses Ziel am
leichtesten erreicht, wie man das eine oder das andere
am besten organisiert. Darüber kann man diskutieren.
Wenn aber nur noch das eine als gut und das andere als
schlecht beurteilt wird, dann entmündigt man die Eltern,
die zum allergrößten Teil Ihrer Verantwortung gerecht
werden.
({5})
Zum Schluss möchte ich noch auf drei Punkte hinweisen:
Der erste Punkt: Wir werden dem Fachkräftemangel
ohne eine Verbesserung in den Bereichen Qualifizierung
und Bildung nicht erfolgreich begegnen können.
Zweitens. Wir werden - das ist völlig klar - dem
Fachkräftemangel nicht erfolgreich begegnen, wenn wir
unser einheimisches Potenzial nicht wecken und fördern.
({6})
Drittens. Wir werden das Problem des Fachkräftemangels nicht lösen können, wenn wir den jungen Menschen aus Europa, die zu uns ziehen, keine gute Perspektive bei uns bieten. Das heißt, wir müssen darauf achten,
dass sie bei uns gut leben können. Sie müssen bei uns
willkommen sein und angenommen werden. Deswegen
müssen wir Instrumente wie das Jugendwohnen, die wir
geschaffen haben, offensiv und vernünftig nutzen.
({7})
Außerdem haben wir entschieden, dass wir mit der
Bluecard die Möglichkeit eröffnen, dass man Topqualifizierte aus anderen Ländern der Welt unter bestimmten
Bedingungen zu uns holen kann.
Ich warne aber davor, die Frage des Fachkräftemangels auf die Universitäten zu reduzieren.
({8})
Ich bitte, die Augen zu öffnen, um zu sehen, an welchen
Stellen uns gute Handwerker fehlen.
({9})
Gut ausgebildete Fachkräfte fehlen nicht nur im Bereich
des Handwerks, sondern auch im Bereich der Industrie.
Das hat etwas mit Wertschätzung der Menschen zu tun.
({10})
In der Bildungspolitik haben wir manchmal einen Zungenschlag - ich sage das nicht bezogen auf eine Partei -,
als sei nur die Bildung gut, die über Abitur zum Studium
führt.
({11})
Es ist langsam an der Zeit, dass wir den Blick wieder den
Menschen zuwenden, die eine Ausbildung im dualen
System absolviert haben und dafür sorgen, dass unser
tägliches Leben seinen geordneten Gang nimmt.
({12})
Herr Kollege Schiewerling!
Wenn der Müll in Berlin fünf Tage nicht abgeholt
wird, stinkt es zum Himmel. Wenn an der HumboldtUniversität drei Monate gestreikt wird, merkt das kein
Mensch.
Ich danke Ihnen herzlich.
({0})
Nun erhält die Kollegin Jutta Krellmann das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wie Sie wissen, bin ich mit Leib und Seele
Gewerkschafterin.
({0})
Ich habe es bedauert, dass Sie unserem Antrag „Fachkräftepotenzial nutzen - Gute Arbeit schaffen“ im April
des letzten Jahres nicht zugestimmt haben. Zum Glück
ist es nie zu spät, das Richtige zu tun, und heute tun wir
es.
In dieser Woche ist ein neuer DIW-Wochenbericht
mit dem Titel „Geringe Stundenlöhne, lange Arbeitszeiten“ erschienen. Über 900 000 Geringverdienerinnen
und Geringverdiener schuften mehr als 50 Stunden pro
Woche. Insgesamt erhielten 2010 rund 22 Prozent aller
Beschäftigten einen Niedriglohn. Mehr als die Hälfte
habe eine Tätigkeit ausgeübt, für die eine Lehre oder ein
Hochschulabschluss nötig sei, so das DIW. Zu diesen
Beschäftigten gehören zum Beispiel Verkäufer und Verkäuferinnen, Arzthelfer und -helferinnen, Bäcker und
Bäckerinnen, Beschäftigte, die Berufen im Gastgewerbe
nachgehen, Friseure und Friseusen und Angestellte in
Pflegeberufen. Dies sind alles qualifizierte Berufe mit
einer drei- oder dreieinhalbjährigen Berufsausbildung.
Wer über Fachkräftemangel redet, kann das Thema „gute
Arbeit“ nicht außen vor lassen.
({1})
Niedriglohn heißt: weniger als 9,25 Euro pro Stunde.
Bei einer 50-Stunden-Woche sind das 2 011 Euro brutto
pro Monat und etwa 1 341 Euro netto für Alleinstehende. Damit macht man - trotz Ausbildung und trotz
Fachkräftemangel - keine großen Sprünge. Das sind
Zweit- oder Drittjobs. Diese hat man aber nicht, um sich
zu bereichern, sondern um zu existieren. Auf die Dauer
50 Stunden und mehr pro Woche für diesen Lohn zu arbeiten, das ist Ausbeutung, macht krank und führt zu
psychischen Belastungen. Gerade in den Pflegeberufen
ist das dramatisch. Was nutzen der Blick auf die Demografie und das Wissen, dass alle älter werden - nach dem
Motto „Schön, dass wir darüber geredet haben“ -, wenn
sich nichts tut?
Wenn wir möchten, dass sich mehr Menschen als bisher in diesen Bereichen qualifizieren, müssen wir dafür
sorgen, dass Qualifizierungsangebote zur Verfügung stehen.
({2})
Die Menschen müssen entsprechend ihrer Qualifikation
entlohnt werden. Ich sage: Mit Niedriglohn bei normaler
Vollzeit darf niemand nach Hause gehen.
({3})
In meiner Region Hameln-Pyrmont gehören Zerspanungsmechaniker und Zerspanungsmechanikerinnen zu
den Mangelberufen. Das ist eine dreieinhalbjährige
betriebliche Berufsausbildung im Maschinenbau. Die
Arbeitgeber, die Fachkräftemangel beklagen, bieten
nicht genügend Ausbildungsplätze an. Ich sage: Wer
nicht ausbildet, muss zahlen.
({4})
Wir brauchen endlich ein entsprechendes Gesetz. Die
Berufe in der Metallindustrie sind - anders als die im
DIW-Bericht genannten - gut bezahlt. Ein gelernter
Facharbeiter geht mit einem Stundenlohn nicht unter
18,10 Euro brutto nach Hause, und das bei einer Arbeitszeit von 35 Stunden pro Woche. Die Arbeitgeber, die
Fachkräftemangel beklagen, müssen eigentlich ein Interesse daran haben, dafür zu sorgen, dass solche Leute an
Bord gehalten werden. Das tun sie aber nicht freiwillig.
Darum musste meine Gewerkschaft, die IG Metall, in
der aktuellen Tarifrunde kämpfen. Sie hat es zum Glück
geschafft. Die Übernahme der Auszubildenden in der
Metall- und Elektroindustrie ist gesichert. Solche Tarifverträge bekommt man aber nur in starken Branchen hin.
Damit alle Auszubildenden ein Recht auf Übernahme
haben, brauchen wir ein entsprechendes Gesetz. In der
Vergangenheit gab es schon öfter Phasen mit Fachkräftemangel. Als ich meine Ausbildung als Chemielaborantin
bei der Hoechst AG begonnen habe, hat man den jungen
Leuten, die sich beworben haben, ein Moped geschenkt.
Es gab zusätzliche Ausbilder und Werksunterricht. Auch
damals schon gab es sogenannte lernschwache junge
Menschen mit großen Problemen in Mathematik oder
Rechtschreibung. Der Antrag der SPD heißt „Chancen
eröffnen und Fachkräfte sichern“. Das kann ich mir vorstellen, aber nicht ohne gute Arbeit.
({5})
- Dann sagen und tun Sie es auch.
Tausende junge Menschen haben keine Ausbildung
oder sind arbeitslos. Tausende ältere Menschen sind
erwerbslos und ohne Qualifikation. Sie brauchen Sicherheit und eine Perspektive. Das Recht auf Arbeit und freie
Wahl des Berufes steht in unserem Grundgesetz. Ich
zitiere Art. 12: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf,
Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ Das
Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass das eingehalten ist, wenn das Angebot an Ausbildungsplätzen
die Nachfrage um 12,5 Prozent übersteigt. Davon sind
wir weit entfernt.
Die Linke bleibt dabei: Alle Menschen brauchen ein
Recht auf Ausbildung, ein Recht auf Arbeit, ein Recht
auf Würde bei der Arbeit und ein Recht auf Gesundheitsschutz. Perspektivlosigkeit zerstört die Demokratie.
({6})
Johannes Vogel ist der nächste Redner für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem Punkt hinsichtlich Ihres Antrags, lieber Kollege
Heil - er befindet sich offensichtlich gerade in einem
Gespräch -, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, sind wir uns ja einig: Der Fachkräftemangel ist in
der Tat eine zentrale Herausforderung, nicht nur für die
deutsche Wirtschaft, nicht nur für die deutschen Unternehmen, sondern auch für diejenigen, die auf dem Arbeitsmarkt erst noch eine Chance bekommen müssen
und bekommen sollen. Denn wenn in einem Unternehmen eine Fachkräftestelle unbesetzt bleibt, zum Beispiel
die Stelle eines Ingenieurs in einem Unternehmen der
Metall- und Elektroindustrie, gefährdet das eben auch
die Arbeitsplätze in der Produktion. Umgekehrt: Wenn
die Stelle des Ingenieurs bzw. der Ingenieurin mit einem
guten, klugen Kopf besetzt wird, dann werden zukünftig
auch neue Arbeitsplätze geschaffen. Insofern ist der
Fachkräftemangel eine zentrale Herausforderung. So
weit haben Sie recht, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD.
Aber danach bröckelt es deutlich. Zu behaupten, die
Bundesregierung, diese Koalition würde hier nichts tun,
lieber Hubertus, ist einfach nur abstrus. Schauen wir uns
einmal die Themenfelder an, die du selber genannt hast
und die von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, in Ihrem Antrag aufgeführt werden. Da geht es
um Chancen für Menschen, die arbeitslos sind, gerade
für diejenigen, die langzeitarbeitslos sind. Der Kollege
Schiewerling hat schon gesagt, in welcher Situation wir
uns befinden: Unter dieser Koalition haben wir die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 20 Jahren, wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa,
({0})
und wir haben neue Rekorde bei der Schaffung neuer
Stellen und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse aufgestellt.
Es geht natürlich nicht nur um den Einstieg. Als Liberaler sage ich ganz bewusst: Der Einstieg kann nicht
alles sein. Es muss am Arbeitsmarkt auch um eine Aufstiegsperspektive für diejenigen gehen, die den Einstieg
geschafft haben. Hier sind wir beim Thema Qualifikation. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
schauen wir uns die Zahlen doch einmal an. Obwohl wir
den Haushalt konsolidieren,
({1})
Johannes Vogel ({2})
geben wir für Qualifikationsmaßnahmen nach dem Sozialgesetzbuch II und III 50 Prozent mehr aus, als Sie es
2005 getan haben. Ich wiederhole: Wir stellen dafür
50 Prozent mehr Geld zur Verfügung, und das, obwohl
Sie damals eine um 40 Prozent höhere Arbeitslosenquote zu bewältigen hatten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Wer setzt denn hier einen Schwerpunkt bei der Qualifikation? Doch wohl diese Koalition
und niemand sonst.
({3})
Bei der Instrumentenreform haben wir ein Umdenken
eingeleitet. Dies war ein Vorhaben dieser Koalition im
Bereich der Arbeitsmarktpolitik, dem Sie leider nicht
zugestimmt haben.
({4})
- Nein, zu Unrecht.
({5})
Wir haben die Möglichkeiten ausgebaut, Qualifikationsmaßnahmen für Beschäftigte kozufinanzieren. Dies ist
im Interesse der Menschen, die schon einen Arbeitsplatz
haben, der Beschäftigten, die dann einen besseren
Arbeitsplatz bekommen, befördert werden, mehr verdienen und einen beruflichen Aufstieg schaffen wollen.
Hier haben wir einen Systemwechsel eingeleitet und die
entsprechenden Möglichkeiten ausgebaut.
({6})
Sie haben dem leider nicht zugestimmt. Also: Spielen
Sie sich hier nicht als die Anwälte der Qualifikation auf!
Ihre Taten sprechen dagegen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD.
({7})
Ich komme zu einem zweiten Themenfeld. Was bieten wir denjenigen, die sich derzeit auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland befinden? Hier geht es neben den
genannten Themen um die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf für Frauen, aber auch um die Situation von
Älteren am Arbeitsmarkt. Ich sage Ihnen: Aber auch
dann, wenn wir alle erforderlichen Maßnahmen einleiten
- wir als Koalition sind da auf einem guten Weg -, wird
das nicht reichen, um die Fachkräftelücke von 6,5 Millionen Personen bis 2025 zu schließen.
Herr Kollege Vogel, darf der Kollege Seifert Ihnen
eine Zwischenfrage stellen?
Ja, das darf er gern.
Lieber Herr Kollege Vogel, wir debattieren dieses
Thema ja schon eine ganze Weile. Leider wird in dieser
Debatte vermutlich niemand vonseiten der Bundesregierung das Wort ergreifen. Deswegen frage ich Sie als Vertreter der Koalitionsfraktionen: Wenn wir über den Fachkräftemangel sprechen und ihn immer wieder beklagen,
wieso spricht niemand von Ihnen davon, dass es jede
Menge Menschen mit Behinderungen gibt, die sehr gut
ausgebildet sind, aber keine Chance haben, in die
Betriebe hineinzukommen? Wenn sie in Betrieben sind,
ist das okay; dann gibt es ein betriebliches Eingliederungsmanagement. Aber wenn Menschen mit Behinderungen, die eine hervorragende Ausbildung haben - sei
sie beruflich, sei sie akademisch -, in die Betriebe hineinkommen wollen, haben sie keine Chance. Wieso
kommt dieses Thema in Ihren Reden und in Ihrem Handeln in diesem Zusammenhang nicht einmal vor?
({0})
Lieber Kollege Seifert, ich bitte um Verständnis: Sie
haben völlig recht.
({0})
Auch die Frage der Integration bzw. der Inklusion von
Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt
muss hier eine Rolle spielen.
({1})
Ich habe die fünf Minuten meiner Redezeit nutzen wollen, mich an den Themen abzuarbeiten, die der Kollege
Heil in seiner Rede vorgegeben hat. Ich stimme Ihnen
aber völlig zu: Das muss eine Rolle in unserem Handeln
spielen. Es spielt auch eine Rolle in unserem Handeln.
Wir können dieses Thema gerne in der nächsten Ausschusssitzung vertiefen, Herr Kollege.
({2})
Ich will jetzt auf einen Aspekt eingehen, dem Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, meiner
Meinung nach zu wenig Beachtung schenken. All das,
was vorgetragen wurde - mehr für die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf zu tun, mehr für Ältere auf dem
Arbeitsmarkt zu tun, mehr für Menschen, die arbeitslos
sind und Chancen auf Einstieg und Aufstieg brauchen,
zu tun -, wird nicht reichen. Wir werden um mehr
Zuwanderung nicht herumkommen. Das Wort „Zuwanderung“, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
taucht in Ihrem Antrag aber nicht ein einziges Mal auf.
Wahrscheinlich aus gutem Grund: Bei diesem Thema
hätten Sie sich nämlich erst recht nicht getraut, zu
behaupten, diese Koalition würde nichts tun. Die Bluecard-Regelung wurde beispielsweise vom Kollegen
Schulz explizit gelobt.
({3})
Johannes Vogel ({4})
Lieber Kollege Hubertus Heil, vielleicht solltest du deinen Kollegen aus den anderen Fachbereichen einmal
zuhören. Dann könntest du an dieser Stelle etwas lernen.
Wir haben einen wesentlichen Paradigmenwechsel geschafft. Diese Koalition gibt dem Einwanderungsland
Deutschland endlich ein modernes Zuwanderungssystem,
({5})
durch das sich das Einwanderungsland Deutschland
auch dazu bekennt und erfolgreicher bei der Werbung
um die klugen Köpfe auf dem globalen Arbeitsmarkt
sein kann.
({6})
- Herr Präsident, hier gibt es den Wunsch nach einer
Zwischenfrage der Kollegin, den ich gern aufnehme,
wenn Sie es wollen.
Das Interesse des Redners an einer Verlängerung seiner Redezeit ist nachvollziehbar. - Bitte schön, Frau
Kollegin.
Herr Präsident! Herr Kollege Vogel, offenkundig kennen Sie unseren Antrag zu aufenthaltsrechtlicher Fortentwicklung nicht. Bevor Sie hier so dicke Backen
machen, sollten Sie sich fachkundig machen. Dieser
Antrag wurde mit sehr guten Vorschlägen zur konkreten
Einwanderungsgestaltung eingebracht. Er beinhaltet
zum Beispiel den Versuch, ein Punktesystem zu etablieren, das darauf abzielt, dass wir besser mit den Ausländern umgehen müssen, die einen unsicheren Status
haben. All das scheint Ihnen entgangen zu sein. Ich schicke Ihnen diesen Antrag noch einmal zu, damit Sie sich
kundig machen können.
Zu Ihrer Feststellung, dass dies in diesem Antrag
nicht erwähnt werde, möchte ich Ihnen sagen: Auch das
stimmt nicht. Sie werden eine Passage dazu finden.
Bevor Sie eine so massive Kritik äußern, rate ich Ihnen
dringend, so gut zu sein, sich vorher kundig zu machen;
denn Sie stehen hier für Ihre Fraktion insgesamt.
({0})
Liebe Frau Kollegin, das habe ich getan. Wenn Sie für
ein Punktesystem sind, dann sollten Sie in Ihrem Fachkräfteantrag, über den wir heute diskutieren, nicht nur
von Integration reden, sondern auch über die Notwendigkeit von mehr Zuwanderung. Das tun Sie nicht, liebe
Frau Kollegin. Wenn Sie - wie wir - für ein Punktesystem sind, dann hätten Sie die Anhörung zum BluecardGesetz verfolgen sollen. Im Rahmen der Anhörung
haben Sachverständige gesagt, dass das, was wir neben
realistischen Einkommensgrenzen bei der Zuwanderung,
neben einem vernünftigen Umgang mit der Vorrangprüfung und neben besseren Möglichkeiten für Menschen,
die aus dem Ausland kamen und hier studiert haben,
geschaffen haben, auch insofern ein Paradigmenwechsel
ist, als dass Menschen erstmals zur Arbeitsuche nach
Deutschland kommen können und nicht bereits vorher
ein Arbeitsplatzangebot haben müssen.
Bei der Anhörung zum Bluecard-Gesetz haben die
Sachverständigen gesagt, dass sich dieses System vom
Punktesystem nur noch graduell unterscheide. Wenn Sie
für das Punktesystem sind, dann frage ich mich: Warum
stimmen Sie unserer Bluecard-Regelung nicht zu, liebe
Kollegin?
({0})
Insofern führt Ihr Handeln Ihr Reden ein Stück weit ad
absurdum.
Wir widmen uns der Herausforderung des Fachkräftemangels auf allen vier Feldern. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, ich freue mich, wenn Sie uns
dabei konstruktiv begleiten. Leider leisten Ihr Handeln
und Ihr Antrag hierzu keinen Beitrag. In Ihrem Aufruf
zum 1. Mai 2011 zur Frage der EU-Osterweiterung und
der Möglichkeit, dass Arbeitnehmer aus östlichen EUMitgliedsländern nach Deutschland kommen können,
wird das Thema Zuwanderung zum Beispiel in einem
Atemzug mit dem Thema Lohndumping genannt. So
schaffen wir keine Willkommenskultur, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe,
mit einem modernen Zuwanderungssystem konkret um
die klugen Köpfe zu werben und ihnen zu signalisieren,
dass sie in Deutschland willkommen sind. Hier würde
ich mir auch von Ihnen mehr Unterstützung wünschen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
({1})
In diesem Sinne freue ich mich darüber, dass Sie sich
dieses Themas annehmen. Die Behauptung, die Koalition würde dies nicht tun, führt sich aber selbst ad absurdum. Rüsten Sie rhetorisch ein wenig ab, und begleiten
Sie uns konstruktiv bei der Herausforderung, den Fachkräftemangel zu beseitigen, und somit auf dem Weg, den
wir schon eingeschlagen haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Schiewerling, während ich Ihnen zuhörte, beschlich
mich das Gefühl, dass die Dimension des Problems in
keiner Weise bei Ihnen angekommen ist.
({0})
Ich sage Ihnen: Sie bekämpfen das Problem nicht nur
nicht, Sie sorgen auch dafür, dass das Problem des Fachkräftemangels immer größer wird. Sie sind nicht Teil der
Lösung, Sie sind Teil des Problems.
({1})
Das will ich Ihnen an drei Beispielen zeigen:
Erstes Beispiel: Die Frauen. Ich glaube, es ist unumstritten, dass die Frauen das höchste Potenzial zur
Bekämpfung des Fachkräftemangels bergen. Das betrifft
sowohl den Zugang zum Arbeitsmarkt als auch die Ausweitung des Erwerbsarbeitsvolumens. Beides muss besser werden.
({2})
Statt dieses Potenzial zu heben, nehmen Sie 1,2 Milliarden Euro in die Hand, um diese Frauen in ihre vier
Wände zu verbannen.
({3})
Lieber Herr Schiewerling, seien Sie jetzt doch einmal
ehrlich! Beim Betreuungsgeld geht es doch gar nicht
mehr um die Mütter und die Kinder, sondern beim
Betreuungsgeld geht es allein um die Frage, ob Herr
Seehofer noch immer so viel Macht hat, auch etwas vollkommen Unsinniges ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzen zu können.
({4})
Nein, Herr Schiewerling, das Betreuungsgeld ist eine
Wachstumsstrategie für den Fachkräftemangel.
Es mangelt in Deutschland nun wahrlich nicht an
Anreizen dafür, dass Kinder zu Hause erzogen werden.
Es mangelt an Betreuungsplätzen. Die Wahlfreiheit ist
nicht gegeben. Es sind doch besonders die Mütter, die
darunter leiden, die ihren Berufseinstieg verschieben
und ihr Arbeitsvolumen reduzieren. Darin liegt doch das
Problem.
({5})
Die erwerbstätigen Frauen in Deutschland sind die
Teilzeitköniginnen von Europa, und zwar im doppelten
Sinne: Sie sind überdurchschnittlich häufig teilzeitbeschäftigt, und die Teilzeit, die sie ausfüllen, hat das geringste Stundenvolumen in ganz Europa. Schade nur, dass
sich diese Frauen nicht als Königinnen fühlen. Herr
Schiewerling, diese Frauen arbeiten unfreiwillig so wenig.
({6})
- Dazu gibt es doch nun wirklich genug Befragungen.
Ein anderes Problem sind die Minijobs, in denen die
Frauen mit ihren Qualifikationen versauern. Statt aber
diese vielen persönlichen kleinen Katastrophen und die
große volkswirtschaftliche Fehlentwicklung miteinander
zu verbinden und die Zahl der Minijobs zu reduzieren
bzw. die Minijobs abzuschaffen, bauen Sie die Minijobs
weiter aus. Das ist Anstiftung zur fortgesetzten Dequalifizierung.
({7})
Zweites Beispiel: Die Arbeitslosen. In einem Jahr soll
der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem ersten Lebensjahr umgesetzt sein. Dieser
Umsetzung mangelt es nicht nur an den fehlenden Kitaplätzen, sondern es mangelt auch an Fachkräften, die
diese Kinder dann betreuen können. Herr Vogel, statt
diesen Mangel an Fachkräften in Chancen für Arbeitslose umzumünzen, kürzen Sie bei Qualifizierung und
Umschulung.
({8})
Diese Kürzungspolitik ist eine Politik zur Fachkräfteverhinderung.
Ich will Ihnen einmal sagen, was das zum Beispiel in
meinem Bundesland Niedersachsen bedeutet: Von 2008
bis 2011 haben dort genau 44 Arbeitslose eine Qualifizierung im Bereich Betreuung und Erziehung gemacht in Worten: vierundvierzig! In Niedersachsen fehlen aber
2 100 Erzieherinnen und Erzieher, und es gibt dort
durchschnittlich 300 000 Arbeitslose. Es ist doch wirklich nicht vorstellbar, dass von dieser großen Zahl an
Arbeitslosen in vier Jahren lediglich 44 eine neue Perspektive in diesem Bereich gesucht haben. Nein, das
liegt allein daran, dass diese Qualifizierung nicht mehr
finanziert wird.
Mit dieser Kürzungspolitik verhindern Sie berufliche
Perspektiven, neue Fachkräfte und neue Betreuungschancen für Kinder. Ich finde, das ist ein Desaster.
({9})
Drittes Beispiel: Zuwanderung. Herr Vogel, Sie haben
ja so viel Wert darauf gelegt, dass diese Politik so erfolgreich ist. Ja, es stimmt, die Zuwanderung hat im letzten
Jahr zugenommen. Das waren im Wesentlichen Griechen und Spanier. Sie tun jetzt so, als hätte das mit einer
erfolgreichen Einwanderungspolitik zu tun, die Sie
gestalten. Das trifft nun wahrlich überhaupt nicht zu,
({10})
ganz abgesehen davon, dass die Dimension des Problems und die Dimension der Zuwanderung überhaupt
nicht zueinander passen.
Wir brauchen in Deutschland ein klares und transparentes Zuwanderungsrecht. Wir brauchen eine Willkommenskultur in Deutschland.
({11})
Aber wir haben nur ein intransparentes und bürokratisches Monster, vor dem selbst die Experten die Waffen
strecken.
({12})
- Ja, allerdings.
({13})
Genau das ist dabei herausgekommen. Das ist eine Zuwanderungsverhinderungspolitik auf einem hohen bürokratischen Niveau.
Diese drei Beispiele - ich könnte noch weitere anführen - zeigen, dass Sie in Ihrer Bundesregierung viele Arbeitsgruppen und viele Ministerien haben, die sich mit
Zuwanderung und Fachkräftepolitik beschäftigen. Was
Sie nicht haben, ist ein Konzept! Was Sie nicht haben, ist
eine Strategie! Das bestätigt mich in der Auffassung:
Der Fachkräftemangel fängt vor allen Dingen in dieser
Regierung an!
Ich danke Ihnen.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Ulrich Lange für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Pothmer, ich möchte Ihre Rede mit der
Überschrift abtun: Thema verfehlt!
({0})
Wir diskutieren weder über das Betreuungsgeld noch
über frauenpolitische Fragen, sondern wir sind uns in
diesem Hause darüber einig - das zeigt auch der Antrag
der SPD -, dass wir den Bedarf an Fachkräften, die unsere Wirtschaft so dringend braucht, sichern müssen,
({1})
damit Deutschland weiterhin die Konjunkturlokomotive
Europas bleibt.
Eines haben wir in dieser Bundesregierung
geschafft - Herr Heil, ich weiß, Sie hören es nicht gerne,
aber ich möchte trotzdem kurz darauf eingehen -: Die
Arbeitslosenquote von 12 Prozent bei Antritt der Regierung Merkel ist auf heute 7 Prozent gesunken. Das hat
diese Regierung geschafft. Deswegen stehen wir erst vor
dem Problem des Fachkräftemangels, über das wir uns
unterhalten dürfen und müssen.
Unser vordringliches Augenmerk liegt natürlich darauf, das Fachkräftepotenzial in Deutschland zu heben.
Auch wenn ich nachher noch kurz auf die Bluecard eingehe, möchte ich schon jetzt eines klarstellen: Heimisches Potenzial geht immer vor Zuwanderung. Wir haben die Verantwortung, erst die Menschen hier, die eine
Ausbildung benötigen, zu qualifizieren und dann über
die Bluecard in einem zweiten wichtigen Schritt die Zuwanderung zu ermöglichen, die wir brauchen. Wir wissen, dass wir allein mit Qualifizierung das Problem nicht
lösen können.
({2})
Mit der Bluecard haben wir die richtigen Akzente gesetzt.
({3})
- Das habe ich gesagt. Sie müssen mir eben genau zuhören, Herr Heil, und nicht nebenbei lesen.
({4})
- Das ist hervorragend, das bewundere ich. - Eine Daueraufenthaltserlaubnis für Hochqualifizierte, eine Erlaubnis zur Niederlassung für die Dauer von drei Jahren,
für die Arbeitsplatzsuche gibt es einen neuen Aufenthaltstitel und vieles mehr - das haben wir diskutiert. Das
sind die richtigen Schritte und die richtigen Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit der Zuwanderung.
Kollege Schiewerling hat eben das Handwerk so hoch
gelobt, lassen Sie mich daher kurz auf die Hochschulen
und die Wichtigkeit der hochqualifizierten Spitzenkräfte
eingehen. Die SPD schreibt in ihrem Antrag so schön:
Die Hochschulen sind zu öffnen. - Ich darf auf den Bundesbericht „Forschung und Innovation 2012“ mit beeindruckenden Zahlen verweisen. Seit 2005 haben wir hier
die Ausgaben für Forschung und Wissenschaft von
9 Milliarden Euro auf fast 14 Milliarden Euro gesteigert.
Das sind mehr als 50 Prozent. In Deutschland geben wir
inzwischen 2,82 Prozent des BIP für Forschung und Entwicklung aus. Der EU-Durchschnitt liegt bei 1,9 Prozent. Die Verantwortlichen für die Forschungs- und
Hochschulflaute bis 2005 sitzen nicht bei uns, sondern
links in diesem Haus.
({5})
Lassen Sie mich noch die drei Reforminitiativen von
Bund und Ländern für den Wissenschaftsstandort nennen: Exzellenzinitiative, Hochschulpakt
({6})
und außeruniversitäre Forschung. Circa 30 Prozent eines
Altersjahrgangs erreichen derzeit in Deutschland den
Hochschulabschluss. Ich glaube, dass wir sehr wohl auf
einem richtigen Weg sind und dass wir die Herausforderung der Fachkräftesicherung rechtzeitig und zum richtigen Zeitpunkt angegangen sind.
Lieber Kollege Heil, dafür brauchen wir keinen neuen
Arbeitskreis. Wir brauchen auch keinen neuen Rat oder
ein Grüppchen, das sich zusammensetzt, um Konzepte
zu entwickeln. Unsere Arbeits- und Sozialministerin hat
nämlich schon Konzepte vorgelegt. Wir haben Konzepte
für lebenslanges Lernen, für die bessere Integration von
Frauen - darin sind wir sehr wohl beisammen, Frau
Pothmer -, für die Beschäftigungssicherung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und natürlich für die
Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({7})
Selbstverständlich gehört auch die Aufgabe dazu, ausländische Studentinnen und Studenten, die bei uns studiert haben, in Deutschland zu halten.
Ich glaube sehr wohl, dass der Weg, den wir eingeschlagen haben, richtig ist. Ich bin auch davon überzeugt, dass wir mit diesen Ansätzen eine Chance haben,
die Herausforderung zu meistern.
Weitere Punkte sind die Erhöhung der Erwerbstätigenquote älterer Beschäftigter. Was die alleinerziehenden SGB-II-Bezieherinnen angeht, brauchen wir natürlich auch deren Qualifikationen. Aber, lieber Kollege
Heil und liebe Kollegin Pothmer, ich bin gerne zu einer
Weiterbildungsveranstaltung zum Thema Betreuungsgeld bereit. Betreuungsgeld hält nicht davon ab, einen
Beruf auszuüben. Das möchte ich an dieser Stelle noch
einmal deutlich unterstreichen.
({8})
Wir brauchen eine Erhöhung des Anteils der Frauen
in MINT-Berufen. Wir sind natürlich gefordert, die hohe
Quote der Schulabbrecher und derjenigen, die keinen
Berufsschulabschluss schaffen, zu reduzieren. Ich
glaube, dass auch die von uns gewählten Ansätze in diesem Bereich richtig sind. Ihr Lob im Antrag, lieber Kollege Heil, dass wir mit der BAföG-Novelle einen richtigen Weg eingeschlagen haben, habe ich gerne gelesen.
All das zusammen sind richtige und wichtige Ansätze. Aber ich glaube, dass es vor allem um eines geht,
nämlich um einen Wandel im Bewusstsein der Gesellschaft hin zu lebenslangem Lernen, zu einer Willkommens- und Akzeptanzkultur, aber auch dahin, dass wir
jede Form der Arbeit anerkennen und wertschätzen. Es
gibt heute leider viele Berufe gerade dort, wo es besondere Defizite an Arbeitskräften gibt, zum Beispiel im
Pflegebereich, denen nicht immer Wertschätzung durch
die Öffentlichkeit entgegengebracht wird. Deswegen
glaube ich, dass wir alle in diesem Hause aufgefordert
sind, allen Berufen und jeder Branche unsere Wertschätzung entgegenzubringen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um ein existenzielles Thema für den Wirtschaftsstandort und unsere
Gesellschaft. Aber ich bin sicher, dass wir, wenn wir gemeinsam um gute Ideen ringen, den Wirtschaftsstandort
Deutschland und damit unseren Wohlstand sichern.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
mich zu Wort gemeldet, weil ich es unfassbar finde, mit
welcher Leichtigkeit die Einwände der Kollegin
Pothmer und des Kollegen Heil hier abgetan wurden. Ich
sage Ihnen einmal, warum ich glaube, dass der Fachkräftemangel in unserem Land noch gar nicht groß genug
sein kann. 60 000 Schülerinnen und Schüler ohne anständige Schulausbildung werden jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt entlassen. 1,5 Millionen jungen Leuten unter
30 Jahre, die arbeiten gehen könnten, bieten wir keine
ausreichende Schulausbildung oder Weiterqualifikation
an. Hunderttausende hochqualifizierte junge Frauen
müssen sich für die Arbeitslosigkeit entscheiden, weil
für ihre Kinder keine ausreichenden Betreuungsmöglichkeiten da sind. Noch immer werden jedes Jahr ältere Arbeitnehmer aufgrund ihres Alters entlassen, obwohl sie
hochqualifiziert sind. Ein Drittel der Jugendlichen mit
Migrationshintergrund absolviert keine Berufsausbildung in Deutschland. Nur 25 Prozent der deutschen Betriebe und Unternehmen bilden aus. Die Antwort, die Sie
haben, lautet: Wir machen ein paar Büros auf und diskutieren über Zuwanderung. - Auch ich weiß, dass wir Zuwanderung brauchen, keine Frage. Aber es kann doch
nicht wahr sein, dass wir in Deutschland nicht bereit
sind, über die eben genannten Potenziale in unserem
Land zu reden und diese Menschen weiterhin in die Arbeitslosigkeit schicken. Das darf nicht wahr sein.
({0})
Ich sage Ihnen konkret: Sie müssen das Geld dort einsetzen, wo es am nötigsten gebraucht wird, das heißt für
Kindertagesstätten, Familienbildungszentren und Ganztagsschulen und nicht für das Betreuungsgeld. So einfach ist das.
({1})
Wir reden doch gerade über die Tatsache, dass man den
Euro nur einmal ausgeben kann. Da können Sie doch
nicht Wolkenkuckucksheime für die Menschen bauen.
Sie müssen vielmehr dafür sorgen, dass die Potenziale in
diesem Land gehoben werden. Es bedarf eines Programms der zweiten Chance für diejenigen, die dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, sich deshalb nicht qualifizieren können und zu alt für das BAföG sind. Aber
nichts von dem machen Sie!
({2})
Nun zum Thema Pflege. Hier fehlen die meisten
Fachkräfte. Worüber reden wir denn? Wir reden hier
über harte Arbeit, Schichtarbeit und schlechte Bezahlung. Manche müssen sogar noch Geld für die Ausbildung zahlen. Wenn Sie wollen, dass in Zukunft eine aus21492
reichende Zahl an Pflegekräften in den Krankenhäusern,
der Altenhilfe und der Altenpflege zur Verfügung steht,
dann müssen Sie für eine bessere Bezahlung, eine bessere Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen sorgen. Geld statt Schulgeld, das ist die Antwort.
({3})
Davor drücken Sie sich. Da machen Sie kein einziges
Angebot, weil das ein bisschen schwieriger ist, als wie
Frau von der Leyen zu sagen: Wer in Spanien arbeitslos
ist, der kann zu uns kommen. - Sie wollen sozusagen Jugendliche importieren, anstatt dafür zu sorgen, dass in
Spanien Wachstum entsteht.
({4})
- Darüber verhandelt jetzt Ihre Kanzlerin mit dem spanischen Ministerpräsidenten. Aber darüber will ich gar
nicht reden.
Tun Sie etwas für die Menschen, die hier leben und
arbeiten wollen und arbeiten können! Das bedeutet bessere Bildung, bessere Ausbildung, Abschaffung der Studiengebühren und der Kindertagesstättengebühren sowie
den Ausbau der Ganztagsschulen. Das Geld darf nicht
für das Betreuungsgeld verplempert werden.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Gabriel, Ihre Rede war ein beredtes Zeugnis für den Fachkräftemangel bei der SPD.
Das will ich zunächst einmal sehr deutlich festhalten.
({0})
Es ist ein Armutszeugnis, wenn der Vorsitzende der
größten Oppositionsfraktion glaubt, sich mit einer derart
schmalen und flachen Argumentation in die Diskussion
einschalten zu müssen.
({1})
Dass es dem Kollegen Vogel gelungen ist, Sie zu dieser
„Attacke“ zu verleiten, verbuche ich immerhin als Erfolg der FDP in dieser Debatte.
({2})
Nun zur Sache, Herr Kollege Gabriel. Es ist unglaublich, dass Sie sagen, der Fachkräftemangel in diesem
Land sei noch nicht groß genug. Das letzte Mal, dass ich
eine solche Sonthofen-Strategie der verbrannten Erde
nach dem Motto „Es muss alles noch viel schlimmer
kommen“ vernommen habe, liegt Jahrzehnte zurück. Ich
dachte, wir wären weiter und würden uns in dieser Debatte konstruktiv auseinandersetzen.
({3})
Ich will Sie darauf hinweisen: Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland gehört zu den geringsten in
Europa. Sie liegt unter 7 Prozent.
({4})
Das ist ein Riesenerfolg, und das ist das Ergebnis der
Politik dieser schwarz-gelben Bundesregierung,
({5})
die mit vielen Maßnahmen dafür sorgt, dass Jugendliche
in diesem Land eine Chance haben.
Sie beklagen, dass es zu viele Schulabbrecher gebe.
Ich wage die Prognose: Die Schulabbrecherquote in einem Bundesland ist umso höher, je länger die SPD dort
an der Regierung ist.
({6})
Das hat auch etwas damit zu tun, wie man Schulpolitik
gestaltet. Man muss nämlich dafür sorgen, dass junge
Menschen von der ersten Klasse an ihre Chancen auf
Bildung haben, damit sie später am Erwerbsleben teilhaben können.
Der größte Teil der Ausgaben der Bundesagentur für
Arbeit wird für die Qualifikation von jungen Menschen
aufgewendet.
({7})
- Nein, das ist so. - Wenn Sie in Ihrem Antrag fordern,
dass das Nachholen eines Schulabschlusses eine Pflichtleistung werden müsse, dann will ich Sie auf den § 53
SGB III hinweisen, nach dem die Möglichkeit, einen
solchen Hauptschulabschluss zu fördern, heute schon
besteht. Es ist Rechtslage, was Sie, Herr Gabriel, in Ihrem Beitrag - aus meiner Sicht: unnötigerweise - einfordern.
({8})
Ich fasse zusammen. Dieses Land ist in einer wirtschaftlich sehr starken Position. Wir haben Riesenfortschritte bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung gemacht. Wir haben deutliche Rückgänge bei der
Arbeitslosigkeit in beiden Rechtskreisen, SGB II und
SGB III.
({9})
Davon profitieren Langzeitarbeitslose, davon profitieren vor allen Dingen aber auch junge Menschen, die den
Übergang von der Ausbildung in eine dauerhafte BeDr. Heinrich L. Kolb
schäftigung schaffen wollen. Sie, Herr Gabriel, sind im
vollkommen falschen Film. Das hängt vielleicht damit
zusammen, dass Sie zurzeit ein bisschen mehr in Europa
unterwegs sind, weil Sie etwas in Sachen Euro-Bonds
organisieren wollen. Es wäre besser, Sie würden sich informieren und in der Tagespolitik mitmischen und sich
vor allen Dingen schlaumachen, wie gut wir in Deutschland aufgestellt sind, gerade was die Möglichkeiten junger Menschen anbelangt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat nun Agnes Alpers für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Bundesinstitut für Berufsbildung stellt fest: Für Menschen in
Deutschland ohne abgeschlossene Berufsausbildung
werden sich die Beschäftigungschancen durch die demografische Entwicklung nicht verbessern. - Das betrifft in
Deutschland 1,5 Millionen junge Leute zwischen 20 und
29 Jahren ohne Berufsabschluss. Wenn wir noch die
Menschen bis 35 Jahre hinzuzählen, sind es zusätzliche
750 000 Leute. Insgesamt hat in Deutschland etwa jeder
siebte Erwerbstätige keinen Berufsabschluss. Vor all
dem verschließt diese Bundesregierung die Augen. Das
kann doch einfach nicht wahr sein.
({0})
In meinem Heimatland Bremen sind es sogar insgesamt
über 23 Prozent der Menschen, die keinen Berufsabschluss haben. Deshalb fordern wir die Regierung auf:
Schaffen Sie Perspektiven für all diese Menschen! Garantieren Sie ihnen einen Berufsabschluss, und sichern
Sie dadurch die Fachkräfte für morgen!
Hierfür müssen wir endlich die Betriebe in die Verantwortung nehmen, und zwar durch gesetzliche Maßnahmen. Der Ausbildungspakt setzt nur auf die Selbstverpflichtung der Betriebe. Das hat dazu geführt, dass
die Betriebe im Jahr 2011 120 000 Ausbildungsplätze
weniger als 1992 angeboten haben. Insgesamt bilden nur
23 Prozent der Betriebe aus. Nicht die Menschen ohne
Berufsabschluss, sondern die Betriebe sind nicht ausbildungswillig.
({1})
Die Selbstverpflichtung der Betriebe hat versagt. Deshalb fordern wir Sie auf: Nehmen Sie die Betriebe endlich in die Pflicht, und führen Sie die Ausbildungsumlage ein!
({2})
Nur so können wir uns auf den Weg machen, allen eine
qualifizierte Ausbildung anzubieten und die Zukunft zu
gestalten.
Wir stehen heute aber nicht nur vor der Herausforderung, allen eine Ausbildung zu garantieren. Wir brauchen auch eine hohe Qualität in der Ausbildung. Wir haben im Land Bremen eine Untersuchung zur Qualität der
Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe durchgeführt. Die Umfrageergebnisse haben gezeigt, dass Überstunden, ausbildungsfremde Tätigkeiten und die geringe
Qualität der Ausbildung häufig zu Abbrüchen führen.
Deutschlandweit brechen 48 Prozent der Restaurantfachkräfte ihre Ausbildung ab. Nicht die jungen Menschen, sondern die Betriebe sind hier nicht ausbildungsreif.
({3})
Deshalb gilt: Wer heute die Fachkräfte sichern will, der
sorgt für eine gute Ausbildungsvergütung und eine hohe
Qualität in der Ausbildung und sichert die Übernahme
und eine gute Bezahlung der Fachkräfte.
({4})
Dies, meine Damen und Herren, gilt auch für den
Pflegebereich. In den letzten Monaten habe ich mich
mehrere Male in Bremen mit Frauen getroffen, die sich
in der Ausbildung oder Umschulung zur Altenpflegerin
oder in einer entsprechenden Qualifizierungsmaßnahme
befanden. In den Klassen waren hauptsächlich Frauen,
die nach Erziehungsjahren, nach jahrelanger Arbeitslosigkeit oder auch nach mehreren Übergangsmaßnahmen
diese Ausbildung zur Altenpflegerin machen wollten.
Themen waren immer wieder die körperliche und psychische Belastung, die geringe gesellschaftliche Anerkennung und die schlechte Bezahlung der Altenpflegerinnen.
({5})
Bei den letzten Gesprächen stellten die Frauen immer
wieder die Frage, warum denn die Bundesregierung die
Förderung des dritten Jahres der Ausbildung nicht mehr
finanzieren will.
({6})
Man könne doch den Fachkräftemangel nicht dadurch
beseitigen, dass man die Mittel für die Qualifizierung
zusammenstreicht bzw. die Kosten einfach auf andere
verlagert.
({7})
Die Frauen sagten, sie selbst würden noch weniger Geld
erhalten, wenn sie die Maßnahme nach zwei Jahren als
Altenpflegehelferinnen verlassen müssten.
Meine Damen und Herren, das Handeln dieser Regierung ist einfach nur unverschämt und verantwortungslos.
({8})
Sie tragen die Kürzung der Mittel für arbeitsmarktpolitische Instrumente auf dem Rücken dieser Frauen aus.
({9})
Sie entlassen die Frauen in prekäre Arbeit, und zur Krönung lassen Sie im Berufsbildungsbericht 2012 auch
noch verlautbaren, dass Sie „eine neue Ausbildungs- und
Qualifizierungsoffensive in der Altenpflege erarbeitet“
haben. Das ist doch der blanke Hohn.
Meine Damen und Herren, wir haben keinen Mangel
an Menschen, die sich fachlich qualifizieren und ihre
Kenntnisse einbringen wollen; aber wir haben einen großen Bedarf an einer Regierung, die verantwortungsvoll
und nachhaltig handelt.
({10})
Sichern Sie die Fachkräfte! Schaffen Sie eine voll qualifizierende Ausbildung für alle! Führen Sie die Ausbildungsumlage ein! Sichern Sie die Qualität von Aus- und
Weiterbildung! Und nehmen Sie endlich die Kürzungen
der Mittel für arbeitsmarktpolitische Instrumente zurück!
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Danke, Herr Wunderlich.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kolb, Sie mokieren sich darüber, dass
Herr Gabriel sich in die Debatte einbringt. Wissen Sie,
was das Problem ist? Immerhin machen Herr Gabriel
und meine Partei dieses Thema zum Chefthema; aber Sie
ignorieren das Thema schlicht und einfach. Das ist das
Problem, das wir haben.
({1})
Es ist gut, dass Herr Gabriel sich in der Debatte zu Wort
meldet, das Thema aufwertet und ihm die notwendige
Aufmerksamkeit verschafft. Wenn Sie sich entsprechend
des Themas annehmen würden, würden wir solche Debatten hier nicht für notwendig halten.
({2})
Zu einem weiteren Punkt. Es kam immer wieder das
Argument: Wir haben kaum Jugendarbeitslosigkeit; wir
können uns damit rühmen. ({3})
Ich sage Ihnen einmal etwas zu meiner Region; ich
komme aus dem Allgäu. Das, was die Arbeitslosigkeit in
der jungen Generation betrifft, ist in der Tat richtig. Es
ist aber nicht unbedingt Ihr Erfolg, sondern eine Folge
des demografischen Wandels. Wir werden demnächst
Schulen schließen oder zusammenlegen müssen, weil
wir zu wenig Kinder haben, um alle Schulen behalten zu
können. Ich habe von Ihnen noch keine einzige anständige Antwort auf die Frage gehört, wie wir mit diesem
Problem umgehen sollen und was wir vor allem mit den
Jugendlichen machen, die bis jetzt auf der Schattenseite
des Lebens stehen, die von einer Maßnahme der Arbeitsagentur zur anderen geschickt werden. Diese Jugendlichen werden am Ende auf der Straße stehen. Sie haben
darauf keine Antworten; Sie haben keine Lösung für dieses Problem. Aber genau das ist die Herausforderung:
dass wir wirklich jedem Kind, unabhängig von der Herkunft, eine Chance geben.
({4})
Die Antworten, die wir geben müssen, müssen vielfältig sein: Ja, wir brauchen Migration von Arbeitskräften, wir brauchen gute Qualifikation, und wir brauchen
Frauen auf dem Arbeitsmarkt - ob es Ihnen gefällt oder
nicht.
Für Ihr Nichtstun gebe ich Ihnen einmal ein Beispiel.
Wir wissen seit Jahren, dass uns 40 000 Erzieherinnen
im U-3-Bereich fehlen werden. Mit Inkrafttreten des
Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für Kleinkinder wird dieses Problem noch deutlicher werden. Die
Grünen bringen dieses Thema Woche für Woche, Monat
für Monat in die Debatte, in die Ausschüsse, in die Öffentlichkeit. Wissen Sie, was die Antwort Ihrer Regierung ist? Sie lautet: Wir überlegen uns einmal, ob wir
eine Onlineplattform hierzu schaffen. - Eine Onlineplattform! Dadurch wird keine einzige Person zur Erzieherin qualifiziert. Das ist also Ihre Antwort. Vielen Dank
aber auch!
Ich will auch auf die anderen Bereiche eingehen. Ja,
wir brauchen die frühkindliche Bildung in Krippen, in
Ganztagsschulen. Wir wissen, dass wir mit DualPlus
echte Chancen schaffen können, auch für benachteiligte
Jugendliche, die ohne einen Abschluss die Schule verlassen müssen. Was genau machen Sie denn in diesem
Bereich?
Wir wissen, dass wir mehr Studierende bekommen:
750 000 zusätzliche Erstsemester. Anstatt dafür zu sorgen, dass die KMK eine entsprechende Debatte führt,
dass der Hochschulpakt ausgeweitet wird, hören wir von
Ihnen wenig, wenn nicht gar nichts. Wir wissen: Wir
brauchen ein Erwachsenenbildungsförderungsgesetz.
Wir wissen: Wir müssen Erwachsene qualifizieren. Wir
wissen noch mehr: Wir müssen endlich das Kooperationsverbot überwinden. Was ist Ihre Antwort? Bisher
nichts!
Kommen wir zu den Frauen. Lassen wir einmal die
Ideologiedebatte hinter uns. Wir brauchen qualifizierte
Frauen an den Universitäten, auf dem Arbeitsmarkt, in
dieser Gesellschaft. Wo sind Ihre Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Ausbildung an
den Universitäten? Was machen Sie da? Sie machen
nichts!
({5})
Da es gerade Mode ist, hier das Grundgesetz zu zitieren, zitiere auch ich einen Grundgesetzartikel, Art. 3
Abs. 2:
Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der
Staat … wirkt auf die Beseitigung bestehender
Nachteile hin.
Auch das ist unser Auftrag: Wir müssen endlich einmal etwas dagegen tun, dass Frauen in diesem Land im
Schnitt immer noch 23 Prozent weniger verdienen. Was
machen Sie dagegen? Wo sind Ihre Konzepte zur Entgeltgleichheit? Wo ist Ihr Gesetz zur Förderung der
Gleichstellung in den Unternehmen? Wo sind Ihre Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt?
({6})
Sie machen nichts, gar nichts! Stattdessen konzentrieren
Sie sich auf eine Ideologiedebatte, Stichwort Betreuungsgeld. Sie blockieren diese Gesellschaft. Sie blockieren die Frauen. Sie blockieren den Fortschritt. Das ist
Ihre bisherige Antwort, und das ist zu wenig.
({7})
Das Wort hat nun Matthias Zimmer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Anlass unserer heutigen Debatte ist ein Antrag der SPD mit
dem Titel „Chancen eröffnen und Fachkräfte sichern“.
Herr Gabriel, der Anlass dieser Debatte ist nicht eine
Entschuldigung für Ihren missglückten Auftritt auf der
Bundeskonferenz des Arbeitskreises Sozialdemokratischer Frauen.
({0})
Der Antrag der SPD ist von einer Sorge um die Auswirkung des demografischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt getrieben. Diese Sorge teilen wir. Davon zeugt
eine Reihe von Gesetzesinitiativen, die wir umgesetzt
haben. So hat diese Koalition die Voraussetzungen dafür
geschaffen, die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse zu erleichtern. Das bietet vielen Menschen in
Deutschland neue Chancen, in ihrem erlernten Beruf zu
arbeiten. Sie müssen nicht mehr als Ingenieure Taxi fahren oder als Ärzte in der Krankenpflege arbeiten.
({1})
Wir haben vor wenigen Wochen durch die Umsetzung
der Hochqualifizierten-Richtlinie die Chancen erheblich
verbessert, dass ausländische Studierende an deutschen
Hochschulen nach ihrem Abschluss in Deutschland eine
Arbeitsstelle finden. Wir haben die Möglichkeiten für
die Anwerbung von qualifizierten Fachkräften aus dem
Ausland deutlich verbessert, etwa durch die Senkung der
Gehaltsschwelle oder durch den Wegfall der bürokratischen Vorrangprüfung in vielen Bereichen. Ich könnte
viele weitere Punkte aufzählen - aus dem Bereich Arbeit
und Soziales ebenso wie aus dem Ressort Bildung und
Forschung. Wir sind also in dieser Koalition nicht erst
heute dabei, Chancen zu eröffnen und Fachkräfte zu sichern.
({2})
Meine Damen und Herren, umso gespannter war ich
auf den Antrag der SPD, der am Dienstagnachmittag
vorgelegt wurde. Ich will hier nur eine erste Bewertung
vornehmen. Ich glaube, einiges Tiefergehende werden
wir im Ausschuss erörtern.
Ihr Antrag enthält einiges Bedenkenswerte, leider
aber auch vieles, das sich mir überhaupt nicht erschließt.
Ich will nur zwei Beispiele anführen, bei denen ich den
Eindruck hatte, das Stricken mit heißer Nadel könnte
dazu geführt haben, mit den Fakten etwas zu schludern.
So wollen Sie das Aufstockungs- und Umgehungsverbot in § 16 f SGB II für Langzeitarbeitslose aufheben. Da habe ich mir ein wenig die Augen gerieben;
denn in der Instrumentenreform im letzten Jahr haben
wir genau das getan. Die Verbesserung der Freien Förderung und die Aufhebung des Aufstockungs- und Umgehungsverbots für Langzeitarbeitslose, das war einer der
wichtigsten Bestandteile der Instrumentenreform.
({3})
Es freut mich aber zumindest, dass wir in der Lage
waren, eine Forderung von Ihnen zu erfüllen, noch ehe
sie bei Ihnen zum Gedanken geronnen und zu Papier
gebracht worden ist.
({4})
Erstaunt hat mich auch die Forderung, dass Menschen, die neben ALG I zusätzlich ALG II beziehen,
weiterhin von der Arbeitsagentur beraten werden sollten,
eben solange sie ALG I beziehen.
({5})
Das werden sie. Ich habe mich in diesem Punkt auch
noch einmal rückversichert. Das steht im Übrigen auch
in Form eines Verweises im Gesetz. Vielleicht haben Sie
den Verweis nicht gelesen. Im Ergebnis zeigen Sie einen
erheblichen Mangel an, der keiner ist. Aber vielleicht
war das ja der Eile geschuldet, in der der Antrag
geschrieben wurde. Kann ja mal passieren.
({6})
Mein Haupteinwand gegen Ihren Antrag ist allerdings
ein ordnungspolitischer. Über weite Strecken wird man
bei Ihnen den Eindruck nicht los: Alles muss der Staat
machen - durch Gesetze und durch mehr Geld. - Ich
glaube dies nicht. Im Übrigen glaubt dies auch die Bundesagentur für Arbeit nicht, deren Bericht über den
Fachkräftemangel Sie zustimmend zitieren. Die Bundesagentur sagt sehr deutlich, dass in der Mehrzahl der zehn
zentralen Handlungsfelder zur Überwindung des Fachkräftemangels die Unternehmen gefordert sind. Das ist
auch einleuchtend.
Der Fachkräftemangel führt dazu, dass Firmen ein
gesundes Eigeninteresse bekommen, Fachkräfte heranzuziehen und auszubilden. Dort, wo sie das tun, sollte
sich der Staat zurückziehen und nicht noch durch besondere Förderungen die Arbeitgeber subventionieren. Für
mich ist das nicht nur ein Erfordernis einer sparsamen
Haushaltsführung, sondern auch ein Erfordernis der
Subsidiarität. Wenn andere wie etwa die Arbeitgeber
Dinge genauso gut oder besser erledigen können,
braucht man dafür keine Steuergelder einzusetzen.
({7})
Ich würde eine Ausnahme machen. Ich fände es gut,
wenn wir mehr Mittel für die steuerliche Förderung von
Mitarbeiterbeteiligungen bereitstellen könnten. Gerade
dieser Bereich ist noch entwicklungsfähig und für die
dauerhafte Bindung der Mitarbeiter an die Firmen von
besonderer Bedeutung. Die Mitarbeiterbeteiligung
könnte auch ein zusätzlicher Anreiz sein, wenn es darum
geht, qualifiziertes Personal aus dem Ausland nach
Deutschland zu locken. Dazu findet sich in Ihrem Antrag
aber kein Wort. Schade!
Ihr Wunsch nach mehr Geld wird auch thematisiert
bei den von uns vorgenommenen Anpassungen im Eingliederungstitel für Langzeitarbeitslose. Dieser Wunsch
gewinnt durch ständige Wiederholung nicht an Plausibilität. Um nur einmal die Zahlen zu nennen: Der Eingliederungstitel enthielt 2007 4,8 Milliarden Euro, 2011,
nach einem vorübergehenden Hoch, 4,66 Milliarden
Euro. Im gleichen Zeitraum ist allerdings die Anzahl der
Langzeitarbeitslosen deutlich zurückgegangen: von
1,7 Millionen auf etwas mehr als 1 Million. Das bedeutet: Standen 2007 pro Langzeitarbeitslosen rechnerisch
2 438 Euro aus dem Eingliederungstitel zur Verfügung,
waren es 2011 4 431 Euro.
({8})
Wie man hier auf die Idee kommen kann, von Kürzungen zu sprechen, ist mir schleierhaft. Es ist doch ganz
klar: Je weniger Arbeitslose ich habe, desto weniger
Geld muss ich für deren Betreuung und Vermittlung aufwenden. Genau nach dieser Logik handeln wir. Bei
Ihnen habe ich manchmal den Eindruck: Egal, ob wir
mehr oder weniger Arbeitslose haben, es wird immer
mehr Geld gebraucht. Diese Logik kann ich überhaupt
nicht nachvollziehen.
({9})
Unverständlich ist aus meiner Sicht auch Ihre Forderung, mehr Geld dafür auszugeben, die Kontaktdichte
zwischen Arbeitsuchenden und Vermittlungsfachkräften
zu verändern. Auch hier habe ich mir einmal die Zahlen
der Betreuungsrelationen in der Grundsicherung angeschaut. Diese liegen vielfach in der Nähe der selbst
gesetzten Ziele; in einigen Fällen sind sie deutlich besser. In Gesprächen erhalte ich häufig die Rückmeldung:
Es liegt nicht daran, dass mehr Geld gebraucht wird;
eher ist das Problem eine Fluktuation beim Personal, die
eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen Arbeitsuchenden und Vermittlungskräften erschwert.
Es ärgert mich Ihr Vorschlag, das Recht auf die finanzielle Förderung beim Nachholen eines Schulabschlusses als Pflichtleistung auszugestalten. Es ärgert mich
weniger, dass Sie den Vorschlag gemacht haben - damit
wir uns richtig verstehen -, vielmehr ärgert mich - der
Kollege Gabriel hat das ja auch angesprochen -, dass
den Versicherten ein Versagen der Schulpolitik vor die
Füße gekehrt wird. Ich finde, wir sollten die Bundesländer für jeden, der keinen Schulabschluss erworben hat,
finanziell mit einem Aussteuerungsbeitrag an die Bundesagentur zur Verantwortung ziehen. Ich vermute, dass
sich die Länder dann ganz anders aufstellen würden, um
sicherzustellen, dass alle einen Abschluss bekommen.
({10})
Auf einen Aspekt, der die Differenz zwischen Ihrem
Politikverständnis und unserem besonders markiert, will
ich noch aufmerksam machen. Sie lehnen das Betreuungsgeld aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ab.
({11})
Ich will einmal davon absehen, dass Sie mit uns in der
Großen Koalition das Betreuungsgeld vereinbart haben.
Es steht seither in § 16 des SGB VIII.
({12})
Aber mir scheint doch, dass das dahinterliegende Konzept Frauen als industrielle Reservearmee sieht.
({13})
Warum aber sollten Frauen ebenso unbarmherzig wie
Männer der Verwertungsrationalität unseres wirtschaftlichen Systems unterworfen werden?
({14})
Ist Wahlfreiheit nicht auch eine Möglichkeit, Frau
Kramme, dies nicht tun zu müssen? Ich weiß, das ist
nicht bei allen möglich. Karl Schiewerling hat ausgeführt, dass er in seinem Wahlkreis Menschen befragt hat,
wie sie das mit dem Betreuungsgeld sehen. Das habe ich
auch in meinem Wahlkreis getan. Ich komme aus Frankfurt, einem städtischen Wahlkreis. Dort ist die Situation
vielleicht etwas anders.
({15})
Ich muss doch zur Kenntnis nehmen, und zwar mit großem Bedauern, dass Frankfurt nicht der Nabel der Welt
ist und dass es andere Betreuungsmodelle gibt, die auch
interessant sind und die gelebt werden wollen.
({16})
Wollen Sie Ihre Redezeit verlängern und eine Zwischenfrage der Kollegin Dittrich zulassen?
({0})
Aber ja.
Schönen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich möchte fragen, ob Sie erkennen können, dass die
Nichtbereitstellung von Betreuungsplätzen für Kinder
unter drei Jahren verhindert, dass Frauen die Funktion
des Ernährers wahrnehmen können; denn sie können nur
einige Stunden arbeiten.
Zweitens. Den größten Fachkräftemangel - das haben
Sie selbst gesagt; Sie sprachen davon, dass das nicht der
Verwertungslogik der Industrie unterliegen soll; das kam
von Ihnen - gibt es in den Dienstleistungsbereichen, bei
den Erzieherinnen und den Altenpflegerinnen. Die Kommunen haben kein Geld, um die Erzieherinnen auszubilden. Erzieherinnen fehlen am meisten. Das, würde ich
sagen, ist auf Ihre verfehlte Wirtschaftspolitik zurückzuführen: Indem Sie die Banken finanzieren, machen Sie
die Kommunen arm. Deshalb gibt es einen Fachkräftemangel vor Ort. Diesen Mangel gibt es auch bei den
Altenpflegerinnen. Kann Ihre Regierung ein Programm
auflegen, um in diesen Frauenberufen erstens mehr und
bessere Ausbildung zu ermöglichen und zweitens mehr
Geld bereitzustellen? Dann haben Sie mehr Personal mit
einer besseren Ausbildung vor Ort. Das nützt allen: Qualifizierten Frauen wird ein Ausbildungsplatz verschafft,
sie werden besser bezahlt, die Kinder werden besser
betreut, die in der Kita etwas lernen sollen, und bei der
Altenpflege werden die Älteren qualifiziert betreut. Das
sind Tätigkeiten, die Frauen privat zu Hause erledigen,
indem sie ihre Arbeitszeit reduzieren. Dafür wurde ihnen
von Ihnen ein unsinniges Pflegezeitgesetz angeboten.
Verehrte Frau Kollegin, es fällt mir ein bisschen
schwer, dieser Argumentation intellektuell zu folgen.
({0})
Ich halte es für ein ausgesprochen mutiges Unterfangen,
unserer Wirtschaftspolitik ein Scheitern zu unterstellen
angesichts dessen, dass wir nahezu Vollbeschäftigung
haben.
({1})
Frau Kollegin, andere Bundeskanzler hätten da den Kölner Dom tagelang läuten lassen, um das zu feiern.
({2})
Ich glaube, dass im Rahmen der Diskussion über
Fachkräftemangel und über das Eröffnen von Chancen
die heutige Debatte sicherlich nicht die letzte war. Die
SPD hat mit ihrem Antrag einen Aufschlag gemacht.
Über diesen Antrag werden wir im Ausschuss weiter
debattieren. Ohne ein Prophet zu sein, vermute ich, dass
wir uns Ihrem Antrag nicht anschließen können. Das
wird uns jedoch nicht daran hindern, Chancen zu eröffnen und Fachkräfte zu sichern.
({3})
Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich darf damit anfangen, dass die Reden von
Herrn Schiewerling, aber auch von Herrn Zimmer großes Entsetzen bei mir ausgelöst haben.
({0})
Ist das der Umgang mit Fachkräftemangel in der Bundesrepublik Deutschland? Dann kann ich nur sagen:
Diese Bundesregierung und diese Ministerin vernachlässigen das Thema brutal und gehen unverantwortlich mit
den Menschen in diesem Lande um.
({1})
Aber schauen wir uns genauer an, was die Bundesregierung macht: ein bisschen Zuwanderung, ohne positive Rahmenbedingungen für die Zuwanderung zu setzen; ein bisschen Anerkennung von Berufsabschlüssen
von Migranten,
({2})
ohne entsprechende Rahmenbedingungen zu setzen,
damit Migranten tatsächlich neue Rechte effektiv in
Anspruch nehmen können - nicht einmal die Kostenfrage der Anerkennung von Abschlüssen ist geklärt -;
ein bisschen Copy & Paste bei der Bundesagentur für
Arbeit, die dankenswerterweise mögliche Handlungsansätze zur Systematisierung beim Fachkräftemangel formuliert hat.
An dieser Stelle sei angemerkt: Wenn Sie nur das
übernehmen würden, was die BA vorschlägt, wären wir
in diesem Land ein ganzes Stück weiter. Tatsächlich ist
es aber so, dass Sie jede Menge Optionen ungenutzt lassen. Bei der Bundesagentur für Arbeit streichen Sie den
Haushalt zusammen, statt Mittel umzuschichten, hinein
in die langfristige Qualifizierung von Arbeitslosen einerseits und von Erwerbstätigen andererseits. In der Demografiestrategie findet sich praktisch nichts zum Bereich
Fachkräftesicherung. Zum Papier „Fachkräftesicherung“, auf das Sie so stolz sind, ich kann Ihnen nur
sagen: Das ist es wert, dass man es in den Mülleiner
schmeißt, aber auch kein bisschen mehr.
({3})
Lassen Sie mich auf die heldenhaften Äußerungen
von Herrn Schiewerling zum Betreuungsgeld eingehen.
Das hat mich ja emotional richtig angerührt. Natürlich
führt das Betreuungsgeld dazu, dass Frauen zu Hause
bleiben; denn das Geld, das für diese Maßnahme zur
Verfügung steht, wird nicht für den Ausbau der Kinderbetreuung verwendet. Mit diesem Geld könnten bis zu
220 000 Kinderbetreuungsmöglichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen werden.
({4})
Es gibt eine verdammt große Menge Frauen in diesem
Land, die gerne arbeiten würden. Dabei geht es nicht um
die „ökonomische Verwertung“ von Frauen, sondern es
geht darum, dass Frauen ein eigenes Leben verwirklichen wollen, und darum, dass sie manchmal sogar arbeiten müssen, damit hinreichend Geld im Haushalt vorhanden ist.
({5})
Die Folgen Ihrer Politik sind fatal. Stellen wir uns ein
Land vor, in dem es viel zu wenig Ingenieure gibt. Wie
soll in diesem Land noch Innovation stattfinden? Wie
soll Produktivität stattfinden? Stellen wir uns ein Land
vor, in dem es fast keine Altenpfleger mehr gibt. Wer
soll die Menschen in den Altenheimen und sonstigen
Einrichtungen betreuen? Und was ist mit dem erwähnten
Handwerker? Wenn es den nicht mehr gibt, dann fehlt es
an dem, was ich „volkswirtschaftliche Produktivität“
nenne.
Wir werden in diesem Land auf Einnahmen verzichten müssen, weil Sie drei Regierungsjahre haben verstreichen lassen und in dieser Zeit nichts unternommen
haben, obwohl wir alle wissen, dass sich Fachkräfte
nicht in 14 Tagen ausbilden lassen.
({6})
Wir Sozialdemokraten wollen das Thema Fachkräftesicherung ein wenig anders angehen als andere. Wir sind
der Überzeugung: Das ist eine wunderbare Gelegenheit,
den Menschen in unserem Land neue Qualifikationen
und damit den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen. Wir
möchten, dass der Gelernte zum Meister werden kann,
indem er die Technikerschule oder auch die Universität
besucht.
({7})
Das sind ganz neue Möglichkeiten.
({8})
- Ja,
({9})
aber die Frage ist doch: Welcher Berufstätige kann es
sich finanziell leisten - gerade wenn Familie vorhanden
ist -, aus dem Beruf auszusteigen, um sich weiterzubilden? Das wird in unserem Land nur funktionieren, wenn
es ausreichend finanzielle Unterstützung gibt. Das zeigt,
dass wir beispielsweise das Thema Arbeitsversicherung
angehen müssen.
({10})
Lassen Sie mich ein Letztes sagen. Fakt ist, dass für
die Weiterbildung in unserem Land die Unternehmen zuständig sind. Hier müssen wir Umstrukturierungen vornehmen; wir können das nicht mehr so angehen wie in
der Vergangenheit. Es ist wichtig, dass Unternehmen Sozialpläne finanzieren; aber es ist für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mindestens genauso wichtig, dass
sie sich ein Leben lang weiterbilden können. Wir wollen
deshalb ein neues Mitbestimmungsrecht einführen, ein
Initiativrecht, das Unternehmen im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten verpflichtet, Mittel für die Weiterbildung zur Verfügung zu stellen. Dadurch wird sich einiges ändern.
({11})
Ungedeckter Fachkräftebedarf ist eine Hypothek auf
die Zukunft, ist ein Vergehen an der Zukunft unseres
Landes. Drei Jahre Regierungshandeln in Untätigkeit das ist eine Schande für unser Land.
In dem Sinne: Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, bei aller Freude über die politische Debatte dürfen wir nicht
vergessen - das muss man in dieser Debatte betonen -,
dass der Fachkräftemangel eine gesamtgesellschaftliche
Herausforderung darstellt. Natürlich gibt es eine Verantwortung der Politik, aber auch viele andere Bereiche der
Gesellschaft tragen Verantwortung.
Ich denke beispielsweise an die Betriebe, die vor der
Herausforderung stehen, gute Angebote zu unterbreiten,
um Fachkräfte zu finden, aber gleichzeitig dafür sorgen
müssen, ihre Belegschaften zu qualifizieren und auf die
Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Der
Fachkräftemangel ist eine Herausforderung für die Verbände und für die Gewerkschaften, die bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen ihrer Verantwortung für
die Zukunft gerecht werden müssen; denn nicht nur das
gegenwärtige Interesse steht im Mittelpunkt, sondern
auch die Interessen zukünftiger Generationen. Er ist eine
Herausforderung für die Bundesagentur für Arbeit, die
passgenau qualifizieren und vermitteln muss. Er ist eine
Herausforderung für die Gesellschaft - darauf hat mein
Kollege Johannes Vogel schon hingewiesen -, die eine
Willkommenskultur leben muss, damit sich Menschen
aus dem Ausland bei uns wohlfühlen. Er ist aber auch
eine Herausforderung für den Einzelnen, der die Bereitschaft haben muss, seine eigenen Potenziale zu entdecken, um sie dann mit oder auch ohne Unterstützung zu
entwickeln.
Es gibt natürlich auch eine Verantwortung der Politik.
Liebe Frau Kramme, Sie können das Fachkräftekonzept
der Bundesregierung nicht einfach so abtun und behaupten, es sei nur für den Abfalleimer; denn in diesem Papier wird eine Fülle von Maßnahmen beschrieben, die
die Bundesregierung mit großem finanziellen Aufwand
auf den Weg bringt.
({0})
Das Konzept der Bundesregierung zur Sicherung des
Fachkräftebedarfs sieht fünf Schwerpunkte vor. Auf den
Schwerpunkt „Integration und qualifizierte Zuwanderung“ ist mein Kollege Johannes Vogel bereits eingegangen. Ich möchte zwei weitere Schwerpunkte nennen.
Wir müssen die Potenziale älterer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer entdecken, erhalten und fördern. Es
ist ein Glück, dass die Gesellschaft insgesamt - die einzelnen Menschen und die Betriebe - umdenkt und dass
der Prozess in Gang gekommen ist, dass die Menschen
länger arbeiten wollen und sollen. Die Zahl älterer Erwerbstätiger im Alter von 55 bis unter 65 Jahren ist in
den Jahren 2005 bis 2009 um mehr als 1 Million angestiegen, und die Tendenz ist weiter steigend. Das ist ein
gutes Signal. Die Zahl der Arbeitslosen im Alter von
über 55 Jahren hat sich in den letzten zehn Jahren nahezu halbiert. Weiter ist es gut, festzustellen, dass die
Bundesregierung auch Initiativen fördert wie beispielsweise das Demografienetzwerk, in dem sich Unternehmen zusammenschließen, um den Know-how-Transfer
zu leisten und um sich gegenseitig dabei zu unterstützen,
dass die Erwerbstätigkeit auch im hohen Alter erhalten
bleiben kann. Die Bundesregierung geht als Arbeitgeber
mit gutem Beispiel voran. Ich erinnere an das Modell
Falter, mit dem die Bundesregierung im Bereich des öffentlichen Dienstes ein innovatives Konzept mit flexiblen Arbeitszeiten für ältere Beschäftigte, die in der Verwaltung des Bundes arbeiten, vorgelegt hat. Dazu gehört
aber auch, dass wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten für
Rentnerinnen und Rentner verbessern und flexibilisieren. Weiter gehört dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen
der SPD, dass wir an der Rente mit 67 uneingeschränkt
festhalten müssen.
Darüber hinaus möchte ich daran erinnern, dass wir
auch im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit nicht nur
Erfolge zu verzeichnen haben, sondern dass wir da auch
neue Maßnahmen in Gang gesetzt haben. Fachkräftemangel - der Kollege Gabriel ist gerade weg - ist offensichtlich auch ein Problem in der SPD-Fraktion; über die
vielen Fehler hinaus, die meine Kollegen Kolb und
Zimmer schon erwähnt haben, möchte ich Sie, was den
Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit angeht, nur auf einen Punkt in Ihrem Antrag hinweisen. Sie fordern, dass
wir das Aufstockungs- und Umgehungsverbot in § 16
SGB II - freie Förderung - abschaffen. Ich möchte Sie
daran erinnern, dass wir das schon im September des
vergangenen Jahres beschlossen haben und dass das seit
dem 1. April wirksam ist.
Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD,
bitte ich Sie, in Zukunft etwas mehr Mühe darauf zu verwenden, wenn Sie Anträge in den Bundestag einbringen.
Sonst entsteht bei der Bevölkerung tatsächlich der Eindruck, dass Fachkräftemangel ein Problem Ihrer Fraktion ist.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Axel Knoerig für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die SPD-Fraktion hat einen Antrag mit dem Titel
„Chancen eröffnen und Fachkräfte sichern“ vorgelegt;
das sind beachtliche zwölf Seiten. Darin sind umfangreiche Maßnahmen für alle Bereiche der Arbeits-, Sozialund Bildungspolitik vorgeschlagen worden. Den Kollegen von der Opposition ist bisher anscheinend Folgendes
nicht aufgefallen, Frau Kramme: Viele dieser Vorschläge
hat die Regierungskoalition in den vergangenen Jahren
bereits umgesetzt. Ich möchte hier heute als Vorstandsmitglied der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU und als
Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung die neuesten Fakten zu diesem Thema zusammenfassen.
Wir sind uns, denke ich, darin einig: Arbeitsmarktpolitische Programme können nur greifen, wenn die bildungspolitischen Voraussetzungen stimmen.
({0})
Ein erfolgreicher Schulabschluss, ein abgeschlossenes
Hochschulstudium sowie berufliche Qualifikation und
Praxis sind, denke ich, die Voraussetzungen für Beschäftigung in unserem Land. Im Rahmen der Fachkräftesicherung müssen deshalb Qualifikationen kontinuierlich
verbessert werden. Weiterbildung und lebenslanges Lernen gehören heute zu den wichtigsten Erfahrungen im
persönlichen Lebenslauf.
In Deutschland arbeiten rund 60 Prozent der Beschäftigten in kleinen und mittelständischen Unternehmen. In
meinem Bundesland Niedersachsen beispielsweise besteht die Branche der Automobilzulieferer zum Teil aus
sehr kleinen Unternehmen mit bis zu zehn Mitarbeitern.
Die Mitarbeiter dieser Kleinstbetriebe sind hochqualifiziert und spezialisiert, und das vor allem in der Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Wir konnten feststel21500
len, dass gerade auch mit den Konjunkturprogrammen I
und II während der Wirtschaftskrise ein entscheidender
Beitrag geleistet wurde, um unser Fachkräftepotenzial
zu sichern. Ohne diese Maßnahmen der Bundesregierung hätten viele Firmen ihr Fachpersonal nicht halten
können. Ich denke, wir können heute sagen: Sie sind
weiterhin in ihren Betrieben beschäftigt. Wenn man vor
Ort konkret nachfragt, wo diese Fördermittel hingeflossen sind, erhält man immer dieselbe Antwort. Auch in
meinem Wahlkreis wurde vorwiegend in die Bildungsinfrastruktur investiert, allem voran in die energetische Sanierung von Schulen und Turnhallen.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
ein Konzept zur Fachkräftesicherung entwickelt. Ein Bestandteil ist das neu eingerichtete Kompetenzzentrum für
Fachkräftesicherung. Mittelständische Betriebe können
sich dort kostenlos informieren und beraten lassen. Sie
werden individuell unterstützt mit passend zugeschnittenen Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel. Dieses
Kompetenzzentrum ist ein hervorragendes Beispiel für
die verantwortungsvolle Politik der Bundesregierung zur
Sicherung des Fachkräftebedarfs.
({1})
Grundsätzlich ist der Fachkräftemangel schwer zu
quantifizieren. Es steht aber fest, dass er nicht flächendeckend ist. Er kann deshalb nur regional beurteilt werden.
Wir müssen die Instrumente zur Fachkräftesicherung vor
allem an den betroffenen Berufsgruppen, den Altersgruppen, den Branchen, den Arbeitsmarktstrukturen und
der Bildungsinfrastruktur vor Ort ausrichten.
An Ihrem überfrachteten Antrag fällt mir eines auf:
Ihr Hauptanliegen, die Fachkräftesicherung, verschwindet an vielen Stellen völlig aus dem Blick. Ich denke,
man kann es so formulieren: Der SPD-Antrag ist von einer wirtschaftsfernen Einstellung geprägt, die einige Arbeitsmarktexperten sprachlos macht.
({2})
Die SPD trennt zwischen Ausbildung und Arbeit. Für
die Union gehört beides zusammen.
({3})
Der Auszubildende soll nicht nur kosten, sondern sich
auch lohnen: Der Auszubildende profitiert von seiner
Lehrzeit, aber auch der Handwerksbetrieb profitiert von
der Leistung des Lehrlings.
Was die SPD hier im Einzelnen fordert, ist unverantwortlich, weil in arbeitsmarktpolitischer Hinsicht nicht
zu Ende gedacht wird. Es sollen neue staatlich-bürokratische Strukturen geschaffen werden, um eine Berufsausbildung zu garantieren. Aber die spätere Vermittlung auf
dem Arbeitsmarkt wird nicht berücksichtigt. An keiner
Stelle des Antrags wird von Kooperationsstrukturen zwischen Schule, Berufsausbildung und Wirtschaft gesprochen. Können Sie Ihren Antrag nicht guten Gewissens
mit berufsbegleitenden Maßnahmen in der Praxis, kommunaler Wirtschaftsförderung und einer vorausschauenden Ausbildungsplanung der Firmen in Abstimmung mit
den Landkreisen anreichern?
({4})
Unser Erfolgsmodell der dualen Ausbildung zeichnet
sich genau dadurch aus. Somit liegt diesem Antrag dasselbe Fehlverständnis zugrunde wie dem Antrag, den die
Grünen vor zwei Jahren zu dem Programm „DualPlus“
eingebracht haben. Neben Berufsschule und Ausbildung
sollte eine dritte Säule staatlicher Ausbildung etabliert
werden. 240 Millionen Euro Haushaltsmittel wurden dafür eingefordert. Wir haben ganz klar Nein gesagt. Das
war mit uns nicht zu machen. Können Sie mit Ihrer Wirtschaftsferne und einer Bildungsplanung jenseits der Erfordernisse des Arbeitsmarktes dieses Modell wirklich
verantworten? Diesen Vorschlägen fehlen essenzielle
Grundlagen wie Anreize, Verantwortung und Vertrauensbildung; darauf beruhen unsere erfolgreichen Konzepte. Es fehlt eine weitere entscheidende Komponente,
die Förderung von Allianzen zwischen Sozialpartnern,
Berufsverbänden, regionaler Wirtschaft und Politik, die
zu einer vorausschauenden Qualifizierung und Beschäftigung immens viel beitragen können.
In meinem Bundesland Niedersachsen ist der Fachkräftemangel bereits zunehmend spürbar. So ist die Zahl
der Bewerber um Ausbildungsplätze schon um 25 Prozent zurückgegangen. Ich möchte Ihnen eine Initiative
aus meinem Wahlkreis kurz vorstellen, die zeigt, wie
man dieser Herausforderung begegnen kann. Die vorausschauende Kooperation zwischen kommunaler Wirtschaftsförderung, Berufsverbänden und Firmen wirkt
dem Fachkräftemangel effektiv entgegen. Im Landkreis
Diepholz zeichnet sich seit einiger Zeit ein Mangel an
Berufskraftfahrern ab. Neun Unternehmen haben sich
nun zusammengeschlossen und einen Ausbildungsverbund für Berufskraftfahrer gegründet. Ziel ist es, bei der
Ausbildung zu kooperieren und den Auszubildenden
durch die Arbeit in verschiedenen Speditionen ein umfassendes und flexibles Berufsbild zu vermitteln. Dadurch werden die Absolventen zukünftig bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
({5})
Die Komplexität und der Wandel dieses Berufsbildes
werden berücksichtigt. In der dreijährigen Ausbildung
wird umfangreiches Theoriewissen vermittelt, von der
Lkw-Technik über Straßenverkehrs- und Zollvorschriften bis hin zu Elektrotechnik und Hydraulik. Das sind
Verbünde, die wir vor Ort, in unseren Landkreisen benötigen.
Warum werden in dem SPD-Antrag zur Fachkräftesicherung die zahlreichen Maßnahmen der Bundesregierung in diesem Bereich ignoriert?
({6})
In Ergänzung zu den bereits genannten Maßnahmen aus
dem Bereich Arbeit und Soziales möchte ich abschließend
kurz einige Maßnahmen aus dem Bildungsbereich nenAxel Knoerig
nen. Der neue Ausbildungspakt weist erfolgreiche Ergebnisse auf: Trotz doppelter Abiturjahrgänge und Aussetzung der Wehrpflicht ist die Zahl der abgeschlossenen
Verträge über eine betriebliche Ausbildung im vergangenen Jahr weiter gestiegen. 2011 sind 570 000 Ausbildungsverträge geschlossen worden.
({7})
Jetzt zu den zahlreichen Maßnahmen, die zu den
neuen Vereinbarungen des Ausbildungspaktes gehören:
Einen verbesserten Übergang von der Schule in die berufliche Ausbildung wird durch die BMBF-Initiative
Bildungsketten gewährleistet, Herr Gabriel. Dafür wurden vom Bundesbildungsministerium 360 Millionen
Euro bereitgestellt. Die Wirtschaft bietet im Rahmen des
Programms EQ Plus pro Jahr 10 000 betrieblich durchgeführte Einstiegsqualifizierungen speziell für leistungsschwächere Jugendliche an. Mit dem Hochschulpakt
2020 und mit dem Qualitätspakt Lehre haben wir erreicht, dass jeder Bewerber in der Bundesrepublik einen
Studienplatz erhalten hat.
({8})
Nur wenn es uns nicht gelingt - das ist ganz wichtig -,
Fachkräfte auf dem hiesigen Arbeitsmarkt zu finden,
wird für hochqualifizierte Ausländer der Zugang mit der
sogenannten Bluecard erleichtert.
Wir sind mit großem Ernst dabei, erfolgreiche Instrumente zur Fachkräftesicherung und damit zur Stärkung
von Bildung und Beschäftigung in Deutschland zu positionieren. Mein Fazit lautet: Der SPD-Antrag ist überflüssig.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile das Wort Gabriele Lösekrug-Möller für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werter
Herr Kollege Knoerig, wenn man Sie so hört, dann
wollte man meinen: Vielleicht ist nicht ganz Niedersachsen ein Paradies, aber der Landkreis Diepholz ist es auf
jeden Fall.
({0})
Unterhalten Sie sich doch einmal mit Ihrem Kollegen
Zimmer über den Vorschlag einer - ich nenne es einmal
so - Vertragsstrafe für die Bundesländer, in denen es so
viele Schulabbrecher gibt. Dieses Problem scheint es in
Ihrem Landkreis ja nicht zu geben, bundesweit besteht
dieses Problem jedoch. Leider hat Sigmar Gabriel recht:
Es gibt jedes Jahr mehr als 50 000 Schulabbrecher. Dazu
kommen diejenigen - über diese haben wir noch nicht
gesprochen -, die ihre Ausbildung im dualen System
hinschmeißen, und diejenigen, die mit dem Studium
nicht zurechtkommen.
({1})
Das heißt, es gibt viele junge Menschen ohne ausreichende Qualifikationen. Diese brauchen sie aber, wenn
wir den Fachkräftebedarf für die Zukunft sichern wollen.
Ich stelle fest, dass eine Hochglanzbroschüre, in der fünf
Pfade beschrieben werden, nicht ausreicht. Unser Antrag
ist deshalb bitter nötig.
({2})
Kollege Kolb sagte, Herr Gabriel sei im falschen
Film.
({3})
- Ja, klatschen Sie ruhig weiter. - Das, was wir hier
heute von Ihnen erlebt haben, ist schlechtes Theater.
({4})
Ich frage mich: Wie sehen das eigentlich die Altenpflegerinnen in Deutschland, die einen harten Job machen
und alleingelassen werden? Wie sehen das diejenigen,
die diese Ausbildung machen wollen, aber alleingelassen werden, weil das dritte Ausbildungsjahr nicht finanziert wird? Wie sehen das all die potenziellen Pflegekräfte, die wir so gerne hätten, die wir aber nicht
bekommen, weil es nicht gelingt, die Ausbildung so zu
gestalten, dass sie für junge Leute attraktiv ist? Warum
gelingt es in Deutschland trotz dieser offenkundig blendenden Regierung immer noch nicht, jungen Leuten
klarzumachen, dass der Beruf des Erziehers erstrebenswert ist? Schauen Sie doch einmal genauer hin, wenn Sie
Krippen und Kitas besuchen. Diese klagen darüber, dass
sie nicht genügend Fachpersonal haben.
Nun kommen wir zu den Frauen. Herr Kollege
Zimmer, Frauen als industrielle Reservearmee? Ich bitte
Sie! Ich glaube, Sie sollten sich diese Formulierung noch
einmal überlegen. Ich kann in unserem Antrag keine
Silbe finden, die diese Argumentation rechtfertigen
würde.
({5})
Die Frauen von heute sagen, dass das von vorgestern ist.
({6})
Das ist genauso von vorgestern wie diese Brandrede für
das Betreuungsgeld. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Es
gibt viele hochqualifizierte junge Frauen, die gerne
zeigen würden, was sie können. Wissen Sie was? Mangelnde Betreuungsangebote, mangelnde Kita- und Krippenplätze hindern sie daran. Sie sind unter ihrem Qualifizierungsniveau beschäftigt und in Teilzeit angestellt.
Sie haben gar nicht die Chance, in Vollzeit unter Beweis
zu stellen, was sie können. Das ist die Situation in
Deutschland. Deshalb ist unser Antrag wichtig.
Sie scheinen ja die eine oder andere Kleinigkeit gefunden zu haben, die Sie kritisieren können. Ich drehe
das einmal um: Im Großen und Ganzen scheinen Sie unseren Antrag zu begrüßen. Wir würden uns freuen, wenn
Sie darin viele Anregungen finden, die Sie dann endlich
aufnehmen. Denn wir stellen fest, dass wir in den nächsten 15 Jahren einen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials um mehr als 3 Millionen Menschen haben
werden. Sie liefern keine Antworten auf die Frage, mit
welchen Strategien wir dann unsere Fachkräftebasis
sichern können. Dazu kommt gar nichts von Ihnen. Deshalb ist unser Antrag bitter nötig. Ich freue mich schon
auf die Diskussionen im Ausschuss darüber. Später werden wir wie immer feststellen, dass Sie unsere Vorschläge übernehmen und sich mit fremden Federn
schmücken; aber das kennen wir ja schon.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9725 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 a bis k sowie
den Zusatzpunkt 3 a bis e auf:
36 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuchs - Aufnahme menschenverachtender Tatmotive als besondere Umstände
der Strafzumessung ({0})
- Drucksache 17/9345 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschaftsund Währungsunion
- Drucksache 17/9667 Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss ({2})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 7. Dezember 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem
Vereinigten Königreich Großbritannien und
Nordirland zur Vermeidung der Doppelbelas-
tung bei der Bankenabgabe
- Drucksache 17/9688 -
Überweisungsvorschlag:-
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 7. Oktober 2011 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Mauritius zur Vermeidung der Doppel-
besteuerung und der Steuerverkürzung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
- Drucksache 17/9689 -
Überweisungsvorschlag:-
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ab-
kommen vom 19. und 28. Dezember 2011 zwi-
schen dem Deutschen Institut in Taipeh und
der Taipeh-Vertretung in der Bundesrepublik
Deutschland zur Vermeidung der Doppel-
besteuerung und zur Verhinderung der Steu-
erverkürzung hinsichtlich der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 17/9690 -
Überweisungsvorschlag:-
Finanzausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Markenrechtsvertrag von Singapur vom
27. März 2006
- Drucksache 17/9691 -
Überweisungsvorschlag:-
Rechtsausschuss
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/9692 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})-
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 9. Dezember 2011 über
den Internationalen Suchdienst
- Drucksache 17/9693 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})-
Auswärtiger Ausschuss -
Innenausschuss -
Ausschuss für Kultur und Medien
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub,
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Joachim Günther
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Selbstbestimmtes Leben von Menschen mit
Behinderung - Grundsatz der deutschen Entwicklungspolitik
- Drucksache 17/9730 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})-
Auswärtiger Ausschuss -
Sportausschuss -
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Dagmar Freitag, Sabine BätzingLichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Die Rolle des Sports in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
- Drucksache 17/9731 Überweisungsvorschlag:Sportausschuss ({7})-
Auswärtiger Ausschuss -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Eva Bulling-Schröter, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Rio+20 - Globale Gerechtigkeit statt grüner
Kapitalismus
- Drucksache 17/9732 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})-
Auswärtiger Ausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 4. Oktober 2003 zur
Gründung des Globalen Treuhandfonds für
Nutzpflanzenvielfalt
- Drucksache 17/9696 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
EU-Bildungsprogramme modernisieren und
ausbauen - Mobilität und Austausch im Lebenslangen Lernen für eine integrationsfördernde europäische Bildungspolitik erweitern
- Drucksache 17/9575 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union -
Ausschuss für Kultur und Medien -
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Übersetzungserfordernisse der nationalen
Parlamente in der mehrjährigen EU-Finanzplanung 2014-2020 berücksichtigen - Übersetzungen auch im intergouvernementalen Rahmen sicherstellen
- Drucksache 17/9736 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({11})-
Auswärtiger Ausschuss -
Innenausschuss -
Sportausschuss -
Rechtsausschuss -
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Ausschuss für Tourismus -
Ausschuss für Kultur und Medien -
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wohnungspolitische Verantwortung bei Übertragung der bundeseigenen TLG-Wohnungen
sichern
- Drucksache 17/9737 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({12})-
Innenausschuss -
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Arbeit und Soziales -
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz
Kuhn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz zum Bau der ICE-Neubaustrecke
Wendlingen-Ulm herstellen
- Drucksache 17/9741 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 a bis e auf. Es
handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 37 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({14})
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche Sanktionen für Insider-Geschäfte
und MarktmanipulationKOM({15}) 654 endg.; Ratsdok. 16000/11
- Drucksachen 17/7918 Nr. A.3, 17/9770 Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingBurkhard LischkaMarco BuschmannRaju SharmaJerzy Montag
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9770, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 37 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 433 zu Petitionen
- Drucksache 17/9588 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 433 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 434 zu Petitionen
- Drucksache 17/9589 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 434 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
von Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 435 zu Petitionen
- Drucksache 17/9590 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 435 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 436 zu Petitionen
- Drucksache 17/9591 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 436 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Entlassung des Bundesumweltministers und
Handlungsfähigkeit der Bundesregierung
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
an dieser Stelle noch einmal herzlichen Glückwunsch an
Herrn Altmaier! Ich wünsche Ihnen eine glückliche
Hand. Ich wünsche dem Bundesumweltministerium einen Minister, der die Umwelt zu seinem Herzensanliegen macht.
({0})
Unabhängig vom Wettstreit der Parteien braucht dieses
Land nämlich ein starkes Umweltministerium.
({1})
Ich sage das gerade vor dem Hintergrund der Entlassung von Herrn Röttgen. Er sollte - wir haben ja eben
einen Vorgeschmack auf den Parteitag der NRW-CDU
erlebt - für Frau Merkels elfte Wahlniederlage in Serie
geopfert werden. Man muss sich das vor Augen halten:
Frau Merkel hat zum zweiten Mal innerhalb von 20 Monaten eine Wahl im bevölkerungsstärksten Land der
Bundesrepublik Deutschland verloren. Mit dem Rauswurf Ihres vormals Klügsten wollten Sie eine Brandmauer ziehen. Aber genau dadurch haben Sie den Umstand, dass das Ihre Niederlage ist und dass Sie die
Wahlverliererin sind, unübersehbar gemacht.
({2})
Wir haben keine Begründung dafür gehört, warum
Herr Röttgen gefeuert worden ist. Das macht die Kanzlerin nicht selbst. Herr Gröhe attestiert ihm lieber per FAZ
fehlende Durchsetzungskraft, und Herr Strobl sagt, Herr
Röttgen hätte nicht mehr die Autorität gehabt, um die
Energiewende durchzusetzen. Meine Damen und Herren, ich frage: Autorität im Kabinett Merkel? Schauen
Sie sich das Kabinett doch einmal an!
Herr Westerwelle fliegt nach seinem Amtsantritt in
die Türkei und sagt dort, er wolle den Beitrittsprozess
fortsetzen. Das sage er nicht als seine eigene Meinung,
sondern für die ganze Regierung, ansonsten käme er in
kurzen Hosen daher. Daraufhin erklären Frau Merkel
und Herr Seehofer: Das gibt es nicht. Es gibt nur eine
privilegierte Partnerschaft. Herr Westerwelle erklärt die
Bermudashorts wahrscheinlich zur Dienstbekleidung.
Frau Schröder ist eine echte Autorität in Sachen
Gleichstellungspolitik.
({3})
Sie hat das so gut im Griff, dass die Frauen in der CDU/
CSU beginnen, sich gegen sie zu organisieren. Frau
Schröder hat es mittlerweile geschafft, dass Friede
Springer sich mit Renate Künast gegen sie verbündet. So
weit ist es mit der Autorität in der Frauenpolitik gekommen.
({4})
Zur Bildungsministerin, Frau Schavan: Sie ist, was
die Exzellenzinitiative an unseren Universitäten angeht,
mittlerweile eine echte Autorität. Ich glaube, dass Frau
Schavan nicht mit Herrn zu Guttenberg gleichzusetzen
ist. Davon bin ich persönlich überzeugt. Eines aber sage
ich Ihnen: Je länger Sie diese Affäre schlurren lassen
und dazu schweigen, umso schlechter ist das für den
Wissenschaftsstandort Deutschland.
({5})
Zur industriepolitischen Autorität des Wirtschaftsministers wollen wir hier kein Wort verlieren. Wir sind
ja nicht bei Markus Lanz.
Was bleibt als Fazit? Autorität ist im Kabinett Merkel
keine Eignungsvoraussetzung. Nun kann man sagen, die
Bundeskanzlerin habe dies gemacht, damit sie selbst
stärker erscheine. Was ist aber mit ihrer Autorität?
Was ist mit der Debatte zwischen Herrn Friedrich und
Frau Leutheusser-Schnarrenberger zur Vorratsdatenspeicherung? Wann wird diese Regierung diesen Konflikt
endlich lösen?
({6})
Wie war das mit dem Plattmachen der Photovoltaikindustrie? 90 000 Arbeitsplätze sind in Gefahr. Wo war
die Autorität? - Ach, das war von Frau Merkel beabsichtigt. Sie wollte das. Wenn sie das gewollt hätte, dann
frage ich: Wo bitte war ihre Autorität gegenüber den
CDU-Ministerpräsidenten? Wann hat es das in den letzten Jahrzehnten gegeben, dass der Bundesrat bei einem
nicht zustimmungspflichtigen Gesetz mit einer Zweidrittelmehrheit eine Vorlage der Koalition in den Vermittlungsausschuss schickt? Frau Merkel, auf Sie und Ihre
Regierung hören Ihre eigenen Leute schon lange nicht
mehr.
({7})
Gestern in Brüssel waren Sie in der Frage der Finanzund Wirtschaftspolitik wieder in der Minderheit. Was
war heute eigentlich geplant? Heute sollte hier im Hause
über den Europäischen Stabilitätsmechanismus abgestimmt werden. Für diesen gibt es hier im Haus eine
Mehrheit. Wir hätten sofort darüber abstimmen können.
Warum wird darüber nicht abgestimmt? Darüber wird
nicht abgestimmt, weil Frau Merkel in den eigenen Reihen keine Mehrheit hat und weil ihr die Gauweilers und
die Schäfflers auf der Nase herumtanzen.
({8})
Deswegen wurde dieses Thema von der Tagesordnung
abgesetzt.
({9})
Ihnen fehlt die Autorität, um sich selbst gegen solche
Leute durchzusetzen.
Frau Merkel hat die Entlassung von Norbert Röttgen
mit dem Satz begründet: Es geht um mich. - Deshalb
wurde sie autoritär. Doch damit hat sie nur ihren Autoritätsverlust offenbart. „Jetzt geht es um mich“; man
könnte sagen: Wie wahr.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Herr Präsident, ich komme mit diesem Satz zum
Schluss: Es geht nicht um Frau Merkel. Es geht um unser Land; und für unser Land ist es schlecht, eine Kanzlerin zu haben, die in den eigenen Reihen und in Europa
über keinerlei Autorität mehr verfügt.
({0})
Das Wort hat nun Marie-Luise Dött für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um zunächst einmal zur Beruhigung der Opposition
beizutragen: Ja, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ist gegeben, auch die der sie tragenden Koalitionsfraktionen.
({0})
Jeder, der Peter Altmaier kennt, weiß, dass wir mit ihm
nicht nur einen versierten Politikprofi als Umweltminister haben.
({1})
Peter Altmaier ist insbesondere bekannt für seine Durchsetzungskraft, gepaart mit Integrität und Verlässlichkeit.
({2})
Meine Damen und Herren von der Opposition, keine
Panik, der Wechsel im Amt des Umweltministers führt
nicht zur Destabilisierung der Bundesrepublik Deutschland, wie Sie das mit dem Titel der Aktuellen Stunde
suggerieren wollen.
Es ist mir heute aber auch ein Anliegen, Norbert
Röttgen für seine Arbeit als Umweltminister zu danken.
Wir sind beim Umbau unserer Energiepolitik auf einem
guten Weg. Daran hat er einen wesentlichen Anteil.
({3})
Natürlich werden wir hier weitermachen,
({4})
und zwar mit Kontinuität, Verantwortungsbewusstsein
und Verlässlichkeit in allen Handlungsfeldern: Ausbau
der erneuerbaren Energien, Netzausbau, Kraftwerksmodernisierung und -neubau, Energieeffizienz, verstärkte
Forschung und Entwicklung.
({5})
Wir werden die Energiepolitik so umsetzen, wie wir es
im Energiekonzept festgelegt haben.
Meine Damen und Herren von der Opposition, seien
Sie sich sicher: Wir haben für die Umsetzung unserer
neuen Energiepolitik einen sehr konkreten Fahrplan für
jedes der definierten Handlungsfelder.
({6})
Hier ist auch die Opposition in besonderem Maße gefordert, verantwortlich und konstruktiv mitzugestalten;
denn die Energiewende wird nur gelingen, wenn wir sie
gemeinsam voranbringen, durchaus mit kontroversen
Diskussionen und intensiven politischen Auseinandersetzungen. Aber am Ende werden wir alle am Erfolg gemessen.
Die Rollenverteilung, dass die Regierung auf dem
Spielfeld ist und die Opposition von der Tribüne aus meckert oder bestenfalls gute Ratschläge erteilt, funktioniert bei der Energiepolitik nicht.
({7})
Um im Bild zu bleiben: Sie können nicht ständig im
Bundesrat den Ball ins Aus schießen und sich anschließend über Spielverzögerungen beschweren.
({8})
Sie als Opposition müssen bei der Energiewende endlich auch bereit sein, Verantwortung zu tragen. Da reicht
es nicht, die Regierung nur zu kritisieren, ohne eigene
Vorschläge auf den Tisch zu legen.
({9})
Da reicht es nicht, mehr Energieeffizienz zu fordern und
dann im Bundesrat die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung zu blockieren.
({10})
Es ist auch nicht genug, den Ausbau der erneuerbaren
Energien zu fordern und die Novelle des EEG im Bundesrat auflaufen zu lassen.
({11})
Beides sind Beispiele dafür, dass Sie sich gerade nicht
konstruktiv in die Energiewende einbringen wollen.
({12})
Beides sind Beispiele dafür, dass es Sie augenscheinlich
eher interessiert, dass die dringend erforderlichen Projekte aufgehalten werden.
({13})
Meine Damen und Herren von der SPD, hier stimmt
doch etwas in Ihrer Politik nicht, jedenfalls deshalb
nicht, weil man neuerdings ständig hört und liest, wie
wichtig Ihnen der Wirtschaftsstandort und die Arbeitsplätze sind.
({14})
Mit Ihrer Blockadepolitik erreichen Sie genau das
Gegenteil; denn was Sie mit Ihrer Politik erreichen, liegt
auf der Hand: Zeitverzug beim Umbau der Energieversorgung, unnötig hohe Energiekosten für die Verbraucher,
({15})
Investitionszurückhaltung und wirtschaftliche Unsicherheiten für Bürger und Unternehmen, Gefährdung von
Arbeitsplätzen, vor allem bei Handwerkern und beim
Mittelstand.
({16})
Wenn wir die Energiewende wirklich gemeinsam als
gesamtstaatliches Großprojekt verstehen, dann beenden
Sie endlich diese Neinsagerei und diese Blockade um
der Blockade willen.
({17})
Dafür ist eine sichere, klimafreundliche, für die Bürger
bezahlbare Energieversorgung unseres Landes zu wichtig.
({18})
Die Energieversorgung eignet sich nicht als polittaktische
Spielwiese. Hier geht es um den Wirtschaftsstandort
Deutschland. Hier geht es um Millionen Arbeitsplätze.
Hier geht es vor allen Dingen um die Leistungsfähigkeit
unserer Sozialsysteme: Ökonomie, Ökologie, Soziales.
In diesem Zieldreieck müssen wir uns bewegen.
({19})
Es geht um die Zukunft unseres Landes.
Die Energiewende gelingt nur, wenn alle politischen
Kräfte gemeinsam und konstruktiv daran mitarbeiten. Es
gilt, den Weg endlich frei zu machen für die dringend erforderlichen Investitionen beim Ausbau der erneuerbaren Energien, beim Bau von hocheffizienten Gas- und
Kohlekraftwerken und beim Bau neuer Stromleitungen,
({20})
für klare und schnelle Entscheidungen für den erforderlichen rechtlichen Rahmen, auch im Bundesrat,
({21})
für eine ehrliche, sachliche Argumentation gegenüber
den Bürgern.
Die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ist gegeben. Zeigen Sie jetzt, dass auch bei der Opposition
Verantwortungsbewusstsein und Handlungsbereitschaft
vorhanden sind!
({22})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Das Wort hat nun Matthias Miersch für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Frau Kollegin Dött, das war ein starker
Auftritt.
({0})
Für die Handlungsfähigkeit heranzuziehen, dass die
Opposition blockiert, ist eine Logik, die sich einem nur
erschließt, wenn man in richtig schwierigem Fahrwasser
ist. Das sind Sie.
({1})
Wenn Sie beispielsweise die Gefährdung der Solarbranche in Deutschland ansprechen, dann frage ich Sie:
Wer hat denn den Gesetzentwurf im Bundesrat mit SPD
und Grünen blockiert? Das waren Ihre Ministerpräsidenten, weil sie das, was Sie hier machen, unverantwortlich
finden.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer setzt denn Tausende von Arbeitsplätzen in einer wachsenden Branche
aufs Spiel? Wer hat denn die Energiewende von 2001
durch einen unverantwortlichen Schlingerkurs gefährdet? Das waren Sie, und das muss man an dieser Stelle
immer wieder betonen.
({3})
Die Kanzlerin soll in einem Gespräch gesagt haben,
bevor sie dann Herrn Röttgen geschasst hat: Jetzt geht es
um mich! - Ich finde, sie hat recht; denn eigentlich geht
es um sie. Sie hat nämlich die Richtlinienkompetenz. Sie
hätte die Möglichkeit gehabt, die Energiewende, die
Rot-Grün eingeleitet hat, unter ihrer Kanzlerschaft tatsächlich fortzuführen. Aber was hat sie gemacht? Sie hat
eine 180-Grad-Wende vollzogen und damit das Schiff in
schwieriges Fahrwasser gebracht. Dafür hat sie die Verantwortung, nicht nur ein Minister.
({4})
Ich habe hier Herrn Röttgen an vielen Stellen kritisiert. Aber ich finde es unfair, dass nur er entlassen wird.
Wer auch mit hätte entlassen werden müssen, ist mindestens Wirtschaftsminister Rösler, der nun wirklich alles
blockiert hat.
({5})
Dass sich Frau Merkel von Innovationen in der Umweltpolitik und im Klimaschutz schon lange verabschiedet hat, ist auch heute wieder nachzulesen. Der ehemalige Umweltminister Töpfer fordert Frau Merkel auf,
endlich Farbe zu bekennen und eine der wichtigsten
Konferenzen, die wir im nächsten Monat erleben werden, nämlich die Konferenz in Rio, zu besuchen, um damit ein Zeichen zu setzen. Es muss Ihnen doch zu denken geben, wenn gute Leute der CDU an diese Kanzlerin
schon öffentliche Appelle richten. Meine sehr verehrten
Damen und Herren von der Koalition, es ist Ihre Kanzlerin, die den Karren in den Dreck gefahren hat. Sie hat
dafür die Verantwortung, kein anderer, kein einzelner
Minister.
({6})
Nun ist es so, dass ein neuer Minister natürlich eine
Chance verdient. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit
mit Herrn Altmaier. Ich freue mich auch auf die Einladung zu einem guten Glas Rotwein. Ich möchte ihm
schon jetzt empfehlen: Lassen Sie es mit Herrn Rösler.
Gehen Sie lieber auf die Opposition zu, weil wir die besseren Konzepte haben.
({7})
Weil Herr Altmaier bislang nicht als umweltpolitisches Schwergewicht aufgefallen ist, habe ich versucht,
mich zumindest ein bisschen damit zu beschäftigen: Was
hat er bislang eigentlich in Sachen Umweltpolitik getan?
Herr Gauck hat bei der Übergabe der Ernennungsurkunde darauf hingewiesen, dass in Sachen Energiewende
einige schon weiter gewesen sind. Er hat damit sicherlich Rot-Grün gemeint, möglicherweise auch Herrn
Röttgen. Aber dann bin ich auf ein Zitat von Herrn
Altmaier gestoßen. Wir hatten angesichts der unverantwortlichen Laufzeitverlängerung, mit der Sie die rotgrüne Energiewende blockiert haben, eine Geschäftsordnungsdebatte. Am 28. Oktober 2010 hat Herr Altmaier
an diesem Pult für die CDU/CSU erklärt - ich zitiere -:
Wir werden heute das modernste, das umweltfreundlichste Gesetz zur Energiepolitik, über das in
diesem Haus jemals diskutiert wurde, beraten und
verabschieden.
Das sagte Herr Altmaier am 28. Oktober 2010 zur Laufzeitverlängerung.
Dieses Zitat ist ein Symbol für Ihr Dilemma. Denn
Sie haben kein Konzept. Diese Kanzlerin hat Sie in die
Laufzeitverlängerung geführt und damit den Schlingerkurs eingeleitet, und jetzt sind Sie eigentlich eine völlig
heterogene Truppe.
Ein Jahr Fukushima: Die Debatte können alle nachlesen. Die Abgeordneten Paul, Fuchs und wie sie alle heißen, haben gesagt: Das ist ein Betriebsunfall, der in
Deutschland nicht passieren kann. - Das heißt, was Sie
noch vor sich haben, ist eigentlich die Zerreißprobe in
Ihren Reihen, weil Sie nicht von der Energiewende überzeugt sind, weil Sie darauf warten, dass es teilweise
scheitert,
({8})
und es nur wenige sind, die tatsächlich davon überzeugt
gewesen sind. Die dürfen heute nicht reden, und die haben sich garantiert in den nächsten Monaten sehr vor
dem zu fürchten, was kommt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was
von den Grünen aufgeworfen worden ist, ist eine legitime Frage. In der zentralen Frage, in der es nicht nur um
Ökologie, sondern um urökonomische und soziale Gesichtspunkte geht, nämlich der Energieversorgung,
haben Ihre Bundeskanzlerin und Schwarz-Gelb die Bundesrepublik Deutschland in schweres Fahrwasser gebracht. Ich behaupte: Sie sind nicht handlungsfähig. Sie
haben keine Steuerung. Sie haben keinen Kompass. Deswegen ist die Debatte notwendig.
Eigentlich wäre es an der Kanzlerin gewesen, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Sie hat es auf einen
Menschen abgewälzt, der vielleicht persönliche Defizite
hatte. Aber das reicht nicht aus. Sie müssen die Energiewende richtig gestalten. Dabei werden Sie an das anknüpfen müssen, was Rot-Grün 2001 vorgelegt hat. Insofern freue ich mich auf die Zusammenarbeit mit dem
Umweltminister und hoffe, dass nicht allzu viel Zeit vergeht, bis wir tatsächlich die Energiewende so weitergestalten können, wie Rot-Grün es 2001 eingeleitet hat.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDPBundestagsfraktion freut sich auf die Zusammenarbeit
mit dem neuen Bundesumweltminister Altmaier. Er hat,
glaube ich, auch in der Zusammenarbeit im Parlament
gezeigt, dass er jemand ist, der Interessen zusammenführen, Meinungen bündeln und zu Ergebnissen kommen
kann. Genau das brauchen wir jetzt auch für die Energiewende.
Ich möchte an dieser Stelle allerdings auch Norbert
Röttgen sehr herzlich danken, insbesondere für zwei
Dinge, die er in seiner Amtszeit geleistet hat. Das Erste
ist, dass er sich in den Entscheidungen für die Energiewende immer hinter die erneuerbaren Energien gestellt
hat, und zwar so, dass es um die erneuerbaren Energien
geht, aber auch um ihre Integration in das Energiesystem.
Das Zweite ist - das ist, glaube ich, ein sehr persönliches Verdienst -: Er hat in der internationalen Klimapolitik Reputation für Deutschland erworben und weiterentwickelt. Mit seinem Verhandlungsgeschick haben wir
es auf der UN-Konferenz in Durban geschafft, zwischen
der EU und Afrika eine Allianz zu bilden, die letztendlich den Anstoß für den Erfolg der Konferenz in Durban
gegeben hat. An dieser Stelle dafür noch einmal herzlichen Dank.
({0})
Was hat diese Koalition in den letzten Jahren in der
Umweltpolitik geschafft? Zunächst einmal - das hat bisher schon die Debatte bestimmt - waren wir es, die die
Energiewende beschlossen haben. Wir haben nämlich
das beschlossen, wovon Sie geredet haben, meine Damen und Herren von der Opposition.
({1})
Wir sind es auch, die auf die Kosten der Energiewende achten. Genau deshalb haben wir bei der Novelle
der Solarförderung gesagt: Wenn die Weltmarktpreise
sinken, dann müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Land davon profitieren. Das ist unsere
Politik.
Was ist Ihre Politik? Ihre Politik ist es, genau das
nicht zu tun. Sie gerieren sich als Vertreter derjenigen,
die sich aufgrund erhöhter Fördersätze die Taschen vollstopfen.
({2})
Sie sind es, die letztlich die Interessen der chinesischen
Solarindustrie vertreten, die am meisten davon profitiert,
dass die Fördersätze in diesem Land überhöht sind.
({3})
Tun Sie doch nicht so, als würde es bei den Fördersätzen
um Arbeitsplätze in Deutschland gehen! Die deutsche
Solarindustrie wird nur dann wettbewerbsfähig sein,
wenn ihre Produkte - egal bei welchem Fördersatz wettbewerbsfähig im Vergleich zu den asiatischen sind,
entweder über Qualität, über den Preis oder - besser
noch - über beides. Das erreichen Sie nicht durch überhöhte Fördersätze, sondern durch kluge Innovationsund Investitionspolitik hier am Standort Deutschland.
({4})
Wir achten nicht nur auf die Kosten, sondern auch auf
die Versorgungssicherheit. Der entscheidende Punkt der
Energiewende ist, zu jeder Sekunde die Verfügbarkeit
von Energie sicherzustellen, selbst wenn der Wind nicht
weht und die Sonne nicht scheint. Wir sind es, die handeln, während Sigmar Gabriel, der Parteivorsitzende der
SPD, vorgestern mit bebender Stimme und großem
Unschuldsblick dem deutschen Fernsehpublikum erklärt, statt zehn gebe es nun hundert Eingriffe in das
Stromnetz pro Jahr; das sei ganz schlimm und gefährde
den Industriestandort Deutschland. Meine Damen und
Herren von der SPD, wollen Sie die Kernkraftwerke
wieder anschalten? Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie
dagegen gestimmt, dass die Kernkraftwerke abgeschaltet
werden!
({5})
Tun Sie doch nicht so, als hätte das eine nichts mit dem
anderen zu tun! Wir schalten doch die Kernkraftwerke
aus gutem Grund ab. Aber man sollte ehrlich sein und
darf nicht so tun, als hätte man damit nichts zu tun. Wir
müssen gemeinsam für Versorgungssicherheit sorgen.
Das bedeutet, dass wir und Sie die Verantwortung für
neue Gaskraftwerke und Kohlekraftwerke haben
({6})
und vor allen Dingen dafür, dass unsere Stromnetze endlich so ausgebaut werden, dass der Windstrom aus dem
Norden zu den bayerischen Konsumenten transportiert
werden kann. Die Anlagen dürfen nicht abgeschaltet
werden, weil der Strom nicht transportiert werden kann.
({7})
Die Kolleginnen und Kollegen in den Ländern, insbesondere in Thüringen, sind hier ebenfalls gefordert. Da
wir gerade bei den Ländern sind - das ist mein letzter
Punkt, Herr Präsident -, sollten wir uns die Realität genau anschauen. Die Grünen fordern hier im Deutschen
Bundestag - gestern erneut - die Erhöhung des Klimaschutzziels auf 30 Prozent. Aber in den Ländern, in
denen sie regieren - in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen -, haben die Grünen die Klimaschutzziele abgesenkt, und zwar in Baden-Württemberg von 30
auf 25 Prozent mit der Begründung, man steige ja aus
der Kernkraft aus. Das ist die Lebenslüge der Grünen an
dieser Stelle. Man kann im Bund nicht immer mehr fordern und gleichzeitig in den Ländern den Klimaschutz
herunterfahren. Das ist die Realität in diesem Land.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich hatten wir eine Aktuelle Stunde an prominenter Stelle zu dem unsäglichen Vorgehen der Frankfurter
Behörden und Polizei gegen die Occupy-Proteste am
letzten Wochenende beantragt. Leider hat die Koalition
selbst eine Aktuelle Stunde beantragt. Deshalb findet
unsere am Freitag, um 16 Uhr, statt, und zwar außerhalb
der Fernsehzeiten.
({0})
Ob gut oder schlecht, jetzt wenden wir uns dem aufregenden Thema eines Ministerwechsels zu. Er ist vollzogen. Wie man hört, soll Herr Röttgen am Dienstag in
Schloss Bellevue sehr entspannt geschaut haben. Nun
stellt sich die Frage: War er nicht vielleicht froh, dieser
Knochenmühle entkommen zu sein, in der jeglicher
umweltpolitische Fortschritt gegen den Widerstand der
Betonfraktion im Wirtschaftsministerium durchgesetzt
werden muss? Da ist natürlich einiges stecken geblieben
- wir haben es schon gehört -, was schon längst hätte
angegangen werden müssen. Oder war es eher die Überzeugung, dass der Rauswurf auch der Bundeskanzlerin
schaden wird, die Norbert Röttgen als Umweltminister
im Regen hat stehen lassen und bis heute das Mammutprojekt Energiewende eben nicht zur Chefsache gemacht
hat?
Wie dem auch sei, Frau Merkels Entscheidung könnte
uns eigentlich egal sein, wenn sie nicht dokumentieren
würde, welchen Stellenwert die Umwelt- und Energiepolitik bei der Union gegenwärtig hat.
({1})
Denn klar ist doch, bei allem Respekt vor Herrn
Altmaier: Jetzt wegen persönlicher Befindlichkeiten die
Pferde zu wechseln, heißt zunächst nichts anderes als
Stillstand bei der Energiewende.
({2})
Der neue Umweltminister mag ja klug, offen und nett
sein - überdies kocht er gut, wie ich gelesen habe -, aber
um die Knackpunkte beim EEG, dem Emissionshandel,
der Netzarchitektur oder dem Speicherausbau zu begreifen, bedarf es einer Anlaufzeit. Die muss man jedem
geben. Ansonsten beherrschen die Beamten oder das
Wirtschaftsministerium den ganzen Ablauf. Das kennen
wir. Beides halte ich für sehr hinderlich.
({3})
Wir Linke sind allerdings auch skeptisch, wenn es um
sogenannte Profis bei Union und FDP geht. Da kommt
dann so etwas wie die AKW-Laufzeitverlängerung oder
das Asse-Chaos heraus. Insofern macht es vielleicht gar
keinen Unterschied, da am Ende die großen Energiekonzerne und die Industrie sowieso ihren Fuß in der Tür
haben. Das sieht man etwa an den großzügigen Befreiungen beider von den Kosten der Energiewende. Aber
vielleicht setzt Peter Altmaier hier andere Zeichen. Sein
einziges mir bekanntes umweltpolitisches Engagement
war im Umweltausschuss ein leidenschaftliches Plädoyer für die AKW-Laufzeitverlängerung und am nächsten
Tag seine Pressekonferenz.
Das ist Geschichte. Jetzt ist meine Frage: Was erwarten wir denn von dem Umweltminister? Zunächst muss
die letzte Novelle des EEG vom Tisch.
({4})
Das Signal, dass der Ausbau gedeckelt und die Vergütungen zusammengestrichen werden, trägt nicht dazu
bei, die Solarwirtschaft in Ostdeutschland weiterzuführen. Sie haben sie vielmehr plattgemacht. Im Gegenzug
können einige Privilegien gestrichen werden, die die
energieintensive Industrie beim EEG genießt. Dafür zahlen die anderen Stromkunden schließlich zusätzlich.
Wenn sich die FDP einmal um die Hartz-IV-Empfänger
kümmert, wird die Großindustrie von ihr bedient.
Was wir brauchen, ist eine soziale Energiewende. Wir
müssen Energiearmut verhindern, statt Stromfresser
dafür zu belohnen, dass sie viel Strom verbrauchen.
Noch einmal die Zahlen: 900 000 Verbraucher bekommen keinen Strom mehr. Wir sollten uns dafür stark
machen, dass die Energiearmut endlich aufhört.
({5})
Unterstützen Sie den dezentralen Ausbau der erneuerbaren Energien auch im Süden Deutschlands! Dann brauchen wir weniger Netze. Verhindern Sie, dass die Gaskraftwerke vom Netz genommen werden, was die
Unternehmen jetzt wollen! Wir brauchen eine Energieeffizienzpolitik. Die Blockade bei der EU muss endlich
beendet werden. Wir brauchen mehr Geld, um über
Speichertechnologien zu forschen und um sie in den
Markt einzuführen.
Zum Schluss noch: Klimapolitik muss einem zukünftigen Umweltminister am Herzen liegen. Das heißt, dass
das EU-Klimaziel auf 30 Prozent festgelegt werden
muss. Das ist dringend notwendig. Das erwarte ich von
einem ambitionierten Umweltminister. Und: Lassen Sie
sich nicht ununterbrochen, wie der frühere Umweltminister, vom Wirtschaftsministerium vorführen!
({6})
Das Wort hat nun Reinhard Grindel für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Trittin, Sie haben über Autoritäten gesprochen. Ich habe mich gefragt, wer denn die Autorität bei
den Grünen ist. Nach Ihrer Rede muss ich sagen: Ich
vermute sie nicht in der grünen Bundestagsfraktion, sondern schon eher in Baden-Württemberg beim Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, der nach dem BundLänder-Gespräch zur Endlagersuche gesagt hat - ich zitiere -:
Man muss nationale Verantwortung übernehmen
und nicht in taktischen Spielchen verharren.
({0})
Mit dieser Aktuellen Stunde haben Sie die Abteilung
„taktische Spielchen“ bedient. Dieses kleine Karo wird
der Größe der Herausforderung, um die es hier geht,
nicht gerecht, Herr Kollege Trittin.
(Ulrich Kelber [SPD]: Sie wollten doch gar
keine Endlagersuche! Sie wollten doch Gorleben durchsetzen! Sie ändern alle zwei Tage
Ihre Meinung!
Sie fragen nach Handlungsfähigkeit. Die Vereinbarungen, die die Bundeskanzlerin gestern mit den Ministerpräsidenten getroffen hat, sind Ausdruck von Handlungsfähigkeit und der Größe der Herausforderung
angemessen.
({1})
- Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Herr Kollege
Trittin, ich glaube, dass Sie nach dem gestrigen Tag einfach nicht auf der Höhe der Zeit sind.
Ich glaube, dass wir in diesem Haus - gerade bei
einem so wichtigen Projekt wie der Energiewende, bei
der wir die Menschen, denen wir dabei einiges abverlangen, mitnehmen müssen - eines erkennen müssen: Gegenseitige Schuldzuweisungen, wie Sie sie heute wieder
probiert haben, bringen keine politischen Geländegewinne, sondern werden dazu führen, dass die Menschen generell das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit
der Politik, nicht nur einzelner Parteien, verlieren, weil
wir alle irgendwo, im Bund und in den Ländern, Regierungsverantwortung tragen. Deswegen erwarten die
Menschen, dass wir jetzt die Phase des Miesmachens
verlassen und in die Phase des Mitmachens einsteigen,
um die Energiewende kraftvoll weiter voranzutreiben.
({2})
Wissen Sie, Herr Kollege Trittin, ich finde den Stil
der Auseinandersetzung schon problematisch. Peter
Altmaier hatte als neuer Umweltminister noch nicht einmal seine Ernennungsurkunde in der Hand, geschweige
denn Gelegenheit, erste Entscheidungen im Amt zu treffen, da haben ihm grüne Politiker auf Bundesebene oder
auch in meinem Heimatland Niedersachsen schon wahlweise die Qualifikation oder den guten Willen abgesprochen.
({3})
Ich sage Ihnen deutlich: Die Bürger wollen diese
Form der Auseinandersetzung nicht. Sie haben überflüssigen Parteienstreit satt. Sie wollen, dass wir Probleme
lösen. Deshalb bin ich ausdrücklich dem Kollegen
Ulrich Kelber dankbar, dass er gestern Peter Altmaier
bescheinigt hat, er wolle die Energiewende wirklich.
({4})
Zum Mindestmaß an politischer Kultur gehört, dass man
einen neuen Minister erst einmal im Amt anfangen und
erste Entscheidungen treffen lässt, bevor man alles
madig macht.
({5})
Bundespräsident Joachim Gauck hat bei der Ministerernennung am Dienstag gesagt:
Ich wünsche mir, dass die Verantwortlichen gemeinsam handeln, um das gesetzte Ziel zu erreichen.
Die Energiewende ist das große Zukunftsprojekt, das
nur gelingt, wenn endlich aufgehört wird, nur auf Einzelinteressen zu schauen und nicht das große Ganze in den
Blick zu nehmen. Es gelingt nur, wenn jeder auf seiner
Verantwortungsebene tatsächlich die Verantwortung
wahrnimmt. Deswegen sage ich mit Blick auf die Grünen, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben: Es darf
eben nicht sein, dass der Netzausbau von den Grünen auf
Bundesebene als zu schleppend kritisiert wird, aber die
Mitglieder der gleichen Partei vor Ort, wo die Netzinfrastruktur entstehen soll,
({6})
bei der Verhinderung des Netzausbaus populistisch an
vorderster Front kämpfen.
({7})
Das sind die „taktischen Spielchen“, vor denen Winfried
Kretschmann zu Recht gewarnt hat und mit denen wir
nicht weiterkommen.
Es ist wahr: Rot-Grün hat zusätzliche Macht im Bundesrat bekommen. Macht hat aber etwas mit „Machen“
zu tun, nicht mit „Blockieren“. An Machtspielen im
Bundesrat haben vielleicht einige Politikinsider Interesse. Aber die breite Masse der Bevölkerung will das
nicht; sie will, dass wir unsere Verantwortung wahrnehmen. Wenn wir das nicht tun, dann werden sich die Menschen eben nicht von einzelnen Parteien, sondern von
der Politik insgesamt abwenden. Das dürfen wir nicht
zulassen. Deswegen begrüße ich ausdrücklich, dass
Peter Altmaier jetzt gesagt hat, es gehe darum, Gesprächsblockaden zu durchbrechen und für einen neuen
nationalen Konsens zu werben, damit die Energiewende
gelinge. Das ist genau das, was die Menschen jetzt von
uns erwarten.
Beim Bundesumweltminister muss man nicht nur immer gut zuhören, was er sagt, sondern auch genau hinsehen, was er twittert. Seine erste Botschaft im Amt
lautete: „Auf geht’s an die Arbeit!“ Dabei, Frau Staatssekretärin, wünschen wir dem neuen Minister viel Erfolg
und alles Glück. Unsere Fraktion steht geschlossen hinter ihm.
({8})
Das Wort hat nun Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Zur Entlassung
von Bundesminister Röttgen fiel mir eine Geschichte
ein.
({0})
Ja. - Können Sie sich noch an die Geschichte vom
Hans Guck-in-die-Luft aus dem Struwwelpeter-Buch erinnern? Können Sie sich auch noch an die Reden des
Norbert Röttgen Guck-in-die-Luft dieses Jahres im Bundestag erinnern, als es um die Förderung der Solarenergie ging?
({1})
Den Blick wirklich auf den Himmel gerichtet, lief
Hans Guck-in-die-Luft zur Schule, hat überhaupt nicht
mehr auf seine Umwelt geachtet und hat auch überhaupt
nicht gesehen, dass da ein Hund kam, der ihm zwischen
die Beine lief.
({2})
Herr Röttgen, so muss man sagen, hat noch im März
dieses Jahres hier im Bundestag darüber geredet und sich
Waltraud Wolff ({3})
selbst dafür gelobt, dass er den Aufschwung der Solarindustrie in Deutschland organisiert habe. Keine zwei Monate später waren Q-Cells und Sovello pleite, war First
Solar in Frankfurt ({4}) so weit, dass es die Türen ganz
und gar zugesperrt hat und aus Deutschland weggeht.
({5})
Meine Damen und Herren, Hans Guck-in-die-Luft,
der hatte großes Pech, er ist nämlich ins Wasser gefallen;
aber der Junge ist gerettet worden, er ist herausgezogen
worden. Er hatte jemanden, der gerufen hat: Pass auf! Da
kommt ein Hund. - Norbert Röttgen hatte viele Warner,
nämlich nicht nur uns als Opposition, sondern auch
CDU-Ministerpräsidenten. Doch sämtliche Warnungen
waren vergeblich. Norbert Guck-in-die-Luft
({6})
- genau so ist es - richtete den Blick zum Himmel, träumend, und er träumte immer weiter.
({7})
Was hat inzwischen der Bundesrat getan? Der Bundesrat
hat inzwischen den Vermittlungsausschuss angerufen,
weil er sich die Kürzungsorgie dieses Ministers nicht gefallen lassen wollte.
({8})
Meine Damen und Herren, der Hund in unserer Geschichte hat den Hans umgerannt; aber der hat sich dann
geschüttelt, ist aufgestanden und weitergelaufen. Aber
ob die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Bitterfeld oder in Frankfurt ({9}) sich so schnell schütteln,
aufstehen und wieder eine Arbeit finden, das bezweifele
ich zutiefst.
Weder Hans Guck-in-die-Luft noch Norbert Guck-indie-Luft haben Konsequenzen aus ihrem Handeln gezogen. Herr Röttgen hat das zu spüren bekommen. Er ist
nämlich mit seiner Politik in Nordrhein-Westfalen baden
gegangen. Aber warum hat ihm denn keiner aus dem
Wasser geholfen?
({10})
Ganz einfach: Frau Merkel hatte Angst, ihm die Hand zu
reichen, weil sie befürchtete, selber ins Wasser zu fallen.
Dieser Bundesminister ist mit dem Stillstand seiner Politik doch zum Problem der ganzen Bundesregierung geworden.
({11})
Deshalb konnte Frau Merkel ihm die Hand nicht reichen.
Aber dass man in einem solch verzerrten Markt wie
dem für Solarmodule etwas tun kann, das haben die
USA gezeigt. Sie haben nämlich Schutzzölle eingeführt.
Ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass auch mein
Ministerpräsident, Herr Haseloff, auf dem Energiegipfel
die Einführung von Schutzzöllen gefordert hat. Meine
Damen und Herren, schließlich und endlich kommen
auch Sie dazu, hier nachzudenken und etwas für die
Energiewende zu tun.
({12})
Herr Röttgen und Herr Rösler allein tragen die Verantwortung für den Abbau der Arbeitsplätze in Ostdeutschland.
({13})
Die beiden tragen allein die volle Verantwortung dafür,
dass die Energiewende ausgebremst worden ist. Sie tragen auch die volle Verantwortung dafür, dass kaum
Energie eingespart wird und dass wir zugleich mit
steuerfinanzierten Heizkostenzuschüssen die Renditen
von Öl- und Gasversorgern sichern. Auch das gehört zur
Wahrheit.
({14})
Aber wir brauchen eine Energiewende. Wir brauchen
Energieeffizienz, und wir brauchen zum Beispiel ein
Wohnungssanierungsprogramm, durch das zum einen
Energie eingespart wird und durch das zum anderen Arbeitsplätze gesichert werden. Das nenne ich arbeitnehmerfreundlich. Das nenne ich klimafreundlich, und das
nenne ich sozial.
({15})
Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat die
Bundesregierung endlich aus ihren Träumen gerissen.
Sie hat erkannt, dass Norbert Guck-in-die-Luft nicht der
Motor der Energiewende war, sondern die Bremse. Deshalb, meine Damen und Herren, ist nicht Herr Röttgen
aus dem Wasser gezogen worden, sondern Herr
Altmaier.
({16})
Ich möchte enden mit einem Zitat vom ehemaligen
Minister Norbert Röttgen:
Wer nicht anpassungsfähig ist und wer den Strukturwandel nicht gestaltet, der wird sein Opfer.
Wie wahr, Herr Röttgen! Wie wahr!
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat nun Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sie sehen es mir bitte
nach, wenn ich jetzt nicht noch ein Märchen erzähle, so
wie es Frau Wolff eben getan hat, sondern versuche, ein
paar Argumente zu bringen.
({0})
Spannend fand ich zum einen, dass Sie den Stromkostenzuschuss für die Ärmsten der Armen abschaffen wollen. Das war schon einmal eine hochinteressante Information. Dieser ist übrigens nötig, weil wir der
Photovoltaik zu hohe Renditen ermöglicht haben. Deswegen ist nämlich der Strompreis gestiegen, und deswegen können sich die Leute, die am wenigsten verdienen,
den Strom nicht mehr leisten. Aber das scheint Sie nicht
zu interessieren.
({1})
Zum anderen fand ich es interessant, dass Sie gerne
Schutzzölle einführen wollen. So würden auch die Module aus China deutlich teurer werden, und damit würde
der Preis für die Photovoltaik in Deutschland noch einmal steigen. Das wäre dann schlussendlich wohl die soziale Politik, wie sie sich die SPD und die Märchentante
Frau Wolff vorstellen. Herzlichen Dank! Ich glaube, darauf kann die deutsche Bevölkerung gut verzichten.
({2})
Sollte es wirklich so gewesen sein, dass allein die Ankündigung vom geschätzten Kollegen Röttgen dazu geführt hat, dass sofort, von einer Sekunde auf die nächste,
die gesamte Branche in Ostdeutschland zusammengebrochen und pleitegegangen ist? Das kann ich mir nicht
vorstellen.
({3})
Ich glaube vielmehr, dass es daran liegt, dass diese Unternehmen einfach nicht so produziert haben, dass sie im
internationalen Wettbewerb mithalten konnten.
({4})
Könnte es unter Umständen sein, dass deswegen Firmen
wie Solon oder Solar Millennium pleitegegangen sind,
lange bevor man überhaupt daran gedacht hat, die Einspeisevergütungen zu senken?
({5})
Geben Sie zu, dass auch Ihre Kollegen im Umweltausschuss, Herr Kelber - gehen Sie einmal dahin! -, der
Herr Becker und andere, darauf hingewiesen haben, dass
eine Kürzung absolut gerechtfertigt ist! Auch ohne Kürzung wären die Firmen pleitegegangen. Hätten wir die
Einspeisevergütung erhöhen sollen, sodass der Preis pro
Kilowattstunde nicht von 3,5 auf 5 Cent, sondern vielleicht auf 7 Cent gestiegen wäre mit den entsprechenden
Folgen für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen? Ich glaube nicht, dass das sozial gerecht ist.
({6})
Ich glaube auch nicht, dass so etwas eine deutsche Industrie nach vorn bringt, wenn sie nicht wettbewerbsfähig ist. Sie muss innovativer sein. Sie muss neue Ideen
entwickeln. Sie muss sich über Speichertechnologien
und Joint Ventures Gedanken machen.
({7})
- Ich will keine Schutzzölle.
({8})
Sie können in Bonn Ihre Unternehmer unterstützen,
wenn Sie versuchen, mit Amerika Schutzzölle zu erreichen.
({9})
Sie können aber vergessen, dass Sie von der Bundesregierung zusätzliche Schutzzölle auf chinesische Produkte bekommen. Das ist doch lächerlich! Wir wollen ja
auch Autos und Hightech nach China verkaufen.
({10})
Sollen uns die Chinesen dann etwa sagen: „Wir wollen
keine Audis, BMWs und Mercedes mehr, weil wir mit
unseren chinesischen Autos am Markt nicht mithalten
können“? Wenn das Ihre Wirtschaftspolitik ist, wundert
mich nicht, warum Sie in den letzten Jahren so erfolglos
waren
({11})
und warum Sie nichts dazu beigetragen haben, dass wir
im Bereich der Erneuerbaren wirtschaftspolitisch nach
vorn gekommen sind.
Die größte Verlogenheit ist natürlich bei den Kollegen
von den Grünen, die jetzt so tun, als hätten sie besonders
viel gemacht. Ist es etwa so gewesen, dass von 1998 bis
2005 in der rot-grünen Bundesregierung alle Vorbereitungen für die Energiewende getroffen wurden und man
dann 2005 oder 2009 auf einmal gebremst hat und das
einfach nicht weiterverfolgt hat? Oder war es vielleicht
so, dass nichts passiert ist?
({12})
War es vielleicht so, dass man sich keinerlei Gedanken über den Netzausbau gemacht hat, dass man sich
keinerlei Gedanken über eine Beschleunigung des Netzausbaus gemacht hat,
({13})
dass man sich keinerlei Gedanken darüber gemacht hat,
wie man eine Endlagersuche so hinbekommt, dass alle
mitmachen, und dass man sich keine Gedanken darüber
gemacht hat, wie man beispielsweise Gaskraftwerke in
einer Phase ans Netz bekommt, wo der Anteil der Erneuerbaren steigt?
Jetzt können Sie damit argumentieren, dass Ihre Politik in Sachen Erneuerbare nie so ambitioniert war wie
unsere. Sie wollten bis zum Jahr 2020 ja nur einen Anteil
der Erneuerbaren von 20 Prozent erreichen.
({14})
Wir haben das bereits im Jahr 2011 geschafft. Ich will
Ihnen etwas zugutehalten: Wenn man so langsam voranschreitet wie Sie, braucht man sich nicht so viele Gedanken zu machen.
Nachdem wir jetzt aber den Turbo angeworfen haben
und wirklich extrem beschleunigt haben, nachdem wir
extrem schnell den Anteil von 20 Prozent erreicht haben,
übrigens auch noch sehr viel ambitioniertere Zielvorgaben für die Zukunft haben, müssen wir ernsthaft versuchen, endlich eine Lösung zu finden. Dazu gehört nicht
nur, dass man sagt: „Ihr dürft die Photovoltaik-Vergütung nicht so stark reduzieren“, sondern dazu gehört
auch die Antwort auf die Frage, wie man die Erneuerbaren integriert. Dazu gehört auch die Antwort auf die Fragen: Wie transportieren wir den Strom? Wie schaffen wir
ein internationales Netz? Wie schaffen wir es, dass zu jeder Zeit Versorgungssicherheit besteht?
({15})
Ich hoffe und setze da eben auch auf den Kollegen
Altmaier, dass die Zusammenarbeit zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium einen weiteren Schub
bekommt und noch sonniger wird, als sie in der Vergangenheit war. Ich glaube, dass wir damit tatsächlich
reüssieren können und das erreichen, was Sie in Ihrer
Regierungszeit sieben Jahre lang vollkommen verschlafen haben. Nichts davon haben Sie nämlich umgesetzt!
({16})
Im Jahr 2003 gab es beispielsweise einen Antrag der
FDP-Fraktion, dass man sich ernsthafte Gedanken über
Speicherförderung für Energiespeicher machen solle.
Kollegin Flach war hier federführend. Abgelehnt. Kein
Euro ist hier investiert worden.
({17})
Wir wollten dafür 12 Millionen Euro im Haushalt einstellen. Das ist natürlich abgelehnt worden. Im Jahr 2011
haben wir 240 Millionen Euro für Speicher- und Forschungsprogramme zusätzlich zur Verfügung gestellt.
Das ist das Entscheidende. Wenn man nichts investiert
und nichts tut, sondern immer nur eine Blockadehaltung
einnimmt, dann wird man nichts erreichen. Das müssten
Sie langsam einsehen.
Das sieht man auch hervorragend bei der Gebäudesanierung. Hier zeigt man mit dem Finger auf andere,
aber selbst ist man nicht bereit, einen Beitrag zu leisten.
Wären Sie ehrlich genug, würden Sie zugeben, dass die
Energiewende von der Bundespolitik nicht allein gelöst
werden kann, sondern auch die Kommunen und die Länder mithelfen müssen. Es darf dann auch keine Rolle
spielen, wer in einem Land Schutzzölle fordert oder
nicht. Alle 16 Bundesländer müssen vielmehr bereit
sein, hier anzufassen.
({18})
Wir werden den CO2-Ausstoß nicht reduzieren, wenn
wir die Gebäudesanierung nicht voranbringen. Auch Sie
werden die Ziele der Gebäudesanierung nicht erreichen
können, wenn Sie nicht bereit sind, dafür Geld in die
Hand zu nehmen, Frau Höhn. Ich glaube, an diesem
Punkt haben Sie viel verschlafen.
Es geht Ihnen vor allem darum, uns keine Erfolge zu
gönnen. Deshalb kommen wir nicht so vorwärts, wie wir
es wollten. Wir haben einiges erreicht. Auch ich darf
mich bei Herrn Röttgen bedanken. Ich hoffe, dass sich
Herr Untersteller mit seiner Position, weniger ambitioniert voranzugehen, nicht durchsetzt, obwohl er sogar
von den Umweltverbänden unterstützt wird.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. - Sogar der BUND in Baden-Württemberg hat, als der Herr Untersteller die Zielvorgabe zur Reduzierung von Treibhausgasen von 30 auf
25 Prozent gesenkt hat, gesagt, dass das, was die grünrote Landesregierung macht, absolut glaubwürdig sei.
Das ist nicht unsere Art.
Herr Kollege.
Ich wünsche Herrn Altmaier alles Gute. Ich freue
mich auf die Zusammenarbeit. Sie werden sich wundern,
was wir in den nächsten eineinhalb Jahre noch alles erreichen werden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Bärbel Höhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je
länger ich mir diese Debatte anhöre, desto mehr komme
ich zu der Überzeugung, dass es richtig war, dass wir
diese Aktuelle Stunde aufgesetzt haben.
({0})
Diese Debatte macht nämlich deutlich, dass Sie mit allen
Tricks versuchen, von dem Problem, das wir haben, abzulenken. Das Problem ist, dass die Energiewende, die
vor knapp einem Jahr beschlossen worden ist, grandios
an die Wand gefahren worden ist, Sie also ein Jahr lang
nichts gemacht haben.
({1})
Das müssen wir hier problematisieren.
({2})
Zu Beginn dieser Debatte hat Frau Dött gesprochen.
Doch Frau Dött ist - das wissen alle - die personifizierte
Blockade im Umweltausschuss. Diese Rednerin bringen
Sie hier also als erste.
({3})
Dann kommt Herr Kauch mit seiner Platte, die wir hier
zum 748-ten Mal gehört haben.
({4})
Und Sie, Herr Grindel, sagen erst, dass alles, was die
Grünen machen, Ideologie sei, und dann, dass das eigentliche Problem, warum die Energiewende nicht zustande kommt, die Bürgerinitiativen seien, die sich gegen den Netzausbau wehren. Das, Herr Grindel, ist
ebenfalls Ideologie, das ist kein konstruktiver Beitrag zu
dieser Debatte.
({5})
Wenn schon, dann messen Sie sich an dem, was Sie selber von den anderen fordern.
({6})
- Man merkt, wie aufgeregt Sie sind und dass wir mit
unserem Antrag ins Wespennest gestochen haben.
Herr Meierhofer, Sie werfen uns dann vor: Sie haben
sieben Jahre nichts gemacht. - Erinnern wir uns einmal
an die Zeit, als das Erneuerbare-Energien-Gesetz verabschiedet wurde: Wer hat damals dagegen gestimmt? Das
waren die FDP und die CDU/CSU. Sie haben alles getan, um den Aufbau der erneuerbaren Energien zu blockieren.
({7})
Sie sprachen außerdem von den Netzen. Herr
Meierhofer, ich erinnere mich daran, dass der damalige
Umweltminister Trittin ein Netzbeschleunigungsgesetz
eingebracht hat. Wer hat es im Bundesrat verhindert?
Die Mehrheit von CDU, CSU und FDP im Bundesrat.
({8})
Das ist die Wahrheit, und darüber müssen wir reden.
({9})
Der eigentliche Punkt ist doch: Norbert Röttgen ist
zwar weg, aber Sie stecken in einer Sackgasse und haben
enorme Probleme. Wie ist es denn um die deutsche Solarwirtschaft bestellt? Durch rücksichtslose und übertriebene Kürzungen wird sie an den Rand des Ruins gedrängt. Das ist doch Ihre Verantwortung. Selbst
Ministerpräsidenten von CDU und CSU sind auf unserer
Seite, weil sie sehen, dass es so nicht geht.
({10})
Woran liegt es, dass die Errichtung neuer Windparks
stockt? Das ist doch Ihre Verantwortung. Das Gleiche
gilt, wenn der Ausbau von Netzen und Speichern nicht
ausreichend vorankommt.
Dann gab es gestern den Energiegipfel bei der Kanzlerin. Das war wirklich der Gipfel! Vor einem Jahr haben
wir die Energiewende verabschiedet. Dann veranstaltet
die Kanzlerin einen Gipfel. Was passiert dort? Es wird
geredet. Da sagt der Ministerpräsident, den Sie eben zitiert haben:
({11})
Nach einem Jahr werden hier immer noch keine
Beschlüsse gefasst. Ich bin enttäuscht. - Das hat Herr
Kretschmann gesagt, Herr Grindel, nicht mehr und nicht
weniger.
({12})
Wenn Sie nach einem Jahr nichts weiter vorweisen
können, als miteinander geredet zu haben und weitere
Gespräche vereinbart zu haben, dann ist das zu wenig.
Denn irgendwann einmal muss man nach den ganzen
Reden auch Entscheidungen treffen und die Sache voranbringen.
({13})
Das schaffen Sie nicht!
({14})
Und dann noch etwas - darauf haben mich die BadenWürttemberger angesprochen -: Wissen Sie, Herr
Meierhofer, warum die Umweltverbände in BadenWürttemberg dem grünen Umweltminister sagen: „Es ist
wichtig, dass Grün-Rot die Klimaschutzziele reduziert“?
({15})
Weil Ihr Vorgehen, nämlich nichts für den Klimaschutz
zu tun, aber hehre Ziele zu verkünden, nicht in Ordnung
ist. Das ist unehrlich. Deshalb hat die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg jetzt gesagt:
({16})
Wir sind realistischer; denn wir können die Fehler der
Vergangenheit von Schwarz-Gelb nicht aufholen.
({17})
Darum sagt Grün-Rot: Wir haben eine kleine Delle, aber
wir gehen das Problem jetzt mit Instrumenten und mit
mehr Maßnahmen an,
({18})
und wir werden durch ehrgeizigere Ziele in der Zukunft
die Delle kompensieren.
({19})
Das ist der Grund, warum die Umweltverbände diesem
Weg zustimmen, und das ist der Grund, Herr Meierhofer,
warum Sie falsch liegen, auch wenn Sie hier noch so
engagiert Papiere hochhalten.
({20})
Was geschah gestern? Wir waren da doch zusammen in
der Anhörung. Und was haben die Experten da gesagt?
Sie haben gesagt: Klimaziele soll man nur formulieren,
wenn man die zur Durchsetzung notwendigen Maßnahmen wirklich installiert und verabschiedet.
({21})
Das macht Baden-Württemberg, und das haben Sie immer versäumt.
({22})
Das ist der Unterschied zwischen dem, was wir machen
und dem, was hier passiert.
Meine Damen und Herren, wir wünschen dem neuen
Umweltminister Altmaier viel Glück und viel Erfolg im
Sinne der Sache, also im Sinne der Energiewende. Wir
werden jedoch kritisch hinschauen. So hat der neue
Umweltminister beispielsweise gesagt: Wir müssen aufpassen, dass der Industriestandort Deutschland nicht in
Gefahr gerät. - Das ist zwar richtig, aber das ist zugleich
ein Argument, das immer wieder zu Unrecht gegen die
Erneuerbaren gewendet wird. Denn wer ist von all den
entsprechenden Abgaben ausgenommen, wer zahlt praktisch keine Ökosteuer und keine Umlage für das EEG,
wer zahlt keine Netzentgelte, obwohl er den meisten
Strom durchleitet? Das ist die Industrie, die gleichzeitig
davon profitiert, dass die Erneuerbaren den Strompreis
an der Leipziger Börse senken. Die Energiewende wird
nicht von der Industrie bezahlt, sondern von den kleinen
und mittelständischen Unternehmen sowie von der
Bevölkerung und den Verbrauchern. Deshalb ist das
Argument, der Ausbau der Erneuerbaren schade der Industrie, falsch.
({23})
Denn tatsächlich nützt die Energiewende der Industrie.
Gegenüber Frankreich und Großbritannien haben wir
niedrigere Börsenstrompreise, und zwar deshalb, weil
wir den Ausbau der Erneuerbaren vorangetrieben haben.
({24})
Das ist die Wahrheit, und die sollten auch Sie einmal
verstehen.
Danke schön.
({25})
Das Wort hat nun Bernhard Kaster für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! An der Anzeigetafel ist es zu lesen: Sie
möchten heute über die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung diskutieren. Da sage ich: gerne doch. Diese
Bundesregierung ist handlungsfähig und erfolgreich.
Das sollte Sie nicht ärgern, darüber sollten Sie sich im
Interesse unseres Landes freuen.
({0})
Wachsende Beschäftigung, die mit Abstand niedrigste
Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa, stabiles und
nachhaltiges Wachstum, sinkende Neuverschuldung auch für alle anderen Ressorts könnte ich noch viele Beispiele nennen.
Frau Höhn hat gerade die rot-grüne Zeit angesprochen. Was haben Sie uns 2005 hier hinterlassen? Ich
denke mit Grausen an die damalige Zeit.
({1})
Es war der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit in Deutschland, es war der Tiefpunkt der Gemeindefinanzen in den
Städten und Dörfern. Es war die sorgenvollste Zeit in der
deutschen Landwirtschaft. Es war die Zeit, als wir Defizitsünder in Europa wurden, und - das lassen Sie mich
auch sagen - es war die enttäuschendste Zeit ideologischer Umweltpolitik. Jetzt könnte man fragen: Warum
rede ich von der Zeit von vor sieben Jahren? Wenn ich in
die Reihen der Grünen hier vorne schaue, dann sehe ich
immer noch die gleichen Gesichter. Da weiß man doch,
was man zu erwarten hat.
({2})
Was heißt Umweltpolitik heute? Grüne Umweltpolitik ist zwischenzeitlich zu einer ideologischen Solarpolitik verkümmert.
({3})
Ausgerechnet die Grünen sorgen sich in dieser Aktuellen
Stunde ums Handeln - Grüne sorgen sich ums Handeln!
Dabei sind sie in Deutschland zu einer sich immer mehr
verkrustenden Verhinderungspartei geworden.
({4})
Viele Bürger wenden sich wegen ihrer Technik- und
Investitionsfeindlichkeit von ihnen ab. Ich komme aus
dem Bundesland Rheinland-Pfalz. Dort haben sie jetzt
neu Regierungsverantwortung übernommen. Sie haben
allerdings keinen Koalitionsvertrag, sondern einen Verhinderungsvertrag abgeschlossen. So sieht es aus, wenn
Grüne Verantwortung in Deutschland übernehmen.
({5})
Sie buhlen immer mehr um Menschen, die sich Ihre
spezielle Politik im wahrsten Sinne des Wortes leisten
können, aber wir, die bürgerlich christlich-liberale
Koalition, haben das Ganze im Blick. Wir müssen Verantwortung allen Menschen gegenüber wahrnehmen,
({6})
beispielsweise durch die Gestaltung einer Energiewende,
die unseren mittelständischen Betrieben Versorgungssicherheit gewährt, und durch eine Energiepolitik, die
dafür sorgt, dass Arbeitnehmer, Mieter und Rentner auch
künftig ihre Stromrechnung bezahlen können. Unsere
Energiepolitik besteht aus einem Dreiklang: ökologisch,
ökonomisch und sozial,
({7})
ökologische Zielsetzung, ökonomische Vernunft und soziale Sensibilität.
({8})
Sie fragen angesichts dessen nach der Handlungsfähigkeit? Wir könnten auch nach der Handlungsfähigkeit
der Opposition fragen.
({9})
Was erleben wir da im Moment? Die Linke sucht im
Moment ein neues Fahrrad, ein Tandem, die SPD macht
seit Monaten ein Casting für mögliche Vizekanzlerkandidaten.
({10})
Ich möchte diese überflüssige Aktuelle Stunde gerne
wie folgt zusammenfassen: Dem Land geht es gut. Wir
stehen vor großen Herausforderungen. Die Bundeskanzlerin genießt im Land, in Europa und in der Welt
höchstes Ansehen, und unter ihrer Führung wird diese
Koalition sich den wichtigen Herausforderungen und
Aufgaben mit Verantwortungsbewusstsein und Vernunft
stellen. Darauf ist Verlass.
Vielen Dank.
({11})
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Ulrich
Kelber für die SPD-Fraktion.
({0})
Vor ein paar Tagen
({0})
bin ich im Internet auf einen Spontispruch gestoßen,
({1})
der mich sofort an die Politik der Bundesregierung, besonders an die Energiepolitik, erinnert hat: Ständiges
Versagen ist auch eine Form von Zuverlässigkeit.
({2})
Das ist kein Urteil der Opposition über die Energiepolitik der Koalition. Das schwingt mit, wenn sich der bayerische Ministerpräsident und Vorsitzende der CSU, also
einer der drei Koalitionspartner, über die Energiepolitik
der Bundesregierung und der eigenen Leute auslässt. Er
sagt: Wenn die jetzt nicht vorwärtskommen, dann werden wir uns in Bayern von der deutschen Energiepolitik
abkoppeln. Das ist die Einschätzung Ihrer eigenen Leute.
({3})
Auch die knappen Begründungen der Bundeskanzlerin
zur Entlassung ihres Bundesumweltministers sind zumindest ein Eingeständnis, dass es in der Energiepolitik
nicht so läuft, wie man eigentlich will.
Ich habe Norbert Röttgen von dieser Stelle aus oft kritisiert und auch scharf angegriffen, aber ich frage mich
schon: Wenn die Energiepolitik zu 80 Prozent in der Verantwortung des Wirtschaftsministeriums liegt, warum ist
dann Norbert Röttgen für die mangelnde Koordination in
der Energiepolitik entlassen worden und nicht Wirtschaftsminister Rösler?
({4})
Dafür gibt es zwei einfache Begründungen.
Erstens. Die Bundeskanzlerin ist CDU-Vorsitzende.
Sie hat überhaupt nicht die Möglichkeit, CSU- oder
FDP-Minister zu entlassen!
({5})
So brutal kann sie nur mit CDU-Mitgliedern umgehen.
Zweitens. Es ging um ihren Selbstschutz. Sie wollte
nicht, dass die Debatte in Nordrhein-Westfalen und das
Chaos in der Energiepolitik mit ihr in Verbindung
gebracht werden. Wer die Behandlung der Entlassung in
den Medien verfolgt hat, hat mitbekommen, dass das
Gott sei Dank nicht funktioniert hat.
Im Bonner General-Anzeiger, der nicht nur meinen
Wahlkreis, sondern auch den von Norbert Röttgen abdeckt, wurde ein Leserbrief veröffentlicht, in dem argumentiert wurde - ich habe mich gleich gefragt, warum
ich nicht selbst auf dieses Argument gekommen bin -:
Die Kanzlerin hält einen Minister wie Guttenberg, der
betrügt und lügt, für ministrabel, aber wenn ein Minister
wie Norbert Röttgen eine Wahl in einem Bundesland
verliert, dann verliert er seine Eignung als Minister und
wird entlassen. Da stellt sich für mich die Frage nach der
Glaubwürdigkeit der Kanzlerin. - Genau das ist richtig.
({6})
Als unter Norbert Röttgen die Glaubwürdigkeit
Deutschlands beim Klimaschutz verloren ging, hat das
die Kanzlerin nicht interessiert. Als aus dem Umweltministerium Signale kamen, dass die Entmachtung der
Fachgruppen bzw. der Fachabteilungen bei einer gleichzeitigen Aufblähung der Leitungsstäbe das Ministerium
unfähig zur Arbeit mache, hat das die Kanzlerin nicht
interessiert. Wenn der Emissionshandel zusammenbricht, gibt es keinen Grund, einzugreifen. Wenn aber
einer eine Landtagswahl verliert, muss man den Minister
entlassen, um sich selbst zu schützen. Das ist Personalpolitik und Führung à la Angela Merkel.
({7})
Wenn jetzt - bei aller Kritik an der Politik von
Norbert Röttgen - einige aus der CDU, die hier gerade
Krokodilstränen vergossen haben, in Hintergrundgesprächen versuchen, Norbert Röttgen die alleinige Schuld
am Chaos in der Energiepolitik der schwarz-gelben Koalition zu geben, sage ich an dieser Stelle: Das ist unfair,
das ist unredlich, das ist unanständig.
({8})
Zweieinhalb Jahre ertragen wir jetzt dieses Chaos in
der Energiepolitik. Anderthalb Jahre lang gab es ein Hin
und Her. Niemand war bereit, zu investieren: nicht in
Erneuerbare, nicht in Energieeffizienz, nicht in fossile
Energien, in nichts. Seit einem Jahr wird jetzt zugeschaut. Netzprobleme? Es wird zugeschaut. Mangelnde
Anreize für Kapazitätsschaffung, zum Beispiel für Gaskraftwerke in Bayern oder in Baden-Württemberg? Es
wird zugeschaut.
Norwegen bietet an, 25 000 Megawatt an zusätzlicher
Speicherkapazität zu bilden. Wo gibt es Verhandlungen
der Bundesregierung über ein Investitionsabkommen?
Nichts!
({9})
Es gab jetzt einen Gipfel als Politikersatz. Das Ergebnis
ist: Wir treffen uns jetzt anstatt einmal zweimal im Jahr.
Das ist zu wenig.
Um einer Legendenbildung entgegenzutreten: Es
stimmt übrigens nicht, dass Peter Altmaier - er muss
wohl noch lernen, bei den Debatten aus den Reihen der
Abgeordneten auf die Regierungsbank zu gehen - sich
nie für die Umweltpolitik interessiert hat. Er war sogar
schon einmal im Umweltausschuss,
({10})
und zwar am 26. Oktober 2010, als dort die Laufzeitverlängerung in nur einer Stunde durchgeprügelt werden
sollte und man nicht vorankam. Da eilte Peter Altmaier
vorbei und half, die Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages zu brechen. Oppositionsabgeordnete durften keine Redebeiträge mehr halten, keine neuen Änderungsanträge mehr stellen und schon gestellte nicht mehr
begründen.
({11})
Ich hoffe, Peter Altmaier, der nächste Besuch im Umweltausschuss ist etwas ökologischer als der erste.
Vielen Dank.
({12})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes
- Drucksache 17/8801 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- Drucksache 17/9617 Berichterstattung:Abgeordneter Rolf Hempelmann
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Klaus Breil für
die FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute die Novelle des KraftWärme-Kopplungsgesetzes. Diese Novelle ist notwendig,
um unser Ziel zu erreichen, den Anteil der Stromerzeugung aus KWK auf 25 Prozent der Gesamtstromproduktion auszubauen. Ich weiß, dass im Evaluationsbericht steht, dieses Ziel sei mit dem KWK-Gesetz von
2009 nicht zu schaffen. Ich kenne die Kritik, das Ziel sei
ebenso wenig mit der heute zu beschließenden Novelle
zu schaffen. Das glaube ich nicht. Wir werden das schaffen.
({0})
Ich erwarte, dass dabei sogar eine Dynamik entstehen
wird, die den Anteil weit über die 25 Prozent wachsen
lassen wird.
Krankenhäuser, Schulen, Sporthallen und Schwimmbäder - all das sind Wärmesenken, und sie sind meistens
in kommunaler Verantwortung. Es sind Wärmesenken,
für die eine Versorgung mit ausgekoppelter Wärme häufig Sinn macht. Wir müssen nur intensiv suchen.
Aus der mittelständischen Wirtschaft weiß ich, dass
dort vielfach auch mit großem Interesse nach diesen
Wärmesenken gesucht wird.
Wir erhöhen für alle Anlageklassen die Vergütung um
0,3 Cent pro Kilowattstunde. Wir führen eine neue Anlagenklasse - von 50 bis 250 Kilowatt - ein. Dieses Segment ist insbesondere bei kleinen und mittelständischen
Unternehmen gefragt, die auf eine eigene Stromversorgung bauen. Bei emissionshandelspflichtigen Anlagen
erhält man ab dem Jahr 2013 noch einmal 0,3 Cent pro
Kilowattstunde mehr. Davon erhoffen wir uns einen
Ausbau der Erzeugungskapazitäten. Einen solchen Ausbau brauchen wir. Das haben auch die Gespräche gestern
im Kanzleramt ergeben. Außerdem erwarten wir die Förderung von Wärmenetzen und Wärmespeichern, und wir
führen eine Förderung von Kältenetzen und Kältespeichern ein.
Entgegen allen Vorwürfen tun wir auch etwas für die
kleinen Anlagen. Die neu eingeführte Zwischenkategorie habe ich schon genannt. Außerdem haben wir die
Rahmenbedingungen für das Pooling kleinerer Anlagen,
sogenannter Mini- und Mikro-KWK-Anlagen, und damit für die sogenannte Schwarmstromidee verbessert.
Für Anlagen bis 50 Kilowatt haben wir die kostenpflichtige Einzelzulassung abgeschafft, ebenso die statistischen Mitteilungspflichten.
Ein letzter Punkt: Käufer einer Anlage bis 2 Kilowatt
können sich ihre Zuschläge pauschal auszahlen lassen.
Das können je nach Anlagengröße bis zu 3 500 Euro
sein.
Mit dieser Novelle tun wir einiges für den Bereich
Kraft-Wärme-Kopplung und für den Aufbau von Erzeugungskapazitäten. Hierfür wäre die Anerkennung der
Opposition angebracht. Stattdessen fordern die Grünen
in ihrem heutigen Entschließungsantrag - Zitat -:
Die Förderung von KWK-Anlagen mit Braun- oder
Steinkohle als Brennstoff wird aus dem KWKG gestrichen.
Dass die Grünen de facto ein Verbot für den Neubau
von Kohlekraftwerken wollen, ist bekannt. Niemand
baut heute noch ein Kraftwerk ohne Wärmeauskopplung.
({1})
Aber dass alte Kohlekraftwerke dort, wo die Grünen
Verantwortung tragen, beispielsweise in NRW, keinen
Anreiz zur Modernisierung erhalten sollen, ist für mich
untragbar.
({2})
Neue Kohlekraftwerke wollen Sie dort ja auch nicht
haben. Somit sind Sie Effizienzverhinderer. Weit klüger
wäre es, technologieoffen zu sein. Seien Sie bereit, Ihre
Ideen in einen Wettbewerb zu anderen Ideen zu stellen,
und versuchen Sie nicht, mit versteckten Verboten Ihre
wahre Ideologie durchzusetzen!
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Klaus Breil. - Nächster Redner
ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Rolf Hempelmann. Bitte schön, Kollege Rolf
Hempelmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Lieber Klaus Breil, Sie haben eben gesagt, dass Sie für
diesen Gesetzentwurf Anerkennung verdient haben.
({0})
Ich möchte das gleich am Anfang feststellen: Für den
Gesetzentwurf und - ich will das noch ausweiten - für
die Änderungsanträge haben Sie Anerkennung verdient.
In der Tat ist das, was hier vorgelegt worden ist, weit
besser als das, was wir hätten erwarten können. Schließlich hat Schwarz-Gelb viele Jahre lang eine ausgesprochen KWK-feindliche bzw. KWK-kritische Politik vertreten.
({1})
Schwarz-Gelb hat genau die Position vertreten, die Ihnen von den vier großen Unternehmen jahrelang eingeflüstert worden ist.
({2})
Deswegen ist es auch kein Wunder, dass es zweieinhalb Jahre gedauert hat - eigentlich hat es sogar noch
länger gedauert -, bis dieses Konzept vorgelegt wurde.
Eingefordert hatten wir es schon von Wirtschaftsminis21520
ter Glos in der Zeit der Großen Koalition. Er hat es nicht
gebracht. Eingefordert hatten wir es auch von Wirtschaftsminister zu Guttenberg. Auch er hat es nicht gebracht. Anschließend haben wir es von Herrn Brüderle
von der FDP gefordert.
({3})
Auch er hat es nicht gebracht.
({4})
Jetzt endlich, nach Jahren, liegt es also vor. Herrn Rösler
sei an dieser Stelle gedankt. Aber bleiben Sie ruhig;
denn es kommt noch anders.
Insofern sage ich: Ja, der Gesetzentwurf enthält viel
Richtiges, aber natürlich kann und muss er weiter verbessert werden. Wir müssen uns klarmachen, dass die
Kraft-Wärme-Kopplung einen erheblichen Beitrag zur
Energiewende leisten kann. Das muss uns klar sein,
wenn wir das Ziel, dass bis zum Jahr 2020 25 Prozent
der Stromerzeugung durch Kraft-Wärme-Kopplung gedeckt werden - dazu bekennt sich jeder -, erreichen wollen.
Denn: Erstens ist dies die effizienteste Form der Erzeugung von Strom und Wärme; sie hat Wirkungsgrade
bis zu 90 Prozent. Wir können den Brennstoff zu mehr
als 80 Prozent ausnutzen. Das ist bei keiner anderen
Form der Verbrennung so möglich. Zweitens sind die
Anlagen grundsätzlich auf erneuerbare Energien umstellbar. Das heißt, zumindest Anteile dieser Kraftwerke
können auf erneuerbare Energien, auf Bioenergien umgestellt werden. Auch das ist ein Vorteil dieser Technologie.
Der dritte Punkt ist die flexible Fahrweise. Die Anlagen können stromgeführt oder wärmegeführt laufen, sie
können sich an die Situation, je nachdem ob der Wind
gerade stark oder weniger stark zum Stromangebot beiträgt, anpassen. Über Wärmespeicher können Überschussenergien gespeichert und später ins Netz zurückgeführt werden.
Leider wird dieses Potenzial durch diesen Gesetzentwurf nicht voll ausgeschöpft. Die Anhörung hat das sehr
deutlich ergeben. Deswegen haben wir Vorschläge gemacht, wie man dieses Gesetz so weiterentwickeln kann,
dass die Ziele tatsächlich erreicht werden. Sie haben sich
da bewegt - das muss man sagen -, Sie haben zum Beispiel die Zuschläge für die jeweiligen Anlagengruppen
erhöht, aber wir befürchten, dass dies nicht ausreichen
wird. Folgen Sie unseren Vorschlägen. In der Anhörung
wurde ja deutlich, dass Sie dies tun sollten. Ich glaube,
dass wir dann eine bessere Chance haben, die Ausbauziele tatsächlich zu erreichen.
Der nächste Punkt - auch das wurde bei der Anhörung deutlich -: Wir müssen nicht nur an den Neubau
denken, sondern auch an die Modernisierung vorhandener Anlagen und auch an die Umrüstung konventioneller
Kraftwerke in Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Dazu
haben wir Vorschläge gemacht. Dabei geht es insbesondere darum, die Schwellen, die Sie im Gesetz formuliert
haben, abzusenken, um Umrüstungen oder Modernisierungen, die mit geringerem Aufwand erreicht werden
können, zuzulassen und zu unterstützen.
Wir gehen davon aus, dass wir gerade im Bereich der
Speicher wesentlich mehr tun können, als dieser Gesetzentwurf vorsieht. Die Speicher bieten uns im Rahmen
der Energiewende die Möglichkeit, flexibel auf die unterschiedlichen Netzsituationen zu reagieren. Deswegen
ist es kontraproduktiv, wenn Sie hier einen Förderdeckel
von 5 Millionen Euro pro Einzelprojekt einziehen. Denken Sie noch einmal darüber nach. Folgen Sie unserem
Vorschlag, diesen Deckel aufzugeben oder zumindest
substanziell anzuheben. Ansonsten werden Sie die Möglichkeiten, die die Speichertechnologien bieten, nicht
nutzen. Die größeren Speicher haben besonders positive
Effekte. Sie können sehr flexibel reagieren und vor
allem in größeren Einheiten, zum Beispiel in Fernwärmeversorgungssystemen, einen wesentlichen Beitrag
leisten, um die volatile Windstrom- oder Solarstromeinspeisung auszugleichen.
Wenn Sie unsere Vorschläge, auch die zum Ausbau
der Wärmenetze, übernehmen, dann haben Sie tatsächlich flexible Instrumente, die Ihnen helfen, die Ziele der
Energiewende zu erreichen. Bei Wärmenetzen haben Sie
einen Förderdeckel von 10 Millionen Euro pro Projekt
vorgesehen. Das wird nicht dazu führen, dass die Projekte aufgelegt werden, die wir tatsächlich brauchen. Heben Sie auch hier den Deckel auf, oder verdoppeln Sie
zumindest den Betrag. Wir brauchen diese Investitionen.
Die Investitionen kann man nicht nach Projektgröße bewerten. Vielmehr müssen sie danach bewertet werden,
welchen Beitrag sie zum Erreichen der KWK-Ziele leisten.
Insgesamt bietet der Gesetzentwurf gute Ansätze.
Folgen Sie unseren Vorschlägen, insbesondere denen bezüglich der Modernisierung und Umrüstung der Anlagen
und bezüglich der Netze und der Speicher. Wenn Sie das
tun, dann haben wir, glaube ich, in der Tat die Chance,
bei diesem Thema voranzukommen.
Ein letzter Aspekt muss allerdings noch erwähnt werden. Auch wenn dieses Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz
perfektioniert bzw. verbessert wird, wenn Sie also unseren Vorschlägen folgen, wird das allein nicht reichen, um
die Kraft-Wärme-Kopplung hier in Deutschland zu einer
Erfolgsstory zu machen.
({5})
Man hört von allen potenziellen Investoren, dass zurzeit
nicht in die konventionelle Energieerzeugung in
Deutschland investiert wird. Bis auf die laufenden Projekte wird nicht neu investiert. Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass die Anlagen angesichts des Aufwuchses der erneuerbaren Energien künftig nur eine
geringe Auslastungsperspektive haben.
Deswegen gibt es eine Diskussion darüber, nicht nur
die Arbeit, also den gelieferten Strom oder die gelieferte
Wärme, sondern möglicherweise auch die Kapazität,
also die Bereitstellung, zu honorieren. Ich weiß, dass das
ein komplexes Thema ist, bei dem man auch Fehler maRolf Hempelmann
chen kann. Aber es wäre auch ein Fehler, wenn wir uns
zu viel Zeit ließen.
({6})
Es ist mittlerweile ein Jahr vergangen. Dieses Thema ist
inzwischen erstmals vonseiten der Kanzlerin auf einem
Gipfel erörtert worden. Sorgen Sie dafür, dass jetzt zeitnah Entscheidungen fallen können! Das können auch gestufte Entscheidungen sein. Das Modell, das in den
nächsten zehn Jahren gilt, kann ganz anders aussehen als
das Modell, das in der Zeit danach angewendet wird; so
etwas zeichnet sich ja ab. Aber wir brauchen Entscheidungen.
Warum brauchen wir die Entscheidungen jetzt? Weil
ansonsten der Attentismus weitergeht und die Projektplanungen nicht voranschreiten. Auch bei solchen Projekten, die vielleicht erst in sechs oder sieben Jahren realisiert werden sollen, braucht man jetzt Klarheit im
Hinblick auf die künftige Perspektive.
Insofern: Wir sind bereit, konstruktiv daran mitzuarbeiten, ein Marktdesign der Zukunft zu entwickeln, welches insbesondere für den Bau von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen interessant ist. Liefern Sie - nach einem
hoffentlich noch verbesserten Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz - auch hier! Ich bin zuversichtlich, dass wir dann
zumindest in diesem Bereich der Energiewende vorankommen können.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Rolf Hempelmann. - Nächster
Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Thomas Bareiß. Bitte schön, Kollege Thomas Bareiß.
({0})
Verehrter Präsident! Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen! Erlauben Sie mir, nach der heutigen Aktuellen
Stunde und den Ereignissen der letzten Tage darauf hinzuweisen: Ich bin der Überzeugung, dass über unsere
Energiepolitik sehr viel Unsinn gesagt wurde.
({0})
Da musste ich lesen, die Energiewende werde nun gestoppt, die Energiewende komme nicht voran, und wir
hätten nichts getan. Diese Debatte zeigt, dass wir mit der
Energiewende Schritt für Schritt vorankommen.
Lieber Rolf Hempelmann, die Kraft-Wärme-Kopplung ist schon heute eine Erfolgsstory.
({1})
Der Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an unserem
Strommix beträgt schon heute 15 Prozent. Die Vorschläge, die wir jetzt vorgelegt haben, haben wir in Studien überprüfen lassen. Dabei kam ganz klar und deutlich zum Ausdruck: Würden wir die nächsten zehn Jahre
überhaupt nichts unternehmen, würden wir unser gemeinsames Ziel, das die vorherige Koalition formuliert
hat, bis 2020 zwar nicht ganz erreichen. Aber der Anteil
der Kraft-Wärme-Kopplung am Strommix würde sich in
den nächsten zehn Jahren voraussichtlich auf 22 Prozent
erhöhen. Durch die Vorschläge, die wir gemacht haben,
und durch den Änderungsvorschlag, den wir als Koalitionsfraktionen noch einbringen werden, werden wir den
Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung am Strommix mit Sicherheit auf 25 Prozent erhöhen. Das wird von allen Verbänden und Unternehmen bestätigt.
Ich weiß nicht, in welcher Anhörung Sie waren.
({2})
Ich habe aus der Anhörung mitgenommen, dass die Verbände und Unternehmen mit dem, was jetzt vorgelegt
worden ist, größtenteils zufrieden sind.
({3})
Die Kritikpunkte, die angeführt wurden, haben wir in
unserem Änderungsantrag berücksichtigt.
({4})
Wir haben sehr viele, eigentlich fast alle Kritikpunkte in
unseren Änderungsanträgen aufgegriffen und sogar noch
draufgesattelt. So haben wir dafür gesorgt, dass die
Kraft-Wärme-Kopplung eine Erfolgsstory bleibt und
eine tragende Säule unseres Energiemixes wird.
({5})
Die Anhörung hat auch gezeigt, dass die Energiewende Schritt für Schritt vollzogen wird, dass es nicht
nur im Deutschen Bundestag eine breite Unterstützung
für dieses Vorhaben gibt, sondern dass wir auch bei den
Verbänden und Unternehmen vorankommen. Der entsprechende Gesetzentwurf ist am 8. März dieses Jahres
eingebracht worden. Darüber hinaus fand eine Anhörung
statt, und es wurden viele Gespräche mit Verbänden geführt. Meiner Erfahrung nach gab es bisher noch kein
Gesetz, das eine so große Zustimmung und eine so breite
Unterstützung erfuhr.
Ich muss, offen gestanden, sagen: Ich finde es etwas
schade, dass sich die SPD bei der Abstimmung nur enthält. Sie weiß wohl noch nicht, was sie will: Will sie mitmachen, oder will sie nicht mitmachen?
({6})
Ich glaube, die Verbände und die Unternehmen machen mit.
({7})
Das ist der richtige Ansatz.
({8})
Rolf Hempelmann hat zur Kraft-Wärme-Kopplung
schon viel Richtiges gesagt. Sie wird ein wichtiger
Bestandteil unserer Energieversorgung sein. Sie ist
effizient. Es gibt wohl keine Art der Energiegewinnung,
die so effizient ist wie die Kraft-Wärme-Kopplung. Konventionelle Kraftwerke haben einen Wirkungsgrad von
40 bis 45 Prozent. Mit der Kraft-Wärme-Kopplung
schaffen wir einen Wirkungsgrad von bis zu 90 Prozent.
Sie ist dezentral. Das heißt, dass die Wärme und der
Strom dort erzeugt werden, wo sie gebraucht werden.
Wir können somit vielleicht den Leitungsausbau etwas
reduzieren und Wertschöpfung dort aufbauen, wo die
Energie gebraucht wird.
Die Kraft-Wärme-Kopplung wird sowohl im Kleinen
als auch im Großen gefördert. Beispiele dafür sind Großanlagen wie Datteln 4, wobei Sie noch in der Verpflichtung stehen, das Kraftwerk ans Netz zu bringen, sowie
kleine Minikraftwerksanlagen, die in Einfamilienhäusern für Wärme und Strom sorgen.
Die Wärme ist bei dieser Form der Energiegewinnung
speicherbar. Auch das ist eine Anforderung, die in den
nächsten Jahren sicherlich eher mehr als weniger von
Bedeutung sein wird. Vor allem ist sie jedoch in Kombination mit dem enormen Ausbau von Wind- und Sonnenenergieanlagen ein Element für den Ausgleich von
Schwankungen. In Phasen, in denen Wind und Sonne
nicht vorhanden sind, kann die Kraft-Wärme-Kopplung
der Stromerzeugung zugeschaltet werden und somit einen Ausgleich bieten.
({9})
Derzeit diskutieren wir intensiv über die Frage der
Kapazitätsmärkte. Diese Frage wird ebenfalls aufgenommen. Denn im KWK-Bereich werden Kapazitäten
aufgebaut, die in den nächsten Jahren unsere Energieversorgung mit sichern werden.
Wir haben das Ziel, bis 2020 einen Anteil der KraftWärme-Kopplung von 25 Prozent an unserem Strommix
zu verwirklichen. Ich habe es bereits gesagt, wir sind
hier auf einem guten Weg. Die Erfolgsstory geht weiter.
Besonders reizt mich an der Kraft-Wärme-Kopplung die
Tatsache, dass sie zwar noch gefördert werden muss und
in vielen Bereichen noch nicht ganz wettbewerbsfähig
ist, dass sie jedoch durch einen Deckel von 750 Millionen Euro sehr kosteneffizient ist. Sie trägt so dazu bei,
dass wir die Energiewende bezahlbar und sicher hinbekommen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der nicht nur
für den normalen Verbraucher von Bedeutung ist, sondern auch für unsere Industrie und damit auch für unsere
Arbeitsplätze.
Wir kriegen den Dreiklang von Bezahlbarkeit, Umweltfreundlichkeit und Effizienz hin und schaffen so
Versorgungssicherheit. Das ist ebenfalls ein wichtiges
Argument für den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung.
Was machen wir im Einzelnen? Es gibt in diesem Zusammenhang viele Punkte, die ich nicht alle darstellen
kann. Ich möchte in meinem Beitrag nur auf einige
Punkte eingehen.
Wir schaffen mehr Anreize, indem wir über alle Anlagenklassen hinweg einen höheren Vergütungszuschlag
zahlen. Wir wollen die Vergütung mit dem jetzigen Vorschlag um 0,3 Cent je Kilowattstunde erhöhen. Dies
sorgt dafür, dass die Kraft-Wärme-Kopplung vor Ort
noch wirtschaftlicher zu betreiben ist und dass noch
mehr Investitionen als bisher getätigt werden.
Viele sagen, die Erhöhung hätte auch 0,4 Cent oder
0,5 Cent betragen können; darüber haben wir diskutiert.
Doch ich warne davor; denn es werden schon Stimmen
laut, die sagen, dass die EEG-Förderung von Biogas beispielsweise schon fast nicht mehr mit der KWK-Förderung mithalten kann und dass die Gefahr besteht, dass es
einen Wettlauf der unterschiedlichen Fördersysteme
gibt. An dieser Stelle muss ich sagen: Die Kraft-WärmeKopplung holt weiter auf, die Erhöhung um 0,3 Cent ist
richtig, aber im Vergleich zu anderen Förderinstrumenten ausgewogen.
Der Kollege Breil hat es gesagt: Wir haben eine neue
Förderklasse für 50- bis 250-kW-Anlagen eingeführt und
dafür gesorgt, dass hier kein Förderknick entsteht. Auch
das sorgt dafür, dass die Förderung in den unterschiedlichen Anlagenklassen Sinn macht.
Wir schaffen Anreize für Investitionen in Wärmenetze, die derzeit - offen gestanden - ein Stück weit ins
Stocken geraten sind. Von diesen Anreizen für Wärmenetze versprechen wir uns die Auslösung von höheren
Investitionen. Wir haben hierzu 150 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt. Ich glaube, wir werden in den nächsten Jahren erleben, dass dieses Angebot genutzt wird
und dass ein weiterer Bereich immer mehr an Bedeutung
gewinnt, nämlich der Bereich der Kältenetze. Auch
hierzu haben wir einen neuen Fördertatbestand eingeführt.
Wir ermöglichen Investitionskostenzuschüsse für
Wärmespeicher. Das ist ein neues Element im KraftWärme-Kopplungsgesetz. Wir wollen entsprechende
Anlagen mit bis zu 5 Millionen Euro bzw. 30 Prozent
der Investitionssumme fördern und damit Wärmespeicher sowohl im Großen als auch im Kleinen noch attraktiver machen und dafür sorgen, dass die Wärme auch vor
Ort gespeichert und zu den Zeiten transportiert werden
kann, zu denen sie gebraucht wird.
Mir ist es wichtig, dass wir nicht nur die großen, sondern auch die kleinen Anlagen fördern. Deshalb haben
wir in den jetzigen Gesetzesberatungen innerhalb der
Koalitionsfraktionen auch die Speichervolumina von
Kleinspeichern, ab denen eine Förderung erfolgen kann,
von 5 Kubikmeter auf 1 Kubikmeter gesenkt und damit
auch die Förderung von Speichern für Ein- und Zweifamilienhäuser möglich gemacht.
Wir haben dafür gesorgt, dass die Kraft-WärmeKopplung auch stromgeführt besser gefahren werden
kann. Wir haben eine Wahlfreiheit zwischen einer an
Volllaststunden orientierten Förderung und einer Förderdauer von zehn Jahren eingeführt. Das heißt, dass die
Fördersumme für Kleinanlagen von unter 50 kW, die so
betrieben werden, dass sie immer dann eingeschaltet
werden, wenn zu wenig Wind- oder Sonnenstrom vorThomas Bareiß
handen ist, um über 50 Prozent erhöht wird. Auch das
wird helfen, dass die Energiewende in den nächsten Jahren sinnvoll gelingt.
Es gäbe noch viele Punkte anzubringen, die wir gemacht haben. Wir haben auch einiges für den Bürokratieabbau getan, gerade für kleine Anlagen. Ich glaube,
dass wir mit dem Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz bewiesen haben, dass die Energiewende Schritt für Schritt vorangeht. Das ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathonlauf, und wir sind bei diesem Marathonlauf ein
Stück weitergekommen.
Ich fordere Sie noch einmal auf: Reden Sie nicht, handeln Sie!
({10})
Machen Sie mit bei der Kraft-Wärme-Kopplung, und
sorgen Sie auch dafür, dass diese Energiewende gelingt!
Herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, Kollege Thomas Bareiß. - Nächste
Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Frau Eva Bulling-Schröter. Bitte schön, Frau Kollegin
Bulling-Schröter.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst: Die Koalition ist lernfähig. Endlich gab es einmal eine Bundestagsanhörung, die Sinn gemacht hat. Im
Ergebnis der Expertenanhörung wurden etliche Änderungen am Regierungsentwurf vorgenommen, die der
KWK, also der Kraft-Wärme-Kopplung, sehr guttun.
Die KWK-Zuschläge werden aufgrund der höheren
Anlagenkosten auf ein akzeptables Maß erhöht, auch
wenn wir uns noch ein bisschen mehr vorgestellt haben.
Mit einem Zuschlag werden die Benachteiligungen ausgeglichen, die die Kraft-Wärme-Kopplung durch Belastungen aus dem Emissionshandel gegenüber herkömmlichen Anlagen hat. Die KWK-Zuschläge orientieren sich
nun besser an der Größe und an der Kostenstruktur der
jeweiligen Anlage. Zudem soll eine Förderung von kleinen Wärmespeichern ab 1 Kubikmeter eingeführt werden. Schließlich wird ein einmaliges Wahlrecht in Bezug
auf die Förderdauer eingeführt: entweder nach Jahren
oder nach Vollnutzungsstunden.
({0})
- Wir können ja auch einmal sagen, dass etwas gut ist,
Herr Obermeier.
Die letzten beiden Punkte werden stromgeführte Anlagen unterstützen. Diese brauchen wir zur Integration
der erneuerbaren Energien ins Stromnetz; denn dafür
eignet sich die KWK hervorragend, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Die Anlagen können dann hochflexibel die naturgemäß schwankenden Einspeisungen
von Wind- und Sonnenstrom abpuffern. Auf Deutsch gesagt: Wenn die anderen nicht Strom oder Wärme liefern
können, dann brauchen wir die KWK. Das ist ja auch in
Ordnung.
Was im Gesetzentwurf allerdings weiterhin fehlt, ist
eine Flexibilisierungsprämie für Blockheizkraftwerke Stichwort Schwarmstromkonzept. Dazu hat die Linke im
Ausschuss einen Antrag eingebracht. Die Sachverständigen aller Fraktionen haben sich positiv dazu geäußert
und der Koalition dazu geraten.
Es ist nämlich so: Die KWK-Zuschläge fließen entsprechend der Strommenge, also unabhängig vom Zeitpunkt der Erzeugung. Damit besteht für die KWKBetreiber aber nur wenig Anreiz, ihre Anlagen zusammenzuschalten - dieses Zusammenschalten ist das
Schwarmstromkonzept -, gemeinsam steuern zu lassen
und in dem Augenblick bedarfsgerecht Strom zu produzieren, in dem er besonders knapp ist. Das ist der Fall,
wenn Sonne und Wind nicht vorhanden sind und somit
in einer Region zu wenig Strom aus Erzeugungsanlagen
für regenerative Energien anfällt. In Zeiten mit viel
Sonne und Wind müssten die KWK-Betreiber dagegen
die Stromproduktion gemeinsam drosseln oder einstellen
bzw. die Energie speichern. Auch das wäre wichtig. Darum sollte nach unserem Antrag, den Sie leider abgelehnt haben, künftig ein Flexibilitätsbonus in Höhe von
2 Cent pro Kilowattstunde für KWK-Anlagen gezahlt
werden.
Was fehlt, ist eine Vergütungsstufe für Mini-KWKAnlagen bis 3 Kilowatt. Solche Anlagen auf Basis von
Brennstoffzellen bzw. Stirling- oder Minimotoren sind
innovativ, weil sie die erste praktikable KWK-Lösung
für Einfamilienhäuser wären. Das wäre für diese Häuser
dringend notwendig.
Unter dem Strich bleibt fraglich, ob Sie mit der Gesetzesnovelle tatsächlich die Grundlage schaffen, bis zum
Jahr 2020 auf einen KWK-Anteil von 25 Prozent an der
Stromerzeugung zu kommen. Es ist schon viel Zeit ungenutzt verstrichen. Auch wenn wir Glück haben, landen
wir mit den Regelungen des neuen Gesetzes nur bei einem Wert von 20 Prozent oder weniger.
Herr Bareiß hat schon erklärt: Tolle Erfolgsstory! Ich
möchte Ihnen zum Vergleich die Werte anderer Länder
nennen: Dänemark 50 Prozent, die Niederlande 38 Prozent. Warum können die das und wir nicht? Die Antwort
ist: Dort gibt es einen Mix aus Förderinstrumenten und
strikten Vorgaben, zum Beispiel die Pflicht zum Anschluss an ein Wärmenetz. So etwas ist natürlich Gift für
den Herrn Rösler. Er blockiert stattdessen lieber die EUEnergieeffizienzrichtlinie in Sachen KWK, wo im Entwurf entsprechende Pflichten vorgesehen sind. Hören
wir einmal, was demnächst Herr Altmaier dazu zu sagen
hat.
({1})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Zunächst wird für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Oliver
Krischer sprechen. Bitte schön, Kollege Oliver Krischer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gibt drei verschiedene Kategorien, nach denen die Koalition und die Bundesregierung beim Thema Energiewende handeln:
Die erste und am häufigsten vorkommende Kategorie
ist: Sie tun gar nichts. Das haben wir so beim Thema
Speichertechnologien und Kapazitätsmärkte gesehen.
Hier könnte man noch viele andere Themen aufzählen.
Die zweite Kategorie ist: Sie tun genau das Falsche.
Das haben wir bei der EEG-Novelle und bei der Kürzung der Förderung für Solaranlagen erlebt. Da werden
Sie von Ihren eigenen Ministerpräsidenten aufgehalten.
Es gibt noch die dritte Kategorie:
({0})
Sie tun etwas Richtiges. Das Richtige tun Sie heute.
Aber das tun Sie viel zu spät und viel zu wenig. Das ist
leider die Botschaft Ihrer KWK-Novelle, die Sie hier
vorlegen.
({1})
Das hat leider eine gewisse Tradition. In Ihrem Koalitionsvertrag findet man das Thema KWK überhaupt
nicht, obwohl Sie vorher in der Großen Koalition einen
Anteil von 25 Prozent erreichen wollten. In Ihrem Koalitionsvertrag wird das Thema totgeschwiegen. In Ihrem
Energiekonzept von 2010 findet sich nur ein verwirrter
Nebensatz zum Thema KWK. Das Thema kommt bei Ihnen also einfach nicht vor.
Herr Bareiß, wenn Sie hier von einer Erfolgsgeschichte sprechen, dann ist das hinsichtlich der Technologie sowie der Unternehmen und der Firmen, die diese
Technologie anwenden, richtig. Es ist aber eine Armutsgeschichte, was den Ausbau der letzten Jahre angeht. Er
stagniert seit Jahren, weil Sie die Entwicklung verschlafen haben und weil Sie bei diesem Thema in der Vergangenheit nichts getan haben.
({2})
Das liegt daran, dass Sie das Potenzial nicht erkannt
haben. Langsam scheinen Sie zu merken, dass die
KWK-Technik mit ihren Speichermöglichkeiten genau
das ist, was wir brauchen, um die Schwankungen in der
Stromerzeugung im Bereich der Erneuerbaren - Sonne
und Wind - auszugleichen.
Es ist völlig richtig, dass Sie unsere Vorschläge, die
wir gemeinsam mit den Kollegen der SPD vor schon fast
drei Jahren gemacht haben, jetzt endlich aufgreifen und
zum Beispiel Wärmespeicher fördern. Aber nach dem
Prinzip „Das Richtige tun, aber dann zu wenig“ deckeln
Sie die Förderung und schränken Sie den Ausbau mit
vielen bürokratischen Hemmnissen ein, sodass im Endeffekt wieder viel zu wenig passieren wird.
Das Thema Flexibilisierung. Wenn wir die schwankende Stromerzeugung bei den Erneuerbaren ausgleichen wollen, dann muss das sehr flexibel und sehr
schnell gehen. Dann brauchen wir einen Flexi-Bonus,
um bestimmte Technologien voranzubringen. Sie machen aber wieder nichts. Sie haben es letztendlich wieder
nicht verstanden.
({3})
Ich sage Ihnen offen: Das eigentliche Potenzial der
Kraft-Wärme-Kopplung liegt bei den kleinen Anlagen.
In diesem Bereich tun Sie gar nichts.
({4})
In den nächsten Jahren müssen Millionen ineffiziente
Heizungsanlagen in Deutschland ausgetauscht werden.
Wir wollen, dass möglichst viele von denen auch Strom
erzeugen. Aber mit Ihrem Gesetz und Ihren Vorschlägen
wird genau das nicht passieren. Das ist viel zu wenig.
({5})
Ich sage Ihnen deutlich: Genau das bräuchten wir eigentlich.
Das Einzige, was Sie beim Thema Kraftwerke schaffen, ist, dass das Wirtschaftsministerium im ganzen
Land plakatiert: „Kraftwerke? Ja bitte!“ Überall sind solche Plakate zu sehen. Das präsentieren Sie uns. Aber da,
wo Sie handeln könnten, wo Sie nicht nur ein kleines
Schrittchen in die richtige Richtung, sondern im Sinne
der Energiewende richtig vorangehen könnten, da tun
Sie das nicht und da liefern Sie nicht in der angemessenen Art und Weise. Deshalb ist aus unserer Sicht dieser
Gesetzentwurf zur Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes nicht akzeptabel.
({6})
Für die Erhöhung der Stromerzeugung aus KraftWärme-Kopplung auf 25 Prozent gilt: Das kann nicht
die Herausforderung sein; die Kollegen haben es eben
schon gesagt. Andere Staaten, zum Beispiel Dänemark
und Finnland im skandinavischen Raum und die Niederlande, zeigen, dass es ganz andere KWK-Potenziale gibt.
Wir könnten uns manche Diskussion in Deutschland ersparen,
({7})
wenn wir eine ambitionierte KWK-Politik machen würden. Aber das kriegen Sie nicht hin.
Ich sage Ihnen auch, warum Sie es nicht hinkriegen:
Sie hängen nach wie vor an dem Bild der alten 1 000-Megawatt-Blöcke,
({8})
die Sie auf dem Rübenacker in Betrieb nehmen wollen.
({9})
Das haben auch eben die Redebeiträge gezeigt. Sie haben es nicht begriffen. Sie wollen weder bei der Photovoltaik noch bei der Kraft-Wärme-Kopplung, dass die
Menschen ihren Strom selber im Keller oder auf dem
Dach erzeugen und das selber dezentral und autonom in
die Hand nehmen.
Sie folgen nach wie vor dem alten Bild der Energiekonzerne. Genau das ist das fundamentale Problem bei
der Umsetzung der Energiewende, weshalb Sie sie auch
vor die Wand fahren werden.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank, Kollege Oliver Krischer. - Als Nächster
für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Otto. Bitte schön, Herr Staatssekretär.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Krischer, ich habe Ihrer Rede wie immer sehr
aufmerksam zugehört. Ich habe ein intellektuelles Problem: Sie bescheinigen uns, dass wir das Richtige tun,
({0})
finden dann aber nur mäkelnde Worte, und am Ende des
Weges lehnen Sie den Gesetzentwurf ab.
({1})
- Ja, der Entschließungsantrag.
Meine Damen und Herren, dies ist ein guter Tag für
die Energieversorgung und die Energiepolitik in
Deutschland. Mit der vorliegenden Novelle des KraftWärme-Kopplungsgesetzes wird ein sehr wichtiger Baustein der Energiewende vollzogen.
Wir hatten eben eine Aktuelle Stunde. Sie alle erinnern sich sicherlich noch: Von allen Oppositionsfraktionen wurde die Behauptung aufgestellt, bei der Energiewende geschehe nichts. Hier liegt ein Gesetzentwurf vor,
bei dem sogar Herr Krischer sagen muss - es muss ihm
schwergefallen sein -, dass das Vorhaben richtig ist;
({2})
es komme nur zu spät, und es gehe noch um Details.
Wir sind uns alle einig: Kraft-Wärme-Kopplung ist
eine Erfolgsstory. Kraft-Wärme-Kopplung hat den
höchsten Effizienzgrad bei der Wärme- und Elektrizitätsversorgung. Sie brauchen uns davon nicht zu überzeugen. Diese Bundesregierung tut etwas.
({3})
- Das mag ja sein, lieber Herr Kollege Hempelmann.
Lieber spät als gar nicht.
Ich darf daran erinnern: Auch die Opposition hat die
Möglichkeit, Änderungsanträge vorzulegen.
({4})
Nein, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dieser
Gesetzentwurf ist vernünftig. Er ist in der Anhörung von
der Branche und den Betreibern in einer Weise gelobt
worden, dass ich es als kleinliches Manöver empfinde,
dass Sie jetzt sagen, wir hätten dieses und jenes nicht berücksichtigt.
Wenn sogar die Fraktion Die Linke uns zubilligt, dass
dieser Schritt richtig und notwendig ist, um die Energiewende zu vollziehen, dann ist an dieser Stelle auch Anlass, auf Gemeinsamkeiten bei der Energiewende hinzuweisen.
({5})
Alle Fraktionen dieses Hauses haben gesagt: Wir machen uns auf den ambitionierten Weg, die Energiewende
zu vollziehen. Die Kraft-Wärme-Kopplung ist ein Beispiel dafür - ich bedanke mich für differenzierte Beiträge insbesondere des Kollegen Hempelmann -, welche
notwendigen Schritte jetzt zu gehen sind, um die Energiewende zu vollziehen. Jedem von uns muss klar sein,
dass es mit dem Abschalten der Kernkraftwerke nicht
getan ist. Vielmehr müssen wir einen langen Weg gemeinsam beschreiten.
({6})
Wir haben nun einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorgelegt. Dieses Gesetz ist richtig und wird uns voranbringen. Es stellt zugleich eine Aufforderung und eine
Einladung an die Oppositionsfraktionen dar, in der Energiepolitik eine nationale Herausforderung zu sehen und
hier nicht herumzumäkeln. Ich will an dieser Stelle deutlich sagen - ich erinnere nur an die Behandlung der
EEG-Novelle im Bundesrat; das geht übrigens auch an
die Adresse einiger CDU-Ministerpräsidenten -:
({7})
Es kann nicht angehen, dass wir alle die Energiewende
als gut und richtig befürworten und bereit sind, den entsprechenden Weg zu beschreiten, dass aber dann, wenn
die notwendigen Maßnahmen zur Verabschiedung anste21526
hen, an der einen oder anderen Stelle kleinlich herumgemäkelt oder sogar blockiert wird.
Ich fasse zusammen:
Erstens. Die Novelle zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz ist eine goldrichtige Maßnahme. Wir sind auf dem
richtigen Weg. Alle fünf Fraktionen dieses Hauses haben
zugebilligt, dass dieses Gesetz jedenfalls im Kern richtig
ist.
Zweitens. Der Geist der Zusammenarbeit bei der
Energiewende, dieses enge Zusammenstehen, wird auch
in den nächsten Monaten und Jahren erforderlich sein.
Sonst werden wir das nicht schaffen. Dieser Appell geht
nicht nur an die Fraktionen dieses Hauses, sondern auch
an die verehrten Damen und Herren des Bundesrates.
({8})
Lieber Herr Hempelmann, abschließend will ich sagen: Wir sind uns doch hoffentlich einig, dass wir - das
müssen Sie doch zugeben, wenn Sie ehrlich sind -, wenn
wir jetzt keine konsequente Regelung für die Solarvergütung finden - das ist dringend erforderlich -, keine
Spielräume mehr haben. Dann werden die gesamten
Kosten der Energiewende den Verbraucherinnen und
Verbrauchern aufgebürdet. Deswegen appelliere ich anlässlich eines Gesetzes, das große Zustimmung des Hauses und vor allen Dingen außerhalb des Hauses erfährt,
für mehr Gemeinsamkeit bei der Energiewende. Lassen
Sie das kleinliche Gezänk! Sehen Sie in der Energiewende eine nationale Aufgabe, die wir zu erfüllen haben!
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Franz
Obermeier. Bitte schön, Kollege Franz Obermeier.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Leider
reichen meine acht Minuten Redezeit nicht, um alle
Falschaussagen der Opposition in dieser kurzen Debatte
zu korrigieren.
({0})
Ich werde mich trotzdem bemühen, ein paar Dinge wieder ins Lot zu bringen.
Ich habe schon gedacht, Sie wollten eine Zugabe des
Präsidenten.
({0})
Das wäre auch nicht schlecht. Mindestens eine Minute bräuchte ich dazu.
({0})
Ich glaube, dass die Entstehungsgeschichte des parlamentarischen Verfahrens der Novelle zum Kraft-WärmeKopplungsgesetz ein gutes Beispiel dafür ist, wie sich
die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung die
einzelnen Schritte in der Energiewende vorstellen. Ich
stelle fest, dass wir im gesamten Verfahren die Kritik der
Opposition sehr wohl aufgenommen und ihre Vorschläge
teilweise realisiert haben. In den kommenden Monaten
werden wir Schritt für Schritt die Gesetze beschließen,
die wir brauchen, um die Energiewende zu einem Erfolg
zu führen.
Ironie des Schicksals ist, dass die Opposition in der
Debatte über den vorangegangenen Tagesordnungspunkt
noch die Regierung kritisiert und behauptet hat, es sei
absoluter Stillstand eingetreten - es hat gerade noch die
Forderung nach dem Rücktritt der Bundeskanzlerin gefehlt -, während wir nun im darauffolgenden Tagespunkt
in zweiter und dritter Lesung ein enorm wichtiges Gesetz, nämlich die KWK-Gesetzesnovelle, verabschieden.
({1})
Auf den Einwand „endlich“ will ich nur Folgendes sagen: Zehn Monate ist es her, dass die Energiewende beschlossen wurde.
({2})
Jetzt kommt permanent der Vorwurf der Opposition,
dass wir alles verschlafen und dass wir handlungsunfähig sind.
({3})
Sie können sich darauf verlassen, dass diese Regierung
und die sie tragenden Fraktionen tagtäglich an Lösungsansätzen arbeiten.
({4})
Wir werden in den nächsten Monaten Gesetz um Gesetz
vorlegen. Wir werden mit Ihnen die Dinge entwickeln,
weil die Energiewende tatsächlich eine Revolution ist
und weil wir die Energiewende nur dann erfolgreich gestalten können, wenn wir über die Parteigrenzen hinweg
die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger unseres
Landes erreichen.
({5})
Ich will noch ganz kurz auf einige technische Dinge
eingehen. Rolf Hempelmann hat schon herausgestellt,
dass das besondere Merkmal der Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen die Flexibilität ist. Diese Flexibilität ist mit
dem zunehmenden Ausbau der volatilen erneuerbaren
Energien von eminenter Bedeutung. Dazu muss man
aber der verehrten Öffentlichkeit auch erklären, dass
diese Flexibilität durch den Einsatz der Kraft-WärmeKopplungsanlagen nicht umsonst zu haben ist.
({6})
Die Investitionen, um diese Flexibilität zu erreichen,
sind erheblich. Deswegen ist es sehr wohl gerechtfertigt,
Aufschläge auf den produzierten Strom zu beschließen.
Die Flexibilität muss die Kraftwerke in die Lage versetzen, dass sie zwischen Stromführung und Wärmeführung wechseln können. Sie müssen weiterhin eine
spezielle Förderung für die Schaffung von Speicherkapazitäten erhalten.
({7})
Ich will auf den Kritikpunkt eingehen, dass die Förderung bei den Speicherkapazitäten, also den Behältern, zu
gering sei. Ich kann das Ganze nicht so richtig nachvollziehen; denn wir haben eine Obergrenze bei der Investitionssumme von 5 Millionen Euro. Wenn ich die Summe
durch die spezifische Förderung teile, dann komme ich
auf eine Kapazität der Wärmebehälter von 20 000 Kubikmetern. Verehrte Opposition, der wesentliche Unterschied zwischen Ihnen und den Koalitionsfraktionen bei
der Novelle zur Kraft-Wärme-Kopplung besteht darin,
dass wir sehr wohl ein Augenmerk darauf richten, wie
das Ganze bezahlt werden kann.
({8})
Es ist doch von entscheidender Bedeutung, dass die Bürgerschaft nicht durch die Mehrkosten überfordert wird.
Das bitte ich in die Überlegungen einzubeziehen.
({9})
Die Zuschlagserhöhungen für die Zertifikate wurden
nicht erwähnt. Die sind jetzt mit aufgenommen worden.
({10})
Dann möchte ich auf Herrn Krischer eingehen.
({11})
Lieber Herr Kollege, Sie haben wortwörtlich gesagt, für
die kleinen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen täten wir
gar nichts.
({12})
Da bitte ich doch, einen Blick in das Gesetz zu werfen.
Ich bitte, nachzusehen;
({13})
dann wird sich herausstellen, dass Ihre Aussage total
falsch ist. In der schwierigen Frage der Energiewende
sollte auch die Opposition etwas genauer hinsehen.
({14})
Sie halten uns vor, dass wir im Geiste noch immer an
den 1 000-MW-Kraftwerksblöcken hängen.
({15})
Lieber Herr Kollege Krischer, wenn ich Ihren Antrag anschaue, stelle ich fest, dass alle Maßnahmen, die Sie fordern, auf deutliche Mehrkosten für den Bürger hinauslaufen. Wir müssen der Öffentlichkeit sagen, dass die
Politik der Grünen dazu führt, dass das Ganze enorm
viel kostet.
({16})
Kolleginnen und Kollegen, wir fördern nicht nur die
Wärmespeicher stärker, sondern auch die Wärmenetze.
Bei den Wärmenetzen erhöhen wir die Förderung auf
30 Prozent; der maximale Förderbetrag je Projekt wird
auf 10 Millionen Euro angehoben und damit verdoppelt.
Auch da kann man sagen: Warum vervierfachen wir das
Ganze nicht? Oder: Warum hängen wir nicht noch ein
paar Nullen dran? - Es ist schwierig, die Dinge herüberzubringen, wenn es so viel Geld kostet.
Zum Schluss. Die Kraft-Wärme-Kopplung wird einen
wesentlichen Beitrag zur effizienten Nutzung von Ressourcen leisten. Wir, CDU/CSU und FDP, werden unseren Beitrag dahin gehend leisten, dass wir eine gute Weiterentwicklung sowohl bei der Kraftwerkstechnologie
als auch bei der Klein-KWK-Technologie ermöglichen.
Ich stimme zu, dass die Klein-KWK eine ganz wesentliche Rolle spielen wird.
({17})
Wenn ich das Gutachten, die Evaluation, richtig gelesen habe, würden wir ohnehin auf einen Anteil des
KWK-Stroms von 20 Prozent kommen. Mit diesen Verbesserungen sind die Aussichten hervorragend, dass wir
unser Ziel erreichen, den Anteil des KWK-Stroms in den
Netzen bis 2020 auf 25 Prozent zu steigern.
Herzlichen Dank.
({18})
Vielen Dank, Kollege Franz Obermeier.
Ich schließe nun die Aussprache.
Vizepräsident Eduard Oswald
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9617,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/8801 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Damit ist
der Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9618. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten und die Linksfraktion. Gegenprobe! - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Bündnis 90/
Die Grünen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9749. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion. Gegenprobe! Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Fraktion der Sozialdemokraten. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun
zum Tagesordnungspunkt 6:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Iran: Sanktionsspirale beenden - Kriegsgefahr stoppen - Neuen Anlauf zum umfassenden Dialog wagen
- Drucksache 17/9065 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat nun für die
Fraktion Die Linke unser Kollege Jan van Aken. - Bitte
schön, Kollege Jan van Aken.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Genau in
diesen Minuten finden in Bagdad die Gespräche mit dem
Iran über das Atomprogramm statt. Ich glaube, man
kann gar nicht überbetonen, wie wichtig ein Erfolg dieser Gespräche ist. Es geht hier im Moment um Krieg
oder Frieden. Im Moment steht immer noch die Drohung
im Raum, dass die iranischen Atomanlagen bombardiert
werden. Wenn das passiert, dann kommt es ganz sicher
zu einem Flächenbrand in der ganzen Region, den kein
Mensch mehr kontrollieren kann. Diesen Krieg müssen
wir unbedingt stoppen.
({0})
Ich möchte vorab auf die Faktenlage eingehen. Es
geht um den Vorwurf, dass der Iran im Moment an der
Atombombe baut. Der Hintergrund dafür ist dieser Bericht der Internationalen Atomenergie-Organisation,
IAEO, aus dem letzten November. Ich habe mir diesen
Bericht genau angesehen. Ich muss dazusagen: Ich selbst
habe früher bei den Vereinten Nationen als Biowaffeninspektor gearbeitet. Ich selbst habe solche Berichte geschrieben. Ich habe mir diesen Bericht von vorne bis
hinten durchgelesen, jedes einzelne Wort, und ich kann
Ihnen versichern: Er enthält kein einziges Wort über ein
aktuelles Atomwaffenprogramm des Iran, nichts. Er enthält sehr viele Fakten - ich bezweifele sie nicht -, die
sich alle auf ein Atomwaffenprogramm im Iran vor dem
Jahr 2003 beziehen. Dieser Bericht selbst besagt: Dieses
Programm wurde im Jahr 2003 eingestellt. Für die neun
Jahre danach bis hin zur Gegenwart besagt dieser Bericht: Es gibt aktuell keinen Hinweis auf ein iranisches
Atomwaffenprogramm.
Der Leiter der IAEO war hier in Berlin. Als wir ihn
nach einem solchen Programm gefragt haben, hat er gesagt: Nein, die IAEO hat keine eigenen Hinweise darauf,
dass im Iran in den letzten neun Jahren versucht wurde,
Atomwaffen herzustellen. Das deckt sich mit der Einschätzung der amerikanischen Geheimdienste. Auch sie
sagen: Wir glauben, das iranische Atomwaffenprogramm wurde 2003 eingestellt.
({1})
Das sind die Fakten.
Ich weiß, Sie haben sämtliche Überschriften in der
Weltpresse im November gelesen. Dort hieß es: Der Iran
steht kurz davor, die Atombombe herzustellen. - Das
stimmt alles nicht. Ich glaube, Sie sollten diesmal weniger der Presse, sondern mehr dem Bericht der IAEO
glauben.
({2})
Die Frage ist natürlich: Was heißt das jetzt für die aktuelle Politik? Natürlich ist das Misstrauen gegenüber
dem Iran berechtigt. Dieses Misstrauen habe ich auch.
Andersherum gilt natürlich ebenfalls: Das Misstrauen
des Iran gegenüber dem Westen ist berechtigt. Auch dafür gibt es viele Gründe. Wenn wir aus dieser Situation
herauskommen wollen, wenn die Gespräche ein Erfolg
sein sollen, dann brauchen wir eine Wiederherstellung
des Vertrauens auf beiden Seiten.
Das Falscheste, was man im Moment machen kann,
was die Bundesregierung macht - wo ist eigentlich ein
Vertreter des Außenministeriums?
({3})
Offensichtlich ist die Bundesregierung bei dieser IranDebatte nicht vertreten -, ist, die Sanktionen immer weiter zu verschärfen. Ich verweise auf das für den Sommer
geplante Ölembargo und darauf, dass alle Finanztransaktionen gegenüber dem Iran eingefroren werden sollen.
Damit schrauben Sie die Sanktionen auf den höchstmöglichen Stand überhaupt. Glauben Sie, Sie können damit
Vertrauen schaffen? Glauben Sie, Sie können damit Gespräche zum Erfolg führen?
Wer jetzt das Argument äußert: „Na ja, ohne den
Druck wäre der Iran überhaupt nicht gesprächsbereit“,
der lügt sich komplett in die Tasche. Ein solcher Weg hat
noch nie funktioniert, und er wird auch hier nicht funktionieren. Wenn man den Druck auf ein Land von außen
extrem erhöht, dann wird dort - das ist doch immer so die Wagenburg aufgebaut und setzen sich die Hardliner
durch. Diejenigen im Iran, die Gespräche wollen, haben
dann kaum noch eine Chance, sich durchzusetzen. Noch
haben sie eine Chance. Im Moment setzen sich in Teheran wie in den USA diejenigen durch, die gesprächsbereit sind. Aber wenn Sie nicht bereit sind, die Sanktionen
zurückzufahren, dann werden Sie keinen Erfolg bei den
Gesprächen erzielen, dann wird es den Angriff auf den
Iran geben, dann werden wir Krieg haben. Das können
Sie nur verhindern, wenn Sie die Sanktionen zurücknehmen.
({4})
Es gibt ein zweites, für mich sehr starkes Argument
gegen die Sanktionen. Ich würde hier heute eigentlich
lieber über die Menschenrechtssituation und über den
Demokratisierungsprozess im Iran reden. Vor zwei Jahren waren Millionen von Menschen in Teheran auf der
Straße, um gegen Ahmadinedschad zu demonstrieren.
Und jetzt? Im März waren wieder Wahlen in Teheran.
Kein einziger Mensch traut sich mehr auf die Straße. Natürlich ist die Wagenburg aufgebaut. Natürlich ist der
Druck nach innen jetzt so groß, dass jeder, der den Mund
aufmacht, gleich ein Landesverräter ist, dem die Todesstrafe droht. Wenn Sie den Demokratisierungsprozess
unterstützen wollen, auch dann müssen Sie diese Sanktionen zurücknehmen.
({5})
Die einzige Chance, bei den Gesprächen in Bagdad in
diesen Tagen sowie in den nächsten Wochen und Monaten zum Erfolg zu kommen, ist, dass sich auch die Bundesregierung bereit erklärt, Druck herauszunehmen und
das vertrauensbildende Angebot zu machen: Wir nehmen die Sanktionen zurück; dafür lässt der Iran die Inspektoren in andere Anlagen hinein. - Das wäre der
beste Weg zum Frieden.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Für den Iran gilt
das schon jetzt. Deutschland sollte aber zum Beispiel
auch nach Israel, das gerade damit droht, den Iran anzugreifen, keine Waffen mehr exportieren. Deutschland
sollte auch nicht in irgendein anderes Land der Welt
Waffen liefern.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({6})
Vielen Dank, Kollege van Aken. - Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Joachim Hörster. Bitte schön, Kollege Joachim Hörster.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer den
Antrag der Fraktion Die Linke vom 21. März 2012 liest,
der stößt auf das gesamte Friedensarsenal, das immer
wieder heruntergebetet wird, ohne dass man auf die
Situation konkret Bezug nimmt, in der wir uns befinden.
Der Iran hat 1968 den Atomwaffensperrvertrag unterschrieben. Mit dieser Unterschrift hat sich der Iran verpflichtet, seine Atomanlagen im Hinblick auf friedliche
Nutzung kontrollieren zu lassen. Der Iran hat in den
letzten Jahren kontinuierlich verweigert, dass diese
Kontrolle stattfindet. Er hat den Zugang zu Atomanlagen, bei denen vermutet wird, dass darin militärische
Einrichtungen hergestellt werden, untersagt, hat ihn also
nicht zugelassen. Die Inspektoren der IAEO sind im
Januar 2012 - das war das letzte Mal - erfolglos im Iran
gewesen, weil der Iran wieder nicht zugelassen hat, dass
die kritischen Anlagen besichtigt werden.
Von daher liegt das Problem nicht darin, dass man mit
dem Iran unbotmäßig umgeht, sondern darin, dass der
Iran seine internationalen Verpflichtungen aus dem
Atomwaffensperrvertrag nicht einhält.
({0})
Nicht mehr und nicht weniger wird verlangt, als dass der
Iran diese Verpflichtungen einhält.
Eine vertrauensbildende Maßnahme ist, wenn der Iran
seine Anlagen öffnet, sie von den Inspektoren besichtigen lässt und nachprüfen lässt, was in diesen Anlagen
geschieht. Dagegen hat sich der Iran immer gewehrt.
Es ist auch nicht so, dass keine Gesprächsbereitschaft
bestünde. Bereits am 14. Juni 2008 hat es einen Vorschlag
von China, Deutschland, Frankreich, der Russischen Föderation, dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten
Staaten und der Europäischen Union an die Islamische
Republik gegeben, in dem in 31 Spiegelstrichen dem Iran
auf unterschiedlichen Feldern Zusammenarbeit angeboten
wurde, wenn man das Problem mit den Inspektionen in
den Atomanlagen lösen kann. Es ist angesprochen worden
eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie, in
zahlreichen politischen Fragen, in wirtschaftlichen Fragen, bei der Energiepartnerschaft, in der Landwirtschaft
und vieles andere mehr, was darauf ausgerichtet war, den
Iran auch wirtschaftlich nach vorne zu bringen und Ent21530
wicklungsmöglichkeiten im wirtschaftlichen und industriellen Bereich zu schaffen.
Auf diese Verhandlungsangebote ist der Iran nicht
eingegangen; im Gegenteil: Er hat gedroht, die Straße
von Hormus unpassierbar zu machen und damit den Erdöltransport durch die Straße von Hormus in die Abnehmerländer geradezu zu behindern. Wer das androht und
sich jetzt beschwert, dass wegen der Nichtkontrollierbarkeit der Atomanlagen eine Sanktion kommt, argumentiert doppelbödig; denn wer dieses Mittel selbst in Anspruch nehmen will, um den Westen und die anderen
Unterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrags unter Druck zu setzen, darf sich nicht darüber beschweren,
wenn ein Ölembargo zu einem ähnlichen Ergebnis führt,
allerdings mit Rückwirkung vorwiegend auf die iranische Wirtschaft selbst.
Niemand in dieser Region will einen Krieg haben.
Niemand! Ich kenne keinen, der einen Krieg haben will.
({1})
Wir sind mit unserer Parlamentariergruppe in Oman, in
Abu Dhabi und im Libanon gewesen und haben natürlich gefragt, wie man in den arabischen Ländern die Situation gegenüber dem Nachbarn Iran sieht. Natürlich
haben sie alle Bedenken. Sie alle befürchten, dass der
Iran versucht, eine Hegemonialmacht zu werden. Was
sie auf alle Fälle nicht wollen, ist eine bewaffnete Auseinandersetzung. Das ist auch die Überschrift, unter der
die Bundesrepublik Deutschland seit Entstehen dieses
Konflikts handelt. Die Bundesrepublik Deutschland ist
einer der härtesten Verfechter einer friedlichen Lösung
dieses Konflikts und ist gegen jeden Einsatz von Waffen
in diesem Bereich. Das ist mehrfach verkündet worden.
Deswegen gibt es auch keinen Anlass, die Bundesregierung aufzufordern, auf eine bewaffnete Auseinandersetzung zu verzichten.
({2})
Wir wollen eine friedliche Lösung. Deswegen haben
wir uns immer wieder bemüht, auch wenn es manchmal
Konflikte mit Alliierten gab, mit dem Iran im Gespräch
zu bleiben. Wir sind der Auffassung, dass dieser Weg
fortgesetzt werden muss. Während wir hier diskutieren,
finden in Bagdad Verhandlungen mit dem Iran über eine
mögliche Lösung des Problems statt. Es sieht so aus, als
ob man dort weiterkommt. Jedenfalls hat die IAEO ein
Abkommen in Aussicht gestellt, weil man mit Teheran
verhandelt habe und das entsprechend in Erwägung gezogen werde.
Deswegen bin ich der Auffassung: Wir sollten jetzt,
gerade in dieser Zeit, in der die Verhandlungen laufen,
keine einseitigen Schritte unternehmen, die unsere Position schwächen oder den Eindruck erwecken, als sei das
nicht ernst gemeint.
Herr Kollege Jochen Hörster, es ist bekannt, dass Sie
sehr schnell reden. Ich probiere es trotzdem: Der Kollege Jan van Aken möchte Ihnen noch eine Zwischenfrage stellen. Sie haben Ihr Manuskript aber schon in der
Hand. Wollen Sie die Frage noch ermöglichen?
Ich lasse sie natürlich zu.
Bitte schön, Kollege Jan van Aken.
Vielen Dank. - Noch einmal: Ich stimme Ihnen zu,
dass das Misstrauen berechtigt ist. Aber für die heutige
Debatte und die künftigen Debatten sind mir die Fakten
ganz wichtig. Sie haben gesagt: Der Iran verstößt gegen
seine Verpflichtung nach dem NPT, dem Nichtverbreitungsvertrag. Mich interessiert, ob Sie dafür ein einziges
konkretes Beispiel haben. Sie haben gesagt, dass der Iran
im Frühjahr die Besichtigung einer Anlage verweigert
hat. Das ist allerdings keine Atomanlage. Nach dem
NPT ist der Iran nicht verpflichtet, Parchin inspizieren
zu lassen. Ich bin sehr dafür, dass Parchin inspiziert
wird. Ich möchte aber bei den Fakten bleiben. Kennen
Sie ein einziges Beispiel, wo die Verpflichtungen aus
dem NPT nicht erfüllt worden sind? Ich muss dazu sagen: Der Iran hat das Zusatzprotokoll, das erweiterte Inspektionen zulässt, nicht ratifiziert. Daraus erwachsen
dem Land keine Verpflichtungen. Es besteht nur die generelle Verpflichtung, Inspektionen von Atomanlagen
zuzulassen. Die bezieht sich nicht auf Raketenanlagen.
Wenn Sie das behaupten, nennen Sie mir ein Beispiel.
Ansonsten bitte ich Sie, bei den Fakten zu bleiben.
({0})
Herr Kollege van Aken, ich bemühe mich ernsthaft,
bei den Fakten zu bleiben. Deswegen habe ich bei der
Fülle der Einzelheiten ein bisschen Papier mitgenommen. Der Iran hat zum ersten Mal im Jahr 2006 die Inspektionen verweigert. Wenn Sie sagen, der Atomwaffensperrvertrag würde nur zulassen, dass die zivilen
Einrichtungen kontrolliert werden dürfen und die militärischen Einrichtungen nicht, dann wäre genau das Gegenteil von dem erreicht, was erreicht werden soll; denn
der Atomwaffensperrvertrag soll gerade verhindern, dass
kerntechnische Anlagen missbraucht werden, um auch
Kriegswaffen herstellen zu können. Deswegen gibt es
die Kontrollen. Deswegen gibt es die Inspektionen. Der
Iran muss sich fragen lassen, wenn er die Inspektionen in
bestimmten Bereichen nicht zulässt, warum er das tut.
Das ist eine Verletzung des Atomwaffensperrvertrages.
Daran sollte man nicht vorbeireden.
Herr Präsident, ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank. - Sie verzichten noch auf weitere Redezeit. Das ist angesichts des langen Tages sicher auch
dankbar von allen vermerkt.
Vizepräsident Eduard Oswald
Nächster Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Rolf Mützenich. Bitte schön, Kollege Rolf Mützenich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In erster Linie schaden nicht internationale
Sanktionen dem iranischen Volk, sondern eine inkompetente Regierung. Ich glaube, dass wir dies an erster Stelle
sagen müssen. Herr Kollege van Aken, insbesondere
Korruption, Gruppenegoismus und Repression schaden
dem iranischen Volk.
({0})
Ich finde, eine solche Aussage sollte vom Deutschen
Bundestag getroffen werden. Ein Land mit außergewöhnlichen Menschen und einer bedeutenden Kultur
und Geschichte hat besseres verdient als diese Regierung
und dieses Regime.
({1})
Deswegen will ich noch einmal sagen: Sanktionen
sind kein Selbstzweck, wie Sie es hier behauptet haben.
Sanktionen gehören aber immerhin zum diplomatischen
Werkzeugkasten. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat mehrere Sicherheitsratsresolutionen auf der
Grundlage von Berichten der Internationalen Atomenergiebehörde beschlossen. Diese spricht von offenen Fragen, die darauf hindeuten, dass das Atomprogramm offensichtlich keine friedliche Nutzung beinhaltet. Die
Fragen beziehen sich einmal auf die Zeit bis zum Jahr
2003 - Herr Kollege van Aken, das gehört zur Redlichkeit -, aber auch darüber hinaus. Der jüngste Bericht
nimmt die Entwicklung von Forschungen an einem
Sprengkörper in den Fokus, fragt natürlich insbesondere
- das sollten wir, die wir uns insbesondere mit Blick auf
die Raketenabwehr Sorgen machen, auch tun -, warum
der Iran möglicherweise weitreichende Raketen entwickelt. All das gehört zu einer redlichen Debatte.
Deswegen sage ich zu den Sanktionen: Zu den Sanktionen gehören Verhandlungen und Anreize. Herr Kollege van Aken, ich hätte mich gefreut, wenn Sie gesagt
hätten: Das ist der Konsens des gesamten Deutschen
Bundestages. - Was tut die Bundesregierung seit 2001
denn anderes? In den Zeiten der rot-grünen Koalition ist
erstmals eine solche Initiative mit den Regierungen anderer Länder entwickelt worden. Alle nachfolgenden
Regierungen haben diese Vorgehensweise, das diplomatische Mittel in den Fokus zu stellen, aufgenommen, um
eine notwendige Verhaltensänderung im Iran zu erreichen. Auch wir Sozialdemokraten - das haben wir von
dieser Stelle aus immer gesagt, und die Zeit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder ist dafür ein gutes Beispiel lehnen militärische Eingriffe ab.
Die wirklich interessante Debatte findet derzeit in Israel statt. Sie verlieren kein Wort dazu, dass gerade israelische Wissenschaftler und Politiker sagen: Militärische Drohungen oder militärische Eingriffe führen
möglicherweise genau zum Gegenteil. - Das sollten wir
in dieser Debatte aber genauso betonen wie die Tatsache,
dass wir diese Diplomatie benötigen.
Ebenfalls übersehen haben Sie die Situation, die wir
im März dieses Jahres erlebt haben. Es fand ein verbaler
Schlagabtausch statt, der sich immer stärker aufgeschaukelt hatte und bei dem sich angesichts der militärischen
Drohungen - nicht nur vonseiten der israelischen Regierung, sondern bis in die USA hinein - das Fenster der
Diplomatie beinahe geschlossen hätte. Nach meinem
Dafürhalten war es Präsident Obama, der es mit einem
diplomatischen Meisterstück geschafft hat, dieses Fenster der Diplomatie für die nachfolgenden Wochen und
Monate wieder für Gespräche zu öffnen.
Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie alles dafür unternimmt - sowohl in Istanbul, aber auch
heute in Bagdad -, möglicherweise mit neuen Vorschlägen diejenigen Elemente in die Verhandlungen hineinzubringen, die wir brauchen. In diesem Zusammenhang
sollten wir festhalten, dass der entscheidende Träger der
sogenannten politischen Gewalt im Iran, der religiöse
Führer, im März zumindest darauf hingewiesen hat, dass
in diesen Verhandlungen möglicherweise ein neues Momentum liegt.
Deswegen bitte ich Sie: Reden Sie nicht alles
schwarz; man kann das Ganze ja in einem gewissen
Sinne grauzeichnen. Nach meinem Dafürhalten haben
wir zum jetzigen Zeitpunkt auf jeden Fall die Chance,
uns mit friedlichen, diplomatischen Mitteln, die sich gegenseitig verstärken, aufeinander zuzubewegen. In diesem Zusammenhang ist die Bringschuld vonseiten des
Iran unerlässlich, auf die offenen Fragen, die Herr
Amano in dem Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde angesprochen hat, entsprechende Antworten zu
geben. Das habe ich eben wiederholt. Ein entscheidender
Punkt ist jedoch - das ist unsere gemeinsame Haltung
hier im Deutschen Bundestag -, dass wir den Iran auffordern, die Infragestellung Israels und die Leugnung
des Holocaust ebenso zurückzunehmen,
({2})
denn das würde die Möglichkeit für friedliche und diplomatische Gespräche befördern.
Es besteht ebenso wenig Dissens darüber, dass auch
der Iran legitime Sicherheitsinteressen hat, die berücksichtigt werden müssen. Darauf deutet insbesondere die
lange Geschichte hin, sowohl im Hinblick auf die Beziehungen zu den USA, aber auch innerhalb des regionalen
Umfelds in den Beziehungen zu anderen, damals noch
starken Ländern. Diese Hintergründe können eine Belastung für politische Gespräche bedeuten. Deswegen wäre
es richtig, nicht immer wieder das Wort vom Regime
Change im Munde zu führen - wie es derzeit auch im
amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von einer
Partei, die sich darum bemüht, ab November wieder den
Präsidenten zu stellen, getan wird -, sondern davon abzulassen. Das würde den Weg zu konstruktiven Gesprächen ebenso frei machen wie die Idee, ein regionales Sicherheitssystem in diese Region mit einzubringen.
Ich will zum Schluss meiner Rede noch auf einen aktuellen Fall in Deutschland hinweisen. Hier sollten wir
uns gegenüber der iranischen Regierung, aber auch gegenüber dem Regime insgesamt positionieren: Die Bedrohung hier lebender Iraner ist nicht hinnehmbar.
({3})
Weder eine Fatwa noch eine „rechtliche Verfolgung“ gegenüber dem iranischen Musiker Shahin Najafi und die
gestern stattgefundenen Demonstrationen vor der Deutschen Botschaft in Teheran sind hinnehmbar. Sie sind
genauso zu verurteilen wie andere Dinge, die hier aufgekommen sind. Ich finde, dass die Bundesregierung zusammen mit der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen alles dafür unternehmen sollte, dass die Sicherheit
des hier lebenden Iraners gewährleistet wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Rolf Mützenich. - Nun für die
Fraktion der FDP unser Kollege Djir-Sarai. Bitte schön,
lieber Herr Kollege.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es freut
mich, dass das wichtige Thema Iran gerade in dieser Woche auf der politischen Agenda steht und hier im Plenum
behandelt wird.
({0})
- Ja, ja. - Damit wird deutlich, welche Bedeutung das
Land in der internationalen Politik hat, nicht nur für die
Stabilität in der Region, sondern auch für die Zukunft
der gesamten globalen Sicherheitsarchitektur.
Der vorliegende Antrag lautet „Iran: Sanktionsspirale
beenden - Kriegsgefahr stoppen - Neuen Anlauf zum
umfassenden Dialog wagen“. Ich habe mich sehr intensiv mit Ihrem Antrag beschäftigt. Ja, es ist sehr wichtig,
einen kritischen Dialog mit dem Iran zu führen, ja, es ist
sehr wichtig, die Kriegsgefahr, einen militärischen Konflikt, zu verhindern. Die Sanktionsspirale beenden - das
hat der Iran selbst in der Hand. Die Sanktionen können
aufgehoben werden, wenn der Iran die richtigen politischen Schritte macht
({1})
und wenn er das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft zurückgewinnt.
({2})
Machen Sie sich einmal klar, in welcher Lage wir uns
zu Beginn des Jahres befanden. Noch nie war die Gefahr
einer militärischen Eskalation am Persischen Golf so
präsent. Der internationalen Gemeinschaft blieb keine
andere Möglichkeit, als einen Militärkonflikt mit allen
Mitteln zu verhindern. Ein Militärkonflikt zwischen
Israel und Iran wäre eine Katastrophe für den gesamten
Nahen und Mittleren Osten. Ein Krieg dort hätte für die
gesamte Region dramatische Konsequenzen und einen
starken negativen Einfluss auf die Entwicklung in der
arabischen Welt. Auch unser Engagement in Afghanistan wäre übrigens gefährdet. Wir müssen eines sehen:
Die Sanktionen waren und sind Notwendigkeiten der
Realpolitik. Sie dienen dazu, dem Iran die Ernsthaftigkeit der internationalen Bemühungen um größere Stabilität und Sicherheit in der Region vor Augen zu führen.
({3})
Offenbar hat der harte Kurs Wirkung gezeigt. Der
Iran scheint derzeit offener und verhandlungsbereiter zu
sein denn je. Man kann natürlich immer über die Folgen
von Sanktionen diskutieren. Es ist klar, dass die Sanktionen den Iran hart treffen, und es ist auch völlig klar, dass
die Sanktionen das iranische Volk hart treffen. Dennoch
hatten wir keine andere Wahl. Der Iran ist auf dem Weg
in die völlige politische und wirtschaftliche Isolation,
wenn er nicht kooperiert und beim Atomprogramm nicht
für Transparenz sorgt. Eine Verminderung des wirtschaftlichen Drucks zum jetzigen Zeitpunkt könnte dazu
führen, dass die neue Offenheit und Verhandlungsbereitschaft des Iran erneut abflachen würden. Machen wir
uns nichts vor: Der diplomatische Druck ist derzeit die
beste Möglichkeit, den Iran an konstruktive Lösungen
des Konflikts zu binden.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat immer betont, dass
sich die Herausforderungen nicht allein auf die Atomfrage beschränken. Das haben wir in der Vergangenheit
immer wieder deutlich gemacht. Der Iran stellt uns in
doppelter Hinsicht vor Herausforderungen. Die Menschenrechtslage im Land und das iranische Atomprogramm stehen im Fokus unserer Politik. Es ist anscheinend nötig, das immer wieder zu erklären.
Als Vorsitzender der Deutsch-Iranischen Parlamentariergruppe komme ich gelegentlich mit iranischen Abgeordneten ins Gespräch. Eines mache ich dabei immer
deutlich: Für uns sind Menschenrechte - das sage ich bei
allen Gesprächen, das sage ich auch in Teheran ganz offen - universell und unteilbar. Wo immer Menschenrechtsverletzungen stattfinden, ist es unsere Aufgabe,
nicht wegzuschauen, sondern diese zu kritisieren und
auch die konkreten Probleme zu thematisieren.
({4})
Der Streit um das Atomprogramm und die Menschenrechtslage im Land hängen zusammen. Die internationale Gemeinschaft fordert zu Recht mehr Transparenz
und Kooperation. Der Iran gefährdet nicht nur die Sicherheit in der Region, sondern auch die gesamte globale Sicherheitsstruktur. Ja, wir zweifeln an der rein zivilen Natur des iranischen Nuklearprogramms. Immer
wieder verstößt der Iran gegen internationale Regeln und
Normen. Die Führung des Landes sendet widersprüchliBijan Djir-Sarai
che Signale an die internationale Gemeinschaft. So eskaliert die Situation immer weiter. Das Regime muss unbedingt seine Glaubwürdigkeit wiederherstellen, damit wir
es als verlässlichen Partner behandeln können.
Nur wenige politische Systeme der Welt sind so vielschichtig und komplex wie das politische System im
Iran. Das macht es uns häufig schwer, einzuschätzen,
nach welchen Prinzipien im Iran Entscheidungen getroffen werden und vor allem, wer die entscheidenden politischen Akteure sind, die dort die harten Entscheidungen
treffen. Wir haben aber immer auf Verhandlungen mit
dem Iran gesetzt. Das wurde bereits im Koalitionsvertrag so festgelegt. Kompromisslösungen wurden und
werden immer angeboten. Sie wurden jedoch nicht angenommen. Auch der Bericht der IAEO vom November
letzten Jahres hat dies, Herr Kollege, in aller Deutlichkeit gezeigt.
Als Reaktion auf das Nichteinlenken des Iran folgten
eben Sanktionsmaßnahmen. Selbst wenn alle Flüsse dieser Welt einmal zusammenkommen, wie der persische
Dichter sagt: Solange der Iran eine vollständige Kooperation und Transparenz verweigert, können diese Sanktionen auch nicht beendet werden.
({5})
Sobald der Iran weitere Kooperation signalisiert - das
muss man genauso deutlich sagen -, können die Sanktionen jederzeit beendet werden. Wir hoffen weiterhin auf
einen Dialog mit dem Iran und auf eine friedliche Klärung der Nuklearfrage.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
machen, Herr Kollege van Aken. Die Diskussion und der
Konflikt der internationalen Gemeinschaft mit dem Iran
sind hart. Es ist aber richtig, gegenüber der iranischen
Regierung hart zu bleiben. Jedoch wäre es falsch, meine
Damen und Herren, den Iran selbst und vor allem das
iranische Volk zu dämonisieren. Im Iran leben heute
Millionen gut ausgebildete und weltoffene junge Frauen
und Männer. Es ist die Entscheidung der Iraner selbst, in
welchem System sie leben wollen. Diese Entscheidung
können und wollen wir nicht für sie treffen.
Im Iran gibt es heute aber bereits eine Zivilgesellschaft, von der viele Länder in der arabischen Welt noch
weit entfernt sind - übrigens auch viele Länder, die wir
inzwischen als strategische Partner bezeichnen.
({6})
Eine kluge Außenpolitik bedeutet daher, Instrumente zu
entwickeln, damit diese große Kulturnation wieder in die
Mitte der internationalen Gemeinschaft zurückkommt
und sich nicht durch Isolation weiter radikalisiert.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Herr Kollege Djir-Sarai. - Nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere
Kollegin Kerstin Müller. Bitte schön, Frau Kollegin
Kerstin Müller.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Noch nie in den vergangenen zehn Jahren war im Hinblick auf den Iran - das muss man sicher sagen - die Gefahr einer militärischen Eskalation so groß. Wie andere
hier verfolge ich das schon seit vielen Jahren. Gleichzeitig muss man auch sagen, dass die aktuellen Gespräche
zwischen dem Iran und den fünf ständigen Mitgliedern
des Sicherheitsrates sowie Deutschland hoffnungsvoll
stimmen, weil sie in substanzielle Verhandlungen münden können. Sie werden allerdings von den schärfsten
Sanktionen durch die USA, Kanada und die EU begleitet, die jemals verhängt wurden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken,
ausgerechnet in der jetzigen Situation, wo der DoubleTrack-Ansatz - also der zweigleisige Ansatz - der internationalen Gemeinschaft aus Sanktionen einerseits und
Gesprächsangeboten andererseits doch ganz offensichtlich Wirkung zeigt,
({0})
fordern Sie, die Sanktionen ohne Gegenleistung aufzuheben. Ich meine, dass das völlig kontraproduktiv wäre.
({1})
Warum ist Ihrer Meinung nach der Iran an den Verhandlungstisch zurückgekehrt? Ich glaube - so hart das
klingen mag -, weil die harten Finanz- und Ölsanktionen
das Regime in Teheran ganz offensichtlich schwer unter
Druck setzen.
({2})
- Nein, ich träume nicht. - Sie sagen nicht, was der Iran
denn für einen Grund hätte, an den Verhandlungstisch zu
kommen, und machen keinen einzigen Vorschlag dazu.
Welchen Grund gäbe es denn? Sie sind - so steht es in
Ihrem Antrag, ich habe ihn sehr genau gelesen - ja sogar
der Auffassung, dass es keinen Grund für Verhandlungen gibt, weil gar nichts passiert ist. Die IAEO habe seit
2003 gar keine Hinweise auf ein Atomwaffenprogramm
des Iran mehr. Das alles sei Lug und Trug, eine Erfindung des Westens, um unter diesem Vorwand quasi militärisch einen Regime Change im Iran herbeiführen zu
können. Sie haben das heute nicht gesagt, aber Sie
schreiben
({3})
- hören Sie doch einmal zu, das steht in Ihrem eigenen
Antrag -, wir würden uns am Vorabend des Irakkrieges
2003 befinden. Dazu muss ich sagen: Man muss schon
ideologisch auf beiden Augen blind sein, um einen der21534
Kerstin Müller ({4})
art absurden Vergleich in die Welt zu setzen. Damit hat
die jetzige Situation nichts zu tun.
({5})
Das ist die Argumentationslogik Ihres Antrags.
Tatsache ist, dass die IAEO seit 2003 keine neuen Beweise, keine „smoking gun“ gefunden hat. Wie aber soll
die IAEO auch Beweise für oder gegen ein mögliches
Atomwaffenprogramm finden, wenn sie die brisanten
Anlagen nicht kontrollieren darf? Deshalb - da widerspreche ich Ihrem Antrag auch - ist die IAEO nun einmal auf Informationen und Hinweise nationaler Geheimdienste angewiesen.
Es ist völlig klar: Iran hat nach dem Atomwaffensperrvertrag das Recht - einer Grünen tut es weh, das zu
sagen; aber das ist so - auf zivile Nutzung der Atomenergie; aber es hat auch die Pflicht, umfassende Kontrollen der IAEO zuzulassen,
({6})
und muss deshalb endlich das entsprechende Zusatzprotokoll des Vertrages ratifizieren und umsetzen. Das sollten wir, meine ich, hier doch alle gemeinsam fordern.
({7})
Eben haben Sie herumgeeiert.
({8})
Ich bin zuversichtlich, dass die Gespräche der IAEO
am Montag in eine entsprechende Vereinbarung münden. Die letzten Berichte der IAEO - diesbezüglich widerspreche ich Ihnen ausdrücklich - geben sehr wohl
Anlass zur Sorge. In ihnen werden erstmals sehr klare
Hinweise für eine militärische Dimension des Atomprogramms aufgeführt.
({9})
- Ich nenne sie: zum Beispiel die Einbunkerung sensitiver Bereiche und Anlagen sowie der Ausbau des Raketenprogramms, insbesondere entsprechender Trägersysteme.
({10})
Vor allem verfügt Iran inzwischen - das wurde hier noch
nicht angesprochen - über größere Vorräte an hochangereichertem Uran - auf 20 Prozent -, und zwar in einer
Größenordnung, die weit über das hinausgeht, was der
Iran für den Forschungsreaktor braucht, inklusive zwei
Anreicherungsanlagen und mehr als 8 000 Zentrifugen.
Das hat der Iran selbst verkündet. Ich frage - das fragt
auch die internationale Gemeinschaft -: Wozu das alles,
wenn es um die zivile Nutzung, wenn es um ein ziviles
Nuklearprogramm geht? Hinzu kommt die antisemitische Rhetorik, die Sie ebenfalls völlig ausblenden.
Obwohl die meisten Experten und Think Tanks und
auch die Geheimdienste zu dem Schluss kommen, dass
der Iran sich noch nicht entschieden hat, ob er tatsächlich die Bombe bauen wird, gehen alle davon aus - das
sage ich sehr klar -, dass er alles dafür tut, diese Option
zu haben. Daher meine ich: Gerade wenn wir verhindern
wollen, dass es zu einer militärischen Eskalation kommt,
ist der Weg der internationalen Gemeinschaft richtig. Es
muss über Sanktionen Druck ausgeübt werden, und
gleichzeitig muss es substanzielle Angebote geben.
Zum Schluss will ich sehr deutlich sagen: Substanziell und realistisch bedeutet, dass der Iran das Recht auf
eine zivile Nutzung hat, und dazu wiederum gehört
- auch das tut mir weh - das Recht auf Anreicherung auf
einer niedrigen Stufe, natürlich unter der Voraussetzung
umfassender Kontrolle. Diesen Weg muss die internationale Gemeinschaft gehen. Das bedeutet auch, dass, falls
Iran einer solchen Begrenzung zustimmt, Brennstoffe für
den Forschungsreaktor möglicherweise von außen geliefert werden können. Im Zuge eines solchen substanziellen Verhandlungsprozesses müssen die Sanktionen dann
schrittweise aufgehoben werden. Ich hoffe, dass die Gespräche in Bagdad weitergehen und erfolgreich verlaufen; denn das wäre ein echter Erfolg, und das würde
dazu führen, dass ein Krieg verhindert wird, den wir alle
nicht wollen.
({11})
Vielen Dank, Frau Kollegin Kerstin Müller. - Nächster und letzter Redner in dieser Debatte ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
Bitte schön, Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Seit Jahren bestehen begründete Zweifel an der ausschließlich friedlichen Natur des iranischen Nuklearprogramms. Der Iran kooperiert in dieser Frage nach wie
vor nur unzureichend mit der Internationalen Atomenergiebehörde, IAEO. Diese stellte bereits im November
2011 in einem Bericht fest, dass der Iran seine Aktivitäten zur Anreicherung von Uran ungeachtet internationaler Forderungen mit Nachdruck fortsetzt und dass Hinweise auf eine mögliche militärische Dimension des
iranischen Nuklearprogramms Anlass zu besonderer Besorgnis geben. Auch der jüngste IAEO-Bericht vom
24. Februar dieses Jahres liefert Anhaltspunkte für eine
Ausweitung des iranischen Nuklearprogramms. Die EU
spricht in diesem Zusammenhang von ernsten und wachsenden Bedenken hinsichtlich des iranischen Nuklearprogramms.
Die Fraktion Die Linke tut diese Erkenntnisse und
Bedenken lapidar damit ab, dass „die Wiener Behörde
Vermutungen über ein mögliches Atomwaffenprogramm
des Iran“ anstelle. Überhaupt schwingt in dem Antrag
der Linken mit, dass schließlich noch gar nicht bewiesen
sei, dass der Iran eine militärische Dimension seines Nuklearprogramms anstrebe.
({0})
Das ist Verharmlosung und Schönfärberei, und das kann
nicht Grundlage einer verantwortungsvollen deutschen
Außen- und Sicherheitspolitik sein.
({1})
Zwar hat die IAEO bisher nicht explizit die Existenz
eines iranischen Nuklearwaffenprogramms festgestellt,
({2})
allerdings stuft sie die Indizien als besorgniserregend
ein. Ebenso macht es der Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen. Dementsprechend hat dieser im Juni 2010 die
Resolution 1929 verabschiedet, die die Grundlage für
eine Reihe von Ausweitungen von UN-Sanktionen gegen den Iran darstellt. Auch die Europäische Union hat
zur Umsetzung dieser und weiterer UN-Resolutionen in
den letzten zwei Jahren konkrete Sanktionen beschlossen und umgesetzt.
Nach Meinung der Linken führen diese Sanktionen zu
einer Verschärfung des Konflikts. Das Gegenteil ist der
Fall: Es handelt sich dabei, wie der UN-Sicherheitsrat in
allen relevanten Resolutionen betont, um ein Mittel zur
Unterstützung des Dialogs mit dem Iran.
Auch der amerikanische Präsident Obama unterstrich
kürzlich, dass es gerade aufgrund der Sanktionen noch
Chancen für eine diplomatische Lösung des Konflikts
gibt. Die Erfahrungen bei den bisherigen Verhandlungen
mit dem Iran zeigen, dass dieser nur durch Druck seine
Hinhaltetaktik aufgibt. Dialog und Sanktionen sind somit der richtige Ansatz, um den Iran zu einem friedlichen Einlenken im Atomkonflikt zu bewegen.
Der Iran hat wiederholt - das ist heute schon erwähnt
worden - der IAEO den Zugang zu atomaren Anlagen
verweigert. Damit verletzt der Iran völkerrechtlich verbindliche Resolutionen des UN-Sicherheitsrats und des
Gouverneursrats der IAEO. Zu Recht hat die internationale Staatengemeinschaft darauf mit einer Verschärfung
der Sanktionen geantwortet, aber eben nicht nur damit,
sondern auch mit einem neuen Engagement im Rahmen
des E3+3-Dialogs mit dem Iran. Dieser konnte nach über
einem Jahr Pause am 14. April dieses Jahres in Istanbul
wieder aufgenommen werden. Dabei konnte Einigkeit
darüber erzielt werden, dass der Nichtverbreitungsvertrag die Grundlage für das Engagement darstellt. Basierend auf einem reziproken stufenweisen Ansatz sollen
vertrauensbildende Maßnahmen erfolgen und die Einhaltung aller internationalen Verpflichtungen des Irans
erreicht werden.
Gestern fand in Bagdad ein weiteres E3+3-Treffen
statt, das heute fortgesetzt wird. Auch wenn nach den
letzten Informationen, die mir vorliegen, ein Durchbruch
noch weit entfernt zu sein scheint, wollen wir hoffen,
dass diese Verhandlungen über kurz oder lang in ein Abkommen mit dem Iran münden, das uns dem Ziel unserer
Politik näher bringt, nämlich einer friedlichen Lösung
des Konflikts.
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank, Kollege Dr. Wolfgang Götzer. - Wir
sind am Ende dieser Debatte, die ich nun auch schließen
werde.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9065 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung der Verordnung ({0}) Nr. 236/2012 des
Europäischen Parlaments und des Rates vom
14. März 2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps
({1})
- Drucksache 17/9665 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({2})-
Rechtsausschuss
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EU und
zur Änderung des Börsengesetzes
- Drucksache 17/8684 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3})
- Drucksache 17/9645 Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausDr. Carsten SielingBjörn SängerDr. Gerhard Schick
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sie sind
damit einverstanden? - Dann ist das somit beschlossen.
Erster Redner in unserer Aussprache ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär, unser
Kollege Hartmut Koschyk. Bitte schön, Kollege Hartmut
Koschyk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute über den Entwurf eines Ausführungsgesetzes zur EU-Leerverkaufsverordnung debattieren, ist
dies in verschiedener Hinsicht ein gutes Zeichen.
Erstens. Es zeigt, dass wir bei der notwendigen Regulierung der Finanzmärkte in Europa in den letzten Monaten erheblich vorangekommen sind. Denn mit Inkrafttreten dieser Leerverkaufsverordnung werden ab
1. November 2012 in ganz Europa ungedeckte Leerverkäufe in Aktien und europäische Staatsanleihen verboten
sein.
Zweitens. Dieser Gesetzentwurf ist - das halte ich für
entscheidend - ein Beleg dafür, wie gut und richtig es
war, dass wir in Deutschland mit einem nationalen Leerverkaufsverbot vorangegangen sind. Damit haben wir
die Debatte auf europäischer Ebene entscheidend vorangebracht, und zwar mit ausgesprochen gutem Erfolg. Die
2010 in Deutschland eingeführten national geltenden gesetzlichen Verbote können nun zugunsten der ab November 2012 europaweit geltenden Leerverkaufsverbote ersetzt werden. Dies wird von der Bundesregierung
ausdrücklich und außerordentlich begrüßt.
Warum sind Leerverkaufsverbote auf europäischer
Ebene so wichtig? Die Entwicklungen im Verlauf der Finanzkrise haben deutlich gezeigt, dass Leerverkaufsverbote notwendig sind, um der Spekulation auf fallende
Kurse und dadurch ausgelösten übermäßigen Schwankungen von Wertpapierkursen entgegenwirken zu
können. Denn insbesondere in Krisenzeiten können
Leerverkaufsgeschäfte einen sich selbst verstärkenden
Kursrutsch auslösen. Leerverkaufsverbote sind ein angemessenes Mittel, um derartigen gefährlichen Entwicklungen auf den Finanzmärkten entgegenzuwirken. Es ist
allerdings sinnvoll und notwendig, solche Verbote auf
europäischer Ebene auszusprechen, um einheitliche Bedingungen in der gesamten Europäischen Union zu gewährleisten. Dies schafft Stabilität für die Märkte. Dies
stärkt das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Integrität
der Märkte.
({0})
Die Regelungen der jetzt umzusetzenden EU-Leerverkaufsverordnung entsprechen weitgehend dem im
Sommer 2010 in Deutschland eingeführten Leerverkaufsverbot. Dies ist alles andere als selbstverständlich.
Denn es gab auf europäischer Ebene erhebliche Widerstände gegen eine Regelung von Leerverkaufsverboten
entsprechend der deutschen Gesetzeslage. Im Ergebnis
konnte sich Deutschland im Zusammenwirken mit dem
Europäischen Parlament durchsetzen, und zwar mit dem
jetzt gefundenen Ansatz, ungedeckte Credit Default
Swaps auf Staatanleihen, die keinen Absicherungszwecken dienen, in Europa grundsätzlich zu verbieten. Wir
haben in ganz Europa erfolgreiche Überzeugungsarbeit
geleistet.
({1})
Dies ist ein großer Erfolg, vor allem von Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble, der diese deutsche Lösung gegen anfängliche Widerstände der europäischen
Partner nunmehr für ganz Europa durchgesetzt hat.
({2})
Ich komme nun zu den Einzelheiten der Leerverkaufsverordnung, die ein wichtiger Baustein einer besseren Regulierung der Finanzmärkte in Europa ist. Sie
enthält unmittelbar geltende Verbote ungedeckter Leerverkäufe von Aktien, die zum Handel an europäischen
Handelsplätzen zugelassen sind, sowie von Staatsanleihen der EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen
Union. Es werden Credit Default Swaps auf Staatsanleihen der EU-Mitgliedstaaten und der Europäischen Union
verboten, die keinen Absicherungszwecken dienen.
Netto-Leerverkaufspositionen in Aktien und Staatsanleihen sowie Credit Default Swaps auf Staatsanleihen müssen bei Überschreiten bestimmter Schwellenwerte an
Aufsichtsbehörden gemeldet werden. Netto-Leerverkaufspositionen in Aktien müssen beim Überschreiten
weiterer Schwellenwerte auch veröffentlicht werden.
Die nationalen Aufsichtsbehörden und die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde, ESMA,
haben das Recht, in Krisensituationen weitere zeitlich
befristete Transparenzvorschriften und Verbote zu erlassen. Sofern veräußerte Aktien vom Verkäufer nicht innerhalb bestimmter Fristen geliefert werden, müssen Ersatzpapiere geliefert und Strafzahlungen geleistet
werden.
Der Gesetzentwurf, dessen Beratung wir heute einleiten, hat folgende Bestandteile:
Mit dem Ausführungsgesetz wird das nationale Recht
an die Regelungen der EU-Leerverkaufsverordnung
angepasst. Hieraus folgt, dass die nationalen Leerverkaufsverbote, die Transparenzpflichten für Inhaber von
Netto-Leerverkaufspositionen und das Verbot bestimmter Kreditderivate aufzuheben sind. An ihre Stelle treten
jetzt die Regelungen der EU-Leerverkaufsverordnung.
Um den Vollzug der EU-Verordnung in Deutschland
zu gewährleisten, werden die zuständigen Behörden bestimmt. Das sind die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und die Börsengeschäftsführung. Zudem
werden Sanktionen bei Verstößen gegen die Vorgaben
der EU-Leerverkaufsverordnung geregelt.
Ich möchte bewusst zu Anfang der Beratungen hier
im Parlament auf den Antrag des Bundesrates zu unserem Gesetzentwurf eingehen. Nach Meinung des Bundesrates soll die Zuständigkeit für den Erlass zeitlich befristeter Leerverkaufsverbote an Börsen bei der
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht liegen.
Aus Sicht der Bundesregierung soll für temporäre Verbote an Börsen jedoch die jeweilige Börsengeschäftsführung zuständig sein. Sie verfügt über die notwendigen
Daten für den Erlass eines vorübergehenden Verbots an
ihrem Börsenplatz, und sie kann die Entscheidung ohne
zeitliche Verzögerung bekannt geben. Lassen Sie mich
zusammenfassen: Die neuen Regeln über Leerverkaufsverbote werden deutlich machen, dass jetzt die
Schwachstellen im bisherigen Ordnungsrahmen beseitigt
werden, die sich im Zuge der Finanzkrise aufgetan
haben. Das Voranschreiten der Bundesregierung in EuParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
ropa, das hier im Parlament und von nationalen Finanzakteuren belächelt worden ist und als unwirksam abgetan wurde, hat sich bewährt. Es war richtig. Wir sind in
Europa vorangegangen, und wir haben durch unser nationales Leerverkaufsverbot Maßstäbe für ein europaweites Leerverkaufsverbot gesetzt.
({3})
Wir werden und wir müssen weiter daran arbeiten, die
Finanzsysteme noch robuster und stabiler zu gestalten.
Sie alle wissen, dass sich derzeit wichtige Regulierungsvorhaben auf der Zielgeraden befinden. Ich nenne hier
die Umsetzung von Basel III und die Einführung zusätzlicher Kapitalzuschläge für systemrelevante Banken.
Auf europäischer Ebene nahezu abgeschlossen ist die
EU-Verordnung zur Verbesserung der Transparenz auf
den OTC-Derivatemärkten.
Mit all diesen Maßnahmen kommen wir mit großen
Schritten dem Ziel näher, einen stabilen, modernen und
zukunftsorientierten Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte zu schaffen. Dass Deutschland hier mutig voranschreitet und Maßstäbe setzt, zeigt die Umsetzung der
EU-Verordnung, die wir heute mit dem Gesetzgebungsvorhaben einleiten. Ich bitte um eine zügige Beratung
und um Zustimmung im Haus zu diesem Gesetzentwurf
der Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Nächster Redner
ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege
Dr. Carsten Sieling. Bitte schön, Kollege Sieling.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Staatssekretär, Sie sind hier stolz
aufgetreten. Das habe ich selten so erlebt.
({0})
Sie erzählen uns die Geschichte, dass Sie in einem wichtigen Punkt vorangegangen sind. Es war sicherlich richtig, zu einem solch zentralen Punkt einen Vorschlag zu
machen. Im Bereich der Finanzmarktregulierung hätten
wir aber eigentlich mehr als diese Einzelaktion erwartet.
Es gibt viele Situationen und Bereiche, in denen
Deutschland mit Vorschlägen vorangehen muss.
({1})
Auch mit all Ihrem Stolz können Sie nicht verwischen,
dass es Ihnen an diesen Vorschlägen mangelt.
In der Sache will ich sagen: In der Frage des Leerverkaufsgesetzes, das Sie damals eingebracht haben, haben
wir als Sozialdemokraten eine kritische Haltung eingenommen.
({2})
Wir haben ihm damals nicht zugestimmt, weil wir fanden, dass dieses Gesetz ein zahnloser Tiger blieb. Auch
das, was jetzt vorliegt, ist nicht hinreichend und muss
deutlich nachgebessert werden. Mein Kollege Manfred
Zöllmer wird unsere Position später ausführlich benennen. Wir stehen am Anfang des Gesetzgebungsverfahrens, und ich hoffe, dass wir dazu kommen, dass es im
Rahmen der Beratungen zu deutlichen Verbesserungen
kommen wird, damit gerade die in der Tat gefährlichen
Leerverkäufe wirksam ausgeschlossen werden.
({3})
Das brauchen wir für die Stabilität in Europa und in
Deutschland.
({4})
Ich möchte mich auf den Gesetzentwurf konzentrieren, zu dem Sie nichts gesagt haben, Herr Staatssekretär.
Das ist insofern verwunderlich, als dies der Vorschlag
ist, der heute in diesem Parlament in zweiter und dritter
Lesung abschließend behandelt wird. Er betrifft die Änderung des Börsengesetzes, in dem - insbesondere bezogen auf den Anlegerschutz, aber auch auf Neuregelungen bei der Bankenabgabe - unterschiedliche Elemente
behandelt werden. Das ist ein Gesetz, bei dem es - das
müssen wir als Sozialdemokraten feststellen - im Kern
um eine Umsetzung der europäischen Vorgaben geht.
Man darf der Regierung attestieren, dass sie dabei
keine großen handwerklichen Fehler gemacht hat. Das
freut uns; denn das ist nicht die Regel. Wir werden dem
Gesetzentwurf zustimmen und haben uns im Finanzausschuss auch so verhalten. Das liegt daran, dass es im
Rahmen der Beratungen einige Veränderungen gegeben
hat, die durchaus von Bedeutung sind, auch wenn es insgesamt ein eher verwaltungsbezogenes Vorhaben ist, das
umgesetzt werden muss.
Ich will auf zwei Punkte hinweisen:
Erstens. Nach den EU-Vorgaben war es unklar, wie
die kommunale Ebene, also die Städte und Gemeinden,
bei Kreditvorgängen behandelt werden. Es bestand
durchaus die Gefahr, dass sie wie professionelle Anleger
behandelt werden, also genauso wie große Geschäftskunden und nicht so wie Privatanleger. Wir sind dafür
eingetreten, dass die Kommunen wie Privatanleger behandelt werden, damit sie einen erweiterten Schutz erhalten.
({5})
Ich will ganz deutlich sagen, dass wir sehr zufrieden
damit sind, dass wir hier einen Konsens hatten und dass
im Rahmen dieses Gesetzesvorhabens ein entsprechender Vermerk gemacht wurde; denn wir wollen nicht, dass
so etwas wie in Pforzheim noch einmal passiert. Diese
Kommune hat Zinsswap-Geschäfte abgeschlossen, die
zu einem gewaltigen Verlust in Höhe von 56 Millionen
Euro geführt haben. Das ist eine Entgrenzung der Finanzmärkte, die eingeschränkt werden muss. Ein kleines
Stück dafür wird mit diesem Gesetzentwurf geleistet.
Darüber bin ich sehr froh.
({6})
Zum zweiten Punkt, der sich positiv entwickeln wird.
Dieser zweite Erfolg - jedenfalls gibt es dazu eine entsprechende Vereinbarung - geht auf eine Anregung des
Bundesrates zurück, mit der eine problematische Situation geheilt werden soll. Ich will das hier auch in der
Öffentlichkeit sehr deutlich sagen: Die Koalition hat uns
zugesagt, dass sie beim nächsten Änderungsverfahren
- auch noch in diesem Jahr - mit dafür sorgen wird, dass
die Haftung für ein Fehlverhalten der Börsen zukünftig
nicht mehr bei den Ländern liegt - so ist es nämlich
bislang -, sondern die Börsen selbst haften. Das ist gerade für die Absicherung der Länder ein wichtiger
Punkt. Diesen Wunsch des Bundesrates finden wir Sozialdemokraten sehr wichtig.
Ich darf abschließend sagen, dass ich mir gewünscht
hätte - ich glaube, in der Anhörung ist das sehr deutlich
geworden -, dass auch unterschiedliche Hinweise gerade
bezogen auf den Anlegerschutz Berücksichtigung gefunden hätten. Beispielsweise führt es einfach zu Schwierigkeiten, dass Börsenprospekte in allen möglichen
Sprachen veröffentlicht werden können und immer nur
eine kurze Frist für einen Widerruf gilt. Wir haben dafür
plädiert, und wichtige und überzeugende Sachverständige haben uns darauf hingewiesen, dass es klüger wäre,
nicht einen Wust an unterschiedlichen Möglichkeiten
zuzulassen, sondern zu regeln, dass Börsenprospekte nur
in deutscher und maximal auch noch in englischer Sprache verteilt werden dürfen.
({7})
Schade, dass das nicht geklappt hat.
Genauso gut hätte man das Widerrufsrecht für Anleger erweitern und zeitlich verlängern können. Dazu war
die Koalition nicht bereit.
Diese Punkte sind bedauerlich, aber sie halten uns
trotz dieser Schatten und Schwächen nicht davon ab,
diesem Gesetzentwurf am Ende zuzustimmen.
Das hängt auch damit zusammen - das will ich zum
Schluss sagen -, dass wir froh sind, dass es eine wichtige
Veränderung bei der Bankenabgabe gegeben hat. Wir
sind immer dafür gewesen, mit der Bankenabgabe nicht
diejenigen zu treffen, die wichtige Aufgaben für das Gemeinwesen erfüllen.
In diesem Gesetzentwurf wird eine Veränderung vorgenommen, sodass sogenannte Förderkredite von der
Berechnung der Bankenabgabe ausgenommen werden.
Das ist eine richtige Änderung, aber sie heilt natürlich
nicht das Zentralproblem, dass diese Bankenabgabe, die
Sie als Regierung eingeführt haben, ein zahnloser Tiger
ist und insbesondere im Bereich der Großbanken nicht
hart genug zugreift.
({8})
Wir haben in diese Richtung argumentiert. Sie waren
an der Stelle taub und haben nichts gemacht. Das bestätigt leider die Grundlinie Ihrer Politik, auch wenn Sie
uns hier einen Gesetzentwurf vorlegen, dem wir zustimmen werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank, Kollege Dr. Carsten Sieling. - Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege Björn
Sänger. Bitte schön, Kollege Björn Sänger.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Vor zweiundzwanzigeinhalb Monaten haben wir
die nationale Regelung zum Leerverkaufsverbot hier in
diesem Hause debattiert. Lieber Kollege Sieling, die
SPD hat uns damals eine mangelnde internationale Abstimmung vorgeworfen
({0})
und dann ihre Zustimmung verweigert, indem sie diese
sehr gute Regelung abgelehnt hat.
Ich fand das Geeiere hier an diesem Pult vor wenigen
Minuten schon sehr bemerkenswert, weil wir heute eine
EU-Regelung beraten, die fast eine Eins-zu-eins-Umsetzung des deutschen Rechts auf EU-Ebene ist. Ich finde,
das ist ein ganz großartiger Erfolg dieser christlich-liberalen Koalition.
({1})
Wir haben in Deutschland weitere wegweisende Gesetze beschlossen, die kurz vor einer Übernahme durch
die EU stehen. Ich nenne hier nur das Banken-Restrukturierungsgesetz, bei dem sich die EU-Kommission und
das Parlament bei der Erarbeitung einer eigenen Regelung sehr eng an unseren sehr guten Vorschlag anlehnen.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich auch die Regelung
zum Selbstbehalt bei Verbriefungen der deutschen Regelung entsprechend annähern wird.
Warum aber ist es so, dass die EU diese Regelung
übernommen hat? Die Antwort ist relativ simpel: weil
sie gut ist. Sie ist gut, weil sie es schafft, einen schwierigen Spagat hinzubekommen, nämlich den Spagat zwischen guten und bösen Geschäften. Das ist bei Finanzprodukten nicht ganz so einfach, weil es nicht auf das
Produkt ankommt, was gut oder böse ist, sondern auf
denjenigen, der es einsetzt.
Das ist so ein bisschen - das habe ich hier schon ein
paarmal gesagt - wie mit dem Unimog. Der Unimog in
Orange mit einem Schneeschieber vorne ist ein sehr
sinnvolles Kommunalfahrzeug und wird gerne verwendet. Es gibt ihn aber auch in Olivgrün mit anderen Gerätschaften. Dann ist die Wahrnehmung dieses Fahrzeugs
durch die Öffentlichkeit, durch die Gesellschaft eine
vollkommen andere. Selbst da kommt es noch darauf an,
wer dieses Fahrzeug fährt.
({2})
- Natürlich, Herr Kollege von Stetten. Ich sagte es
schon: Es kommt darauf an, wer es fährt und wie es eingesetzt wird. Das ist die Geschichte.
Wir haben bei den Leerverkäufen den Intradayhandel
zugelassen. Um mit Leerverkäufen Spekulationshürden
aufzubauen, braucht man mehr Zeit. Ein Tag reicht dafür
im Prinzip nicht aus. Auf der anderen Seite nutzt man
die positiven Wirkungen von Leerverkäufen hinsichtlich
der Liquidität. Das heißt, die liquiditätsfördernde Wirkung bleibt an dieser Stelle erhalten. Das zieht sich wie
ein roter Faden - soll ich vielleicht lieber „oranger Faden“ sagen? - durch dieses Gesetz, das wir damals beschlossen haben. Der orange Unimog darf fahren, der
olivgrüne bekommt bei uns keine Zulassung.
Interessant bei der EU-Regelung ist der Punkt, dass es
einen Zwang zum Liefern von Aktien gibt, da sonst
Strafzahlungen möglich sind oder Ersatzpapiere geliefert
werden müssen. Über diesen Punkt sollte man außerordentlich intensiv nachdenken. Gleiches gilt für das Petitum des Bundesrates hinsichtlich der Frage, wer denn als
zuständige Behörde für entsprechende Maßnahmen zuständig ist. Ich traue den Börsengeschäftsführungen eine
Menge zu. Allerdings habe ich ein Problem damit, wenn
an einem Handelsplatz plötzlich Leerverkäufe verboten
werden und alle anderen Handelsplätze davon unberührt
sind. Da sehe ich das Risiko, dass dadurch möglicherweise ein Flickenteppich entsteht. Darüber sollten wir
dann im Beratungsverfahren nachdenken und auch diesen Punkt kritisch beleuchten.
Ich will auf den zweiten Punkt dieser Debatte eingehen, nämlich die Umsetzung der Prospektrichtlinie, also
der Änderung des Börsengesetzes. Auch hier ist eine
gute Balance zwischen der Entbürokratisierung auf der
einen Seite und den berechtigten Interessen des Anlegerschutzes auf der anderen Seite gelungen. Dazu haben wir
die Schlüsselinformationen jetzt übersichtlich zusammengefasst. Wir haben einige Vereinfachungen bei kleinen und Daueremissionen vorgenommen. Insgesamt
handelt es sich mehr um die technische Umsetzung einer
sehr eng gefassten EU-Richtlinie und weniger um ein
großes politisches Projekt.
Im Übrigen, Kollege Sieling, die Frage, wie Kommunen an dieser Stelle behandelt werden sollen, also etwa
als Privatanleger, war nie kritisch, sondern es ist im Rahmen eines Berichterstattergesprächs lediglich klargestellt worden, wie die Verwaltungspraxis der BaFin ist.
Sie war nie anders. Demzufolge muss auch nichts geändert werden.
({3})
Darüber hinaus nutzen wir dieses Gesetz, um das eine
oder andere noch glatt zu ziehen, also noch die eine oder
andere Schwierigkeit zu beseitigen, beispielsweise die
Frage der Regulierung der Zweitmarktfonds. Das wird
im Zuge der AIFM-Umsetzung Ende des Jahres/Anfang
nächsten Jahres angegangen werden. Es ist unser fester
Wunsch und Wille, auch diesen Markt entsprechend eng
gefasst zu regulieren. Deswegen haben wir ausdrücklich
nur eine Übergangsregelung eingeführt, um zusätzliche
Belastungen für die Branche zu vermeiden.
Des Weiteren haben wir - der Kollege Sieling hat es
bereits angesprochen - einige wichtige Änderungen bei
der Bankenabgabe vorgenommen. Ich will nur die Frage
erwähnen, auf welcher Grundlage der Sonderbeitrag berechnet werden soll. Mir ist an dieser Stelle wichtig, zu
sagen, dass wir bestimmten Petiten nicht gefolgt sind. Es
gab aus der Branche durchaus den Wunsch, bestimmte
Rechtskonstrukte bei der Bankenabgabe neu zu beleuchten. Es ging um Holdinglösungen. Der Wunsch kam sehr
vereinzelt aus der Branche. Man könnte fast sagen: Es ist
möglicherweise nur ein Institut betroffen. Aber solange
es noch keine berechnete Bankenabgabe ohne Sondereffekte gibt - ich möchte gerne erleben, wie ein Bankenabgabenjahr ohne Sondereffekte aussieht -, brauchen wir
über solche Vorschläge gar nicht nachzudenken.
Lassen Sie mich zusammenfassend feststellen: Wir
erleben heute die Fortsetzung einer Erfolgsstory der Finanzmarktregulierung dieser christlich-liberalen Koalition. Unser Leerverkaufsverbot hat sich in der EU durchgesetzt. Ich finde, das ist ein guter Tag für Deutschland.
Herzlichen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Björn Sänger. - Nun für die
Fraktion Die Linke unser Kollege Harald Koch. Bitte
schön, Kollege Harald Koch.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich auf den Gesetzentwurf zur Umsetzung der Prospekt- und Transparenzrichtlinie eingehen. Die Bundesregierung betonte
während des ganzen Beratungsverfahrens, der Spielraum
für die Umsetzung der EU-Richtlinie sei zu eng. So macht
man es sich natürlich sehr leicht. Im Gegensatz zu allen
anderen Fraktionen dieses Hauses nimmt die Linke nicht
alles, was uns vorgesetzt wird, schulterzuckend hin.
({0})
Wir sind ja durchaus erfreut, dass es einige sinnvolle
Regelungen gibt, beispielsweise die Aufnahme der
Schlüsselinformationen in die Prospektzusammenfassung, dass Anleger im Börsenrat vertreten sein müssen
und dass Wertpapierprospekte nicht seit der Veröffentlichung, sondern zwölf Monate ab Zeitpunkt der Billigung
durch die Aufsicht gültig sein sollen. Doch hier fangen
die Probleme schon an: Eine prinzipielle jährliche Aktualisierung der Prospekte erhöht den Verwaltungsaufwand, der dann wieder auf Verbraucher bzw. Anleger abgewälzt werden könnte und auch wird.
In der Anhörung des Finanzausschusses stellte der
Sachverständige Mattil zu Recht fest, dass der Anlegerschutz an einigen wichtigen Stellen geopfert wird, um
den vollendeten Binnenmarkt zu erreichen. Die Linke
kritisiert ebenfalls, dass selbst in Zeiten der Finanzkrise
primär die Arbeit der Wertpapierunternehmen erleichtert
wird. Das ist ein Skandal.
({1})
Folgende Punkte sind aus linker Sicht problematisch:
Es gibt mittlerweile einen Prospekt- und Infoblätterdschungel, den kein durchschnittlicher Anleger durchdringen kann: Produktinformationsblatt, Vermögensanlageninformationsblatt, wesentliche Anlegerinformationen
usw. Nun kommt im Wertpapierbereich noch die neue
Prospektzusammenfassung inklusive Schlüsselinformation hinzu.
Wer blickt da noch durch? Die Linke fordert deshalb
eine Standardisierung hinsichtlich Struktur und Inhalt.
Die Anleger müssen alle relevanten Informationen inklusive Gesamtkosten einheitlich in übersichtlicher Darstellung vorliegen haben. Auch in den Schlüsselinformationen sollten die Kosten, anders als der Gesetzentwurf
es vorsieht, nicht nur geschätzt werden dürfen.
Bedenklich ist, dass offenbleibt - wie schon Kollege
Dr. Sieling festgestellt hat -, in welcher Sprache ein zugelassener Prospekt verfasst sein muss. Die erschwert
zum einen die Beratung und zum anderen das Verständnis des Anlegers. Mindestens alle zentralen Informationen, nicht nur die Zusammenfassung, müssen aus meiner
Sicht auch in deutscher Sprache vorliegen.
({2})
Anleger sollen zudem die Kosten für die Übersetzung
von Prospekten in nichtdeutscher Sprache tragen. Dies
ist doch keine Aufgabe des Anlegers und stellt eine irrsinnige Regelung dar.
({3})
Bei Nachträgen zu Prospektveröffentlichungen besteht das Problem, dass die Frist für das Widerrufsrecht
bei einem Nachtrag zwei Tage ab Veröffentlichung abläuft, nicht ab der Entdeckung des Nachtrags, sondern ab
der Veröffentlichung. Sollte der Anleger ihn doch rechtzeitig entdecken, so wird er sich in so knapper Zeit kaum
fachkundig beraten lassen können. Hier höhlen Sie das
Anlegerrecht auf Widerruf zugunsten der Wertpapierunternehmen aus. Das ist mit der Linken nicht zu machen.
({4})
Bei den Regelungen, die festlegen, wann Angebote
von der Prospektpflicht befreit werden und wann nicht,
müssen wir grundsätzlich aufpassen, dass das Spiel mit
den Schwellenwerten nicht zu Deregulierungen zugunsten der Wertpapierwirtschaft führt. Im Zweifel bin ich
immer für einen Prospekt, um Transparenz zu gewährleisten. Daher finde ich Ausnahmen von der Prospektpflicht wie bei Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen bedenklich. Wir sind auch für den Verbraucherschutz der
Mitarbeiter. Die Linke will hier die Belegschaften schützen.
Auch die EU-Leerverkaufsverordnung wird hier
heute in erster Lesung mitberaten. Leider fällt diese Verordnung in Teilen hinter das deutsche Leerverkaufsgesetz zurück. Die EU regelt auf satten neun Seiten, was
eine Pizza Napoletana auszeichnet. Die Finanzmärkte
sind dagegen immer noch unterreguliert. Dort ist nach
wie vor grundsätzlich alles erlaubt, was nicht explizit
verboten ist. Das ist nicht akzeptabel.
({5})
Herr Sänger, um auf Ihren Vergleich mit dem Unimog
einzugehen: Er ist völlig richtig, weil er genau in unsere
Richtung geht. Der Unimog muss zum TÜV. Genau das
wünschen wir uns auch für Finanzprodukte.
({6})
Zum Schluss. Die EU-Leerverkaufsverordnung ist
also kein großer Wurf, genauso wenig wie der Entwurf
eines Gesetzes zur Umsetzung der Prospekt- und
Tansparenzrichtlinie, den wir aus guten Gründen ablehnen; denn für uns ist Verbraucherschutz weiterhin wichtiger als Emittentenschutz und Deregulierung.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank, Kollege Harald Koch. - Nächster Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege
Dr. Gerhard Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von
den zwei Punkten, die nun auf der Tagesordnung stehen,
möchte ich mich auf die Umsetzung der Prospektrichtlinie konzentrieren; denn wir haben noch Gelegenheit,
über die rechtlichen Regelungen zu den Leerverkäufen
zu debattieren.
Uns liegt ein Vorschlag von der europäischen Ebene
vor, der im Wesentlichen eine Vollharmonisierung vorsieht. Das heißt, wir haben nicht viele Gestaltungsmöglichkeiten. Die technische Umsetzung finden wir im Wesentlichen richtig. Es gab einzelne Dissenspunkte. Ich
nenne an dieser Stelle als Stichwort „Zweitmarktfonds“.
Ich will zwei Punkte aufgreifen, die zusätzlich in das
Gesetz aufgenommen werden. Dabei stellt sich die
Frage: Wie stark wird eigentlich eingegriffen, bzw. warum wird das eigentlich nicht gemacht?
Das eine ist die Bankenabgabe. Es ist richtig, Förderkredite auszunehmen. Aber gleichzeitig müssen wir uns,
wenn hier eine Änderung vorgenommen wird, fragen,
was das für das Gesamtaufkommen bedeutet. Als 2009/10
erstmalig über eine Bankenabgabe geredet wurde, war
sie für die Koalitionsfraktionen eines der zentralen Instrumente. Es hieß: So beantworten wir die Finanzkrise
und die Frage nach der Beteiligung des Finanzsektors.
Der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder sagte im März
2010: Es wird sicherlich ein Milliardenbetrag werden. Später erwartete man Einnahmen in Höhe von 1,3 Milliarden Euro. Nun stellen wir fest, dass es 589 Millionen
Euro sind, also weniger als die Hälfte. Wenn man nun
eine weitere Änderung vornimmt, die zur Folge hat, dass
die Bemessungsgrundlage noch einmal reduziert wird,
muss man die Frage stellen: Wann ist denn der Fonds
endlich in der Lage, seine Arbeit zu leisten, wenn die
Beträge so gering sind? Ursprünglich hatte man mit
70 Jahren gerechnet. Angesichts des niedrigen Aufkommens wird es wesentlich länger dauern. Deswegen halte
ich es für richtig, sich noch einmal unsere Änderungsanträge von damals anzuschauen. Wir hatten damals vorgeschlagen - das bleibt auf der Tagesordnung -, gerade
große Banken zusätzlich zu belasten und insbesondere
den Derivatebereich zur Finanzierung dieses Fonds stärker heranzuziehen. Unsere Vorschläge bleiben richtig.
Ich bitte Sie, sie endlich aufzugreifen.
({0})
Ich will einen zweiten Punkt ansprechen: das Prospektrecht für Wertpapiere. Da gibt es einen wichtigen
Punkt. Ja, vielleicht nerven wir Grüne damit ein wenig,
aber ich glaube, wir tun es zu Recht. 2006 - ich war gerade neu im Bundestag - habe ich angefangen, mich mit
dem Markt für Zertifikate, also Inhaberschuldverschreibungen, für normale Anleger zu beschäftigen. Wir
Grüne haben einen Antrag vorgelegt, in dem wir deutlich gemacht haben, dass vieles schiefläuft, es sich um
intransparente Produkte handelt und Kunden über den
Tisch gezogen werden, weil sie nicht verstehen, was sie
kaufen. Damals gab es 80 000 Produkte dieser Art in
Deutschland, inzwischen sind es 800 000 - ein Markt,
den niemand mehr überblicken kann.
Schon 2007 hatten die Koalitionsfraktionen - damals
war es die Große Koalition - zugesagt, dass wir uns im
Finanzausschuss mit diesem Markt beschäftigen, auf
dem es so viele Fehlentwicklungen gibt. Bis heute ist
nichts geschehen. Dieses Gesetz wäre ein guter Anlass
gewesen, dieses Problem substanziell aufzugreifen.
({1})
Es reicht nicht, nur den Vertrieb zu regulieren, vielmehr muss man auch an die Produkte herangehen. Ich
will dazu ein Beispiel nennen: Es gab das Produkt „Bayern Relax Express-Zertifikat“. „Relax“ hört sich nach
Entspannung an. Die Werbung sagte: Entspannt anlegen
und bis zu 12,5 Prozent Zinsen bekommen.
({2})
Es handelte sich um einen Mix aus vier Aktien; unter
diesen war auch die Hypo Real Estate. Die Anleger, die
hier investiert haben, haben 94 Prozent ihrer Einlage
verloren. Wenn sie direkt in diese vier Aktien investiert
hätten, hätten sie ein Plus gemacht. Das Produkt war intransparent. Man konnte gar nicht nachvollziehen, welche Risiken es barg. Solche Produkte werden Kleinanlegern in Deutschland verkauft. Ich halte das für falsch.
({3})
Es gab einmal einen kleinen Hoffnungsschimmer im
Jahre 2009 bei den Koalitionsverhandlungen. Da hat
nämlich der damalige finanzpolitische Sprecher der
CDU/CSU-Fraktion gesagt: Wir diskutieren das Verbot
des Verkaufs bestimmter Zertifikate an Private. - Aber
die FDP, der parlamentarische Arm der Finanzbranche,
war dagegen und sagte: Nein, das soll man nicht tun. Wir meinen: Es ist richtig, intransparente Produkte zu
verbieten. Die FDP muss sich jetzt endlich von der
CDU/CSU überstimmen lassen. Oder suchen Sie sich
andere Mehrheiten, damit wir an dieser Stelle im Finanzmarkt endlich aufräumen.
Danke schön.
({4})
Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
beraten hier heute zwei Gesetzentwürfe, einmal den
Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
2010/73/EU und zur Änderung des Börsengesetzes und
zum anderen den Entwurf eines Gesetzes zur Ausführung der Verordnung über Leerverkäufe. Zu dem Leerverkaufsverbot hat Herr Staatssekretär Koschyk ausreichend Stellung genommen. Bemerkenswert ist in der
Tat, dass deutsches Recht nahezu eins zu eins in europäisches Recht umgesetzt wird. Die zweite und dritte Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der
Richtlinie 2010/73/EU und zur Änderung des Börsengesetzes scheint auf nicht sonderlich viel Kritik zu stoßen.
Wenn ich die Äußerungen der Opposition dazu höre,
dann stelle ich fest: Das war eigentlich recht bemüht. Insofern ist es gut und richtig, dass das Gesetz heute verabschiedet wird.
Was allerdings für dieses Haus ungewöhnlich ist, ist
die Tatsache, dass man ein Gesetz in erster Lesung und
ein zweites Gesetz in zweiter und dritter Lesung in einer
Debatte behandelt. Das hat aber einen guten Grund. Wir
als Finanzmarktregulierer erhalten nämlich kaum noch
Plenarzeit, und zwar deswegen, weil wir in den letzten
zwei bis zweieinhalb Jahren 50 Debatten zu diesem
Thema geführt und mehr als 15 Gesetze verabschiedet
haben. Ich sage ganz bewusst „wir“, meine Damen und
Herren. Es ist natürlich so, dass die Koalitionsfraktionen
die treibende Kraft waren, aber auch die Opposition hat
sich in diesen Prozess durch Entschließungsanträge, Änderungsanträge und viele Diskussionsbeiträge eingebracht.
Ich möchte Ihnen einfach noch einmal kurz erläutern,
was wir da alles gemacht haben. Wir haben uns mit der
Systemstabilität von Banken beschäftigt. Wir haben versucht, Regelungen auf den Weg zu bringen, damit Banken weniger Fehler machen, indem falsche Vergütungsstrukturen gestoppt worden sind, indem Missbrauch bei
Ratings gestoppt worden ist, indem wir bei den Leerverkäufen eingegriffen haben - schon auf nationaler Ebene.
Wir haben aber nicht nur gefordert, dass weniger Fehler im Bankenbereich gemacht werden sollen, sondern
darüber hinaus auch berücksichtigt, dass diese Fehler
weiterhin gemacht werden. Wie wir erst vor einigen Wochen bei J. P. Morgan gesehen haben, lässt sich das nicht
vermeiden.
({0})
Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen die Fehlertragfähigkeit erhöhen.
Erhöhung der Fehlertragfähigkeit heißt mehr Eigenkapital und mehr Liquidität. Dazu haben wir den Basel-III-Prozess auf europäischer Ebene bzw. die Umsetzung von Basel III, die CRD-IV-Richtlinie, in diesem
Haus begleitet, einen Entschließungsantrag dazu verfasst
und der Bundesregierung eine Verhandlungsposition mit
auf den Weg gegeben.
Damit weniger Fehler gemacht werden und man eine
höhere Fehlertragfähigkeit hat, braucht man auch mehr
Aufsicht. Auch diesen Prozess haben wir in diesem Haus
nicht nur begleitet, sondern auch durch Gesetze gestützt.
Ich denke da an die europäische Aufsicht, an das
EIOPA-Sitz-Abkommen und an die Aufsicht über die
Ratingagenturen.
Meine Damen und Herren, nichtsdestotrotz haben wir
eines erkannt: Trotz weniger Fehler in den Instituten,
trotz höherer Fehlertragfähigkeit und trotz besserer Aufsicht ist es immer noch möglich, dass Finanzinstitute insolvent werden und in den Default gehen.
({1})
Das ist auch durchaus erwünscht und richtig; denn zu einer Marktwirtschaft gehört, dass Unternehmen auch
scheitern können.
Deswegen haben wir das Restrukturierungsgesetz
verabschiedet. In diesem Gesetz haben wir eine Möglichkeit geschaffen, zumindest große, national agierende
Banken so vom Markt zu nehmen, dass nicht der ganze
Markt verwüstet wird.
({2})
Wir haben dort noch eine offene Flanke. Wir müssen
das Ganze nämlich noch für multinationale Institute organisieren. Diese Aufgabe wird momentan auf europäischer Ebene angegangen. Auch sie wird in diesem Haus
begleitet.
Wir haben uns aber nicht nur mit der Systemstabilität
von Banken beschäftigt, sondern auch im Verbraucherschutz einiges angepackt. Wir haben Anlegerrechte gestärkt; wir haben Informations- und Transparenzrechte gestärkt - beispielsweise durch das Anlegerschutz- und
Funktionsverbesserungsgesetz, durch das Gesetz zur Novellierung des Finanzanlagenvermittler- und Vermögensanlagerechts und durch die Umsetzung der OGAW-IVRichtlinie.
({3})
Auch da ist mehr getan worden als in den zehn Jahren
zuvor. Das muss man an dieser Stelle einfach auch einmal sehen.
({4})
Neben diesen beiden großen Projekten, Systemstabilität und Verbraucherschutz, sind noch viele andere Projekte angepackt worden - von der Umsetzung des Veränderungsprozesses beim Internationalen Währungsfonds
über E-Geld und Geldwäsche bis hin zu Stellungnahmen
dieses Hauses, die sehr gut und richtig waren, zur betrieblichen Altersversorgung oder Entschließungsanträgen zu den Rohstoffderivaten. Auch da ist in den letzten
zwei bis zweieinhalb Jahren viel gemacht worden.
Einige Projekte sind auch noch in der Mache. Sie
werden uns in den nächsten zwölf Monaten beschäftigen. Dazu gehört die Vollendung der CRD-IV-Richtlinie
zur Umsetzung von Basel III. Das wird uns in den nächsten Wochen sehr stark beschäftigen. Wir sind dort auf
europäischer Ebene in der Endphase.
Dazu gehört ebenfalls ein Mammutwerk, nämlich ein
völliger Paradigmenwechsel im Versicherungsbereich.
Wir werden auch die Stabilität und die Sicherheit von
Versicherungsunternehmen verbessern - durch die Umsetzung von Solvency II, durch die Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes hier in Deutschland.
Wir werden auch Bereiche anpacken, die bisher überhaupt nicht reguliert wurden. Durch die Umsetzung der
AIFM-Richtlinie werden wir bei Hedgefonds und alternativen Investments etwas tun.
Außerdem werden wir durch die Umsetzung der Aktivitäten auf europäischer Ebene im Derivatebereich dafür
sorgen, dass der Wildwuchs in diesem Bereich auf dieser
Welt zumindest weniger wird.
Meine Damen und Herren, alle diese Maßnahmen
machen wir in einem schwierigen Umfeld, weil wir das
nicht allein national verwirklichen können. Wir haben
also nicht die klassische Gemengelage: Einige dich mit
dem Bundesrat, und die ganze Sache ist durch. - Nein,
wir müssen ganz viele Gespräche auf europäischer
Ebene führen.
Wir wissen auch, dass Finanzmarktregulierung primär
europäisch ist. Das ist eine ganz neue Situation für den
Deutschen Bundestag. Auch diese Herausforderung haben wir angenommen und uns ihr gestellt. Wir versuchen, frühzeitig Initiativen zu ergreifen, und suchen das
Gespräch mit unseren Partnern in Brüssel und in London.
Das Ganze geht sogar noch weiter. Der Finanzausschuss wird sich in den nächsten Wochen in die USA begeben, weil wir auch erkannt haben, dass Europa selbst
zu klein ist für Finanzmarktregulierung. Wir müssen die
wichtigen, die großen Initiativen auf G-20-Ebene, auf
der Ebene der wichtigsten Industrieländer, voranbringen;
sonst wird es uns nicht weiterhelfen.
Finanzmarktregulierung ist aber auch Detailarbeit. Es
gibt leider nicht den großen Knopf, auf den man drücken
kann, und dann wird alles gut. Deswegen ärgere ich
mich immer - ganz unabhängig von der Parteifarbe -,
wenn Leute behaupten: Ich habe diesen Knopf gefunden;
wir führen die Finanztransaktionsteuer ein, und alles
wird gut; wir machen ein Trennbankensystem, und alles
wird gut.
({5})
Denn das ist genau das, was nicht funktioniert. Ich
glaube, zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass wir den Menschen sagen: Es ist Kleinarbeit; es ist Detailarbeit. Wir
werden nie mit der Finanzmarktregulierung fertig werden. Wir werden immer irgendjemanden haben, den wir
durch unsere Regulierung nicht erfasst haben. Wir werden auch weiterhin vor der Situation stehen, dass Dinge
schiefgehen werden.
Aber ich denke, es ist wichtig, dass wir uns dieser
Aufgabe trotzdem stellen und trotzdem auch solche Gesetze, die jetzt vielleicht sehr langweilig klingen, verabschieden und uns ernsthaft mit ihnen beschäftigen; denn
das sind alles kleine Mosaiksteine, die dazu beitragen,
dass die Finanzmärkte besser und sicherer werden.
({6})
Jetzt könnte ich sagen: Alles ist gut. Die Koalitionsfraktionen machen einen vernünftigen Job, die Opposition auch, weil sie ihre kritischen Verbesserungsvorschläge einbringt. Der Bundestag beschäftigt sich mit
dieser wirklich wichtigen Frage. - Wenn man sich hier
so umschaut, denkt man: Angesichts der Bedeutung dieses Themas könnten im Plenarsaal mehr Abgeordnete
sitzen. Auf der Besuchertribüne sitzt ja eine Menge Personen. Es ist aber nicht alles gut. Wir haben durchaus
noch einige Probleme zu lösen.
({7})
Bei zwei Problemen bringen wir eine Lösung zustande,
und bei der Lösung des dritten Problems ist noch eine
große Frage offen.
Erstes Problem. Wir haben festgestellt, dass bei all
den Regulierungsmaßnahmen, die ich jetzt aufgezeigt
habe, irgendwo die Abstimmung fehlt. Das heißt, es gibt
eine Regulierungsmaßnahme A, die gegenläufig zu Regulierungsmaßnahme B ist. Beispielsweise ist die Regulierung bei den Versicherungen nicht passgenau zu den
Regulierungen bei den Banken. Deswegen ist es zu begrüßen, dass sich das Bundesfinanzministerium jetzt dieses Themas annimmt und dass wir darauf mehr als in der
Vergangenheit achten. Dieses Problem, das wir in der
Vergangenheit nicht gelöst hatten, bekommen wir gelöst.
Zweites Problem. Wir haben bisher zu wenig darüber
nachgedacht, was diese Regulierung für die Finanzmärkte an sich bedeutet. Diese Märkte werden sich verändern. Beispielsweise Versicherungen werden nicht
mehr so stark Banken finanzieren, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Aber noch viel wichtiger ist: Was
bedeutet diese Regulierung für die Realwirtschaft? Das
heißt: Was bedeutet sie für die Produkte und für deren
Preise? Werden Kommunalkredite teurer? Werden Mittelstandskredite teurer? Ich denke, wir müssen genau
Obacht geben. Regulierung ist nicht kostenlos zu haben;
es wird teurer werden. Aber wenn es Auswüchse gibt,
dann sollten wir dort einschreiten. Die damit verbundenen Probleme bekommen wir, glaube ich, auch gelöst.
Das letzte Problem birgt eine Frage, die tatsächlich
noch offen ist. Diese Frage ist: Too big to fail, too connected to fail? Auf dem Markt sind Akteure, die so groß
und so vernetzt sind, dass sie letztlich immer vom Steuerzahler gerettet werden müssen, damit nicht der ganze
Markt verwüstet wird. Ich möchte jetzt eine Abschlussfrage stellen, die ich Ihnen heute hier nicht beantworten
kann, der wir uns aber wirklich sehr intensiv widmen
sollten: Ist es selbst für gute Marktwirtschaftler erträglich, dass das Scheitern eines großen und vernetzten
Marktteilnehmers dazu führen kann, dass der ganze
Markt zusammenbricht, oder gehört es zur Marktwirtschaft, dass jeder Marktteilnehmer, etwa nach einer Insolvenz, vom Markt verschwinden kann, dass er also
nicht vom Staat gerettet werden muss? Diese Frage haben wir noch nicht beantwortet.
({8})
Sie müssen wir aber beantworten. Ich freue mich auf die
Diskussionen dazu.
Danke.
({9})
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Brinkhaus, das Gute an der freien Rede hier
im Bundestag ist ja, dass man all das sagen kann, was
man immer schon einmal loswerden wollte; das ist wirklich gut.
({0})
Ich werde jetzt aber zur Tagesordnung sprechen;
Stichwort „Leerverkäufe“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise wurden
ungedeckte Leerverkäufe vom damaligen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück - zu Recht - untersagt.
({1})
- Ja, sie sind untersagt worden.
({2})
Ihr Problem war doch, dass Sie dieses Verbot nicht verlängern wollten. Dafür verantwortlich war doch die
schwarz-gelbe Koalition.
({3})
- Nein, Sie haben erst einmal dieses Verbot auslaufen
lassen; so ist die Geschichte. Dann haben Sie erkannt:
„Wir haben einen furchtbaren Fehler gemacht“, weil das
Problem ja weiter existierte. Dann sind Sie darangegangen, ein Gesetz zu machen. In dieser Reihenfolge ist das
Ganze abgelaufen.
({4})
- Das will ich Ihnen gleich erklären, Herr Volk.
Wir Sozialdemokraten haben an diesem Gesetzentwurf kritisiert, dass ein rein nationales Gesetz in dieser
Frage keinen Beitrag zur Lösung des Problems darstellt
und dass das, was vorgeschlagen wurde, viel zu wenig
konkret war.
({5})
Das war unsere Kritik, und diese Kritik teilten viele
Sachverständige; sie haben das in der Anhörung ebenfalls so formuliert. Die Wirksamkeit eines nationalen
Verbotes von ungedeckten Leerverkäufen bewegt sich
nahe bei null, da die Spekulanten jederzeit auf andere Finanzmärkte in Europa oder in den USA ausweichen können.
({6})
Wir haben dann hier im Haus gesagt: Wir fordern eine
europäische Lösung;
({7})
denn nur eine europäische Regelung kann Wirkung entfalten.
({8})
Da können wir einfach einmal sagen: Unsere Kritik hat
Früchte getragen.
({9})
Endlich geht es darum, eine solche einheitliche Regelung in Europa umzusetzen
({10})
- wir haben sie angestoßen; in der Tat, da haben Sie völlig recht -,
({11})
und zwar mit der europäischen Leerverkaufsverordnung,
die das Europäische Parlament und der Rat auf den Weg
gebracht haben.
Nun sollen die entsprechenden Umsetzungsmaßnahmen stattfinden. Wir werden uns intensiv mit diesem Gesetzentwurf beschäftigen. Es gibt einen ganz wichtigen
Aspekt, den ich gleich ansprechen möchte - der Herr
Staatssekretär ist darauf eingegangen, Herr Sänger auch
schon; der Bundesrat hat das in seiner Stellungnahme
ebenfalls angesprochen -, und das ist die Aufteilung der
Zuständigkeit für den Erlass von zeitlich befristeten
Leerverkaufsverboten und von Transaktionsbeschränkungen. Auf der einen Seite soll die BaFin zuständig
sein, und auf der anderen Seite soll die jeweilige Börsengeschäftsführung an den einzelnen Börsen zuständig
sein. Gegen diese Struktur bestehen aus unserer Sicht
sachliche und rechtliche Bedenken. Der Bundesrat hat
das auch entsprechend formuliert. Das Ziel einer bundeseinheitlichen Regelung wird damit nicht erreicht.
Sie sehen eine Vielzahl beteiligter Behörden vor. Eine
einheitliche Entscheidung ist so nicht gewährleistet. Sie
können nicht sicherstellen, dass bei einem Leerverkaufsverbot an einer Börse nicht die Situation eintritt, dass
diejenigen, die Leerverkäufe tätigen wollen, an eine andere Börse ausweichen. Damit würde der gesamte Ansatz unterlaufen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, das ist
ein ganz wesentlicher Kritikpunkt, den wir in einer Anhörung ganz präzise untersuchen sollten; denn der
Zweck des Leerverkaufsverbots, die Unterbindung der
Leerverkäufe, würde mit dieser Regelung ad absurdum
geführt. Das werden wir jedenfalls nicht unterstützen
können.
({12})
Wir werden einem solchen Gesetzentwurf nur zustimmen können, wenn es ein wirklich effektives Instrument
zur Unterbindung schädlicher Spekulationen gibt.
Vielen Dank.
({13})
Zum Tagesordnungspunkt 11 a ist interfraktionell die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9665
an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 11 b. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie 2010/73/EU
und zur Änderung des Börsengesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9645, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8684 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen möchte, gebe bitte ein
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und die SPD angenommen; die Linke war dagegen; Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. - Die Gegenstimmen! - Die Enthaltungen! - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rüstungsexporte kontrollieren - Frieden
sichern und Menschenrechte wahren
- Drucksache 17/9412 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})Auswärtiger Ausschuss ({3})Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
GeschäftsordnungInnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionFederführung strittig
Hierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Für Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort der
Kollegin Katja Keul.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor knapp
einem Jahr war die Aufregung groß über die angebliche
Genehmigung von Panzerlieferungen an Saudi-Arabien.
Bis heute haben wir keine Antwort der Bundesregierung
auf die Frage, ob es diese Genehmigung gegeben hat
oder nicht und, wenn ja, warum.
({0})
Ich weiß, dass nicht nur die Abgeordneten der Opposition mit dieser Situation unzufrieden waren. So mussten
Sie von den Koalitionsfraktionen Ihre Regierung für etwas verteidigen, von dem Sie gar nicht wussten, ob es
überhaupt existiert.
({1})
Schön war das nicht. Aber wir haben diesen Missstand
selbst zu verantworten. Unsere Aufgabe ist es schließlich, die Regierung zu kontrollieren. Eine effektive Kontrolle aber benötigt eine solide Informationsgrundlage.
Wir sind aufgefordert, uns diese Grundlage als Gesetzgeber selbst zu schaffen.
({2})
Mit dem heutigen Antrag legen wir Grüne Eckpunkte
für ein Rüstungsexportkontrollgesetz vor, damit die heutigen und künftigen Regierungen ihre Entscheidungen
transparent machen und begründen müssen.
Erste Kernforderung ist, die Rüstungsexportrichtlinie
und den Gemeinsamen Standpunkt der EU in das Außenwirtschaftsgesetz und das Kriegswaffenkontrollgesetz zu integrieren. Es hat sich gezeigt, dass die Selbstverpflichtung der Regierung, sich an ihre eigenen
Grundsätze zu halten, leider nicht ausreicht. Wenn wir es
ernst meinen mit der Berücksichtigung der Menschenrechtslage und der Gefahr innerer Repression, dann können wir diese auch in den gesetzlichen Kriterienkatalog
aufnehmen und im Bundestag beschließen.
({3})
Was den Gemeinsamen Standpunkt der EU betrifft,
haben es viele unserer Nachbarn bereits vorgemacht und
die acht Kriterien in ihre Gesetze übernommen. Das
können wir auch.
({4})
In diesem Zuge wollen wir auch die Berichtspflichten
verbindlich regeln. Der Rüstungsexportbericht kommt
immer viel zu spät und viel zu selten. Wir wollen künftig
vierteljährlich mit aktuellen und aussagekräftigen Zahlen versorgt werden. Auch hier sind uns unsere europäischen Nachbarn weit voraus. In besonders brisanten Fällen sollte der Bundestag auch vorab informiert werden,
um gegebenenfalls mit Anhörungen oder Stellungnahmen auf die Willensbildung der Regierung Einfluss nehmen zu können. Der Geheimhaltungskult ist völlig überzogen und muss auf das notwendige Maß zurückgeführt
werden.
({5})
Dabei ist eines klar: Die Letztentscheidung über die einzelne Genehmigung bleibt immer bei der Exekutive. Wir
wollen kontrollieren, nicht selber entscheiden.
Zur parlamentarischen Beteiligung bei Rüstungsexporten hat die SPD-Fraktion im letzten Monat einen
Antrag eingebracht, über den wir gerne reden können.
Was Sie dort fordern, ist gut, reicht uns Grünen aber noch
nicht aus. Wir halten es für sachgerechter, die Ressortzuständigkeit für Rüstungsexporte in das Auswärtige Amt
zu verlagern. Das Auswärtige Amt kann die Situation in
den Empfängerstaaten am besten beurteilen. Interessanterweise werden jetzt schon die Voranfragen bei Kriegswaffenexporten direkt an das Auswärtige Amt gerichtet.
Warum? Weil die Unternehmen rechtzeitig eine inhaltliche Einschätzung mit Aussagekraft haben wollen. Die
wirtschaftlichen Aspekte spielen nach den Grundsätzen
nur eine untergeordnete Rolle. Dann gibt es aber keinen
Grund dafür, die abschließende Entscheidungskompetenz
beim Wirtschaftsministerium zu belassen.
Nicht zuletzt ist eine Rüstungsexportkontrolle nur so
gut, wie sie auch faktisch überprüft wird. Eine tatsächliche Endverbleibskontrolle findet allerdings bis heute
überhaupt nicht statt. Die Behörden verlassen sich auf
eine sogenannte Endverbleibserklärung des Exportunternehmens. Auch hier zeigen uns unsere Bündnispartner,
dass es effektivere Wege gibt. Solche Verfahren wollen
wir gesetzlich regeln und uns auch auf europäischer
Ebene dafür einsetzen.
({6})
Im besten Fall schaffen wir es sogar, die Exportgenehmigungen einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen, indem wir in diesem Bereich Verbandsklagen zulassen.
({7})
Bislang können die Unternehmen gegen ablehnende Entscheidungen klagen. Die Menschenrechte sind dagegen
im Verfahren durch keine Lobby vertreten. Im Bereich
des Umweltschutzes haben wir vorgemacht, wie so etwas gehen kann.
Ich bitte Sie eindringlich, sich Ihrer Verantwortung
als Parlamentarier bewusst zu werden. Wir dürfen es
nicht länger dabei belassen, jeweils die eigene Regierung gegenüber der Opposition für Rüstungsexporte zu
verteidigen und umgekehrt. Auch das Parlament ist nach
Art. 26 des Grundgesetzes in der Pflicht, den Frieden zu
sichern. Auch wir stehen in der Verantwortung für eine
restriktive Rüstungsexportpolitik. Wenn wir nicht endlich transparente Verfahren schaffen, werden wir dieser
unserer Verantwortung nicht gerecht.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Andreas Lämmel hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema
Rüstungsexporte hat uns in den letzten Monaten ziemlich oft bewegt. Wir haben im Deutschen Bundestag
schon mehrfach über dieses Thema diskutiert. Auch
heute werden wir keinen Erkenntnisgewinn erzielen,
weil das, was Sie vorschlagen, nicht neu ist.
({0})
- Herr Barthel, warten Sie nur; wir kommen noch zu Ihrer Rolle, die Sie dabei gespielt haben. Denn zum einen
- das wissen Sie auch ganz genau - bringt Ihr Antrag,
den Sie heute gestellt haben, überhaupt nichts Neues.
({1})
Zum anderen ist schon der Beginn Ihres Antrages grundsätzlich falsch, wo Sie den Panzerdeal mit Saudi-Arabien als besonders empörend hinstellen. Sie selbst haben
in Ihrer Rede gesagt: Wir wissen gar nicht, ob dieser
Deal zustande gekommen ist.
({2})
- So steht es im Antrag der Grünen: „Deal“; ich habe nur
wörtlich zitiert.
Die SPD hatte auch schon einen Antrag gestellt; darüber haben wir im April dieses Jahres diskutiert. Bereits
im Oktober letzten Jahres hatten wir das gleiche Thema
auf der Tagesordnung. Dass dieses Thema stark emotional überlagert ist, ist uns sicherlich allen klar. Auch in
der Öffentlichkeit wird heftig darüber diskutiert.
Ich kann aber immer nur sagen, meine Damen und
Herren von den rot-grünen Fraktionen: Wenn man die
Diskussion mit falschen Fakten anheizt und in der Öffentlichkeit Vermutungen zu Tatsachen verkehrt, muss
man sich über den Verlauf der Diskussion nicht wundern. Man kann es gar nicht oft genug betonen: Deutschland hat das strengste Rüstungskontrollgesetz
({3})
und hat sich selbst eine sehr strenge Beschränkung auferlegt.
({4})
Das zuständige Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie richtet sich bei der Genehmigung von Rüstungsexporten nach den Politischen Grundsätzen der
Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen aus
dem Jahr 2000.
Jetzt wollen wir doch einmal schauen, wer im Jahr
2000 die Regierung stellte. Wenn ich mich richtig erinnere, waren das die Fraktionen der SPD und der Grünen.
({5})
Sie kritisieren jetzt also das, was Sie selbst gemacht haben, und sagen, es sei unzureichend. Da frage ich Sie
heute: Warum haben Sie es denn damals, als Sie an der
Regierung waren, nicht so ausgestaltet, wie Sie es heute
fordern?
({6})
Ich möchte aus diesem Gesetz zitieren: Lieferungen
an Länder, die sich in bewaffneten äußeren Konflikten
befinden oder bei denen eine Gefahr für den Ausbruch
solcher Konflikte besteht, scheiden grundsätzlich aus.
Auch bei einem schon hinreichenden Verdacht, dass
deutsche Waffen zur Unterdrückung der Bevölkerung
oder zu sonstigen fortdauernden Menschenrechtsverletzungen im Empfängerland missbraucht werden könnten,
gibt es grundsätzlich keine Exportgenehmigung. - Die
Genehmigung von Rüstungsexporten unterliegt also der
ständigen sicherheitspolitischen Abwägung und erfolgt
in Reaktion auf politische Ereignisse.
Diese Regelungen - ich hatte es gesagt - sind von Ihnen aufgestellt worden. Sie sind weder von der Großen
Koalition noch von der christlich-liberalen Koalition in
irgendeiner Form aufgeweicht worden, wie Sie das jetzt
behaupten. Wir richten uns also nach den Grundsätzen,
die Sie aufgestellt haben. Diese Regelungen - Geheimhaltung der Beschlüsse des Bundessicherheitsrats und
jährliche Publikation des Rüstungsexportberichts - gehen auf die Entscheidungen Ihrer damaligen Regierung
zurück.
Man kann natürlich darüber diskutieren - das gebe
ich gerne zu, weil wir das nicht anders sehen -: Der Rüstungsexportbericht muss schneller ins Parlament kommen, damit man die Chance hat, die Entscheidungen der
Bundesregierung und des Bundessicherheitsrates relativ
zeitnah nachzuvollziehen. Warum Sie die Maßnahmen,
die Sie jetzt fordern - darauf werde ich gleich noch eingehen -, im Jahr 2000 nicht selbst umgesetzt haben,
bleibt mir ein Rätsel. Aber ich nehme an, dass der Redner der SPD vielleicht darauf antworten wird.
Man muss auch auf Folgendes hinweisen: Sie suggerieren immer, dass Deutschland Waffen vor allen Dingen
in fragile Staaten oder Konfliktgebiete exportiert. Ich
möchte aber hervorheben, dass über 50 Prozent aller
Exporte in die europäischen Staaten bzw. in NATO-Staaten gehen.
({7})
- Immer mit der Ruhe. Die geht nicht dahin, wohin Sie
gleich wieder vermuten. Sie haben mich ja nicht ausreden lassen. Die andere Hälfte geht in Entwicklungsländer. In fragile Staaten gehen weniger als 10 Prozent des
gesamten deutschen Exportes.
({8})
Sie müssen sich eingehender mit der Struktur beschäftigen, um zu erfahren, was tatsächlich exportiert wird. Das
hat mit Kriegsgerät zunächst gar nichts zu tun.
({9})
Das muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man darüber
diskutiert, welche Rolle deutsche Rüstungsexporte in der
Welt spielen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Frau Keul zulassen?
Wollen Sie mich fragen, warum Sie damals das Gesetz nicht entsprechend gestaltet haben?
Ihre Bemerkung deute ich als ein Ja.
({0})
Herr Kollege, Sie haben gerade über die 50 Prozent
der Rüstungsexporte gesprochen, die nicht an NATOund EU-Staaten gehen. Ich frage Sie, wie Sie das einschätzen und ob Sie wissen, dass die größten Empfänger
unter anderem die Vereinigten Arabischen Emirate, Pakistan und Indien sind. Sind das nicht Staaten, die in einer Konfliktregion liegen? Sind das Staaten, die die
Menschenrechte beachten?
Ich staune über Ihre außenpolitischen Kenntnisse. Ich
bin davon ausgegangen, dass Indien ein demokratisches
Land mit einem gewählten Parlament ist
({0})
und keine Konfliktregion als solche.
({1})
Auch die Vereinigten Arabischen Emirate sind aus meiner Sicht keine Konfliktregion.
({2})
Ich finde, Ihre Frage ging etwas am Thema vorbei.
Sie fordern in Ihrem Antrag die Abschaffung der Geheimhaltung. Das ist schon erstaunlich. Wozu braucht
man den Bundessicherheitsrat? Man braucht ihn, weil
man bei den Entscheidungen über Rüstungsexporte sehr
viele verschiedene Gründe abwägen muss. Bei einer solchen Abwägung geht es um wichtige Aspekte der Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Zusammenhang
kann man nicht alle Fakten, die eine Rolle spielen, auf
den Tisch legen. Unsere Verbündeten innerhalb der
NATO oder im weiteren Verbündetenkreis wären wenig
erfreut, wenn wir alle Fakten öffentlich diskutieren würden. Deswegen ist der Bundessicherheitsrat eingerichtet
worden, und zwar durch Ihr Gesetz; das möchte ich betonen. Wir halten das für eine vernünftige Regelung;
denn bei den Entscheidungen sollen alle Aspekte berücksichtigt werden. Geheime Aspekte würden bei einer
öffentlichen Diskussion sicherlich nicht auf den Tisch
kommen.
Die Einführung von Verbandsklagen ist das tollste
Experiment, das Sie uns vorschlagen. Sie führen auch
noch an, dass das im Umweltrecht eine gute Erfindung
gewesen sei.
({3})
Das bezweifle ich. In den neuen Bundesländern wurde
das Verbandsklagerecht im Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz einige Zeit ausgesetzt. Nur deswegen konnten wir innerhalb kürzester Zeit die Infrastruktur in Ostdeutschland aufbauen. Betrachtet man gerade
vor dem Hintergrund der Energiewende die Situation in
den alten Bundesländern, dann stellt man fest: Viele Infrastrukturbauten sind gerade deshalb nicht vorangekommen, weil die Instanzen durch eine Verbandsklage,
die Sie auch für diesen Bereich fordern, alles blockieren.
({4})
Ich kann das nicht als positives Vorbild sehen. Das ist
auch der Grund dafür, dass wir kein Verbandsklagerecht
in diesem Gesetz wollen.
Sie sprechen in Ihrem Antrag auch den Endverbleib
von Rüstungsgütern an. Man muss deutlich sagen: Das
Empfängerland von Rüstungsgütern verpflichtet sich,
das gelieferte Gerät nicht weiter zu exportieren. Diese
Zusage des Empfängerlandes ist die Voraussetzung dafür, dass in Deutschland überhaupt eine Entscheidung
getroffen wird.
Zum Thema Iran. Das ist ein Beispiel für den Anfang
der Kette. Daraus hat man in Bezug auf die Rüstungsexportkontrolle schnell gelernt. Nehmen wir als Beispiel
die Fabrik in Saudi-Arabien, in der G 35 hergestellt werden.
({5})
- G 36; Sie sind Rüstungsexperte allererster Güte.
({6})
- Das kann schon sein.
({7})
Wir betrachten das eben aus wirtschaftspolitischer Sicht,
da muss man nicht jeden Typ kennen. Sie sind in diesem
Bereich besser drauf; ich merke das schon.
Jedenfalls ist es bei dieser Fabrik so, dass die Schlüsselteile bzw. die Schlüsseltechnologien, die man braucht,
um das G 36 zu fertigen, nicht mehr exportiert werden;
sie bleiben in deutschem Besitz. Damit wäre die Fabrik
in Saudi-Arabien überhaupt nicht mehr in der Lage,
diese Geräte herzustellen.
Schließlich bleibt die Frage der Ressortzuständigkeit.
Das Auswärtige Amt ist - das ist überhaupt keine
Frage - heute schon eingebunden. Es ist bei den Vorabfragen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz federführend. Insofern wird die Expertise des Auswärtigen Amts
voll einbezogen. Das Auswärtige Amt wird auch bei der
Exportgenehmigung einbezogen. Nur wenn bei einer
Anfrage kein Konsens zwischen den beteiligten Häusern
hergestellt wird, muss letztendlich eine politische Entscheidung im Bundessicherheitsrat getroffen werden.
Der Sachverstand des Auswärtigen Amts, gepaart mit
der Expertise und der Erfahrung des Bundeswirtschaftsministeriums, ist genau die Mischung, die man braucht,
um solche Anträge ordentlich bewerten zu können.
Unsere Einschätzung ist: Hier liegt ein klassischer
Oppositionsantrag vor. Sie kritisieren im Prinzip Ihre eigene Gesetzgebung aus der Vergangenheit. Vielleicht haben Sie die Chance - wenn Sie mal wieder regieren sollten; ich hoffe, zumindest nicht in Berlin -, den Antrag
selbst wieder einzubringen. Ich bin sicher, dass er auch
unter einer von Ihnen gestellten Regierung nicht beschlossen werden wird. Insofern, meine Damen und Herren, hätten wir uns die Zeit heute sparen können.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Klaus Barthel spricht jetzt für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte erst einmal einen Glückwunsch an die Grünen richten, dass sie das Thema heute nicht zu nächtlicher Stunde platziert haben. Wir merken ja an Ihrer
Nervosität, Herr Dr. Pfeiffer, dass es Ihnen unangenehm
ist, dass dieses Thema nicht bei Nacht und Nebel besprochen
({0})
und aus der Geheimdiplomatie, soweit man hier überhaupt von Diplomatie reden kann, herausgeholt wird.
Ich glaube, es gibt genügend Gründe dafür, dass wir
gemeinsam mehr Transparenz und Parlamentsbeteiligung fordern. Wir haben diese Gründe auch benannt, zuletzt in den Debatten über die Rüstungsexporte vom
26. April dieses Jahres und vom vergangenen Oktober,
die Herr Lämmel gerade erwähnt hat. Die SPD hat auch
einen Antrag unter dem Titel „Frühzeitige Veröffentlichung der Rüstungsexportberichte sicherstellen“ eingebracht. Ich glaube, dafür liegen viele Gründe auf der
Hand; wir benennen sie gemeinsam.
Ich will aber noch einen Aspekt ansprechen, über den
ich neulich gestolpert bin, als ich in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung eine Buchbesprechung las. Dabei
ging es um das Buch eines Kenners der Rüstungswirtschaft namens Andrew Feinstein. Er schreibt in seinem
Buch - ich darf aus dieser Zeitung zitieren -:
Waffenhandel erfolgt in geheimem Einverständnis
von Staats- und Regierungschefs, Geheimdienstleuten, führenden Industrieunternehmen mit ihrer
Spitzentechnologie, Geldgebern und Banken, LieKlaus Barthel
feranten, Mittelsmännern, Geldwäschern und Kriminellen.
Der Waffenhandel, sagt er, sei darüber hinaus für mehr
als 40 Prozent der Korruption im gesamten Welthandel
verantwortlich. Er ist einer, der es wissen muss.
Sie können auf diese Analyse so oder so reagieren,
meine Herren von der Koalition. Sie können sagen:
Stimmt. - Uns in Deutschland fallen dazu ein paar Namen aus vergangenen Zeiten ein. In dem Zusammenhang finden Gerichtsverfahren, Haftgründe usw. bis
heute öffentliche Beachtung. Man kann sagen: So ist nun
einmal die Welt. Wir müssen da eben mitmischen; denn
es geht um Wachstum und Arbeitsplätze, und schließlich
machen es die anderen auch.
Ich will jetzt nicht von den 231 Millionen Toten reden, die uns Herr Feinstein vorrechnet. Es ist ja das Bittere, dass das immer im Hintergrund steht. Wenn man
das aber einmal ökonomisch betrachtet, Herr Lämmel,
dann sollte man sich schon fragen, was dieser Waffenhandel auf der Welt auslöst, ob das, was er ökonomisch
kaputtmacht, nicht mehr ausmacht als das, was er an Gewinnen ermöglicht.
({1})
Wir sollten auch einmal über die ökonomischen Schäden der damit verbundenen Korruption reden. Die Bundesregierung müsste zum Beispiel die im Jahr 2012 anstehende Überprüfung des gemeinsamen Standpunkts
der EU, die schon erwähnt worden ist, zum Anlass nehmen, nachzufragen - Stichwort Verbindlichkeit -, wie es
um die Einhaltung des gemeinsamen Standpunkts steht.
Es ist zu fragen: Wie funktionieren die Kontrollen? Ansonsten wird doch auch alles in der EU kontrolliert.
Funktioniert das bei Rüstungsexporten auch, und wie
wollen wir das in Zukunft gemeinsam gestalten? Die
Bundesregierung müsste einmal auf den internationalen
Konferenzen, zum Beispiel zum internationalen Waffenhandelsabkommen, ATT, Druck machen. Aber davon ist
nichts zu hören und nichts zu sehen. Dabei wäre das
doch konsequent. Wir sind gespannt, welche Antworten
Sie geben werden. Demnächst werden wir eine Anfrage
dazu einreichen.
Sie könnten aber auch sagen: Das stimmt nicht. In
Deutschland ist alles anders. Wir haben die Rüstungsexportrichtlinie usw. - Dann müssten Sie aber einmal erklären, warum die Bundesregierung die Rüstungsexportrichtlinie, die von Rot-Grün beschlossen wurde, immer
mehr aufweicht. Das ist doch die Frage.
({2})
Wenn man sich vor Augen führt, dass der weltweite Rüstungshandel in den letzten fünf Jahren um 24 Prozent zugenommen hat, aber der deutsche Rüstungsexport überproportional um 37 Prozent gestiegen ist,
({3})
also im Wesentlichen in der Zeit, in der Sie hier Verantwortung tragen, kann man doch nicht einfach sagen:
Ursache ist die von Rot-Grün beschlossene Rüstungsexportrichtlinie. Dahinter steckt doch vielmehr eine Veränderung, ein klammheimliches Unterlaufen dieser Rüstungsexportrichtlinie.
({4})
Genau deswegen müssen wir Mechanismen einbauen.
Wir müssen das besser kontrollieren.
({5})
Wenn Sie sagen: „Das stimmt nicht“, dann müssten
Sie erklären, wovor Sie Angst haben, wenn SPD und
Grüne mehr Kontrolle und Transparenz fordern. Man
konnte den Eindruck gewinnen, dass Sie Angst haben,
weil Sie in Ihrer zwölfminütigen Rede viele Füllbausteine einbauen mussten. Wenn Sie sagen: „Das stimmt
nicht“, hätten Sie doch eigentlich nichts zu befürchten.
({6})
Herr Lämmel, Sie müssten einmal Ihre Argumente
überprüfen. Sie haben am 26. April 2012 in Ihrer zu Protokoll gegebenen Rede die politischen Grundsätze hinsichtlich der Menschenrechte zitiert und ihnen zugestimmt. Sie müssten einmal sagen, wie Panzerexporte
nach Saudi-Arabien mit den Menschenrechten und den
politischen Grundsätzen zusammenpassen. Sie sprachen
von Vertraulichkeit. Sie sagten, wenn ich Sie zitieren
darf:
Nicht jede Debatte, die wir in der Außen- und Sicherheitspolitik mit und gerade über andere Länder
führen, können wir öffentlich führen.
Sie müssen einmal erklären, wie Sie damit umgehen
wollen, wenn die Sache mit den Panzern herauskommt,
und irgendwann kommt das doch raus. Heute können Sie
nichts dazu sagen, aber irgendwann stehen die Panzer
dort. Dann ist es zu spät; aber dann müssen Sie diese Debatte führen. Das heißt, Sie müssen sich diesen Fragen
ohnehin stellen. Wir wollen, dass der Begründungszwang für eine Regierung bei Rüstungsexporten verschärft und erhöht wird.
({7})
Schließlich reden wir hier nicht über irgendetwas, sondern über Dinge mit großer Tragweite. Wenn es um
Nordafrika, Saudi-Arabien oder U-Boote geht, die an Israel geliefert werden sollen, kann man so oder so dazu
stehen. Helmut Schmidt hat gesagt, er hätte die U-Boote
nicht nach Israel geliefert. Diesbezüglich gibt es auch
bei uns Meinungsunterschiede. Aber gerade wenn es
Meinungsunterschiede gibt, ist es doch notwendig, dass
man zeitnah darüber diskutiert und nicht hinterher, wenn
es zu spät ist.
({8})
Wir werden doch gemeinsam von der Öffentlichkeit
vorgeführt - das gilt auch für die Regierung -, wenn so
etwas in den Medien breitgetreten wird, aber das Parlament offiziell gar nichts darüber wissen und gar nichts
dazu sagen darf. Als Abgeordneter einer Koalitionsfraktion wäre es mir ein Graus, mich zu Vorgängen äußern
zu müssen, von denen ich überhaupt nichts wissen darf.
Herr Lämmel, Sie mussten sich gerade zu Vorgängen
äußern - vielleicht muss Herr Lindner das auch noch
machen -, von denen Sie überhaupt nichts wissen dürfen.
({9})
- Es geht um Vorgänge, von denen man nichts wissen
darf. Ob man alles zur Kenntnis nehmen muss, ist eine
Frage, über die Sie einmal nachdenken müssten, Herr
Lindner.
({10})
Ihren Reden, Ihren Äußerungen und Ihrem Verhalten
haben wir immer wieder angemerkt, dass Sie eigentlich
auch wollen, dass das Parlament mehr Kontroll- und
Mitspracherechte hat, und dass auch Sie denken, dass
sich an der jetzigen Situation etwas verändern muss.
Herr Lämmel hat zum Beispiel letztes Mal gesagt, dass
er manche Vorschläge von uns durchaus charmant finde
und dass der Rüstungsexportbericht zeitnäher vorliegen
müsse. Bei Ihnen ist also auch ein Problembewusstsein
vorhanden.
Nutzen Sie doch bitte die nächsten Wochen, wenn wir
die Anträge von den Grünen und von der SPD in den
Ausschüssen beraten, um sich näher damit zu beschäftigen. Wir sind auf Ihre Vorschläge, wie man die Situation, mit der auch Sie unzufrieden sind, verändern
könnte, gespannt. Treten Sie mit uns in einen konstruktiven Dialog ein! Sonst wird es wieder so sein wie bei der
Rüstungsexportrichtlinie von 2000, nämlich dass wir es
unter Rot-Grün allein machen müssen. Das machen wir
notfalls auch, aber lieber wäre es uns im Konsens, also
wenn Sie mitmachen.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Lindner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!
Kollege Barthel, eines vorab: Wenn man immer wieder
Anträge vorlegt, die sich inhaltlich wiederholen, kommt
in der Koalition nicht Angst, sondern Langeweile auf.
Langweile kommt natürlich erst recht auf, wenn man
den Text liest. Sie wollen uns immer wieder weismachen, unter Rot-Grün wäre nichts exportiert worden.
Auch jetzt steht wieder in dem Antrag, dass während der
rot-grünen Regierungszeit alle Regelungen verschärft
wurden.
({0})
Ich habe ja schon einmal aufgezeigt - das mache ich
jetzt erneut mit großer Freude -, wie sich in Ihrer Regierungszeit der Kriegswaffenexport entwickelt hat. 2002
hatten die Rüstungsexporte einen Umfang von 300 Millionen Euro. Dann haben Ihre wahnsinnig scharfen Regeln richtig gegriffen, und im Jahr 2003 wurden Rüstungsgüter im Wert von 1,3 Milliarden Euro exportiert.
Das war eine satte Steigerung um 1 Milliarde Euro.
2005, liebe Frau Wieczorek-Zeul - da waren Sie Mitglied im Bundessicherheitsrat und haben sich tapfer wie
eh und je gegen Rüstungsexporte ausgesprochen - wurden Rüstungsgüter im Wert von 1,6 Milliarden Euro exportiert. So sah Ihre Verschärfung aus. Sie alle zusammen sind heuchlerisch und sonst gar nichts.
({1})
Ich erspare Ihnen auch heute nicht, vorzulesen, was
Sie in diesen Jahren exportiert haben. Schießanlagen,
Schießsimulatoren, Revolver, Pistolen, Karabiner, Maschinengewehre, Panzerfäuste und Munition für Haubitzen - all das wurde unter Ihrer Verantwortung nach
Saudi-Arabien geliefert, und jetzt erzählen Sie uns etwas
von Menschenrechten. Sie machen sich in dieser Frage
einfach lächerlich.
({2})
Es geht doch gar nicht mehr um eine seriöse Behandlung
dieses Themas, sondern um puren Populismus. Sie agieren heuchlerisch und populistisch.
Was Sie uns heute vorlegen, ist Kokolores; anders
kann man es nicht bezeichnen. Sie fordern ein Verbandsklagerecht bei Rüstungsexporten. Dadurch könnte jeder
Export blockiert werden. Sie differenzieren ja nicht einmal zwischen Kriegswaffen, allgemeinen Rüstungsgütern und Dual-Use-Waren. Selbst der Export einer
Maschinenpresse könnte dann von irgendeinem Verband
blockiert werden. Wir sind ein Exportland, und diese
Koalition steht dazu.
({3})
Daran hängen Arbeitsplätze. Die Gewerkschaften, die
Sie sonst immer zitieren, zum Beispiel die IG Metall,
fordern von uns, dass wir für die Erhaltung der Arbeitsplätze in den Rüstungsbetrieben kämpfen. Das nächste
Mal schicke ich sie direkt in Ihr Büro.
({4})
Dann noch der ganze andere Kram: Sie fordern eine
vierteljährliche Vorlage des Rüstungsexportberichts. Auf
der einen Seite fordern Sie, dass er immer umfangreicher
Dr. Martin Lindner ({5})
wird, und auf der anderen Seite soll er quartalsweise vorgelegt werden. Das kann überhaupt nicht funktionieren.
Sie fordern Federführung im Auswärtigen Amt. Wollen
Sie dort eine eigene Abteilung einrichten? Wollen Sie
den gesamten Außenhandel vom Wirtschaftsministerium
in das Auswärtige Amt verlagern? Wer soll das da prüfen? Wo sind da die Kompetenzen? Nichts als Populismus auch in dieser Hinsicht.
Sie fordern stärkere Kontrollrechte des Parlaments.
Sie schreiben in diesem Zusammenhang: „bei besonders
sensiblen Exporten“. Was soll denn das sein? Frau Keul,
was soll denn ein besonders sensibler Export sein?
({6})
Sie wollen ein neues Gremium schaffen. All das ist Ihr
übliches Geschwurbel. Ihr Antrag enthält nichts Konkretes, das man wirklich machen könnte.
({7})
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Sie fordern, dass der Endverbleib tatsächlich kontrolliert wird. Wie soll denn das
funktionieren? Welche Truppen, Frau Keul, wollen Sie
denn in diese Länder schicken? Wollen Sie die deutsche
Polizei oder das Bundeskriminalamt dorthin schicken?
Erklären Sie einmal, wie Sie in den Ländern, in die wir
exportieren, den Endverbleib kontrollieren wollen.
Grundsatz „Neu für Alt“: Soll das auch für NATOStaaten, für EU-Partner gelten? Sagen Sie doch einmal,
was Sie konkret wollen.
({8})
Sie fordern, keine Hermesbürgschaften für Rüstungsgüter zu erteilen. Der Prüfungsmaßstab bei Hermesbürgschaften ist eindeutig. Das Ausfallrisiko wird ins Verhältnis zum wirtschaftlichen Nutzen gestellt. Was da
zusätzlich in Betracht gezogen werden soll, lassen Sie
offen. Ihr Antrag beinhaltet nichts Substanzielles, nichts
substanziell Neues.
({9})
Nun zu Ihrer Vorhaltung, Kollege Barthel.
({10})
- Sie erwarten Vorschläge von uns? Wir brauchen gar
keine Vorschläge zu machen. Wir finden es so, wie es im
Moment läuft, richtig.
({11})
Daran ist gar nichts zu ändern.
({12})
Das ist nicht unser Problem. Vielmehr ist es so, dass Sie
hier einen Popanz aufbauen. Ich gebe Ihnen Brief und
Siegel: Wenn Sie irgendwann wieder einmal regieren
sollten, dann werden Sie sich genauso verhalten wie Ihre
Vorgänger - wie Frau Wieczorek-Zeul, die nichts gemacht hat, wie Herr Joschka Fischer, der als Außenminister nichts gemacht hat, und wie all die anderen Helden -, die dann, wenn sie in Regierungsverantwortung
waren, nichts unternommen haben.
({13})
Als sie in Regierungsverantwortung waren, haben auch
sie sich für den Export ausgesprochen, weil sie sich dann
den Realitäten zu stellen hatten und erkennen mussten,
dass wir in einem großen Exportland leben.
Wenn Sie die Rüstungsexporte einmal ins Verhältnis
zu den Gesamtexporten setzen,
({14})
dann müssten auch Sie mithilfe eines normalen Taschenrechners zu der Conclusio kommen, dass der Anteil der
Rüstungsexporte im Verhältnis zu den Gesamtexporten
nicht höher, sondern deutlich niedriger ist. Wir gehen
sorgfältig mit diesen Exporten um. Deswegen haben wir
auch kein schlechtes Gewissen, und deswegen müssen
wir hier auch nichts ändern. Klar ist: Wir werden immer
sorgfältig mit diesem Thema umgehen. Natürlich werden wir immer auch die Menschenrechtslage, die Sicherheitsinteressen Deutschlands und die Sicherheitsinteressen unserer Verbündeten beachten. Gemäß dem, was in
Ihrer Exportrichtlinie steht, werden wir auch in Zukunft
verantwortlich handeln.
({15})
Ihr Antrag ist umständlich. Sie hätten auch nur den
Satz „Rüstungsexporte werden verboten“ hineinschreiben können. Das wäre viel einfacher gewesen. Das
würde nämlich auf dasselbe hinauslaufen.
({16})
- Schauen Sie, von wem Sie Applaus bekommen.
({17})
Ihr Antrag ist redundant. Es handelt sich nämlich um
seine fünfte Vorlage. Außerdem ist er heuchlerisch; das
habe ich schon gesagt.
Sie sollten sich mit Ihrer eigenen Regierungspolitik
- dass Sie an der Regierung beteiligt waren, ist noch
nicht so lange her 21552
Dr. Martin Lindner ({18})
({19})
auseinandersetzen, etwas demütiger auftreten und realistisch bleiben. Dann werden Sie auch für uns ein ernstzunehmender Partner. Wenn Sie solche Schaufensteranträge einbringen, werden Sie vielleicht von Ihren Klubs
oder von dem einen oder anderen Verband wieder einmal
zu einem Kaffee eingeladen.
({20})
Aber ein ernstzunehmender Partner für uns werden Sie
damit nicht.
Herzlichen Dank.
({21})
Frau Wieczorek-Zeul zu einer Kurzintervention, bitte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da mich Herr
Lindner zweimal angesprochen hat, will ich die entsprechenden Punkte aufgreifen.
Erstens finde ich es unangemessen, wenn in einer Debatte, in der es um Waffenexporte und somit letztlich um
Krieg und Frieden und um Tod und Vernichtung geht,
Begriffe wie „heuchlerisch“ und dergleichen verwendet
werden.
({0})
Ich will Ihnen sagen: Wir alle, die wir uns hier engagieren, tun dies deshalb, weil wir eine feste Überzeugung
haben. Wir heucheln nicht,
({1})
sondern wir sind der Überzeugung, dass ein dringender
Veränderungsbedarf besteht.
({2})
Das sage ich als eine Person, die im Bundessicherheitsrat in vielen Fällen anders gestimmt hat, als die Ergebnisse letztlich ausgefallen sind.
Besonders schlimm finde ich, zu sagen - das haben
Sie, Herr Lindner, gerade mehrfach getan -: Das, was
die Grünen vorgeschlagen haben, ist Kokolores. Die
Entscheidung über den Export von Waffen ist eine hochpolitische Entscheidung. Dies als „Kokolores“ zu bezeichnen, ist, wie ich finde, eine unerträgliche Bewertung Ihrerseits.
({3})
Ich will Ihnen noch etwas sagen. Ich werde im nächsten Jahr nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidieren.
({4})
Aber für eine Sache kämpfe ich - ich werde das auch
durchsetzen -: Waffenexporte sind der einzige Bereich,
in dem es keine parlamentarische Kontrolle gibt. Angesichts ihrer dramatischen Auswirkungen ist es einer Demokratie unwürdig, dass dem so ist.
({5})
Wir sollten uns gemeinsam dafür einsetzen, dass ein
Gremium des Deutschen Bundestages eingesetzt wird,
das die entsprechenden Entscheidungen überprüfen und
beeinflussen kann.
({6})
Das ist eine Frage der Demokratie. Der letzte Punkt. Was
hat sich denn verändert? In der Phase, in der die Stabilisierung von Despoten in Nordafrika mit Waffenexporten
von verschiedenen europäischen Ländern erfolgte, haben wir alle gesagt, dass dies falsch sei. Jetzt wird weiter
südlich, bezogen auf Staaten des Golfkooperationsrates,
der Versuch unternommen, genau das Gleiche zu machen. Ich warne davor. Hier werden die gleichen Probleme auftauchen. Deshalb sollten wir uns das zu Herzen nehmen, was Amnesty International heute
festgestellt hat. Saudi-Arabien ist ein Land, in dem die
Menschenrechte massiv missachtet werden. Wir sollten
alles tun, damit durch parlamentarische Kontrolle solche
Entscheidungen keine Chance haben.
({7})
Herr Dr. Lindner zur Reaktion.
Frau Wieczorek-Zeul, es gibt kaum jemanden, der so
wenig geeignet wäre, in dieser Frage eine Kurzintervention zu machen wie Sie. Das muss ich Ihnen ganz ehrlich
sagen.
({0})
Sie wurden 1998 Bundesministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung. In dieser Funktion
waren Sie so lange wie kein anderes Regierungsmitglied, nämlich elf Jahre lang - selbst Bundeskanzler
Schröder war 2005 weg -, Mitglied des Bundessicherheitsrates. Sie haben elf Jahre lang die Entscheidungen
in diesem Kollegialorgan mitgetragen. Sie saßen da, und
Sie haben sie mitgetragen. Sie können uns doch jetzt
nicht ernsthaft erzählen, dass Sie hinter Ihrem Rücken
sozusagen ein Kreuz gemacht und es gar nicht so ernst
gemeint hätten oder dagegen gestimmt hätten. Wenn das
Dr. Martin Lindner ({1})
damals für Sie so eine furchtbare Sache war, dann hätten
Sie doch zurücktreten müssen. Sie haben das mitgetragen. Sie sind an Ihrem Sessel kleben geblieben und haben Ihre Diäten kassiert.
({2})
Frau Wieczoreck-Zeul, Sie haben alles mitgemacht.
Sie hängen mittendrin in den größten Kriegswaffenexportsteigerungen, die wir in der Nachkriegszeit hatten.
({3})
Ich habe es vorhin vorgetragen: Es gab in Ihrer Regierungszeit und unter Ihrer Verantwortung eine Steigerung
dieser Exporte von 300 Millionen Euro auf 1,3 Milliarden Euro. Dann gab es noch einmal eine Steigerung auf
1,6 Milliarden Euro. Der Löwenanteil entfiel auf Entwicklungsländer, Länder, für die Sie zuständig waren.
Ich habe Ihnen die Produkte, die nach Saudi-Arabien
gingen, vorgelesen: Maschinengewehre, Maschinenpistolen und Patrouillenboote. All das lag in Ihrer Verantwortung.
Jetzt stellen Sie sich hier hin und spielen die Jeanne
d’Arc der Rüstungsgegner. Das ist Heuchelei; mir fällt
kein anderer Ausdruck ein. Sie stellen sich hier hin und
sagen auch noch, dass Sie sich mit diesem Thema auch
nach dem nächsten Jahr beschäftigen werden. Sie machen sich doch lächerlich. Alle anderen können da mitreden, beispielsweise die Linken, die immer gegen alles
waren. Bis 1989 war das natürlich anders.
({4})
Da war Ihre Partei zum Beispiel in Bezug auf die Tschechische Republik auf einem ganz anderen Kurs. Den
haben Sie vor kurzem erst erfunden.
Frau Wieczorek-Zeul, aber Sie doch nicht. Sie sind
unglaubwürdig wie niemand anderer. Sich jetzt hier hinzustellen und dieser Regierung vorzuhalten, dass sie genau die Richtlinie anwendet, die in Ihrer Regierungszeit
beschlossen wurde, ist unerträglich. Das kann ich gar
nicht anders sagen.
({5})
Frau Wieczorek-Zeul, das funktioniert nicht. Eine
Kurzintervention lässt die Antwort des Intervenierten zu,
aber nicht die Antwort der Intervenierenden.
({0})
- Ich habe das nicht gehört.
Ich gebe jetzt Jan van Aken für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Das, was die beiden Herren von der Regierungskoalition heute abgeliefert haben, ist für mich das Niveauloseste, was ich hier in den letzten zwei Jahren gehört
habe. Das ist unerträglich.
({0})
Herr Lämmel, Sie haben Ihre Rede mit den Worten
begonnen, das sei alles emotional überlagert. Ich will Ihnen einmal sagen, worum es bei Waffenexporten geht.
Das sind keine Nähmaschinen oder Kühlschränke. Es
geht hier um Krieg, um Gewalt und Tod.
({1})
Das mögen Sie emotionslos sehen. Ich sehe das überhaupt nicht emotionslos.
({2})
Zu Herrn Lindner muss ich sagen, dass ich das unerträglich finde: Jedes Mal, wenn hier eine Frau redet,
dann macht dieser Macho arrogante Zwischenrufe und
krault sich seine Eier. Das ist wenig zu ertragen. Das
geht überhaupt nicht.
({3})
Entschuldigen Sie, Frau Präsidentin. Ich entschuldige
mich dafür.
Für den „Macho“ oder für was jetzt?
Für die „Eier“.
Dazu, dass Sie jetzt sagen, Sie finden diese Debatte
langweilig, will ich Ihnen einmal etwas sagen:
({0})
Alle 60 Sekunden wird irgendwo auf dieser Welt ein
Mensch erschossen. Das sind über 500 000 Männer,
Frauen und Kinder jedes Jahr. Deutschland ist als drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt für viele dieser Toten mitverantwortlich.
({1})
Ich finde das nicht langweilig. Ich finde, wir müssten darüber reden, wie wir das ändern können.
({2})
Jetzt zu den Fakten. Herr Lämmel, Sie sagen, wir
müssten einmal mit den falschen Fakten aufräumen. Ich
nenne Ihnen einmal die richtigen Fakten:
Jedes Jahr genehmigt diese Bundesregierung Rüstungsexporte im Wert von durchschnittlich 6,9 Milliarden Euro. Jedes Jahr genehmigen Sie Exporte in über
130 Länder. Darunter sind auch Länder wie Pakistan, Indien, Griechenland, die Türkei und Katar. Ich kann sie
gar nicht alle aufzählen. Was am Ende mit diesen Waffen
passiert, haben wir alle letztes Jahr im arabischen Frühling gesehen. Dort wurde auch mit deutschen Waffen gekämpft. Bei Gaddafi im Lager wurden nagelneue deutsche Sturmgewehre gefunden. Mubaraks Polizisten in
Ägypten waren mit deutschen Maschinenpistolen unterwegs. Die Leute, die in Kairo protestierten, wurden mit
deutschen Wasserwerfern weggepustet. Das finden Sie
langweilig? Ich finde das nicht langweilig. Ich finde, das
ist ein Skandal.
({3})
Wir wollen das ändern. Da stellt sich doch die Frage,
was hier eigentlich falsch läuft. Ich glaube, zunächst einmal läuft falsch, dass Sie überhaupt gar nicht wissen,
wovon Sie reden. Herr Lämmel redet hier von einem Gesetz und zitiert aus einem Text, der überhaupt kein Gesetz ist. Das sind nämlich sogenannte politische Grundsätze, die sich die Bundesregierung selber gegeben hat.
Das erste große Problem ist, dass das kein Gesetz und
nicht rechtsverbindlich ist. Sie können sich daran halten,
müssen sich aber nicht daran halten. Das wissen Sie
nicht einmal, wenn Sie hier reden. Das zeigt mir doch
den Skandal, dass hier nicht einmal ein einziger Außenpolitiker sitzt, der ein bisschen davon versteht.
({4})
Die Rechtsunverbindlichkeit ist aber nur der eine Teil
des Problems. Der andere Teil des Problems ist, dass in
diesen politischen Grundsätzen zwar ganz viel von Menschenrechten und Kriegsgebieten die Rede ist, dass aber
auch das alles unverbindlich ist. Das alles wird am Ende
abgewogen. Es wird aus außenpolitischen Gründen dann
doch erlaubt, Waffen zu exportieren. In der Praxis sieht
es dann so aus: Die Menschenrechte und die außenpolitischen Interessen werden gegenübergestellt und gegeneinander abgewogen. Die Menschenrechte verlieren dabei
ständig, die Waffen werden immer exportiert, so wie die
Panzer nach Saudi-Arabien. Das muss wirklich aufhören.
({5})
Ich finde, wir müssen beide Probleme lösen, und ich
denke, die Grünen haben hier den ersten Schritt gemacht
- den finde ich gut -, indem sie sagen: Wir müssen das
endlich rechtsverbindlich machen und in ein Gesetz gießen. Ich finde aber, Sie bleiben auf halber Strecke stehen. Das zweite Problem gehen Sie gar nicht an. Sie
müssen auch in einem solchen Waffenexportkontrollgesetz verbieten, dass Waffen an Menschenrechtsverletzer geliefert werden. Sie belassen es bei dieser Abwägung. Ich sage Ihnen: Auch hier werden die Menschenrechte immer verlieren. Es muss klipp und klar verboten
werden, dass Menschenrechtsverletzer Waffen bekommen. Punkt!
({6})
Mir ist sehr klar, dass es bei diesen Mehrheiten im
Bundestag und bei dieser Inkompetenz auf dieser rechten Seite nicht möglich sein wird, in naher Zukunft viel
an den Waffenexporten zu ändern. Das Mindeste, was
Sie tun könnten, ist aber, wenigstens einen kleinen
Schritt zu gehen und den Verkauf von Sturmgewehren
und Maschinenpistolen zu verbieten. Das sind die Massenvernichtungswaffen des 21. Jahrhunderts. Mit diesen
Waffen werden weltweit mehr Menschen getötet als mit
allen anderen Waffensystemen zusammen.
Hier frage ich mich auch: Warum sind Sie von den
Grünen und von der SPD nicht bereit, diesen winzigen
Schritt zu gehen? Wenn Sie jetzt mit Arbeitsplätzen argumentieren, dann sage ich: Das stimmt nicht. Bei einem
Verbot des Verkaufs von Sturmgewehren und Maschinenpistolen reden wir von 300 Arbeitsplätzen in Deutschland. Ich glaube, wenn wir an die vielen Toten denken,
die diese Waffen zu verantworten haben, dann können
wir das in Kauf nehmen.
Während ich hier rede, sind irgendwo auf der Welt
schon wieder vier Menschen erschossen worden, vielleicht auch mit deutschen Waffen. Ich bin der Meinung,
dass Deutschland überhaupt keine Waffen mehr exportieren sollte. Ich finde, einen kleinen Schritt dahin, einen
kleinen Anfang haben Sie mit Ihrem Antrag gemacht. Er
geht mir nicht weit genug. Zustimmen werden wir trotzdem.
Ich bedanke mich.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Dass die Vorlage auf Drucksache 17/9412 überwiesen
werden soll, ist unter den Fraktionen verabredet. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/
CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Auswärtiger Ausschuss - abstimmen. Wer ist dafür? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvorschlag ist nicht
angenommen.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Überweisungsvorschlag ist angenommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren
({0})
- Drucksache 17/9666 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({1})RechtsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Hierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Parlamentarische
Staatssekretär Ole Schröder hat das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Infrastrukturprojekte sind wichtig für unser
Land, für unsere Zukunftsfähigkeit und vor allem auch
für die Lebensqualität der Menschen. Ich denke hierbei
an Straßen, an Bahnhöfe, aber auch an Flughäfen. Auch
andere Großprojekte sind wichtig, wie Speicherkraftwerke oder Fertigungsanlagen. Sie sichern die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Sie sind wichtige Chancen
für unsere Wirtschaft und sichern damit auch Beschäftigung.
Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte in Deutschland gibt es wohl kein großes Projekt, von dem nicht
viele Menschen betroffen sind. Die betroffenen Menschen machen sich Sorgen um die Auswirkungen der
Projekte, aber auch darum, wie es während der Bauphase
aussieht. Sie machen sich Sorgen um Lärm, Schmutz
und Verkehrsbehinderungen. Auch Menschen, die nicht
unmittelbar betroffen sind, sorgen sich um die Umweltverträglichkeit.
Die frühe Beteiligung und Information der Bürger ist
daher von ganz entscheidender Bedeutung, um Fehler
bei Planungen zu verhindern und den Rechtsfrieden zu
erhalten. Es geht um Informationen über die Auswirkungen der fertigen Projekte. Es geht aber auch um Informationen über die Bauphasen und vor allem auch um Informationen darüber, warum ein solches Projekt überhaupt
notwendig ist.
Nach geltender Rechtslage ist die Öffentlichkeitsbeteiligung als wichtiges Verfahrensinstrument in den Genehmigungsverfahren verankert, allerdings erst dann,
wenn die Planungen weitgehend abgeschlossen sind, das
heißt, wenn wir bereits im rechtlichen Verfahren sind.
Deshalb geht es bei der bisherigen Öffentlichkeitsbeteiligung lediglich um rechtliche Fragen. Sie richten sich zudem an die unmittelbar Betroffenen und an die Umweltschutzvereinigungen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir erstmals an zentraler Stelle eine gesetzliche Regelung für
die „frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“ schaffen, das
heißt vor dem eigentlichen Genehmigungsverfahren.
Wir wollen das Verfahren gegenüber allen Interessierten
öffnen. Es soll darüber informiert werden, warum das
Projekt überhaupt notwendig ist, wie es verwirklicht
werden soll und welche voraussichtlichen Auswirkungen es hat. Die Bürger erhalten so die Möglichkeit, Anregungen zu äußern, Bedenken zu artikulieren. Das Ergebnis wird an die zuständige Behörde weitergeleitet
und dann in die Planungen aufgenommen.
Selbstverständlich kann eine solch frühe Öffentlichkeitsbeteiligung nicht alle Konflikte lösen. Es wird auch
zukünftig Streit geben. Es wird auch zukünftig Protest
geben. Das ist in einer Demokratie selbstverständlich.
Das muss es in einer pluralistischen Gesellschaft geben.
Eine breite und frühzeitige Beteiligung kann aber dazu
beitragen, dass Konflikte entschärft werden, dass es
mehr Akzeptanz für beide Seiten gibt: für diejenigen, die
ein Projekt befürworten, aber auch für die Gegner eines
solchen Projekts. Dies hat dann positive Auswirkungen
auf das Genehmigungsverfahren, auf das Planfeststellungsverfahren, aber natürlich auch auf mögliche gerichtliche Auseinandersetzungen, die dann vielleicht
auch vermieden werden können.
Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit den möglichen Einwänden ist jedenfalls besser als eine Generaldebatte, wenn das Verfahren mehr oder weniger abgeschlossen ist und man kurz vor Baubeginn steht. Deswegen werden auch gerade private Vorhabenträger, die
am Gelingen des gesamten Vorhabens ein großes Interesse haben, für eine solche frühe Öffentlichkeitsbeteiligung offen sein. Es ist Sache der Behörden, auch die Privaten dazu zu bewegen, eine solche frühe Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen und sie als Chance zu
begreifen.
Eine darüber hinausgehende Verpflichtung halten wir
nicht für hilfreich. Sie ist vielmehr kontraproduktiv, weil
es gerade darum geht, vor dem eigentlichen rechtlichen
Verfahren eine Kooperation mit den Bürgern einzugehen, um mit ihnen in die Diskussion einzutreten. Es soll
nicht nur darum gehen, rechtliche Fragen zu diskutieren
und das eigene Verfahren rechtssicher zu machen. Deshalb müssen wir die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung vor
dem rechtlichen Genehmigungsverfahren durchführen.
Dieser Gesetzentwurf ist außerdem ein Beitrag zum
Bürokratieabbau. Wir führen eine Rechtsbereinigung
und eine Rechtsvereinheitlichung durch. Es geht darum,
für mehr Klarheit und eine einfachere Anwendbarkeit
der Gesetze zu sorgen.
Die Beschleunigungsvorschriften, die mit dem Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz 2006 zum Planfeststellungsverfahren eingeführt wurden, sind in vielen
unterschiedlichen Fachgesetzen verstreut. Wir führen sie
jetzt zusammen. Die einzelnen Fachgesetze werden damit von den Beschleunigungsvorschriften entrümpelt.
Somit kommen wir zu einer besseren und einfacheren
Anwendung des Rechts, indem wir überflüssige Vor21556
schriften in den jeweiligen Fachgesetzen streichen können.
Die Länder wenden grundsätzlich ihre eigenen Verwaltungsverfahrensgesetze an. Für den Standort Deutschland ist aber ein einheitliches Verfahrensrecht notwendig. Die Anwendbarkeit des Rechts ist für unsere
Planungsbehörden von großer Bedeutung. Deshalb ist
eine einheitliche Fortentwicklung unseres Verwaltungsverfahrensrechts notwendig. Dies ist jetzt ein erster
Schritt auf Bundesebene. Die Landesverwaltungsverfahrensgesetze werden dann hoffentlich auch entsprechend
geändert.
In Sachen Öffentlichkeitsbeteiligung ist das Gesetz
ein erster Schritt, dem weitere folgen werden. Ich denke
an das E-Government-Gesetz der Bundesregierung, das
in Planung ist und dafür sorgen wird, dass auch der Zugang zu Informationen über Projekte erleichtert wird.
Der Bürger kann dann auch online nachvollziehen, was
in Planung ist. Zudem ist das Verkehrsministerium dabei, ein Handbuch für die Betroffenen einzuführen, wie
Bürgerbeteiligung besser durchgeführt werden kann.
Ich bitte Sie, uns auf diesem Weg zu einer besseren
Bürgerbeteiligung zu unterstützen.
({0})
Kirsten Lühmann hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Verehrtes Publikum!
Eine aufrichtige Beteiligung setzt eine entsprechende Haltung bei den Beteiligenden voraus; die
Beteiligten spüren den Unterschied, ob die Beteiligenden authentisch sind und Beteiligung ernsthaft
anbieten oder Beteiligung ausschließlich als Instrument zur Befriedung eingesetzt wird.
Das ist ein Zitat aus einer 93-seitigen Broschüre des Verkehrsministeriums zum Thema „Planung von Großvorhaben im Verkehrssektor“ und klingt sehr gut: Bürgerbeteiligung auf Augenhöhe und mit Ernsthaftigkeit. Das
sind schöne Worte, insbesondere angesichts der Formulierung „Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung“
im Titel des Gesetzesentwurfs, den wir heute beraten.
Aber lassen Sie uns sehen, ob diesen Worten auch Taten der Regierung folgen. Zunächst einmal sind Übersichtlichkeit und Rechtsvereinheitlichung gute Ziele.
Wir sehen auch, dass es in dem Gesetzentwurf einige
Schritte gibt, die in diese Richtung weisen. Aber nochmals zur Formulierung „Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung“ im Titel. Wenn es darum geht, verpflichtende Beteiligungsrechte für Bürgerinnen und
Bürger zu schaffen, dann kann ich nur feststellen: Dieser
Titel kollidiert erheblich mit der Realität. Wunsch und
Wirklichkeit - wie häufig bei den Gesetzentwürfen dieser Regierung - klaffen auseinander. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({0})
An drei Beispielen möchte ich das deutlich machen,
als Erstes an der Bürgerbeteiligung, die von Herrn
Schröder so sehr gelobt wurde. „Frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“ wird der Überschrift eines Kapitel hinzugefügt. Allerdings bleibt das Kapitel weit hinter den Erwartungen, die die Überschrift erweckt, zurück. Frühe
Beteiligung soll dadurch hergestellt werden, dass die Behörden auf frühzeitige Information der Betroffenen „hinwirken“. Das heißt, keine Pflicht und keine Sanktionen.
Zur Bewertung dieses Vorschlags zitiere ich die Stellungnahme des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter
und Verwaltungsrichterinnen:
Diese Hinwirkungspflicht ist wohl die denkbar
schwächste Handlungsanweisung, die man sich für
ein Behördenhandeln nur vorstellen kann.
({1})
Die Regierung weist zwar auf die Möglichkeit hin,
dass man in den Fachgesetzen die verpflichtende Bürgerbeteiligung wählen kann. Aber ich frage Sie, Herr
Schröder, als Vertreter dieser Regierung, was Sie wollen.
Wollen Sie Vereinheitlichung, oder wollen Sie keine
Vereinheitlichung? Sie müssen sich entscheiden.
({2})
Ich zitiere wieder aus der eben erwähnten Stellungnahme:
… insoweit verfehlt der Gesetzentwurf sein oben
erwähntes primäres Ziel, Sonderrechte der Fachgesetze durch eine einheitliche Regelung im VwVfG
möglichst obsolet zu machen.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Ziel verfehlt!
({3})
Zweiter Gedanke, das Plangenehmigungsverfahren.
Man kann statt eines Planfeststellungsverfahrens, das
sehr aufwendig ist, ein Plangenehmigungsverfahren
durchführen. Es handelt sich um ein vereinfachtes Verfahren, das kürzer und überschaubarer ist. Aber dieses
Verfahren bietet den Betroffenen weniger Rechte. Somit
denkt der Lesende - erinnern wir uns an das Ziel der
Bundesregierung, das sie mit diesem Gesetz erreichen
will, nämlich eine Ausweitung der Bürgerbeteiligung -:
Die Bundesregierung wird die Möglichkeiten des vereinfachten Plangenehmigungsverfahrens einschränken. Aber weit gefehlt! Die Bundesregierung schreibt:
Mit der Änderung … wird der Anwendungsbereich
für eine Plangenehmigung maßvoll erweitert.
Ich erinnere, wie es jetzt ist: Ein vereinfachtes Verfahren kann durchgeführt werden, wenn Rechte anderer
nicht beeinträchtigt werden. Wenn keiner beeinträchtigt
wird, kann auch niemand klagen; das ist klar. Nach der
neuen Regelung kann ein Plangenehmigungsverfahren
durchgeführt werden, wenn die Rechte anderer „unwesentlich“ - unwesentlich! - beeinträchtigt werden. Wenn
ich Sie frage, Herr Schröder, was für Sie „unwesentlich“
ist, dann wird sicherlich dabei herauskommen, dass
schon unsere beiden Meinungen auseinandergehen. Sicherlich gibt es diverse unterschiedliche Auffassungen
über das Wort „unwesentlich“ hier im Saal und auf der
Zuschauertribüne. Die Regierung stellt also fest: Die
Rechte der Betroffenen werden beeinträchtigt, aber die
rechtlichen Möglichkeiten der Betroffenen werden eingeschränkt. - Unter Ausweitung der Bürgerbeteiligung
verstehen wir etwas anderes.
({4})
Der dritte Gedanke betrifft die Gültigkeit von Planfeststellungsverfahren, also die Dauer, wie lange eine
solche Genehmigung gültig ist. Die Bundesregierung
stellt fest:
Die verlängerte Plangeltung
- das sind maximal 15 Jahre … begünstigt … den Vorhabenträger
- also die Baubehörde … zulasten der Betroffenen und ist für diese
- also die Betroffenen häufig kaum zumutbar.
Das, liebe Bundesregierung, sehen wir genauso.
Nun stellt die Bundesregierung fest, dass zwar bei
Großvorhaben möglicherweise - das heißt, sie ist sich
nicht sicher - zehn Jahre gerechtfertigt sein könnten,
dass aber bei Abwägung aller Vor- und Nachteile die
Nachteile überwiegen. Nachdem ich das erfreut zur
Kenntnis genommen habe, habe ich im Gesetzentwurf
gesucht, wo die Bundesregierung das umsetzt. Sie vermuten richtig: Ich habe es nicht gefunden. Im Verwaltungsverfahrensgesetz steht zwar, dass eine solche Genehmigung nur 5 Jahre gilt. Aber in anderen Gesetzen,
zum Beispiel im Bundesfernstraßengesetz, steht noch
immer, dass eine Planfeststellung bis zu 15 Jahre gültig
ist. Welche Probleme das in der Praxis birgt, sehen wir in
unseren Wahlkreisen allenthalben. Das heißt, vor 15 Jahren gab es Bürger und Bürgerinnen, die ihre Rechte geltend machen konnten. Aber heute wohnen sie nicht mehr
dort. Diejenigen, die heute da wohnen, haben überhaupt
keine Möglichkeit mehr, ihre Rechte geltend zu machen.
Der Witz ist, dass in diesem Gesetzentwurf sogar das
Bundesfernstraßengesetz und auch dieser Paragraf geändert werden. Allerdings wird die Frist von 15 Jahren
nicht angetastet. Warum haben Sie die nicht angetastet?
Warum haben Sie die Frist nicht wenigstens auf 10 Jahre
begrenzt? Nichts dergleichen. Das Problem wurde erkannt, aber es wurde nichts geändert. Meine Herren und
Damen, das ist unlogisch.
({5})
Das Fazit ist: Wir haben Optimierungsbedarf. Wie
dieser Optimierungsbedarf aussehen könnte, hat die
SPD-Fraktion in ihrem Antrag zur Bürgerbeteiligung
schon angerissen. Neben Verfahrensvereinfachungen
fordern wir echte, verpflichtende Bürgerbeteiligung. Das
Ob und das Wie einer Bürgerbeteiligung darf nicht in das
Belieben von Behörden gestellt werden. Wir fordern einen Bürgeranwalt zur Beratung der Betroffenen und verpflichtende Informationen im Vorfeld des Planfeststellungsverfahrens. Ich sage Ihnen: In Zeiten des Internets
ist so etwas sehr leicht möglich. Das beste Beispiel bietet
mein Heimatland Niedersachsen. Dort werden alle Planungsunterlagen, alle Diskussionen mit Betroffenen und
alle Protokolle zeitnah im Internet eingestellt. Jeder interessierte Bürger und jede interessierte Bürgerin kann
sich das anschauen. Wenn das in Niedersachsen geht,
warum geht das nicht auch woanders?
Wir haben also viel Arbeit in den Beratungen. Ich
vertraue aber auch hier auf das Struck’sche Gesetz: Auch
dieses Vorhaben wird das Parlament nicht so verlassen,
wie es hereingekommen ist. Lassen Sie uns gemeinsam
im Sinne des Titels dieses Gesetzes an mehr Bürgerbeteiligung und im Sinne der darin angesprochenen Bürger
und Bürgerinnen an Verbesserungen arbeiten.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Manuel Höferlin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir haben mit dem Gesetzentwurf zwei
wesentliche Punkte unter einen Hut gebracht, nämlich
die bessere Bürgerbeteiligung - Frau Lühmann, darauf
komme ich gleich zurück - und eine Beschleunigung
durch Vereinfachung und Vereinheitlichung von Verfahren. Wir haben einen Schritt nach vorne gemacht, denn
ein Bereich bei den Planfeststellungsverfahren ist im
Moment in sehr vielen verschiedenen Gesetzen geregelt.
Alle an Planfeststellungen Beteiligten müssen im Moment erheblichen Aufwand betreiben, um ein Planfeststellungsverfahren richtig und auch gerichtsfest von
Anfang bis Ende zu betreiben. Letztlich hilft es allen Beteiligten, wenn man gewisse Grundlagen an einer zentralen Stelle schafft, wenn man gleiche Voraussetzungen
schafft, und zwar sowohl für denjenigen, der plant, als
auch für denjenigen, der genehmigt, und für diejenigen,
die an dem Verfahren zu beteiligen sind, weil auch diese
auf der Grundlage des Gesetzes beurteilen müssen, welche Rechte sie haben und wie sie vielleicht weiter vorgehen können.
Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist eine Bringschuld,
keine Frage. Frau Lühmann, Sie haben von der „Ausweitung“ der Beteiligung gesprochen. Eine ausgeweitete
Beteiligung ist nicht unbedingt eine verbesserte Beteiligung. Ich glaube, dass der wesentliche Kern der Verbesserung in der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung steckt.
Das kann man gar nicht stark genug betonen. Es wird zu
einem viel früheren Zeitpunkt als bisher die Öffentlichkeitsbeteiligung hergestellt, zu einem Zeitpunkt, zu dem
die Antragstellung noch nicht so weit fortgeschritten ist,
zu dem man noch viele Dinge ändern kann und zu dem
die Bürger noch im Zusammenwirken mit den Verfahrensträgern und den Behörden agieren können.
({0})
Natürlich können Sie fragen, warum wir das nicht verpflichtend machen. Die Antwort ist: Die Behörden haben darauf hinzuwirken, dass es gemacht wird. Ich halte
das für sachgerecht. Es gibt auch ein verfassungsrechtliches Problem, wenn Sie bei privaten Verfahrensträgern
eine Pflicht installieren. Auch das muss man bedenken.
({1})
- Da sind wir ja vielleicht unterschiedlicher Meinung,
Frau Lühmann. Aber so ist es. Das ist meine Meinung.
Ich glaube, wir müssen dort darauf aufpassen, dass wir
den Bogen nicht überspannen.
Gerade der Weg der frühen Beteiligung birgt nun einmal eine Möglichkeit. Meines Erachtens wird ein Träger
im Planungsverfahren nach den Erfahrungen der letzten
Jahre gerade dann, wenn ihm gegenüber darauf hingewirkt wird, die Öffentlichkeitsbeteiligung herzustellen,
dies selbstverständlich auch möglichst früh tun, und
zwar wegen des Risikos, dass ein Projekt nicht akzeptiert wird. Wir wissen, wie hoch dieses Risiko heute ist.
Dem entgegenzuwirken, wird ihm durch diese Möglichkeit eröffnet. Ich halte es für genau den richtigen Weg,
Bürger, Planende und Behörden zusammenzukriegen
und am Ende mit bedeutend mehr Akzeptanz aus dem
Verfahren herauszukommen.
({2})
Neben diesen Wirkungen haben wir zur Beschleunigung der Verfahren vorgesehen, dass Verwaltungen Entscheidungen in angemessenen Zeiträumen zu treffen haben.
({3})
An dieser Stelle haben wir die Diskussion geführt - dazu
können wir gerne eine weitere Diskussion führen -, ob
Behörden vielleicht noch kürzere Zeiträume einhalten
müssen oder nicht.
Ich glaube, dass man auch Folgendes beachten muss:
Nur weil eine Behörde eine Entscheidung im Planungsverfahren sehr schnell trifft, muss diese Entscheidung
erstens nicht besser und zweitens - in Planungsverfahren
in den Größenordnungen, über die wir sprechen - nicht
unbedingt rechtssicherer sein. Was nutzt es uns am Ende,
wenn wir die Behörden - vielleicht noch unter Sanktionszwang - dazu bringen, Verfahren beschleunigt zu
Ende zu führen, und die Entscheidungen nachher vor
Gericht nicht standhalten? Dann ist weder dem Träger
des Vorhabens noch den Behörden und schon gar nicht
dem Bürger gedient, weil Gerichte ganze Verfahren anschließend wieder umwerfen können. Ich glaube, so
können wir den Nutzen für den Bürger nicht vergrößern.
({4})
Deswegen ist es wichtig, hier einen Kompromiss zu
finden und einen ausgewogenen Zeitraum zu definieren,
um rechtssicher und trotzdem beschleunigt zu einer Entscheidung aufseiten der Behörden zu kommen. Ich
glaube, dass der vorliegende Gesetzentwurf genau diesem Anspruch Rechnung trägt. Deshalb halte ich dies für
einen ausgewogenen Punkt, der allen Seiten gerecht
wird.
Die Verbesserung der Bürgerbeteiligung ist für die
meisten, die den Gesetzentwurf von außen betrachten,
der wesentliche Punkt. Wir haben diese Bürgerbeteiligung auch schon selbst in Positionspapieren gefordert.
Ich glaube, dass die Öffentlichkeit beim Bau von Großvorhaben dann, wenn ihre Beteiligung erst im förmlichen Verwaltungsverfahren erfolgt, meist zu spät beteiligt ist.
Daher machen wir jetzt den ersten Schritt - das ist der
wesentliche Punkt -, dass Bürger in einer frühen Phase
der Projektplanung beteiligt werden können. Das ist ein
erster Schritt, Öffentlichkeit in solchen Verfahren herzustellen. Es wird weitere Schritte geben - der Parlamentarische Staatssekretär Schröder hat es gesagt: mit den
weiteren Vorhaben schaffen wir Grundlagen -, denn die
Möglichkeiten der Digitalisierung erfordern auch den
Zugang zu sowie die Kommunikation und die Interaktion mit Behörden. Deswegen werden weitere Gesetze
folgen, die sich auch schon im Verfahren befinden.
Damit eröffnen wir den Bürgern die Möglichkeit, sich
besser zu beteiligen, weil sie sich früher und intensiver
beteiligen können. Die Verfahren dazu werden wir in anderen Gesetzen weiterentwickeln. Das ist ein Teil eines
Straußes von Möglichkeiten, die die Bürgerbeteiligung
verbessern sowie Verfahren rechtssicherer machen und
beschleunigen.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die Linke hat Sabine Leidig das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Am 30. September 2010 hat der damalige Ministerpräsident Mappus im Stuttgarter Schlossgarten die Polizei mit
Wasserwerfern und Tränengas gegen Tausende seiner
Landeskinder eingesetzt. Dieser Versuch, die monatelangen Demonstrationen gegen das Großprojekt Stuttgart 21 zu beenden, ist gründlich gescheitert.
Danach haben alle Verantwortlichen - bis hin zur
Bundeskanzlerin, Frau Merkel - versprochen, dass künftig die Bürgerinnen und Bürger besser beteiligt werden
sollen.
Nun liegt dieser Gesetzentwurf vor. Wie Kollegin
Lühmann schon gesagt hat, trägt er im Grunde einen NeSabine Leidig
belkerzentitel, der „zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung“ lautet.
Es geht um die Planung und Genehmigung von Autobahnen, Bundesstraßen, Bergbauvorhaben, Flussausbauten oder Bahntrassen. Solche Großprojekte haben in der
Regel massive Auswirkungen auf die Umwelt und die
Lebensbedingungen der Anwohnerinnen und Anwohner,
und zwar jahrzehntelang.
Es gibt außerdem immer mehr Diskussionsbedarf aus
gesellschaftlicher Verantwortung. Die meisten sind ja
nicht per se für oder gegen eine Baumaßnahme, sondern
sie wollen, dass die Milliarden, die dafür ausgegeben
werden, sinnvoll verwendet werden. Denn es geht um
sehr viel Steuergeld, das nur einmal ausgegeben werden
kann, zum Beispiel entweder für ein Prestigeprojekt wie
den Stuttgarter Tiefbahnhof oder für sinnvolle Bahntrassen, die allen zugutekommen.
({0})
Zurück zum Gesetzentwurf. Man könnte sagen: Er ist
ein schlechter Scherz. - Aber es ist schlimmer: Sie nehmen die Anliegen und die konkreten Erfahrungen der
Bürgerbeteiligung gar nicht ernst, sondern Sie wollen lediglich etwas früher um Akzeptanz werben, damit die
Großprojekte, die Sie vorgeben, möglichst ungestört und
beschleunigt umgesetzt werden können.
({1})
Das ist das Gegenteil von dem, was wir wollen, nämlich
mehr echte Demokratie.
({2})
Außer dem Versprechen, dass eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung möglich sein soll, findet sich in dem
Gesetz keinerlei konkrete Verbesserung. Das Gegenteil
ist der Fall.
In den vergangenen 20 Jahren sind Bürgerbeteiligungsverfahren immer wieder eingeschränkt worden,
begründet damit, dass Planung beschleunigt werden soll.
Diese verschiedenen Einschränkungen sollen jetzt zum
bundesweiten Standard erhoben werden. Das ist völlig
inakzeptabel.
({3})
Es ist nicht einmal vorgesehen, dass die Bevölkerung aktiv informiert wird - dabei wäre das doch das Mindeste,
und so lautet auch eine wichtige Forderung aus den Verbänden. Wer nicht am richtigen Tag auf der richtigen
Seite in die Zeitung schaut, erfährt vielleicht erst Monate
oder Jahre später etwas von einem geplanten Vorhaben,
nämlich dann, wenn der Bagger vorfährt oder der Bauzaun errichtet wird.
Dann verweise ich auf die Neuregelung von § 75 Verwaltungsverfahrensgesetz in Ihrem Gesetzentwurf, der
gewissermaßen ganz im Obrigkeitsdenken gefangen ist.
Nach diesem Paragrafen soll die Behörde - auch das
wurde schon angesprochen -, die für die Genehmigung
zuständig ist, selbst entscheiden, ob die Mängel, auf die
die Bürgerinnen und Bürger oder Verbände aufmerksam
machen, überhaupt beachtlich sind. Das ist ein Freibrief
für Behördenwillkür und eine der Verschlechterungen,
die sich an vielen Stellen in diesem Gesetzentwurf finden.
Besonders unfair ist und bleibt, dass Einwände gegen
ein Großprojekt nur am Anfang des Verfahrens rechtswirksam eingebracht werden können. Das heißt, wenn
sich später herausstellt, dass Recht und Gesetz verletzt
worden sind, dass unrichtige Zahlen oder Fakten Grundlage der Entscheidungen waren, oder wenn die Pläne geändert werden, haben die Betroffenen überhaupt keine
Handhabe mehr, etwas gegen ein Projekt einzuwenden.
Die sogenannte Perklusionsklausel gibt es nirgendwo in
Europa; es handelt sich um einen deutschen Sonderweg.
Ich finde, dieser muss unbedingt beendet werden.
({4})
Die Anforderung, einen gesetzlichen Rahmen für
faire, transparente und wahrhaftige Bürgerbeteiligung zu
schaffen, steht weiterhin auf der Tagesordnung. Es sieht
so aus, als wenn Sie das offenbar gar nicht wollten. Also
werden die Betroffenen ihre demokratischen Anliegen
und ihren Protest auch weiterhin auf die Straße tragen.
Wir werden sie dabei auf jeden Fall unterstützen.
({5})
Ingrid Hönlinger hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wissen Sie, was im Jahr 2010 der damalige Landesgruppenvorsitzende der CSU in Bezug auf Stuttgart 21
geäußert hat? Ich zitiere aus einem Gespräch mit der
SUPERillu vom 14. Oktober 2010.
({0})
Insofern ist es auf jeden Fall richtig, wenn man miteinander redet und Zweifel auszuräumen versucht.
Eines ist aber völlig klar: Am Ende muss die Umsetzung dieses wichtigen Vorhabens stehen.
({1})
Dieser Satz verrät nicht nur das Demokratieverständnis
des damaligen Landesgruppenchefs und heutigen Innenministers Hans-Peter Friedrich, sondern er steckt auch
wie ein unsichtbarer Geist in Ihrem Gesetzentwurf.
({2})
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, nehmen die Bürgerinnen und Bürger als kompetente Gesprächspartner nicht ernst. Sie wollen die Bürgerinnen und Bürger gnädig mitdiskutieren lassen; aber
am Ergebnis soll nicht gerüttelt werden. Das zeigt: In Ih21560
ren Köpfen steckt noch viel Obrigkeitsdenken. Ihr Demokratie- und Rechtsverständnis ist im vorigen Jahrhundert stecken geblieben.
({3})
Warum sage ich das, und warum komme ich zu dieser
Bewertung?
({4})
Mit diesem Gesetzentwurf schaffen Sie keine obligatorische Öffentlichkeitsbeteiligung. Wir haben es hier mit
einer dreifachen Sollvorschrift zu tun. Die Art und Weise
der Öffentlichkeitsinformation ist in das Belieben des
Vorhabenträgers gestellt. Es gibt keine Qualitätsstandards. Die Einbeziehung der Erkenntnisse aus der Öffentlichkeitsbeteiligung ist nicht sichergestellt. Es mangelt an der Einschaltung neutraler Dritter, obwohl diese
häufig eine befriedende Wirkung erzielen könnten.
Mit dem Gesetzentwurf werden Erörterungstermine
nicht obligatorisch. Die Anhörungsbehörde kann den
Bürgern Erörterungstermine sogar vorenthalten, etwa
wenn ihr der Verwaltungsaufwand zu hoch erscheint.
Und noch schlimmer: Mit dem Gesetzentwurf wird Öffentlichkeitsbeteiligung abgebaut; denn der Planfeststellungsbeschluss muss den „bekannten Betroffenen“ nicht
mehr zugestellt werden. Und: Die Erörterung muss innerhalb von drei Monaten abgeschlossen sein. - Wenn es
also darum geht, Bürgerbeteiligung zu verkürzen, dann
wird Ihr Gesetzentwurf plötzlich verbindlich.
Meine Damen und Herren, Sie verkaufen ein Gesetz
zur Öffentlichkeitsbeteiligung und bauen mit demselben
Gesetz genau diese Beteiligung ab. Das wollen und werden wir nicht hinnehmen.
({5})
Gehen Sie doch einmal hinaus und reden Sie mit den
Menschen, mit den Gemeinderäten, den Bürgermeistern
und Landräten! Die sagen Ihnen: Wir brauchen eine obligatorische Bürgerbeteiligung bei wichtigen Entscheidungen. Erhöhen Sie die Planungsqualität, indem Sie die
einfachen Heilungsmöglichkeiten bei Verfahrens- und
Formfehlern erschweren! Verkürzen Sie die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen! Verbessern Sie
die Beteiligungs- und Klagerechte von Umwelt- und Naturschutzverbänden!
({6})
Implementieren Sie auch alternative Konfliktlösungsmöglichkeiten wie die Mediation! Führen Sie Instrumente der direkten Demokratie ein! Und: Etablieren Sie
eine neue beteiligungsfreundliche und transparente Verwaltungskultur!
({7})
Dies, meine Damen und Herren, sind die Mindestanforderungen an eine moderne, bürgerfreundliche und
zukunftsorientierte Beteiligungspolitik.
({8})
Meine Damen und Herren von der Regierungsbank,
Sie sprechen von Fortschritt, bewirken aber Rückschritt.
Bekennen Sie sich endlich zu echter Bürgerbeteiligung!
Unsere Demokratie, unsere Bürgerinnen und Bürger sind
reif und bereit für mehr aktive Beteiligung. Sie alle wollen gehört und ernst genommen werden. Das Wissen und
die Expertise der Bürgerinnen und Bürger müssen in die
Entscheidungen einfließen. Es wird Zeit in diesem Land für eine neue Beteiligungskultur, eine neue Rechts- und
Mitsprachekultur.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Helmut Brandt hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland
ist als Industriestandort und Exportnation auf eine moderne, leistungsfähige Infrastruktur angewiesen. Die dafür notwendigen Großvorhaben können nur dann gelingen, wenn sie auf eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung
stoßen und von einem Planungsrecht begleitet werden,
das eine möglichst zügige Umsetzung der Vorhaben ermöglicht. Aus den Redebeiträgen von Ihnen habe ich so
ein bisschen den Eindruck gewonnen, dass Sie genau das
nicht wollen. Aber das ist genau das, was für unser Land
wichtig ist.
Sie haben noch etwas, glaube ich, nicht zur Kenntnis
genommen. Sie glauben, dass die Behörden aus den Ereignissen gerade auch um Stuttgart 21 keine Lehren gezogen haben.
({0})
Dann sagen Sie, dass die Bürgermeister und die Landräte eine Bürgerbeteiligung wünschen. Genau das bieten
wir ihnen jetzt mit diesen Planungsrechtsänderungen.
Nun geschieht diese Bürgerbeteiligung zum frühestmöglichen Zeitpunkt.
({1})
Ich glaube, dass man nicht alles nur mit Zwang bewirken
soll, sondern dass
({2})
- genau - Rechtssicherheit hergestellt werden kann,
wenn man unserem Gesetzesvorschlag folgt.
Neben anderen Faktoren liegt nach meiner Auffassung eine der Ursachen für die Geschehnisse um Stuttgart 21 in der Ausgestaltung des rechtlichen Rahmens
selbst, insbesondere der Art, wie die Öffentlichkeit an
dem Verfahren beteiligt wird. Die derzeit geltende
Rechtslage sieht zwar eine Öffentlichkeitsbeteiligung als
wichtiges Verfahrensinstrument bereits bei vielen Vorhaben vor. Allerdings werden die Bürgerinnen und Bürger
oft erst in förmlichen Verwaltungsverfahren beteiligt,
also erst dann, wenn der Vorhabenträger den fertigen
Plan bei der Behörde eingereicht hat, die Planung des
Vorhabens folglich bereits in wesentlichen Teilen abgeschlossen ist.
Darüber hinaus sind die bisherigen Beteiligungsformen vor allem darauf ausgerichtet, die unmittelbar Betroffenen vor vermeidbaren Rechtsbeeinträchtigungen
zu bewahren. Aspekte außerhalb dieser unmittelbaren
Rechtsbetroffenheit spielen dagegen kaum eine Rolle.
Vor allem bei Großvorhaben, deren Auswirkungen über
die Einwirkungen auf ihre unmittelbare Umgebung hinausgehen und die oft Bedeutung über ihren Standort hinaus haben, werden die bestehenden Formen der Öffentlichkeitsbeteiligung im Genehmigungs- oder Planfeststellungsverfahren als nicht mehr ausreichend empfunden. Hier ist ein zunehmendes Interesse der Bürgerinnen
und Bürger an frühzeitiger Beteiligung und Mitsprache
festzustellen.
Genau diesen Mängeln trägt der vorliegende Entwurf
eines Gesetzes zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren Rechnung.
({3})
Die neue „frühe Öffentlichkeitsbeteiligung“ soll künftig
bereits vor dem eigentlichen Verwaltungsverfahren stattfinden und einem möglichst großen Personenkreis offenstehen.
({4})
Das jeweilige Vorhaben wird durch diese neue Form der
Beteiligung frühzeitig öffentlich bekannt gemacht, um
einen Dialog zu ermöglichen. Der Vorhabenträger kann
so bereits in einem frühen Planungsstadium auf mögliche Bedenken und Anregungen aufmerksam gemacht
werden.
({5})
- Frau Lühmann, wir geben der Behörde jetzt anheim,
dies regelmäßig zu tun.
({6})
Ich denke, dass sie es aus den Erfahrungen, die ich eben
geschildert habe, auch tun wird.
({7})
Durch die vorgesehene Mitteilung des Ergebnisses
der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung an die zuständige
Behörde können wichtige Erkenntnisse in das anschließende formelle Verfahren einfließen und dort Berücksichtigung finden. Das nachfolgende Genehmigungsoder Planfeststellungsverfahren soll einfacher und
schneller werden - das ist auch ein Effekt, der erzeugt
werden soll - sowie gleichzeitig dadurch entlastet werden, und - ein wesentlicher Gesichtspunkt - die gerichtliche Anfechtung von Behördenentscheidungen soll
deutlich reduziert werden.
Natürlich ist auch eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung noch keine Garantie für Akzeptanz und Verfahrensbeschleunigung. Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit möglichen Einwänden bietet aber in jedem Fall
bessere Chancen auf eine Konfliktbereinigung als eine
Grundsatzdebatte in einem fortgeschrittenen Verfahrensstadium. Genau darauf zielen wir ab.
Gelingt es, einen sachlichen und an einem vernünftigen Ergebnis orientierten Dialog - daran mangelt es,
glaube ich, den Linken - zwischen Vorhabenträger, Kritikern und Befürwortern zu schaffen, wird ein Mehr an
Öffentlichkeitsbeteiligung am Ende zu einer beschleunigten Umsetzung wichtiger Großvorhaben beitragen.
In der Aktuellen Stunde heute wurde ja darüber gesprochen, was in Zukunft noch alles für die Energiewende umgesetzt werden muss. Ich glaube, dass in diesem Hause eine große Übereinstimmung erzielt werden
muss, um die entsprechenden Großvorhaben letztlich
auch unter Berücksichtigung der Interessen der Öffentlichkeit durchführen zu können.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den geplanten
Regelungen schaffen wir die Voraussetzungen dafür,
dass Großvorhaben künftig zugleich zügiger und bei
noch größerer Akzeptanz vonseiten unserer Bürgerinnen
und Bürgern realisiert werden können. Um dieses wichtige Anliegen durchzusetzen, bitte ich Sie um Ihre Unterstützung. Ich bitte auch darum: Wenn einmal eine Entscheidung gefallen ist und sich die Bürgerinnen und
Bürger mehrheitlich für ein Vorhaben entschieden haben, dann sollte das nicht weiter torpediert, sondern akzeptiert werden.
Besten Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/9666 soll an
die Ausschüsse überwiesen werden, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind Sie einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 10:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Josip
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für Fairness beim Berufseinstieg - Rechte der
Praktikanten und Praktikantinnen stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Faire Bedingungen in allen Praktika garantieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers,
Dr. Petra Sitte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen
- Drucksachen 17/3482, 17/4044, 17/4186,
17/9720 Berichterstattung:Abgeordnete Uwe SchummerSwen Schulz ({1})Dr. Martin Neumann ({2})Agnes AlpersKai Gehring
Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Ich gebe das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Helge Braun.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Jahr 2005
hat Matthias Stolz einen Artikel in der Zeit geschrieben,
dem er die Überschrift „Generation Praktikum“ gegeben
hat. In diesem Artikel hat er darauf hingewiesen, dass es
viele junge Menschen gibt, die im Anschluss an ihre
Hochschulausbildung über längere Zeit in Praktika verweilen, bevor sie die Chance auf eine reguläre Beschäftigung erhalten. Im Jahr 2012 hat er erneut einen Artikel
in der Zeit geschrieben, diesmal überschrieben mit
„Praktikanten ade“. Darin hat er resümiert, dass alle
zehn Praktikanten, die auf dem Foto zum ersten Artikel
zu sehen waren, inzwischen einen Arbeitsplatz gefunden
haben.
Der Vergleich zwischen 2005 - die problematische
Lage am Arbeitsmarkt, 612 000 junge Menschen ohne
Arbeit, eine Jugendarbeitslosigkeit von 12,4 Prozent und der Lage im April 2012 - 280 000 junge Menschen
ohne Arbeit, also nur noch 5,7 Prozent - zeigt, dass wir
uns in einer Situation befinden, in der sich die Jugendarbeitslosigkeit um mehr als die Hälfte reduziert hat. Das
alles hat weit mehr für die Berufschancen junger Menschen gebracht als alle Anträge, die heute hier vorliegen.
({0})
Damit es keiner falsch versteht: Wer in Deutschland
ein Hochschulstudium absolviert, ist hochqualifiziert
und hat deshalb selbstverständlich einen Anspruch darauf, dass er in den regulären Arbeitsmarkt übernommen
und entsprechend bezahlt wird. In einem Land, in dem
wir Leuten in der beruflichen Ausbildung ab dem ersten
Ausbildungstag eine Ausbildungsvergütung bezahlen,
kann das Argument, dass jemand, der von einer Hochschule kommt, zu Beginn des Arbeitsverhältnisses über
zu wenig praktische Erfahrungen verfügt und deshalb
zunächst Praktika absolvieren muss, bevor er in reguläre
Beschäftigung übernommen wird, nicht gelten. Dafür
gibt es Probezeiten, befristete Arbeitsverträge, TraineeProgramme und vieles andere.
Wenn man jedoch umgekehrt dieses Argument zum
Anlass nähme, Praktikumsverhältnisse generell für
schlecht zu halten, machte man aus meiner Sicht einen
kapitalen Fehler.
({1})
Im Gegensatz zu regulären Beschäftigungsverhältnissen
steht bei Praktikumsverhältnissen der Bildungsaspekt im
Mittelpunkt. Sie bieten die Chance, bei besonders
renommierten Institutionen noch etwas hinzuzulernen
oder in der Übergangsphase zwischen Hochschule und
Beschäftigung noch einmal zusätzliche Erfahrungen zu
sammeln. Deshalb gibt es eine Vielzahl von Praktika, die
sehr nützlich sind.
Seit 2005 sind unglaublich viele Studien durchgeführt
worden, die alle zeigen: Die weit überwiegende Mehrzahl der jungen Menschen - in der Summe aller Studien
weit über 80 Prozent - ist am Ende mit ihrem Praktikum
sehr zufrieden. Das macht deutlich, dass Praktika im Interesse der jungen Menschen sind.
({2})
- Sie fragen, was wir für die anderen 20 Prozent tun. Die
Bundesregierung hat in den letzten Jahren zwei Maßnahmen ergriffen, die die vorherige Bundesregierung noch
nicht durchgeführt hat: Zum einen haben wir unsere eigenen Regeln verändert. Seit dem 1. Dezember 2011
gibt es die neue „Praktikantenrichtlinie Bund“, wonach
Hochschulabsolventenpraktika selbstverständlich bezahlt und selbst die Pflichtpraktika innerhalb eines Studiums, die im öffentlichen Dienst des Bundes absolviert
werden, bezahlt werden können. Damit geht die Bundesregierung im Hinblick auf die Bezahlung von Praktika
mit sehr gutem Beispiel voran.
Darüber hinaus haben wir im Anschluss an die Petition zum Thema Praktika nach einer rund anderthalbjährigen Verhandlung mit den Arbeitgeberverbänden eine
Vereinbarung getroffen, die Niederschlag in der Leitlinie
für faire und gute Praktikumsverhältnisse gefunden hat.
Demnach ist eine Vergütungspflicht vorgesehen, und es
werden Musterverträge für die verschiedenen Arten von
Praktika zur Verfügung gestellt. Inzwischen ist dieser
Leitfaden über 40 000-mal heruntergeladen oder bestellt
worden. Wir sehen also: Das, was Arbeitgeber und Bundesregierung vereinbart haben, hat in die Praxis der
deutschen Unternehmen Einzug gefunden.
({3})
Wenn man über faire Chancen auf Praktika und über
die Rechte von Praktikanten spricht, stellt sich natürlich
die Frage - sie wird auch in den vorliegenden Anträgen
thematisiert -, ob wir aufgrund der hervorragenden Entwicklung am Arbeitsmarkt und über die freiwillige
Selbstverpflichtung der Wirtschaft und die „Praktikantenrichtlinie Bund“ hinaus noch eine gesetzliche Regelung brauchen.
({4})
Ich sage Ihnen: Eine gesetzliche Regelung nimmt Freiheit.
({5})
Sie wollen die Vergütungspflicht, die bereits im Berufsbildungsgesetz verankert ist, nun auch im BGB festschreiben. Damit nehmen Sie jungen Menschen die
Chance, freiwillig ein Praktikum an einer Stelle zu absolvieren, an die sie sonst nicht kämen.
({6})
Wir haben durch die drei eben skizierten Schritte die
Situation von Praktikantinnen und Praktikanten in
Deutschland deutlich verbessert. Es liegt eine sehr dezidierte, freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft vor.
Die Bundesregierung hat versprochen, ein Jahr nach Inkrafttreten der Richtlinie eine Studie zu initiieren, um zu
überprüfen, ob die Rechtsverhältnisse von Praktikantinnen und Praktikanten trotz der guten Arbeitsmarktentwicklung und der neu geschaffenen Regelung weiterhin
ein Problem sind. Das glaube und hoffe ich nicht.
Unterm Strich ist festzuhalten: Die gute wirtschaftliche Lage, die wir erreicht haben, ist die beste Prävention
davor, dass jemand einer nicht adäquaten Beschäftigung
nachgehen muss. Heute haben Jugendliche in Deutschland eine weitaus bessere Chance auf dem Arbeitsmarkt
als noch 2005. Das gilt auch für Praktikanten.
Vielen Dank.
({7})
Katja Mast hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Braun, Freiheit das wollen wir alle, die hier sitzen.
({0})
Aber die SPD will Freiheit und Gerechtigkeit. Hier unterscheidet sich Ihr Vorschlag deutlich von unserem. Es
ist für uns nicht in Ordnung, dass Jugendlichen, die nach
ihrem Ausbildungsabschluss oder nach ihrem Studienabschluss in den Beruf einsteigen wollen, ein unbezahltes
Praktikum angeboten wird; wohlgemerkt, sie sind qualifizierte Fachkräfte oder Akademikerinnen und Akademiker. Wir brauchen nicht nur Freiheit für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die diese prekäre Situation
ausnutzen, sondern vor allen Dingen Gerechtigkeit für
junge Berufseinsteiger.
({1})
Um für Gerechtigkeit für junge Menschen zu sorgen,
brauchen wir nicht einfach nur freiwillige Vereinbarungen mit guten Unternehmen, sondern der Gesetzgeber,
das deutsche Parlament, der Deutsche Bundestag, muss
Gesetze so verändern, dass die Situation beim Einstieg
in den Beruf nicht missbraucht werden kann.
Heute liegen deshalb von drei Fraktionen Vorschläge
zu Gesetzesänderungen auf dem Tisch.
Wir als SPD sind der Meinung, dass die Jugendlichen
ein Recht auf eine Mindestvergütung in Höhe von
350 Euro haben.
Wir von der SPD sind der Meinung, dass sie einen
Anspruch auf einen Vertrag und auf ein Zeugnis haben
sollten; das müsste eigentlich selbstverständlich sein.
Wir von der SPD sind der Meinung - hier geht es nur
um den Missbrauch von Praktikumsverhältnissen -:
Wenn Missbrauch stattgefunden hat, dann muss man den
Praktikanten eine lange Frist einräumen, damit sie ihre
Rechte auch später noch einfordern können. Während
des Praktikums tun sie das nicht, weil sie hoffen, dass sie
irgendwann einen Arbeitsvertrag bekommen. Das führt
dazu, dass sie ihre Rechte nicht sogleich einfordern.
Wir finden, dass die Bundesregierung nicht nur Studien in Auftrag geben sollte. Vielmehr sollte sie dem
Parlament einen Bericht zur Situation von Praktikantinnen und Praktikanten vorlegen.
Wir wollen auch, dass Praktikumsverhältnisse nicht
nur im Bundesbildungsgesetz definiert, sondern auch im
BGB gesetzlich festgeschrieben werden.
Das sind die Vorschläge der SPD, alle relativ einfach
nachzuvollziehen. Ich fordere Sie auf, diesen Vorschlägen zuzustimmen. 120 000 Petentinnen und Petenten haben den Deutschen Bundestag 2006 aufgefordert, nicht
nur freiwillige Vereinbarungen mit der Wirtschaft einzugehen, sondern Gesetze und Rahmenbedingungen zu
verändern. Wir sind dazu bereit und fordern Sie alle auf,
im Sinne dieser jungen Menschen Licht ins Dunkel zu
bringen und diesen Änderungen zuzustimmen.
({2})
Der eigentliche Skandal in dieser Debatte heute ist
aus meiner persönlichen Sicht nicht, dass Sie unsere Anträge ablehnen. Ich finde zwar, dass das, was ich skizziert habe, im Sinne der jungen Leute zustimmungswürdig ist. Der eigentliche Skandal ist, dass Sie keine
eigenen gesetzlichen Initiativen ergreifen und dass Sie
finden, es sei alles so in Ordnung, wie es ist. Das ist der
eigentliche Skandal.
Sie sagen: Bei Missbrauch von Praktikumsverhältnissen lassen wir die jungen Leute allein, machen uns einen
schönen Lenz und veranstalten alle zwei Jahre eine nette
Debatte im Bundestag, weil wir eine Studie in Auftrag
gegeben haben. Ich sage Ihnen: Das reicht nicht; denn
die jungen Leute, um die es hier geht, sind die Fachkräfte unserer Zukunft. Die haben mehr verdient als Angebote für unbezahlte Praktika beim Einstieg ins Berufsleben. Sie haben, wie ich finde, auch mehr von uns zu
erwarten.
Deshalb sage ich: Die Selbstverpflichtungen, Leitfäden und warmen Worte Ihrer Regierung reichen nicht
aus. Wir wollen Taten statt Worte. Wir wollen, dass Gesetze zugunsten der jungen Menschen geändert werden.
Stimmen Sie unserem Antrag zu!
({3})
Der Kollege Dr. Martin Neumann hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Deutschlands Arbeitsmarkt, insbesondere der
Arbeitsmarkt für Akademiker, entwickelt sich zunehmend zu einem Arbeitnehmermarkt. Die Aussichten für
junge Akademiker - das will ich an der Stelle voranstellen - sind rosig. Das sagte der Direktor des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Joachim Möller, am
21. Februar 2012.
Beim Berufseinstieg für Ingenieure geht es relativ
schnell. Bei den Geisteswissenschaftlern ist in der Regel
eine kurze Zeit des Praktikums oftmals hilfreich für den
Berufseinstieg. Nach spätestens zwei, drei Jahren aber
- das ist jetzt auch von Staatssekretär Braun gesagt worden - sind fast alle Hochschulabsolventen untergekommen. Der zitierte Kollege Möller sagte:
Schon heute sind nicht einmal drei Prozent der
Akademiker arbeitslos. Und die Nachfrage nach
Akademikern wird zweifellos in den nächsten Jahren enorm steigen.
Im sonstigen Europa ist die Situation - man blicke
nach Spanien, Portugal und Griechenland - im Alterssegment zwischen 18 und 25 Jahren im Gegensatz zu
uns anders. Da liegt die Quote - das ist sehr erschreckend - bei 50 Prozent. Ich denke, dass wir hier tatsächlich etwas tun sollten, damit die Entwicklung, die sich
bei uns auf gutem Wege befindet, nicht behindert wird.
Das, was Sie hier eben gerade vorgetragen haben - mit
all dem Verregeln und dergleichen -, schafft nämlich genau das Gegenteil von dem, was wir hier tatsächlich machen wollen und machen müssen.
({0})
Dieser Umstand, dass die Situation in unserem Land
gut ist, passt nicht in die Gedankenwelt einiger hier im
Parlament. Deshalb bemüht man die uralten Schauermärchen. Es gruselt einen tatsächlich immer so schön,
wenn man hört, wie schlecht es doch dem einen oder anderen geht. Zwischen Theorie und Realität besteht aber
tatsächlich ein großer Unterschied.
({1})
Wenn man sich die Anträge der Oppositionsfraktionen anschaut, findet man Formulierungen wie „Ausbeutung junger Menschen“, „Missbrauch“, „Praktikanten
werden ausgenutzt“ usw. Sie leiten daraus gesetzgeberischen Handlungsbedarf ab; doch diesen sehen wir eben
nicht. Sie fordern per Gesetz Mindestvergütung, quasi
Niedriglöhne per Gesetz. Sie fordern Regelungen hinsichtlich der Laufzeit usw., weil nach ihrer Auffassung
in unserem Land an der Stelle offensichtlich zu wenig
geregelt ist.
Es gibt eine mittlerweile fünf Jahre alte HIS-Studie
mit der Überschrift „Generation Praktikum - Mythos
oder Massenphänomen“. Sie ist hier schon einmal zitiert
worden. In ihr hat man auf wissenschaftlichem Weg
nachgewiesen, dass sich die Situation der Praktikanten
in unserem Land tatsächlich anders darstellt. Darin hat
man den Begriff Generation Praktikum entlarvt. Es ist
nachgewiesen worden, dass es in der Tat keinen Anlass
für Beunruhigung gibt.
Hochschulabsolventen haben in Deutschland - das
sage ich, meine Damen und Herren, an dieser Stelle ganz
deutlich - die besten Chancen.
({2})
Sie sind doppelt und dreifach gegen Arbeitslosigkeit und
Armut gefeit. Kettenpraktika und/oder Praktikumskarrieren, die hier immer wieder zitiert werden, sind weniger verbreitet als Juchtenkäfer. Die Mehrheit der Praktikanten und Expraktikanten war laut HIS-Studie mit
ihrem Praktikum höchst zufrieden. Die Gewerkschaften
wollten das nicht glauben. Sie konnten aber noch nicht
einmal mit einem eigens in Auftrag gegebenen Gutachten das Gegenteil beweisen.
FDP und Union haben mit dem gut angelaufenen
Deutschlandstipendium einen weiteren Ansatz geschaffen, um Hochschule und Wirtschaft enger zu verzahnen.
({3})
Auf diesem Weg sollen die Berufseinstiegsmöglichkeiten für Hochschulabsolventen verbessert werden. Die
Dr. Martin Neumann ({4})
Wirtschaft hat schon lange erkannt, dass es einen Fachkräftemangel geben wird. Man baut vor. Die Unternehmen werben schon heute um den Nachwuchs. Sie unternehmen beeindruckende Anstrengungen, um auch den
Fachkräftebedarf von morgen decken zu können.
Wir haben genügend Regelungen - das will ich an
dieser Stelle nur ganz kurz ansprechen -, zum Beispiel
das Berufsbildungsgesetz und das Arbeitszeitgesetz.
Diese Gesetze geben jungen Menschen, die ein Praktikum absolvieren, eine Vielzahl rechtlicher Regelungen
an die Hand, zum Beispiel hinsichtlich Vergütungsansprüchen, Arbeitszeit, Sicherheit und Gesundheit am
Arbeitsplatz.
Die erst vor wenigen Tagen vom Deutschen Institut
für Altersvorsorge veröffentlichte Studie „Die Kinder
der Babyboomer“ macht deutlich, dass das Schauermärchen von der Generation Praktikum auch künftig nur in
den Parteiprogrammen von Grün und Rot eine Heimat
haben wird; denn Fachkräfte sind knapp und die Arbeitsmarktaussichten daher gut. Ein früher Berufsstart durch
verkürzte Schul- und Studienzeiten sowie den Wegfall
der Wehrpflicht bieten der „knappen Generation“ - so
möchte ich sie einmal nennen - die Chance, schneller
und länger gutes Geld zu verdienen. Der im vergangenen
Jahr herausgegebene Leitfaden „Praktika - Nutzen für
Praktikanten und Unternehmen“, der schon angesprochen wurde, ist eine hilfreiche Zusammenstellung der
fairen Spielregeln.
Meine Damen und Herren, Sie werden es ahnen: Die
FDP-Fraktion lehnt aus den eben genannten Gründen
Ihre Forderungen nach einer gesetzlichen Regulierung
von Praktikumsverhältnissen ab.
({5})
Meine Ausführungen haben Ihnen einmal mehr deutlich
gemacht, dass solche Regulierungen nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich sind. Auftretende Probleme
betreffen nur eine Minderheit.
({6})
In der Mehrzahl der Praktika läuft alles gut, und die
Praktika sind zum gegenseitigen Vorteil.
Die Erfüllung der Forderungen in den Oppositionsanträgen würde nicht nur keine Vorteile bringen; sie
würde sogar - ich glaube, das ist das Entscheidende nur Nachteile für Praktikumssuchende erzeugen.
({7})
Praktika waren und sind ein guter Weg für Hochschulabsolventen, um ins Berufsleben einzusteigen. Sie
können der Orientierung dienen. Sie können Übergangszeiten im Vorfeld von bereits fest zugesicherten Anstellungen sinnvoll ausfüllen,
({8})
und sie dienen der beruflichen Qualifikation. Praktika
- das sage ich jetzt zum Abschluss - sind aus unserer
Sicht der i-Punkt einer guten akademischen Ausbildung.
Sie sind zum beiderseitigen Nutzen. Von daher sind sie
zu fördern, und man sollte sie nicht durch Verrechtlichung unattraktiv machen.
Ich bedanke mich.
({9})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Agnes Alpers das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben gerade
von Herrn Staatssekretär Braun wieder gehört, dass der
Berufseinstieg über ein Praktikum gar kein Problem
mehr sei. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage und
aufgrund des Fachkräftemangels gebe es nur noch in einzelnen Fällen Praktika; die Generation Praktikum sei
ausgestorben.
({0})
Herr Neumann, Sie schütteln mit dem Kopf - zu
Recht. Sie haben gerade selbst eingeräumt, dass es doch
noch eine Menge Praktika gibt. Sie sagten auch, die
Akademiker seien schon nach zwei Jahren integriert.
Nach zwei Jahren Praktikum, Herr Neumann!
({1})
Ich sage Ihnen: Mit dieser Ignoranz bin ich nicht einverstanden. Da kann man tatsächlich nur den Kopf schütteln.
({2})
Ich möchte Ihnen nun von meinen Erfahrungen als
Berufsschullehrerin von Paul und Lena, zwei jungen
Menschen aus Bremen, berichten. Beide haben ihre Abschlüsse gemacht, ihre Ausbildung beendet. Sie waren
hochmotiviert und wollten durchstarten, ein eigenständiges Leben beginnen. Paul hat dann aber keine Anstellung bekommen. Ihm als Tischler wurde gesagt, ihm
fehle die Berufserfahrung. Deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als ein Praktikum anzunehmen, in dem er als
vollwertiger Tischler arbeitet. Lena ist Sozialwissenschaftlerin. Sie hat ihren Abschluss mit „sehr gut“ gemacht. Weil sie keine Berufspraxis vorweisen kann,
macht sie jetzt schon das zweite unbezahlte Praktikum
und muss weiterhin von ihren Eltern unterstützt werden.
Ich frage Sie: Warum müssen vollqualifizierte Fachkräfte über ein Praktikum in den Arbeitsmarkt integriert
werden? Das ist einfach unverschämt.
({3})
Wir müssen auch einmal an die Folgen für diese jungen Menschen denken. Mittlerweile sind zwar weniger
davon betroffen, aber es sind immer noch ganz viele.
Statt als vollwertige Arbeitskraft in die Arbeitswelt richtig einzutauchen, werden sie als Praktikanten geparkt.
Sie verlieren die Motivation, und ihr Selbstwertgefühl
wird angegriffen, ganz zu schweigen davon, dass finanzielle Unabhängigkeit und eine langfristige Familienplanung nicht möglich sind. Ich sage Ihnen: Es ist ein Skandal, wie hier mit gut ausgebildeten jungen Menschen
umgegangen wird.
({4})
Deshalb bleiben wir als Linke ganz eindeutig dabei:
Wer eine Ausbildung hat, muss ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis, und zwar ein vollwertiges, erhalten.
({5})
Praktikanten sind keine billigen Arbeitskräfte. Praktika als Lernverhältnisse müssen ganz klar von Arbeitsverhältnissen abgegrenzt werden. Wir brauchen auch
Mindeststandards für Praktika. Statt nach diesen jahrelangen Diskussionen endlich gesetzliche Grundlagen
und Regelungen zu schaffen, hat sich diese Regierung
auf den Weg gemacht, einen Praktikantenleitfaden auszuarbeiten. Ich gebe zu: Sie haben wirklich begonnen,
Kritikpunkte aufzugreifen, zum Beispiel die Dauer von
Praktika, und Möglichkeiten der Vergütung aufzuzeigen.
Außerdem haben Sie Musterverträge erstellt.
Aber die zentrale Frage heute ist doch: Kann man sich
auf diesen Praktikantenleitfaden tatsächlich verlassen?
Ich sage Ihnen: Nein, das geht nicht. Es ist doch wieder
nur eine freiwillige Leistung der Arbeitgeber, frei nach
dem Motto: Alles kann, nichts muss. Mit solchen freiwilligen Selbstverpflichtungen haben wir doch schon genügend Erfahrung gemacht. Die letzte hat gezeigt: Nur
1 500 von insgesamt 3,5 Millionen Betrieben, also nur
etwa 0,05 Prozent aller Betriebe, haben sich daran beteiligt und tatsächlich faire Praktika angeboten.
({6})
Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie ersetzen hier doch nur eine misslungene Selbstverpflichtung
durch eine andere. Mehr machen Sie nicht.
({7})
Ich sage Ihnen abschließend: Wer Missbrauch tatsächlich verhindern will, muss gesetzliche Mindeststandards setzen - gesetzlich, Herr Neumann, ohne Wenn
und Aber.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion der Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Kai Gehring.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Dr. Braun, lieber Herr Professor Neumann, niemand aus der Opposition redet Praktika schlecht, sondern Sie aus den Regierungsfraktionen reden Ausbeutung schön.
({0})
Wir kritisieren den bestehenden Missbrauch. Wir wollen
keine Freiheit zur Ausnutzung, sondern wir wollen
schlichtweg, dass allen Praktikantinnen und Praktikanten flächendeckende Fairnessstandards garantiert werden. Das ist keine Ideologie, wie Sie behauptet haben,
sondern Sachlichkeit, und es bedeutet Gerechtigkeit für
die junge Generation.
({1})
Praktikantinnen und Praktikanten brauchen faire Bedingungen statt Ausbeutung. Wenn dieser Grundsatz befolgt wird, sind Praktika ein sinnvoller Bestandteil der
Ausbildung oder des Studiums und können zur Orientierung für die zukünftige berufliche Laufbahn beitragen.
Die Realität - wir haben es schon gehört - sieht in vielen
Fällen anders aus. Anstelle eines guten Jobeinstiegs machen selbst gut ausgebildete junge Menschen die alltägliche Erfahrung, mit Praktika, Honorar- und Minijobs sowie mit befristeten Arbeitsverträgen abgespeist zu
werden. Das betrifft in besonderer Weise die vielen und
weitverbreiteten Absolventenpraktika.
Trotz der mehrjährigen Debatte um gute Praktika hält
die Bundesregierung es offensichtlich weiterhin für eine
Bagatelle, Praktikantinnen und Praktikanten einen besseren gesetzlichen Schutz zu gewähren. Wir müssen
ganz klar sagen, dass Ausnutzung durch schlechte Praktikabedingungen sowohl in der Wirtschaft als auch in der
Verwaltung nicht hinnehmbar ist und unterbunden werden muss. Darum wollen wir, dass es eine klare gesetzliche Definition eines Praktikums gibt. Praktika müssen
deutlich von regulären Beschäftigungsverhältnissen abgegrenzt werden.
({2})
Uns geht es dabei um das Lernen; das muss im Vordergrund stehen.
({3})
Die neuesten Zahlen der EU belegen, dass derzeit
viele junge Menschen aus anderen EU-Staaten nach
Deutschland kommen, um der teilweise katastrophal hohen Jugendarbeitslosigkeit in ihren Heimatländern zu
entgehen. Auch sie müssen vor Ausnutzung geschützt
werden. Deutschland muss sich am laufenden EU-Konsultationsprozess zur Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten junger Menschen aktiv beteiligen. Das
Europäische Jungendforum hat übrigens in diesem Zusammenhang bereits gute Vorschläge gemacht, um europaweite Mindeststandards für Praktika zu verankern.
Auch die Bundesregierung muss faire Standards verankern, um eine Ausnutzung in den Ministerien zu verhindern. Es war längst überfällig, dass die entsprechende
Richtlinie des Bundes überarbeitet worden ist. Es war
ein klarer Erfolg von engagierten Praktikantinnen und
Praktikanten und von der Opposition, dass eine neue
Richtlinie auf den Weg gebracht wurde. Sie können sich
darauf verlassen, dass wir genau hinsehen werden, ob sie
eingehalten wird und ob die Bundesregierung künftig
wirklich mit gutem Beispiel vorangeht. Genau das erwarten wir: Verwaltung und Bundesregierung müssen
mit gutem Beispiel vorangehen.
({4})
In unserem Antrag haben wir klare Kriterien für faire
Praktika formuliert: Alle Praktikantinnen und Praktikanten sollen einen Anspruch auf einen Vertrag, eine Bescheinigung und ein Zeugnis bekommen. Sie sollen
während einer beruflichen bzw. vollzeitschulischen Ausbildung und während des Studiums eine Aufwandsentschädigung von mindestens 300 Euro monatlich erhalten. Praktika sollen zudem grundsätzlich auf eine Dauer
von maximal drei bis sechs Monaten begrenzt werden.
Denn wenn ein Praktikum länger als ein halbes Jahr dauert, ist das Risiko, dass dadurch reguläre Jobs ersetzt
werden, sehr hoch. Das können wir nicht zulassen.
({5})
Wir teilen die Intention der beiden vorliegenden Anträge von SPD und Linken. Was die SPD betrifft, muss
ich sagen: Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Sie
schon zu Zeiten der Großen Koalition eine solche Initiative gegen CDU und CSU durchgesetzt hätten.
({6})
- Das kann ich euch nicht ersparen. - Inhaltlich vermissen wir im SPD-Antrag übrigens eine Höchstdauer für
Praktika. Offensichtlich seid ihr da zu kurz gesprungen.
({7})
Auch der Antrag der Linksfraktion enthält richtige
Punkte. Aber mit Ihrer Forderung nach einem Mindestlohn für Praktikantinnen und Praktikanten schießen Sie
wirklich über das Ziel hinaus. Das würde bedeuten, dass
wir einen Niedriglohnsektor für Absolventen schaffen.
Hier darf man auch die Unternehmen nicht aus der Verantwortung entlassen, die unter dem Deckmantel von
Praktika letztendlich Arbeitskräfte zu Billiglöhnen ausbeuten. Insofern ist das keine gute Idee.
({8})
Uns ist wichtig, dass die Politik angesichts der demografischen Entwicklung wirklich Ernst macht, den jungen Menschen einen fairen Berufseinstieg zu ermöglichen. Das ist auch im Interesse der vielen Unternehmen,
die sich verantwortungsvoll verhalten und Praktikantinnen und Praktikanten nicht ausbeuten. Das muss künftig
für alle Bereiche gelten. Also: Lassen Sie uns gemeinsam faire gesetzliche Standards verankern! Dagegen
kann doch niemand etwas haben. Dann werden Praktika
ein noch stärkerer Baustein im Rahmen von Ausbildung
und Studium.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Kaufmann
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir haben in den vergangenen 20 Minuten viele Forderungen der Oppositionsfraktionen im Hinblick auf die Rechte von Praktikanten gehört. Einige dieser Forderungen mögen auf den ersten
Blick sympathisch und nachvollziehbar erscheinen. Es
ist natürlich richtig, dass jeder Praktikant vernünftig bezahlt werden soll. Außerdem sollte ein Praktikant nicht
nur zum Kaffeekochen abgestellt werden, sondern auch
die Möglichkeit bekommen, etwas mitzunehmen.
({0})
Das Problem ist, liebe Kollegen von den Oppositionsfraktionen, dass Sie die Funktion eines Praktikums mit
der eines Arbeitsverhältnisses verwechseln.
({1})
Den besonderen Charakter eines Praktikums berücksichtigen Ihre Vorschläge nicht. Das Praktikum dient
doch vor allem der Ausbildung und der Berufsfindung,
und vor allem in Studiengängen, die nicht auf einen bestimmten Beruf hinführen, sind Praktika in verschiedenen Bereichen unerlässlich.
({2})
Sie geben den jungen Menschen die Möglichkeit, einfach einmal in einen Betrieb hineinzuschnuppern, und
das ist wichtig.
Wenn Sie nun die Praktikanten mit Arbeitnehmern
gleichsetzen, dann haben diese nicht nur die Rechte der
Arbeitnehmer, sondern auch die Pflichten der Arbeitnehmer. Diesen Aspekt sollten Sie bei Ihren Forderungen
nicht vergessen. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes ist ein Arbeitnehmer - ich zitiere -,
wer auf Grund eines privatrechtlichen Vertrags im
Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebun21568
dener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist.
Außerdem müssten Sie in Ihren Anträgen sagen, welche
Art von Praktika Sie eigentlich meinen. Wollen Sie die
Gleichstellung für Pflichtpraktika oder nur für freiwillige Praktika?
({3})
Wie ist es mit Pflichtvor- und Pflichtnachpraktika? Wie
sehen Sie Einführungspraktika, Blockpraktika, Schülerpraktika, Studienpraktika, Abschlusspraktika usw.? Wie
ist es mit Famulaturen und Volontariaten? Dazu enthalten Ihre Vorschläge keine Aussagen.
({4})
Vor dem ernsthaften Hintergrund Ihrer Vorschläge
plädiere ich daher für eine rationale Betrachtung und
möchte dazu vier Anmerkungen machen:
Erstens. Selbstverständlich gibt es schwarze Schafe
bei Unternehmen, aber auch bei NGOs oder anderen Organisationen, die Praktikanten ausnutzen und trotz eines
Ausbildungs- oder Berufsabschlusses nicht ausreichend
oder gar nicht bezahlen. Dies ist aber kein Massenphänomen, und darauf möchte ich hinaus. Das hat die HISStudie „Generation Praktikum - Mythos oder Massenphänomen?“ ganz deutlich gezeigt. Aus ihr wurde bereits zitiert. Herr Kollege Gehring, das ist keine Ausbeutung.
({5})
Es bedarf vielmehr einer differenzierten Betrachtung.
Während gerade im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften häufiger ein oder mehrere Praktika an das
Studium anschließen, gibt es dies in den natur- und wirtschaftswissenschaftlichen Fächern eher selten. Gleiches
gilt für die Bezahlung. Während in den Branchen Gesundheit, öffentlicher Dienst und Bildung unbezahlte
Praktika die Regel sind, werden Praktikantinnen und
Praktikanten bei Unternehmensberatungen, in der Konsumgüterindustrie oder im Bereich Internet/Multimedia
zu mehr als 90 Prozent bezahlt. Erhebungen zufolge bekommen einige sogar mehr als 1 000 Euro im Monat.
Zweitens. Ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung mit ihrer Richtlinie und mit ihrem Leitfaden für
Praktikanten einen großen Teil des Informationsdefizits
abgebaut hat. Überhaupt gilt: Mit einer guten Informationspolitik kommen wir weiter als mit strengen gesetzlichen Regeln; denn mit gut gemeinten gesetzlichen
Regelungen wie einer von Ihnen geforderten Mindestbezahlung werden wir im Zweifel nicht die Qualität der
Praktika erhöhen, sondern Praktika verhindern. Das gilt
besonders für Praktika in praxisfernen Bereichen.
({6})
Gerade hier sind Praktika wichtig, um den jungen Menschen den Sprung auf den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Drittens. Wir müssen uns natürlich auch an die eigene
Nase fassen. Das gilt ganz besonders für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den antragstellenden Fraktionen. Bezahlen Sie Ihre Praktikanten eigentlich mit einer
Mindestvergütung?
({7})
Wie sah es damit in Ihren Ministerien während Ihrer Regierungsverantwortung aus? - Ich habe mir die Zahlen
einmal genauer angeschaut. Die Frau Kollegin Alpers
hatte eine entsprechende schriftliche Anfrage gestellt. Für
die Jahre 2008 und 2009 hat die Bundesregierung mitgeteilt: Auswärtiges Amt, Bundesminister Steinmeier, SPD,
Gesamtzahl der Praktika 2009: 871. Davon vergütete
Praktika: keine.
({8})
148, darunter zwölf Hochschulabsolventen. Davon vergütete Praktika: keine.
({0})
99, darunter drei Hochschulabsolventen. Davon
vergütete Praktika: keine.
({0})
Das ist kein gutes Zeugnis.
Viertens. Auch vor dem Hintergrund der soeben genannten Zahlen möchte ich auf die Initiative „Fair Company“ des Wirtschaftsmagazins Karriere aufmerksam
machen.
({1})
Um das Gütesigel „Fair Company“ zu erhalten, müssen
Unternehmen fünf Kriterien erfüllen. Dazu zählen unter
anderem eine adäquate Aufwandsentschädigung für das
Praktikum sowie der Verzicht auf das Ersetzen von Vollzeitstellen durch Praktikanten. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, diese Initiative ist beispielhaft. Ich hoffe, dass
sich in Zukunft weit mehr als die erst 1 800 Unternehmen zu den Grundsätzen der „Fair Company“ bekennen.
Lassen Sie uns nicht immer alles schlechtreden. Ja, es
gibt Defizite bei einigen Praktikantenverhältnissen, aber
insgesamt sind zwei Drittel aller Praktikanten mit ihrem
Praktikum zufrieden. Herr Braun hat dies bereits erwähnt. Bei den Studierenden waren es sogar fast drei
Viertel, wie wir dem Praktikantenreport 2012 entnehmen
können.
Vor diesem Hintergrund ziehen wir, die CDU/CSUBundestagsfraktion, eine konstruktive Vorgehensweise
vor. Wir lehnen eine starre Reglementierung von Praktikantenverhältnissen, wie sie von der Opposition gefordert wird, ab. Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten,
zu welchen Ergebnissen die Selbstverpflichtungen führen, die hier schon angesprochen wurden. Spätestens in
zwei Jahren ziehen wir dann Bilanz
({2})
und prüfen, ob die Ankündigungen umgesetzt wurden.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Michael Gerdes von der SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider
habe ich nur vier Minuten Redezeit. Wären es mehr,
könnte ich noch eine ganze Menge zu Herrn Kaufmann
sagen.
({0})
Ich will zum Thema kommen: Um die sogenannte
Generation Praktikum ist es im Moment nur scheinbar
etwas ruhiger geworden. Gibt es keine Generation Praktikum mehr? Herr Staatssekretär Braun hat gerade so
ähnlich argumentiert.
({1})
Ist also alles gut? Gibt es keine jungen Menschen mehr,
die ihr Berufsleben mit einem mäßig oder schlecht bezahlten Praktikum beginnen? Finden plötzlich alle Berufseinsteiger einen adäquaten, unbefristeten Job? Herr
Kollege Neumann, ist wirklich alles so rosig? Es gruselt
uns zwar nicht, aber wir sollten genauer hinschauen.
({2})
Praktika spielen noch immer eine große Rolle, zumeist auch bei Hochschulabsolventen. Nicht wenige von
ihnen absolvieren gleich mehrere Praktika. Ja, es gibt sie
doch, diese Kettenpraktika. Genau hinschauen heißt
auch handeln. Wir sollten uns nicht alleine darauf verlassen, dass der demografische Wandel die langfristigen
Jobchancen junger Arbeitnehmer automatisch verbessern wird.
Auf unserem heutigen Arbeitsmarkt gibt es Licht und
Schatten. Ja, in Bezug auf die Jugendarbeitslosigkeit stehen wir in Europa gar nicht so schlecht da. Unsere Nachbarn wollen sogar von uns lernen, etwa wenn es um die
duale Berufsausbildung geht. Das heißt aber nicht, dass
es für uns nichts zu tun gibt.
Die Jobs für junge Menschen in Deutschland werden
laut Statistik mehr, aber sie sind schlecht bezahlt und
häufig befristet. Der Arbeitsmarkt hat sich strukturell gewandelt - nicht nur für die junge Generation. Unsere
Probleme sind atypische Beschäftigungsverhältnisse,
also geringfügige Beschäftigungen, befristete Jobs und
Leiharbeit. Die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse geht
zurück, und insbesondere viele Neueinstellungen erfolgen befristet. Hiervon sind die jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besonders betroffen. Erschreckend ist auch die Zahl der Befristungen in Wissenschaft
und Forschung. Viele junge Wissenschaftler werden mit
Vertragszeiten von weniger als einem Jahr konfrontiert.
Ich finde, das ist unglaublich.
({3})
Die SPD kämpft entschlossen für faire und gut bezahlte Arbeitsplätze. Dazu gehört auch, dass wir uns für
die junge Generation und ihren optimalen Start ins Berufsleben einsetzen. Wir fordern in unserem Antrag eine
gesetzliche Klarstellung für Praktikantenverhältnisse.
Junge Menschen mit Studienabschluss oder abgeschlossener Ausbildung dürfen eben nicht als billige Arbeitskräfte missbraucht werden.
({4})
Wer voll arbeitet und fest in den Betriebsablauf integriert ist - das sind etwa 81 Prozent der Betroffenen -,
der muss auch wie ein vollwertiger Mitarbeiter bezahlt
und behandelt werden.
({5})
Dazu gehört eine anständige Bezahlung. 40 Prozent der
Praktika sind unbezahlt.
Wir stellen den Sinn von Praktika ja gar nicht grundsätzlich infrage. Jeder Mensch soll und muss Praxiserfahrungen sammeln können. Dafür bedarf es aber
eines vernünftigen Rahmens. Ein Praktikum muss Lernzeiten beinhalten, es muss vergütet werden. Wir fordern
klare gesetzliche Regelungen für Rechte und Pflichten,
Herr Kaufmann. Das gilt selbstverständlich auch für
praktikumsähnliche Formen wie Hospitationen, Volontariate und Trainee-Stellen. Die Freiwilligkeit hat sich hier
nicht bewährt.
Es geht uns nicht um Mindestlöhne per Gesetz. Es
geht uns darum, jungen Menschen eine Wertschätzung
entgegenzubringen. Wie sollen sie ihren Platz in der Gesellschaft finden, wenn der Einstieg ins Berufsleben direkt mit Negativerfahrungen beginnt? Wie sollen junge
Menschen die Zukunft planen, wenn ihre Ausbildung
anscheinend keinen Wert hat und wenn ihre Arbeit nicht
angemessen bezahlt wird? Tragen wir als Gesetzgeber
hier nicht eine Verantwortung?
Hier muss aber auch die Wirtschaft verantwortlich
handeln. Wer morgen gute Fachkräfte haben will, der
muss heute faire Arbeitsbedingungen schaffen und erlerntes Wissen anerkennen.
({6})
Arbeitnehmer verdienen insgesamt mehr Respekt.
Von dieser Debatte sollte eine klare Botschaft ausgehen:
Soziale Teilhabe ist eine Frage von stabilen Jobs.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/9720.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/3482 mit dem Titel:
„Für Fairness beim Berufseinstieg - Rechte der Prakti-
kanten und Praktikantinnen stärken“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
nommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/4044 mit dem Titel: „Faire Be-
dingungen in allen Praktika garantieren“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem glei-
chen Stimmenverhältnis angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4186
mit dem Titel: „Missbrauch von Praktika gesetzlich
stoppen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthal-
tung von SPD und Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Philipp Mißfelder, Michael GrosseBrömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Kurth ({0}), Bijan Djir-Sarai, Rainer Brüderle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Myanmar - Reformkräfte unterstützen, den
Wandel beschleunigen, Perspektiven eröffnen
- Drucksache 17/9735 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Johannes Pflug, Karin Roth ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Myanmar auf dem Weg zur Demokratie begleiten und unterstützen
- Drucksache 17/9727 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({2})-
Ausschuss für Arbeit und Soziales-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Ute Koczy, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Myanmar - Den demokratischen Wandel unterstützen
- Drucksache 17/9739 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({3})Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Patrick Kurth von der FDP-Fraktion
das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Myanmar beobachten wir eine atemberaubende Entwicklung.
Nach Jahrzehnten der Militärdiktatur vollzieht sich ein
demokratischer Wandel. Das Bemerkenswerte: Es ist der
äußerst seltene Fall, dass sich eine Diktatur aus sich heraus wandelt. Die Machthaber selbst haben Reformen
auf den Weg gebracht. Das ist ziemlich einzigartig in der
Welt und sollte alle ermutigen, diesen Wandel zu unterstützen. Dies haben wir im Antrag der Koalition am Anfang des Abschnitts II deutlich gemacht.
Myanmar gelingt etwas, was uns Deutschen so nicht
gelungen ist, dass nämlich Diktatoren selbst den Weg für
Reformen freimachen und diese dann mitgestalten. Da
können wir Deutsche von Myanmar lernen.
Dabei war noch vor wenigen Monaten - das ist also
gar nicht so lange her - Myanmar ein verloren geglaubtes Land. Die Militärjunta saß fest im Sattel. Erinnern
wir uns: Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen
oder Ähnliches bewirkten wenig. Es hieß - Kollege
Bijan Djir-Sarai hat das heute schon an anderer Stelle
gesagt - frei nach dem persischen Dichter: Selbst wenn
alle Flüsse dieser Welt versiegen, solange die Militärs
die Macht haben werden, wird es in Myanmar keine Demokratie geben. - Aber es kam anders. Der Weg ist frei
in Richtung Demokratisierung ohne Blutvergießen.
Myanmar gibt ein Beispiel für viele andere Regionen in
dieser Welt.
Patrick Kurth ({0})
({1})
Ganz besonders hervorheben muss man, dass wir jetzt
allen Reformkräften in Myanmar Unterstützung leisten
müssen. Diese gibt es sowohl in der Regierung und vor
allem in den Regierungsparteien, aber eben auch in der
Opposition. Die Reformen gingen gerade von den Regierenden aus, und diese übernehmen weiterhin den
größten Teil der Reformverantwortung. Auch daran
muss man die Bewertung der Vorgänge in Myanmar ausrichten.
Dessen muss sich aus unserer Sicht auch die Opposition in Myanmar bewusst sein, insbesondere auch die
NLD und Frau Aung Sang Suu Kyi. Wichtig ist, dass wir
jetzt konstruktiv kooperieren, um den Weg gemeinsam
zu gehen, auch mit der NLD. Auch sie darf sich dem
nicht verschließen.
Die Einteilung in Gut und Böse - das lehrt uns dieser
neue Fall in der Weltgeschichte, wenn man das so sagen
kann - kann man hier nicht vornehmen. Meine Damen
und Herren von den Grünen, genau dieses Bild vermitteln Sie aber in Ihrem Antrag. Ich glaube, dass wir den
Dialog zwischen Opposition und Regierung auch in
Myanmar stärker ins Bewusstsein rücken müssen.
Dabei ist es natürlich richtig, dass wir trotz dieser Erfolge den Fortschritten in Myanmar auch weiterhin mit
Skepsis begegnen. Nach wie vor gibt es - das ist ganz
natürlich - viele Gegner des Reformprozesses, übrigens
auch innerhalb der Regierung. Auch sie müssen davon
überzeugt sein, dass der Weg, den sie eingeschlagen haben, richtig ist. Wenn man ein neues, demokratisches
Staatssystem einrichten möchte, muss man nicht nur
wissen, wogegen man ist, sondern auch, wofür man ist.
Das ist, glaube ich, sehr wichtig. Deswegen gibt es die
Aussetzung der Sanktionen, und deswegen bestehen einige Sanktionen, gerade im militärischen Bereich, weiter
fort. Das zeugt auch davon, dass wir in der Lage sind,
Myanmar den richtigen Weg mit zu weisen, den wir weiterhin kritisch, aber konstruktiv begleiten.
Eine erste wichtige Bewährungsprobe waren die
Nachwahlen am 1. April. Aus unserer Sicht ist diese Bewährungsprobe bestanden worden. Es waren im Grundsatz freie und faire Wahlen. Deshalb ist es auch falsch,
meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie in
Ihrem Antrag behaupten, dass die Wahlen nicht demokratisch und fair waren.
({2})
Wir sollten auch aufpassen, dass wir keine überheblichen westlichen Erwartungen an den Tag legen, sondern
mit tatsächlicher Hilfe und wenig Besserwisserei Unterstützung leisten.
({3})
Myanmar hat konkrete Unterstützung verdient. Das
Wichtigste in einer Demokratie ist das Parlament. Für
viele Parlamentarier dort ist es neu, Parlamentarier zu
sein. Hier können wir durch Wissenstransfer und Erfahrungsaustausch konkret helfen. Wir können uns - das haben wir im Deutschen Bundestag in den letzten Wochen
mit mehreren Delegationen gemacht - mit den Partnern
dort austauschen, um uns auch davon zu überzeugen,
wie sie nicht nur in ihrem Land, sondern auch in unserem Land reden. Ich war nach diesen Gesprächen sehr
von diesem Weg überzeugt.
Ich finde es auch richtig, dass wir gerade den Machthabern, die jetzt dort Verantwortung tragen, zeigen, dass
wir sie ernst nehmen. Insofern war es richtig und sehr
gut, dass Bundesminister Niebel sehr frühzeitig nach
Myanmar gereist ist und dass auch Außenminister
Westerwelle als erster Außenminister der Bundesrepublik seit 25 Jahren dort war, übrigens auch mit konkreten
Ergebnissen.
({4})
Das, was Bundesminister Niebel wie auch Bundesminister Westerwelle gemacht haben, ist ein Hinweis darauf,
wie wichtig Transfers im Bildungsbereich sind. Myanmar muss für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung eine Bildungsoffensive durchführen.
Wir wehren uns entschieden dagegen, dass eine so
junge Demokratie, die Myanmar jetzt wahrscheinlich
wird, eine Goldgräberstimmung bei anderen Staaten auslöst, die in diesem Land zwar vorrangig investieren wollen, aber vielleicht in erster Linie auch einiges aus dem
Land herausholen wollen. Nein, wir sind dafür, nachhaltig zu wirtschaften. Diesen Weg wollen wir konstruktiv
und kritisch begleiten. Wir wollen dabei alle politischen
Kräfte in Myanmar berücksichtigen. Deutschland wird
helfen.
Herzlichen Dank.
({5})
Für die Fraktion der SPD hat jetzt das Wort die Kollegin Edelgard Bulmahn.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Dass wir uns heute in dieser Debatte mit insgesamt drei Anträgen zur politischen Situation in Myanmar beschäftigen, halte ich für ein gutes Zeichen. Alle
Anträge unterstreichen die Bedeutung der Umbrüche in
Myanmar und verdeutlichen die Verantwortung, die wir
haben, den Reformprozess so zu unterstützen, dass er
zum Erfolg führt.
1962 hat das Militär im ehemaligen Burma die Macht
übernommen. Das einst reichste Land Südostasiens
wurde zum Armenhaus der Region, obwohl es über
enorme Bodenschätze verfügt.
Vor gut zwölf Monaten hat nun ein Reformprozess in
Myanmar begonnen, der so vor einigen Jahren, als protestierende Mönche noch gewaltsam niedergeschlagen
wurden, nicht zu erwarten war. Viel zu sehr standen sich
die politischen Gegensätze über viele Jahre unversöhn21572
lich gegenüber. Doch die Militärjunta scheint eingesehen
zu haben, dass die Bevölkerung eine Demokratisierung
des politischen Systems will. Auch die Forderung der internationalen Staatengemeinschaft nach dem Schutz von
Menschenrechten und grundlegenden demokratischen
Rechten hat Wirkung gezeigt. Sicherlich spielte auch der
Druck der Menschen für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen eine wichtige Rolle. Die meisten Menschen in Myanmar verbinden heute die Hoffnung auf
einen politischen Demokratisierungsprozess mit der
Hoffnung auf Wohlstand.
Ein ganz wichtiger Schritt im Reformprozess war und
ist die Freilassung eines großen Teils der politischen Gefangenen. Die Wiederaufnahme des Dialogs mit der
Friedensnobelpreisträgerin und Oppositionsführerin
Aung San Suu Kyi, Fortschritte im Friedensprozess mit
den ethnischen Minderheiten und die begonnene Liberalisierung anderer gesellschaftlicher Bereiche waren
ebenfalls wichtige Schritte. Ich finde, es stimmt hoffnungsvoll, wenn Präsident Thein Sein, ein ehemaliger
General der Militärjunta, selbst davon spricht, Myanmar
zu einer „echten Demokratie“ führen zu wollen. Dennoch ist die Unterstützung des Wandels notwendig; denn
es gibt noch immer einflussreiche Gegner vor allem im
Militärapparat.
Ein wichtiger Meilenstein waren die Nachwahlen
zum Parlament am 1. April dieses Jahres. Die Mehrheitsverhältnisse im Land - da haben die Kollegen
durchaus recht - haben sie zwar nicht grundlegend verändert. Aber sie waren ein ganz wichtiger Test für den
Reformwillen der Regierenden und ein Barometer für
die Stimmung in der Bevölkerung. Das finde ich entscheidend.
({0})
Dass 43 von 45 Sitzen an die noch bis vor kurzem verbotene Nationale Liga für Demokratie gingen, ist ein eindrucksvolles Ergebnis.
Das Militär hat noch immer eine herausgehobene
Stellung, nicht zuletzt deshalb, weil die Verfassung ihm
noch immer eine Sperrminorität von 25 Prozent der
Sitze im Ober- und Unterhaus sowie in den Regionalparlamenten garantiert; das ist zutreffend. Ob der Reformprozess gelingt oder nicht, hängt in entscheidendem
Maße davon ab, ob die Europäische Union, ob Deutschland und andere Länder alles dafür tun, die zivilen politischen Kräfte und Organisationen in diesem Land zu stärken und so die Macht des Militärs Schritt für Schritt zu
verringern.
({1})
Wir müssen dazu beitragen, die Mitwirkungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft bei der weiteren Umsetzung des Reformprozesses zu stärken.
Darüber hinaus - auch das wissen wir - bedarf es einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung und dem
Aufbau sozialer Sicherungssysteme. Die Bevölkerung
braucht diese Entwicklungsperspektive, die eine spürbare Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen mit sich bringt. Wir wissen doch, dass Demokratie
immer auch von einem Mindestmaß an Wohlstand abhängig ist; das zeigen alle Erfahrungen. Ansonsten ist
die Gefahr der Radikalisierung von Bewegungen oder
sogar des Scheiterns von friedlichen Transformationsprozessen sehr groß.
Die Aussetzung der Sanktionen durch die EU und die
USA hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass ausländische Investoren und Hilfsorganisationen nun die
Chance haben, dabei zu helfen, eine zeitgemäße Infrastruktur in Myanmar aufzubauen und zielgerichtete Hilfestellung für die wirtschaftliche Entwicklung zu geben.
Bislang hat sich hier vor allem China engagiert, das jedoch ganz eigene Zielsetzungen dort verfolgt. Die meisten Menschen in Myanmar sind trotz großer Ressourcen
und Reichtümer nach wie vor arm. Gerade wir haben
eine besondere Verantwortung, unsere neuen Handelsund Geschäftsbeziehungen so zu gestalten, dass sie langfristig eine nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung in Myanmar in Gang setzen und unterstützen.
Dabei - lassen Sie mich das konkret sagen - wird es
sehr entscheidend darauf ankommen, dass die Einnahmen aus den Rohstoffvorkommen als Grundlage für ein
breitenwirksames wirtschaftliches Wachstum im Land
selbst genutzt werden. Transparenz und die Verwendung
der Einnahmen aus der Rohstoffförderung sind im Übrigen eine wesentliche Voraussetzung dafür, damit dies
gelingt. Die Bundesregierung - das ist ein ganz dringlicher Appell - sollte sich daher gegenüber der Regierung
von Myanmar nachdrücklich dafür einsetzen, dass sich
Myanmar an internationalen Transparenzstrukturen
- das sind die Organisationen, die auch von der Weltbank unterstützt werden - beteiligt und Initiativen für
eine nachhaltige Nutzung von Rohstoffeinnahmen für
das Gemeinwohl, zum Beispiel für die Verbesserung von
Bildung und den Aufbau des Gesundheitswesens, entwickelt.
({2})
Nur durch eine umfassende und mit der internationalen Gemeinschaft abgestimmte Entwicklungszusammenarbeit können Deutschland und die EU einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der ländlichen Entwicklung,
zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung, zur Armutsbekämpfung und zur Modernisierung des Bildungssystems leisten.
Ein wirklicher, dauerhafter demokratischer Wandel in
Myanmar wird allerdings nur gelingen, wenn das, was
ich eben gesagt habe, mit einer stärkeren Beteiligung
möglichst vieler zivilgesellschaftlicher Akteure einhergeht. Dazu zählen aus unserer Sicht insbesondere Gewerkschaften, deren freie Betätigung durch die Militärjunta über viele Jahrzehnte völlig unterbunden war. Wir
müssen heute sagen, dass es trotz neuer gesetzlicher Regelungen wie dem Verbot der Zwangsarbeit oder einem
neuen Gewerkschaftsgesetz immer noch eine Vielzahl
von Verletzungen der Arbeitnehmerrechte gibt. Deshalb
muss sich die Bundesregierung mit Nachdruck dafür einEdelgard Bulmahn
setzen, dass es zu besseren Rahmenbedingungen für die
Arbeit von Gewerkschaften in Myanmar kommt und die
in der Vergangenheit verbotenen Gewerkschaften wieder
zugelassen werden,
({3})
dass Myanmar die ILO-Konvention, das Verbot von
Zwangsarbeit und die Ratifizierung aller ILO-Kernarbeitsnormen konsequent umsetzt. Es reicht nicht aus,
ein Gesetz zu erlassen, sondern man muss es auch umsetzen. Die Bundesregierung muss - auch das ist ein Appell an Sie - den Ausbau des Büros der ILO in Myanmar
unterstützen, wenn nötig auch finanziell.
Wir wissen, dass aus einer klassischen Militärdiktatur
nicht über Nacht eine klassische Demokratie wird. Dennoch sind die Entwicklungen insgesamt positiv zu bewerten. Damit das so bleibt, bedarf es der Unterstützung
des Entwicklungsprozesses in Myanmar durch die Staatengemeinschaft. Ich glaube, es ist gut, wenn wir uns im
Parlament auch in den kommenden Monaten mit dieser
Entwicklung sehr intensiv auseinandersetzen und sie kritisch begleiten.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat das Wort der Kollege Jürgen Klimke von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf den Antrag der Koalitionsfraktionen
eingehe, möchte ich die Chance nutzen, einen Blick auf
die Myanmar-Politik der letzten 20 Jahre, wie sie von
der EU und vor allen Dingen von der Bundesregierung
und auch dem Deutschen Bundestag mit wechselnden
Mehrheiten betrieben worden ist, zu werfen. Rückblickend müssen wir feststellen, dass die Sanktionen gegen
Myanmar schon immer ein fragwürdiges diplomatisches
Mittel waren. Sie haben nichts erreicht, außer dass das
Land jahrzehntelang isoliert wurde und verkümmerte,
die Eliten immer reicher und die Menschen in dem Land
jeglicher lebenswerter Grundlage beraubt wurden.
Die Sanktionen haben nicht die Reformkräfte im
Land gestärkt, was man eigentlich unterstellt hatte, sondern Myanmar einseitig in die Arme der Volksrepublik
China, des Iran oder Nordkoreas getrieben. Oftmals
wurde Myanmar sogar in die Achse des Bösen gruppiert.
Das ist aus meiner Sicht falsch. Natürlich waren die Militärs in Myanmar ein Unrechtsregime, doch hat es die
westliche Gemeinschaft nicht verstanden, einen diplomatischen Unterschied zwischen den xenophoben Militärs Myanmars und den ideologisch versteinerten Diktaturen Irans oder Nordkoreas herzustellen.
Viele ernstzunehmende Dialogansätze wurden über
die Jahrzehnte, besonders auch unter dem moralischen
Druck der Myanmar-Diaspora, die wir hier haben, abgewürgt. Immer gab es eine einseitige Fokussierung auf
die Oppositionspartei NLD, die in Wahrheit durchaus
konzeptions- und führungsschwach ist und keine wirkliche Alternative im Land aufgezeigt hat.
Trotzdem schlägt die Grünen-Fraktion mit ihrer Forderung 3 in eine alte Kerbe. Ich finde das ideenlos. Es
zeigt, welche schlechte Kenntnis des Landes man haben
muss, wenn man ASSK, Aung San Suu Kyi, andauernd
als den einzigen Referenzrahmen der Opposition in Myanmar anführt. Das ist sie nicht. Sie ist ein Gesicht und
eine Ikone, aber nicht die politische Opposition an sich.
({0})
Immer wieder haben aktive und ehemalige Kollegen
- Detlef Dzembritzki, Hellmut Königshaus oder Karin
Kortmann; ich habe das in den alten Debatten zu Myanmar noch einmal kurz nachgelesen - darauf hingewiesen, dass wir Myanmar eine Perspektive geben müssen.
Hingegen konnten Kollegen wie Kerstin Müller von den
Grünen in der Vergangenheit bei dem Versuch, gemeinsame Anträge zu Myanmar zu formulieren, den moralischen Zeigefinger nicht hoch genug heben.
({1})
Noch im Oktober 2010 bin ich hier bei meiner Rede zu
den geplanten Wahlen in Myanmar und meiner Aussage,
dass diese Wahlen eine Chance für das Land sein können, nicht wirklich mit Applaus bedacht worden.
Meine Damen und Herren, vielleicht sollte uns das
Beispiel Myanmar auch etwas politische Demut lehren.
Mehr Zuhören könnte vielleicht auch eine Lösung sein.
Denn die damalige Militärregierung Myanmars hat
schon vor fünf Jahren den Weg der gelenkten Demokratie eingeschlagen. Die überwältigende Mehrheit dieses
Hauses hat dem nicht geglaubt und das Land auch weiterhin mit Sanktionen drangsaliert.
Vielleicht ist die Entwicklung in Myanmar für die
westliche Gemeinschaft sogar auf eine Weise auch
schmerzhaft; denn nicht der Westen mit seinem manchmal moralischen Missionsdrang hat den Impuls zur Umsetzung von Reformen gegeben, sondern die von uns beschimpften destruktiven Kräfte haben sich von sich aus
gewandelt.
Wege zur Demokratie können auch ohne uns gelingen. Das zeigt das Beispiel Myanmar. Daher müssen wir
unsere entwicklungspolitischen und außenpolitischen
Konzepte auch für sich langsam wandelnde Gesellschaften wie Myanmar weiterentwickeln; denn der nächste
von uns beschimpfte Kandidat entwickelt sich auch
schon langsam positiv weiter - Sri Lanka.
Viel schlimmer hat sich jedoch in den letzten Jahren
die Doppelmoral jener Länder ausgewirkt, die die Sanktionen am vehementesten eingefordert und auch immer
verschärft haben. Die Franzosen, die Engländer oder die
Amerikaner - das muss man ehrlich sagen - haben immer
wieder Härte gefordert und hintenherum Geschäfte we21574
gen der Rohstoffe abgeschlossen. Nie war irgendetwas
ehrlich im Umgang mit Myanmar.
Heute müssen wir neidlos anerkennen, dass es die Militärregierung Myanmars doch vermag, sich demokratisch zu wandeln - langsam, aber stetig. Ehemalige Todfeinde des Militärs werden wieder eingebunden und
dürfen an der Gestaltung des Landes mitwirken. Reformen in allen Bereichen werden sukzessiv umgesetzt.
Weitere wichtige Maßnahmen wie die umfassende Freilassung aller restlichen politischen Gefangenen werden
erfolgen.
Die andauernden Ermahnungen des Westens sind
zwar richtig. Es bedarf aber nicht immer der andauernden Ermahnungen. Trotzdem haben die westlichen
Skeptiker weiterhin die Oberhand. Auch die Anträge der
SPD und der Grünen strahlen ein bisschen Misstrauen
aus - jedenfalls keinen Optimismus.
Warum dauert es so lange, bis die westliche Gemeinschaft die Leistungen des Präsidenten Thein Sein anerkennt? Warum wird er von den internationalen Besuchern immer erst als zweiter Repräsentant Myanmars
gewürdigt? Warum formuliert man immer neue Bedingungen und vertraut nicht einfach einmal auf die Kraft
der Demokratie und auf die Kraft der Freiheit?
Ich vertraue der neuen zivilen Regierung so wie alle
außenpolitischen Experten aller anerkannten deutschen
Stiftungen. Auch aus diesem Grund habe ich mich dafür
starkgemacht, dass die Koalition diesen Antrag zügig
vorgelegt hat, der die Anstrengungen der Regierung
würdigt und Perspektiven für einen nachhaltigen Aufbau
Myanmars anbietet.
({2})
Myanmar wird das neue Hoffnungsland der ASEAN
sein. Ich bin davon überzeugt, dass es in einem Jahrzehnt
nicht viele Staaten in Südostasien geben wird, die einen
derartigen demokratischen und wirtschaftlichen Stand
haben werden.
Klar ist: Dem Land steht ein langer, steiniger Weg bevor. Es besitzt aber die Chance auf Wachstum und den
Aufbau einer funktionierenden Volkswirtschaft. Diese
Chance müssen wir im Rahmen einer intelligenten Entwicklungszusammenarbeit nutzen, die sich auf die Sektoren Bildung, Gesundheit, Konfliktmanagement und
Wirtschaft fokussiert. Außerdem müssen wir eine international nachhaltige Lösung der Schuldenfrage Myanmars sowie der dortigen Minderheitenproblematik finden. Wir müssen im Bereich der Privatbanken helfen.
Wir müssen vor allen Dingen immer wieder sehen, was
sich getan hat: Die Militärausgaben sind von 23,5 Prozent auf 14 Prozent des Gesamthaushaltes gesenkt worden. Die Sozialausgaben sollen auf 7,5 Prozent erhöht
werden.
Können Sie bitte Ihre Rede beenden.
Optimismus, das ist das, was wir brauchen. Das Land
braucht Hilfe, Unterstützung, damit es sich weiterentwickelt - im Interesse der Menschen, die 30 Jahre lang zu
leiden hatten.
Danke sehr.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Annette Groth von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Trotz der vielen demokratischen Veränderungen in Myanmar - sie wurden schon von allen Rednerinnen und
Rednern erwähnt ({0})
- genau, wir zollen dem ja Respekt - gibt es dort noch
viele Probleme, wie ebenfalls schon erwähnt, zum Beispiel die Enteignung; ich nenne sie, weil sie noch nicht
erwähnt worden ist. Die Regierung vertreibt Menschen
von ihrem Land, um Infrastrukturprojekte durchzusetzen. Laut der Menschenrechtsorganisation ALTESAN
haben in der Region Palaung etwa 65 Prozent aller Familien Land verloren. Die enteigneten Familien sind nahezu rechtlos, da sie bisher keine Möglichkeit haben,
sich an ein Gericht zu wenden, um sich gegen die Enteignung zu wehren.
Diese Praxis ist besonders im Tourismussektor zu beobachten. Viele Fischerfamilien müssen dem zunehmenden Bauboom der großen Hotelanlagen an der Küste
weichen. Lonely Planet, einer der wichtigsten Reiseführer für Individualreisende, erklärte Myanmar nach
Uganda zur Nummer zwei unter den Top-zehn-Reisezielen für dieses Jahr. Aber die Infrastruktur ist für diesen
Touristenzuwachs nicht ausreichend, und insbesondere
die Bevölkerung ist darauf keineswegs vorbereitet. Der
Sextourismus mit seinen Begleiterscheinungen ist schon
im Anmarsch, was ich bei der bereits erwähnten Delegationsreise mit Bundesminister Niebel selbst beobachtet
habe.
Ein weiteres Problem ist die Kriegsökonomie, die
sich durch den jahrzehntelangen Konflikt mit der KachinUnabhängigkeitsarmee entwickelt hat. Eine Parlamentarierin, selbst eine Kachin, sagte mir neulich, dass man
die Soldaten der Kachin-Armee nur zum Aufgeben motivieren kann, wenn sie andere Arbeits- und Einkommensperspektiven haben. Die Befehlshaber dieser Armee verdienen gut an dem illegalen Handel mit Rohstoffen
sowie am Menschenhandel und bezahlen auch ihre Soldaten entsprechend. Diese Menschen brauchen eine
echte Alternative zum Kriegsdienst. Da ist auch die Entwicklungspolitik gefragt. Wir erwarten von der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik, dass sie die Entwicklungsbedürfnisse sowie die Armutsbekämpfung in
den Mittelpunkt stellt. Die Bevölkerung muss selbst bei
den Entwicklungshilfeprojekten mit entscheiden. Es
geht um ihre Bedürfnisse und nicht um die Interessen der
großen Konzerne.
({1})
Klar ist, dass die Konzerne die burmesischen Rohstoffe ausbeuten wollen. Myanmar ist reich an Edelmetallen, Seltenen Erden, Edelhölzern und vielem mehr. Da
ist echt viel Profit zu machen. Darüber hinaus gibt es einen großen Binnenmarkt mit 54 Millionen Menschen,
das heißt mit vielen potenziellen Käuferinnen und Käufern von Konsumgütern. Derzeit herrscht in Myanmar
- ich habe das so erlebt - eine regelrechte Goldgräberstimmung.
Eine weitere Herausforderung für die Regierung sind
die 450 000 Binnenflüchtlinge. Sie leiden vor allen Dingen unter Verarmung und Verelendung. Aber, Herr
Klimke, da stimmt Ihre Zahl nicht: Der Militärhaushalt
hat sich vom Haushaltsjahr 2011/12 auf das folgende
Jahr fast verdoppelt.
({2})
- Diese Zahl hat mir vor ein paar Tagen eine Dame aus
Burma genannt. Ich kann sie Ihnen belegen.
Darüber hinaus ist es ein Skandal, liebe Kollegen
von der SPD, dass es seit 1981 in Rangun eine Fabrik
für G-3-Gewehre gibt, die mit Technik von Heckler &
Koch aufgebaut wurde. Seither produziert diese Firma
für das burmesische Regime Gewehre, die auch zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung eingesetzt wurden. Die damalige SPD-geführte Bundesregierung hatte
diesen Waffentransfer genehmigt - eigentlich ein unglaublicher Skandal.
({3})
Wir hoffen, dass unsere Regierungen in Zukunft nicht
mehr Waffenfabriken genehmigen, sondern sich für die
friedliche Entwicklung der Region einsetzen.
({4})
- Jawohl, das alles ist schön. Wir hoffen, dass die Burmesen und Burmesinnen bei all diesen Programmen ein
klares Mitspracherecht haben;
({5})
denn sonst werden sie an die Seite gedrückt, und es wird
eine von außen induzierte Entwicklung vorangetrieben.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt von
der Fraktion der Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja,
wir alle hätten uns vor zwei Jahren den Wandel in Myanmar vermutlich kaum vorstellen können. Der Wandel ist
gut. Trotzdem bleibt wahr, Herr Klimke: Dort herrscht
eine brutale Militärjunta, immer noch. Sie hat die Macht
noch nicht abgegeben.
2007 hat sie die Demokratiebewegung unter Führung
der buddhistischen Mönche blutig niedergeschlagen. Sie
können sich vielleicht noch an die schrecklichen Bilder
erinnern. Tausende mussten ins Gefängnis. Sie haben gesagt, vor fünf Jahren sei man dort schon auf dem richtigen Weg gewesen. Im April 2008 haben die Generäle
nach dem verheerenden Zyklon ihrem geschlagenen
Volk jeden Zugang zu internationaler Hilfe verweigert.
Das war ein ganz besonderes Menschheitsverbrechen.
Sie haben die internationale Präsenz politisch gefürchtet.
Der unermüdliche Druck einer unter der Oberfläche
wachsenden Opposition hat die Friedhofsruhe der Junta
beendet. Auch der internationale Druck seit 20 Jahren
hat dabei geholfen. Sie haben eben gesagt, das alles sei
doch nichts gewesen. Ich kann nur betonen: Ohne diesen
Druck wäre der Erfolg heute, den ich überhaupt nicht bestreite, nicht möglich gewesen.
({0})
Die Wahlen im November 2010 waren weder frei
noch fair.
({1})
Zwei Drittel der Sitze im Parlament werden vom Militär
kontrolliert. Herr Klimke, da gibt es nichts zu beschönigen.
({2})
Aber es stimmt auch: Die wenigen Sitze, über die es eine
wirkliche Abstimmung gab, wurden fast alle von der
Opposition erobert.
({3})
Aber deswegen die Augen davor zu verschließen - das
haben Sie hier getan -,
({4})
dass zwei Drittel des Parlaments sozusagen noch unter
dem Einfluss der Diktatur sind,
({5})
ist fatal. Das ist fatales Schönreden der Situation.
({6})
Dass der jahrzehntelange Hausarrest für die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi aufgehoben wurde
und sie bei der Nachwahl im April 2012 mit überwältigender Mehrheit ins Parlament gewählt wurde, ist eine
wirkliche Wende, ja. Jetzt tritt das Land in eine entscheidende Übergangsphase. Der Weg zur Demokratie ist
vielleicht möglich, aber entschieden ist noch nichts.
({7})
Die Junta hat auch noch nicht abgedankt. Die vielen
politischen Gefangenen sitzen noch immer in den Gefängnissen. Im Norden des Landes finden trotz Waffenstillstandsgesprächen nach wie vor Kämpfe statt. In
weiten Teilen des Landes herrscht eine humanitäre Notsituation. Herr Klimke, Sie haben gesagt, Sie hätten den
Eindruck, wir wüssten nicht, was da los ist. Ich muss Ihnen sagen: Nach Ihrer Rede habe ich eher den Eindruck:
Sie haben sich mit all diesen Problemen nicht ernsthaft
auseinandergesetzt.
({8})
All dies überschattet die Freude über den politischen
Wandel der vergangenen Monate und verdeutlicht,
welch weiten Weg Myanmar noch gehen muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aussetzung der
Sanktionen durch die EU war in dieser Lage dennoch
richtig und wichtig; auch das sagen wir ganz klar. Sie
signalisiert den Reformkräften in Myanmar Unterstützung. Doch bei der Aussetzung der Sanktionen muss
ständig überprüft werden, ob die Junta auch politisch liefert. Da ist es nicht gut, wenn man die Lage so beschönigt, wie ich das hier gehört habe.
({9})
Die internationale Gemeinschaft muss jetzt darauf
achten, dass der Ressourcenreichtum des Landes nicht
zu einem Ressourcenfluch wird. Die Erfahrungen von
Kambodscha müssen hier ein sehr warnendes Beispiel
sein. Die Einführung von bürgerlichen Freiheiten darf
nicht mit einer marktradikalen Politik einhergehen, die
der Abholzung der Wälder und dem Abbau der Bodenschätze keine Schranken setzt. Der Run auf die Lizenzen
hat bereits eingesetzt. Die Hotels in Rangun sind voll mit
Lobbyisten.
Damit sich Myanmar langfristig stabilisieren kann,
muss es einen Weg in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung einschlagen. Dafür muss sich die Bundesregierung aktiv einsetzen. Ich habe die Hoffnung, dass sie das
tut. Ökologische, soziale und menschenrechtliche Standards müssen verankert werden und in das Zentrum der
politischen Zusammenarbeit mit Myanmar gerückt werden. Das ist die politische Aufgabe, der sich die Bundesregierung jetzt hoffentlich aktiv zuwendet.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Manfred Grund von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Anfang der 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts
vollzogen sich sowohl in Deutschland als auch in Myanmar, damals noch Burma oder Birma, gravierende politische Veränderungen. 1961 wurde in Deutschland, in
Berlin, die Mauer gebaut, der Eiserne Vorhang ging nieder. 1962 übernahm in Burma das Militär die Herrschaft
und blieb nahezu 50 Jahre an der Macht. 1988 kam es zu
gewalttätigen Protesten gegen die Militärjunta, getragen
von Hunderttausenden junger Leute, von Studenten. Es
gab wahrscheinlich mehr als 1 000 Tote. Die Militärs
blieben danach weiterhin an der Macht. In Deutschland,
in Berlin, fiel die Mauer; der Eiserne Vorhang in Europa
fiel. Es kam zu Demokratisierungsprozessen und zu
Hoffnung in diesem Teil der Welt. Myanmar - Burma,
Birma - blieb weiterhin unter Militärherrschaft.
Im Jahr 2007 kam es erneut zu gewalttätigen Protesten gegen die Militärherrschaft; diesmal getragen von
buddhistischen Mönchen, buddhistischen Nonnen und
natürlich auch von der Zivilgesellschaft. Auch im Jahr
2007 wurden die Proteste gegen die Militärdiktatur wieder blutig niedergeschlagen.
Vor wenigen Monaten haben die Militärs ihrerseits
begonnen, das Land zu öffnen, zu demokratisieren, freie
Wahlen zu ermöglichen, Gewerkschaften zuzulassen,
das Streikrecht wieder einzuführen und Parteien zuzulassen. Ein bemerkenswerter Reformprozess. Wir erleben
eine Revolution von oben, angestoßen und mitgetragen
von unten. Alles kann ein gutes Ende nehmen. Herr
Dr. Schmidt, im Gegensatz zu Ihnen freuen wir uns über
diesen Prozess.
({0})
Wir erleben, wie eines der letzten Länder dieser Welt,
welches mehr als 50 Jahre unter einer Militärdiktatur gelebt hat, sich mit viel Hoffnung aufseiten der Opposition
und der Zivilgesellschaft bewegt. Wir sollten diesen Prozess unterstützen.
Warum machen die Militärs das? Sie könnten, auf die
Bajonette gestützt, weiterhin ihre Herrschaft ausüben.
Ich denke, sie sehen, dass sie mit ihrer Form der Politik
abgehängt bleiben. Das Land ist zurückgeblieben. Es hat
sich wirtschaftlich und sozial nicht weiterentwickelt. Es
ist stehengeblieben. Die anderen ASEAN-Staaten gehen
voran.
Als Zweites möchte ich gern das Thema Boykott aufgreifen. Die Europäische Union, die westliche Staatengemeinschaft haben das Land lange boykottiert. Wir
haben damit dieses Land - die Militärs und Teile der
Wirtschaft - auch in Richtung China getrieben. China
seinerseits stillt seinen Rohstoffhunger in Myanmar.
Alle Schreckensszenarien, die man sich ausmalen kann
- also die Abholzung der Wälder, gigantische Staudammprojekte, Herausholen der Bodenschätze -, haben
bisher stattgefunden. Unter der Kontrolle der Weltöffentlichkeit könnten diese Prozesse einen besseren Ausgang
nehmen. Dies sind gute Voraussetzungen, die im Ansatz
vorhanden sind. Wie gesagt: Wir freuen uns über diesen
Prozess.
({1})
Natürlich sind damit auch Gefahren verbunden. Dies
ist mehrfach angesprochen worden. Es setzt ein unkontrollierter Run aus allen Ländern dieser Welt ein, die mit
Infrastrukturprojekten und Investitionen das Land überfallen werden. Es können auch andere Entwicklungen
eintreten, die wir von Kambodscha oder Thailand kennen. Hier tragen wir eine Verantwortung. Ich bitte die
Bundesregierung und das Außenministerium, darauf
hinzuwirken, dass das, was an Hilfen im wirtschaftlichen, sozialen und infrastrukturellen Bereich notwendig
ist, wenigstens in der Europäischen Union einigermaßen
strukturiert und abgestimmt verläuft. Der britische Premierminister war vor wenigen Wochen in Myanmar und
hat schon einmal angekündigt, dass das Königreich ein
eigenständiges Büro in Myanmar eröffnet, und das ohne
Abstimmung mit den anderen Staaten der Europäischen
Union. Das ist eine Entwicklung, die man so nicht fortsetzen sollte. Das Ganze muss vielmehr koordiniert ablaufen.
Die Hilfen, die wir geben können, sollten wir nicht
vorenthalten. Das Goethe-Institut wird wieder eröffnet,
Sprachenschulen werden eingerichtet. Für den Bereich
der dualen Berufsausbildung sind wir um Hilfestellung
gebeten worden sowie um Fortbildung für diejenigen,
die bereits eine Ausbildung als Techniker haben, um sie
auf den aktuellen Stand der Technik zu bringen. Auch
bei infrastrukturellen Projekten können wir Hilfe leisten.
Alles das ist möglich.
Wir werden diesen Prozess kritisch, aber zugleich
sehr freundlich und positiv begleiten. Diese Entwicklung
macht Hoffnung auf eine gute Entwicklung für die Bevölkerung in Myanmar. Immerhin können so 50 Millionen Menschen in eine bessere Zukunft blicken. Sie brauchen und erhalten dabei unsere Unterstützung.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/9735 mit dem Titel „Myanmar - Reformkräfte unterstützen, den Wandel beschleunigen, Perspektiven eröffnen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist angenommen
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositionsfraktionen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9727 und 17/9739 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Garrelt
Duin, Michael Groß, Klaus Brandner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen neuen Infrastrukturkonsens: Öffentlich-Private Partnerschaften differenziert
bewerten, mit mehr Transparenz weiterentwickeln und den Fokus auf die Wirtschaftlichkeit stärken
- Drucksache 17/9726 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Michael Groß von der SPDFraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Öffentlich-private Partnerschaften sind in den letzten Monaten
vermehrt in die Kritik geraten. Der Bundesverkehrsminister Herr Ramsauer hat mit Beginn der 17. Legislaturperiode - inzwischen immer häufiger - den Ausbau
der Bundesautobahnen mithilfe von ÖPP als Lösung seiner Finanzprobleme bei den Verkehrsinvestitionen beschrieben. Für uns stellt sich jedoch die Frage, auf welcher Grundlage zunehmend mehr Projekte mithilfe von
ÖPP umgesetzt werden sollen.
Auch die SPD-Fraktion hat sich in den vergangenen
Jahren für ÖPP ausgesprochen. Im Gegensatz zur Bundesregierung sehen wir jedoch unbedingten Handlungsund Reformbedarf, und zwar hinsichtlich der Entscheidungsgrundlagen, der Transparenz, der Rahmenbedingungen und der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen.
Zwingend erforderlich ist auch ein konstruktiver Dialog
zwischen Befürwortern und Gegnern von ÖPP-Maßnahmen.
Die SPD-Fraktion befindet sich gerade im Dialogprozess zum Infrastrukturkonsens. Es wird immer entscheidender, aufseiten der Bürgerinnen und Bürger eine Akzeptanz der Infrastrukturmaßnahmen zu erreichen. Das
gilt allerdings auch für Projekte, die im Rahmen der öffentlich-privaten Partnerschaften durchgeführt werden.
Verträge mit einem Umfang von 17 000 Seiten, die geheim und nicht einmal den zuständigen demokratisch gewählten Entscheidungsträgern in vollem Umfang zugänglich sind, haben absolut nichts mit Transparenz zu
tun.
({0})
Bei einer öffentlich-privaten Partnerschaft geht es,
einfach ausgedrückt, darum, den Bau, Erhalt und Betrieb
einer Einrichtung, zum Beispiel einer Schule oder einer
Infrastruktur wie der Autobahn, an einen privaten Investor zu vergeben. Die privaten Unternehmen erbringen
eine Dienstleistung im Auftrag der öffentlichen Hand.
Die Verantwortung der politischen Entscheidungsträger
bei ÖPP-Projekten ist enorm und setzt ein umfassendes
Wissen und umfassende Kompetenz, auch von ehrenamtlichen Kommunalpolitikern, voraus. Zurzeit liegen
unterschiedliche Bewertungen und Erfahrungen in Bezug auf ÖPP vor. Die erste Euphorie ist jedoch nicht
mehr ohne Schrammen und Macken. Der Bundesrechnungshof und die Landesrechnungshöfe haben sich in
den vergangenen Monaten immer kritischer geäußert,
aber es gibt auch positive Rückmeldungen, insbesondere
von der kommunalen Ebene.
Eine zentrale Voraussetzung für die Zukunft der ÖPPModelle wird sein, dass es gelingt, neben Transparenz
klare Kriterien zu finden, warum eine Beschaffung durch
die öffentliche Hand im Rahmen langfristiger Verträge
mit privaten Wirtschaftsunternehmen sinnvoll ist. Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen sollten sich auf harte und
nachvollziehbare Fakten stützen. Vergleiche zwischen
konventioneller Beschaffung und ÖPP sollten plausibel
und empirisch nachvollziehbar sein. Zurzeit gibt es
kaum neutrale Dokumentationen über Erfolge und Misserfolge von ÖPP-Projekten. Nur selten sind Auswertungen in unabhängigen Studien erhältlich. Für genaue Evaluationen und Aussagen zur Bewertung der Projekte
nach Abschluss mangelt es an einer umfassenden Datenbasis, oder diese Daten dürfen nicht zur Verfügung gestellt werden, auch nicht den demokratisch legitimierten
Vertretern.
Durch die geringe Nachvollziehbarkeit und Transparenz lassen sich derzeit keine klar anwendbaren Regeln
und Kontrollmechanismen etablieren. Dabei erfordert
gerade die Komplexität von ÖPP-Projekten in vielen
Fällen besonderes Wissen. Das bedeutet auch, dass wir
der öffentlichen Hand dieses Know-how sachlich und
personell zur Verfügung stellen müssen. Leider sieht die
Realität in den Kommunen vielerorts völlig anders aus.
Knappe Kassen führen zu Personalabbau. Für die Umsetzung der ÖPP-Projekte werden in den öffentlichen
Verwaltungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter notwendig sein, die hochkompetent und qualifiziert sind. Bewertungen der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen und
der mehrere Aktenordner füllenden Verträge sowie Steuerung, Monitoring und Evaluierung sind nur einige Aufgaben, die von den Kommunen zu erfüllen sind.
Die langen Laufzeiten von ÖPP-Verträgen, aber auch
unvollständige Verträge bergen eine relativ große Gefahr
für Nachverhandlungen. Die öffentliche Hand bindet
sich auch finanziell über Zeiträume, die schwer überschaubar sind.
Die Diskussion muss sich in Zukunft stärker an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fakten orientieren.
Auf meine schriftliche Frage an die Bundesregierung, ob
sie ihre Behauptung wissenschaftlich belegen könne,
dass ÖPP-Projekte früher, schneller, effektiver und
grundsätzlich mit volkswirtschaftlich positiven
Effekten gegenüber herkömmlichen Realisierungsarten durchgeführt werden …
erhielt ich die Antwort: Die gesammelten praktischen
Erfahrungen lassen oben genannte Effekte erwarten.
({1})
Aber auf schlichte Erwartungen, gerade mit Blick auf
die andauernde Finanzkrise, sollten wir unsere öffentlichen Haushalte nicht stützen.
Die Beschaffung öffentlicher Güter im Rahmen von
ÖPP löst nicht die Einnahme- und Ausgabenprobleme
der öffentlichen Haushalte. Besonders für den Verkehrsund Baubereich gilt: ÖPP ermöglicht kein Bauen ohne
Geld. Es beseitigt nicht die Finanzierungsenge auf Bundes- und kommunaler Ebene.
Wir beobachten eine wachsende Kluft zwischen armen und reichen Kommunen in Deutschland. Insgesamt
lässt sich eine strukturelle Unterfinanzierung der Kommunen feststellen. Der positiven Einnahmeseite in der
Summe aller Kommunen stehen 45 Milliarden Euro
Kassenkredite gegenüber. Die Sozialausgaben belasten
die Städte und Gemeinden mit 45 Milliarden Euro. Wie
sollen sich die Kommunen helfen? Sie müssen einen Investitionsstau bei Brücken, in Schulen, in Rathäusern
und Jugendheimen im zweistelligen Milliardenbereich
vor sich herschieben. Hier muss die Bundesregierung
den Städten und Gemeinden endlich tatsächlich helfen,
die strukturelle Unterfinanzierung zu beenden. Konnexität ist hier das Stichwort. Wer auf Bundesebene bestellt,
muss die Musik vor Ort auch bezahlen.
({2})
Eine vermehrte Anwendung von ÖPP kann nach bisherigen Erfahrungen keinen nennenswerten Beitrag zur
Reduzierung der strukturellen Verschuldung der öffentlichen Haushalte leisten.
({3})
Vielmehr besteht die Gefahr einer versteckten Verschuldung. Deswegen fordern wir erstens die Vorlage eines
umfassenden Berichts unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Landesrechnungshöfe und des Bundesrechnungshofes über den derzeitigen Stand der Entwicklung
von öffentlich-privaten Partnerschaften in Deutschland
auch unter Einbeziehung der jüngsten Erkenntnisse aus
dem europäischen Ausland. Da kann man zurzeit einiges
finden.
Wir fordern zweitens, dass eine Beschaffung im Rahmen von ÖPP grundsätzlich nur zu prüfen ist, wenn in
gleichem Maße auch die finanziellen Voraussetzungen
für eine konventionelle Realisierung innerhalb der öffentlichen Haushalte vorhanden sind.
Drittens. Wir fordern, eine von wirtschaftlichen Interessen unabhängige Fachkompetenz im Bereich von
ÖPP in der öffentlichen Verwaltung sicherzustellen.
Viertens. Wir brauchen eine wissenschaftliche Untersuchung der bisherigen Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen. Sie muss unabhängig stattfinden.
Wir werden nicht darum herumkommen, für den öffentlichen Bereich bzw. für die öffentliche Infrastruktur
mehr Geld zur Verfügung zu stellen.
Vielen Dank. Glück auf!
({4})
Jetzt hat der Kollege Reinhold Sendker von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es tut sich viel bei den öffentlich-privaten
Partnerschaften in Deutschland. Damit meine ich nicht
nur „ÖPP pur“ beim Hoch- und Straßenbau, sondern
auch - wo wir es vor einigen Monaten noch gar nicht für
möglich gehalten haben - „teilweise ÖPP“ in zahlreichen weiteren Bereichen,
({0})
angefangen bei der medizinischen Versorgung über die
Verwaltungsmodernisierung bis hin zum Bereich der Sicherheit.
Ich möchte meinen Vorredner ein wenig korrigieren.
Das Fazit, das wir heute nach einigen Jahren ÖPP-Projekten in Deutschland ziehen können, lautet: Die mit
ÖPP gemachten Erfahrungen - allen voran beim Bundesfernstraßenbau - sind einhellig positiv. Das wollen
wir gerne fortsetzen.
({1})
Daten und Fakten belegen das für den Straßenbau.
({2})
- Sie tun gut daran, wenn Sie zuhören, wenn ich diese
nenne. - Es gab bisher 300 Kilometer sechsspurigen Autobahnausbau. 1,5 Milliarden Euro sind in sechs ÖPPVerkehrsprojekte geflossen. Dabei sichern über die
Dauer einer Maßnahme 1 Milliarde Euro an Investitionen 30 000 Arbeitsplätze.
Schauen wir auf weitere positive Botschaften. Da gibt
es vor allem die Sicherung und Verbesserung der Qualität in der Bauausführung.
({3})
Gleiches gilt für einen qualitativ hochwertigen Betriebsdienst. Ein besonderes Prä - da sollten Sie ganz besonders zuhören - ist der schnellere und zeitnahe Ausbau,
der volkswirtschaftlich von ganz besonderem Nutzen ist.
Bei den ÖPP-Projekten der A 8 - das betrifft die Strecke
München-Augsburg - und der A 4 bei Eisenach wurden
die ohnehin engen Terminvorgaben sogar noch deutlich
unterschritten. Bei den bisher vorgelegten Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen - das belegen Sie auch in Ihrem
Antrag - erblicken wir deutliche Effizienzvorteile. Das
ist also, meine Damen und Herren, unterm Strich eine
absolute Erfolgsgeschichte. Für die Fortsetzung dieser
Politik stehen unser Minister und unsere christlich-liberale Koalition.
({4})
In Zeiten knapper Haushaltsmittel haben wir - angesichts des Szenarios eines zu erwartenden massiven Anstiegs im Bereich des Güterverkehrs - auch allen Grund,
an der Option von ÖPP-Projekten festzuhalten. Dabei
geht es vor allen Dingen darum, die gewonnenen Erfahrungen aus den Projekten zu nutzen und die Standards
kontinuierlich weiterzuentwickeln. So ist es hocherfreulich, dass wir feststellen dürfen, dass ein beachtlicher
Teil der Bauleistungen bereits regional erbracht wird,
wovon die lokale mittelständische Wirtschaft profitiert.
({5})
Ferner setzen wir weiterhin auf wirtschaftliche, nachhaltige und innovative Lösungen bei ÖPP-Projekten
durch Wissensaufbau, Standards und Beratung. Hier
können uns die VIFG und die ÖPP Deutschland AG wirkungsvoll unterstützen. So wurde Letztere vom BMF
und vom BMVBS mit einer entsprechenden Grundlagenarbeit und einer Untersuchung zum Thema „Transparenz bei ÖPP-Projekten“ beauftragt. Mehr Transparenz
schafft mehr Akzeptanz, und hier haben wir bei der Infrastrukturfinanzierung in den letzten Jahren einen guten
Weg beschritten und viel Erfolg gehabt.
Im Jahr 2011 hat die Koalition mit der Herstellung
des Finanzkreislaufs Straße mehr Transparenz geschaffen und dafür viel Lob erhalten. Seit 2012 werden alle
Einnahmen und Ausgaben im Zusammenhang mit der
Erhebung, Kontrolle und Verwendung der Lkw-Maut in
einem besonderen Kapitel des Bundeshaushalts abgebildet.
Ferner freuen wir uns heute darüber, dass die deutsche Bauindustrie in einer bemerkenswerten Initiative
ausdrücklich zu mehr Transparenz bei ÖPP-Projekten
bereit ist. Es gibt im Ergebnis also mehr Information und
mehr Kommunikation zwischen dem Auftragnehmer,
der Öffentlichkeit und den Betroffenen vor Ort. Vor allem aber wird den Spekulationen über Vergabe und Vertragsinhalte der Wind aus den Segeln genommen. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ist zielführend.
Weiterhin zeigt der Nachweis einer besseren Wirtschaftlichkeit bei ÖPP auf, dass es hier nicht um die Ein21580
haltung einer Schuldenbremse geht, sondern um eine
manches Mal bessere Option für einen schnelleren und
effektiveren Fernstraßenausbau.
Mehr Transparenz bedeutet also mehr Rückenwind
für ÖPP. Die Transparenz wird allerdings dort enden
- lassen Sie mich das einwenden -, wo es um schützenswerte Interessen von Projektbeteiligten und vor allem
um die wirtschaftlichen Interessen des Staates geht. Der
Wettbewerb um Preis und Kompetenz ist ein elementarer
Bestandteil des Beschaffungsmodells; will heißen:
Transparenz so weit wie möglich, sie darf dieses Erfolgsmodell aber nicht seiner Vorteile berauben.
Wenn Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen
von der SPD-Bundestagsfraktion, in Ihrem Antrag formulieren, der Erfolg dieses Beschaffungsmodells lasse
noch auf sich warten und dabei den Fokus auf die zweite
Staffel der ÖPP-Projekte im Straßenbau legen - Sie sagen, zur Halbzeit der Legislatur seien lediglich bei zwei
Projekten die Verträge unterschrieben worden -, dann
frage ich Sie: Wie steht es denn mit Ihrer Verantwortung
vor Ort?
Beispiel eins: das vom Bund angebotene ÖPP-Projekt
zum sechsspurigen Ausbau der A 1 zwischen Lotte/Osnabrück und Münster/Westfalen. Ihr Koalitionspartner in
Düsseldorf hat uns und der interessierten Öffentlichkeit
schon vor mehr als einem Jahr mitgeteilt - Zitat -, Sie
seien keine Freunde dieses Modells. Das ist eine ideologische Absage. Gleichwohl bleibe das Vorhaben in der
Prüfung, so hören wir und verharren in Hoffnung.
Beispiel zwei: Noch eklatanter ist die Situation beim
ÖPP-Projekt für die A 6 zwischen Weinsberg und Walldorf. Hier soll die Wirtschaftlichkeitsprüfung des Bundes noch eine gutachterliche Stellungnahme erfahren. So
will es Winfried Hermann, heute Verkehrsminister im
Lande Baden-Württemberg. Er will die Untersuchung einer Untersuchung. Für mich ist das ein Stück aus dem
Tollhaus.
({6})
Ich darf auf Ihre Einwände hin an dieser Stelle feststellen: Für die Finanzierung von Infrastrukturprojekten
haben wir leider - das sei an dieser Stelle beklagt - zu
wenig Geld. Auf der anderen Seite haben wir leider zu
viel Ideologie. Genau umgekehrt sollte es sein.
({7})
Abschließend noch ein Satz zu dem SPD-Antrag. Wir
begrüßen es, dass Sie sich hier überwiegend positiv zu
öffentlich-privaten Partnerschaften geäußert haben. Zunächst einmal sollten Sie aber dort, wo Sie Verantwortung tragen - ich habe Stuttgart und Düsseldorf angesprochen -, für eine klare Linie in der Regierung sorgen.
Nicht nur reden, sondern auch machen! Das würde Ihren
Antrag deutlich glaubwürdiger machen.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Ingrid Remmers.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Worüber reden wir hier
eigentlich? Eine der Hauptaufgaben des Staates ist es,
Infrastruktur für die Bürgerinnen und Bürger bereitzustellen. Jahrelang hat das relativ gut funktioniert. Kommunen, Länder und der Bund bauen und betreiben Schulen, Straßen und vieles andere.
Durch die öffentlich-private Partnerschaft, kurz: ÖPP,
wird diese Herangehensweise jedoch infrage gestellt.
Weil der Staat Geld sparen und keine neuen Schulden
mehr machen wollte, holte man sich einfach private Betreiber an Bord, die die Leistungen gegen regelmäßige
Zahlungen, meist Mieten, erbringen sollten. Dumm nur,
dass die beteiligten privaten Unternehmen dabei möglichst viel Geld verdienen wollten. Negative Beispiele
für misslungene ÖPP gibt es reihenweise - Stichwort
„Elbphilharmonie“. Immer waren die Kosten höher als
geplant und die Leistungen für die Städte nicht zufriedenstellend. So war es bisher zum Beispiel gar nicht
möglich - wir haben das eben schon von dem Kollegen
Groß gehört -, die Verträge auch nur einzusehen, um die
Ursache für die Kostenexplosion zu ermitteln.
Deswegen fordert die SPD in ihrem vorliegenden Antrag zunächst einmal die vollständige Transparentmachung der Verträge und der Wirtschaftlichkeitsberechnungen schon im Vorfeld. Außerdem soll die
Wirtschaftlichkeit von ÖPP-Projekten von einer unabhängigen Stelle evaluiert werden. Nur, das geschah auch
bisher, und zwar durch die Landesrechnungshöfe. Diese
bemängeln, dass die erwarteten Kosteneinsparungen selten erreicht wurden und die Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen häufig auf falschen Annahmen beruhten. Sie
kritisieren, dass die langfristigen Zahlungsverpflichtungen der Kommunen gar nicht in den Haushaltsplänen
vorkommen und so der demokratischen Kontrolle durch
die Haushaltsausschüsse entzogen werden.
({0})
Die größte Gefahr besteht jedoch bei dem sogenannten Einredeverzicht. Das heißt, die Kommunen verpflichten sich zu fest vereinbarten Mietzahlungen unter
allen Umständen. Das private Unternehmen darf diese
Gelder dann als Sicherheit bei der Bank hinterlegen.
Gibt es Probleme mit der Bereitstellung der Leistung
oder geht das Unternehmen gar pleite, muss die Kommune trotzdem zahlen, nämlich an die Bank. Denn sie
hat ja auf ihre Einrede verzichtet und kann daher keine
Preisminderung geltend machen.
Niemand hier in diesem Raum käme auf die Idee, einen Handwerker mit der Reparatur seiner Wohnung zu
beauftragen und dann einen generellen Verzicht für
Mängelansprüche zu erklären. In dem Antrag wird gefordert, erst nach Abnahme der Leistung einen Einredeverzicht zu erklären. Das ist doch Quatsch. Wie soll
denn die Haltbarkeit eines Gebäudes oder einer Straße
direkt nach der Fertigstellung ermittelt werden? Wenn
die Kommune Pech hat, zahlt sie 30 Jahre lang, ohne die
dafür vereinbarte Gegenleistung zu erhalten.
({1})
Zurück zu den hinterlegten Krediten für ÖPP-Projekte. Die Banken bündeln die Kredite in sogenannten
Infrastrukturfonds, die natürlich Rendite bringen sollen.
Umso geringer die Bau- und Unterhaltungskosten sind,
die die privaten Unternehmen aufbringen müssen, umso
besser ist es für den Fonds, aber auf Kosten von Löhnen,
Qualität und der kommunalen Haushalte. Wieso das ein
Fortschritt sein soll, versteht kein Mensch.
({2})
Die ÖPP Deutschland AG ist eine von Bund und Privaten betriebene Beratergesellschaft. Die SPD fordert in
ihrem Antrag, den Sinn der Beteiligung Privater an der
AG zu überprüfen. Das ist auch dringend nötig; denn
43 Prozent der Anteile dieser Beratungsagentur für
Kommunen werden von einer Beteiligungsgesellschaft
gehalten, die von Banken und großen Baukonzernen dominiert wird. Natürlich erfolgt diese Beratung völlig
unvoreingenommen.
Abschließend kann man nur zu einem Fazit kommen:
Wenn alle Forderungen des SPD-Antrags auf Schadensersatzforderungen, unabhängige Überprüfung der Verträge, Verhinderung von Lohndumping und Interessenkonflikten umgesetzt werden würden, würde sich keine
einzige Firma mehr an ÖPP beteiligen wollen, und das
wäre gut so.
Es gibt einen Trost: Die Verantwortlichen in den
Kommunen sind in dieser Diskussion schon viel weiter.
Privatisierungen in Form von ÖPP kommen nach den
negativen Erfahrungen immer mehr aus der Mode. Die
Kommunen setzen inzwischen verstärkt auf die Rückgewinnung des Öffentlichen, und das mit Erfolg. Wir fordern deshalb als Linke: Weg von der Lobbyarbeit für
ÖPP! Wir brauchen stattdessen eine konsequente Unterstützung der Kommunen bei der Rekommunalisierung.
Herzlichen Dank.
({3})
Jetzt hat das Wort der Kollege Werner Simmling von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Effizienz wird unter dem
Diktat knapper werdender Mittel immer wichtiger. Öffentlich-privaten Partnerschaften kommt daher als Finanzierungs- und Beschaffungsmaßnahme in der Infrastruktur eine immer größer werdende Bedeutung zu.
Damit stehe ich in vollkommenem Widerspruch zu meiner Vorrednerin.
Durch ÖPP können wir häufig effizienter, schneller
und wirtschaftlicher agieren als bei konventioneller Vergabe und haushaltsfinanzierter Umsetzung. Sie haben
recht, Herr Kollege Groß, man kann nicht ohne Geld
bauen, aber der Auftraggeber zahlt in Raten zurück und
erhöht damit seinen Spielraum. Dass dem so ist, sehen
Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ja
auch so. Man erkennt an Ihrem Antrag, dass Sie eine differenzierte und bei aller Defensivität auch eine deutlich
pro ÖPP eingestellte Politikrichtung vertreten. Das habe
ich allerdings gerade nicht so herausgehört; vielleicht hat
sich in der Kürze der Zeit einiges verändert.
Mir missfallen jedoch Ihr populistischer Ansatz und
der Tenor Ihres Antrags. Vielleicht liegt dort der Hund
begraben. Sie wissen ganz genau, wie wichtig ÖPP ist
und dass ÖPP in Zukunft eine deutlich größere Rolle bei
der Finanzierung spielen muss. Aber anstatt dies deutlich zu sagen und Position zu beziehen, agieren Sie wie
Unternehmen, wenn diese ihre PR-Abteilungen zu einer
defensiven Krisenkommunikation aufstellen. Sie bedienen die kritischen Einstellungen Ihrer Stammklientel
und drücken sich vor klaren Aussagen. Damit tun Sie
dem notwendigen Ausbau der Infrastruktur in Deutschland keinen Gefallen, ja, damit laufen Sie sogar Gefahr,
den weiteren Infrastrukturausbau zu behindern.
({0})
Ließen wir den Tenor Ihres Antrags außer Acht,
könnten wir zu einer konstruktiven und differenzierten
Auseinandersetzung kommen. Denn Sie beschreiben in
Ihrem Antrag vieles von dem, was bei den Rahmenbedingungen und bei der Ausgestaltung von ÖPP berücksichtigt und verbessert werden muss. Das ist aber nichts
Neues, und das wissen Sie.
Natürlich - das ist auch unser liberales Fazit - müssen
bei Infrastrukturinvestitionen vermehrt Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen durchgeführt werden. Denn Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen schärfen das Bewusstsein für ein Projekt und führen damit auch zu mehr
Validität bei den Entscheidungen. Wir sind uns alle einig, dass ein konstruktiver Dialog mit allen Partnern notwendig ist, um das Instrument ÖPP weiterzuentwickeln,
und dass hierbei klare und transparente Regeln förderlich sind.
Aber, meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD:
Überziehen Sie doch nicht so! In Sachen Transparenz
stellen Sie es so dar, als könne man alles offenlegen. Sie
stellen sich selbst dar, als sei die SPD der Vorreiter transparenter Strukturen. Sie reden von vollständiger Transparenz. Aber was meinen Sie damit konkret? Erklären
Sie doch lieber, wie es wirklich ist und warum es so ist.
Transparenz ist bis zu einem bestimmten Punkt machbar.
Aber nicht alles kann offengelegt werden. Private Unter21582
nehmen legen ihre internen Kalkulationen in der Regel
nur so weit offen, wie dies nicht ihre Erfolgs- und Wettbewerbsposition beeinträchtigt. Da Sie von vollständiger
Transparenz sprechen, fordere ich Sie auf: Seien Sie
bitte ehrlich, und legen Sie diese Messlatte auch bei sich
selbst an!
Im Bereich der Verkehrsinfrastruktur ist das größte
Problem, eine ganzheitliche Strategie für das Verkehrssystem umzusetzen. Einer nachvollziehbaren Priorisierung stehen Sie aber im Wege.
({1})
Als wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung den Länderproporz kritisiert haben, war es die
SPD - und nur die SPD -, die ihre verkehrspolitischen
Spielchen nicht aufgeben wollte.
({2})
Fatal ist in diesem Zusammenhang auch, wenn Kosten
von staatlicher Seite bewusst untertrieben werden, damit
politisch gewünschte Projekte Eingang in den Bundesverkehrswegeplan finden.
({3})
Im Bereich der Verkehrsinfrastruktur besteht das
Hauptproblem - da bin ich wieder bei Ihnen - sicher
nicht in der Ausgestaltung von ÖPP und in der Unsolidität bei Planung und Handling, sondern - neben der noch
fehlenden Gesamtplanung und Priorisierung - darin,
dass alternative Finanzierungs- und Beschaffungsinstrumente heute noch weitgehend vernachlässigt werden.
Ich würde an dieser Stelle gerne Ihre Kritik bezüglich
der zweiten Staffel beim Ausbau von Bundesautobahnen
mit ÖPP ansprechen. Ich finde es im Gegensatz zu Ihnen
richtig, dass man nach dem Abschluss der ersten Staffel
der ÖPP-Projekte nicht übereilt weitermacht. Gerade Sie
fordern ja mehr Transparenz und Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen. Insofern muss zuerst eine Auswertung
der ersten Staffel erfolgen.
({4})
Unser Ziel ist es, dieses Modell so weiterzuentwickeln,
dass es einen noch größeren Beitrag zur Leistungsfähigkeit unseres Bundesfernstraßennetzes zu leisten vermag.
Machen Sie - bei aller gerechtfertigter kritischer Betrachtung - bei dem Ansinnen, strukturelle Mängel zu
beheben und haushalterische Integrität zu sichern, bitte
deutlich, dass ÖPP zunehmende Chancen für den gesamten Infrastrukturausbau bietet.
Worin wir uns einig sind, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, ist, dass man einigen der Probleme im Zusammenhang mit ÖPP begegnen kann, indem man die Planungs- und Finanzierungsverantwortung auf eine autonome Finanzierungsgesellschaft überträgt. Da ich gerade
für den Bundesfernstraßenbau spreche, sage ich Ihnen:
Unterstützen Sie uns doch bei unserem Anliegen, der
VIFG mehr Kompetenzen zuzuschreiben! Das wäre im
Gegensatz zu Ihrer defensiven Rhetorik ein konstruktiver Ansatz.
Lassen Sie mich abschließend feststellen, dass man
Ihrem Antrag leider anmerkt, dass die SPD wieder einmal in der programmatischen Zwickmühle steckt: Eigentlich wollen Sie wirtschaftsnah und industriepolitisch
weitsichtig agieren, haben aber nicht den Mut, dies offen
gegenüber Ihrer Stammklientel zu kommunizieren.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Anton Hofreiter von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kollege Simmling, was Sie gesagt haben, ist
spannend - manchmal ist die Wortwahl nämlich extrem
verräterisch -: Sie haben gesagt, wenn man ein Projekt
hat, kann man das Geld nach und nach zurückzahlen,
und die Handlungsspielräume bleiben erhalten. - Das ist
genau das Gleiche wie bei der Verschuldung: Auf der einen Seite kämpfen Sie angeblich so sehr gegen die Verschuldung, auf der anderen Seite finden Sie PPP-Projekte ganz toll. Man muss sich aber genau mit der Frage
befassen: Was ist denn ein PPP-Projekt? Ein PPP-Projekt ist nichts anderes, als Schulden aus dem Haushalt
auszulagern und in einen Schattenhaushalt zu stecken.
({0})
Wie funktionieren PPP-Projekte? PPP-Projekte sind von
ihrem Ursprungsgedanken her relativ klug angelegt.
Man denkt sich: Wenn es einen öffentlichen Bauherren
gibt, dann wird das immer extrem teuer. Deshalb lassen
wir bei einem PPP-Projekt denjenigen, der baut, gleichzeitig den Unterhalt bestreiten. Da das kurzfristig auch
nicht hilft, lässt man denjenigen, der baut, im Idealfall
30 Jahre den Unterhalt tragen, denn dann wird derjenige,
der baut, es - so ist der Gedankengang - logischerweise
von vornherein gut machen, da er selbst für den Unterhalt sorgen muss. Das klingt zunächst richtig und vernünftig. Warum stehen diese Projekte trotzdem so in der
Kritik, und zwar nicht nur in der Kritik von Attac, sondern auch in der massiven Kritik sowohl vom Bundesrechnungshof als auch von den Landesrechnungshöfen?
({1})
Die erste Ursache ist die, dass die Verschuldung trotzdem stattfindet; denn das ist kein Finanzierungsmodell,
sondern es ist ein Beschaffungsmodell.
({2})
Die Verschuldung findet durchaus statt. Der Staat verschuldet sich allerdings nicht direkt bei Banken, wobei
er seine niedrigen Refinanzierungskosten nutzen könnte,
sondern für den Staat verschuldet sich in der Regel ein
Baukonzern, und dieser muss höhere Zinsen zahlen.
Dadurch entsteht der erste Block, in dem leicht höhere
Kosten auftreten. Der Unterschied ist nicht groß, weil es
trotzdem eine Zahlungsgarantie des Staates über
30 Jahre gibt. Dennoch entsteht ein erster Kostenblock.
Weiter ist auffallend, dass alles im Geheimen stattfindet. Es wurde davon gesprochen, dass nicht alle Geschäftsgeheimnisse veröffentlicht werden können. Herr
Sendker, Sie haben insbesondere die A-Modelle sehr gelobt. Woher wollen Sie jedoch wissen, dass die A-Modelle wirtschaftlicher sind? Das können wir gar nicht beurteilen. Alle Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen sind
geheim. Wir dürfen hier gar nicht darüber reden. Diese
Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen liegen in der Geheimschutzstelle. Wir können gar nicht beurteilen, ob
die Projekte wirtschaftlicher oder nicht wirtschaftlicher
sind.
({3})
Obwohl Projekte in Milliardenhöhe vergeben worden
sind, können wir hier im Parlament nicht beurteilen, ob
sie wirtschaftlicher sind oder nicht. Es gibt allerdings
gewisse Hinweise. Der Bundesrechnungshof hat die
A-Modelle im Detail untersucht. Der Bundesrechnungshof empfiehlt, in Zukunft nur noch Projekte zu machen,
die wirtschaftlich sind. Der Bundesrechnungshof hat die
Zahlen gesehen. Wenn er schreibt, dass in Zukunft nur
noch Projekte verwirklicht werden sollten, die wirtschaftlich sind, dann ist es eine logische Schlussfolgerung, davon auszugehen, dass die vergangenen Projekte
unwirtschaftlich waren. Die einzige öffentlich zugängliche Information, von der wir wissen, ist die Aussage des
Bundesrechnungshofs, dass diese Projekte unwirtschaftlich waren.
({4})
Die erste klare Forderung lautet: Die Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen, an denen kein Privater beteiligt ist,
müssen öffentlich sein, damit wir darüber diskutieren
können.
({5})
Die nächste eindeutige Forderung lautet: Das darf
nicht zu einer Umgehung der Schuldenbremse genutzt
werden. Sie reden immer von der Konsolidierung der
Haushalte und weiten PPP-Projekte aus, um sozusagen
über einen Schattenhaushalt erneut massiv Schulden zu
machen.
({6})
Hinzu kommt das grundsätzliche Problem, dass PPPProjekte über 30 Jahre laufen. Wenn Sie einen Vertrag
über 30 Jahre schließen müssen, dann ist er extrem dick.
Für die A 1 umfasst er allein 40 Ordner. Sie müssen irre
viele Risiken einpreisen. Dieses Problem prinzipiell zu
lösen, ist nicht einfach.
Das heißt, es muss mehr Transparenz geschaffen werden. Die Mittel dürfen nicht zur Vorfinanzierung missbraucht werden, und PPP-Projekte müssen dann, wenn
sie überhaupt durchgeführt werden, so gestaltet werden,
dass sie funktionieren. Das ist bis jetzt auf Bundesebene
nicht der Fall.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Holmeier von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich den Ansatz, grundsätzlich für eine
bessere Akzeptanz von ÖPP-Projekten zu sorgen, lobend
hervorheben. Der vorliegende Antrag enthält viele richtige und wichtige Aussagen, vor allem im Hinblick auf
die vielfach pauschale, sachlich falsche und damit unberechtigte Kritik an ÖPP-Projekten.
Ich möchte an dieser Stelle gerne auf drei aus meiner
Sicht wesentliche Punkte im Zusammenhang mit ÖPP
hinweisen:
Erstens. Ich denke, ÖPP darf man nicht als Allheilmittel und schon gar nicht als Alternative bei klammen
öffentlichen Kassen ansehen; denn gerade für solche
Fälle ist ÖPP eben nicht gedacht.
ÖPP-Modelle sollten tatsächlich nur dort in Betracht
gezogen werden, wo sie Sinn machen und einen echten
Mehrwert bringen. Herr Hofreiter, Sie haben es angesprochen: Gerade beim Autobahnbau München-Augsburg - A-Modelle - ist es ein Mehrwert. Sie ärgert nur,
dass wir mit den Maßnahmen einfach schneller vorangekommen sind.
({0})
In allen anderen Fällen sollte man vorsichtig sein, um
den Kritikern dieser Projekte nicht weiteren Nährboden
für ihre Kritik zu bieten.
Überall dort, wo ÖPP für sinnvolle Projekte angewandt wurde, hat es sich auch bewährt. Im Bereich des
Hochbaus hat man besonders bei Bildungsprojekten
- Schulen - sehr gute Erfahrungen mit ÖPP gemacht.
Hier waren alle Beteiligten fast ausnahmslos der Mei21584
nung, dass die Zusammenarbeit hervorragend funktioniert hat, und auch die Qualität der Leistungen wurde
sehr positiv bewertet.
Mein zweiter Punkt, auf den ich hinweisen möchte,
betrifft das Thema Transparenz. Grundsätzlich unterstützt die CDU/CSU-Fraktion mehr Transparenz im Bereich ÖPP. Eine möglichst hohe Transparenz erhöht
naturgemäß auch die Akzeptanz von ÖPP in der Öffentlichkeit; denn damit kann vielen Kritikern der Wind aus
den Segeln genommen werden. Ich begrüße daher ausdrücklich die Initiative der Deutschen Bauindustrie, die
mit ihrer Transparenzinitiative vom Dezember des letzten Jahres aktiv auf die Kritiker zugegangen ist und ihrerseits eine begrenzte Öffnung von ÖPP-Verträgen angeboten hat.
Allerdings - und hier setzt meine Kritik am vorliegenden Antrag ein - schießt die Opposition mit ihrer undifferenzierten Forderung nach vollständiger Transparenz weit über das Ziel hinaus.
({1})
Alle guten Ansätze des Antrags werden damit zunichte
gemacht. Sie nehmen mit Ihrer Forderung nach uneingeschränkter Offenlegung aller Verträge keinerlei Rücksicht auf schutzwürdige Interessen und schon gar nicht
auf rechtliche Rahmenbedingungen.
Das Vergabeverfahren im deutschen Vergaberecht ist
auf unbedingte Vertraulichkeit ausgelegt. Dies ist zum
Schutz der Bieterangebote gesetzlich vorgeschrieben.
Auf diese Weise werden Bieterabsprachen verhindert,
und ein effizienter Wettbewerb wird ermöglicht. Ich
denke, diese gesetzlich angelegte Vertraulichkeit ist auch
richtig so.
Eine uneingeschränkte Offenlegung der ÖPP-Verträge verletzt darüber hinaus auch Betriebs- und
Geschäftsgeheimnisse von Unternehmen. Außerdem besteht die Gefahr, dass fiskalische Interessen der öffentlichen Auftraggeber beeinträchtigt werden, etwa durch
Bieterabsprachen. Ich kann diese undifferenzierten Forderungen daher nur zurückweisen.
Abgesehen davon, dass Sie die eben genannten
schutzwürdigen Interessen verletzen, erweisen Sie mit
Ihren Forderungen auch der Zukunft von ÖPP einen Bärendienst. Durch die von Ihnen geforderte vollständige
Offenlegung käme der ÖPP-Markt zum Erliegen. Kein
privates Unternehmen würde sich auf dieser Grundlage
mehr als Partner zur Verfügung stellen; denn die Unternehmen würden ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit gefährden.
Wenn Sie also mit der Weiterentwicklung von ÖPP
eigentlich das Aus von ÖPP meinen, so sind Sie mit diesem Antrag auf einem guten Weg. Die CDU/CSU-Fraktion werden Sie dafür nicht gewinnen.
Dritter Punkt. Ich möchte für eine weitgehende
Gleichberechtigung von ÖPP und konventionellen Aufträgen plädieren. Bei allem Verständnis für mehr Transparenz und mehr Akzeptanz: Die Hürden für ÖPP-Projekte dürfen nicht zu hoch sein, vor allem nicht im
Vergleich zu konventionellen Beschaffungsmethoden.
ÖPP bietet hier schon heute mehr Transparenz. Das
muss man anerkennen, und man muss sich im Grunde an
gleichen Rahmenbedingungen orientieren.
Wenn es gelingt, hier einen gesunden Mittelweg zu
finden, dann sehe ich auch eine realistische Chance, die
Akzeptanz von ÖPP zu erhöhen und die in der letzten
Wahlperiode gestartete ÖPP-Initiative weiterzuentwickeln. Am Ende kommt es eben, wie so häufig, auf einen
guten Mittelweg und das richtige Augenmaß an.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9726 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Helmut
Heiderich, Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Christiane RatjenDamerau, Harald Leibrecht, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Wasser und Ernährung sichern
- Drucksachen 17/9153, 17/9526 Berichterstattung:Abgeordnete Helmut HeiderichDr. Sascha RaabeDr. Christiane Ratjen-DamerauNiema MovassatUwe Kekeritz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Dr. Christiane Ratjen-Damerau von
der FDP-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kollegen und
Kolleginnen! Sehr verehrte Damen und Herren! In den
letzten Tagen haben wir wunderbares Sommerwetter genossen: Temperaturen über 30 Grad und strahlend blauer
Himmel. Im Radio wurden wir morgens schon ermahnt,
ausreichend zu trinken - mindestens 2 bis 3 Liter am
Tag -, das sei wichtig für die Gesundheit.
Der Hinweis, das Trinken nicht zu vergessen, muss
für Menschen in den Entwicklungsländern befremdlich,
ja skurril sein. 2 bis 3 Liter Trinkwasser pro Person ist in
vielen Regionen dieser Welt ein unerreichbares Ziel.
1,6 Milliarden Menschen leben in Gegenden, in denen
das Wasser knapp ist. Für diese Menschen entscheidet es
sich jeden Tag neu, ob sie genügend Wasser zum Trinken haben, ob sie genügend Wasser haben, ihre Pflanzen
zu bewässern, oder ob sie ihre Tiere tränken können.
Allerdings ist Wasser nicht nur für die direkte Nahrungsaufnahme unerlässlich, sondern es ist auch für die
Landwirtschaft elementar. Ohne Wasser ist Landwirtschaft nicht möglich und damit auch keine Lebensmittelproduktion. Wir brauchen circa 2 000 bis 5 000 Liter
Wasser, um die Nahrung eines Menschen pro Tag zu produzieren. In den letzten 50 Jahren wurde die landwirtschaftlich bewirtschaftete Fläche weltweit um 12 Prozent
ausgeweitet. Die Agrarerzeugung von diesen Flächen
wurde in dieser Zeit um das Dreifache gesteigert.
Diese enorme Steigerung der Nahrungsmittelproduktion hat aber entscheidend mit der Bewässerung, also mit
dem Wasser, zu tun. Sollte die Weltbevölkerung wie vorausgesagt weiter wachsen, muss die Agrarproduktion in
den nächsten 50 Jahren um 50 bis 70 Prozent gesteigert
werden und in Entwicklungsländern sogar um 100 Prozent. Dieses erforderliche Wachstum kann nur über eine
nachhaltige Produktivitätssteigerung erreicht werden, in
der die Bewässerung, eben das Wasser, eine zentrale, ja
entscheidende Rolle spielt.
Daher benötigen wir erstens verstärkte Investitionen
in moderne Methoden der Landwirtschaft, um die vorhandenen Boden- und Wasserressourcen zu schonen, die
Weiterentwicklung und Erforschung nachhaltiger Bewirtschaftungsmethoden, insbesondere die Entwicklung
ganz moderner Methoden der Bewässerung, und die
Weitergabe von Wissen über Bewässerungsmethoden an
die Bevölkerung in Entwicklungsländern, um Wasser effizienter zu nutzen.
Zweitens muss weltweit für eine effizientere Wassernutzung gesorgt werden. Hier sind Nutzungskonflikte zu
lösen und faire Regeln für den Zugang und die Nutzung
von Wasser und Land zu schaffen. Fehlen solche Rechte
oder werden sie nicht durchgesetzt, werden Konflikte
um Wasser und Land verschärft und eine effiziente Wassernutzung verhindert; denn dort, wo einzelne Nutzer einen privilegierten Zugang zu Wasser haben, spiegeln die
Kosten des Wassers die Knappheit dieser Ressource
nicht wider. Die Folge ist Wasserverschwendung. Das
Gleiche passiert übrigens, wenn man Wasser kostenlos
abgibt.
Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Armut
und dem fehlenden Zugang zu Wasser und Land, der in
einer fragilen Spirale enden kann: Gerade Kleinbauern
bewirtschaften weniger ertragreiche Böden und haben
einen schlechten Zugang zu Bewässerungsmöglichkeiten. Sie sind damit stärker als alle anderen von Wüstenbildung und Klimawandel betroffen und können somit
auch weniger Nahrungsmittel produzieren.
Die entscheidende Antwort auf die Frage, ob es uns
gelingen wird, eine wachsende Weltbevölkerung mit
Nahrungsmitteln zu versorgen, ist eine produktive und
gleichzeitig schonende Nutzung der knappen Wasserund Bodenressourcen. Dies wird uns nur mit einer moderneren und besseren Technik, einer guten fachlichen
Ausbildung und Beratung sowie verbesserten Rahmenbedingungen gelingen. Dazu ist eine faire Zuordnung
von Zugangs- und Nutzungsrechten unabdingbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das siebte Millenniumsziel, den Anteil der Menschen, die keinen Zugang
zu sauberem Trinkwasser und sanitärer Grundversorgung haben, zwischen 1990 und 2015 um die Hälfte zu
senken, haben wir vor einigen Wochen erreicht. Das ist
ein großer Erfolg.
({0})
Doch noch immer haben fast 900 Millionen Menschen weltweit keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser
und 2,6 Milliarden Menschen keinen Zugang zu adäquaten sanitären Einrichtungen. Sauberes Trinkwasser ist
eine Grundvoraussetzung für ein gesundes Leben. Viele,
auch tödliche Krankheiten ließen sich durch sauberes
Trinkwasser von vornherein verhindern. Denn Wasser ist
die Quelle allen Lebens. Der Mensch kann fast 30 Tage
ohne Nahrung leben, aber nur drei Tage ohne Wasser.
Unser Antrag zeigt einen Weg auf, wie wir in Zukunft
das Recht auf Zugang zu sauberem Wasser weltweit umsetzen wollen. Ich bitte Sie daher sehr um Unterstützung
unseres Antrages.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ist Ihnen vorhin, als Sie eine Tasse Kaffee getrunken haben, bewusst gewesen, dass Sie damit 140 Liter Wasser verbraucht haben? Das war vielleicht nur eine
kleine Tasse, aber durch die Bewässerung der Plantagen
und das Reinigen der Bohnen war der Verbrauch so
hoch.
Das geht bei anderen Lebensmitteln nahtlos weiter.
Wenn Sie zum Beispiel 1 Kilo Brot essen, dann verbrauchen Sie 1 000 Liter Wasser. Für die Produktion von
1 Kilo Rindfleisch benötigt man 15 000 Liter Wasser.
Diese Zahlen machen einen perplex, zeigen aber gleichzeitig die Dimension des Problems auf. Denn bei einer
Weltbevölkerung von etwa 7 Milliarden Menschen - bis
zur Mitte des Jahrtausends werden es vielleicht 9 Milliarden bis 10 Milliarden Menschen sein - müssen wir
uns sehr bewusst sein, dass wir verantwortungsvoll und
sparsam mit Wasser umgehen müssen.
In Deutschland gibt es zwar klimatisch bedingt viel
Regen und keine Wasserknappheit und -not, aber wir
tragen durch unsere Konsumgewohnheiten auch zur
Wasserknappheit in anderen Ländern bei. Ich habe gerade das Beispiel Fleisch genannt. Ein großer Teil unserer Fleischproduktion erfolgt mit Futtermitteln, die in
Entwicklungsländern angebaut werden, wo für die Bewässerung viel Wasser verbraucht wird.
Ein schönes Produkt, das jedes weibliche Herz erfreut, sind Rosen. Bärbel Kofler hat heute Geburtstag.
Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Ich habe dir gestern Rosen geschenkt, Bärbel. Du kannst
aber gleich ein schlechtes Gewissen bekommen. Denn
Rosen verbrauchen unwahrscheinlich viel Wasser, nämlich täglich 60 Kubikmeter pro Hektar. Mehr als die
Hälfte der nach Deutschland importierten Rosen stammt
aus Kenia. Dort gibt es einen sehr großen Konflikt, weil
das Wasser dort einem See entnommen wird, der für die
dortige Bevölkerung wichtig ist. Das Grundwasser wird
abgesenkt. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft kommt
dort ins Hintertreffen.
Insofern dürfen wir nicht losgelöst von diesen Problemen so weitermachen wie bisher. Deswegen ist es durchaus gut - das möchte ich loben -, dass die Koalition einen Antrag zu diesem Thema vorgelegt hat und wir das
Thema heute auf der Tagesordnung haben. Es ist richtig
und gut, dass wir heute im Deutschen Bundestag zum
Thema Wasser diskutieren.
Wenn ich aber zu den einzelnen Punkten des Antrags
komme, ist zwar in der Problemanalyse vieles richtig,
aber im Forderungsteil werden nicht die Maßnahmen
aufgeführt, die umgesetzt werden müssen, um das Problem wirklich anzugehen. Zum Beispiel wird das Thema
Land Grabbing, zu dem auch das Water Grabbing gehört, nur am Rande gestreift. Land Grabbing bedeutet,
dass sich ausländische Konzerne große Ländereien unter
den Nagel reißen und die Produkte dann in ihre Heimatländer exportieren; die Lebensmittel bleiben somit nicht
vor Ort. Das geht auch mit einem hohen Wasserverbrauch einher. Eine wichtige Forderung wäre gewesen,
die FAO-Leitlinien entsprechend umzusetzen.
Es gibt auch keine konkreten Forderungen zum Bereich der industriellen Produktion. Es reicht nicht, wenn
Sie das Zusammenspiel zwischen Politik und Wirtschaft
fordern, um die Verantwortung auf freiwilliger Basis zu
verankern. Nein, wir brauchen verbindliche Regeln, damit die Industrie und insbesondere die Agrarindustrie
mit dem Wasser in den Entwicklungsländern verantwortungsvoll umgehen.
({1})
Genauso ein Schwachpunkt ist, dass Sie sich in Ihrem
Antrag in erster Linie auf die privaten Versorger beziehen. Wasser ist ein Gut der öffentlichen Daseinsvorsorge. Deshalb kann es nicht sein, dass nur Private, wie
Sie es wollen, die Wasserversorgung betreiben. Wir
brauchen auch kommunale Versorger und genossenschaftliche Modelle; denn Wasser sollte nicht an der
Börse gehandelt werden, sondern bei den Menschen ankommen. Dorthin gehört es nämlich.
({2})
So schön Ihr Antrag in der Beschreibung ist: Worte
helfen nicht. Wir brauchen Taten. Wir sind dazu verpflichtet, entsprechend tätig zu werden; denn die Vereinten Nationen haben 2010 das Recht auf Wasser und Sanitärversorgung als Menschenrecht anerkannt. Dieses
Recht darf nicht nur auf dem Papier stehen. Es war
meine Fraktion, die im November 2010 - lange vor Ihnen - einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht hat, der an einer entscheidenden Stelle sehr viel
konkreter ist als Ihr heutiger Antrag. Denn in unserem
Antrag wird gesagt, dass es, um die Ziele zu erreichen,
notwendig ist, bis 2015 den Anteil der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit am Bruttonationalprodukt,
die sogenannte ODA-Quote, wie international vereinbart
auf 0,7 Prozent zu erhöhen und in Deutschland den vereinbarten Stufenplan umzusetzen. Genau das machen Sie
nicht. Sie beschreiben ein Problem und sagen, wir müssten etwas dagegen tun, stellen aber nicht das notwendige
Geld zur Verfügung. Das ist heuchlerisch; das geht nicht.
({3})
Wenn man die Koalition, die Bundesregierung und
den zuständigen Minister dafür kritisiert, wird oft gesagt: Geld ist doch nicht alles. - Das ist gerade im Hinblick auf den Wassersektor eine sehr zynische Aussage.
Ich war erst vor einem halben Jahr in Äthiopien und
habe gesehen, dass die Welthungerhilfe dort eine Wasserversorgung für mehrere Dörfer eingerichtet hat. Nun
gibt es sauberes Trinkwasser aus einem Waldbereich,
das über eine entsprechende Leitung transportiert wird.
Der dort eingerichtete sogenannte Wasserkiosk sorgt dafür, dass vor allem Frauen nicht mehr stundenlang Wasserkanister tragen müssen oder dass die Menschen - das
ist oft noch viel schlimmer - nicht mehr das Wasser aus
den Seen und Flüssen trinken müssen. Die Zähne der
Menschen, die dieses Wasser trinken, sind sichtbar geschädigt und braun verfault.
Es ist ein Dilemma, wenn Menschen nur die Wahl haben, verschmutztes Wasser, das Krankheiten verursacht,
zu trinken oder privaten Anbietern, die Trinkwasser per
Tanklastwagen anliefern, überhöhte Preise zu zahlen. Es
ist daher wichtig, dass wir Geld in die Hand nehmen und
solche Projekte wie das eben erwähnte der Welthungerhilfe finanziell unterstützen. Es kann nicht sein, dass Sie
ein Problem richtig benennen, dass 380 Abgeordnete
- darunter auch viele von Ihnen - einen Aufruf des Bundestages unterschreiben, der zum Ziel hat, dass 1,2 Milliarden Euro mehr für die Entwicklungszusammenarbeit
zur Verfügung gestellt werden, und dass dann der Minister nur 100 Millionen Euro mehr zur Verfügung stellt. So
geht das nicht.
({4})
Auch hier muss man ganz klar sagen: Nicht Worte, sondern Taten helfen. Die Taten müssen auch finanziell unterfüttert werden.
Ich möchte zum Schluss einen Ausblick auf die Konferenz Rio+20 geben. Diese Konferenz eröffnet eine
neue Chance, das Thema Wasser und Ernährung international stärker zu verankern. Wir haben es mit parlamentarischem Druck und mithilfe der Zivilgesellschaft geschafft, dass der jüngste Entwurf zu dieser Konferenz
auch das Menschenrecht auf Wasser beinhaltet. Hoffen
wir, dass wir diesen umsetzen werden. Dazu wäre es
vielleicht auch nötig, dass sich die Frau Kanzlerin bequemen würde, persönlich nach Rio zu fahren; denn dort
geht es um die großen Menschheits- und Zukunftsfragen. Ja, wir Sozialdemokraten sind für das Menschenrecht auf Wasser. Aber Ihren Antrag werden wir ablehnen, weil er nicht konkret ist, weil er nur die Privaten im
Auge hat und weil vor allem nicht die Mittel bereitgestellt werden, die notwendig sind, um das Wasserproblem auf der Welt zu lösen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Keine Frage, es gibt
eine Trendwende in der globalen Agrar- und Ernährungspolitik. Für die gesamte Öffentlichkeit ist die globale Ernährungslage inzwischen wieder ein zentrales
Thema. Gerade die aktuellen Beschlüsse von Camp
David zur Agrarpolitik, die ganz oben auf der Agenda
standen, zeigen, wie wichtig das Thema ist. Auch die
Beschlüsse von Cannes oder die neuen Aktivitäten der
G 20 betonen die Bedeutung der damit zusammenhängenden Fragen.
Wir als Koalition haben seit dem letzten Jahr deshalb
intensiv auf die neuen Entwicklungen und Schwerpunkte
reagiert. In insgesamt drei Anträgen haben wir uns mit
diesem Bereich auseinandergesetzt. Es ging um die Eindämmung von Nahrungsmittelspekulation und Land
Grabbing, es ging um Forschung zur Welternährung, es
ging um Sicherung der Welternährung, und mit dem aktuellen Antrag „Wasser und Ernährung sichern“ betonen
wir speziell die besondere Bedeutung der Ressource
Wasser als Grundlage für die weltweite Ernährungssicherheit. Dass Wasserknappheit der häufigste Auslöser
einer unsicheren Ernährungslage in vielen Ländern ist,
wird immer noch oft ignoriert. Dabei sind die klimatischen Herausforderungen, etwa Dürren, tagtäglich in
der Praxis zu erleben.
Ich freue mich - das muss ich sagen -, dass die Vertreter der Opposition uns dafür loben, dass wir dieses
Thema auf die Tagesordnung gesetzt und dazu einen Antrag vorgelegt haben. Ich hatte mir als Resultat der bisherigen Diskussionen der ersten Runde aufgeschrieben,
dass die Opposition nichts anderes als Nörgeleien zu diesem Antrag vorbringe; aber ich muss feststellen: Sie haben die Brisanz des Themas und die umfassende Darstellung des Problems in unserem Antrag erfasst.
({0})
Ich muss allerdings auch heute wieder sagen: Das letzte
von Ihnen vorgebrachte Argument, warum Sie unseren
Antrag ablehnen wollen, kann nicht überzeugen. Wenn
Sie sagen, es werde nicht genug Geld zur Verfügung gestellt, liegen Sie gerade bei diesem Thema falsch.
({1})
Keine andere Regierung weltweit leistet so viel wie die
deutsche Bundesregierung zur Sicherung von Wasserversorgung und Ernährung im internationalen Rahmen.
({2})
Deswegen zieht Ihr Argument nicht so ganz.
Warum kommt nun dieser Antrag in dieser Zeit? Sie
haben eben schon darauf hingewiesen: Wasser und Ernährung gehören in den Rio-Prozess. Unsere Initiativen
sollen dazu beitragen, dass Wasser auch Thema im
Rahmen des Rio+20-Prozesses wird. Die jüngsten Verhandlungen machen Hoffnung - um das vorsichtig zu
formulieren -, dass Ernährung, Ernährungssicherung,
Landwirtschaft und Wasserversorgung Toppunkte der
Rio+20-Verhandlungen sein könnten. Ich sage das vorsichtig.
Warum ist das von so großer Bedeutung? Die Folgen
sind regional sehr unterschiedlich. In Bezug auf Wasserversorgung und Nahrungssicherung sind die Folgen in
den ärmeren Regionen der Welt häufig verheerend. Wir
meinen, dass wir deswegen alles unternehmen müssen,
um Dürre und Hunger mit langfristigen Maßnahmen
vorzubeugen; denn gerade jetzt, da sich das Klima verändert, ist die globale Ernährungssicherung verletzlicher
denn je. Deswegen müssen wir aktiv werden und Maßnahmen ergreifen.
Schon heute sind gut 40 Prozent der Erdoberfläche
Trockengebiete. In diesen Regionen leben ungefähr
2 Milliarden Menschen. Wir wissen - auch das ist öfter
thematisiert worden -, dass verändertes Konsumverhalten in den Schwellenländern, seien es China, Brasilien
oder andere Staaten, dazu führt, dass verstärkt Fleisch
als Grundnahrungsmittel nachgefragt wird. Eben ist darauf hingewiesen worden: Um 1 Kilo Fleisch zu erzeugen, brauche ich ungefähr 15 000 Liter Wasser, um
1 Kilo Reis zu erzeugen, brauche ich ungefähr 1 500 Liter
Wasser. Das heißt, wir werden in Zukunft verstärkt mit
der Knappheit der Ressource Wasser zu kämpfen haben.
({3})
Deshalb ist auch im Rahmen des UN-Weltwassertags,
der am 22. März stattgefunden hat, dieses Problem thematisiert worden, allerdings nicht in der Form, wie Sie
es in Ihrem Zwischenruf getan haben, nämlich dass wir
nichts mehr essen dürfen.
({4})
Wir sollten uns vielmehr Gedanken machen, wie wir die
Produktion vernünftiger gestalten können.
({5})
Ich will ferner darauf hinweisen, dass die Lage in der
Bewässerungslandwirtschaft sehr problematisch ist.
Etwa 70 Prozent des Wassers werden für die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen benötigt. Das Besondere dabei ist, dass es weniger in den Industriestaaten,
aber viel stärker in den Ländern der noch unterentwickelten Welt zu diesen hohen Prozentsätzen kommt.
Dort werden 70 bis 90 Prozent des Wassers benötigt, um
Nahrungsmittel zu erzeugen. Auch hier muss heute
schon über Wassermangel geklagt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich noch einmal auf die Argumente der Opposition
eingehen. Wir wollen mit unserem Antrag einen multidimensionalen Lösungsansatz bieten. Wir wollen mehr
grenzübergreifende Zusammenarbeit initiieren, damit es
auf Ebene der Regierungen und der weltweiten Organisationen zu stärkeren Abstimmungen untereinander
kommt und die Versorgung besser wird.
In der letzten Woche wurde der Bericht der EU über
Entwicklungspolitik veröffentlicht. Herr Piebalgs hat ihn
vorgestellt und gelobt. In diesem Bericht werden viele
der Forderungen, die wir in unseren Antrag eingebaut
haben, ebenfalls erhoben. Insofern sehen wir uns auch an
dieser Stelle in guter Gesellschaft und glauben, dass wir
mit unserem Antrag richtig und zielgerichtet vorgehen.
In diesem EU-Bericht wird ein integriertes Vorgehen für
die Zukunft gefordert. Ganz konkret heißt es, man brauche eine neue Wasser-Nexus-Initiative. Das ist zum Beispiel auch ein Teil dessen, was wir hier vortragen.
Beim Weltwasserforum Mitte März dieses Jahres in
Marseille wurde die Forderung erhoben, dass die Umweltorganisationen einen globalen und verbindlichen
Aktionsplan zur Lösung der Wasserproblematik, der
Wasserkrise und möglicher weiterer Konflikte vorlegen.
Gerade in Anbetracht des Rio+20-Gipfels muss das
Thema Wasser unseres Erachtens stärker in den internationalen Fokus rücken, als das bisher der Fall war.
Ich will ein erfolgreiches Beispiel dazu aufführen: die
schon 1999 gestartete Nilbecken-Initiative, deren Ziel es
ist, die Wasserressourcen im Einzugsgebiet dieses großen Flusses gemeinsam zu entwickeln und zu nutzen.
Diese Initiative hat bisher insbesondere auf vertrauensbildende Maßnahmen gesetzt und versucht, politische
Dialoge und eine abgestimmte Entwicklung zu erreichen. Dazu hat es eine Reihe von politischen Fortschritten gegeben. Trotzdem ist es bis heute nicht gelungen,
darüber ein völkerrechtliches Abkommen zwischen den
Nil-Anrainern zu schließen. Das zeigt, wie die Dimensionen bei solchen Abkommen und solchen Entwicklungen sind. Deswegen müssen wir auch immer und verstärkt am Ball bleiben, um die Dinge voranzubringen.
Ähnliche Initiativen sind inzwischen in Wasserkonflikten in Senegal, Mali und Mauretanien, in Libyen und
Algerien sowie in Brasilien, Argentinien, Paraguay und
Uruguay gestartet - und wir alle wissen, dass es international noch wesentlich mehr Konflikte um das Wasser
gibt.
Auf lokaler Ebene - das ist die dritte Ebene dieses
Antrags - muss den Kleinbauern in den Entwicklungsländern und den Kleinunternehmern ein besserer Zugang
zur Bewässerung ermöglicht werden. Der Schlüssel dazu
ist, wie eben bereits angedeutet wurde, eine effiziente,
kostengünstige und einfache Technologie, die den klimatischen Veränderungen entgegenwirkt und den Kleinlandwirten die Möglichkeit gibt, Ernteausfällen entgegenzuwirken.
Ebenso können ausländische Direktinvestitionen helfen, wenn sie genutzt werden, um neue und effiziente
Technologien in diese Länder zu bringen. Insofern setzen wir ebenso wie die G 8 bei ihrem letzten Gipfel darauf, diese privaten Direktinvestitionen zu nutzen und
sie zusammen mit den öffentlichen Investitionen einzubringen.
Herr Kollege Raabe, die Bundeskanzlerin hat sich in
ihrer Regierungserklärung am 10. Mai 2012 - das ist
noch nicht so lange her - ebenfalls für verbesserte Rahmenbedingungen für private Investitionen in Entwicklungs- und Schwellenländern ausgesprochen und insbesondere darauf verwiesen, dass die Menschen auf dem
afrikanischen Kontinent durch diese gemeinsame Vorgehensweise der G 8 besonders profitieren können. Insofern ist auch der Bundeskanzlerin dieses Thema nicht
unbekannt.
({6})
- Deutschland hat so viel wie kein anderes Land - das
habe ich eben schon einmal gesagt - Geld in die internationale Unterstützung von Wasser und Wasserwirtschaft
investiert. Dass Sie immer wieder auf die ODA-Quote
und den damit verbundenen allgemeinen Rahmen rekurrieren, ist diesem Thema nicht angemessen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was ist das
Ziel unseres Antrags? Wir wollen konkrete Problemlösungsansätze bieten. Sie haben eben zum Teil zu Recht
gesagt, dass diese Ansätze in unserem Antrag erwähnt
sind. Wir wollen einen stärkeren Aufbau internationaler
Organisationen und Strategien. Wir wollen auch die Einbeziehung des Privatbereichs in diese Strategien, damit
wir zu einem besseren Wassermanagement und zu einer
besseren Grundlage für die Ernährungssicherung auf unserem Globus kommen. Wir sind uns sicher, dass dieser
Antrag dazu einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Ich
will mit Blick auf die Zukunft sagen: Die Weltwasserwoche in Stockholm, die im August dieses Jahres stattfinden wird, hat zum ersten Mal „Water and Food Security“ zum Thema. Ich glaube, da sind wir auf dem
richtigen Weg. Ich würde mich freuen, wenn die Opposition, soweit es ihr möglich ist, die entsprechenden Initiativen mit unterstützt.
Vielen herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank, Kollege Helmut Heiderich. - Nächster
Redner ist für die Fraktion Die Linke unser Kollege
Niema Movassat. Bitte schön, Kollege Movassat.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir
morgens aufstehen, gehen wir ins Bad und drehen den
Wasserhahn auf. Auf dem Land in Uganda dagegen laufen Frauen morgens stundenlang zum Brunnen, um Wasser zu holen. Während dort jeder Tropfen zum Überleben zählt, lassen wir den Wasserhahn hier schon mal
laufen. Diese weltweite Ungerechtigkeit der Wasserverteilung gehört entschieden bekämpft.
({0})
Über 1 Milliarde Menschen haben zum jetzigen Zeitpunkt keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Jedes
Jahr sterben an den Folgen 2 Millionen Menschen. Jeder
weiß, dass die Weltbevölkerung weiter wachsen wird,
und jeder weiß, dass wir für mehr Menschen mehr Lebensmittel und mehr Wasser brauchen. Das lebensnotwendige Nass wird in Zukunft noch knapper werden.
Dabei ist Wasser ein Menschenrecht - ein Menschenrecht, das tagtäglich massiv verletzt wird. Entschiedenes
Handeln ist nötig, um es endlich durchzusetzen.
({1})
Aber Ihr Antrag, der der Koalition, ist dazu nicht geeignet. Sie kommen in Ihrem Antrag mit einer Idee, die
hierzulande schon fulminant gescheitert ist: Wasserprivatisierung. Sie wollen, dass Entwicklungsländer die
Wasserversorgung an Privatunternehmen abtreten, an
Unternehmen, die anschließend auch die Ärmsten der
Armen, die es sich gar nicht leisten können, zur Kasse
bitten. Das ist Hohn auf jedes Menschenrecht.
({2})
Wir wissen doch, wo das hinführt: Die Privatisierung
des Wassersektors in Großbritannien in den 1990erJahren hat zu Preissteigerungen von über 50 Prozent
geführt. In Bolivien, in Cochabamba, kam es bei der
Wasserprivatisierung, die auch von der deutschen
Entwicklungsorganisation GTZ empfohlen wurde, zu
Preissteigerungen von 150 Prozent. Dadurch kam es zu
gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen 35 Menschen starben.
Trotz dieser schrecklichen Erfahrungen fordern Sie
von der Koalition die Privatwirtschaft auch noch auf, in
das Wassergeschäft einzusteigen, und Sie unterstützen
das Ganze über öffentlich-private Partnerschaften mit
Steuergeldern. Für die Privatunternehmen wird der Wassersektor mit zunehmender Wasserknappheit ja auch interessanter; denn was knapp ist, ist lukrativ. Sie sagen:
Privatunternehmen sind prädestiniert, eine effiziente lokale Wasserversorgung zu gewährleisten. Ich sage: Sie
machen sich damit zu Wasserträgern der Privatunternehmer.
({3})
Zu einem zweiten Punkt Ihres Antrags. Um gegen die
Wasserknappheit vorzugehen, möchten Sie verstärkt auf
gentechnisch veränderte Pflanzen setzen.
({4})
Das ist ein großer Fehler; denn der Markt für gentechnisch
veränderten Mais, Weizen, Reis und Soja wird von wenigen Unternehmen kontrolliert, allen voran Monsanto,
DuPont und Syngenta. Diese beherrschen drei Viertel
des weltweiten Saatguthandels. Deren Technologie treibt
Kleinbäuerinnen und -bauern in die Abhängigkeit. Die
Bauern müssen jedes Jahr neues, teures Saatgut von
Monsanto und Co kaufen; sie können es nicht, wie sonst
üblich, selbst herstellen. Die Ernteerträge sind aber oft
geringer, als ihnen versprochen wurde. Um das teure
Saatgut bezahlen zu können, müssen die Bauern Kredite
aufnehmen. Mangels ausreichender Erträge können sie
diese aber nicht zurückzahlen. Über 200 000 indische
Bauern haben in den letzten Jahren deswegen Selbstmord begangen. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, noch
mehr Kleinbauern von einigen wenigen Multis abhängig
zu machen!
({5})
Was in Ihrem Antrag zudem ausgeblendet wird und
was auch Sie, Herr Heiderich, in Ihrer Rede ausgeblendet haben, ist unsere Wirtschafts- und Lebensweise, die
zu einem großen Teil für den Wassermangel im Süden
verantwortlich ist.
({6})
Erdbeeren im Winter aus Marokko, ganzjährig Rosen
aus Äthiopien - für unsere Lebensweise müssen viele
Entwicklungsländer ihr weniges Wasser verschwenden.
Die Ressource Wasser muss zuerst für die Menschen da
sein, die in dem Land leben. Deshalb muss gegen diese
Form von Wasserraub vorgegangen werden.
({7})
Wir als Linke sagen Ja zum Menschenrecht auf Wasser, Ja zu einer gerechten Verteilung der Wasserressourcen, Ja zu einer besseren Unterstützung von Kleinbauern, Nein zu Privatisierungen, Nein zu Gentechnik und
deshalb auch Nein zu Ihrem Antrag.
Danke schön.
({8})
Vielen Dank, Kollege Niema Movassat. - Nächster
Redner ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Vizepräsident Eduard Oswald
Kollege Uwe Kekeritz. Bitte schön, Herr Kollege
Kekeritz.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich auf den Antrag der Koalition eingehen,
den ich zunächst einmal sehr positiv finde. Sie greifen
ein sehr zentrales, wichtiges Thema auf und tragen dazu
bei, dass man darüber diskutiert. Ich hoffe, dass Sie in
Zukunft dann auch für Anregungen offene Ohren haben
und sich ihnen nicht verweigern.
Ihr Antrag enthält partiell sehr richtige Analysen. Er
zeigt sehr gut auf, wie bedrohlich die Situation ist. So
schreiben Sie völlig zu Recht - das ist ein Beispiel; Sie
geben viele an -:
Gerade im Nahen Osten ist zu beobachten, dass die
Frage der Ernährungssicherheit und der Wasserversorgung immer mehr eine Frage von Frieden und
Sicherheit wird.
Sie nennen in Ihrem Antrag auch sehr viele unterschiedliche Forschungsansätze, um zukünftig das Wassermanagement zu verbessern. Richtigerweise stellen
Sie auch fest, dass die einzelnen Aufgabengebiete viel
zu inkohärent bearbeitet werden.
Das ist allerdings schon der positive Teil Ihres Antrags.
In Ihrem Antrag verpassen Sie es leider, zentrale Fragen aufzugreifen. Der Kollege Raabe hat das schon erwähnt: Sie sprechen nicht das Thema Land Grabbing an.
Sie sprechen nicht die großflächigen Rodungen und die
verminderte Wasser- und CO2-Speicherfähigkeit von
übernutzten Böden an. Mit keinem Wort wird das erwähnt. Welch gigantische Wassermengen in Staaten wie
Niger, Tansania, Namibia für die Urangewinnung verlorengehen, wird nicht erwähnt. Das ist ganz wichtiges
Wasser, das die Menschen für ihre Tiere und für ihre
Pflanzen selbst brauchen. Aber dort wird es für unseren
Atomstrom verwendet.
Außerdem sehe ich in Ihrem Antrag sehr viele technische Lösungsmöglichkeiten. Man gewinnt leicht den
Eindruck, dass Sie deutsches technisches Denken einfach auf afrikanische und asiatische Verhältnisse übertragen. Diese Lösungsvorschläge mögen viel moderne
Technologie beinhalten, aber die dahintersteckende
Denke basiert auf einer völlig veralteten Technologiegläubigkeit.
({0})
Die Konsequenz, die Sie eigentlich ziehen müssten,
aber nicht ziehen, wäre eine fortschrittliche, moderne
Agrarproduktion, wie sie uns zum Beispiel im Weltagrarbericht 2008 aufgezeigt wird.
({1})
- Den haben sie schon gelesen; den ignorieren sie nur. Auch das Institut für Technikfolgenabschätzung schlägt
in seinem jüngsten Gutachten genau in die gleiche
Kerbe. Wir haben zuhauf Beispiele dafür, wie es funktioniert. Ein Beispiel sei Ihnen genannt: SEKEM, ein
4 000 Hektar großes Projekt in der ägyptischen Wüste,
40 Kilometer südlich von Kairo. Diese 4 000 Hektar
wurden in fruchtbares Land verwandelt. 2 000 Menschen haben dort Arbeit gefunden.
Auch fehlt in Ihrem Antrag der Zusammenhang mit
unserer Verantwortung. Wie schaut es denn aus mit unserer Wirtschafts- und Exportpolitik? Wir überschwemmen die Märkte mit hochsubventionierten Lebensmitteln
- das geht von Getreide über Hähnchen bis hin zu
Milchprodukten - und räumen Afrikas Fischbestände
leer. Was bleibt den Menschen dort im ländlichen Raum?
Sie verlassen den Raum, gehen in die Slums und vergrößern diese.
Sie wissen, dass die Industriestaaten ihre landwirtschaftliche Produktion täglich mit 1 Milliarde Dollar
subventionieren. Ich habe mich nicht versprochen: täglich mit 1 Milliarde Dollar. Die Entwicklungsländer haben überhaupt keine Chance, dagegenzuhalten. Wir machen sie damit kaputt.
({2})
In Ihrem Antrag versäumen Sie ferner, zu erwähnen,
dass unsere Lebensweise Haupt- oder zumindest Mitverursacher vieler Probleme ist. Überall werden Wälder abgeholzt. Auf dem gewonnenen Land wird dann Futter
für unsere Schweine, Rinder und Hühner produziert. Ich
gehe nicht darauf ein - Sie haben es gesagt -: Für jedes
Kilogramm Fleisch werden 15 000 Liter Wasser verbraucht; dieses Fleisch importieren wir zu einem großen
Teil aus Argentinien.
Ich frage mich - ich bin gleich fertig, Herr Präsident -:
Warum überschreiben Sie Ihren Antrag mit „Wasser und
Ernährung sichern“? Sie gehen auf das Thema „sichern“
mit keinem Wort ein. In diesem Zusammenhang wäre
die Ernährungssouveränität ein zentrales Thema. Dann
wäre der Antrag glaubwürdig. Ihre Politik geht nicht auf
die Ernährungssouveränität dieser Länder ein. Deswegen ist Ihr Antrag lückenhaft. Sie lassen die zentralen
Positionen aus. Daher müssen wir Ihren Antrag negativ
bewerten. Einen Antrag, der nicht das Wesentliche sagt,
kann man nicht unterstützen. Man müsste ihn als einen
Schaufensterantrag bezeichnen. Wenn Sie sich den Forderungskatalog anschauen, dann sehen Sie
Sie haben etwas versprochen.
- ich bin fertig -: 90 Prozent Ihrer Forderungen werden schon umgesetzt. Deswegen ist ihr Antrag ein
Schaufensterantrag.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Uwe Kekeritz. - Sie waren der letzte Redner in dieser Debatte.
Somit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP mit dem Titel „Wasser und Ernährung sichern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9526, den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/9153 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen.
Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Annette
Groth, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Überweisung des Goldstone-Berichtes an den
Internationalen Strafgerichtshof durch den
UN-Sicherheitsrat
- Drucksachen 17/6339, 17/7532 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Peter GauweilerGünter GloserDr. Rainer StinnerStefan LiebichKerstin Müller ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es widerspricht niemand. Dann ist dies auch so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in dieser
Aussprache ist für die Fraktion der FDP unsere Kollegin
Frau Birgit Homburger. Bitte schön, Frau Kollegin Birgit
Homburger.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich es für schwer
nachvollziehbar halte, dass dieser Antrag heute Abend
im Deutschen Bundestag nochmals diskutiert wird; denn
zwischenzeitlich ist allen Beteiligten klar, dass wesentliche Vorwürfe, wie sie im Goldstone-Bericht enthalten
sind, so nicht zutreffen und so nicht erhoben werden
können. Deswegen wäre die richtige Reaktion vonseiten
der Linken gewesen, nicht auf einer Debatte zu bestehen,
sondern den Antrag zurückzuziehen.
({0})
Die FDP hat sich im Zusammenhang mit der Aufklärung der Ereignisse um die Gaza-Flottille immer für eine
vollständige und auch unparteiische Aufklärung der Vorwürfe durch die beteiligten Parteien eingesetzt. Diese
Ereignisse waren mehrfach Thema im Deutschen Bundestag, sowohl im Plenum als auch in den zuständigen
Ausschüssen. Diese Diskussion schließt die nötige Kritik an Israel, aber eben auch an der Hamas ein.
Sie fordern, die Empfehlungen des GoldstoneBerichts dem Internationalen Strafgerichtshof vorzulegen. Unsere Haltung ist, dass der Menschenrechtsrat der
UN der einzige Ort ist, an dem der Goldstone-Bericht
behandelt werden sollte. An dieser Haltung hat sich seit
der letzten Beratung nichts, aber auch gar nichts geändert. Es war der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, der am 3. April 2009 die Untersuchungskommission einsetzte. Er ist deshalb auch der richtige Ort, an
dem dieser Bericht behandelt werden sollte. Deshalb
sind wir nach wie vor entschieden dagegen, ihn an weitere Gremien zu überweisen.
({1})
Der Antrag lässt die nötige Ausgewogenheit vermissen. Ich will das an einem einzigen Beispiel deutlich machen - man könnte viele Beispiele aus diesem Antrag
herausziehen -: Sie sagen, dass mutmaßliche israelische
Kriegsverbrechen nicht aufgeklärt worden seien.
({2})
Der Hamas ersparen Sie solche Vorwürfe. Fakt ist: Natürlich hat auch die israelische Regierung Fehler gemacht, aber sie hat immerhin Ermittlungen eingeleitet,
sie hat Soldaten bestraft, die sich Verbrechen gegen Zivilisten schuldig gemacht haben. Die Hamas hingegen hat
keinerlei Untersuchungen über den Raketenbeschuss aus
dem Gazastreifen eingeleitet, der klar gegen Zivilisten
gerichtet war. Diese Unausgewogenheit in Ihrem Antrag
ist so nicht hinzunehmen. Deshalb werden wir diesem
Antrag auf keinen Fall zustimmen können.
Die Hamas hat von zivilen Einrichtungen, von Wohnhäusern aus operiert; sie hat auf von Menschen bewohnten Häusern Waffen platziert. Sie hat also nichts anderes
getan - nicht mehr und nicht weniger -, als Zivilisten als
menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Eine solche Haltung ist menschenverachtend. Wenn Sie einen
solchen Antrag stellen, dann müssen Sie auch diese Tatsachen berücksichtigen und können nicht nur eine Seite
ins Visier nehmen.
({3})
Darüber hinaus ist die Asymmetrie des Konflikts
nicht ausreichend gewürdigt. Sie können nicht Hamas
und Israel auf eine Stufe stellen. In Ihrem Antrag findet
sich kein Wort dazu, dass die Hamas keine normale Organisation ist. Aus meiner Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion ist die Hamas nach wie vor eine Terrororganisation. Das muss an dieser Stelle noch einmal
ausdrücklich gesagt werden.
({4})
Der Antrag ist also unausgewogen; er hat mit der
Aufklärung der Vorwürfe nichts zu tun. Aus meiner
Sicht ist er rein politisch motiviert. Hinzu kommt, dass
der Goldstone-Bericht fehlerhaft ist. Man findet darin
beispielsweise kein Wort zum legitimen Sicherheitsinteresse Israels.
({5})
Es ist für Deutschland schlicht und ergreifend undenkbar, einen solchen Bericht zu unterstützen.
Inzwischen geben Sie selbst zu, dass Richard Goldstone den Bericht mit dem heutigen Wissen ganz anders
verfassen würde.
({6})
Er hat sich zwischenzeitlich in mehreren Artikeln persönlich geäußert und deutlich gemacht, dass der Bericht
fehlerhaft ist und dass er ihn mit dem heutigen Wissen so
nicht mehr verfassen würde. Unter anderem hat er hervorgehoben, dass das israelische Militär im Gegensatz
zur Hamas eben nicht absichtsvoll auf Zivilisten gezielt
habe.
({7})
Das ist ein erheblicher Unterschied.
Deshalb halte ich abschließend fest: Erstens. Die
Grundlage für Ihren Antrag, der Goldstone-Bericht, ist
fehlerhaft. Zweitens. Ihr Antrag ist unausgewogen. Drittens. Darüber hinaus sind etliche Forderungen aus dem
Antrag zwischenzeitlich erfüllt; beispielsweise hat sich
die Generalversammlung der UN mit dem Thema befasst, ebenso wie der Menschenrechtsausschuss der UN.
Israel hat einige der Empfehlungen umgesetzt.
Allerdings wurde keine der Forderungen umgesetzt,
die an die Hamas gerichtet waren. Vor diesem Hintergrund kann ich nur feststellen: Ihr Antrag ist überholt.
Wir werden dem Antrag auch aus diesem Grunde nicht
zustimmen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Kollegin Birgit Homburger. - Nächster
Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Günter Gloser. Bitte schön, Kollege Günter
Gloser.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen hier und heute nicht zum ersten Mal über
einen Antrag der Linken zum sogenannten GoldstoneBericht. Schon 2010 nutzte die Linke den Bericht zu einer eingehenden Kritik an Israel. Schon damals wurden
von der Linken die möglichen Menschenrechtsverletzungen Israels ausführlich besprochen, die offensichtlichen und eklatanten Verbrechen der Hamas und anderer
Palästinensergruppen aber kaum erwähnt. Das Ungleichgewicht des ersten Antrags von 2010 bestand in der Anklage des einen Konfliktpartners, nämlich Israels, und
im Verschweigen der Verantwortung des anderen, nämlich der De-facto-Regierung des Gazastreifens, der Hamas.
Das setzt sich nun bei der Frage der juristischen Aufarbeitung fort. In Israel sind 400 juristische Verfahren in
Gang gebracht worden. Viele davon sind bereits abgeschlossen. Der Kommissionsvorsitzende und Namengeber des Berichts, Richard Goldstone, hat festgestellt,
dass die Kommission viele Einzelergebnisse im Lichte
der Erkenntnisse aus diesen Verfahren anders bewertet
hätte. In Gaza ist nicht ein einziges Verfahren gegen Raketenbauer, Folterer oder Entführer eröffnet worden.
Diesen Unterschied muss man doch erkennen und auch
klarstellen, wenn man vorgibt, über die Frage der Gerechtigkeit verhandeln zu wollen.
({0})
Stattdessen ist im vorliegenden Antrag lapidar zu lesen:
Auch gegen bewaffnete palästinensische Gruppen
wird der Vorwurf der Kriegsverbrechen und der
Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben.
Sonst steht darüber nichts. Auf diese Art und Weise helfen Sie mit, ein Bild Israels als alleiniger Aggressor zu
zeichnen. Auf die Raketenangriffe auf das Territorium
Israels, die der Militäraktion Israels in Gaza vorausgegangen waren, wird überhaupt nicht eingegangen. Wenn
man Ihren Antrag liest, bekommt man den Eindruck, Israel hätte gar keinen Grund gehabt, in Gaza einzugreifen. Das hilft der Sache nicht. Im Gegenteil: Es diskreditiert in vielen Punkten berechtigte Kritik an Israel.
Die Tendenz ist erkennbar: Sie überhöhen sich wieder
einmal selbst und fühlen sich gut dabei, weil Sie glauben, die alleinige Wahrheit zu kennen und über andere
urteilen zu können. Die Kritik an Israel hat für Sie von
der Linken einen besonderen Reiz. Sie meinen, dass Sie
sich gegen den Mainstream stellen, indem Sie endlich
einmal die Wahrheit sagen. Solche Effekthascherei verurteile ich als Sozialdemokrat ausdrücklich; denn in der
Tradition der historischen Verantwortung Deutschlands
für die Sicherheit Israels, aber auch in der Verantwortung für die Lebensperspektiven der Palästinenser wähle
ich lieber den Weg des Differenzierens statt der einseitigen Anklage.
Ich stelle fest: Die Politik der Hamas, Israel mit Raketen anzugreifen oder durch geduldete Terrorgruppen angreifen zu lassen, war purer Terrorismus und durch
nichts zu rechtfertigen. Israel hat wie jedes andere Land
der Erde das Recht, sich gegen eine solche Aggression
zu wehren, egal ob sie von innen oder von außen kommt.
Ich stelle aber ebenso fest: Bei der Erstürmung des Gazastreifens ist es zu einer inakzeptabel hohen Zahl von
zivilen Opfern unter der palästinensischen Bevölkerung
gekommen. Durch die Weigerung Israels, an der internationalen Aufarbeitung der Vorgänge mitzuwirken, blieb
in der Tat lange Zeit der Eindruck bestehen, dass Israel
bewusst nicht nur militärische Ziele angriff, sondern
auch der Bevölkerung die wichtigste Infrastruktur und
damit die Lebensgrundlage entziehen wollte, um die Bewohner Gazas für ihre Unterstützung der Hamas zu bestrafen.
Dieser Vorwurf ist bis heute nicht bewiesen, aber
auch nicht endgültig widerlegt worden.
({1})
Daran haben auch die erheblichen juristischen Anstrengungen in Israel zur Klärung der Verantwortung Einzelner für bestimmte Vorfälle nichts geändert. Das hat dem
Ansehen Israels in der Welt in einer wirklich schwierigen Zeit nachhaltig geschadet.
Die Regierung Israels hat den Interessen des Landes
durch ihre Blockadehaltung einen schlechten Dienst erwiesen und damit unnötigerweise der Hamas zu weiteren
Propagandaerfolgen verholfen. Die Stärke Israels ist die
Stärke eines Rechtsstaats, ist die eines demokratischen,
eines offenen Landes. Leider hat Israel im Fall des GazaKrieges diese Stärke weder während der Kampfhandlungen noch danach voll zur Geltung gebracht.
Nun zur Kernforderung des Antrags, zur Überweisung des Goldstone-Berichts durch den Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen an den Internationalen Strafgerichtshof. Ich spreche Ihnen nicht das Recht ab, so vorzugehen, aber man muss schon entgegenhalten, dass es
aussichtslos ist, den Sicherheitsrat zu einem solchen
Schritt aufzufordern. Mindestens die Vereinigten Staaten
von Amerika würden sich dem mit einem Veto entgegenstellen. Es handelt sich also um einen Schaufensterantrag, der in dem Bewusstsein gestellt wird, dass sein Ziel
unerreichbar ist.
Zudem fällt es den Antragstellern erkennbar schwer,
die schon erwähnten 400 Einzelverfahren, die es auf israelischer Seite gegeben hat, wegzudiskutieren. Die Ergebnisse dieser Verfahren stellen zwar auch mich nicht
in jedem Punkt zufrieden, auch ich habe eine Menge
Fragen an die israelische Regierung, was die Zielrichtung, die Strategie, die Wahl der militärischen Mittel und
die politische Gesamtverantwortung für diese Militäraktion angeht. Doch ich kann nicht verstehen, wie man dieses erhebliche Maß juristischer Aufarbeitung im Rahmen eines Rechtsstaats auf eine Stufe stellen kann mit
dem völligen Unrechtszustand, der im Gazastreifen unter der Kontrolle der Hamas besteht. Deshalb kann ich
die Aufforderung an den Sicherheitsrat, Israel und die
Hamas hier sozusagen gemeinsam auf die Anklagebank
der Welt zu setzen, nicht mittragen. Dieser Antrag ist unausgewogen. Er trägt auch nicht zur Wahrheitsfindung
bei und ist deshalb angreifbar. Deshalb findet er auch
nicht die Zustimmung der SPD-Bundestagsfraktion.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Günter Gloser. - Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Dr. Johann Wadephul. Bitte schön, Kollege Dr. Wadephul.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte dem Kollegen Gloser ausdrücklich
danken. Ich kann seine Aussagen hier nur unterschreiben. Damit verbinde ich die Hoffnung, dass die sozialdemokratische Fraktion diesen Antrag heute ablehnen
wird. Im Ausschuss sind Sie, wenn ich das richtig gesehen habe, bei einer Enthaltung stehen geblieben. Nach
Ihren eindeutigen Aussagen heute ist, glaube ich, eine
Ablehnung konsequent und richtig.
({0})
In der Tat diskutieren wir zum wiederholten Male diesen Antrag der Linksfraktion. Der Sachverhalt muss in
mehrerlei Hinsicht richtiggestellt werden. Das ist durch
die Vorredner auch schon geschehen. Dennoch will ich
nochmals darauf hinweisen, dass Israel mit militärischer
Gewalt auf den zuvor länger andauernden Raketen- und
Mörserbeschuss durch Hamas-Milizen auf israelische
Zivilisten - das geschah zum Teil aus Zivilgebäuden geantwortet hat. Der Einsatz forderte in der Tat zahlreiche Todesopfer und beklagenswerterweise auch eine
hohe Zahl von zivilen Opfern. Das kann überhaupt nicht
negiert werden. Wir fanden es auch richtig, dass der VNMenschenrechtsrat am 3. April 2009 eine Kommission
zur Untersuchung möglicher Verletzungen des humanitären Völkerrechts bzw. von internationalen Bestimmungen zum Schutze der Menschenrechte eingesetzt hat.
Am 15. September 2009 legte Richard Goldstone seinen Bericht vor, der zu Recht seinen Namen trägt. Er hat
durch seine Tätigkeit in Südafrika, aber auch vor den Internationalen Strafgerichtshöfen für das frühere Jugoslawien und Ruanda eine hohe Reputation. Ich denke, sie
besteht auch weiterhin. Er kam zu deutlichen Ergebnissen und forderte beide Konfliktseiten auf, innerhalb von
sechs Monaten entsprechende eigene strafrechtliche Untersuchungen einzuleiten.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hält das Abstimmungsverhalten Deutschlands - wie das die Kollegin
Homburger vorhin schon ausgeführt hat - in der UN
nach wie vor für richtig. Wir sind mit der Bundesregierung, Herr Staatssekretär, der Auffassung, dass eine Verweisung an den Internationalen Strafgerichtshof nicht
geboten ist. Die Bundesregierung hat zu Recht stets betont, dass der UN-Menschenrechtsrat als Auftraggeber
das geeignete Gremium ist, welches sich mit der Aufarbeitung und den Folgen eines selbst beauftragten Berichts zu befassen hätte. Vorverurteilungen und Verweisungen an andere Gremien ist die Bundesregierung stets
entgegengetreten. Dies ist und bleibt richtig. Deshalb
stimmte Deutschland wie weitere EU-Staaten, die USA
und, nicht ganz überraschend, auch Israel gegen diesen
Bericht.
Später hat es dann die Einsetzung eines Expertenkomitees, der sogenannten Davis-Kommission, gegeben.
Dieses Expertenkomitee, auf Beschluss des Menschenrechtsrats von der Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen eingesetzt, hat dann einen
Bericht vorgelegt. Der war aus unserer Sicht sehr interessant und wird von Ihnen, sehr geehrte Kollegen von
der Linksfraktion, in weiten Teilen übersehen.
Zum einen ist festzuhalten, dass die israelische Armee
immerhin 400 Untersuchungsverfahren eingeleitet hat,
die auch in 52 Fällen zu strafrechtlichen Ermittlungen
geführt haben. In der Tat sind - das soll nicht verschwiegen werden - eine langsame Durchführung dieser Verfahren, eine fehlende Unparteilichkeit und auch eine
mangelnde Transparenz dieses Verfahrens kritisiert worden. Als Freunde Israels stehen wir nicht an, dieses auch
anzusprechen.
Insbesondere ist aber festgehalten worden - das fehlt
in Ihrem Bericht völlig -, dass die Palästinenserseite,
also die De-facto-Regierung der Hamas, überhaupt keine
Untersuchungen durchgeführt hat. Ich fordere Sie ausdrücklich auf, da Sie auf diese Aussprache heute bestanden haben, diese Gelegenheit zu nutzen und Ihren Antrag in diesem wesentlichen Punkt klarzustellen. Stellen
Sie klar, dass die Hamas überhaupt keine Untersuchung
durchgeführt hat, und beheben Sie diesen klaren und
deutlichen Mangel Ihres Antrags. Im Ausschuss haben
Sie es nicht getan, und im Antragstext findet sich das
nicht. Sie haben jetzt hier Gelegenheit, das nachzuholen.
({1})
Bitte nehmen Sie auch Stellung zu dem, was der ehemalige Leiter der Kommission in der Washington Post
vom 2. April 2011 in einer bemerkenswerten Korrektur
seiner Arbeit gesagt hat. Goldstone räumte nämlich ein,
dass der Bericht ein anderer geworden wäre, wenn er bei
Verfassung des Berichts all das gewusst hätte, was er
nun wisse. Ich will ausdrücklich hinzufügen: Es wäre
wünschenswert gewesen, wenn beide Seiten, auch Israel,
der Goldstone-Kommission Gelegenheit gegeben hätten,
die Erkenntnisse zu gewinnen, über die man später verfügte. Das kann hier durchaus auch einmal gesagt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, Sie konnten diese Aussage natürlich nicht vollkommen übersehen. Dennoch lassen Sie Wesentliches außer
Betracht und werten diesen Artikel von Herrn Goldstone
in der Washington Post einseitig aus. Das ist das Bemerkenswerte, was wir an dieser Stelle feststellen müssen:
Sie - das gilt zumindest für die Teile der Linksfraktion,
die diese Sache vorantreiben - wollen dieses VN-Verfahren ganz bewusst politisieren und gegen Israel einsetzen, und das ist nicht in Ordnung.
({2})
Ich konnte feststellen, dass etwa Gregor Gysi den
Versuch unternommen hat, in der Linkspartei, in der
manches in Unordnung geraten ist, eine positive Einstellung zum Staat Israel, zum jüdischen Volk, zum Existenzrecht Israels zu finden. Das findet in Ihrer Fraktion
offensichtlich keinen Rückhalt.
({3})
Die Ressentiments gegen Israel sind in Ihrer Fraktion
weit verbreitet, und sie finden ihren Ausdruck in einem
derart parteiischen Antrag wie dem, der hier vorgelegt
wurde. Das muss klar gesagt werden.
({4})
Ihre Forderung, den Goldstone-Bericht an den Internationalen Strafgerichtshof zu überweisen, lehnen wir
ab. Fragen, die der Goldstone-Bericht aufwirft, müssen
vom VN-Menschenrechtsrat behandelt werden, da dies
das Gremium ist, welches den Bericht in Auftrag gegeben hat.
Die ausschließliche Behandlung durch den Menschenrechtsrat hätte die Chance auf eine strafrechtliche
Verfolgung möglicher Rechtsverletzungen im Übrigen
nicht beeinträchtigt. Wir sind eindeutig dafür, dass Verletzungen des humanitären Völkerrechts geahndet werden. Wir sind aber auch eindeutig dafür, dass diese Verletzungen auf nationaler Ebene strafrechtlich aufgearbeitet werden. Dazu fordern wir beide Seiten nach wie
vor auf. Diesbezüglich gibt es überhaupt nichts zu relativieren. Eine Überweisung an den Internationalen Strafgerichtshof wäre in diesem Fall überhaupt keine Hilfe.
Ich möchte abschließend feststellen, dass es in Israel
positive Ansätze zur Aufarbeitung gegeben hat. Diese
Aufarbeitung kann aus unserer Sicht fortgeführt werden.
Wir können aber auch feststellen, dass die palästinensische Seite überhaupt nichts unternommen hat. Die palästinensische Seite ist dringend aufgefordert, wenn sie
weiterhin ernst genommen werden will, endlich ihrerseits eine strafrechtliche Aufarbeitung in Angriff zu nehmen. Wenn sie ernsthaft den Anspruch erheben will, irgendeine Form der Staatlichkeit zu sein und zu
begründen, dann muss sie offenkundige Verletzungen
des Völkerrechts strafrechtlich ahnden.
Deutschland wird sich mit seinen Partnern in der Europäischen Union weiterhin für einen konstruktiven
Friedensprozess in Nahost, so schwierig er auch ist, einsetzen. Die Sicherheit und das Existenzrecht Israels sind
Teil der deutschen Staatsräson. Wir treten aus Überzeugung für eine Zweistaatenlösung mit Israel als jüdischem
demokratischem Staat und einem lebensfähigen Palästinenserstaat ein.
({5})
Dafür sind beiderseits schmerzhafte Kompromisse nötig.
Am Ziel stehen aber sichere Grenzen und ein Leben in
Frieden und Freiheit für die Menschen in dieser Region
in Aussicht. Dafür lohnt es sich, Politik zu machen. Mit
Ihrem Antrag leisten Sie nur einen Bärendienst.
({6})
Vielen Dank, Kollege Dr. Wadephul. - Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Annette Groth. Bitte schön, Frau Kollegin Groth.
({0})
Verehrte Damen und Herren! Bevor ich jetzt auf diese
ganzen Vorwürfe, die teilweise haltlos sind, eingehe,
möchte ich betonen, dass ich immer und überall Menschenrechtsverletzungen verurteile, egal ob sie von der
Hamas, in Israel, in Sri Lanka oder sonst wo auf der Welt
begangen werden. Diejenigen von Ihnen, die mit mir im
Menschenrechts- und im AwZ-Ausschuss sind, wissen
das.
({0})
Ich habe hier den berühmten Artikel, auf den Sie sich
stürzen. Goldstone hat nur wenige seiner Feststellungen
zurückgenommen, verehrte Frau Kollegin Homburger.
Sie müssen die Sachen richtig lesen. Zu einem kleinen
Vorfall steht dort, dass nicht ganz klar ist, ob der verantwortliche Offizier, der den Befehl für die Attacke auf das
Haus, in dem 21 Menschen umgekommen sind, gegeben
hat, wirklich wusste, was er tat, oder ob dies ein Versehen war. Wortwörtlich heißt es hier - ich habe es übersetzt -: Ich bin zuversichtlich, dass Israel, falls der Offizier, der den Angriff anordnete, als fahrlässig befunden
wird, entsprechend reagieren wird. - Das steht in dem
besagten Artikel.
({1})
Die drei anderen Autorinnen und Autoren - es war ja
nicht nur Goldstone allein - haben mehrmals bekräftigt,
dass sie keine dieser Aussagen in dem Bericht - ich habe
ihn dabei - zurücknehmen.
Man darf auch nicht vergessen, dass bei diesem völkerrechtswidrigen Angriff über 850 Zivilisten und Zivilistinnen getötet worden sind, darunter 350 Kinder und
200 Frauen. Hina Jilani, eine der Autorinnen dieses Berichts - sie war vorher UN-Sonderberichterstatterin in
Darfur -, hat gesagt, das sei das Schlimmste gewesen,
von dem sie in Zeugenaussagen gehört hat. Sie hat mehrere Personen interviewt, die über das bewusste Zielen
auf Kinder während dieses Krieges berichtet haben. Der
Angriff hat zwar nur sehr kurz gedauert, aber es gab
viele Tote.
Wir sind nach wie vor der Überzeugung, dass die
Straflosigkeit nicht hinnehmbar ist. Diese Überzeugung
teilen Sie; schade, dass Frau Kopp nicht mehr da ist. Ich
lese sehr oft, dass man die Kultur der Straflosigkeit nicht
weiter hinnehmen will. Frau Kopp hat nach einer Reise
nach Nepal im März dieses Jahres kritisiert - das steht in
der Zeitung -, dass Personen, die Kriegsverbrechen begangen haben, frei herumlaufen. Frau Homburger, auch
Sie haben in einem SWR-Beitrag - ich habe mir diesen
angesehen - die Straflosigkeit in anderen Ländern kritisiert. Dies kritisieren auch alle Mitglieder des Menschenrechtsausschusses; denn wir als Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen dürfen so etwas nicht
dulden.
({2})
Der schlimmste Vorfall - das wurde von allen gesagt - war in der Tat der Überfall auf das Haus der Familie al-Samouni, bei dem 21 Menschen umgekommen
sind. Ich war letzten November in Kapstadt. Dort hat der
Direktor des Menschenrechtszentrums in Gaza diesen
Vorfall sehr drastisch geschildert. Zwei Tage lang durfte
keine Ambulanz in dieses Haus. Kinder haben dort zwei
Tage lang in dem Blut ihrer Eltern gelegen. Das müssen
Sie sich einmal vorstellen! Erst nach zwei Tagen wurden
die Toten und Verletzten abtransportiert. Dieser Vorfall
sollte untersucht werden. Am 1. Mai dieses Jahres hat
die israelische Armee beschlossen, keine Untersuchung
durchzuführen und den Vorfall ad acta zu legen. Diese
schlimmen Vorfälle müssen wir genauso kritisieren wie
Raketenangriffe der Hamas auf zivile Ziele in Israel.
({3})
Man darf hier doch keine Doppelstandards anlegen.
({4})
Vielmehr muss man die Sachen so benennen, wie sie
sind. Dieser völkerrechtswidrige Angriff war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dabei bleibe ich.
({5})
Diese Straflosigkeit muss ein Ende haben; sonst wird es
immer wieder solche Vorfälle geben.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Frau Kollegin Groth. - Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen unser Kollege Jerzy Montag. Bitte schön,
Kollege Montag.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
sogenannte Goldstone-Bericht war trotz mancher Unzulänglichkeiten und mancher Fehler ein erster Schritt in
Richtung Wahrheitsfindung. Er war das Ergebnis einer
Fact Finding Mission, um festzuhalten, was genau während des Gaza-Krieges passiert ist, ob die beiden kämpfenden Parteien Verstöße gegen das Völkerrecht begangen haben könnten und, wenn ja, welche.
Wie die Linke in ihrem Antrag richtig feststellt, war
die Goldstone-Kommission nicht mit strafrechtlichen
Untersuchungen beauftragt. Sie sollte ausdrücklich nicht
festzustellen versuchen, ob die israelische Armee oder
die Kämpfer der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen Völkermord, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen begangen haben.
Der Goldstone-Bericht war in diesem Sinne - ich zitiere
aus dem Antrag der Linken - „Teil eines Prozesses der
Wahrheitssuche“.
Dieser Prozess der Wahrheitssuche ist leider nur teilweise gelungen. Die Möglichkeiten der Zeugenbefragung und Faktensammlung waren erheblich eingeschränkt. Bedauerlicherweise verweigerte Israel die
Zusammenarbeit,
({0})
weil Israel nicht an die Objektivität der Untersuchungen
glaubte. Beide Seiten, die im Gazastreifen herrschende
Hamas und Israel, haben deshalb dazu beigetragen, dass
dem Goldstone-Bericht Fehler und Falscheinschätzungen nachgesagt und zum Teil auch nachgewiesen werden
konnten.
Es wurde schon erwähnt, dass Goldstone selbst am
2. April 2011 erklärt hat, dass er heute viel mehr darüber
weiß als zu dem Zeitpunkt, als er der Fact Finding Mission vorgesessen hat, und dass sein Bericht anders ausgefallen wäre, wenn er diese Fakten damals gekannt
hätte. Insbesondere bezieht sich diese Aussage auf die
Vorwürfe, die israelische Armee habe strategisch und absichtlich zivile Einrichtungen angegriffen und zerstört
und Zivilisten getötet. Der palästinensische Bürgerrechtler Dr. Mustafa Barghuthi hat sich nach Goldstones
Richtigstellung wie folgt geäußert: Ich glaube nicht, dass
Goldstone seinen Bericht bedauert. Hamas hat Kriegsverbrechen begangen. Aber Israel hat unverhältnismäßige Gewalt angewandt. Israel hat, obwohl es den Goldstone-Bericht nie als ein objektives Dokument anerkannt
hat, wenigstens teilweise und zögerlich Konsequenzen
aus den glaubwürdigen Berichten und Zeugenaussagen
über tödliche Angriffe auf Zivilisten und über Angriffe
auf zivile Einrichtungen in Gaza gezogen.
Inzwischen wurden - das ist bereits erwähnt worden über 400 Vorfälle operativen Fehlverhaltens untersucht.
In über 50 Fällen sind strafrechtliche Ermittlungen geführt worden. Militärische Dienstanweisungen zum
Schutze von Zivilisten im Häuserkampf wurden verändert. Selbst die Linke gesteht in ihrem Antrag ein, dass
zwei Drittel der im Goldstone-Bericht dokumentierten
36 Fälle mutmaßlicher Kriegsverbrechen aufgeklärt
worden sind. Fast versteht es sich von selbst, dass es aufseiten der Hamas trotz auch auf ihrer Seite festgestellter
gravierender Fälle von Menschenrechtsverletzungen
- ich meine den Beschuss Israels mit über 8 000 Raketen bisher keinerlei Untersuchungen und keinerlei Verfolgung der Täter gegeben hat.
Meine Damen und Herren, manch Wahres und Richtiges steht im Antrag der Linken. Was wir aber nicht akzeptieren können, ist die Empfehlung, diesen Bericht
nunmehr über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
dem Internationalen Strafgerichtshof vorzulegen. Dieses
Ansinnen an die Bundesregierung ist offensichtlich lediglich als Schaufensterantrag gedacht. Sie wissen selber, dass der Sicherheitsrat einer solchen Empfehlung
nicht folgen würde. Eine solche Empfehlung hätte verheerende Wirkungen für die Palästinenser,
({1})
die gerade eine Versöhnung zwischen der Hamas und der
Fatah vorantreiben. Es hätte auch eine verheerende Wirkung auf das Verhältnis Deutschlands zu Israel, das auch
nach 65 Jahren noch verletzlich ist.
Ich sage Ihnen: Sie sind nicht die Einzigen hier im
Hause, die sich gegen ein allgemeines Klima der Straflosigkeit in internationalen Beziehungen wenden. Sie sind
nicht die Einzigen hier im Hause, die sich einer Legitimierung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit widersetzen. Aber was wir nicht
wollen, ist, dass Sie sich auf eine solch unverhältnismäßige Art dieses Goldstone-Berichts lediglich bedienen,
um nach Möglichkeit eine völkerstrafrechtliche Anklage
der israelischen Seite zu erreichen.
Wir sehen einige gute Ansätze in Ihrem Antrag. Deswegen werden wir ihn auch nicht ablehnen. So, wie Sie
ihn geschrieben haben, können und werden wir ihm aber
auch nicht zustimmen.
({2})
Vielen Dank, Herr Kollege Montag.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel „Überweisung des Goldstone-Berichtes an
den Internationalen Strafgerichtshof durch den UN-Sicherheitsrat“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7532, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6339 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Fraktion der Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für einen
Gerichtsstand bei besonderer Auslandsverwendung der Bundeswehr
- Drucksache 17/9694 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({0})-
Auswärtiger Ausschuss-
Verteidigungsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Sie sind damit einverstanden. Die Namen der Kollegin-
nen und Kollegen liegen mir vor.1)
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent-
wurf auf Drucksache 17/9694 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 3
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verantwortung für die entwicklungspolitische
Dimension der EU-Fischereipolitik übernehmen
- Drucksachen 17/9399, 17/9714 Berichterstattung:Abgeordnete Helmut HeiderichDr. Sascha RaabeHarald LeibrechtNiema MovassatThilo Hoppe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Helmut
Heiderich. Bitte schön, Kollege Helmut Heiderich.
({2})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der
vorliegende Antrag verweist zu Recht darauf, dass Ernährung nicht nur von der Bodenoberfläche, sondern
auch aus dem Wasser kommend nachhaltig gesichert
werden muss. Es wird häufig übersehen, dass die Menschen vor allem in Entwicklungsregionen, insbesondere
auf der Südseite des Globus, elementar auf die Versorgung aus dem Meer angewiesen sind. Die Fischerei bildet somit einen zentralen Bestandteil der Ernährung der
Bevölkerung in diesen Ländern. Aber auch in den Industriestaaten ist der Konsum von Fisch nicht nur sehr empfohlen, sondern unverzichtbar. Weltweit ist insofern seit
Jahren ein steigender Fischkonsum zu verzeichnen. Die
Folge ist, dass trotz aller Bemühungen immer noch mehr
Fische gefangen werden, als nachwachsen können. Das
heißt, die Fischbestände werden weiter dezimiert.
In Zahlen gesprochen reden wir davon, dass drei Viertel der heute genutzten Fischbestände bis an ihre Grenzen ausgebeutet oder bereits überfischt sind.
Die FAO hat nachgerechnet und geht davon aus, dass
von den weltweiten Speisefischbeständen 52 Prozent bis
an ihre Grenzen genutzt sind, 17 Prozent bereits überfischt sind und 7 Prozent bereits völlig erschöpft sind.
Wir begrüßen deshalb, dass sowohl die Vereinten Nationen als auch die Europäische Union als auch die Bundesregierung seit Jahren neue Wege suchen, um die Überfischung zu begrenzen.
Die Forderung der Antragsteller, die Festlegung von
Fangmengen auf der Basis von soliden wissenschaftlichen Empfehlungen und unter Einhaltung des Überschussprinzips zu regeln, ist allerdings schon längst ein
wichtiger Bestandteil aller Verhandlungen. Dies ist - darüber sind wir uns einig - ein richtiger Weg. Dieser muss
weiter fortgesetzt werden, um die Fischerei auf einer
nachhaltigen Basis betreiben zu können.
Die im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitik
der EU erlassenen Bestimmungen, an welche dieser Antrag der Grünen anknüpft, zielen gleichzeitig auf die Erhaltung der Fangmengen, auf die Förderung einer wettbewerbsfähigen Fischwirtschaft innerhalb der EU und
auf die Stabilisierung der Märkte für die Verbraucher.
Wenn man den umfangreichen und offensichtlich mit
Fleiß gestalteten Antrag der Grünen liest, dann hat man
allerdings den Eindruck, als wären sie die Ersten, die die
Problematik der internationalen Fischerei verstanden haben. Der Antrag ist in vielen Teilen aber doch eine Wiederholung bereits formulierter Ziele und bisheriger Maßnahmen. Auf der anderen Seite - das macht es uns nicht
möglich, dem Antrag zuzustimmen - stellt er einige falsche Behauptungen auf bzw. zieht er falsche Schlussfolgerungen.
Zum Beispiel ist die Behauptung der Antragsteller,
die EU-Fangflotte fische vor der Küste Afrikas ohne
substanziell überprüfbare Fangbeschränkungen, nicht
akzeptabel. Die EU selbst stellt fest und verweist auf
Nachfrage deutlich darauf, dass die EU-Fangflotte vor
der Küste Afrikas verpflichtet ist, sich ausschließlich an
die im Rahmen der EU-Abkommen festgelegten Fangmengen zu halten, welche wiederum - auch das steht im
Antrag - durch wissenschaftliche Analyse in Höhe und
Menge festgelegt und vorgegeben seien.
Auch die Behauptung der Antragsteller, durch finanzielle Förderung aus den EU-Kassen werde das Fangpotenzial der Fischereifahrzeuge erhöht, trifft so nicht zu.
Die Förderung der EU, so wird versichert, dient nur der
Selektivität des Fangs, das heißt der Verringerung des Gesamtfangs, der Verbesserung der Arbeitsbedingungen an
Bord, der Hygiene, der Erhöhung der Produktqualität und
der Energieeffizienz der Fangfahrzeuge. Das alles sind
förderbare Maßnahmen, die sinnvoll sind und deswegen
vom Antragsteller auch nicht kritisiert werden sollten.
({0})
Ebenso sind die Forderungen nach Menschenrechten
und Demokratiestrukturen bereits in der Kommissionsmitteilung enthalten und werden auch in den Ratsschlussfolgerungen entsprechend aufgeführt.
Wenn wir die Dinge noch einmal insgesamt betrachten, so stellen wir fest, dass wir den Teufelskreis von
Überfischung und effizientem Wirtschaften nur durchbrechen können, wenn wir mit internationaler Kooperation entsprechende Beschlüsse fassen und Veränderungen
herbeiführen. Hierzu haben die Vereinten Nationen seit
2003 jährliche Resolutionen über nachhaltige Fischerei
verabschiedet, und sie setzen sich insbesondere gegen die
schädlichen Wirkungen der sogenannten - dieses Wort ist
besonders interessant - Grundschleppnetzfischerei ein.
Der Fischereiausschuss der Vereinten Nationen hat
immer wieder fischereipolitische Empfehlungen an die
Regierungen und an die NGOs gerichtet, um insbesondere dieser Thematik zu begegnen. Allerdings - das
müssen wir konzedieren - sind innerhalb der Europäischen Union nach wie vor unterschiedliche Auffassungen der Mitgliedsländer erkennbar. Deswegen haben wir
auch einige Probleme wegen der Geschwindigkeit der
Veränderung und des Umfangs der zu treffenden Maßnahmen.
Ich will nur noch zwei oder drei kurze Bemerkungen
machen. Von besonderer Bedeutung sind die Fischereiabkommen mit den Nicht-EU-Ländern und die Verhandlungen innerhalb internationaler Fischereiorganisationen, damit wir auch über den Einzugsbereich der EU
hinaus zu solchen Abkommen gelangen, die in die Richtung wirken, wie sie von mir eben genannt worden ist
und wie sie auch von den Antragstellern gefordert wird.
In dem Antrag der Grünen wird auch behauptet, die
Hochseeflotte sei hoch subventioniert. Auch das trifft
nicht zu. Insofern können wir den Antrag auch in diesem
Punkt nicht unterstützen. Gleiches gilt für die Forderung,
man solle eine zusätzliche Energiesteuer auf Schiffsdiesel einführen. Dies wäre eine Benachteiligung der gesamten Fischerei gegenüber anderen Wirtschaftszweigen. Es ist ausdrücklich darauf hingewiesen worden,
dass diese Steuerbefreiung von Schiffsdiesel keine Regelung auf deutscher oder EU-Ebene ist, sondern dass
das eine Regelung auf internationaler Ebene ist. Insofern
wäre die EU-Fischerei benachteiligt, wenn man dem Antrag der Grünen folgen würde.
Dass immer noch zu viele Schiffe unter falscher
Flagge segeln, sehen auch wir als ein Problem. An diesen Fällen muss weiter intensiv gearbeitet werden.
Letzter Punkt. Mit den Antragstellern stimmen wir
darin überein, dass bei internationalen Verhandlungen
wie jetzt bei Rio+20 die Auswirkungen der Überfischung auf die biologische Vielfalt des Meeres nicht nur
diskutiert werden müssen, sondern dass man auch in diesen Bereichen endlich zu verbindlichen Richtlinien und
Ergebnissen kommen muss.
Es gibt eine Reihe guter Ansätze bei den genannten
Punkten. Es wäre zu überlegen, ob man zur Beförderung
dieser Thematik nicht einen gemeinsamen Antrag aller
Fraktionen auf den Weg bringen sollte. Der vorliegende
Antrag ist wegen der von mir genannten Punkte für uns
nicht zustimmungsfähig, und wir müssen ihn deswegen
ablehnen.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Kollege Helmut Heiderich. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Dr. Sascha Raabe. Bitte
schön, Kollege Dr. Sascha Raabe.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Heiderich, Sie haben als Vorredner
zum Schluss gesagt, dass wir hier einen gemeinsamen
Antrag machen sollten. In Ihrer Rede haben Sie aber in
einer unglaublichen Art und Weise die aktuellen Zustände schöngeredet und erklärt, im Antrag der Grünen
sei doch alles überzogen und es sei doch alles nicht so
schlimm. Dazu kann ich nur sagen: Machen Sie einmal
die Augen auf! Schauen Sie sich einmal an, in welcher
Armut die Fischer mittlerweile leben und wie wir den
Menschen dort die Meere leer fischen, was zu leeren
Tellern führt! Daher können wir mit Ihnen bestimmt
keinen gemeinsamen Antrag machen, Herr Kollege
Heiderich.
Ich sage an die Adresse der Kollegen von den Grünen: Dies ist ein guter Antrag, und er kommt zum rechten Zeitpunkt; denn die Reform der Fischereipolitik steht
jetzt an. Diese Politik muss dringend verändert werden.
Wenn der Kollege Heiderich sagt, in dem Antrag der
Grünen würde zum Beispiel nicht stimmen, dass die
Fangflotten hoch subventioniert seien, und das sei alles
nicht so, dann kann ich nur sagen: Herr Kollege von der
CDU, wenn Sie der Opposition nicht glauben, dann
führe ich einmal an, was der Europäische Rechnungshof
zum Thema EU-Fischereipolitik sagt. Er kommt zu dem
Schluss, dass die EU-Fischereipolitik - mit Erlaubnis
des Präsidenten zitiere ich - ihre Ziele komplett verfehlt
habe. Die EU-Kommission stellt in ihrem Grünbuch dieser Politik eine Bankrotterklärung aus. Dort heißt es: Exzessive Subventionierung, ineffektive Kontrollen und
unzureichender politischer Wille haben zu Überkapazitäten und einer dramatischen Überfischung geführt.
({0})
In dem aktuellen Papier der Kommission heißt es: Wenn
wir - wohlgemerkt: die EU-Kommission - jetzt nicht
handeln, wird der Teufelskreis weitergehen, der zu
dieser schlechten ökonomischen, sozialen und ökologischen Performance geführt hat. So sieht es die EU-Kommission. Das müsste doch auch die CDU/CSU zum Umdenken bewegen.
({1})
Es ist höchste Zeit für so ein Umdenken. Die Veräußerung der Fangquoten an die großen Flotten ist für afrikanische Fischer ein Riesenproblem. Ein einziger dieser
sogenannten Megatrawler kann bis zu 200 000 Kilogramm Fisch pro Tag fischen. Dafür müssten 50 einheimische Fischer in ihren kleinen Booten mehr als ein Jahr
unterwegs sein. Das zeigt die Dimensionen, um die es
geht.
Wir haben die schlimmen Beispiele vor Augen. Natürlich ist die aktuelle Situation der Piraterie in Somalia
nicht nur ein Problem leer gefischter Fischgründe; aber
die Ursache liegt darin. Denn auch europäische Fangflotten haben dort die Meere leer gefischt, und dann haben die Fischer irgendwann gesagt: Wir wollen wenigstens eine Art Zoll dafür haben, wenn wir schon unsere
Arbeit verlieren. Heute lebt die ganze Entführungsindustrie - die durch nichts zu rechtfertigen ist - auch davon,
dass arbeitslose Fischer anders ihr Geld verdienen
müssen.
Deswegen ist es Unsinn, wenn wir erst mit Steuergeldern die europäischen Fangflotten subventionieren und
dann für viel Geld Militär dorthin schicken und das Leben unserer Soldaten riskieren. Wir müssen endlich zu
fairen Bedingungen für die Fischer auf der ganzen Welt
kommen.
({2})
Ich möchte Ihnen ein paar Zahlen nennen, weil der
Kollege Heiderich so tat, als wären es keine hohen Subventionen. Allein Mauretanien erhält jährlich 86 Millionen Euro aus Brüssel. Das ist mehr, als dieses Land an
Entwicklungshilfe erhält. Dabei gibt es oft das Problem,
dass das Geld nicht der Bevölkerung zugutekommt, sondern in dunklen Kanälen versickert. Da stinkt oft der
Fisch buchstäblich vom Kopf her. Deswegen brauchen
wir dort verbesserte Transparenzmechanismen.
Es ist auch gut, dass sich die EU-Kommission jetzt
auch für eine bessere Mittelverwendung in den Partnerländern einsetzt und der Antrag der Grünen das thematisiert. Denn wir dürfen nicht einfach dort mit Geld unser
Gewissen freikaufen, nach dem Motto „Wenn wir der
Regierung Geld geben, dann können wir hier alles leer
fischen, und dann wird alles gut“. Nein, wir müssen an
die Fischer statt an die Eliten denken. Wir sind es den
Menschen vor Ort schuldig, zu handeln, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({3})
Mit der Veräußerung der Fischereirechte geht in der
Regel auch ein Niedergang der fischverarbeitenden Industrie an Land einher. Denn der Fisch wird auf den
Fangschiffen selbst verarbeitet. Dann findet vor Ort
keine Wertschöpfung statt. Selbst wenn die europäischen
Reedereien immer wieder behaupten, ein großer Teil der
Fische würde dort wieder verkauft werden, muss man
auch sehen, dass der Fisch, den die Megatrawler abfischen, zu Dumpingpreisen auf die lokalen Märkte
kommt und der Kleinfischer, der noch irgendwo ein paar
Fische findet, diese nicht mehr zu auskömmlichen Preisen loswird, sodass wir hier doppelt schädigend wirken.
Deswegen ist es auch gut, dass in dem Antrag die
Wertschöpfung an Land betont wird. Das sollten wir alle
unterstützen, statt eine solche Schönfärberei wie die
CDU/CSU zu betreiben.
Wir haben die Hoffnung, dass die EU-Kommission
bei der Reform der Abkommen in stärkerem Maße Menschenrechtsklauseln verankern will und dass durch eine
Ausschließlichkeitsklausel geregelt wird, dass die EUSchiffe nicht außerhalb der Abkommen, die sie mit den
Ländern haben, noch in anderen Gewässern fischen.
Wir wollen auch, dass der Fischereisektor in den Partnerländern von den Entwicklungsgeldern entkoppelt
wird, sodass nicht gesagt werden kann: Wir zahlen euch
Geld für die Fischereirechte, und wenn ihr uns die nicht
einräumt, dann kriegt ihr keine Entwicklungsgelder.
Das sind alles sehr wichtige Maßnahmen. Wenn man
berücksichtigt, dass die Europäische Union dafür zuständig ist, dann ist es gut, dass wir heute als Entwicklungspolitikerinnen und -politiker darüber reden. Denn das ist
Kohärenz. Wir müssen uns einmischen, auch in die Handelspolitik, die Landwirtschaftspolitik und die Fischereipolitik.
Das ist der größte Vorwurf, den ich auch dem Ministerium mache. Wir haben es neulich im Ausschuss bei
der FDP erlebt: Als es um die Frage des öffentlichen Beschaffungswesens ging, hat der Kollege von der FDP im
Ausschuss gesagt: Das Thema hat uns nicht zu interessieren. Dafür ist der Wirtschaftsausschuss zuständig. So
geht es eben nicht. Ich erwarte von unserem Entwicklungsminister, dass er sich in Fragen des Welthandels
einmischt. Wo ist die Stimme des Entwicklungsministers
zum Beispiel bei dem neuen Fischereiabkommen? Im
Rahmen der Kohärenz muss man auch mit den Kollegen
im Kabinett reden, die für die Ressorts Wirtschaft, Handel, Fischerei und Landwirtschaft zuständig sind. Das
kann der Kollege Niebel aber nicht machen, weil er so
gut wie nie bei den Kabinettssitzungen anwesend ist.
Wir haben in einer der letzten Fragestunden danach gefragt, wie oft der Minister im Kabinett einen Tagesordnungspunkt aufgesetzt hat. Wissen Sie, wie oft Minister
Niebel laut Statistik einen Tagesordnungspunkt im Kabinett in den ganzen Jahren aufgesetzt hat? Kein einziges
Mal! Der Außenminister Westerwelle hat bisher 41 Tagesordnungspunkte aufgesetzt, Minister Niebel nie!
Minister Niebel ist Minister „Nie da“.
({4})
Auch im Parlament ist er so gut wie nie anwesend. Seine
Staatssekretärin ist zurzeit auch nicht anwesend. Er
nimmt auch so gut wie nie an den Kabinettssitzungen
teil, setzt nie einen Tagesordnungspunkt auf und kümmert sich nicht um die Fragen der globalen Strukturpolitik, sondern rennt im Prinzip nur herum, um Außenwirtschaftsförderung zu betreiben.
({5})
Er sollte sich lieber um gerechte Wirtschafts- und Handelsbedingungen kümmern und nicht nur um Außenwirtschaftsförderung. Er sollte vor allem einmal da sein, zuhören und am Kabinettstisch für die ärmsten Menschen
streiten und nicht nur für die Interessen deutscher Unternehmen oder deutscher Reedereien.
In diesem Sinne werden wir dem Antrag der Grünen
zustimmen.
({6})
Vielen Dank, Kollege Dr. Sascha Raabe. - Nächste
Rednerin für die Fraktion der FPD ist unsere Kollegin
Dr. Christel Happach-Kasan. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Happach-Kasan.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist offensichtlich: Wenn man von Fischereipolitik keine
Ahnung hat, dann reibt man sich an Herrn Minister
Niebel auf. Das ist meines Erachtens ein billiges Spiel.
({0})
Sie müssen einfach zur Kenntnis nehmen, welch einen
guten Job Minister Niebel macht, insbesondere wenn es
um die Ernährungssicherung geht.
({1})
Schauen Sie sich doch einmal an, was er für die ländlichen Räume geleistet hat! Er hat die dort getätigten Investitionen auf 10 Millionen Euro angehoben und damit
verdreifacht. Er macht einen guten Job, und das hilft den
Menschen sehr viel mehr, als wenn er hier sitzen und
beispielsweise Ihrer Rede zuhören würde, die erkennbar
an der Sache vorbeigegangen ist; denn es geht um die
Ernährungssicherung in wenig entwickelten Ländern.
Wir brauchen uns gar nicht so viel zu streiten. Wir
sind doch einer Meinung, dass die EU-Fischereipolitik
ihr Ziel verfehlt hat. Deswegen wird sie novelliert; das
ist richtig. Ich bezweifle allerdings sehr, dass der Rechnungshof der EU aus eigener Kraft wirklich in der Lage
ist, zu beurteilen, in welchen Gewässern eine Überfischung vorliegt und in welchen nicht. Ich glaube, das
kann der Rechnungshof nicht beurteilen.
({2})
Er hat sich schlicht und ergreifend auf das berufen, was
er irgendwo einmal gelesen hat. Damit kommen wir
nicht weiter.
Offensichtlich wissen Sie auch nicht, dass es zumindest unter den fischereipolitischen Sprechern eine gemeinsame Basis für die Reform der Fischereipolitik gibt.
Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass Ihre Kollegin Frau Rodust aus Schleswig-Holstein, meine ehemalige Landtagskollegin, bei der Erarbeitung des Vorschlags der Kommission einen ausgesprochen guten Job
macht. Warum spucken Sie ihr in die Suppe? Was ist das
denn für eine Solidarität unter Sozialdemokraten? Das
ist doch Murks.
({3})
Wir wissen, dass die Europäische Union als weltgrößter Importeur von Fischereierzeugnissen eine besondere
Verantwortung für die nachhaltige Nutzung eigener wie
drittstaatlicher Meeresressourcen hat; darin sind wir uns
einig. Wir wissen aber auch, dass die Europäische Union
nicht in der Lage ist, den Bedarf aus eigenen Gewässern
zu decken. Wir importieren, gemessen am Wert, etwa
24 Prozent der weltweit produzierten Fischerzeugnisse.
Bislang wurde nicht erwähnt, dass das auch Produkte
aus der Aquakultur einschließt. Von der marinen Fischproduktion in Höhe von knapp 150 Millionen Tonnen
stammen allein 20 Prozent aus der Aquakultur. Jegliche
Steigerung der Produktion geht auf die Aquakultur zurück. Die EU hat mit 15 Drittstaaten sogenannte partnerschaftliche Fischereiabkommen geschlossen, um von
diesen Staaten ungenutzte Fischbestände außerhalb der
europäischen Gewässer bewirtschaften zu können. Die
Vergütung erfolgt ausdrücklich mit dem Hinweis, dass
die Mittel von den Ländern zur Entwicklung der eigenen
regionalen Fischereiorganisationen und Küstengebieten
genutzt werden sollen.
({4})
Die EU ist sich also ihrer Verantwortung sehr wohl bewusst.
Die Europäische Kommission hat in ihrer Mitteilung
über die externe Dimension der Gemeinsamen Fischereipolitik aus dem letzten Jahr bereits dargelegt, dass sie
sich noch stärker für den Erhalt und die nachhaltige Nutzung der Fischbestände einsetzen will. Die Kommission
hat eine Reihe von Themen genannt, die im Rahmen der
zukünftigen GFP angemessen behandelt werden müssen.
Das allgemeine Menschenrecht auf Nahrung muss in der
europäischen Fischereipolitik ein wichtiger Schwerpunkt sein und verstärkt beachtet werden. Darin sind wir
uns alle einig.
({5})
Aber ich muss Ihnen auch sagen: Die Darstellung der
weltweiten Situation ist im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen trotz einiger richtiger Passagen insgesamt nicht
gelungen. Ich sagte schon: Das Thema Aquakultur hat
eine steigende Bedeutung. Es kommt im Antrag gar
nicht vor.
Dass in diesem Antrag ein direkter Zusammenhang
zwischen europäischen Fischern und der Piraterie am
Horn von Afrika hergestellt wird, ja europäischen Fischern Zusammenarbeit mit mafiösen Strukturen nachgesagt wird, entbehrt jeglicher Realität. Für die illegale
Fischerei in dieser Region waren nicht europäische
Fischfangunternehmen verantwortlich. Beschäftigen Sie
sich doch bitte einmal damit, was beispielsweise Taiwan
und China in dieser Region machen.
({6})
Beschäftigen Sie sich mit deren Methoden. Dann wissen
Sie, was dort wirklich los ist. Die Diffamierung europäischer Fischereibetriebe ist weder zielführend noch richtig. Der somalischen Bevölkerung kann nur durch den
Aufbau einer handlungsfähigen Regierung und sicherer
Lebensverhältnisse geholfen werden und nicht durch die
EU-Fischereipolitik. Aus diesem Grund hat die deutsche
Bundesregierung bei der Londoner Somalia-Konferenz
im Februar 2012 weitere 6 Millionen Euro für den WieDr. Christel Happach-Kasan
deraufbau des Landes zugesagt. Das ist eine Politik, die
den Menschen in Somalia tatsächlich hilft.
({7})
Die illegale Fischerei vor Somalia macht vielmehr
zwei grundlegende Probleme deutlich. Diese hängen mit
einer übertrieben regulierten und bevormundenden Fischereipolitik gegenüber weniger entwickelten Drittstaaten zusammen. Erstens führen überzogene Ansprüche
von unserer Seite dazu, dass die entsprechenden Staaten
Verträge über die Nutzung ihrer Ressourcen lieber mit
Staaten abschließen, die mehr Geld und weniger Skrupel
haben. Damit bremsen wir genau die Politik der Europäischen Kommission aus, dass die Entgelte für die Nutzung von Fischereigewässern auch für den Aufbau der
eigenen Fischereiorganisation und für die Unterstützung
der eigenen Bevölkerung genutzt werden. Das führt
dazu, dass wir den Chinesen das Feld überlassen. Ich
halte das für keine gute Sache.
({8})
Wir müssen zweitens feststellen, dass diese Konkurrenz um so größer ist, je schwächer die Good Governance in der jeweiligen Region ist. Wir alle wissen aus
allen entwicklungspolitischen Diskussionen, dass gute
Regierungsführung der Schlüssel dafür ist, dass in diesen Ländern tatsächlich für die einheimische Bevölkerung mehr bewirkt wird, als es im Augenblick der Fall
ist. Deswegen müssen wir darauf setzen. Wir sollten
nicht glauben, dass wir mit der Gemeinsamen Fischereipolitik der Europäischen Union die Ernährungsprobleme
dieser Erde lösen können. Das können wir tatsächlich
nicht.
Aus entwicklungs- und fischereipolitischer Perspektive werden durchaus einige sinnvolle Forderungen gestellt. Aber von diesen sind in den Vorschlägen der
Kommission zur Reform der GFP bereits sehr viele Forderungen enthalten. Wir werden in unserem gemeinsamen Antrag alle die sinnvollen Forderungen aufnehmen,
die zum Ziel führen und die das Instrument der Gemeinsamen Fischereipolitik nicht überfordern; denn wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass wir mit dem
Instrument der Gemeinsamen Fischereipolitik nicht alle
Probleme dieser Erde lösen können.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Happach-Kasan. Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Frau Dr. Kirsten Tackmann. Bitte schön, Frau
Kollegin Dr. Kirsten Tackmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Die EU-Hochseefischerei hat wirklich eine
große Bedeutung. Nur etwa 30 Prozent der in der EU
verkauften Fische werden tatsächlich auch in EU-Gewässern gefischt. 70 Prozent werden importiert. Die
Hälfte dieser Importe stammt aus Fischgründen in
Afrika, in der Karibik oder im Pazifik. Deshalb hat die
EU eine große Verantwortung für die globalen Fischbestände genauso wie für die Lebensbedingungen der
Menschen vor Ort.
({0})
Die Fangerlaubnis wird von Verträgen bestimmt, die
zwischen der EU und den Ländern abgeschlossen werden, in denen die Fischgründe liegen. Es gibt in den partnerschaftlichen Fischereiabkommen einen Kerngedanken: Von der gesamten Fangmenge dürfen die EUSchiffe nur die Menge Fisch fangen, die die betreffenden
Staaten selbst nicht verbrauchen. Das Problem aber ist,
dass die Gesamtmenge und auch der Überschuss nicht
verifizierbar sind, dass die Daten nicht vorliegen oder
nicht berücksichtigt werden. Die Folge ist logischerweise eine Überfischung.
Nach Schätzung der UN-Organisation für Ernährung
und Landwirtschaft, FAO, gilt zum Beispiel für fast alle
kommerziell genutzten Fischbestände in den Gewässern
vor der westafrikanischen Küste diese Überfischung.
Die Verlierer dieser Überfischung sind zuallererst die regionale Fischerei und die Bevölkerung vor Ort. Sie bezahlen den Raubbau der reichen Länder mit noch mehr
Armut. Das hat wiederum für uns Folgen.
Deswegen finde ich es gut, dass im Antrag der Grünen auch Bezug darauf genommen wird, dass die Piraterie natürlich etwas mit sinkenden Fischerträgen der lokalen Fischerei zu tun hat.
Die Linke ist lange gescholten und attackiert worden,
wenn sie darauf verwiesen hat. Dabei haben wir nie behauptet, dass die Überfischung allein oder gar zwangsläufig zur Armut führt. Aber sie trägt natürlich dazu bei.
Sagen wir es doch einmal deutlich: Wenn die EU vor
Afrika so viel Fisch fängt, dass die afrikanischen Fischerinnen und Fischer nicht mehr vom Fischfang leben können, dann haben wir etwas damit zu tun, dass sie in Armut leben; dann tragen wir dafür eine Mitverantwortung.
({1})
Deshalb sind Militäreinsätze wie Atalanta eben keine
Lösung der Probleme, sondern verschärfen sie weiter.
Daher sollten wir das Geld nicht für Militäreinsätze verwenden, sondern es nehmen, um die Lebensbedingungen
der Menschen vor Ort zu verbessern, und zwar wirklich
spürbar.
Ein weiterer Beitrag wäre es, wenigstens die Fischereiabkommen fair zu gestalten. Aus Sicht der Linken
müssten dazu folgende Kriterien erfüllt werden:
Erstens. Die EU-Fischerei darf nur die real existierenden Überschüsse abfischen.
Zweitens. Die Verarbeitung der Fänge muss wenigstens zum Teil vor Ort passieren, damit dort auch Einkommensmöglichkeiten geschaffen werden.
Drittens. Die Abkommen müssen den Auf- und Ausbau der regionalen Fischerei und der küstennahen
Fischereiwirtschaft unterstützen.
Viertens. Die finanzielle Nutzung der Fangrechte
muss den Küstenregionen zugutekommen und darf nicht
in Staatskassen oder in Taschen der Eliten versinken.
({2})
Fünftens. Die Abkommen müssen - das ist wichtig menschenrechtlich und völkerrechtlich unbedenklich
sein. Deswegen kommen aus unserer Sicht Fischereiabkommen mit Marokko zu westsahrauischen Fanggründen nicht infrage, weil die Westsahara widerrechtlich
von Marokko besetzt ist.
({3})
Im Antrag der Grünen finden sich auch weitere
fischereipolitische Vorschläge, die uns wichtig sind:
Erstens. Die entwicklungspolitische Unterstützung
von Staaten darf selbstverständlich nicht an Bedingungen hinsichtlich der Abschließung von Abkommen mit
der EU geknüpft sein.
Zweitens. Die maritimen Wissenschaften müssen
dringend unterstützt werden. Selbst die EU erklärt, sie
habe zu wenig Daten, um einschätzen zu können, wie
viel Fisch überhaupt vorhanden ist.
Drittens. Die Abkommen mit Dritten sehen wir ebenfalls sehr kritisch. Es kann natürlich nicht sein, dass im
gleichen Fischgrund sowohl von der EU als auch zum
Beispiel von koreanischen Booten gefischt wird, die entsprechende Fischmenge in den Verträgen aber nicht berücksichtigt wird.
Viertens. Die EU-Fangflotte nutzt die Fischereiabkommen, die zum großen Teil mit Steuergeldern finanziert sind. Wir sind der Meinung, dass das zukünftig
aufhören muss. Die EU-Fangflotte muss an der Finanzierung der Abkommen beteiligt werden. Ich denke, dass
man dann auf einem richtigen Weg ist.
Wir werden selbstverständlich dem Antrag der Grünen zustimmen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Frau Kollegin Tackmann. - Nächster
Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Thilo Hoppe. Bitte schön, Kollege Thilo Hoppe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für
mehr als 1 Milliarde Menschen in den Entwicklungsländern ist Fisch eine lebenswichtige Proteinquelle, auf die
sie täglich angewiesen sind; für uns ist er nur eine gesunde Nahrungsergänzung. Schon heute bestreiten weltweit 500 Millionen Menschen ihren Lebensunterhalt
direkt oder indirekt von den Einnahmen aus dem Fischereisektor.
Vor diesem Hintergrund sollte es eigentlich das
Hauptanliegen der EU sein, den Aufbau einer nachhaltigen Fischerei in den Entwicklungsländern zu unterstützen und zu fördern, da hier auch ein erhebliches Potenzial liegt, um die Millenniumsentwicklungsziele zu
erreichen.
Umso grotesker ist es, dass europäische Fangflotten
bereits seit Jahrzehnten die Fischgründe vor den Küsten
Afrikas und im Pazifik ausplündern und dabei nach wie
vor mit Steuergeldern kräftig unterstützt werden. Ich
kann die Zahlen auch konkret nennen - sie sind recherchiert -: 120 Millionen Euro pro Jahr zahlt die EU allein
für den Zugang zu den Fischgründen von Entwicklungsländern. Die davon profitierenden Reeder werden nur
mit 10 Prozent daran beteiligt. Darüber hinaus profitieren die Reeder - wie alle; das stimmt - von der Steuerbefreiung für Schiffsdiesel.
({0})
Wie absurd und zerstörerisch die EU-Subventionspolitik ist, zeigt sich daran, dass der größte Teil der vor
Afrika gefangenen Fischmenge zwar in Europa verarbeitet wird, aber dann wieder zu Schleuderpreisen - EUSubventionen machen es möglich - auf den afrikanischen Markt zurückgeht. Im Klartext: EU-Steuerzahler
tragen 90 Prozent der Kosten dafür, dass europäische
Privatunternehmen zur Überfischung der afrikanischen
Gewässer beitragen. Den afrikanischen Kleinfischern
wird der Fisch vor der Nase weggefischt. Sie können
auch die wenigen Reste aufgrund der Dumpingkonkurrenz kaum noch verkaufen.
Jetzt haben wir über die EU-Fischereiverträge gesprochen. Ich selber habe an einer Konferenz in Accra teilgenommen. Dort hat der damalige Bundespräsident Horst
Köhler einige dieser Verträge öffentlich als Schandverträge gegeißelt.
({1})
Wir müssen anerkennen, dass jetzt ein etwas neuer Wind
in der EU weht. Zum ersten Mal hat die EU jetzt zugegeben, dass ihre bisherige Fischereipolitik zu schweren
ökologischen und sozialen Verwerfungen beiträgt. Es
liegen in der Tat Vorschläge auf dem Tisch, die erst einmal in die richtige Richtung weisen. Trotzdem fehlt eine
ganze Menge, und das ist in der Diskussion zu kurz gekommen.
Das Problem liegt darin, dass nur ein Teil der europäischen Fangschiffe im Rahmen dieser Fischereiverträge
unterwegs ist. Viele Unternehmen haben längst private
Verträge mit einigen Küstenländern abgeschlossen und
werden nicht erfasst. Wiederum andere Schiffe sind unter fremden Flaggen unterwegs. Notwendig ist also im
Prinzip nicht nur, dass die Fischereiverträge in Richtung
mehr Sozialverträglichkeit und Nachhaltigkeit reforThilo Hoppe
miert werden, sondern auch - das fordern wir mit diesem
Antrag -, dass die EU ernsthafte Anstrengungen unternimmt, alles zu kontrollieren, wo Europa mit im Spiel
ist; denn nur mit neueren und besseren Fischereiverträgen ist nicht viel erreicht.
Wir freuen uns, dass alle drei Oppositionsfraktionen
diesem eigentlich sehr sachlich begründeten und differenzierten Antrag zustimmen. Ich habe in einigen Wortbeiträgen der Koalition durchaus Verständnis gehört. Ein
Einvernehmen ist auch notwendig; denn momentan
macht die Lobby noch kräftig Druck und versucht, die
relativ guten Vorschläge der EU-Kommission zu verwässern. Daher wünsche ich mir von der Bundesregierung, dass sie diesem Druck der Lobby nicht nachgibt,
({2})
sondern eher die guten Vorschläge der EU unterstützt. Je
stärker im allgemeinen fraktionsübergreifenden Antrag
zur Fischereipolitik die entwicklungspolitische Dimension betont wird - dazu fordere ich Sie auf, liebe Kolleginnen und Kollegen -, desto besser; dann können wir
vielleicht doch noch ein gutes Signal aus dem Parlament
senden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank, Kollege Thilo Hoppe. - Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Verantwortung für die entwick-
lungspolitische Dimension der EU-Fischereipolitik über-
nehmen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/9714, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9399
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das
sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? -
Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Hahn,
Albert Rupprecht ({1}), Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann
({2}), Dr. Lutz Knopek, Dr. Peter Röhlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Aktionsplan Nanotechnologie 2015 gezielt weiterentwickeln
- Drucksachen 17/7184, 17/9771 Berichterstattung:Abgeordnete Florian HahnRené RöspelDr. Martin Neumann ({3})-
Dr. Petra Sitte-
Krista Sager
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Birgitt Bender, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsatz von Nanosilber in verbrauchernahen Produkten zum Schutz von Mensch
und Umwelt stoppen
- Drucksachen 17/5917, 17/3689, 17/8821 Berichterstattung:Abgeordnete Mechthild HeilRita Schwarzelühr-SutterDr. Erik SchweickertKarin BinderNicole Maisch
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir vor. Ich verzichte darauf, sie im Einzelnen vorzulesen.
Vor dem Hintergrund unserer globalen Herausforderungen bietet die Nanotechnologie als Schlüsseltechnologie viele neue Chancen in den Bereichen Klima, Energie, Gesundheit, Ernährung, Mobilität, Sicherheit und
Kommunikation. Die Nanotechnologie hat unseren Alltag revolutioniert. Durch die speziellen Eigenschaften
der Nanostrukturen ergeben sich neue funktionelle Eigenschaften für Industrie, Kosmetika, neue Diagnostika
und Therapeutika. Nanotechnologie ermöglicht die
Schaffung von neuen Werkstoffen für effiziente Energiespeicherung, neue innovative Speichersysteme, Klimaund Naturschutz. Auch im Bereich Medizin bietet Nanotechnologie neue Chancen. So können besser auf den
Patienten zugeschnittene Implantate und Prothesen entwickelt werden, die eine bessere Funktionalität und Verträglichkeit aufweisen.
Die Bundesregierung begleitet diese wichtigen technologischen Entwicklungen durch die gezielte Förderung von Studien, Verbraucherbefragungen und Dialogaktivitäten zwischen den gesellschaftlichen Gruppen.
Wichtig ist dabei, eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung zu erzielen. Dafür muss sie mit sachgerechten Informationen versorgt werden. Der Dialog mit den Bür21604
gern hat nun auch schon Tradition. Das BMU führt zum
Beispiel sehr erfolgreich die Plattform Nano-Dialog,
und auch andere Projekte stoßen auf großes Interesse
seitens der Bevölkerung.
So haben wir die zentralen Punkte des Aktionsplans
Nanotechnologie 2015 mit unserem Antrag noch einmal
gestärkt. Für uns ist besonders wichtig, dass die Potenziale der Nanotechnologie bei Produktivitäts- und
Wachstumssteigerungen ausgeschöpft werden und
gleichzeitig der Nutzen für die Bevölkerung und der Verbraucherschutz betont werden. Es ist sehr wichtig, dass
wir durch konstante Aufklärung ein breites Verständnis
und auch Akzeptanz für das Thema schaffen.
Dass für die Bundesregierung das hohe Schutzniveau
von Mensch und Umwelt zentral ist, steht außer Frage.
Wir müssen verantwortungsbewusst mit der Nanotechnologie umgehen und vorausschauend handeln. Auf vielen Gebieten, wie zum Beispiel in der Werkstoff- und
Oberflächenverarbeitung, ist dies unbedenklicher und
einfacher als auf anderen. So gibt es einige Unsicherheit
im Bereich der Lebensmittel. Insgesamt befinden wir uns
jedoch auf einem richtigen Weg, und auf EU-Ebene besteht bereits eine Vielzahl an Regelwerken zu Nanomaterialien. Horizon 2020 greift so auch in drei von fünf Unterpunkten die Sicherheit, den Arbeitsschutz sowie die
Nachhaltigkeit von Nanotechnologie auf. Im Zusammenhang mit REACH wird derzeit in den entsprechenden
Gremien geprüft, ob eine weitere Anpassung notwendig
ist. Es ist ganz klar, dass sich die Bundesregierung hier
maßgeblich engagiert.
Für ein Moratorium, wie es in dem Antrag der Grünen verlangt wird, besteht momentan kein Anlass. Wir
haben schon ausreichend Zulassungspflichten im Bereich der Lebensmittel wie auch bei den Lebensmittelkontaktmaterialien und bei Bedarfsgegenständen. Es
gelten ganz einfach die allgemeinen lebensmittelrechtlichen Vorschriften. Auch Kosmetikhersteller sind verpflichtet, eine Bewertung der Sicherheit der Erzeugnisse
vorzunehmen. In diesem Bereich wird nun sogar eine
Notifizierungspflicht ab 2013 bestehen.
Grundsätzlich lässt sich sagen: Es dürfen - ob
Nanopartikel oder nicht - nur solche Produkte auf den
Markt gebracht werden, die sicher sind. Das gilt ganz
unabhängig von der Partikelgröße der eingesetzten Materialien oder Rohstoffe. „Nano“ bedeutet nicht automatisch eine Gefährdung, sondern weitere Parameter im
Zusammenspiel mit „Nano“ spielen eine Rolle. Deshalb
machen wir in unserem Antrag die sektorale Prüfung
stark. Nanoprodukte müssen sich im Produktrecht, im
Arzneimittelrecht oder auch im Chemikalienrecht bewähren. Eine spezielle Regelung für Nanomaterialien
halte ich nicht für sinnvoll und auch nicht für rechtlich
durchsetzbar. Dem Antrag der Grünen können wir deshalb auch nicht zustimmen.
Daran schließt sich nun auch direkt das Thema der
Erweiterung der Risikoforschung an. Die Bundesregierung hat im Rahmen des Aktionsplans einen Aufwuchs
der Mittel vorgesehen. Dies befürworten wir auch in unserem Antrag. Die Höhe der Mittel hängt jedoch von der
Exzellenz der eingereichten Projekte ab. Bei der Vergabe der Forschungsgelder ist die wissenschaftliche
Qualität ausschlaggebendes Kriterium.
Auch die Begleitforschung, die sich in Abgrenzung
von der Risikoforschung eher um gesellschaftsrelevante
Fragen wie die Akzeptanz in der Bevölkerung kümmert,
hat unter dieser Regierung eine Steigerung um 150 Prozent erfahren. Im Jahr 2011 bedeutet dies einen Zuwachs
auf 14 Millionen Euro.
Ich möchte zum Schluss nochmals betonen, dass die
Wettbewerbsfähigkeit am Standort Deutschland von
höchster Wichtigkeit für uns ist. In der Nanotechnologie
sehen wir ein immenses wirtschaftliches Potenzial:
Denn in Deutschland hängen schon heute mehr als
63 000 Arbeitsplätze von der Nanotechnologie ab.
Nicht nur die großen Unternehmen, sondern vor allem die KMU spielen im Bereich der Nanotechnologie
und der neuen Materialien inzwischen eine Schlüsselrolle im Innovationsprozess. Mit diversen Fördermaßnahmen verfolgt die Bundesregierung das Ziel, das
Innovationspotenzial der KMU im Bereich der Spitzenforschung zu stärken und sie für KMU attraktiver zu gestalten. Dies gelingt bisher auch schon sehr gut. So wurden in den letzten 20 Jahren zahlreiche kleine
Unternehmen aus der Taufe gehoben.
Als exportorientiertes, rohstoffarmes Land hängt
Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit an Zukunftsmärkten
wie der Nanotechnologie. Auf den Weltmärkten gibt es
kaum noch ein Hightechprodukt, bei dem keine nanotechnologischen Verfahren eingesetzt werden. Diese
Chance wollen wir wahrnehmen.
Zu Recht ist es parteiübergreifender Konsens, dass
die Nanotechnologie eine der wichtigsten Zukunftstechnologien ist. Sie ist wichtig für den Wirtschaftsstandort
Deutschland, für den Wohlstand unseres Landes und
nicht zuletzt für das Wohlergehen der Menschen. Die
Nanotechnologie kann zu enormen Fortschritten bei Gesundheit und Landwirtschaft, bei Energie- und Rohstoffeffizienz, bei Umwelt- und Klimaschutz und bei ziviler
Sicherheit beitragen.
Trotz der rasanten Entwicklung steckt die Nanotechnologie gegenwärtig noch in den Anfängen. Daraus ergibt sich - auch das konstatieren die Grünen zu Recht -,
dass es in diesem Bereich noch große Wissenslücken und
Forschungsbedarf gibt, nicht zuletzt hinsichtlich der Risikoabschätzungen und Sicherheitsprüfungen. Die Oppositionsparteien stellen aber in ihren Anträgen die Risiken unverhältnismäßig in den Vordergrund. Für sie
lauern überall Gefahren. Sie schüren die Angst der Verbraucher, und das nur aus einem einzigen Grund: Sie
wollen sich politisch profilieren. Statt die Verbraucherinnen und Verbraucher mit dieser Gespensterdebatte zu
verunsichern, sollten Sie sich erst einmal den Aktionsplan Nanotechnologie 2015 anschauen. Wir sind auf einem guten Weg, unsere Ziele zu erreichen.
Die christlich-liberale Koalition setzt sich für einen
nachhaltigen und verantwortungsbewussten Verbraucherschutz ein. Dazu gehört auch, dass wir UnsicherheiZu Protokoll gegebene Reden
ten und Ängste nicht unnötig schüren, nur um Schlagzeilen zu machen. Wir wissen um das enorme Potenzial der
Nanotechnologie in vielen Bereichen. Die Anwendungsbereiche reichen von intelligenten Verpackungen über
effizientere Energiespeicherungssysteme bis hin zur
Krebstherapie. Grundlage unseres Handelns ist aber
stets die Gesundheit und Sicherheit der Menschen und
der Umwelt. Das steht selbstverständlich für uns an erster Stelle. Wir brauchen keinen Antrag der Opposition,
um uns daran zu erinnern.
Wir wissen auch: Wie bei jeder neuen Technologie,
kann ein vorschneller Einsatz nanotechnologischer Verfahren mit Risiken für die Menschen und die Umwelt
verbunden sein. Deshalb setzen wir uns auch im Bereich
der Nanotechnologie für einen verantwortungsvollen
Verbraucherschutz ein:
Die Bundesregierung fördert die Forschung zur Bewertung und Reduktion möglicher Risiken. Im Jahr 2011
wurden circa 230 Millionen Euro für Forschungsförderung und Risikoanalyse sowie weitere circa 170 Millionen Euro für die Grundlagen- und Begleitforschung bereitgestellt.
Am 15. Mai startete ein Kooperationsprojekt der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA,
und der BASF mit einem Finanzvolumen von 5 Millionen Euro, in dem die Langzeitwirkungen von Nanomaterialen erforscht werden.
Produkte mit Nanomaterialien, mit denen Verbraucher und Berufstätige täglich in Kontakt kommen, werden durch ein besonderes Forschungsschwerpunktprogramm begleitet.
Studien und Analysen werden durch Einrichtungen
des Bundes mit Ressortforschungsaufgaben sowie durch
die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin,
BAuA, das Umweltbundeamt, UBA, das Bundesinstitut
für Risikobewertung, BfR, die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, BAM, und die PhysikalischTechnische Bundesanstalt, PTB, durchgeführt und koordiniert.
Noch mehr von dem, was Sie in Ihrem Antrag fordern,
haben wir bereits auf den Weg gebracht: Es gibt bereits
auf EU-Ebene umfangreiche Regelwerke, die auch die
Nanomaterialien mit umfassen. Es gibt bereits Kennzeichnungspflichten für Produkte mit Nanomaterialien
für kosmetische Mittel, Lebensmittel und Biozide. Die
Einführung eines branchenübergreifenden Nanoprodukteregisters befindet sich national wie auch auf europäischer Ebene schon seit längerem im Gespräch. Wir
wollen hier jedoch einen EU-weiten Ansatz. Momentan
werden die Grundlagen für eine europäische Nanodatenbank geprüft. Die EU-Kommission hat 2011 bereits eine Definition für Nanomaterialien vorgelegt, die
im Jahr 2014 überprüft werden soll.
Für das von den Grünen geforderte Moratorium in
Bezug auf das erstmalige Inverkehrbringen von verbrauchernahen und umweltoffenen Anwendungen von
Nanomaterialien besteht kein Anlass. Sie haben wohl an
dieser Stelle Ihres Antrags bereits vergessen, dass Sie im
ersten Satz die Nanotechnologie als Schlüsseltechnologie bezeichnet haben. Daraus folgt nun trotzdem: im
Zweifelsfall verbieten. Sie nennen das „Moratorium“,
also „Verbot mit Zulassungsvorbehalt“. Das heißt doch,
dass deutsche Unternehmen zunächst einmal die Forschungsergebnisse abwarten müssen, bis möglichst alle
Wissenslücken geschlossen sind. Das würde für dieses
Land schlicht den Ausstieg aus der Nanotechnologie bedeuten.
Das können wir uns nicht leisten. Deshalb ist ein weiterer Schwerpunkt des Aktionsplans Nanotechnologie
2015 die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im internationalen Vergleich, indem die kleinen
und mittelständischen Unternehmen, die 80 Prozent der
Nanotechnologieunternehmen ausmachen, beispielsweise mit dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand unterstützt werden.
Die Linke fordert in ihrem Antrag „Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen durchsetzen“, die Förderstruktur des Bundes im Bereich der Nanotechnologien neu auszurichten. Die aktuellen Zahlen entkräften
diese Forderung: Deutschland nimmt beim Fördervolumen im Nanotechnologiebereich im internationalen Vergleich den vierten Platz hinter den USA, Japan und
Russland ein. Bei der Risiko- und Begleitforschung steht
Deutschland sogar weltweit an erster Stelle. Deutschland ist also führend in der Risikoforschung im Bereich
der Nanotechnologie.
Es ist besonders wichtig, dass die Nanotechnologie
von der Bevölkerung akzeptiert wird. Dafür benötigt sie
sachgerechte Informationen, wie dies zum Beispiel
durch den Nanodialog oder die Internetseite www.nano
partikel.info gewährleistet wird. Durch gute und sachliche Informationen können Vorurteile abgebaut werden.
Ihr Antrag, der die Risiken in den Vordergrund stellt, bewirkt das Gegenteil.
Das Fazit lautet: Einmal mehr hinkt die Opposition
mit ihren Anträgen der Realität hinterher. Einmal mehr
verunsichern Anträge, die nicht um der Sache willen,
sondern um des Effektes willen gestellt wurden, die
Menschen. Wir wissen, dass die Nanotechnologie ein
großes Potenzial für gesellschaftlichen Fortschritt, Gesundheit und Wohlstand bietet. Wir wissen, dass der
Schutz von Mensch und Umwelt im Bereich der Nanotechnologie an erster Stelle steht. Ich kann Ihnen versichern: Wir sorgen für wirksamen und klugen Verbraucherschutz.
Zum wiederholten Male diskutieren wir in diesem
Hause über die Nanotechnologie. Welche großen Chancen und Möglichkeiten Nanotechnologie bietet, habe ich
an dieser Stelle schon häufig genug betont. Erlauben Sie
mir deshalb, mich heute schwerpunktmäßig mit den
noch unklaren und teilweise auch problematischen Bereichen zu befassen.
Anfang 2011 hat die Bundesregierung ihren Aktionsplan Nanotechnologie 2015 vorgestellt. Ende 2011 folgten die Koalitionsfraktionen mit dem Antrag „Aktionsplan Nanotechnologie 2015 gezielt weiterentwickeln“.
Zu Protokoll gegebene Reden
http://www.nanopartikel.info
http://www.nanopartikel.info
Man hätte annehmen können, die Koalition würde in ihrem Antrag die besonders wichtigen bzw. problematischen Bereiche herausgreifen und dazu Lösungsansätze
vorschlagen. Aber leider weit gefehlt: Der uns hier zum
Votum vorgelegte Antrag ist vielmehr ein „Plagiat“ des
Aktionsplans der Bundesregierung. Er wiederholt in
schönen Sätzen das, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums bereits im Aktionsplan niedergeschrieben haben, und das ist zum großen Teil eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation. Politische
Leitlinien findet man weder dort noch im Antrag. Von
„Weiterentwicklung“ des Aktionsplans gar, wie die
Überschrift des Koalitionsantrags verheißt, kann man
somit beim besten Willen nicht sprechen.
Dabei wäre es für die Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU doch eigentlich so einfach gewesen, aus ihrem Antrag aus der letzten Legislativperiode abzuschreiben: In der Großen Koalition haben wir zusammen den Antrag mit der Drucksachennummer 16/12695
erarbeitet. Viele der dort aufgeführten Forderungen sind
noch heute gültig. Diese hätten Sie nur in Ihren Antrag
übernehmen und weiterführen müssen.
So haben SPD und CDU/CSU in der Großen Koalition zum Beispiel gefordert, dass der Anteil der Mittel
für die Risikoforschung bis 2012 auf 10 Prozent der für
die Nanotechnologieforschung eingeplanten Mittel angehoben wird. Diese Forderung hätten Sie, wie ich
gleich ausführe werde, aufgreifen und weiterentwickeln
können. Die Bundesregierung hat die Nanotechnologie
nach eigenen Angaben im letzten Jahr mit circa 400 Millionen Euro unterstützt. Laut Aussage des Bundesministeriums belaufen sich die Mittel für Begleit- und Risikoforschung aktuell auf 14 Millionen Euro. Das klingt erst
einmal nach viel Geld. Aber es sind bei weitem nicht die
vom Bundestag geforderten 10 Prozent.
Darüber hinaus vermischt die Bundesregierung hier
Risiko- und Begleitforschung. Diese sind aber nicht
identisch. Bei der Begleitforschung sollen zum Beispiel
solche Fragestellungen bearbeitet werden wie, welches
Wissen innerhalb der Bevölkerung zum Thema Nanotechnologie vorhanden ist oder welche ethischen Aspekte im Bereich der Nanomedizin beachtet werden
müssen. Unter der Risiko- oder Sicherheitsforschung
verstehen wir hingegen zum Beispiel die toxikologische
Untersuchung eines Nanopartikels und die möglichen
Auswirkungen auf den menschlichen Organismus. Nach
Angaben des Bundesministeriums hat diese Bundesregierung die Risikoforschung im Zeitraum von 2009 bis
2012 anteilig mit gerade einmal 6,2 Prozent gefördert.
Das ist in Anbetracht der enormen Chancen, aber auch
der immer noch vorherrschenden Wissenslücken einfach
zu wenig. In diesem Bereich wäre deshalb eine klare
Forderung der Regierungsfraktionen angebracht.
Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und
FDP, fordern in Ihrem Antrag aber stattdessen nur einen
„kurzfristigen Förderschub“ für die Risikoforschung.
Entschuldigen Sie, aber etwas Abstrakteres ist Ihnen
nicht eingefallen? Wie genau dürfen oder sollen die
Bundesministerien diese Formulierung denn auslegen?
Warum können Sie keine konkreten Zielvorgaben formulieren? Unter politischer Führung erwarten die Ministerien und die Bürgerinnen und Bürger zu Recht etwas anderes.
Bei der Nanotechnologie gibt es darüber hinaus genug weitere Themen, bei denen es einer politischen
Positionierung bedürfte. Wie stehen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und FDP, denn zum
Produktregister oder zur Produktkennzeichnung? Welche Forschungsbereiche der Nanotechnologie sollten
aus Ihrer Sicht verstärkt gefördert werden? Wie sollten
die Ergebnisse der Nanokommission umgesetzt werden?
In welchen Strukturen sollten Ihrer Meinung nach die
Dialogaktivitäten ausgebaut werden? Wo sehen Sie gesetzlichen Regulierungsbedarf? Dies sind nur einige
Fragen, bei denen eine Positionierung Ihrerseits angebracht gewesen wäre.
Im Herbst werden wir im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ein Fachgespräch zum Thema Nanotechnologie veranstalten. Vielleicht hilft dies Ihnen bei der politischen Positionierung.
Als Lektüre für die Sommerpause empfehle ich Ihnen ansonsten den SPD-Antrag zur Nanotechnologie. Bei korrekter Zitierweise dürfen Sie sich inhaltlich daraus gern
bedienen.
Winzig sind Nanopartikel, riesig sind ihre Potenziale
und Chancen, aber auch die Unsicherheit und Unklarheit über mögliche Auswirkungen und Risiken auf
Mensch und Umwelt. Fast unbemerkt werden immer
mehr verschiedene Nanoteilchen in unterschiedlichen
Anwendungen eingesetzt. Wissen Sie, ob in dem neuen
antibakteriellen Schuhdeo, im Regenmantel, im Nagellack oder in der neuen Nachtpflege Nanopartikel enthalten sind? Heute können Verbraucherinnen und Verbraucher kaum erkennen, ob sie Produkte kaufen, die mittels
Nanotechnologie hergestellt wurden oder in denen
Nanomaterialien stecken.
Nicht ohne Grund hat der Sachverständigenrat für
Umweltfragen in seinem Gutachten vom September
2011 einen „Anlass zur Besorgnis“ bei einigen Produkten und Verwendungen gesehen, wie das Beispiel Nanosilber in Socken zeigt. Viele dieser Produkte kommen
besonders dicht an die Verbraucherin und den Verbraucher heran. Bisher lässt aber die Datenlage eine abschließende gesundheitliche Risikobewertung nicht zu.
Die vielen Unklarheiten führen dazu, dass die Verbraucherin und der Verbraucher in zunehmendem Maße verwirrt und ratlos bleiben und die vielen neuen Produkte,
die mit den Vorteilen von Nanotechnologie werben,
nicht einschätzen können.
Doch genau in diesem Punkt bleibt der Aktionsplan
Nanotechnologie 2015 der Bundesregierung hinter den
Erwartungen an eine sinnvolle Risikovorsorge der
Verbraucher weit zurück. Denn außer reinen Lippenbekenntnissen zu einer „wissenschaftlich fundierten Risikobewertung“ oder zur Sicherheitsforschung in Teilbereichen ist dort auffallend wenig über den direkten
Verbraucherschutz und eine Verbraucheraufklärung in
Erfahrung zu bringen. Denn nach wie vor ist es den VerZu Protokoll gegebene Reden
braucherinnen und Verbrauchern häufig schlicht nicht
ersichtlich, ob es sich um ein Produkt mit Nanomaterialien handelt, welches sie gerade in den Händen halten.
Weder über etwaige Wirkungen noch über spezifische
Vorteile werden sie in der Regel aufgeklärt.
Eine generelle Kennzeichnungspflicht für nanohaltige Produkte kann hier Abhilfe schaffen. Derzeit ist
lediglich in der im Sommer 2011 beschlossenen EULebensmittelinformations-Verordnung eine Pflicht zur
Kennzeichnung aufgenommen worden. Die verpflichtende Kennzeichnung für Kosmetika innerhalb der Europäischen Union wird 2013 umgesetzt. Andere verbrauchernahe Produkte können ohne jeglichen Hinweis auf
Nanomaterial vertrieben werden. Wir fordern eine generelle und sichtbare Kennzeichnung von Nanostoffen in
allen verbrauchernahen Produkten, um eine Abwägung
von Vor- und Nachteilen dem Ermessensspielraum der
Verbraucherin oder dem Verbraucher zu überlassen.
Dazu müssen sowohl der versprochene Mehrwert als
auch verlässliche Informationen über mögliche gesundheitliche Schäden benannt werden, um eine bewusste
Kaufentscheidung zu ermöglichen.
Eine weitere Form, um die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu wahren und Auskunft darüber geben zu können, welche Produkte mit Nanomaterialien in Deutschland hergestellt oder vertrieben
werden, ist die baldmögliche Einführung eines öffentlichen Produktregisters. Eine solche Übersicht über Nanoprodukte und deren Spezifikationen ermöglicht es den
Behörden, im Rahmen eines Risikomanagements schnell
reagieren zu können. Aber auch im Sinne der Markttransparenz ist eine Übersicht über alle auf dem Markt
befindlichen verbrauchernahen Produkte mit Nanomaterialien für die Verbraucherinnen und Verbraucher gewährleistet. Eine EU-weite Einführung eines solchen
Produktregisters würde sich anbieten, wobei eine nationale Zwischenlösung denkbar ist, sofern sie mit einem
zukünftigen europäischen Produktregister vereinbar
wäre.
Die Bundesregierung ist gefordert, sich auf EUEbene dafür einzusetzen, dass ein öffentliches Nanoproduktregister und eine Kennzeichnungspflicht bei
nanohaltigen Inhaltsstoffen EU-weit eingeführt werden.
Parallel dazu ist die Erarbeitung eines nationalen Nanoproduktregisters als Übergang zu einer europäischen
Lösung notwendig. Denn bereits 2009 hat die Große
Koalition im Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, „eine Informationsquelle zu schaffen, die Bevölkerung, Politik und Wirtschaft über geltende Bestimmungen, Vorschriften und Empfehlungen informiert und
durch die zuständigen Bundesbehörden laufend aktualisiert wird“. Wir halten daran fest.
Die Nanotechnologie ist eine Zukunftstechnologie mit
großem wirtschaftlichen und gesellschaftlichem Innovationspotenzial, sei es in der Medizin, der Informationstechnologie, der Umwelttechnik, der Energieerzeugung oder der Mobilität. Nanotechnologie verfügt über
das Potenzial zur grundlegenden Durchdringung ganzer
Technologiefelder. Deshalb ist die Nanotechnologie eine
Querschnitttechnologie, mit enormer Bedeutung für Industrie und den Wissenschaftsstandort Deutschland.
Diese Bedeutung wird weiter wachsen; denn Forschung
und Entwicklung erschließen immer neue Anwendungsfelder. Aus diesem Potenzial schöpfend bedeutet
Nanotechnologie für uns Produktions- und Wirtschaftswachstum.
Die Bedeutung der Nanotechnologie erschöpft sich
aber nicht nur in Wirtschaftspolitik. Nano bedeutet auch
einen geringeren Ressourcenverbrauch, eine Verbesserung von Produkten, Verfahren und Stoffen. Kurzum:
Nanotechnologie hat gesellschaftliche Implikationen;
denn die Gesellschaft wird in zahlreichen Lebensbereichen von Anwendungen der Nanotechnologie profitieren.
Um die Potenziale für Wirtschaft und Gesellschaft zu
nutzen, braucht es eine Gesamtforschungsstrategie zur
Nanotechnologie. Als Koalition und Regierung haben
wir diese mit dem Aktionsplan Nanotechnologie 2015
vorgelegt. Der Aktionsplan Nanotechnologie 2015
wurde von acht Bundesministerien übergreifend im Ressortkreis Nanotechnologie erarbeitet. Anliegen des Aktionsplans ist es, die Potenziale der Nanotechnologie zu
nutzen und in strategischen Schwerpunkten zu fördern.
Dabei wird die Förderung der Forschung und Entwicklung von dieser christlich-liberalen Koalition erstmals
auf die gesellschaftlichen Herausforderungen ausgerichtet. Diese gesellschaftlichen Herausforderungen liegen in der Gesundheit, Ernährung und Landwirtschaft,
in Fragen zu Umwelt, Klima und Energie sowie in der
Mobilität, Sicherheit und Informationstechnologie.
Daneben zielt der Aktionsplan Nanotechnologie 2015
auf die verantwortungsvolle, sichere und nachhaltige
Nutzung der Nanotechnologie. Zentraler Bestandteil ist
aus diesem Grund heraus die Sicherheits- und Risikoforschung. Denn Nanotoxizität ist ein sensibles Thema, das
weder unterschätzt noch mit übertriebener Furcht angegangen werden darf. Aufgrund ihrer geringen Größe
und neuen Wirkeigenschaften können einzelne Nanomaterialien eine Gefahr für Mensch und Umwelt darstellen. Bislang aber liegen keine einheitlichen Ergebnisse
aus wissenschaftlichen Studien vor, die die Toxizität einzelner Nanomaterialien eindeutig belegen. Vielmehr
krankt eine Vergleichbarkeit der wissenschaftlichen
Untersuchungen und Ergebnisse an der fehlenden Einheitlichkeit von Messmethoden und Messtechnik. Diese
zuallererst zu entwickeln, muss daher das Anliegen einer
umfassenden Sicherheits- und Risikoforschung sein, um
eine realistische und verantwortungsvolle Risikoabschätzung zu gewährleisten.
Im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung legten SPD und Grüne dar, dass es über
das Gefahrenpotenzial und die Toxizität einzelner Nanomaterialien gesicherte Kenntnisse gebe. Als argumentative Grundlage wurde der Sachverständigenrat für
Umweltfragen mit der im September 2011 veröffentlichten Studie „Vorsorgestrategien für Nanomaterialien“
herangezogen. Doch auch der überaus nanokritische
Sachverständigenrat für Umweltfragen kommt in seiner
Zu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
Stellungnahme nicht umhin … festzustellen: „Pauschale
Urteile über die Risiken von Nanomaterialien sind nicht
möglich. Bisher gibt es keine wissenschaftlichen Beweise dahin gehend, dass Nanomaterialien - wie sie
heute hergestellt und verwendet werden - zu Schädigungen von Umwelt und Gesundheit führen“.
Nanomaterialien sind nicht per se als risikobehaftet
zu verurteilen. Deshalb besteht keinerlei Grundlage für
gesetzliche Maßnahmen, nationale und europäische, wie
es die Grünen im Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung oder ihrem eigenen Antrag
zur Nanotechnologie fordern. Vielmehr sollten nationales und europäisches Recht verantwortungsvoll angewendet werden. In guter Erinnerung ist mir in diesem
Zusammenhang die EPTA-Konferenz im September 2011
hier im Deutschen Bundestag. Wissenschaftler und Vertreter der European Chemical Agency plädierten für die
Anwendung bestehenden Rechts. Eine Anpassung oder
Revision der REACH-Verordnung oder anderer Gesetze
wird als nicht zielführend angesehen. Effektiven und
größeren Schutz leistet die European Chemical Agency
in ihrer Arbeit und Kontrolle auf Interpretation bestehender Gesetze.
Zudem besteht das Problem, dass Nanomaterialien
weder den Stoffen, den Produkten noch den Chemikalien
eindeutig zuzuordnen sind. Selbst Nanomaterialien, die
sich nach Merkmalen oder bestimmten Eigenschaften in
Gruppen fassen lassen, wie Nanofasern, Nanostaub oder
aktive Nanostrukturen, können nur selten direkt miteinander verglichen werden. Daher bedarf es vielmehr der
Einzelprüfungen des jeweiligen Nanomaterials. Das
Bundesministerium für Bildung und Forschung hat an
diesem Punkt bereits mit dem Risikoforschungsprogramm NanoCare einen ersten wichtigen Schritt gemacht. Untersucht wird, wie einzelne synthetische Nanomaterialien auf Organismen wirken. In diesem Zuge
wurden auch neue Messmethoden und Messtechniken erarbeitet, die nun die Sicherheitsforschung weiterbringen.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass wir die Sicherheitsund Risikoforschung überaus ernst nehmen, anders als
von den Oppositionsfraktionen unterstellt, zeigt die von
der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
und weiteren Ressortforschungseinrichtungen aufgelegte
Forschungsstrategie. Innerhalb dieser Forschungsstrategie sind circa 60 Projekte angesetzt, die zwar vereinzelt
Ergebnisse liefern, jedoch keine Grundlage für gesetzliches Handeln nahelegen.
Der Aktionsplan Nanotechnologie 2015 setzt ein ausgewogenes Verhältnis von Förderung und Sicherheitsforschung. Um Akzeptanz in der Gesellschaft und bei
den Verbrauchern zu schaffen, sind Transparenz und
Kommunikation geboten. Eine fortwährende Stigmatisierung der Nanotechnologie, wie es die Grünen im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, mit Anträgen oder öffentlichen Erklärungen
machen, fördert keinerlei Akzeptanz. Vielmehr ist der
von dieser christlich-liberalen Koalition vorgebrachte
Aktionsplan Nanotechnologie 2015 richtig, in dem der
Dialog mit den Bürgern über die Chancen und Risiken
der Nanotechnologie intensiviert wird. Bereits heute
existieren eine Onlineplattform und andere Nanodiskussionsformate wie der Nanodialog, wo wir mit den Bürgern in einen ehrlichen Dialog treten.
Der Nanotechnologie wird ein erheblicher gesellschaftlicher und ein noch höherer wirtschaftlicher Nutzen
zugeschrieben. Das Bundesministerium der Verteidigung
erhofft sich, mit Nanotechnologie die „Leistungsfähigkeit
zukünftiger militärischer Systeme erhöhen“ zu können;
sie scheint kriegstauglich zu sein - ein großer Ansporn für
die deutsche Rüstungsindustrie und ihre Rüstungsforschung.
Nanotechnologie soll Herstellungsabläufe beschleunigen und Kosten senken. Auch Produkte des täglichen
Bedarfs können ganz neue Eigenschaften aufweisen und
langlebiger werden. Der Energie- und Ressourcenverbrauch kann gesenkt werden. Nanobasierte Verfahren
können vor allem im medizinischen Bereich zur Therapie und Gesunderhaltung wie auch im Umwelt- und Klimaschutz eingesetzt werden.
In der Praxis zeigt sich ein sehr viel schlichteres Bild.
Nanostoffe werden vor allem in bestehenden Feldern der
Industrie im Herstellungsprozess angewandt. Die Innovation besteht für die Unternehmen im Wesentlichen im
Kostensenkungspotenzial. Wie die Mittelvergabe zur
Förderung der Nanotechnologie zeigt, findet von staatlicher Seite keine Lenkung der Mittel statt. Eine Schwerpunktsetzung hin zu gesellschaftlich wichtigen Themenbereichen fehlt. Das ist nicht im Interesse unserer Gesellschaft und fördert ausschließlich die Gewinne der
Unternehmen.
Bund und Länder bezuschussten dies im vergangenen
Jahr mit fast 400 Millionen Euro. Allein die Bundesregierung förderte Nanotechnologien mit etwa 200 Millionen Euro pro Jahr. Nur ein Bruchteil davon wird für gesellschaftlich relevante Bereiche aufgewendet. Für den
Energiebereich wurden nur 2 Prozent der Förderung
aufgewendet. Der bedeutenden Risikoforschung kamen
aus Geldmitteln des Bundes bisher nur 4 Prozent der
Förderung zu. Auf die Sicherheitsforschung und Risikobewertung im Rahmen der Vorsorge entfielen sogar nur
0,2 Prozent der Gelder. Als Linke sage ich: Eine verantwortungsvolle Entwicklung von Nanotechnologie sieht
anders aus.
Mit Blick auf die Umwelt- und Gesundheitsrisiken erweist sich das Programm der Bundesregierung sogar als
wirkungslos. Mit Ausnahme von Nanosilber gibt es beim
Einsatz von Nanopartikeln in Lebensmitteln oder von
Nanotechnologie bei Bedarfsgegenständen keine erkennbaren Maßnahmen für eine wirksame Gesundheitsvorsorge der Bevölkerung. Die Ergebnisse der NanoInitiative der Bundesregierung lieferten hierfür noch
keine verwertbare Grundlage. Dem Antrag der Grünen
zum Verbot von Nanosilber in verbrauchernahen Produkten stimmen wir daher ausdrücklich zu. Klar ist: Solange die Pflicht zur umfassenden Risikoforschung nicht
grundlegender Bestandteil der Forschungsstrategie des
Bundes und der Länder ist, kann der Gesetzgeber techZu Protokoll gegebene Reden
nischen Fortschritt und gesundheitliche Vorsorge bei
Nanostoffen nicht in Einklang bringen.
Allerdings stimmt die bisherige Schwerpunktsetzung
bei der Förderung mit den im nano.DE-Report 2011 der
Bundesregierung formulierten Zielen überein: Mögliche
Risiken der Nanotechnologie in den Bereichen Verbraucher-, Arbeits- und Umweltschutz werden als „Hemmnis
bei der Vermarktung nanotechnologischer Produkte“
festgemacht. Deshalb gibt es auch keinerlei Bemühungen der Koalition um eine Kennzeichnungspflicht. Das
trägt die Linke nicht mit.
Verbraucherinnen und Verbraucher wägen Nutzen
und Risiken verantwortungsvoll ab. Das zeigt der Fall
des Bekleidungsherstellers Jack Wolfskin. Dieser erklärte im Februar 2010, künftig freiwillig auf Nano-TexProdukte verzichten zu wollen. Hintergrund war die
anhaltende öffentliche Diskussion über unerforschte
Risiken bei der Anwendung von Nanostoffen. Das Verhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher hat in
diesem Fall zu Absatzproblemen geführt, weil die Zielgruppe ebenso umweltbewusst wie gesundheitsorientiert
ist. Hier zeigt sich: Die Vernachlässigung der Risikoforschung durch die Bundesregierung kann sogar wirtschaftliche Schäden verursachen.
Tatsächlich hat die zunehmende Befassung der Öffentlichkeit mit den möglichen Risiken der Nanotechnologie zu einer gewissen Skepsis bei Verbraucherinnen
und Verbrauchern geführt. Die Folge: Unternehmen
verschleiern inzwischen Nanobestandteile in ihren Produkten. So findet sich die Kennzeichnung „Nano“ bei
Lebensmitteln nur in einer 1,2 Millimeter kleinen Schrift
in der Zutatenliste auf der Verpackungsrückseite wieder.
Die Lebensmittelindustrie behauptet sogar, dass gar
keine Nanopartikel auf dem Markt seien, obwohl bereits
nanoskalige Zutaten Verwendung finden. Der Gesetzgeber ist hier endlich gefordert, die Verschleierung zu verbieten. Nanobestandteile in Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen müssen klar und deutlich ausgewiesen
werden.
Ich fasse noch einmal zusammen: Nanotechnologie
bietet Chancen für Unternehmen in Deutschland. Sie
kann industrielle Prozesse und Verfahren verbessern.
Produkte können weiterentwickelt und mit neuen
Eigenschaften versehen werden. Wichtige Nutzungsmöglichkeiten ergäben sich in der Medizin sowie im
Umwelt- und Klimaschutz. Für Verbraucherinnen und
Verbraucher hingegen ist der Mehrwert begrenzt. Ob ein
Zusatznutzen bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen in einem vernünftigen Verhältnis zu möglichen Risiken und Mehrkosten stehen wird, ist derzeit offen.
Die Förderpraxis der Bundesregierung geht an den
eigenen Versprechungen vorbei. Wichtige Themen, wie
erneuerbare Energien und Umweltschutz, machen einen
verschwindend geringen Teil der Förderung aus. Die
Erforschung und Bewertung von gesundheitlichen und
umweltbezogenen Risiken wird vernachlässigt. Der Gesetzgeber ist derzeit nicht in der Lage, wirksame Vorsorgemaßnahmen für Gesundheit und Umwelt zu treffen, da
die Datenbasis fehlt.
Gleichwohl gibt es ernstzunehmende Befunde zu gesundheitsgefährdenden Wirkungen beim Menschen. Im
Ökosystem sind Störungen durch Nanostoffe bereits
nachgewiesen. Nanopartikel sind daher für die breite
Verwendung bei Lebensmitteln und Bedarfsgegenständen ungeeignet. Besonders bedenklich ist, dass die Industrie versucht, mögliche Risiken herunterzuspielen.
Verbraucherschutz kommt im Bereich der Nanotechnologie praktisch nicht vor. Der Gesetzgeber muss eine
Kenntlichmachung aller nanobehafteten Produkte sicherstellen. Dabei reicht ein Hinweis auf der Verpackungsrückseite nicht aus.
Die Linke fordert deshalb die Einrichtung eines
öffentlichen Nanoproduktregisters. Jedes erfasste
Nanomaterial, das bewusst hergestellt wird, muss eine
unabhängige gesundheits- und umweltbezogene Risikobewertung durchlaufen und behördlich zugelassen werden, bevor es als Rohstoff oder Produkt auf den Markt
kommt. Gegenüber Verbraucherinnen und Verbrauchern
sollen Produkte, die Nanopartikel beinhalten, im Hauptblickfeld des Produktes auf der Verpackung kenntlich
gemacht werden. Der Zusatznutzen und die Unbedenklichkeit müssen belegt und in allgemein verständlicher
Weise erläutert werden. Die Hälfte der Fördergelder soll
unmittelbar in die gesellschaftlich wichtigen Bereiche
Energie, Umwelt, Klimaschutz, Ressourcenschonung sowie in die Medizin fließen. Zur unternehmensunabhängigen Erforschung und Bewertung von gesundheitlichen
und umweltbezogenen Risiken, die von Nanostoffen und
nanobehafteten Produkten ausgehen können, sind mindestens 10 Prozent oder insgesamt wenigstens 40 Millionen Euro bereitzustellen.
Nanopartikel finden sich inzwischen in den unterschiedlichsten Produkten und Anwendungen und bergen
unbestritten hohe Potenziale für innovative Produktentwicklungen. Auch die wirtschaftliche Bedeutung des industriellen Nanotechnologiesektors ist in den letzten
Jahren stetig gewachsen, und erfreulicherweise partizipieren gerade mittelständische Unternehmen an dieser
Entwicklung.
Allerdings bestehen große Defizite im Bereich des
Umwelt- und Verbraucherschutzes und in der Risikoforschung. Nanopartikel schlüpfen in weiten Teilen durch
die Kontroll- und Regulierungsregimes, die nicht auf die
spezifischen Eigenschaften der Winzlinge hin ausgerichtet sind, die wegen ihrer geringen Größe deutlich andere
physikalische und chemische Eigenschaften aufweisen
als ihre jeweiligen Ausgangsstoffe. Insbesondere der Einsatz von ungebundenen Nanopartikeln in verbrauchernahen und umweltoffenen Anwendungen wie Kosmetika,
Lebensmittelverpackungen und Reinigungsmitteln ist
hinsichtlich der Risiken für Mensch und Umwelt zu wenig erforscht und unzureichend reguliert. Daher muss
das Vorsorgeprinzip zum Leitsatz im Umgang mit der
Nanotechnologie werden. Das hat auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Sondergutachten zu Nanomaterialien betont.
Zu Protokoll gegebene Reden
Von Schwarz-Gelb kommt erwartungsgemäß nicht
viel. Der wenig ambitionierte Aktionsplan der Bundesregierung berücksichtigt weder die Empfehlungen der
eigens eingesetzten Nanokommission, noch geht er auf
aktuelle Gefahrenhinweise bezüglich bestimmter Stoffe
wie etwa Nanosilber ein. Der Antrag der Regierungsfraktionen macht den Aktionsplan leider auch nicht besser oder konkreter. Das Vorsorgeprinzip oder konkrete
Maßnahmen zum Umwelt- und Verbraucherschutz sucht
man in dem Antrag vergebens; stattdessen geben sich
FDP und Union mit dem Status quo zufrieden.
Wir fordern, die Sicherheits- und Risikoforschung
deutlich auszuweiten, um die vorhandenen Wissenslücken zu schließen und die Unsicherheit in Bezug auf
das Gefahrenpotenzial bestimmter Nanomaterialen zu verringern. 10 Prozent der insgesamt zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel für die Nanoforschung sollten
diesem Zweck gewidmet sein. Wir bedauern, dass sich
die Koalition in ihrem Antrag um eine konkrete Zahl
herumdrückt; offensichtlich steht die Union nicht mehr
zu den 10 Prozent, die sie noch in der Großen Koalition
mit beschlossen hatte.
Wir brauchen nanospezifische Prüf- und Zulassungsverfahren und Regelungen hinsichtlich der Produkthaftung. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat
hierzu gute Vorschläge gemacht, die die Bundesregierung aufgreifen sollte. Dazu gehören auch angepasste
Novellen der Novel-Food-Verordnung und des europäischen Chemikalienrechts REACH. Auch die Regelungen zum Arbeitsschutz müssen um nanospezifische Regelungen ergänzt werden.
Verbraucherinnen und Verbraucher haben das Recht,
zu wissen, was in den Produkten steckt, die sie kaufen,
und wollen wissen, ob diese Inhaltsstoffe neben den beworbenen Vorteilen auch mögliche Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringen. Wir fordern deshalb eine
verständliche Kennzeichnung für verbrauchernahe und
umweltoffene Nanoprodukte, eine Meldepflicht für Nanoprodukte und ein öffentlich zugängliches Nanoproduktregister, um Transparenz und Wahlfreiheit zu gewährleisten und den Regulierungsbehörden einen Überblick
über den Markt zu ermöglichen.
Außerdem müssen Behörden die Möglichkeit haben,
im Besorgnisfall Maßnahmen zum Schutz von Mensch
und Umwelt zu ergreifen und gefährliche Produkte vom
Markt zu nehmen bzw. Nanomaterialien, bei denen mögliche Risiken und Gefahren für die menschliche Gesundheit bestehen, den Marktzugang zu verweigern. Das
trifft unter anderem für den Einsatz von Nanosilber in
verbrauchernahen Produkten zu. Sowohl das Bundesinstitut für Risikobewertung als auch das Umweltbundesamt haben vor den möglichen Gefahren beim Einsatz
von ungebundenem Nanosilber in verbrauchernahen
Produkten gewarnt. Nanosilber kann sich nicht nur
außen an menschliche Zellen anlagern, sondern auch
biologische Grenzen überwinden und somit in Zellen
eindringen.
Wenn die Sicherheit von Menschen und Umwelt nicht
oberste Priorität hat, wird es keine breite Akzeptanz für
neue Technologien wie die Nanotechnologie geben.
Nachhaltiges Wirtschaftswachstum kann nie gegen die
Interessen von Verbrauchern und Umwelt realisiert werden. Deshalb brauchen wir eine vernünftige Regulierung der Nanotechnologie, die Chancen nutzt und Risiken minimiert.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU und
FDP mit dem Titel „Aktionsplan Nanotechnologie 2015
gezielt weiterentwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9771,
den Antrag der Fraktionen CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/7184 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/8821.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5917 mit dem
Titel „Wirksamen Verbraucherschutz bei Nanostoffen
durchsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3689 mit dem Titel „Einsatz von
Nanosilber in verbrauchernahen Produkten zum Schutz
von Mensch und Umwelt stoppen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Fraktion der Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geodatenzugangsgesetzes
- Drucksache 17/9686 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})InnenausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen dem Präsidium vor.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Änderung des Geodatenzugangsgesetzes betrifft uns
- obwohl wir dies auf den ersten Blick nicht annehmen in vielen Bereichen.
Digitale Geodaten werden - gerade in einer vernetzten Welt - zu unterschiedlichsten Zwecken benötigt.
Räumliche Daten der Erde sind für die Klimaforschung,
die Rohstoffgewinnung und die Erschließung von Ressourcen entscheidend. Sie können aufzeigen, wo Gletscher schmelzen oder Niederschlagsmengen steigen. Sie
helfen erkennen, wo es Potenziale für die Nutzung erneuerbarer Energien gibt, weil sie beispielsweise aufzeigen können, wo in Deutschland die Hotspots für die Erzeugung von Strom aus Geothermie oder Windkraft zu
finden sind. Geodaten weisen Gebiete aus, die für ökologische Ausgleichsmaßnahmen genutzt werden können,
oder bilden die Grundlage für politische Entscheidungen dort, wo Menschen von Zuglärm betroffen sind. Sie
schaffen Mobilität, denn sie sind für GPS- oder Navigationssysteme in mobilen Endgeräten unerlässlich.
Ich freue mich daher, dass der Bund mit dem Gesetz
seinen Teil zur Bereitstellung dieser Daten beitragen
wird. Mit der Änderung des Geodatenzugangsgesetzes
schaffen wir die Grundlage dafür, dass Geodaten und
Geodatendienste des Bundes künftig grundsätzlich geldleistungsfrei für die kommerzielle und nichtkommerzielle Nutzung verfügbar sind. Dadurch können wir das
in den Geodaten des Bundes liegende Wertschöpfungspotenzial umfänglich nutzen, weil sich unterschiedlichste Akteure in den genannten Bereichen neue Geschäftsfelder erschließen können.
Nicht nur deshalb wird das Gesetzesvorhaben seitens
der Wirtschaft ausdrücklich begrüßt und unterstützt.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag spricht
von einem richtungsweisenden Schritt, der auf Bundesebene mit der Bereitstellung der in der Hand des Bundes
liegenden Geodaten vollzogen wird. Die Länder sind
nun aufgefordert, nachzuziehen.
Hintergrund der Regelungen über den Zugang zu
Geodaten und Geodatendiensten ist die INSPIRE-Richtlinie. Mit ihr wurde auf europäischer Ebene ein umfassendes Regelwerk geschaffen, das die Nutzung von und
den Zugang zu Geodaten für Bürgerinnen und Bürger,
Verwaltung und Wirtschaft in der Europäischen Union
vereinfachen soll.
Bund und Länder arbeiten bei der fachlich-inhaltlichen Umsetzung der Richtlinie und in Bezug auf die
methodisch identische Erhebung von Geodaten und
Geodatendiensten eng zusammen, wodurch die unterschiedlichen Belange umfassend berücksichtigt werden.
Die Initiative zur Änderung des Geodatenzugangsgesetzes basiert auf einem Beschluss des Interministeriellen
Ausschusses für Geoinformationswesen, IMAGI, vom
8. Februar 2011, in dem die beteiligten Gruppen engagiert sind.
Mit dem Änderungsgesetz wird der Abbau von Bürokratie vorangetrieben, indem die Nutzungsbedingungen
einheitlich verbindlich geregelt werden. In einer Rechtsverordnung werden die Bedingungen für die Nutzung
der Geodaten und Geodatendienste, insbesondere mit
Blick auf Nutzungsrechte sowie Gewährleistung und
Haftungsausschluss, geregelt. Eine solche Regelung
existierte bisher nicht. Behördenspezifisch zu formulierende Lizenzbedingungen fallen dadurch weg.
Alles in allem ist das Änderungsgesetz zum Geodatenzugangsgesetz eine begrüßenswerte Neuregelung.
Vorhandene Daten werden für Nutzer zugänglich gemacht und neue Synergien dadurch erschlossen. Das
Änderungsgesetz fügt sich in das von der Bundesregierung beschlossene Programm „Vernetzte und transparente Verwaltung“ ein und ist somit ein weiterer Beitrag
zu einer effizienteren Verwaltung.
Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
Im Vergleich zum Geodatenzugangsgesetz, das der
Deutsche Bundestag Ende 2008 verabschiedete, gibt es
im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf eine wesentliche
Änderung: Alle Geodaten und Geodatendienste werden
grundsätzlich geldleistungsfrei für die kommerzielle und
nichtkommerzielle Nutzung zur Verfügung gestellt. Wir
als SPD-Bundestagsfraktion begrüßen dies.
Zu denken gibt uns aber die Begründung der Bundesregierung. Ihr geht es ausschließlich um Kostensenkung
und Bürokratieabbau. Als wir uns mit dem Gesetzentwurf von 2008 befassten, wurden die Kosten dieses
neuen Gesetzes mit 200 000 Euro jährlich, je zur Hälfte
auf Bund und Länder verteilt, veranschlagt. Dazu kamen
noch nicht quantifizierbare Kosten für den Bund bei der
Anpassung vorhandener digitaler Geodaten an die
durch die INSPIRE-Richtlinie geforderte Interoperabilität. Außerdem entstanden Kosten, um technische Einschränkungen der Darstellungsdienste zu entwickeln,
mit dem Ziel, die kommerzielle Nutzung von über diesen
Dienst bereitgestellten Geodaten zu verhindern.
Die jetzt geplante geldleistungsfreie Bereitstellung
der Geodaten und Geodatendienste wird durch die Aufhebung des § 13 GeoZG ({0}) geregelt. Mit sieben Absätzen ist dieser Paragraf ziemlich umfangreich und regelt fast alles zu Lizenzen und Geldleistungen. Was dort
noch nicht geregelt ist, soll im Anschluss durch eine
neue Rechtsvorschrift geregelt werden. Auch wenn damals die große Koalition für diesen Paragrafen verantwortlich war, muss man heute selbstkritisch eingestehen,
dass dieser Paragraf ein bürokratisches Monster ist. Es
ist gut, dass er nun aufgehoben wird.
Umso erschreckender ist, dass die Bundesregierung
im Jahre 2012 immer noch mit Kostensenkung und Bürokratieabbau als Begründung für die Änderung des
Geodatenzugangsgesetzes argumentiert. Damit keine
Missverständnisse aufkommen: Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Kosten reduziert und unnötige Bürokratie
und Verwaltungsaufwand abgebaut werden sollen. Dass
aber die Bürgerinnen und Bürger, die Verwaltung und
die Wirtschaft nur als Nebenprodukt in den Genuss einer
geldleistungsfreien Nutzung der Geodaten kommen, ist
bezeichnend für das Verständnis der Bundesregierung
von Teilhabe der gesellschaftlichen Gruppen. Das Umdenken vom Ver- oder Behindern der Weitergabe der
Daten hin zum geldleistungsfreien Zugriff auf die Geodaten, weil sich der Staat als Dienstleister für seine Bürgerinnen und Bürger versteht, hat noch nicht stattgefunden, und das wundert mich bei dieser Bundesregierung
auch nicht mehr.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich möchte hier nicht der „Umsonstkultur“ das Wort
reden; aber im digitalen Zeitalter muss sich die Bundesregierung schon auf einen anderen Umgang im Hinblick
auf die Bereitstellung von Daten, die von der Verwaltung
erhobenen wurden, einstellen. Die Gesellschaft erhebt
Anspruch auf Teilhabe in vielerlei Hinsicht. Dies betrifft
nicht nur den unkomplizierten Zugang zu öffentlichen
Daten; es beinhaltet auch die Beteiligung an der Planung von Infrastruktur- und Bauprojekten. Die Bundesregierung ist gut beraten, dies bei ihren weiteren Gesetzgebungsvorhaben zu berücksichtigen.
Dabei darf es aber keinesfalls dazu kommen, mit den
Geodaten, gerade mit den aggregierten, aber doch personenbezogenen Daten wie den Gesundheitsdaten, zu
freigiebig umzugehen. Hier auch bei freier Verfügung
weiterhin durch eine Verordnungsermächtigung ohne
Zustimmung des Bundestages oder Bundesrates eine
Behörde entscheiden zu lassen, halte ich für diskussionswürdig. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung muss gewahrt bleiben. In den folgenden Ausschussberatungen wird die SPD dieses Thema auf die
Tagesordnung bringen und die Novelle hinsichtlich ihres
möglichen Eingriffs in die Privatsphäre von Bürgerinnen und Bürgern abklopfen.
Die Richtlinie 2007/2/EG bzw. das Geodatenzugangsgesetz, GeoZG, dient der Vereinfachung des Zugangs zu
und der Nutzung von Geodaten für Bürger und Bürgerinnen, Verwaltung und Wirtschaft sowie der Harmonisierung von Geodaten und Geodatendiensten. Eine Änderung des GeoZG ist notwendig, da auf Bundesebene
derzeit keine spezialgesetzliche Rechtsgrundlage zur
Festlegung von Nutzungsbedingungen für die Bereitstellung von Geodaten und Geodatendiensten existiert. Daher wird die Ermächtigungsgrundlage in § 14 GeoZG
gemäß Art. 80 GG entsprechend konkretisiert, wodurch
eine Verordnung des Bundes für die Nutzungsbedingungen von Geodaten und Geodatendiensten, einschließlich
zugehöriger Metadaten, erlassen werden kann.
Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des GeoZG
wird die Grundlage dafür geschaffen, Geodaten und
Geodatendienste, einschließlich zugehöriger Metadaten, zukünftig grundsätzlich geldleistungsfrei für die
kommerzielle und nichtkommerzielle Nutzung zur Verfügung zu stellen. Dies ist rechtlich dadurch abgesichert,
dass Geodaten in der Regel Umweltinformationen sind,
die nach dem Umweltinformationsgesetz, UIG, auch für
die kommerzielle Nutzung in aller Regel geldleistungsfrei abgegeben werden können.
Die vorliegende Gesetzesänderung bedeutet eine
Ausweitung des Zugangs zu und der Nutzung von Geodaten. Bisher sah das Geodatenzugangsgesetz lediglich
den Zugang und die Nutzung durch Organe und Einrichtungen der Europäischen Union vor. Die vorliegende
Gesetzesänderung sieht die Erweiterung auf natürliche
und juristische Personen des Privatrechts vor. Diese Änderung wirkt sich zudem positiv auf die Nutzung des in
den Geodaten des Bundes liegenden Wertschöpfungspotenzials aus. So lag das Marktvolumen von Geodaten
2009 deutschlandweit bei 1,7 Milliarden Euro.
Geodaten spielen in vielen Bereichen eine wichtige
Rolle: in der Verwaltung, bei der Planung von Elektrizitäts-, Fernwärme-, Gas-, Wasser- oder Kommunikationsleitungen, in der Meteorologie sowie bei der Berechnung von Umweltbelastungen. Luftbilder und weitere
räumliche Informationen sind bei vielen wirtschaftlichen Entscheidungen von Bedeutung. Außerdem dient
die Gesetzesänderung dem Abbau von Bürokratie, indem die Nutzungsbedingungen einheitlich und verbindlich geregelt werden. So macht die Änderung des GeoZG
die Anwendung gegebenenfalls behördenspezifisch zu
formulierender Lizenzbestimmungen und Lizenzverträge
entbehrlich, indem die Nutzungsbedingungen einheitlich
und verbindlich festgelegt werden. Ebenso entbindet die
Geldleistungsfreiheit die geodatenhaltenden Stellen von
der Verpflichtung, für die Abwicklung des elektronischen
Geschäftsverkehrs entsprechende Programme einzusetzen oder verfügbare Plattformen zu nutzen.
Die Gesetzesänderung ist ein wichtiger und richtiger
Schritt hin zu mehr Transparenz. Sie ist in das Projekt
Open Government der Bundesregierung eingebettet und
Teil des Regierungsprogramms „Vernetzte und transparente Verwaltung“. Einen Schwerpunkt dieses Projekts
bildet der Ausbau von Open Data, also von öffentlich
verfügbaren Datenbeständen der öffentlichen Hand, insbesondere zur Weiterverwendung und Weiterverbreitung. Die grundsätzliche Erweiterung des Nutzerkreises
und der Nutzungsmöglichkeiten bedeutet jedoch nicht,
dass die Nutzung von Geodaten und Geodatendiensten
zukünftig ohne Beschränkungen zulässig ist. Die Grenzen liegen beim Datenschutz und bei Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.
Es besteht die Notwendigkeit, Rechtssicherheit zu
schaffen, indem die Nutzungsbedingungen für den
Umgang mit den Daten verbindlich formuliert werden.
Dabei gilt es, ein ausgewogenes Maß zwischen den Persönlichkeitsrechten und Interessen der Betroffenen und
dem potenziellen Nutzen für die Gesellschaft zu finden.
Diesem Anliegen wird der vorliegende Gesetzentwurf
gerecht.
Verschiedenste Geschäfts- und Arbeitsprozesse in
Unternehmen und Verwaltungen können durch Geodatenanwendungen entscheidend unterstützt und verbessert werden. Geodaten und Geodatendienste leisten
dadurch einen wichtigen Beitrag zur Sicherung des
Wirtschaftsstandorts Deutschland. Bereits vorhandene
Internetportale wie Google Maps oder Open Street Map
zeigen, dass die Nutzer und Entwickler in den letzten
Jahren vielfältige Anwendungen aufgebaut haben, die
vorher nicht denkbar waren. Diese positiven Entwicklungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland werden
durch die vorliegende Gesetzesänderung weiter vorangetrieben.
Big Brother is watching you: Das ist die einzig erkennbare Zielsetzung der Änderung am Geodatenzugangsgesetz. Die Richtlinie 2007/2/EG der EuropäiZu Protokoll gegebene Reden
schen Union verlangt eine Vernetzung von Geodaten
über die Grenzen der Einzelstaaten hinweg. Die Behörden sollen die Daten untereinander austauschen können.
Zugrunde liegen Datenformate, die eine maschinelle
Verarbeitung ermöglichen und damit eine bessere gemeinsame Umweltpolitik und Abstimmung in anderen
Bereichen ermöglichen.
Aber um welche Daten handelt es sich, und wer soll
darauf Zugriff haben? Klar, es geht, wie der Name es
sagt, um geologische Daten: Wie ist der Boden? Welche
Gesteine oder Rohstoffe sind bekannt? Welche Flora
und Fauna ist vorhanden? Welche Bebauung, Straßen,
Grundstücksgrenzen sind vorhanden? Es handelt sich
aber auch um Adressen mit Straßen und Hausnummern.
Als Geodaten werden auch Informationen zu Krankheiten, Allergien, Krebsfällen, sozialen Aspekten, Kriminalität erfasst. Dies alles erfolgt bereits mit dem jetzigen
Gesetz.
Wenn also Max Mustermann an einer meldepflichtigen Krankheit leidet, dann können dies sein Finanzamt,
das Gesundheitsamt, aber auch die EU-Kommission in
Brüssel mit wenigen Mausklicks erfahren. Datenschutz
ist hier Fehlanzeige. Bei der Verabschiedung des Gesetzes hat die FDP, damals in der Opposition, folgerichtig
einen Vorschlag zur Verbesserung des Datenschutzes,
des Schutzes der persönlichen Daten, eingebracht, den
die Linke unterstützte. Leider ignorierte die damalige
Regierung den Vorschlag.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Novellierung des Geodatenzugangsgesetzes geht jetzt weit
über die Richtlinie hinaus. Während im aktuellen Gesetz
die Daten entsprechend der Richtlinie nur unter europäischen Behörden austauschbar und verfügbar sind,
sollen die Daten nach der Novellierung zukünftig jedem
Interessenten ohne eine Angabe von Gründen zur Verfügung stehen. Das schafft einige Chancen; aber es ergeben sich aus dieser allgemeinen Verfügbarkeit der Daten
auch massive Probleme.
Zum einen wird das Auffinden von Bodenschätzen
jetzt erheblich vereinfacht. Eine erste Suche kann am
grünen Tisch erfolgen. Es wird einen Run auf Sucherlaubnisse geben, aber dafür ist das deutsche Bergrecht
nicht ausgelegt. Es fehlen beispielsweise notwendige
Bremsen wie der Nachweis der Abbaunotwendigkeiten,
ein effektiver Umweltschutz und die Berücksichtigung
der Bevölkerungsinteressen. Dieser Mangel ließe sich
beheben, würde das von der Fraktion Die Linke vorgeschlagene neue Bergrecht eingeführt.
Auch für Bauherren, Umweltschützer und Städteplaner zeichnen sich Vorteile ab. Aber wo bleibt das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der
Bürger? - Es wird weggewischt.
Über Max Mustermanns Krankheit kann sich nun
sein Versicherungsvertreter für die Kranken- oder
Lebensversicherung informieren; damit steigt seine
Prämie, oder er kriegt gar keinen Vertrag. Will er einen
neuen Job antreten - oh, er ist krank! -, gewinnt ein anderer Bewerber. Auch Maxes Nachbar leidet; er wird
das Haus nur mit Preisabschlägen los.
Daten zu Kriminalität, Sozialstrukturen usw. kann
sich jeder adressengenau besorgen. Damit wird jeder
von uns, jede Bürgerin und jeder Bürger, zum Bestandteil einer „Truman-Show“. Das lehnt die Linke strikt ab.
Wir fordern, dass alle persönlich zuordenbaren Daten,
also Daten, die zur Stigmatisierung von Menschen beitragen können, nicht öffentlich bleiben.
Damit die Bundesregierung die Zugriffsrechte zukünftig ohne Einsprüche aus dem Parlament und dem
Bundesrat im Alleingang regeln kann, lässt sie sich noch
eine Verordnungsermächtigung ins Gesetz schreiben.
Damit wird jede Entscheidung zum Umgang mit all diesen Informationen der demokratischen Kontrolle entzogen. Das lehnt meine Fraktion entschieden ab, und ich
hoffe, geehrte Kolleginnen und Kollegen, dass Sie zumindest diese Selbstentmachtung des Bundestages, diesen Angriff auf unsere Demokratie ablehnen.
Ansonsten bliebe mir nur eines zu sagen: Big Brother
is watching us.
Heute beraten wir endlich wieder eine Gesetzesvorlage aus dem Bundesumweltministerium. Ich würde mir
wünschen, dass es in Zukunft wieder mehr Gesetzentwürfe aus diesem Hause gibt. Das vorgelegte Geodatenzugangsgesetz ist wichtig und auch weitgehend unstrittig. Aber - das muss auch gesagt werden - es ist nicht
der große Wurf eines aktiv arbeitenden Umweltministeriums, das Umweltpolitik gestalten will, sondern nur die
reine Pflichterfüllung, das heißt die Umsetzung einer europäischen Anforderung. Aber immerhin wenigstens
das.
In anderen Bereichen - ich erwähne hier immer wieder gerne die notwendige Anpassung des Umweltrechtsbehelfsgesetzes, die nun schon mehr als ein halbes Jahr
in der Ressortabstimmung ist - versäumen Sie es, einfache und klare EU-Vorgaben in deutsches Recht umzusetzen. Von den wirklich bedeutenden Baustellen wie den
einzelnen Bestandteilen der Energiewende will ich hier
im Detail nicht sprechen.
Zum Gesetzentwurf konkret möchte ich Folgendes sagen: Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung umfassend freien Zugang zu Geodaten gewährleisten will
und sich damit in Sachen Open Government und Open
Data konkret etwas traut, freilich wohl nur aufgrund des
Druckes einer EU-Richtlinie im Nacken. Wenn Geodaten kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, können
zum Beispiel mögliche Doppelerhebungen von Daten
vermieden werden, wenn es um ortsbezogene Informationen geht. Damit werden die Hürden zum freien Informationszugang für interessierte Bürgerinnen und
Bürger merklich niedriger; es wird leichter, mit zuverlässigem Umweltdatenmaterial zu arbeiten. Bürgerinnen und Bürger können so selbst kompetente Schlussfolgerungen ziehen.
Eine wichtige Frage beim freien Zugang zu Daten für
die Öffentlichkeit ist immer die Abwägung zwischen dem
Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem
berechtigten Interesse des Einzelnen am Schutz seiner
Privatheit und seiner Daten. Der vorgelegte ÄnderungsZu Protokoll gegebene Reden
entwurf des Geodatenzugangsgesetzes hätte Anlass gegeben, ein wesentliches Manko der bestehenden Regelung zu beseitigen, nämlich das völlige Fehlen einer die
Abwägung mit entgegenstehenden Datenschutzrechten
steuernden Regelung. Denn es ist völlig unstreitig und
wird insoweit auch in der zugrunde liegenden INSPIRERichtlinie vorausgesetzt, dass Geodaten für sich genommen und je nach Kontext bereits einen Personenbezug
im Sinne der Datenschutzrichtlinie 95/46 bzw. der Datenschutzgesetze des Bundes und der Länder enthalten
können. Für die besonderen, mit der massenhaften Auswertbarkeit bereitgestellter Geodaten verbundenen Risiken, zum Beispiel der systematischen Auswertung zu den
unterschiedlichsten wirtschaftlichen Zwecken, bedarf es
deshalb einer den Schutzbedarf angemessen berücksichtigenden grundlegenden Regelung bereits im Geodatenzugangsgesetz selbst. Damit wird gerade nicht ausgeschlossen, dass in weiteren Bereichen zusätzliche
Bestimmungen für konkrete Rechtsgebiete geschaffen
werden.
Bedenklich erscheint weiterhin, dass mit dem vorliegenden Änderungsentwurf eine zumindest in Bezug auf
Fragen des Datenschutzes nicht näher eingegrenzte
Verordnungsermächtigung für nähere Regelungen der
Geodatennutzung geschaffen wird. Wir weisen deshalb
darauf hin, dass nach unserer Auffassung mögliche, das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung betreffende Regelungen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig dem
Gesetzesvorbehalt unterfallen und dementsprechend
nicht allein in der Verordnung erfasst werden dürften.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Erhebung
von Geobasisdaten Ländersache und mit nicht unerheblichen Kosten verbunden ist. Dieser Aspekt war auch
Schwerpunkt der Diskussion im Bundesrat, da einige
Bundesländer zu Recht befürchteten, hier könnten ihnen
Mindereinnahmen aus der Abgabe von Geodaten entstehen. Die Landesvermessungsämter müssen weiter sicher
sein können, dass ausreichend Finanzmittel für Satellitendatenakquise, Befliegungen zur Erstellung von Luftbildern, zur Nutzung von Satellitenpositionierungsdiensten und Ähnlichem zur Verfügung gestellt werden.
Dazu muss auch weiterhin die Möglichkeit bestehen,
bestimmte Nutzergruppen, insbesondere in Bezug auf
Spezialdaten, an den Kosten der Datengewinnung zu beteiligen. Hier konnte jedoch die notwendige Klarstellung erreicht werden.
Wir unterstützen den Gesetzentwurf in den parlamentarischen Beratungen, was die Entfaltung des wichtigen
Zieles von Open Government angeht. Aber wir möchten
unterstreichen, dass wir zeitnah weitere Vorlagen zu den
drängenden umweltpolitischen Fragen erwarten, wie
zum Beispiel die Änderung des Umweltrechtsbehelfsgesetzes. Das Verschieben von Vorlagen in die Warteschleife Ressortabstimmung, anstatt sie in die parlamentarische Beratung zu geben, muss endlich ein Ende haben.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9686 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Fraktion der SPD
Nachhaltige Entwicklung in Subsahara-Afrika
durch die Stärkung der Menschenrechte fördern
- Drucksachen 17/7370, 17/9711 Berichterstattung:Abgeordnete Frank HeinrichChristoph SträsserMarina SchusterAnnette GrothVolker Beck ({1})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Sie sind damit einverstanden. Das ist so beschlossen. Die
Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir vor.1)
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9711, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7370 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen und die Linksfraktion.
Gegenprobe! - Fraktion der Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Keine. Somit
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartwig
Fischer ({2}), Philipp Mißfelder, Johannes
Selle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Dr. Rainer Stinner, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Republiken Sudan und Südsudan stabilisieren
- Drucksache 17/9747 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({3})VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir vor.
Wir haben heute ein Thema von weltpolitischer Di-
mension auf der Tagesordnung, leider zu später Tages-
zeit.
1) Anlage 4
Johannes Selle ({0})
Ich begrüße es aber trotzdem, dass wir heute unseren
Antrag und das Engagement Deutschlands zum Frieden
im Sudan diskutieren können. Bereits 2009 haben wir an
dieser Stelle mit unserem parteiübergreifenden Antrag
zum Sudan - BT 17/1158 - mit die Grundlage zu einem
intensiven Engagement Deutschlands für den Frieden,
insbesondere die friedliche Trennung des Sudan gelegt.
Der Republik Südsudan ist am 9. Juli 2011 als 193.
Staat der Völkergemeinschaft beigetreten. Die Abtrennung von der Republik Sudan verlief weitgehend friedlich. Die friedliche Entwicklung aber geriet ins Stocken,
und wir erleben wieder Krieg und Gewalt, Menschen
müssen vor Bombenangriffen flüchten - gerade heute
bekamen wir Bilder von den zerfetzten Menschenleibern
zu sehen -, Menschen werden vertrieben, ihre Lebensgrundlagen, ihre wirtschaftliche Existenz werden zerstört. Sie leiden Hunger und jeden denkbaren Mangel,
von Entwicklung und beginnender Prosperität kann
überhaupt nicht die Rede sein.
In den letzten Monaten war die Lage zwischen Sudan
und Südsudan sehr angespannt. Immer wieder aufflammende Kämpfe zwischen Truppen beider Länder, Rebellen und Milizen belasten die ohnehin prekäre humanitäre Lage der Zivilbevölkerung. Die Grenzprobleme
zwischen Nord- und Südsudan, die Aufteilung der Öleinnahmen und die Abyei-Frage sind ungelöst. In Südkordofan und Blue Nile wird nach wie vor gekämpft. Die
Afrikanische Union mit Vermittler Thabo Mbeki sowie
der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben die
Konfliktparteien ultimativ aufgerufen, sich ernsthaft und
konstruktiv an Friedensgesprächen zu beteiligen, bisher
jedoch ohne zählbaren Erfolg.
Nach Informationen der Vereinten Nationen sind in
der ersten Jahreshälfte 2012 über 3 000 Menschen im
Sudan und Südsudan zu Tode gekommen. Der Deutsche
Bundestag kann und darf hier nicht schweigen. Die
schrecklichen Ereignisse rufen uns auf, unser Engagement für Frieden in diesem Land und den Schutz von
Zivilisten, insbesondere von Kindern und Frauen, deutlich zu intensivieren. Die Parlamentarier und die NGOs,
die wir in dieser Woche sprachen, blicken uns ebenfalls
erwartungsvoll an.
Durch diesen Antrag kann der deutsche Bundestag
ein klares Signal für seine Partnerschaft mit Afrika, für
Menschenrechte, den Schutz von Zivilisten und Unterstützung für die Zivilbevölkerung im Südsudan geben.
Dabei werden wir nicht die Augen vor der Realität verschließen: Beide Sudans steht vor schweren Herausforderungen, und beide müssen erfolgreich sein, soll es
Frieden und Stabilität geben. Das alles verpflichtet eigentlich zum gemeinsamen Handeln.
Sudan und Südsudan müssen deshalb bei allen auftauchenden Fragen den Frieden ganz obenan stellen
und auf jedwede Gewaltanwendung verzichten. Wir setzen uns dabei für eine gerechten Ausgleich zwischen
Khartoum und Juba ein: in der Frage der Produktion
und der Aufteilung der Ölressourcen, beim Grenzverlauf
zwischen Nord und Süd und in der Frage des Aufenthaltsrechts von Nord- und Südsudanesen im jeweilig anderen Staat.
Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle auf die
Situation in Südkordofan und Blue Nile aufmerksam machen. Dort wurden die Kämpfe immer noch nicht vollständig eingestellt. Noch immer sind Frauen und Kinder
Schüssen und Bombardierungen ausgesetzt oder müssen
in Flüchtlingslagern ohnmächtig der Zerstörung ihrer
Existenzgrundlagen zusehen.
Lasst uns gemeinsam die Verantwortlichen der sudanesischen und der südsudanesischen Regierung sowie
die Führer der SPLM in diesen Gebieten auffordern, die
Waffen umgehend niederzulegen und die Vermittlung der
Afrikanischen Union anzunehmen.
In der umstrittenen Provinz Abyei ist es der Mission
der Vereinten Nationen UNISFA gelungen, Kämpfe zwischen Nord und Südsudan zu verhindern. Khartoum und
Juba haben ein Abkommen geschlossen, das den Truppenabzug, eine gemeinsame Verwaltung und einen Krisenlösungsmechanismus vorsieht. Diese Vereinbarung
gilt es umzusetzen. Hier haben wir ein Beispiel, das auch
für andere Krisenherde der Region als Lösungsansatz
dienen kann.
Am 28. Juni und 30. Juni 2011 haben die Konfliktparteien, die Regierung in Khartoum und die südsudanesische Regierung, Abkommen über die Einstellung der
Feindseligkeiten in Südkordofan und über gemeinsame
Überwachungsmechanismen der Grenze zwischen Nordund Südsudan getroffen. Die Vereinten Nationen sollten
diese durch Beobachter überwachen.
In Darfur sollte die Umsetzung des Doha-Friedensabkommens weiter vorangetrieben werden. Keiner Partei in diesem Konflikt darf es erlaubt werden, den Friedensprozess einseitig für eigene Zwecke zu torpedieren.
Die deutsche Beteiligung an UNMISS und UNAMID
ist ein wichtiges Zeichen, insbesondere an die Vereinten
Nationen und die Afrikanische Union, dass Deutschland
das internationale Engagement im Sudan und Südsudan
unterstützt.
Sie kennen Art und Umfang des deutschen Engagements, das eng mit unseren internationalen Partnern abgestimmt wurde. Wir haben die Mandate hier im Bundestag mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Es ist
gut, dass der Bundestag in dieser Frage geschlossen ist.
Dadurch entsteht ein kraftvoller Impuls, den wir an die
friedliche Entwicklung weitergeben können.
An dieser Stelle möchte ich den Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten, die dort unter
extrem schwierigen Bedingungen ihre Aufgaben erfüllen, aufrichtigen Dank sagen und meine tiefe Anerkennung aussprechen.
Dies gilt auch für die engagierten Mitarbeiter von
Entwicklungshilfeorganisationen, humanitären und
Nichtregierungsorganisationen, die unter schwierigsten
Bedingungen vor Ort tätig sind.
Am wirkungsvollsten wird unser politisches Engagement durch konkrete Aufbaumaßnahmen. Der Aufbau
des Südsudan und die entwicklungspolitische Zusammenarbeit sowie der Stärkung der Zivilgesellschaft sollten die besondere Aufmerksamkeit der Bundesregierung
Zu Protokoll gegebene Reden
Johannes Selle ({1})
bekommen. Wir können helfen, die Lage der zivilen Bevölkerung zu verbessern. Dadurch entsteht die Ermutigung, den friedlichen Weg durchzuhalten. Der Aufbau
einer Wasserversorgung auch in der Fläche im Südsudan, der Aufbau funktionierender Verwaltungsstrukturen
und die Entwaffnung und Demobilisierung von Soldaten
und Milizionären zählen nach wie vor zu den Schwerpunkten der Entwicklungshilfe der Bundesregierung.
Wir dürfen aber bei unseren Bemühungen für Nachhaltigkeit den Wiederaufbau in Darfur und in den anderen Landesteilen Sudans nicht vergessen. Das von
UNAMID erarbeitete Rahmenabkommen für den Friedensprozess in Darfur muss durch konkrete Hilfsmaßnahmen vor Ort unterstützt werden. In Darfur müssen
wieder Bedingungen herrschen, die es den Menschen erlauben, die Flüchtlingslager zu verlassen und in ihre angestammten Siedlungsgebiete zurückzukehren. Dazu gehört die Überführung von humanitärer Hilfe in
Wiederaufbaumaßnahmen, der Bau von Schulen, Straßen, Gesundheitseinrichtungen und die Förderung von
Handel und Gewerbe. Wir stärken damit Menschenrechte, Gerechtigkeit, Partizipation und Freiheit.
Wir dürfen nicht aufhören, uns für Frieden, Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Die fortgesetzte
deutsche militärische Beteiligung an UNMISS und
UNAMID ist ein Zeichen des deutschen Engagements
für nachhaltige Entwicklung. Wir müssen die Friedensprozesse im Sudan und Südsudan stärker unterstützen.
Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag als Zeichen unseres Einsatzes für Frieden und Ausgleich und den Schutz von Flüchtlingen, Zivilisten, Kindern und Frauen.
Wir debattieren heute auf der Grundlage eines Antrags der schwarz-gelben Koalition über die Lage im
Sudan. Ich will keinen Zweifel daran lassen: Gerade
jetzt ist es richtig und wichtig, diese Region wieder in
das Bewusstsein der Menschen und insbesondere der
Politik zu rufen. Denn der Konflikt zwischen dem Sudan
und dem Südsudan hat sich in den vergangenen Wochen
zugespitzt. Die Situation ist äußerst explosiv und fragil.
Am 10. April eskalierten die militärischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Staaten. Südsudanesische Truppen hatten das strategisch wichtige und ölreiche Gebiet von Heglig circa 50 Kilometer nördlich
der Grenze zum Südsudan besetzt, einer Grenze allerdings, über deren konkreten Verlauf auch in diesem Gebiet noch immer keine endgültige Verständigung erzielt
werden konnte. Südsudan hatte Aufforderungen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, der AU, der USA,
der EU und auch Deutschlands, sich wieder zurückzuziehen, anfangs abgelehnt bzw. unter den Vorbehalt der
Entsendung von VN-Truppen gestellt. Viele Beobachter
sprachen bereits von kriegerischen Verhältnissen und
kamen der Realität damit wohl sehr nahe.
Unser aller Hoffnung, dass sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern mit der Unabhängigkeit des
Südsudan verbessern würde, hat sich nicht erfüllt. Im
Gegenteil: Die Situation wird immer prekärer. Die
Gründe dafür sind komplex und können hier nur grob
skizziert werden: Strittig zwischen Nord und Süd sind
immer noch grundlegende Fragen, wie die Aufteilung
der Einnahmen aus den Ölressourcen zwischen beiden
Staaten und der genaue Grenzverlauf zwischen Nord
und Süd. Auch Entscheidungen über den künftigen Status der sudanesischen Bundesstaaten Blauer Nil und
Südkordofan sind weiterhin nicht in Sicht. Seit Juni 2011
finden aus diesem Grund andauernde Kämpfe in Südkordofan statt. Seit September 2011 gilt Gleiches für den
Bundestaat Blauer Nil. Die humanitäre Lage spitzt sich
deshalb besonders in Südsudan gefährlich zu.
Durch den Stopp der Erdölproduktion in der Folge
der gescheiterten Verhandlungen mit Sudan hat die
südsudanesische Regierung das Problem noch weiter
verschärft. Aus der Erdölproduktion bezieht sie schließlich 95 Prozent ihrer Staatseinnahmen. Die Versorgung
der Bevölkerung, die Zahlung der Gehälter an die Armee, die Polizei und die Beamten sowie die Aufgaben
des Staatsaufbaus sind damit nicht mehr zu bewältigen.
Die Weltgemeinschaft befürchtet den Ausbruch einer
Hungerkrise.
In der Folge auf die VN-Resolution haben Südsudan
am 1. Mai und Sudan am 2. Mai die von der AU entworfene Roadmap akzeptiert. Seit dem 5. Mai hält eine Waffenruhe. Aber wer weiß, wie lang noch? Auch die verbale Aufrüstung zwischen den Kontrahenten sowie die
Luftangriffe der sudanesischen Armee auch auf zivile
Ziele im Süden, die nach jetziger Erkenntnis zum Glück
eingestellt wurden, haben zur Eskalation nicht unerheblich beigetragen.
In dieser sehr schwierigen Situation ist die Initiative
eines Antrages zur Verbesserung der Lage im Sudan
sehr zu begrüßen. Die Zustandsbeschreibung im Antrag
der Regierungskoalition ist weitestgehend zutreffend,
viele Forderungen sind unterstützenswert. So ist es in
diesem Zusammenhang richtig und wichtig, die Bundesregierung aufzurufen, die Resolution 2046 ({0}) des
Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 2. Mai 2012
und den Friedensfahrplan der Afrikanischen Union zur
Lösung der Konflikte zwischen Sudan und Südsudan tatkräftig zu unterstützen. Auch fordert die SPD-Bundestagsfraktion seit jeher, dass sich die Bundesregierung im
Rahmen der VN weiterhin und vor allem verstärkt für
eine ausreichende Ausstattung der VN-Friedensmissionen mit finanziellen, personellen und logistischen Ressourcen zur Ausführung der VN-Mandate einsetzen
soll - eine Forderung, der die Bundesregierung auch
nach jetzigem Stand völlig unzureichend nachkommt.
Eine unserer Hauptforderungen an die Bundesregierung war es zudem bereits im interfraktionellen Antrag
vom März 2010, die internationale Hilfe für die Republiken Sudan und Südsudan stärker mit der Verpflichtung zur Einhaltung von Menschenrechten sowie zur Bekämpfung von Korruption zu verbinden und dabei auch
Drittstaaten wie China stärker in den politischen Dialog
mit einzubeziehen. So ließe sich die Reihe Ihrer Forderungen, die wir unterstützen, fortsetzen. Deshalb hätten
wir sicher auch einen interfraktionellen Antrag zusammenbringen können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Doch warum ist es bei diesem Thema diesmal nicht zu
einem solchen interfraktionellen Antrag gekommen?
Warum sind Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Regierungsfraktion, gar nicht auf uns zugegangen? Diese Frage haben mir in den vergangenen Tagen auch die Vertreter vieler NGOs gestellt, die sich ein
gemeinsames Vorgehen aller Fraktionen vermutlich wieder sehr gewünscht hätten, als starkes Signal aus dem
Deutschen Bundestag, wo doch gerade die jetzigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Nord- und
Südsudan sowie die desaströse humanitäre und menschenrechtliche Lage ein gemeinsames Handeln erfordern. Denn auch ohne die Zuspitzung des Konfliktes war
uns das Erfordernis eines gemeinsamen Handelns hier
im Parlament bereits im März 2010 bewusst. Deshalb
hatten wir seinerzeit einen vielbeachteten und von vielen
Organisationen der Zivilgesellschaft unterstützten gemeinsamen Antrag zum Sudan eingebracht.
Kollege Johannes Selle von der CDU/CSU-Fraktion
stellte damals bereits fest: „Ein gemeinsamer Antrag ist
der sudanesischen Situation angemessen. Wir haben das
gemeinsame Ziel eines dauerhaften Friedens im Blick,
und das erwarten wir auch von den Konfliktparteien.“
Warum gilt dieser Aufruf zu einem gemeinsamen Handeln aller Fraktionen vor dem Hintergrund der aktuell
absolut verschärften Konfliktsituation zwischen Südund Nordsudan nun nicht mehr? Warum gab es kein Gesprächsangebot? Unsere Türen wären offen gewesen,
sie sind es übrigens immer noch.
Von der Kollegin Schuster von der FDP-Fraktion
hieß es im März 2010: „Mit dem interfraktionellen Antrag senden wir ein sehr starkes Signal …“ Weiter sagte
sie: „Mit dem Antrag, der heute vorliegt, halten wir
Wort. Wir haben bei der Podiumsdiskussion am 7. Januar das Versprechen gegeben, uns zu einem interfraktionellen Antrag zusammenzufinden, und wir haben unser Versprechen gehalten.“ Aber warum ist dieser
Aufruf zur gemeinsamen politischen Initiative im Lichte
der aktuellen desaströsen Lage im Sudan nun nicht mehr
gewollt? Das will vor allem deswegen nicht einleuchten,
weil viele Forderungen in Ihrem Antrag, wie bereits erwähnt, deckungsgleich mit den Forderungen im interfraktionellen Antrag von 2010 und mit den gemeinsam
getragenen Anträgen zu UNAMID sind. Viele dieser
Forderungen wurden also gemeinsam von uns allen bereits mehrfach auf die Tagesordnung gebracht.
Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Denn es ist leider
nicht so, wie es von Frau Schuster verständlicherweise
im März 2010 gehofft wurde - ich zitiere -: „Ich freue
mich noch mehr, wenn ich sehen kann, dass unsere Bundesregierung die Forderungen dieses Antrages Schritt
für Schritt umsetzt. Da setze ich große Hoffnungen auf
Staatsministerin Cornelia Pieper, Dirk Niebel und natürlich auch den Außenminister.“
Sehr geehrte Frau Schuster, nicht dass Sie mich
falsch verstehen: Ich schätze ihre Arbeit sehr und teile,
wie die meisten anderen in diesem Hause, ihren damaligen Wunsch und die Hoffnung, dass die Bundesregierung unseren gemeinsamen Forderungen für eine Verbesserung der Lage im Sudan nachkommen möge. Ihr
Antrag ist aber der schlagende Beweis dafür, dass Ihre
Erwartungen an Ihre eigene Regierung bitter enttäuscht
worden sind; denn diese Regierung, die von Ihnen genannten Personen, sind Ihren und unseren Forderungen
gerade nicht nachgekommen. Sonst hätten sich weite
Teile Ihres neuen Antrages nämlich bereits durch Regierungshandeln erledigt.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Regierungskoalition, in Ihrem Antrag auf diese Vorgeschichte aufmerksam gemacht und deshalb ihre eigene
Regierung nachdrücklicher dazu aufgefordert hätten,
endlich den nun schon mehrfach geäußerten Forderungen nachzukommen, würde das Ganze vielleicht noch einen Sinn ergeben. So aber entlarven Sie, vermutlich ungewollt, die Untätigkeit der Bundesregierung in weiten
Bereichen der Sudan-Politik. Zudem enttäuschen sie
viele NGOs und ehrenamtlich Engagierte, die auf ein gemeinsames Handeln aller Fraktionen gebaut haben.
Dieses Signal können wir von der SPD-Fraktion deshalb
heute nicht mittragen. Es unterschlägt die Tatenlosigkeit
der Bundesregierung und beendet die so dringende gemeinsame politische Initiative für Stabilität im Sudan
und Südsudan. Aber selbstverständlich sind wir für eine
zukünftige Zusammenarbeit immer offen.
Zehn Monate nach der friedlichen Teilung haben sich
die Beziehungen zwischen Sudan und Südsudan dramatisch verschlechtert. Die beiden Länder befinden sich
am Rande eines neuen Krieges. Die vergangenen Monate haben gar befürchten lassen, dass sich der Konflikt
vollends entfesseln könnte. Wir fordern die Konfliktparteien daher auf, die Kämpfe unverzüglich einzustellen
und auf Verhandlungen zu setzen, um die verbliebenen
Fragen des umfassenden Friedensabkommens zu lösen.
Das humanitäre Leid der Bevölkerung, insbesondere
in den Bundesstaaten Blauer Nil und Südkordofan, ist
unermesslich und nimmt zu. Nach Angaben von UNHCR
sind circa 185 000 Flüchtlinge aus Südkordofan und
Blauem Nil nach Südsudan und Äthiopien geflohen;
mehr als 400 000 Personen sind vertrieben worden.
Der Zugang zu den umkämpften Regionen ist internationalen humanitären Organisationen bisher durch die
sudanesische Regierung untersagt. Aufrufen der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union, der Arabischen
Liga und des UN-Sicherheitsrats, den humanitären Zugang zu gewähren, ist die sudanesische Regierung bisher nicht nachgekommen. Vor diesem Hintergrund verdient die Lage im Sudan und in der Region dringend
verstärkte Aufmerksamkeit. Dieser umfassende Antrag,
für dessen Unterstützung ich bei der Opposition werbe,
soll einen Beitrag hierzu leisten.
Die am 10. Februar dieses Jahres von den Staatspräsidenten Salva Kiir und Umar al-Baschir unterzeichnete
Vereinbarung über einen Nichtangriffspakt und verstärkte Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten markierte ein erstes positives Zeichen der bilateralen Verhandlungen. In der Vereinbarung verpflichten sich beide
Republiken, die Souveränität und territoriale Integrität
des anderen Staats zu respektieren. Doch wurde das für
Zu Protokoll gegebene Reden
Anfang April geplante weiterführende bilaterale Gespräch beider Präsidenten aufgrund heftigster Zusammenstöße in Südkordofan, Blue Nile und im Grenzstaat
Unity abgesagt. Mit der zunehmenden Eskalation der Situation um die Grenzregion Heglig stehen die Zeichen
auf Verhärtung.
So bleiben wichtige Fragen des umfassenden Friedensabkommens bis auf Weiteres ungelöst. Für die umstrittene Grenzregion Abyei ist bisher kein Abhalten eines Referendums vorgesehen, wie es das Abkommen
vorsieht. Auch über den künftigen Status der sudanesischen Bundestaaten Blauer Nil und Südkordofan sind
keine Entscheidungen in Sicht.
Darüber hinaus ist die Bilanz des Entwaffnungsprogramms, kurz DDR, sowohl auf sudanesischer als auch
auf südsudanesischer Seite ernüchternd. Es mangelt an
politischem Willen, sich entwaffnen zu lassen. Der Widerstand der Bevölkerungen gegen die Entwaffnung ist
groß. Leider hat die enge und wichtige Zusammenarbeit
mit UNMISS und dem UN-Entwicklungsprogramm
UNDP bisher keine zufriedenstellenden Fortschritte erzielen können. Daher müssen unsere Anstrengungen in
diesem wichtigen Bereich verstärkt werden.
Deutschland unterstützt im Rahmen des Sudan-Konzepts die Vermittlungsbemühungen des African Union
High-Level Implementation Panel, AUHIP, unter Leitung von Thabo Mbeki. Wir setzen uns für einen verstärkten politischen Dialog zwischen Sudan und Südsudan, die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit sowie die
Durchführung von Sicherheitssektorreformen in beiden
sudanesischen Staaten ein. Deutsche Soldaten in den
VN-Friedensmissionen UNMISS und UNAMID leisten
hier anerkannte Beiträge zur Stabilisierung der Lage in
beiden Staaten.
Im Südsudan liegt ein weiterer Fokus auf dem Aufbau
staatlicher Strukturen und Institutionen. Hier ist es
wichtig, die Führung im Südsudan an die Verantwortung
gegenüber ihren Bürgern, egal welcher ethnischer Zugehörigkeit, zu erinnern. Denn nötige politische und administrative Strukturen, die für eine Bereitstellung öffentlicher Leistungen nötig wären, fehlen nach wie vor.
So bleibt eine Friedensdividende auch für die Bevölkerung im Südsudan bisher aus.
Der Schlüssel zur langfristigen Stabilisierung der
Lage liegt im politischen Prozess. UNAMID, UNMISS
und UNISFA sind wichtige, aber keine ausreichenden
Beiträge der internationalen Gemeinschaft, um die
Menschen zu schützen und dauerhaften Frieden zu fördern. Alle drei Missionen können nur erfolgreich sein,
wenn sie auf einen tragfähigen Waffenstillstand sowie
einen umfassenden Friedensprozess aufbauen können.
Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich innerhalb der EU und der VN, insbesondere im Dialog mit
der AU für die Ausarbeitung einer gemeinsamen Strategie für Sudan und Südsudan einzusetzen, die Wege zur
politischen Lösung der Darfur-Krise mit einschließt und
die vollständige Umsetzung des umfassenden Friedensabkommens sicherstellt. Seit Jahren begleitet die Bundesregierung Sudan und seit dem vergangenen Jahr
Südsudan. Das Engagement in den verschiedensten Bereichen findet sich auch im Sudan-Konzept wieder, auf
dessen Basis wir den Weg der Zusammenarbeit fortsetzen wollen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur Situation
in Darfur sagen. Nach wie vor sind dort circa 2 Millionen Menschen von humanitärer Hilfe abhängig. Im
Mai 2012 gab es neue Auseinandersetzungen. Mit anderen Worten: Die Sicherheits- und Menschenrechtslage in
Darfur ist unverändert schlecht. Es ist daher wichtig,
dass wir die Situation in Darfur aufgrund der Konfliktlage zwischen beiden Staaten nicht aus den Augen verlieren. Das mag aufgrund der komplexen Gemengelage
und der trüben Aussichten in beiden Fällen nicht immer
leichtfallen. Doch sind wir es den Menschen schuldig,
die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und unermüdlich nach neuen Lösungswegen zu suchen.
Ein Jahr nach der Sezession des Südsudan vom Sudan hat sich die Lage dramatisch zugespitzt. Während
im Norden der Zentralstaat gegen eine Koalition aus
verschiedenen vom Süden unterstützten Guerillabewegungen kämpft, hat der Süden im April mit Heglig das
größte Ölfeld auf der anderen Seite der Grenze besetzt,
bevor es Khartums Truppen unter Einsatz von Luftbombardements zurückgewonnen haben.
Ein Waffenstillstand hat den Konflikt für den Moment
beendet. Doch er kann jederzeit wieder in einen offenen
Krieg ausbrechen. Niemand braucht diesen Krieg. Doch
er liegt in der Logik einer vom Westen unterstützten Sezession, die keines der sozialen Probleme gelöst hat,
aber einen zweiten, durch und durch militarisierten
Staat geschaffen hat. Die Sezession fand statt, obgleich
die Grenzziehung ungeklärt war, obgleich sich die Ölfelder unter der ungeklärten Grenze befinden. Sie fand
statt, ohne dass Fragen der Staatsbürgerschaft geklärt
waren.
Nun werden wir Zeuge, wie Hunderttausende von
Nord nach Süd und von Süd nach Nord fliehen. Nach wie
vor werden die Konflikte um Weideland ethnisch aufgeladen und vermengen sich gefährlich mit dem Konflikt
zwischen Nord und Süd. Der Sudan zeigt: Alle Versuche,
Konflikte durch die Einwirkung der Großmächte von außen zu lösen, funktionieren nicht. Im Sudan sind derzeit
beiderseits der heutigen Grenze seit Jahren mehrere
UN-Missionen aktiv. Sie haben nicht dazu beigetragen,
den Konflikt zu verhindern.
Nun fordert der Antrag der Regierungsparteien die
eigene Regierung auf, „sich im VN-Sicherheitsrat weiterhin für robuste und der jeweiligen Situation angemessene Mandate einzusetzen“. Sie umschreiben hier diplomatisch die Fortsetzung einer Politik, die vor allem auf
Entsendung von Militär setzt. Das verbrennt Unmengen
an Geld. Allein die im Darfur tätige UNAMID kostet
jährlich 1,8 Milliarden Dollar. Doch genau da eskaliert
nun ebenfalls der Konflikt. UNAMID ist, so äußerte sich
mir gegenüber ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation
vor Ort, eine große Geldfressmaschine ohne Auswirkung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bilanz von UNMISS ist genauso erbärmlich. Die
Bundeswehr hat unter diesem Mandat einige Offiziere
im Südsudan, zwei davon sogar in der im April bombardierten Stadt Bentiu. Doch deren Anwesenheit trägt
nichts zur Dämpfung des Konflikts bei. Sie half noch
nicht einmal, die Berichterstattung gegenüber dem Bundestag zu verbessern. Als der Konflikt zwischen Nord
und Süd eskalierte, lasen wir im März und April wochenlang in den regelmäßigen „Unterrichtungen“ durch
das Bundesverteidigungsministerium zum Sudan und
Südsudan: keine berichtenswerten Ereignisse. Während
der heißen Phase des Konflikts wurde noch nicht einmal
die offizielle Risikoeinschätzung verändert.
Militär ist keine Lösung für die Probleme im sudanesischen Konflikt. Die Linke fordert deshalb den sofortigen Abzug aller deutschen Soldaten aus dem Sudan und
aus Südsudan.
Es gibt noch einen Punkt, der mich an dem Antrag
wundert. Die Antragsteller tun so, als sei es die Politik
der Bundesregierung, gegenüber beiden Staaten eine
gleichgewichtige Politik zu betreiben. Dem ist nicht so.
Während es im Süden neben der unseligen Unterstützung beim Aufbau eines inneren Repressionsapparates
auch sinnvolle Entwicklungsprojekte gibt - ich nenne
hier die Projekte in den Bereichen Trinkwasser, Abwasser und Abfallentsorgung -, findet mit dem Norden keine
entwicklungspolitische technische Zusammenarbeit
mehr statt.
Mein Kollege Paul Schäfer war erst jüngst im Sudan
und im Südsudan und musste ebenfalls feststellen, dass
die einseitige Unterstützung des Südsudans durch den
Westen kontraproduktiv ist, nicht nur, weil damit, wie die
Antragsteller selber einräumen, eine durch und durch
militarisierte und korrupte Führung im Süden unterstützt wird, sondern auch, weil das nordsudanesische
Baschir-Regime den zivilen Widerstand im eigenen Land
umso leichter als von außen gesteuert denunzieren kann.
Denn wir dürfen nicht übersehen: Bei all dem Leid, das
der Elendskapitalismus an der Nahtstelle zwischen
Nord- und Südsudan nach sich zieht, haben wir im Norden, insbesondere in der Metropole Khartum, einen lebendigen Widerstand gegen das Regime. Der arabische
Frühling hat auch hier neuen Hoffnungen Auftrieb gegeben. Es ist dieser Widerstand allein, der einen Ansatzpunkt für eine Verbesserung der politischen Lage bietet.
Frieden wird es erst geben, wenn die Grenzen zwischen den Ethnien und zwischen Nord und Süd überwunden werden. Die Mächtigen im Sudan forcieren diese
Grenzen, um für sich selbst einen möglichst großen Teil
vom Ölreichtum abzugreifen. Wahrer Frieden kann nur
von unten wachsen, im Widerstand gegen die Regierungen in Nord und Süd.
Es ist schon viel zu lange her, dass wir hier im Plenum
auf die Lage im Sudan und Südsudan geblickt haben.
Deshalb begrüße ich diese Debatte hier sehr. Sie war
überfällig.
Denn nach der friedlichen Abspaltung des Südsudans
vom Nordsudan vor rund einem Jahr ist das Thema mal
wieder von den Radarschirmen von Politik und Medien
verschwunden. Ganz nach dem Motto, mit der Zweistaatenlösung wird schon alles gut.
Doch wenig ist gut im Sudan. Beide Staaten taumeln
im Streit ums Öl wie vor 20 Jahren wieder in einen
Krieg, wetzen weiter die Kriegsmesser erst wegen der
Ölfelder um Abyei und jetzt wegen der Ölfelder um Heglig. Der Kriegsfürst Harun, der Governeur in Südkordofan, der ohnehin schon lange wegen seiner Verbrechen in Darfur vom Internationalen Strafgerichtshof per
Haftbefehl gesucht wird, lässt in den Nubabergen weiter
wehrlose Menschen massakrieren und vertreiben, und
das mit der klaren Ansage, keine Gefangenen zu machen. Davon hat sich der UN-Menschenrechtsrat vor
Ort selbst überzeugt und an den UN-Sicherheitsrat berichtet. Tausende fliehen nach Südsudan und in die Region und verschärfen die ohnehin dramatische Lage der
an die 200 000 Flüchtlinge. Im Südsudan bekämpfen
sich immer wieder verfeindete Stämme, weil die Regierung mehr damit beschäftigt ist, ihre Pfründe zu sichern,
als wirklichen Pluralismus, Mitsprache und Rechtsstaatlichkeit umzusetzen. Und in Darfur weigert sich die
Rebellengruppe für Gerechtigkeit und Gleichheit, JEM,
noch immer, Frieden zu schließen, und kämpft verbissen
weiter. Gleichzeitig nehmen die sozialen Spannungen in
den großen Flüchtlingsstädten in Darfur weiter zu. Viele
Frauen werden Opfer von Vergewaltigungen - und das
alles vor den Augen von UNAMID, der größten Friedensmission weltweit. Dazu können und dürfen wir nicht
wegschauen.
Die internationale Gemeinschaft darf die alte krisenpräventive Weisheit nicht immer wieder ignorieren:
Nach der Krise ist immer auch vor der Krise. Und jetzt
rächt sich auch, dass die Lösung der Grenz- und Ölfrage, der Staatsangehörigkeit, der Entwaffnung und die
Referenden in Abyei, Südkordofan und Blauer Nil, wie
sie der Friedensvertrag zwischen Nord- und Südsudan,
das CPA, noch vor der Unabhängigkeit des Südsudan
vorsah, auf den Sanktnimmerleinstag vertagt wurde. Vor
solchen Entwicklungen haben wir schon frühzeitig in
unserem interfraktionellen Antrag vom 10. März 2010
und auch mehrfach im Unterausschuss Zivile Krisenprävention gewarnt. Jetzt sind die UNO und die AU wieder
einmal damit beschäftigt, die Krise nur einzudämmen,
anstatt nachhaltige Lösungen voranbringen zu können.
Die Streitparteien Sudan und Südsudan müssen die
Sicherheitsratsresolutionen 2026 und 2046 jetzt bedingungslos erfüllen. Sie müssen die Gewalt sofort beenden, die Roadmap der AU, den Mbeki-Plan zur Beendigung der Krise unverzüglich umsetzen, und zwar am
gemeinsamen Dialogtisch. Dazu hatten sie sich längst
mit ihrem Nichtangriffs- und Kooperationsmemorandum
vom Februar 2012 verpflichtet.
Doch auch die internationale Gemeinschaft steht in
der Mitverantwortung. Nach Jahren intensiver Einmischung darf sie die Menschen im Sudan nicht im Stich
lassen, nur weil alle gerade nach Syrien blicken. Wir
dürfen nicht zulassen, dass jetzt sieben Jahre schwieZu Protokoll gegebene Reden
Kerstin Müller ({0})
rigster Friedensprozess im Nichts enden.Und das gilt
besonders auch für die Bundesregierung, die sich zwar
engagiert, aber eben nicht genug. Sie müsste und könnte
mehr machen.
Noch immer warten wir auf eine gemeinsame Strategie des AA und BMZ für den Südsudan und auf Vorschläge für eine Verbesserung der Geberkoordination,
damit sich nicht alle auf den Füßen herumtreten. Das
hatte die Multi-Donor-Evaluierung der OECD/DAC der
Bundesregierung schon im Dezember 2010 ins Stammbuch geschrieben. Und noch immer sehe ich auch keine
konkreten Perspektiven für die entwaffneten, ehemaligen Kämpfer, damit sie nicht wieder zu den Waffen greifen, um sich und ihre Familien ernähren zu können.
Auch habe ich nichts gehört zu konkreten weiteren personellen Beiträgen - insbesondere auch mehr zivilem
Personal - für UNMISS.
Das gilt im Übrigen auch für notwendige Anstrengungen, China und Ägypten mehr in eine Krisenlösung einzubinden. Und schließlich scheint es so, als sei die EUSonderbeauftragte für den Sudan, Rosalind Marsden,
für die Bundesregierung schlicht bedeutungslos. Warum
unterstützen sie Frau Marsden nicht intensiv?
Leider greift auch der Antrag der Regierungskoalition an vielen Punkten entsprechend zu kurz. Es finden
sich keinerlei Kritikpunkte an der Politik der Bundesregierung, was vonseiten der Regierungskoalition wenig
verwundert. Nicht einmal neue Anregungen oder
Schwerpunkte, welche Aufgaben besonders von der
Bundesregierung unterstützt werden sollen, sind zu erkennen.
Ich bedaure es sehr, dass die Regierungskoalition
ohne Not die Chance hat verstreichen lassen, auf die anderen Fraktionen zuzugehen, um wie 2010 zu einem
breit getragenen interfraktionellen Antrag zu kommen.
Wir stehen dafür nach wie vor bereit. Denn das Thema
Sudan ist nun wirklich kein parteipolitisches Profilierungsthema, dafür ist die Sache zu ernst.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9747 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansUlrich Klose, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine Neubelebung und Stärkung der
transatlantischen Beziehungen
- Drucksache 17/9728 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.
„Für eine Neubelebung und Stärkung der transatlantischen Beziehungen“, so ist der Antrag der SPD überschrieben. Schon der Titel versucht den Leser allerdings
auf eine falsche Fährte zu führen und Tatsachen zu
verdrehen: Der Bundesregierung wird nämlich unterstellt, dass sie sich nicht ausreichend um die Pflege und
die Ausgestaltung der transatlantischen Beziehungen
bemühe.
Es kommt hinzu, dass es sich bei diesem Antrag eher
um ein Sammelsurium unterschiedlicher außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischer Themen denn um eine
fokussierte Forderung zur Stärkung der transatlantischen Beziehungen handelt: ein bisschen Geschichte,
ein bisschen EU, ein bisschen Deutschland, etwas
NATO, ein paar geostrategische Allgemeinplätze und
- natürlich - ein bisschen „Transatlantik“. Ich bin daher über dieses Papier sehr verwundert - zumal erfahrene Außenpolitiker der SPD, wie Herr Klose oder Herr
Erler, diesen Antrag mit unterzeichnet haben.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich freue
ich mich, dass auch die Sozialdemokraten die Bedeutung
der Beziehungen zu unseren Freunden und Partnern auf
der anderen Seite des Atlantiks erkannt haben. Dies sah
unter ihrem Bundeskanzler Gerhard Schröder noch ganz
anders aus. Ich erinnere insbesondere an die unsägliche
Instrumentalisierung antiamerikanischer Ressentiments zu Wahlkampfzwecken. Es war dieses Verhalten
der Regierung Schröder/Fischer, welches das transatlantische Verhältnis nachdrücklich beschädigt hat. Nur
durch die Anstrengungen von Bundeskanzlerin Angela
Merkel haben wir wieder zu einem vertrauensvollen
Umgang zurückgefunden. Es kommt daher auch nicht
von ungefähr, dass die Bundeskanzlerin 2011 von
Präsident Barack Obama mit der Presidential Medal of
Freedom, dem höchsten zivilen Orden der USA, ausgezeichnet wurde.
Offen gestanden habe ich allerdings nicht verstanden, was der Bundesregierung mit diesem Antrag
eigentlich mitgeteilt oder was von dieser an Verhalten
eingefordert werden soll. Ich habe daher versucht, anhand der von Ihnen unter Punkt 3 aufgeführten „Konsequenzen“ Ihre Intention zu verstehen. Allerdings finde
ich dort keinen einzigen Punkt, der ein Defizit beschreibt, dessen sich die Bundesregierung nicht schon
längst angenommen hätte.
Besonders auffällig ist dabei Ihre sehr zaghafte Forderung nach einer transatlantischen Freihandelszone.
Schön, dass Sie bei diesem Thema unsere Einschätzung
teilen. Die Bedeutung des transatlantischen Handels ist
kaum hoch genug einzuschätzen. Schließlich erwirtschaften die USA und die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit nur 10 Prozent der Weltbevölkerung
gemeinsam mehr als 50 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts. Im Jahre 2010 lag der Gesamtumsatz
beider Wirtschaftsräume bei 5 Billionen US-Dollar.
Der Bundesregierung ist diese Bedeutung schon länger bewusst, und daher handelt diese auch entsprechend: Ich darf Sie an den von Bundeskanzlerin Angela
Merkel 2007 initiierten Transatlantischen Wirtschaftsrat, den sogenannten TEC, erinnern. Dieser wird in
Ihrem Papier an keiner Stelle erwähnt, obwohl es sich
dabei um den Schritt hin zur weiteren Institutionalisierung transatlantischer Wirtschaftsbeziehungen handelt.
Auch die zum TEC gehörende High-Level Working
Group on Jobs and Growth, welche 2011 eingesetzt
wurde, kann ich in Ihrem Papier nirgends finden. Diese
Arbeitsgruppe wird bis Ende 2012 Schritte identifizieren, mit denen die Zusammenarbeit in den Bereichen
Handel und Investitionen vor allem dort gestärkt wird,
wo der Austausch Wachstum und Arbeitsplätze fördert.
Überlegungen für ein Freihandelsabkommen zwischen
der EU und den USA werden ebenfalls vorangetrieben.
Zudem hat sich die Bundeskanzlerin Anfang 2012 auf
dem Weltwirtschaftsforum in Davos eindeutig für eine
transatlantische Freihandelszone ausgesprochen.
Anfang Mai - Sie waren ebenfalls dazu eingeladen hat die CDU/CSU-Fraktion einen vielbeachteten Kongress zur Zukunft der transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft ausgerichtet. Im Vorfeld dieser sehr erfolgreichen Veranstaltung hat meine Fraktion ein
Positionspapier verabschiedet, welches sich für die Weiterentwicklung der für uns so wichtigen Handels- und
Wirtschaftsbeziehungen mit Nachdruck ausspricht. Ich
empfehle Ihnen dieses Papier nachdrücklich zur Lektüre.
Sie sehen, mein fehlendes Verständnis für Ihren Antrag ergibt sich daraus, dass sich die Bundesregierung
schon seit langem intensiv und mit Nachdruck um die
Stärkung der transatlantischen Beziehungen bemüht.
CDU und CSU sind die Parteien, welche sich seit Jahrzehnten kontinuierlich für die transatlantischen Beziehungen einsetzen. Für uns sind diese Beziehungen auch
deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie auf dem
Fundament gemeinsamer Werte und Interessen aufgebaut sind. Auch dazu haben wir uns anlässlich des
zehnten Jahrestages der Anschläge auf das World Trade
Center und das Pentagon mit einem Positionspapier
klar bekannt.
Der 25. Jahrestag der historischen Berliner Rede von
Ronald Reagan, in welcher er sich unmissverständlich
für die Überwindung der deutschen und europäischen
Teilung aussprach, wird von uns ebenfalls durch einen
entsprechenden Antrag gewürdigt werden.
Die Bundesregierung zu einem - ich zitiere - „kraftvollen Impuls für eine dringend notwendige Stärkung
der transatlantischen Partnerschaft“ aufzufordern, ist
so notwendig, wie die berühmten Eulen nach Athen zu
tragen. Wir sind uns der Bedeutung sämtlicher Facetten
der transatlantischen Beziehungen bewusst und handeln
entsprechend. Wenn Sie unsere Auffassungen teilen,
freue ich mich schon heute auf Ihre entsprechende
Unterstützung.
Die transatlantische Partnerschaft ist eine tragende
Säule der deutschen Außenpolitik. Es gibt wohl keine
Beziehung in der internationalen Politik, die so umfassend angelegt ist und über einen derart gewachsenen
Grundbestand an gemeinsamen Werten und Interessen
verfügt. Enge transatlantische Zusammenarbeit ist die
beste Gewähr dafür, dass Freiheit und Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte, für die sowohl
die USA als auch Deutschland und die Europäische
Union stehen, auch künftig über den Westen hinaus Anziehungskraft besitzen. Sie ist für die Bewältigung der
drängendsten globalen Aufgaben wie der Bekämpfung
des Terrorismus, der Nichtweiterverbreitung von
Massenvernichtungswaffen oder des Klimaschutzes eine
zwar nicht immer hinreichende, aber in jedem Fall notwendige Voraussetzung.
Deutsche Außenpolitik ist in ihrer Orientierung zugleich transatlantisch und europäisch. Dieser doppelte
Handlungsrahmen ist kein Widerspruch. Vielmehr verfügt die transatlantische Partnerschaft über umso mehr
Gewicht, je geeinter die Mitgliedstaaten der EU nach
außen auftreten. Auf diesen Zusammenhang weist die
SPD-Fraktion in ihrem Antrag zu Recht hin. Doch offenbar handelt es sich dabei nur um wohlfeile Worte. Denn
während die SPD die EU-Mitgliedstaaten zu gemeinsamem Handeln in den EU-Außenbeziehungen auffordert,
spricht ihr Abstimmungsverhalten im Deutschen Bundestag eine ganz andere Sprache. Erst vor wenigen
Wochen hat die SPD den einstimmig gefassten Beschluss
der EU zur Ausweitung des Einsatzgebiets im Rahmen
der Mission Atalanta vor der Küste Somalias abgelehnt.
Damit torpediert sie den einheitlichen europäischen Ansatz bei der Pirateriebekämpfung - derzeit eine der
drängendsten außenpolitischen Herausforderungen für
die EU. Es lag allein an den Koalitionsfraktionen, dass
Deutschland den europäischen Konsens in dieser Frage
nicht aufgekündigt hat.
Die transatlantische Partnerschaft geht zurück auf
die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und die massive
Unterstützung, die Deutschland beim Wiederaufbau und
der Reintegration in die Staatengemeinschaft vonseiten
der USA erhalten hat. Im 21. Jahrhundert werden die
globalen Rahmenbedingungen, denen sich die transatlantischen Partner gegenübersehen, fundamental andere sein: Das Welthandelsvolumen wird sich bis zum
Jahr 2030 mehr als verdoppeln, die Weltbevölkerung
wird bis zum Jahr 2050 auf 8 bis 9 Milliarden Menschen
ansteigen, der Energiebedarf wird bis 2030 um mehr als
50 Prozent zunehmen und die globale Durchschnittstemperatur wird sich spürbar erhöhen.
Angesichts dieser Entwicklungen darf der Fokus des
transatlantischen Dialogs nicht wie in der Vergangenheit nahezu ausschließlich auf die Sicherheitspolitik
ausgerichtet sein, sondern muss insbesondere die Wirtschaftsbeziehungen einschließen. Dies ist die richtige
Antwort auf die Globalisierung, die nicht nur eine geografische Komponente mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Asien und Afrika hat, sondern auch eine materielle Komponente aufweist, wie das Beispiel der New
Economy zeigt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat
auf diese notwendige Neujustierung bereits vor einigen
Jahren hingewirkt. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
hat das Projekt einer transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft während der deutschen EU-RatspräsidentZu Protokoll gegebene Reden
schaft im Jahre 2007 auf die Tagesordnung der EU gesetzt.
Dieses Vorhaben gilt es nun mit neuem Elan voranzutreiben, solange die weltpolitischen Vorzeichen günstig
dafür stehen. Die EU und die USA sind weiterhin die
produktivsten und am engsten miteinander verbundenen
Wirtschaftsregionen, deren Konsumenten 40 Prozent der
globalen Kaufkraft ausmachen. Das Fenster für die Intensivierung der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen wird nicht für immer so weit offen stehen. Die Vereinigten Staaten werden nach Prognosen nur noch bis
etwa 2050 die stärkste Volkswirtschaft der Welt sein.
Damit ist absehbar, dass Innovationen und Investitionen
künftig in immer stärkerem Maße in Regionen außerhalb
Europas und der USA stattfinden werden. Infolgedessen
werden diese Wirtschaftsräume zunehmend in der Lage
sein, weltweit gültige Normen und Standards zu setzen.
Die Tatsache, dass dort die über den Atlantik hinweg geteilten Werte wie Freiheit, Demokratie und marktwirtschaftliche Ordnung oft nicht geteilt werden, verdeutlicht die Dimension der Herausforderung, vor der wir
stehen.
Die Antwort darauf kann nur sein, die transatlantischen Beziehungen zu stärken und sich diesem Wettbewerb gemeinsam zu stellen. Weder für die USA noch
für Deutschland gibt es dafür einen besseren und näherliegenden Partner. Die USA sind der größte Handelspartner Deutschlands außerhalb der Europäischen
Union, Deutschland wiederum ist der wichtigste Handelspartner der USA innerhalb der Europäischen
Union. Der bilaterale Warenhandel hatte Ende des Jahres 2011 ein Volumen von rund 150 Milliarden Dollar.
An den Investitionen im jeweils anderen Land hängen
Hunderttausende Arbeitsplätze. Das zeigt: Arbeitsplätze
und Wohlstand sind über den Atlantik hinweg engstens
miteinander verbunden.
Das im Ausbau der transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft schlummernde Potenzial gilt es gerade mit
Blick auf die genannten globalen Herausforderungen zu
realisieren. Das erfordert insbesondere den Abbau von
Zöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen sowie
die Formulierung und Anerkennung gemeinsamer
Normen und Standards. In der EU wissen wir seit der
Schaffung des Binnenmarkts aus eigener Erfahrung,
welche Wachstumspotenziale durch offene Märkte freigesetzt werden können. Gerade im Gefolge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise können wir es uns nicht
länger leisten, diese Potenziale brachliegen zu lassen.
CDU und CSU werden auch weiterhin Impulsgeber
für die Anpassung der transatlantischen Partnerschaft
an die neuen weltpolitischen Realitäten sein. Wir werden
mit Nachdruck darauf drängen, die in den transatlantischen Beziehungen liegende dynamische und kreative
Kraft für unsere gemeinsamen Werte und Interessen zur
Geltung zu bringen.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des jüngsten
NATO-Gipfels in Chicago lohnt es sich - mehr noch: ist
es dringlich -, über die transatlantische Zusammenarbeit nachzudenken und zu diskutieren. Diese Zusammenarbeit hat sich in der Zeit des Kalten Krieges militärisch in der NATO und durch sie konkretisiert. Nach der
Zeitenwende von 1989/90 hat sich die Zusammenarbeit
in der NATO aber verändert, ist die wirtschaftliche
Dimension der transatlantischen Beziehungen stärker
ausgeprägt. Das wird auf absehbare Zeit so bleiben,
könnte sogar durch die Einrichtung einer transatlantischen Freihandelszone noch verstärkt werden. Der vorliegende SPD-Antrag unterstreicht das zu Recht.
Hingewiesen wird in dem Antrag aber auf die Notwendigkeit, die politische Zusammenarbeit nicht nur
fortzusetzen, sondern in besonderer Weise zu pflegen.
Für die Einzelheiten verweise ich auf den Antrag und
beschränke mich für heute auf folgende Bemerkungen:
Erstens. Die Welt verändert sich. Die Europäer müssen diese Veränderungen zur Kenntnis nehmen. Im Klartext: Wir erleben heute eine nicht mehr aufzuhaltende
Verschiebung von Macht und Wohlstand in Richtung Pazifik. Amerika reagiert auf diese neue Lage; Präsident
Obama nennt sich inzwischen selbst einen pazifischen
Präsidenten. Europa dagegen hat auf diese Veränderungen bisher allenfalls ökonomisch, nicht aber politisch
reagiert und droht eben deshalb an Einfluss und Relevanz zu verlieren. Einzelne EU-Mitgliedsländer mögen
sich gegen diesen Trend stemmen. Beeinflussen können
sie die neue Lage nur, wenn sie gemeinsam handeln. Von
einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sind
wir aber noch immer weit entfernt.
Zweitens. Amerika wird sich nicht von Europa abwenden. Es wird aber nicht mehr als gütiger Hegemon
bereit sein, europäische Probleme zu lösen und Krisen in
der EU-Peripherie zu entschärfen. Dies wird in Zukunft
allein Sache der Europäer sein. Amerika bleibt der
wichtigste Verbündete Europas, erwartet aber von den
Europäern im Rahmen eines globalen Burden Sharing
reale Taten statt guter Worte.
Drittens. Gerade weil die transatlantische Zusammenarbeit sich verändert, müssen die zivilgesellschaftlichen Beiträge zur Pflege der transatlantischen Beziehungen der neuen Lage angepasst, will sagen: verstärkt
werden.
Für die Einzelheiten verweise ich nochmals auf den
Antrag der SPD-Fraktion, und ich freue mich auf die
Diskussion, die wir dazu im Auswärtigen Ausschuss führen werden. Als Vorsitzender der deutsch-amerikanischen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag
werde ich mich an dieser Diskussion mit Herzblut beteiligen.
Die transatlantische Partnerschaft ist neben der europäischen Integration der zweite Pfeiler der deutschen
Außenpolitik. Das gilt seit Gründung der Bundesrepublik, und daran wird sich auch künftig nichts ändern.
Grundlage dafür sind gemeinsame Wertvorstellungen,
historische Erfahrungen und eine traditionell enge wirtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Laut einer Mitte April 2012 veröffentlichten repräsentativen Umfrage des German Information Center
USA sieht die Mehrheit der Amerikaner Deutschland
und die Deutschen so positiv wie nie seit 2002. Die Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit. Die „Transatlantic Trends 2011“ des German Marshall Fund vom September des letzten Jahres ergaben, dass 72 Prozent der
Deutschen die USA positiv sehen.
Die Zeiten, damit auch die Themen auf der transatlantischen Agenda, haben sich während der letzten
60 Jahre verändert, und viele Herausforderungen sind
hinzugekommen - um nur einige zu nennen -: die Verschuldungskrise, regionale Konflikte, Energiesicherheit,
Cybersecurity, Bedrohung durch den Terrorismus, die
Verteidigung unserer offenen Gesellschaften. Gemeinsam ist all diesen Themen, dass sie weder auf Deutschland noch auf Europa oder den transatlantischen Raum
beschränkt sind. Sie sind global oder haben zumindest
globale Bedeutung oder Auswirkungen. Kein Staat kann
diese Herausforderungen alleine meistern. Nicht nur
Deutschland, nicht nur Europa, sondern auch die USA
benötigen Partner, um Lösungen für die drängenden
Probleme unserer Zeit zu finden und ihre legitimen Interessen gegenüber Dritten durchzusetzen. Darum haben
die transatlantischen Beziehungen auch heute einen entscheidenden Stellenwert für die deutsche, aber auch für
die amerikanische Außenpolitik.
Liest man den Antrag der SPD, bekommt man allerdings den Eindruck, dass alleine auf unserer Seite des
Atlantiks Interesse an einer transatlantischen Freundschaft besteht. Dabei sollten wir uns nicht unnötig kleinreden: Wir brauchen die Amerikaner, aber die Amerikaner brauchen auch uns. Wer heutzutage in Europa noch
ein „Wiederaufbauprojekt“ sieht, wie die SPD es tut,
denkt rückwärtsgewandt und hat die europäische Realität nicht verstanden. Es ist richtig, dass Europas wohl
größte Errungenschaft der Frieden zwischen unseren
Ländern ist. Doch Europa ist viel mehr als ein Friedensprojekt: Europa ist auch der größte Binnenmarkt
der Welt, der Wohlstand und Arbeitsplätze schafft und
grundlegende Normen für Innovation, Sicherheit und
soziale Sicherungssysteme setzt. Das haben unsere
transatlantischen Partner schon lange erkannt.
Die nationale Sicherheitsstrategie der USA vom Mai
2010 bezeichnet die transatlantischen Beziehungen, vor
allem auch die Beziehungen zu Deutschland, als Grundpfeiler der US-Außen- und -Sicherheitspolitik und „Katalysator“ der internationalen Beziehungen. Daran ändert auch das verstärkte US-Engagement im pazifischen
Raum nichts, wie wiederholt von Vertretern der USAdministration betont wurde.
Die USA nehmen Deutschland vorrangig als „Partner in Verantwortung“ bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen wahr. Sie messen uns an unserem konstruktiven Beitrag bei der Lösung von
weltweiten Konflikten. Die feierliche Verleihung der
„Presidential Medal of Freedom“ an Bundeskanzlerin
Merkel im Juni 2011 hat die Wertschätzung der USAdministration für die deutsche Rolle nachdrücklich unterstrichen.
Das transatlantische Verhältnis hat sich in den letzten
Jahrzehnten verändert. Das Ende des Kalten Krieges,
die Globalisierung, der Aufstieg neuer Gestaltungsmächte, aber auch die gesellschaftliche und demografische Entwicklung auf beiden Seiten des Atlantiks führen
dazu, dass die transatlantischen Beziehungen, um es mit
den Worten des ehemaligen Verteidigungsministers
Robert Gates ausdrücken, „no longer in the genes of
people“ sind. Die SPD behauptet in ihrem Antrag, dass
die Europäer auf diese Veränderungen nur unzureichend
vorbereitet sind. Als Koordinator der Bundesregierung
für die transatlantische Zusammenarbeit kann ich Ihnen
versichern, dass das zumindest für Deutschland nicht
der Fall ist. Im Gegenteil: Für die Bundesregierung hat
der zukunftsgerichtete Ausbau der transatlantischen
Partnerschaft nach dem Koalitionsvertrag vom Oktober
2009 oberste Priorität. Das gilt nicht nur für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit, sondern gerade auch
für die Kooperation im wirtschaftlichen Bereich.
Der transatlantische Wirtschaftsraum ist nicht nur
durch die Handelsstränge, sondern vor allem durch
gegenseitige Investitionen auf das Engste miteinander
vernetzt. Der nächste logische Schritt wäre jetzt eine
transatlantische Freihandelszone. Auch hier die Nachricht in Richtung SPD: Die Bundesregierung strebt
einen wirklichen „transatlantischen Marktplatz“ an.
Dafür setzen wir uns innerhalb der EU und im Dialog
mit unseren transatlantischen Partnern ein. Wir sind zu
einem umfassenden Abkommen bereit, das sowohl die
Bereiche Zölle, technische Handelshemmnisse sowie
sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen als auch die
Bereiche Dienstleistungen, geistiges Eigentum und
öffentliche Beschaffungen einschließt.
Auch jetzt schon können wir durch unsere enge
wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht nur unsere eigenen Beziehungen stärken, sondern gerade im asiatischpazifischen Raum gemeinsam viel mehr Einfluss ausüben als alleine oder gar in Konkurrenz zueinander. Mit
dem Transatlantischen Wirtschaftsrat - Transatlantic
Economic Council, kurz TEC - haben wir hier auf deutsche Initiative schon 2007 ein gutes Instrument geschaffen, dessen Potenzial wir nutzen und weiter ausbauen
werden. Ziel ist es, durch frühzeitige Setzung von Normen und Industriestandards bei Zukunftstechnologien
wie Elektromobilität unter anderem die Positionen von
europäischen und amerikanischen Unternehmen im globalen Wettbewerb zu stärken bzw. diese Standards auch
gegenüber Dritten durchsetzen zu können.
Bei aller Bedeutung von Sicherheit und Wirtschaft
sind es aber die Menschen, die das Fundament der
transatlantischen Beziehungen formen. Deswegen sind
zivilgesellschaftlicher Dialog, Kultur und Bildung für
mich ganz besonders wichtige Elemente. Die Bundesregierung fördert in vielfältigen Programmen den
Austausch zwischen Schülern, Studenten und Wissenschaftlern von beiden Seiten des Atlantiks. Die Begegnungen und der Aufenthalt im Gastland hinterlassen
bleibende positive Eindrücke und verwandeln die jungen
Menschen in Multiplikatoren. Als stellvertretender Vorsitzender des Unterausschusses „Auswärtige Kulturund Bildungspolitik“ weiß ich auch um den wichtigen
Zu Protokoll gegebene Reden
Beitrag zu einem positiven Deutschlandbild, den Institutionen wie das Goethe-Institut oder die deutschen Schulen vor Ort leisten.
Eins ist klar: Die transatlantischen Beziehungen sind
kein Selbstläufer und stehen vor neuen Herausforderungen. Aber sie sind auch schon viel zu oft zu Grabe getragen worden. Sie benötigen keine „Neubelebung“, wie
die SPD sie fordert, denn sie sind heute schon voller
Lebendigkeit und Vielfalt. Dass dies so bleibt, dafür wird
sich die Bundesregierung auch weiterhin mit Herz und
Verstand einsetzen, ohne dass ihr die SPD dabei zur
Hand gehen muss.
Der Grundstein für das stabile Fundament transatlantischer Beziehungen der jüngeren Geschichte wurde
1945 gelegt. Gemeinsam mit den Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee und der anderen Alliierten befreiten die USA Deutschland von der Nazidiktatur. Die vormaligen US-amerikanischen und kanadischen Feinde
wurden zu engen Partnern Europas und der Bundesrepublik Deutschland. Mit ihrer Hilfe wurde Westdeutschland zu einem demokratischen und wirtschaftlich erfolgreichen Land.
Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des
Grundgesetzes, der auch durch den aktiven Einsatz des
damaligen Präsidenten George Bush bei den Zwei-plusVier-Verhandlungen ermöglicht wurde, veränderten sich
die Beziehungen. Der Kalte Krieg war vorbei.
Die transatlantischen Beziehungen von heute basieren auf anderen Grundlagen. Bedauerlicherweise verfallen Sie im ersten Absatz Ihres Antrags zurück in die
Rhetorik der 80er-Jahre. Mehr als 20 Jahre nach der
Beendigung der Teilung Europas halten wir das wirklich
für unnötig.
Die Welt hat sich, nicht nur durch die Beendigung des
Kalten Krieges, massiv verändert, und sie verändert sich
auch weiterhin rasant. Mächteverhältnisse, Kriege,
neue Bedrohungen, die soziale Lage der Menschen sind
anders geworden.
Gerade das Mächteverhältnis hat sich gewandelt. Zu
den vormaligen Supermächten USA und UdSSR, heute
Russland, haben sich andere gesellt. Das geeinte Europa ist deutlich stärker als nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs, aber auch als am Ende der 80er-Jahre. Dazu
kommen die neuen großen Global Player Brasilien,
China, Indien, um nur die drei Größten zu nennen. Auch
Afrika entwickelt sich - ungeachtet aller Konflikte - mit
seinem Rohstoffreichtum, seinen vielen jungen Leuten,
seinen Potenzialen zu einem wichtigen Mitspieler. Bei
der Behandlung von weltpolitischen Fragen können
diese Länder und der afrikanische Kontinent nicht mehr
vernachlässigt werden. Auch deshalb ändern sich traditionelle Partnerschaften.
Aber trotzdem verbindet Europa und Amerika viel
mehr als die gemeinsame Geschichte. Daher sollten wir
an unserer strategischen Partnerschaft weiter arbeiten.
Gerade die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen sind
relevant. Die USA und Europa sind weiterhin füreinander die wichtigsten Investitionspartner. Und die Wirtschafts- und Finanzkrise sollte uns ermutigen, gemeinsam eine transatlantische Strategie zur Förderung des
Wirtschaftswachstums zu entwickeln. Hier teilen wir Ihren Antrag auch. Fortschrittliche Regelungen hinsichtlich sozialer und ökologischer Standards zu treffen, dabei kann Deutschland sicherlich eine positive Wirkung
auf beispielsweise die USA haben. Ebenso fordern auch
wir eine Regulierung der Finanzmärkte und deren
Transparenz. Auch bei den kulturellen Aspekten teilen
wir Ihre Einschätzung, beispielsweise in dem Punkt,
dass Sie die schon bestehende Zusammenarbeit auf Regierungs- und Parlamentsebene ergänzen wollen. Denn
für uns gilt: Beziehungen kann man auf unterschiedliche
Weise stärken. Ein Austausch zwischen den Menschen
ist ebenso wichtig wie regelmäßige Treffen von Vertretern der Institutionen. Wir teilen auch Ihre Einschätzung, dass sich gesellschaftliche Organisationen wie
Stiftungen hier bewährt haben und gute Dienste leisten.
Ich freue mich daher sehr, dass auch die RosaLuxemburg-Stiftung in diesem Jahr ihr Büro in New York
City eröffnen wird. Auch die Forderung nach Sonderprogrammen zum transatlantischen Jugendaustausch
finden wir richtig.
Ihre Bedenken, dass es an einer verlässlichen außenpolitischen Zusammenarbeit mangelt, weil es an der Bereitschaft der Nationalstaaten mangelt, Verantwortung
und Souveränität an die europäische Ebene abzugeben,
sind auch unsere. Linke Politik ist immer internationalistisch - daher stehen wir für eine Stärkung der EU.
Was wir aber nicht teilen, ist, dass die Stärkung der
transatlantischen Beziehungen vor allem im Rahmen der
NATO stattfinden sollte. Die NATO als Organisation hat
sich überlebt. 1949 mag die Begründung der NATO für
den Westen im Rahmen der Blockkonfrontation notwendig gewesen sein. Aber - das haben wir nun schon erläutert - der Kalte Krieg ist vorbei, und damit ist ein Militärbündnis, das sich auf ebendiese nicht mehr
vorherrschenden Weltverhältnisse bezieht, überflüssig
geworden. Mit dem Ende des Warschauer Vertrags wäre
ein gemeinsamer Neustart sinnvoller gewesen. Sie selbst
erkennen diese Veränderungen an, bauen dann aber auf
Strukturen, die veraltet sind. Das finden wir falsch. Im
Zuge der Neustrukturierung der Partnerschaften fänden
wir eine Ersetzung der NATO durch ein alternatives internationales Sicherheitsbündnis, das Russland einbezieht, zeitgemäßer.
Wir freuen uns gleichwohl auf die Beratung Ihres Antrags und danken Ihnen für die Initiative.
Das transatlantische Bündnis ist für die deutsche und
europäische Politik die mit Abstand wichtigste internationale Bezugsgröße. Sie hat tiefe historische Wurzeln
und bleibt auch für die Zukunft unverzichtbar.
Die Verfassung der Vereinigten Staaten gründet auf
Ideen, die aus dem europäischen Denken entstanden
sind. Die USA haben sich in der Historie gegen die europäischen Realitäten definiert, die oft von Unterdrückung und Unrecht gekennzeichnet waren. Aber sie
Zu Protokoll gegebene Reden
wussten den europäischen Geist und viele Europäerinnen und Europäer in ihren Bemühungen um einen freien,
toleranten und demokratischen Staat auf ihrer Seite. Ein
Europäer, Alexis de Tocqueville, hat diesem Streben mit
seinem Buch „De la démocratie en Amérique“ das vielleicht schönste Denkmal gesetzt.
Diese Solidarität war nicht nur eine des Worts, sondern auch eine der Tat. Amerika bot zuerst Millionen europäischer Auswanderer eine neue Heimat und später
Zehntausenden Verfolgten des Naziregimes und anderer
europäischer Diktaturen und rettete ihre Leben.
Seitdem Europa, nicht zuletzt durch die Hilfe der
USA, aus dem deutschen Albtraum des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust aufgewacht ist, stehen die europäischen Demokratien und die USA in der Welt gemeinsam für Freiheit und Menschenrechte. Das gilt trotz
aller Widersprüche, die die reale Politik beider Seiten
immer wieder ausgezeichnet haben: Demokratien müssen zusammenhalten!
Diese Feststellung allein ist aber kein Garant dafür,
dass das transatlantische Bündnis in Zeiten einer multipolaren Weltordnung noch sein ganzes Potenzial entfalten kann. Beide Seiten müssen sich immer wieder darauf
besinnen, wie sie dazu beitragen können. Die Europäer
haben dabei die größeren Hausaufgaben zu erledigen.
Wir müssen uns nur daran erinnern, dass vor kaum
20 Jahren auf unserem eigenen Kontinent, auf dem Balkan, ein blutiges Jahrzehnt ethnischer Konflikte und
Massaker begann, das wir ohne das Eingreifen der USA
kaum hätten beenden können.
Auch die Amerikaner brauchen uns. Für viele Menschen, die heute überall auf der Welt nach Demokratie
streben, sind wir Europäer ein glaubwürdiger Gesprächspartner. Wir müssen daher gemeinsam mit den
USA an einer Außenpolitik arbeiten, in der die transatlantischen Partner als glaubwürdige Vertreter ihrer
hehren Werte in der Welt auftreten können.
Eine Voraussetzung dafür sind funktionsfähige europäische Institutionen und ein Bewusstsein für gemeinsame strategische Ziele in der Europäischen Union. Wir
sind für den Erhalt und die Förderung von Frieden und
Freiheit auf unserem Kontinent selbst zuständig. Heute
sollten wir unseren Nachbarn zur Hilfe kommen - wir,
die wir dieselbe Hilfe von den USA bekommen haben.
Ein zentraler Baustein dafür ist die Überwindung der
nicht mehr haltbaren Aufgabenteilung in sogenannte
Soft- und Hardpower. Ein selbstbewusstes Europa, das
so erwächst, ist für die USA ein unverzichtbarer Partner
und kann auch einer Polarisierung in einer neuen G 2
- USA und China - entgegenwirken, wie es das Gutachten der Friedensforschungsinstitute diese Woche skizziert hat.
Wir begrüßen daher den Antrag der SPD-Fraktion
grundsätzlich. Wir unterstützen das Ansinnen des
Burden Sharing und auch die Betonung des kulturellen,
politischen und akademischen Austauschs.
Aus dem Ansatz des Burden Sharing sollte aber gerade bei den teuren Aufgaben der Sicherheits- und
Verteidigungspolitik in Zeiten der dringend nötigen
Haushaltsdisziplin eine gesteigerte Effizienz bei den
Ausgaben folgen. Ein gemeinsames Raketenabwehrsystem passt nicht in diesen Rahmen. Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen kann nicht gegen, sondern nur
mit Russland gestaltet werden.
Aus der gemeinsamen Geschichte der USA und Europas als der ältesten Industrieländer der Erde folgt auch
eine gesteigerte Verantwortung für die Folgen dieser
wirtschaftlichen Vorreiterrolle. Gemeinsam müssen wir
Vorreiter einer wirksamen Umwelt- und Klimapolitik
sein. Das geht nur, indem wir gemeinsam die Initiative
ergreifen und mit gutem Beispiel vorangehen. Dass dies
auch für unsere vielerorts lahmende Wirtschaft ein Segen sein kann, bedarf keines Beweises mehr. Damit
könnten wir gemeinsam gleich zwei grundlegende Probleme in unseren Ländern wirksam angehen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9728 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist das auch so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Notfonds für tierhaltende Betriebe einrichten
- Drucksache 17/9580 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.
Kernforderung des vorliegenden Antrags der Fraktion Die Linke ist die Einrichtung eines Notfonds in
Höhe von 10 Millionen Euro für die Tierhalter, deren
Tierbestände von Tiererkrankungen betroffen sind und
die nicht unter das Entschädigungsregime der Tierseuchenkassen der Länder fallen. Dazu gehören alle diejenigen Krankheiten, die noch nicht identifiziert sind und
somit amtlich nicht als Tierseuchen anerkannt sind. Erst
wenn eine Krankheit international als Tierseuche anerkannt ist, haben die Tierhalter in der Regel Ansprüche
auf Entschädigungen gegen die Tierseuchenkasse.
Diese 10 Millionen Euro sollen auf Wunsch der
Linksfraktion bereits in den nächsten Bundeshaushalt
2013 eingestellt werden, und dieser Haushaltstitel soll
in den Folgehaushalten bedarfsgerecht angepasst werden.
Einem solchen Notfonds stehe ich gemeinsam mit
meinen Kollegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
sehr kritisch gegenüber. Diese staatlich finanzierte
Fondslösung kommt einer Sozialisierung von wirtschaftlichen Verlusten einzelner Tierhalter gleich. Natürlich
ist es bedauerlich, wenn ein Betrieb Verluste erleidet,
aber dieses unternehmerische Risiko tragen letztlich
alle produzierenden Betriebe in Deutschland - nicht nur
die Tierhalter. Es steht letztlich auch jedem Betrieb frei,
sich gegen eventuell auftretende Schäden zu versichern.
Somit haben bereits die Tierhalter in vielen Fällen die
Möglichkeit, sich individuell gegen Tierverluste durch
Krankheit oder Seuchen privatrechtlich zu versichern.
Es ist nach unserer Meinung nicht einzusehen, warum
die Allgemeinheit das unternehmerische Risiko dieser
einzelnen Betriebssparte abdecken soll.
Zudem stellt sich die Frage, ob der Notfonds vor der
WTO - World Trade Organization - überhaupt rechtlich
durchsetzbar wäre, denn grundsätzlich sind für die Entschädigungen von Tierseuchen die Länder zuständig.
Ein entsprechender Fonds müsste deshalb bei den Tierseuchenkassen der Länder angesiedelt sein, nicht beim
Bund.
Natürlich gibt es immer Härtefälle, wie im Falle des
Anfang dieses Jahres aufgetretenen SchmallenbergVirus oder beim chronischen Botulismus. Bereits jetzt ist
erkennbar, dass trotz der EU-weit koordinierten
Forschungsaktivitäten der Forschungsverbünde zum
Schmallenberg-Virus in nächster Zeit noch kein fertig
entwickelter, validierter und zugelassener Impfstoff verfügbar sein wird. Es ist erst jetzt gelungen, den Erreger
sichtbar zu machen. An der Entwicklung des Impfstoffs
arbeiten zusätzlich zu den Forschungsinstituten auch einige Pharmaunternehmen mit Hochdruck.
Zwar ist der Ausbruch der Krankheit für die Betroffenen bedauerlich, dennoch sollte im Hinblick auf den von
den Linken vorgeschlagenen Notfonds die Relation gewahrt bleiben. Wenn man bedenkt, dass die Rinderbestände in Deutschland in einer Größenordnung von
12,5 Millionen Tieren liegen und die Schafbestände bei
1,65 Millionen, so ist ein Verlust in Höhe von aktuell
1 474 Tieren durch das Auftreten des SchmallenbergVirus sehr minimal und rechtfertigt nicht die Errichtung
eines Notfonds in Millionenhöhe.
Wir Agrarpolitiker der Union präferieren vielmehr
eine individuelle Risikovorsorge der tierhaltenden Betriebe in Form einer steuerlich begünstigten Risikoausgleichsrücklage. Dies wäre ein steuerlicher Anreiz für
die Tierhalter, eine betriebliche Rücklage für den Fall
der Fälle zu bilden.
Wir kennen es doch zur Genüge: Die Politiker der
Linken rufen bei jeder Gelegenheit den Staat um Hilfe
an und fordern großzügige staatliche Unterstützung.
Der Bund wird es schon richten. - Wer soll es denn bezahlen?
Diese Grundhaltung der Linken, wenn es ums Verteilen von Steuergeldern geht, lehne ich ab. Vielmehr setze
ich auf die Eigenverantwortung der Tierhalter und auf
eine vernünftige Risikokalkulation der Inhaber bei der
Betriebsführung.
Der Antrag der Fraktion Die Linke greift ein wichtiges Anliegen unserer tierhaltenden Betriebe auf. Seit einigen Jahren beobachten wir die Ausbreitung von bisher
in Europa unbekannten Tierseuchen. Diese haben zum
Teil verheerende Folgen und bedrohen die Existenz der
betroffenen Betriebe. Der Schmallenberg-Virus und die
Blauzungenkrankheit stehen nach meiner Einschätzung
beispielhaft für weitere Erkrankungen, mit denen wir
uns in Zukunft auseinandersetzen müssen.
Vor allem der globale Handel ist heute das Einfallstor
für bisher noch unerkannte Tierseuchen. Der fortschreitende Klimawandel stellt ein nicht zu unterschätzendes
Risiko dar. In den gemäßigten Zonen schafft er die Voraussetzung für die Verbreitung bisher unbekannter Insekten und Viren. Das Gefährdungspotenzial für die tierhaltenden Betriebe vergrößert sich dadurch erheblich.
Dieser Herausforderung müssen wir uns stellen.
Neben den Entschädigungszahlungen für die betroffenen Betriebe rückt auch der nicht unerhebliche Forschungsaufwand in den Fokus. Die Entwicklung und
Umsetzung geeigneter Gegenmaßnahmen kann nur
dann erfolgreich sein, wenn Überträger und Vektoren
zweifelsfrei und schnell identifiziert werden. Hier müssen wir entsprechende Forschungskapazitäten in den
dafür zuständigen Institutionen finanziell absichern.
Nach meiner Auffassung hat sich das bisherige System unserer Tierseuchenkassen hervorragend bewährt.
Jeder Tierhalter kann die nicht über Tierseuchenkassen
abgesicherten Risiken individuell über Versicherungen
abdecken. Aus heutiger Sicht ist dieses System aber nur
bedingt für die zukünftige Herausforderung gewappnet.
Wir müssen nun schauen, wie wir dieses System zukunftstauglich gestalten.
Am Beispiel des Schmallenberg-Virus zeigt sich das
gegenwärtige Dilemma der Betriebe: Diese Viruserkrankung ist nach der Tierseuchenkasse eine nicht anerkannte Tierseuche, da sie durch Vektoren und nicht von
Tier zu Tier übertragen wird. Zwar hat der Bundesrat
am 30. März 2012 einer Änderung der Verordnung über
die meldepflichtigen Tierkrankheiten zugestimmt und
die Meldepflicht für das Schmallenberg-Virus eingeführt; eine Rechtsgrundlage für Entschädigungen der
betroffenen Tierhalter gibt es aber nicht. Das ist für die
Tierhalter mehr als unbefriedigend.
Wir sollten darüber nachdenken, wie wir angesichts
dieser neuen Herausforderung die Tierseuchenkasse
und die Beihilfegewährung reformieren. Das bewährte
Risikovorsorgesystem, das wir über Jahrzehnte aufgebaut haben, muss flexibler ausgestaltet werden.
Wir sollten auch darüber diskutieren, wie wir das
Verfahren zur Anerkennung von Tierseuchen verbessern
können. Gleichzeitig müssen wir Regelungen finden, die
kleine Betriebe entlasten, ohne große Betriebe zu benachteiligen.
Wir sollten darauf achten, dass wir die finanzielle
Leistungsfähigkeit der Tierseuchenkassen nicht überstrapazieren. Bei Seuchenzügen, die viele Tausend Betriebe betreffen, kommen schnell immense Schadenssummen zusammen. Diese kann das System der
Tierseuchenkassen dann nicht mehr alleine aus eigenen
Reserven tragen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Hier kommen die Kofinanzierungsoptionen der EU
zum Tragen. Ich bin froh, dass EU-Agrarkommissar
Dacian Ciolos in seinem Vorschlag für eine neue
ELER-VO ab 2014 mehrere Optionen ausgearbeitet hat,
anhand derer die EU-Mitgliedstaaten das betriebseigene Risikomanagement sowie Maßnahmen zur Krisenbewältigung im Seuchenfall mit Mitteln der EU kofinanzieren können. Diese Optionen prüfen wir gegenwärtig
in enger Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament.
Wir werden EU-Agrarkommissar Dacian Ciolos und
dem Agrarausschuss des EP zeitnah eine entsprechende
Stellungnahme zukommen lassen.
Wenn wir es schaffen, das erprobte System der Tierseuchenkasse zu reformieren und dessen Handlungsrahmen für die neue Herausforderung auszuweiten, brauchen wir kein zusätzliches Instrument in Form eines
Notfonds.
Ich freue mich über diesen Antrag, der die Chance
bietet, über ein tatsächlich vorhandenes Problem zu diskutieren. Es ist richtig: Tierseuchen können Betriebe unverschuldet in existenzielle Notlagen bringen. Dies gilt
besonders bei neuen Tierkrankheiten wie dem sogenannten Schmallenberg-Virus. Hier gibt es eine Absicherungslücke, da die Tierseuchenkassen nur bei anerkannten Tierseuchen entschädigen. Die Identifikation,
Analyse und amtliche Anerkennung von neuen, bislang
unbekannten Seuchen ist aber zeitaufwendig. Tierhalter
haben also im schlimmsten Fall erhebliche Verluste und
müssen lange auf Entschädigungszahlungen warten.
Dies stellt für die Tierhalter ein Problem dar, und es ist
grundsätzlich richtig, zu überlegen, wie man es lösen
kann.
Etwas überrascht hat mich allerdings doch, dass in
dem Antrag der Linken die sogenannte Faktorenerkrankung bei Rindern wieder auftaucht, und dies sogar in einem völlig spekulativen Zusammenhang mit dem Clostridium botulinum. Dies ist schon deshalb falsch, weil
diese Faktorenerkrankung eindeutig keine Tierseuche
ist. Stattdessen handelt es sich um einzelbetriebliche
Krankheitsfälle mit sehr diffusem Krankheitsbild. Wir
haben dieses Thema im Ausschuss ausführlich behandelt. Die geladenen Sachverständigen haben sehr deutlich festgestellt, dass in auffällig vielen Fällen, in denen
von dieser Krankheit berichtet wurde, mangelhafte
Management-, Haltungs- und Fütterungsbedingungen
festzustellen waren. Die Tierseuchenkassen sollten auch
künftig keine Tierkrankenkassen werden, und sie sind
schon gar nicht dazu da, Tierverluste durch schlechtes
Betriebsmanagement und Hygienedefizite auszugleichen. Für einen Zusammenhang zwischen den Verdachtsfällen auf eine multifaktorielle Erkrankung von
Rindern und dem Clostridium botulinum fehlen auch
weiterhin jegliche belastbaren Hinweise. Ich bitte daher
doch sehr darum, keine haltlosen Spekulationen in
Drucksachen des Deutschen Bundestages hineinzuschreiben.
Der Antrag der Linken möchte eine zusätzliche Institution schaffen, die mit Haushaltsmitteln in Höhe von
10 Millionen Euro bei akuten, aber noch nicht amtlich
anerkannten Tierseuchen hilft. Ich weiß nicht, wie die
Linke auf diese 10 Millionen Euro kommt; es ist aber
auch nicht so wichtig, denn ich halte einen anderen Weg
grundsätzlich für geeigneter.
Ich hielte es für sinnvoll, dass die Tierseuchenkassen
künftig in Fällen wie jetzt mit dem Schmallenberg-Virus
Überbrückungskredite in Höhe der Entschädigung an
die Tierhalter ausreichen können. Diese müssen nur
dann zurückgezahlt werden, wenn sich im Nachhinein
herausstellt, dass es sich um keine Tierseuche bzw. um
Eigenverschulden der Tierhalter gehandelt hat. Diese
Vorgehensweise hat den Vorteil, dass den Tierhaltern
schnell geholfen werden kann und ein existenzielles
Risiko für die Tierhalter künftig abgesichert ist.
Als positiver Nebeneffekt entsteht so außerdem ein
wirksamer wirtschaftlicher Anreiz für die Tierhalter,
Krankheitsfälle auch tatsächlich umgehend zu melden.
Das Lagebild bei Tierseuchen wird so präziser und die
Seuchenbekämpfung wirksamer.
Gerade Tierseuchen zeigen uns übrigens, wie wichtig
in Zeiten des freien Warenverkehrs in der EU und des
Handels mit verschiedensten Regionen der Welt eine
EU-weit koordinierte Seuchenprävention und ein Seuchenmonitoring sind. Dabei leisten die Tierseuchenkassen bereits jetzt einen entscheidenden Beitrag.
Den Antrag der Linken sehen wir nicht als zustimmungsfähig an und lehnen ihn deshalb ab.
Dieses Jahr ist es das Schmallenberg-Virus. In den
vergangenen Jahren sorgten die Blauzungenkrankheit
oder das Blutschwitzen der Kälber für Aufregung. Erinnert sei auch an die Vogelgrippe oder an die ungeklärte
Frage, ob es einen sogenannten chronischen Botulismus
gibt oder nicht. Immer schneller sehen sich tierhaltende
Betriebe unverschuldet und ungeschützt mit immer
neuen Infektionsrisiken konfrontiert.
Durch Klimawandel und globale Personen- und Handelsströme steigt das Risiko von neuen Tierseuchen und
-erkrankungen, die existenzbedrohend für landwirtschaftliche Betriebe sind. In den Fällen, in denen diese
bedrohliche Situation nicht selbst verschuldet oder vermeidbar ist, muss politisch gehandelt werden. Solche
Betriebe müssen in diesen Notsituationen unterstützt
werden, den Landwirtinnen und Landwirten muss unter
die Arme gegriffen werden.
Wir Linke bekennen uns zu einer nachhaltigen Tierhaltung, aus zwei Gründen: Erstens sichert die Tierhaltung die meisten landwirtschaftlichen Arbeitsplätze in
den ländlichen Räumen. Zweitens erfüllen Nutztiere
auch eine ökologische Funktion; sie nutzen Wiesen und
Weiden und betätigen sich als ökologische Kulturlandschaftspfleger. Das ist gut so. Wir wollen, dass das so
bleibt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aber tierhaltenden Betrieben geht es oft nicht gut.
Die Produktionskosten steigen, und die Erzeugerpreise
sind nicht kostendeckend. Immer öfter können sich Betriebe die Tierhaltung nur noch leisten, wenn sie gleichzeitig Biogas oder Sonnenstrom produzieren. Zusätzliche Belastungen durch Tierseuchen und unbekannte
Erkrankungen sind unter solchen Bedingungen kaum zu
verkraften. Darum darf die Politik der existenziellen Bedrohung durch neue Tierseuchen und -erkrankungen
nicht tatenlos zusehen. Die Linksfraktion schlägt daher
erneut vor, einen Notfonds für solche Ausnahmesituationen einzurichten. Dieser soll ab dem Jahr 2013 mit
10 Millionen Euro jährlich ausgestattet sein. Entsprechend dem Bedarf sollte sein Budget jedes Jahr angepasst werden.
Ich möchte betonen, dass es hierbei nicht um ein
Rundum-sorglos-Paket für Landwirtschaftsbetriebe geht.
Ein solcher Vorwurf wird schnell erhoben. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Der Notfonds soll dort ansetzen, wo die bisherigen Sicherungsinstrumente versagen oder noch nicht greifen. Wenn die Betriebe keine
Chance haben, bisher unbekannte Infektionsrisiken in
der Tierhaltung zu vermeiden, müssen neue Wege der
Absicherung unkalkulierbarer Risiken gesucht werden.
Aktuell ist es doch so, dass die Betriebe kein Geld bekommen, solange die Ursache einer Bestandserkrankung unbekannt oder nicht amtlich bestätigt ist. Selbst
dann werden vor allem die Schäden erstattet, die unmittelbar durch staatlich angeordnete Bekämpfungsmaßnahmen entstehen.
Der Notfonds kann auch die Existenzbedrohung
durch Bestandserkrankungen entschärfen, die von einigen dem sogenannten chronischen Botulismus, der
wissenschaftlich immer noch höchst umstritten ist, zugeordnet werden. Ich finde, man kann einen jahrelangen
wissenschaftlichen Streit nicht auf dem Rücken der Landwirtschaftsbetriebe und ihrer Beschäftigten austragen.
Stellt sich nach Ursachenfeststellung und amtlicher
Anerkennung heraus, dass zum Beispiel die Tierseuchenkasse zuständig ist, soll dieses Geld übrigens in den
Notfonds zurückfließen. Stellt sich heraus, dass die
Ursache einer Bestandserkrankung mit den Haltungsbedingungen oder mangelnder Hygiene im Stall zusammenhängt, müssen die Agrarbetriebe das Geld an den
Notfonds zurückzahlen.
Der Notfonds kann auch dann sinnvoll sein, wenn
Hilfe erst verzögert möglich wird, weil leider auch staatliche Hilfen in Tierseuchensituationen als wettbewerbsverzerrend bewertet werden; nur in Ausnahmefällen
werden sie von der EU oder der WTO genehmigt. Dieses
Jahr war dies beim Schmallenberg-Virus der Fall, das
bereits seit November 2011 zu missgebildeten Jungtieren
bei Schafen, Ziegen und Rindern führt. Erst durch das
Votum des Bundesrates Ende März wurde die Virusinfektion als Tierseuche anerkannt. Bis dahin waren jedoch
schon Tausende Tiere gestorben bzw. erkrankt. Die Betriebe blieben zunächst mit ihrem Problem alleine.
Das Budget des Notfonds ist eine sinnvolle Investition
in die Zukunft der ländlichen Räume. Darum muss gelten: Finanzielle Unterstützung erhält ein Betrieb nur zur
Fortführung seiner Tierhaltung. Wer die Tiere abschafft
und das Personal entlässt, darf nicht mit Geld aus dem
Notfonds rechnen. Unter diesen Voraussetzungen ist er
eine sozial gerechtfertigte und gebotene, aber auch
volkswirtschaftlich sinnvolle Lösung.
Wer die Forderung der Linksfraktion für übertrieben
hält, sollte sich nicht nur die Entwicklung der neuen
oder zurückkehrenden Tierseuchen in den vergangenen
Jahren anschauen, sondern auch einen realistischen
Blick in die Zukunft wagen. Niemand kann genau vorhersagen, wie sich das Auftauchen neuer Tierseuchen in
den kommenden Jahren weiter entwickeln wird. Allerdings wird seit langem in der Wissenschaft vor den steigenden Infektionsrisiken durch globale Personen- und
Handelsströme gewarnt. Auch die Folgen des Klimawandels tragen zu neuen Risiken bei, insbesondere bei
vektorübertragenen Infektionskrankheiten. Die Afrikanische Pferdepest - African Horse Sickness, AHS -, die
Chikungunya-Infektion, die Afrikanische Schweinepest
und das West-Nil-Virus, WNV, haben ähnliche Potenziale zur Gefährdung der europäischen Tierbestände.
Darum ist nun die Zeit, zu handeln. Ich fordere die
anderen Fraktionen auf, im wirtschaftlichen Interesse
der tierhaltenden Betriebe und der dort Beschäftigten
unseren Vorschlag sehr gewissenhaft zu prüfen und dem
Antrag auf Errichtung des Notfonds zuzustimmen.
Neue Seuchen wie das Schmallenberg-Virus führen
uns eindringlich vor Augen, wie anfällig unsere Tierhal-
tungssysteme sind, wie schnell ein auftretender Erreger
zu Tausenden toten Tieren oder, wie im Falle des
Schmallenberg-Virus, zu extremen Missbildungen führen
kann. Während noch im Januar 2012 nur 32 Betriebe
vom Schmallenberg-Virus betroffen waren, waren es
kaum einen Monat später schon über 700 Betriebe mit
missgebildeten oder toten Lämmern und Kälbern. Bis
heute sind allein in Deutschland fast 1 500 Betriebe be-
troffen.
Die Furcht vor toten und missgebildeten Tieren hat
die Betriebe durch das Frühjahr begleitet, auch meinen
eigenen. Hohe Tierverluste können schnell das wirt-
schaftliche Aus bedeuten, umso mehr, als insbesondere
Schäfer, Ziegenhalter und Milchbauern immer am finan-
ziellen Limit wirtschaften. Wir in der Politik müssen uns
fragen, wie wir mit Betrieben umgehen wollen, die so
unverschuldet in finanzielle Notlagen kommen.
Vieles deutet darauf hin, dass wir in Zukunft immer
öfter neue Tierkrankheiten und Seuchen erleben werden.
Längst ist die Globalisierung auch in der Tierhaltung
angekommen. Lebende Tiere werden wie Gegenstände
rund um den Globus gekarrt. Mit Lastwagen oder Schiff
geht es von Australien nach Saudi-Arabien und von
Deutschland bis hinter den Ural. Dadurch drohen uns
nicht nur Tierseuchen. Weit gefährlicher sind Zoonosen,
also die vom Tier auf den Menschen übertragbaren Er-
reger wie die Schweinegrippe.
Zu Protokoll gegebene Reden
Trotzdem ignorieren, Sie, Frau Ministerin Aigner,
dass Seuchen, wie das Schmallenberg-Virus oder die
Blauzungenkrankheit, eben nicht ohne Grund in den
viehdichtesten Gebieten Deutschlands auftreten, zum
Beispiel in der Grenzregion zu den Niederlanden. Es ist
doch längst hinreichend bekannt, dass mit der Tierdichte
auch die Möglichkeiten zur Übertragung von Krank-
heitserregern steigen. Nehmen Sie das doch bitte endlich
zur Kenntnis. Sie wissen doch auch, dass es in Nieder-
sachsen inzwischen ebenso viele Schweine wie Men-
schen gibt. Im Landkreis Cloppenburg sind es sogar sie-
benmal so viele Schweine wie Menschen. Auf gerade
einmal 157 000 Menschen kommen 1,1 Millionen
Schweine. Masthühner, Legehennen, Puten und Rinder
sind da noch nicht mal eingerechnet. Erkennen Sie end-
lich an, Frau Ministerin Aigner, dass die Menschen in
diesen Regionen zu Recht um ihre Lebensqualität und
Gesundheit fürchten. Diese Tierdichte - riesige Ställe
mit mehreren Zehntausenden Schweinen oder einer hal-
ben Million Hühnern - bietet Seuchen optimale Ausbrei-
tungsbedingungen.
Der Klimawandel verstärkt das Ganze noch. Wissen-
schaftler gehen davon aus, dass durch steigende Tempe-
raturen nicht nur die Anzahl der Mücken und Gnitzen
zunimmt, sondern sich auch Viren schneller entwickeln.
Nach Expertenmeinung würden Temperaturerhöhungen
von 5 Grad zu einer Verdoppelung der Übertragbar-
keitsraten führen. Das ist ein wichtiger Grund mehr, die
Betriebskreisläufe des An- und Verkaufs von Tieren so
geschlossen und regional wie möglich zu halten.
Wenn es denn aber zu Erkrankungen wie dem
Schmallenberg-Virus oder auch dem sogenannten chro-
nischen Botulismus kommt, müssen wir uns fragen: Wol-
len wir Betriebe, die unverschuldet durch neue, bisher
unbekannte Erkrankungen in Notlagen geraten, völlig
alleinlassen, wie das derzeit der Fall ist? Betriebe, die
vom Schmallenberg-Virus betroffen sind, erhalten bisher
keinerlei Entschädigung. Der Grund: Damit Betriebe
Entschädigungen aus der Tierseuchenkasse erhalten,
muss die Krankheit als Tierseuche anerkannt sein und
müssen Tiere auf Anordnung der Kreisveterinäre getötet
worden sein. Ansonsten gehen die betroffenen Betriebe,
die natürlich ebenfalls in die Tierseuchenkasse einge-
zahlt haben, völlig leer aus.
Aus unserer Sicht ist klar: Diese Betriebe dürfen nicht
im Stich gelassen werden. Für neue Krankheitsgesche-
hen brauchen wir neue Entschädigungsmechanismen.
Der Antrag der Linken versucht, über einen nationalen
Notfonds einen Ansatz zu finden. Doch aus unserer Sicht
gehört die Entschädigung und Unterstützung dieser Be-
triebe in die Zuständigkeit der Tierseuchenkassen. Statt
eines Fonds brauchen wir neue Bewertungskriterien,
damit diese Krankheiten von den Tierseuchenkassen ab-
gedeckt werden. Aus grüner Sicht muss das Ziel sein,
den betroffenen Bauernfamilien unbürokratisch zu hel-
fen. Es ist nun an Ihnen, Frau Ministerin Aigner, zu
überprüfen, wie wir dies möglich machen können.
Vor allem aber müssen wir versuchen, Seuchenrisiken
so niedrig wie möglich zu halten. Industrielle Tierhal-
tungsanlagen mit Zigtausenden Tieren sind tickende
Zeitbomben. Nur durch möglichst geschlossene Be-
triebskreisläufe können wir die Verbreitung neuer
Krankheiten vermeiden. Das geht nur mit bäuerlichen
Betrieben, die in der Region verankert sind.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9580 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. -
Sie sind alle damit einverstanden. Dann haben wir das
auch so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Keine Hermesbürgschaft für den Bau des
Atomkraftwerks Angra 3
- Drucksache 17/9578 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})-
Auswärtiger Ausschuss-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung-
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Dr. Gesine Lötzsch, Ulla Lötzer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Sylvia
Kotting-Uhl, Beate Walter-Rosenheimer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Keine Bürgschaft für den Bau des Atomkraftwerks Angra 3
- Drucksache 17/9579 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})-
Auswärtiger Ausschuss-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung-
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Sie sind damit einverstanden. Ich verzichte auf die Ver-
lesung der Namen der Kolleginnen und Kollegen. Die
Namen liegen bei uns vor.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9578 und 17/9579 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind alle damit einverstanden. Dann ist die Überweisung auch so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,
1) Anlage 5
Vizepräsident Eduard Oswald
Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Förderung eines offenen Umgangs mit Homosexualität im Sport
- Drucksachen 17/7955, 17/9721 Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertMartin GersterDr. Lutz KnopekKatrin KunertViola von Cramon-Taubadel
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir vor.
Heute sprechen wir über den Antrag der SPD-Fraktion zur Förderung eines offenen Umgangs mit Homosexualität im Sport.
Aufgrund der breiten gesellschaftlichen Bedeutung
des Themas hat sich der Sportausschuss in einer Sitzung
am 13. April 2011 mit dem Thema Homosexualität im
Sport befasst. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion spricht
sich klar gegen jegliche Form von Diskriminierung und
Homophobie im Sport und außerhalb des Sports aus.
Dass einzelne Sportlerinnen und Sportler sich offen zu
ihrer Homosexualität bekennen und so als Vorbild für
andere fungieren, wird von allen Seiten begrüßt. Insbesondere ehemalige Leistungssportler können hier ein
Zeichen setzen und bis tief in die Gesellschaft hinein die
Wirkung erzielen, Gleichgesinnte zu motivieren und sie
in ihrem Mut, offen mit ihrer Homosexualität umzugehen, zu bestärken.
Allerdings darf unter keinen Umständen seitens der
Politik eingefordert werden, dass die Sportlerinnen und
Sportler ihre sexuelle Orientierung zwecks ihrer Vorbildfunktion preisgeben müssen. Entgegen der Position
der SPD-Fraktion betrifft die sexuelle Orientierung
nämlich ausschließlich die Privatsphäre von Sportlerinnen und Sportlern. Diese gilt es in erster Linie bedingungslos zu respektieren und akzeptieren. Wir müssen
den Sportlerinnen und Sportlern selbst überlassen, mit
welchen privaten Dingen sie in welchem Umfang die Öffentlichkeit suchen.
Natürlich haben wir auch den Eindruck gewonnen,
dass im Bereich Sport das Thema Homosexualität eher
als Tabu zu gelten scheint, als es in anderen gesellschaftlichen Bereichen heute der Fall ist. Jedoch kann
und darf die richtige Antwort auf diese Problematik
nicht sein, die sportlichen Akteure zu einem sexuellen
Offenbarungseid über verschiedene öffentlichkeitswirksame Programme und Institutionen zu drängen.
Wir müssen uns an dieser Stelle vordergründig mit
der Fragestellung beschäftigen, wie wir den Sportlerinnen und Sportlern das Gefühl vermitteln, dass die Toleranz in der Gesellschaft für homosexuelle Sexualität viel
größer ist, als es der Einzelne vermutet. Nur wenn wir
uns mit solchen gesamtgesellschaftlichen Ansätzen über
den Sportbereich hinaus auseinandersetzen, können wir
zu maximaler gesellschaftlicher Toleranz und Akzeptanz
aller sexuellen Orientierungen wirkungsvoll beitragen.
Der Staat hat hier nur in begrenztem Maße Handlungsspielraum, um den gesellschaftlichen Umgang mit der
Homosexualität zu steuern.
Der 12. Sportbericht der Bundesregierung gibt einen
umfassenden und lückenlosen Überblick über die zahlreichen Programme und Maßnahmen der Bundesregierung, um Projekte für Toleranz im Sport im Rahmen der
Möglichkeiten ideell und finanziell zu fördern.
Der Forderung im SPD-Antrag, die Mittel der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, ADS, im Haushalt
2012 auf 5,6 Millionen Euro annähernd zu verdoppeln,
steht außerhalb jeglicher Verhältnismäßigkeit und untergräbt die Einigung bezüglich des Gesamthaushaltes.
Trotz der Konsolidierung des Bundeshaushalts wurde
der jetzige Ansatz der ADS nur minimal verändert, um
eine solide finanzielle Ausstattung und breite inhaltliche
Arbeit zu gewährleisten.
Der Deutsche Fußball-Bund setzt sich zusammen mit
verschiedenen Sportvereinen und Organisationen bereits umfänglich für die Anliegen homosexueller Sportlerinnen und Sportler ein. Für Programme und Initiativen
im Breitensport sind aufgrund der Kompetenzverteilung
grundsätzlich die Bundesländer zuständig. Nichtsdestotrotz macht sich die Bundesregierung zusammen mit
dem Deutschen Olympischen Sportbund für Programme
im Bereich Diversity stark und wird hier ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung über das erforderliche
Maß hinaus gerecht.
Eine breitangelegte Kampagne zusammen mit dem
Deutschen Fußball-Bund und dem Deutschen Olympischen Sportbund gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Sport wird zurzeit als oberste Priorität - vor
anderen zukünftig möglichen Initiativen - angesehen.
Die einzelnen Landes- und Stadtsportbünde bilden bereits ein dezentrales Netzwerk zur Bekämpfung von Homophobie und Ausgrenzung. Die Unterstützung der Einrichtung entsprechender Beratungsstellen im Sport liegt
in der Zuständigkeit der Bundesländer. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft ist entgegen der SPD-Forderung allein für die Spitzensportforschung zuständig.
Der Antrag der SPD-Fraktion weist leider diverse inhaltliche sowie formale Schwächen auf. In der vorliegenden Form können wir die verfolgte Zielperspektive
aus sportpolitischer Sicht nicht mittragen. Wir lehnen
daher den Antrag ab.
Wir alle, die wir hier sitzen, kennen das: Man ist bei
einer Veranstaltung im Wahlkreis und wird plötzlich
rüde angegriffen, dass alle Politiker sich nur die Taschen vollmachen und korrupt und faul sind. Oder man
erhält einen Brief oder eine E-Mail, worin mit grob ausfälligen Worten Kritik an unserer Arbeit - oder der Arbeit eines Kollegen - geübt wird, was dann auch gleich
mit einem Werturteil über uns als Person verknüpft wird.
Das kann wehtun. Aber in den beschriebenen Fällen
handelt es sich - zumindest hoffe ich das - immer nur um
Einzelfälle. In diesen Fällen werden wir angegangen,
weil wir uns für eine bestimmte Tätigkeit entschieden
haben. Damit kann man leben, denn wir haben es ja so
gewollt.
Diesen Vorteil haben aber nicht alle Menschen. Stellen Sie sich vor, wir säßen inmitten einer Arena, vor
Zehntausenden Zuschauern, und würden für etwas angegangen, was wir uns nicht selbst ausgesucht haben. Was
wir nicht ändern können, selbst, wenn wir es wollten. Etwas, was Teil dessen ist, was uns selbst ausmacht.
„Die schlimmste Armut ist Einsamkeit und das Gefühl, unbeachtet und unerwünscht zu sein“, wusste
schon Mutter Teresa zu erzählen. Wir alle schätzen den
Sport dafür, dass er Werte wie Teamgeist und Fair Play
vermittelt. Trotzdem gilt im Sport das Wort „schwul“ in
allen seinen Variationen häufig noch immer als Schimpfwort, als Bezeichnung von Schwäche und mangelnder
Männlichkeit.
Wenn solche Ignoranz sich großflächig auf Transparenten austobt, kann von einem offenen und toleranten
Klima keine Rede sein. Dann bestehen wenig Anreize für
homosexuelle Athleten, sich zu ihrer Orientierung zu bekennen.
Nehmen wir einmal den Profifußball: An jedem Wochenende stehen in den beiden obersten Ligen 396 Spieler auf den Plätzen. Davon ist offiziell niemand schwul.
Zum Vergleich: Von den 620 Abgeordneten des Bundestages sind zehn bekennend homosexuell. Rein statistisch
kann da im Fußball etwas nicht stimmen.
Es ist selbstverständlich allen Menschen frei überlassen, ob sie über ihre sexuelle Orientierung sprechen
möchten. Aber die freie Entscheidung ist eben nicht frei,
wenn ein Klima der Anfeindung herrscht. Wenn jemand
Angst haben muss vor den Konsequenzen eines Comingouts.
Auch wenn Funktionäre wie der ehemalige Präsident
des Deutschen Fußball-Bundes, DFB, Theo Zwanziger,
Sportler ermutigt hat, sich zu ihrer sexuellen Orientierung zu bekennen, gibt es kaum einen offenen Umgang
mit dem Thema. Botschaften wie die des Kapitäns der
deutschen Fußballnationalmannschaft, Philipp Lahm,
der homosexuellen Fußballern von einem Outing abgeraten hatte, zeigen leider nach wie vor, wie homophob
der Sport sich selbst wahrnimmt.
Unsere Fußballer bereiten sich derzeit auf die Endrunde der Europameisterschaft in Polen und der
Ukraine vor. Es ist bereits viel über Menschenrechte in
der Ukraine geredet worden. Es ist viel geredet worden
über Julija Timoschenko und ihre Haftbedingungen,
über Menschenrechtsverletzung. Worüber nicht gesprochen wurde, ist die Tatsache, dass am vergangenen
Sonntag in Kiew die erste ukrainische Gay Pride stattfinden sollte. Sollte. In letzter Minute sagten die Veranstalter die Parade ab, weil die Angriffe und Anfeindungen durch rechtsextreme und religiöse Gruppen
überhandgenommen hatten.
Wieso haben wir darüber so gut wie nichts gehört? Es
fällt mir schwer, zu glauben, dass Homosexuelle in der
Ukraine eine kleinere Minderheit darstellen als blonde
Ex-Ministerpräsidentinnen in Haft. Anscheinend werden
die Anliegen von Menschen mit anderer sexueller Orientierung auch hier weniger deutlich wahrgenommen.
In den USA sorgte vor einigen Wochen die Kampagne
„It gets better“ für Aufsehen, in der Prominente sich an
junge Menschen, insbesondere an homosexuelle Jugendliche, gewandt haben, um diesen zu versichern, dass
Diskriminierung nicht ihr ganzes Leben bestimmen
wird.
Wegen ihrer Vorbildfunktion wünschen wir uns offen
schwule und lesbische Spitzensportlerinnen und Spitzensportler, um den Meinungswandel in der Gesellschaft zu
befördern. Sie verdienen Rückendeckung aus Politik und
Gesellschaft.
Vor Ihnen liegt ein Antrag, mit dem wir genau diese
Rückendeckung gewährleisten. Wir fordern ganz konkrete Maßnahmen für mehr Respekt und Toleranz von
homosexuellen Sportlerinnen und Sportlern:
Wir fordern, die Mittel für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, ADS, im Haushalt 2012 und im kommenden Haushalt zu erhöhen. Zeigen Sie Flagge; die
Haushaltsberatungen stehen vor der Tür.
Die Fortbildung von Trainern sowie die Entwicklung
von Ausbildungskonzepten zur Sensibilisierung für das
Thema Homosexualität müssen mehr gefördert werden.
Wir fordern ein Netz von Beratungsstellen der Sportverbände, an die sich von Diskriminierungen betroffene
homosexuelle Sportler und Sportlerinnen wenden können.
Die Frage, die wir uns im Zusammenhang mit diesem
Antrag stellen müssen, lautet: In welcher Gesellschaft
wollen wir leben? Akzeptieren wir, dass in Teilen unserer
Gesellschaft Menschen Angst um ihre Karriere haben
müssen, weil sie eine andere sexuelle Orientierung haben als die Mehrheit? In der sie sich nicht trauen, öffentlich zu sagen, wen sie lieben? Oder treten wir Intoleranz
entschieden gegenüber und schaffen die Voraussetzungen dafür, dass auch im Spitzensport prominente Sportlerinnen und Sportler ohne Bedenken an die Öffentlichkeit gehen können und sich zu ihren jeweiligen
Lebenspartnern bekennen können?
Klar ist: Auch wenn alle Forderungen des Antrags erfüllt und umgesetzt werden, wird der erste Fußballprofi,
der sich outet, die erste Athletin, die ihre Lebensgefährtin zum Wettkampf mitbringt, einen steinigen Weg vor
sich haben. Es liegt heute hier an uns, ihnen diesen Weg
zu ebnen.
Unterstützen Sie diesen Antrag! Helfen Sie dabei, die
Armut der Einsamkeit zu bekämpfen und durch den
Reichtum der Vielfalt zu ersetzen!
Wir Liberalen unterstützen das Grundanliegen dieses
Antrags, den offenen Umgang mit Homosexualität im
Zu Protokoll gegebene Reden
Sport zu fördern, und begrüßen es sehr, dass dieses
wichtige Thema kurz vor der Fußballeuropameisterschaft debattiert wird. Homophobie ist leider ein im
Sport noch immer weit verbreitetes Phänomen, auch,
aber nicht nur im Fußball. Der aktive Sport leistet aber
gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung
von positiven Werten und Normen bei Jugendlichen. Da
Homophobie aber nicht nur auf dem Sportplatz anzutreffen ist, sondern ein allgemeines gesellschaftliches Problem darstellt, muss Toleranz in jeder Generation neu
erarbeitet werden. Der Sport leistet auch hier einen
wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Inklusion.
Die vielfachen Aktivitäten der Sportverbände, der
Homophobie entgegenzuwirken, begrüßen wir daher
nachdrücklich. Gerade in der Heterogenität der Aktivitäten liegt eine große Stärke. Ausdrücklich möchte ich
an dieser Stelle jedoch das große Engagement schwullesbischer Sportvereine und homosexueller Fanprojekte
hervorheben, die zu Recht große öffentliche Aufmerksamkeit erhalten.
Nun zu den Details des Antrags: Die SPD fordert eine
generelle Erhöhung der Mittel der Antidiskriminierungsstelle. Aus Sicht der FDP ist dies nicht sachgerecht, da die ADS im vergangenen Jahr ihre bereitgestellten Mittel nicht vollständig abgerufen hat und nach
unserer Ansicht auch ihren Beitrag zur allgemeinen
Haushaltssanierung leisten sollte. Liberale setzen darauf, dass die gegebenen Mittel intelligenter eingesetzt
werden. Dabei kann sehr wohl eine Schwerpunktsetzung
auf Homophobie im Sport erfolgen. Hier ist die ADS gefordert, entsprechende Programme zu entwickeln. Den
Antrag der SPD lehnen wir daher ab.
Des Weiteren sehen wir den organisierten Sport, wie
den DOSB, den DFB und die DFL, in der Pflicht, seine
bereits erfolgreich eingeleiteten Projekte und Maßnahmen im Kampf gegen Homophobie im Sport konsequent
fortzusetzen und zu verstärken. Die FDP ist der festen
Überzeugung, dass die Diskriminierung Homosexueller
in unserer Gesellschaft nur durch Aufklärung und
Bildung nachhaltig bekämpft werden kann. Daher ist auf
unsere Initiative in diesem Jahr die Fördertätigkeit der
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld aufgenommen
worden. Wir ermuntern Wissenschaftler und Sportvereine, Forschungsvorhaben zur Homophobie im Sport
sowie Projekte zur Bildung im Sport bei der Stiftung
einzureichen.
Durch eine steigende Zahl von Projekten und Initiativen der verschiedenen im Sport Beteiligten wird es uns
hoffentlich gelingen, so viele Menschen wie möglich zu
erreichen und dadurch zunehmend und verstärkt der
Diskriminierung Homosexueller im Sport und in der
Gesellschaft entgegenzuwirken. In einer freien und toleranten Gesellschaft darf die Diskriminierung homosexueller Mitbürger nicht hingenommen werden, denn am
Ende bedroht die Diskriminierung von Minderheiten die
Freiheit von uns allen.
2004 haben lesbische Frauen in Südafrika die Fußballmannschaft „Chosen Few“ gegründet, die erste ihrer Art in Afrika. Die Spielerinnen finden durch den
Sport zu neuem Selbstvertrauen. Viele von ihnen wurden
wegen ihrer Homosexualität missbraucht oder von der
Familie verstoßen. Der Sport gibt ihnen die Möglichkeit,
das Erlebte zu verarbeiten und sich mit Gleichgesinnten
auszutauschen.
Homo-, Trans- und Intersexualität stoßen häufig auf
Unverständnis und Ablehnung. In vielen Ländern ist
Homosexualität nach wie vor strafbar und in sieben
Staaten unter Todesstrafe gestellt. Erst kürzlich wurden
Presseberichten zufolge im Iran vier Männer wegen Homosexualität zum Tode verurteilt.
Anfeindungen und Gewalt wegen sexueller Vielfalt
gibt es jedoch nicht nur in Afrika oder arabischen Ländern. Auch in Deutschland ist Homophobie in der
Gesellschaft weit verbreitet. Die Bandbreite der Diskriminierungen reicht von verbalen Attacken bis hin zu gewalttätigen Übergriffen. Die Tatsache, dass homosexuelle Flüchtlinge in Europa und auch in Deutschland nur
schwer Asyl bekommen, zeigt, dass das Problembewusstsein noch geschärft werden muss.
Diese Thematik macht auch vor dem Sport nicht halt.
Insbesondere im Fußball ist sexuelle Vielfalt ein Tabu.
Es gibt derzeit keinen aktiven Fußballer in den oberen
Ligen, der sich als homosexuell geoutet hat. Grund hierfür ist möglicherweise auch die tragische Geschichte
des Justin Fashanu, der sich 1990 während seiner Zeit
als aktiver Spieler geoutet hat. Acht Jahre später erhängte er sich in seiner Garage. Seit damals hat sich
viel verändert, und der Umgang mit sexueller Vielfalt ist
offener geworden. In Film, Fernsehen und sogar in der
Politik sind homosexuelle Persönlichkeiten keine Besonderheit mehr. Im Sport sind diese positiven Veränderungen noch nicht angekommen. Sportler fürchten um ihr
Image in der Öffentlichkeit, um Sponsoren und nicht zuletzt um die Position innerhalb der Mannschaft. Sie verheimlichen ihr Privatleben und bauen sich zum Teil eine
Doppelidentität auf. Dieses Versteckspiel hat jedoch
Auswirkungen auf die Gesundheit. Sie leiden unter der
Situation, Depressionen können auftreten, und nicht zuletzt ist die sportliche Leistungsfähigkeit gefährdet.
Die Tatsache, dass in der Nationalmannschaft der
Frauen einige Spielerinnen offen zu ihrer Homo- oder
Bisexualität stehen, heißt nicht, dass hier mehr Toleranz
herrscht. Vielmehr ist das ein Ausdruck von ohnehin bestehenden Vorurteilen. Frauen, die Fußball spielen, sind
in den Augen vieler Menschen Mannsweiber und Lesben. Außerdem geht es bei den Frauen nicht um Millionenbeträge bei Ablösesummen und Sponsorengeldern
wie bei den männlichen Kollegen.
Der Handlungsbedarf liegt also auf der Hand. Betroffen sind nicht nur die Sportlerinnen und Sportler, sondern auch Trainerinnen und Trainer und die Fans. Initiativen wie den Verein der „Hertha Junxx“ begrüße ich
daher ausdrücklich. Nachdem dieser sich 2001 als erster schwul-lesbischer Fußballfanclub gegründet hat,
gibt es heute schon etwa zwanzig solcher Fanclubs in
Deutschland, Spanien und der Schweiz, die sich als
„Queer Football Fanclubs“ zusammengeschlossen haben. Dieser Verein bietet auch eine Plattform für Fans
Zu Protokoll gegebene Reden
im Rahmen der Fußball-EM 2012 in Polen und der
Ukraine.
Die Ukraine als Austragungsort der Fußball-EM ist
derzeit allgegenwärtig in den Medien. Die Zustände im
Land werden kritisiert, und es wird zum Boykott der Veranstaltung aufgerufen. Ich bin gegen einen Boykott,
denn damit ist niemandem geholfen. Man kann und
sollte die Gelegenheit jedoch nutzen, um auf Missstände
hinzuweisen und einen Dialog anzubieten. Wie sieht es
aus mit der sexuellen Vielfalt und der Toleranz in der
Ukraine? Im letzten Jahr wollten Abgeordnete des
ukrainischen Parlaments die Propaganda von Homosexualität unter Strafe stellen. Erst vor wenigen Tagen gab
es Angriffe auf Homosexuelle in Kiew und die erste Gay
Parade musste abgesagt werden. Dennoch glaube ich,
dass Warnungen an Homosexuelle, wie von einigen Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen aktuell ausgesprochen, nicht zielführend sind. Viel wichtiger ist es,
dass die Fans füreinander einstehen und sich gemeinsam stark machen. Es kann nicht sein, dass eine Gruppe
Fans aus Angst zu Hause bleiben muss. In Polen ist das
Thema ebenfalls ein Tabu. Einige Studien besagen, dass
etwa 94 Prozent der Polinnen und Polen Homosexualität ablehnen. Ich bin gespannt, wie die Stimmung in wenigen Wochen in diesen beiden Ländern sein wird und
ob sexuelle Vielfalt beispielsweise durch entsprechende
Transparente sichtbar wird und ein Dialog stattfindet.
Ein weiterer sportlicher Höhepunkt dieses Jahres
sind die Olympischen und Paralympischen Sommerspiele in London. Ich habe mich sehr gefreut, dass es
nach der Premiere bei den Winterspielen 2010 in Vancouver auch in diesem Jahr in London ein Pride House
geben wird. Ich hoffe, dass viele Sportlerinnen und
Sportler sowie Sportbegeisterte diese Begegnungsstätte
für sexuelle Vielfalt auch besuchen werden. Wer nun jedoch denkt, das Ziel wäre erreicht, der liegt leider
falsch. Für die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2014 in Sotschi wurde die Organisation eines
Pride House von den örtlichen Behörden verboten. Dieses Verbot wurde kürzlich durch ein Gericht bestätigt.
Wir sehen, es gibt viel zu tun. Es reicht zum Beispiel
nicht, dass der Präsident der Vereinigten Staaten,
Barack Obama, sich öffentlich für die gleichgeschlechtliche Ehe ausspricht. Es müssen umfangreiche Maßnahmen ergriffen und Aufklärungskampagnen gestartet
werden, um aktiv für sexuelle Vielfalt zu werben.
Der vorliegende Antrag ist ein guter Anfang. Die aufgestellten Forderungen unterstützen wir ausdrücklich.
Bedauerlich ist allerdings, dass sich der Antrag nur auf
Homosexualität bezieht. Trans- und intersexuelle Sportlerinnen und Sportler sind jedoch gleichermaßen Diskriminierungen ausgesetzt. Dies zeigt beispielsweise der
Fall der Läuferin Caster Semenya, die aufgrund eines
maskulinen Erscheinungsbilds medizinische Tests über
sich ergehen lassen und ertragen musste, dass die ganze
Welt über ihre Intimsphäre diskutiert. Es bestehen erhebliche moralische und rechtliche Bedenken gegen
derartige Geschlechtertests und damit verbundene zwingende Hormonbehandlungen. Hier hätte man die Bundesregierung auch zu einer deutlichen Positionierung
auffordern können. Dennoch stimmen wir dem Antrag
wegen seines überwiegend positiven Inhalts zu, denn
auch der längste Weg beginnt immer mit dem ersten
Schritt.
Am 17. Mai war der internationale Tag gegen Homophobie, und auch in diesem Jahr gab es viele gute Aktionen. Ich denke, es hat bereits einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft eingesetzt. Der Sport kann zwar
nicht besser sein als die Gesellschaft, aber man muss
diesen Bereich in den Wandel einbeziehen und hier ganz
gezielt Toleranz schaffen und fördern. Sport steht für
Fairplay, Teamfähigkeit und Integration. Gewalt und
Diskriminierung haben da keinen Platz und verdienen
die rote Karte.
Wir stimmen dem Antrag der SPD zu - auch, weil die
Grünen bereits in der letzten Wahlperiode einen Antrag
mit ähnliche Forderungen eingebracht haben.
Dazu zählt zum Beispiel die Einrichtung eines Nationalen Aktionsplans gegen Homophobie. Die Schaffung
dezentraler Anlaufstellen und eine Anhebung des Budgets für die Antidiskriminierungsstelle auf 5,6 Millionen
Euro sind auch aus unserer Sicht gute und richtige
Schritte, um das Outing junger Sportlerinnen und Sportler zu erleichtern und ihnen ein selbstbestimmtes Leben
zu ermöglichen.
Dazu zählt auch, dass Übungsleiterinnen und
Übungsleiter für das Thema Homosexualität sensibilisiert werden. Denn häufig scheitert es an der Kommunikation innerhalb des Vereins. Junge Menschen brauchen
hier kompetente und vor allem niedrigschwellige Unterstützung.
Vor einem Jahr haben wir gemeinsam in der Anhörung im Sportausschuss zum Thema „Homosexualität
im Sport“ diskutiert. Im Juni letzten Jahres wurde von
der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie zum Thema
„Homophobie, Rassismus und Sexismus im Fußball“
veröffentlicht. Aber immer noch ist der Umgang mit Homosexualität im Sport besonders im Fußball stark verbesserungswürdig. Das fängt bei den Vorbildern im Spitzensport an: Die Beispiele von sich outenden aktiven
Sportlerinnen und Sportlern kann man an einer Hand
abzählen. Zur Fußball-WM der Frauen im letzten Jahr
wurde eine repräsentative Umfrage veröffentlicht mit
dem Ergebnis: 86 Prozent wäre es egal, wenn sie erführen, dass eine Spielerin der deutschen Nationalmannschaft lesbisch sei. 10 Prozent fänden das sogar gut. Als
die Torhüterin des deutschen Nationalteams sich 2011
zu ihrer Bisexualität bekannt hat, hofften alle auf einen
entspannteren Umgang mit dem Thema.
Das Gegenteil ist passiert: Philipp Lahm, den wir
bald wieder bejubeln werden in Polen und der Ukraine,
hat seinen schwulen Kollegen öffentlich von einem
Outing abgeraten. Zitat: „Es ist schade, aber Schwulsein ist im Fußball - anders als in Politik und Showgeschäft - immer noch ein Tabuthema.“
Apropos Polen und die Ukraine: Mein Kollege Volker
Beck ist vor einigen Tagen zur Kiew-Pride gereist. Auf
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Fest sollte für einen offenen und toleranten Umgang mit Homosexualität in der Gesellschaft geworben
werden. Am vergangenen Sonntag ist es kurzfristig abgesagt worden. Grund sind Angriffe von neonazistischen
Kosaken und christlich-fundamentalistischen Gegendemonstranten auf die 700 friedlichen Lesben, Schwulen
und Transgender in Kiew.
Und jetzt fahren „unsere Jungs“ bald in die Ukraine
und können sich wahrscheinlich nicht durchringen,
mehr als ein paar Phrasen für Toleranz aufzusagen und
wieder abzureisen - wenn sie das Thema überhaupt erwähnen werden und sich nicht doch besser zurückhalten
vor dem Hintergrund der vieldiskutierten politischen Situation im Land.
Das ist traurig und wirft kein gutes Licht auf den
deutschen Sport und damit auch auf die Gesellschaft.
Wir brauchen ein stärkeres Bewusstsein für die verschiedenen Formen von Diskriminierung, Rassismus und Homophobie. Denn wie kann die DFB-Elf offen für einen
positiven Umgang mit Homosexualität in der Ukraine
einstehen, wenn dies sogar im eigenen Land schwerfällt? Daher finde ich die Unterstützung der Fanprojekte, die sich für offenen und diskriminierungsfreien
Sport einsetzen, eine der zentralen Aufgaben der Politik
in diesem Bereich. Nur so kann der Kampf gegen Homophobie in Sport von der wachsenden gesellschaftlichen
Akzeptanz gegenüber Lesben und Schwulen begleitet
werden und es homosexuellen Sportlerinnen und Sportlern ermöglichen, offen mit ihrer Sexualität umzugehen.
Aus meiner Sicht kann daher ein Antrag für einen Bewusstseinswandel im Sport nicht oft genug eingebracht
werden. Gut, wenn sich die SPD auch von unserem Antrag zur Diskriminierung im Fußball Anregungen geholt
hat. Wenn jetzt noch die Koalition lernfähig bei dem
Thema ist, wäre es noch besser. Aber: Wir bleiben dran!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Sportausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9721, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/7955 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Gabriele Fograscher, Kerstin Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehr Unterstützung für Initiativen gegen
Rechts in der Gastwirtschaft
- Drucksache 17/9577 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus ({0})InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen hier vor.
Der Tourismus in unserem Land steht für Gastfreundschaft und Toleranz. Ob Gaststätte, Weinschenke, Pension, Jugendherberge oder Hotel - das deutsche Gastgewerbe ist ein Aushängeschild unserer Kultur. Allein
im Jahr 2011 konnten deutsche Gaststätten und Hotelbetriebe rund 25 Millionen ausländische Gäste begrüßen; die Tendenz steigt. Kaum eine andere Branche ist
so von internationaler und kultureller Vielfalt geprägt
wie das Gastgewerbe. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband DEHOGA bringt es auf den Punkt: „Unsere Branche hat kein Problem mit Ausländern, sondern
ohne.“
Aus diesem Grund positioniert sich der DEHOGA sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene klar gegen
Rechtsextremismus, was wir als CDU/CSU ausdrücklich
befürworten.
Was aber, wenn rechtsextreme Gruppen die Räumlichkeiten der Gastronomie nutzen, um sie für ihre Zwecke
wie rechte Konzerte oder Stammtische zu missbrauchen?
Dieses Thema versucht die SPD-Fraktion mit ihrem Antrag „Mehr Unterstützung für Initiativen gegen Rechts
in der Gastwirtschaft“, Drucksache 17/9577, aufzugreifen. Ich betone noch einmal: versucht. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir in der CDU/CSU
sind der Meinung, dass sowohl der Staat als auch die Zivilgesellschaft gemeinsam in der Verantwortung stehen,
wenn es darum geht, Extremismus einzudämmen. Nur
durch das Engagement aller gesellschaftlichen Akteure
können wir dem Extremismus den Boden entziehen und
Demokratie und Toleranz stärken.
Für diesen Demokratiegedanken setzen wir uns in der
CDU/CSU seit jeher mit viel Herz und Verstand ein.
Nach der gleichen Maxime positioniert sich die deutsche
Gastronomie gegen Extremismus und gegen Gruppierungen, die dem Demokratiegedanken in unserem Land
schaden wollen.
Dieses Engagement gegen Rechts zeigt die deutsche
Gastwirtschaft nicht erst seit gestern, sondern bereits
seit Jahren. Kurz gesagt: Die Unterstützung von Initiativen gegen Rechts in der Gastwirtschaft, die Sie von der
SPD in Ihrem Antrag fordern, ist längst gelebte Realität.
Deshalb sind Ihre Forderungen nicht nachvollziehbar,
verehrte Kollegen von der SPD.
In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf,
„…auf die Länder einzuwirken, Initiativen von Gastwirten gegen Rechtsextremismus bekannt zu machen
und zu unterstützen“. Keine Regierung hat so viel Geld
für den Kampf gegen Rechtsextremismus ausgegeben
wie unsere unionsgeführte Bundesregierung. Ich möchte
Ihnen dazu gern einige Beispiele nennen:
Das Bundesprogramm „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“ des Bundesfamilienministeriums führt seit
Januar 2011 erfolgreich die Arbeit der beiden Vorgängerprogramme „Vielfalt tut gut“ und „kompetent. für
Demokratie - Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus“ unter einem Dach fort. Dafür stehen bis 2013
jährlich 24 Millionen Euro zur Verfügung.
Im Dezember 2011 hat unser Innenminister Dr. HansPeter-Friedrich das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen
Rechtsextremismus, GAR, eröffnet. Das Zentrum soll die
Bedrohungen durch Rechtsextremismus in unserem
Land besser beurteilen und Maßnahmen wie zum Beispiel Festnahmen erleichtern. Die Länder werden sich
ebenfalls an diesem Zentrum beteiligen.
Damit extreme Tendenzen in unserer Gesellschaft gar
nicht erst entstehen, müssen wir dem vorbeugen. Das
Bundesprogramm des Innenministeriums „Zusammenhalt durch Teilhabe“ fördert Projekte zur demokratischen Teilhabe gegen Extremismus. Das Programm
richtet sich besonders an strukturschwache Regionen in
Ostdeutschland und setzt seine Förderschwerpunkte in
Vereinen, Verbänden und Bürgerbündnissen.
An ähnlicher Stelle setzt auch das von den Bundesministerien des Innern und der Justiz gegründete Bündnis für Demokratie und Toleranz an. Jährlich werden
verschiedene Foren und Diskussionsveranstaltungen
ausgerichtet und Initiativen durchgeführt, um Bürger zu
ehren, die sich aktiv gegen Extremismus und für Toleranz engagieren.
Aufklärungsarbeit durch geschultes Personal vor Ort
ist und bleibt sehr wichtig. Das Beispiel des Hausverbots für den NPD-Vorsitzenden Udo Voigt durch einen
Hotelier aus Brandenburg im Jahr 2010 hat uns gezeigt,
dass gerade ländliche Gaststättenbetreiber mit dem
Problem von als harmlos getarnten „Geburtstagsfeiern“
oder „Sommerfesten“ konfrontiert werden, die sich als
rechtsextreme Versammlungen entpuppen. Wie Sie sehen,
sind unsere Gastwirte sehr aufmerksam bei diesem
Thema.
Um Gastwirte und Hotelbetreiber umfassend über
dieses Thema zu informieren, hat unser unionsgeführtes Familienministerium in Zusammenarbeit mit dem
DEHOGA einen Ratgeber für die Gastronomie herausgegeben. Der Ratgeber beantwortet Fragen wie: Welche
Rechte und Pflichten habe ich als Betreiber, wenn ich
von rechtsextremen Gruppen Notiz nehme? Wie kann ich
solche Gruppen im Vorfeld erkennen? Welche Vertragsklauseln im Mietvertrag sichern mich von vorneherein
ab?
Die Unterstützung, die Sie in Ihrem Antrag fordern,
verehrte Kollegen von der SPD, findet bereits in den
Landesverbänden der Gaststätten- und Hotelbetreiber
statt. Die Informationen gegen Rechtsextremismus werden aktiv kommuniziert; sie werden publik gemacht und
an die Gastwirte herangetragen.
Als privatem Vermieter steht es jedem Hotelier frei, zu
welchen Konditionen er einen Vertrag eingeht und seine
Räumlichkeiten an Gäste vermietet. Der Fall des NPDVorsitzenden Voigt hat gezeigt, dass die Buchungsanfrage eines rechtsradikalen Gastes sofort vom Betreiber
abgelehnt werden darf. Der Bundesgerichtshof hat in
seinem jüngsten Urteil vom 9. März 2012 entschieden,
dass ein Gastronom in seinem Lokal der Hausherr ist
und sein Hausrecht frei ausüben kann.
Im Ratgeber des Familienministeriums ist nachzulesen, dass Gastwirte einen eindeutigen Nutzungszweck
im Mietvertrag festhalten sollen, für welche Veranstaltung der Gast die Räumlichkeit mieten will. Dafür werden im Ratgeber auch Mustermietverträge zur Verfügung gestellt, die im Internet abrufbar sind.
Am Beispiel dieses Ratgebers zeigt sich, dass sowohl
die Bundesregierung als auch die Gastwirte selbst sehr
verantwortungsbewusst und engagiert mit dem Thema
„Initiativen gegen Rechts“ umgehen. Politik und Gastgewerbe setzen sich aktiv dafür ein, dass es in unseren
Gaststätten und Hotels keinen Platz für rechtsradikales
Denken und rechte Propaganda gibt.
Die CDU/CSU unterstützt dieses Engagement sowohl
im Bereich Tourismus als auch gesamtgesellschaftlich.
Die genannten Bundesprogramme und Initiativen sind
der Beweis. Die CDU/CSU hat vieles auf den Weg gebracht, und wir werden auch in Zukunft nicht nachlassen, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen und
entsprechende Maßnahmen und Programme ins Leben
zu rufen. Liebe Kollegen von der SPD, mit Ihrem Antrag
hoppeln Sie der aktuellen Entwicklung und den Maßnahmen vor Ort hinterher. Aus diesem Grund lehnen wir
Ihren Antrag ab.
Abschließend möchte ich Ihnen die Worte des
DEHOGA-Präsidenten Ernst Fischer mit auf den Weg
geben, der zu diesem Thema treffend formulierte: „Unsere
Berufung ist Gastfreundschaft und verträgt sich nicht
mit ausländerfeindlichen Parolen rechter Gruppierungen. … Das Gastgewerbe steht für Weltoffenheit und
Toleranz.“
Die CDU/CSU wird sich auch in Zukunft dafür einsetzen, dass diese Prinzipien der Weltoffenheit und Toleranz in unserer Gesellschaft nachhaltig gewahrt bleiben.
Wir debattieren heute den Antrag „Mehr Unterstützung für Initiativen gegen Rechts in der Gastwirtschaft“
der SPD-Fraktion.
Unsere freiheitliche demokratische Grundordnung
wird durch Extremismus herausgefordert, von rechts
und von links oder durch religiösen Extremismus. Extremismus ist kein Randthema in unserer Gesellschaft. Wir
müssen uns zusammen und aktiv für unsere Demokratie
sowie für Toleranz und gegen jede Form des Extremismus starkmachen. Nur auf diese Weise verbannen wir
ihn aus unserer Gesellschaft. Die Bundesregierung stellt
für präventive Bundesprogramme im Kampf gegen den
Extremismus so viele Mittel zur Verfügung wie keine andere Bundesregierung zuvor: seit 2008 jährlich 24 Millionen Euro.
Die einseitige Fokussierung des Antrags auf rechten
Extremismus ist nicht nachvollziehbar und gefährlich.
Darüber hinaus ist die Situation im Gastgewerbe nicht
derart, dass hier eine besondere Problematik bestehen
würde. Ganz im Gegenteil: Hotellerie und Gastronomie
Zu Protokoll gegebene Reden
sind für das Thema sensibilisiert. Kaum eine Branche
steht derart für Gastfreundschaft und Toleranz wie das
Gastgewerbe, und kaum eine andere Branche ist so international. Nicht nur die Gäste des Gewerbes kommen
aus der ganzen Welt, sondern auch die Mitarbeiter. Im
Gastgewerbe sind 22,4 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ausländischer Herkunft. In
der Gesamtwirtschaft liegt diese Zahl bei 7,4 Prozent.
Diese Vielfalt ist ein wesentlicher Pfeiler des Branchenerfolgs.
Seit vielen Jahren engagieren sich Hotellerie und
Gastronomie sowie der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband, DEHOGA, aktiv gegen Extremismus. Bundesweit kennen wir zahlreiche couragierte Beispiele von
Hotelbetreibern und Wirten gegen Rechts, zum Beispiel
in Dresden, in Regensburg, in Bad Saarow und so vielen
anderen Orten. Gaststättenbetreiber schließen sich zusammen und bedienen keine „Nazis und andere Rassisten“. Hotelbetreiber verweigern Gegnern unserer demokratischen Gesellschaft die Unterkunft oder initiieren
Projekte gegen Extremismus. Diese „klare Kante“ ist
enorm wichtig.
Für Extremisten sind öffentliche Auftritte und Veranstaltungen maßgeblich. Dort haben sie Möglichkeiten,
sich und ihre Ideologien zu präsentieren, neue Anhänger
zu gewinnen und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu
stärken. Daher müssen engagierte Bürgerinnen und
Bürger dieser extremistischen Öffentlichkeit entgegentreten. Hoteliers und Gastwirten ist es freigestellt, sich
bei Reservierungsanfragen von extremistischen Gruppierungen eine Gewissenfrage zu stellen und diese auf
Grundlage der im Bürgerlichen Gesetzbuch garantierten Vertragsfreiheit abzulehnen. Wir begrüßen sehr, dass
der Bundesgerichtshof am 9. März diesen Jahres die
Vertragsfreiheit und damit die Position von privaten
Gastgebern weiter gestärkt hat. Grundsätzlich kann ein
privater Hotelbetreiber „frei darüber entscheiden, wen
er als Gast aufnimmt und wen nicht“. Das Urteil festigt
das Hausrecht, und kein Gastgeber kann dazu gezwungen werden, Mitglieder extremistischer Gruppierungen
zu beherbergen oder zu bewirten.
Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband,
DEHOGA, hat sich auf Bundes- und Landesebene ebenfalls klar gegen Rechtsextremismus positioniert. Gemeinsam mit der Arbeitgebervereinigung sowie der
Gewerkschaft der Branche wurde die Initiative „Gemeinsam für Toleranz“ ins Leben gerufen. Sie bietet
vielfältige Informationen und praktische Hilfestellungen. Zudem unterstützt der DEHOGA auch über seine
Landesverbände zahlreiche weitere Initiativen,
Broschüren und Expertenrat gegen Extremismus. Vor
Ort werden den Betroffenen individuelle Beratungen bis
hin zur Vertragsgestaltung angeboten.
Aufgrund der bereits bestehenden zahlreichen Initiativen und Hilfen für private Gastgeber in Hotellerie und
Gaststätten sind die Forderungen des Antrags nicht
nachvollziehbar. Ich freue mich auf die Beratungen im
Ausschuss, denn unser gemeinsames Ziel ist das Engagement gegen Extremismus - und dabei ist es egal, ob
die Gruppen politisch oder religiös motiviert sind. Allen
Gegnern unserer freiheitlichen und offenen Gesellschaft
müssen wir gemeinsam und entschlossen entgegentreten,
um die Werte unserer demokratischen Grundordnung an
kommende Generationen weitergeben zu können.
Im Januar dieses Jahres kam ein Hotel unfreiwillig in
die Schlagzeilen. Getarnt als Reisegruppe hielt eine
120-köpfige Nazireisegruppe ihren Neujahrsempfang im
„Hotel Seegarten“ unweit von Berlin ab. Nach eigenen
Angaben wurde der Geschäftsführer Opfer einer Täuschung: Die Rechtsextremisten seien nicht als solche zu
erkennen gewesen. Sie hätten sich als „heiterer Betriebsausflug getarnt“, um überhaupt noch irgendwo einen Tagungsort zu finden.
Heute kämpft das Hotel um seinen Ruf und hat mit
den wirtschaftlichen Folgen dieses Januartags zu kämpfen. Denn die öffentlichen Reaktionen blieben nicht aus:
Der Hotelier hätte rechtzeitig von seinem Hausrecht
Gebrauch machen können, sich früher konsequent distanzieren müssen. Doch darf man mit dieser Kritik nicht
das eigentliche Thema aus den Augen verlieren. Das
Problem ist nicht der Hotelier, sondern es sind die
120 Rechtsextremen unter dem Vorwand eines harmlosen Ausflugs.
Es besteht zwar allerorts Entschlossenheit, diesem
Schrecken ein Ende zu bereiten, doch eines ist klar: Wir
brauchen mehr Unterstützung für Initiativen gegen
Rechts in der Gastwirtschaft! Das fordern wir Sozialdemokraten in unserem Antrag.
Der beschriebene Fall spiegelt vor allem eine Unsicherheit in der gesamten Branche wider, der wir begegnen müssen. Denn der Hotelier steht dabei für viele
Menschen in unserer Gesellschaft. Es geht um die ganz
praktischen Fragen: Wie verhalte ich mich gegenüber
Rechtsextremen? Welche rechtliche Handhabe steht mir
zur Verfügung? Wie kann ich mich mit anderen Menschen vernetzen, die sich aktiv gegen ausländerfeindliche Einstellungen einsetzen? Initiativen gegen Rechts in
der Gastwirtschaft sind richtig und wichtig, doch dabei
zugleich selbstverständlich nur ein Baustein von vielen.
Rechtsextreme Gruppierungen benutzen die „Normalität“ des öffentlichen Raums, um ihre Ideologien zu verbreiten und neue Mitglieder zu rekrutieren. Diesen
Raum müssen wir ihnen entziehen.
Zwei Beispiele von herausragendem zivilgesellschaftlichem Engagement gegen Rechts möchte ich nennen.
Diese stehen zugleich für eine Vielzahl an Initiativen,
Bildungseinrichtungen, losen Zusammenschlüssen und
anderen Gruppen, die doch eines vereint: Zivilcourage
und Mut, gegen Intoleranz und Diskriminierung Stellung
zu beziehen.
Da ist zum einen das Bündnis für Menschenwürde,
das in enger Kooperation mit entsprechenden Vereinen
und Organisationen das Engagement gegen Rechtsextremismus im Raum Augsburg und Bayerisch-Schwaben koordiniert. Wir haben das Thema der Gastwirte
aufgenommen, schaffen Öffentlichkeit und Problembewusstsein und leisten Aufklärungsarbeit in Sachen
Zu Protokoll gegebene Reden
Rechtsextremismus. So ist demnächst auch ein runder
Tisch mit dem Hotel- und Gaststättenverband
DEHOGA, der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, NGG, den Hoteliers, den Gastwirten und der
Stadt Augsburg geplant. Wir leisten ganz konkrete Unterstützung im Kampf gegen Rechts.
Hinsichtlich unseres Antrags möchte ich außerdem
die Regensburger Initiative „Keine Bedienung für Nazis“ erwähnen, die seit Mitte 2010 existiert. Nach einem
brutalen rechtsradikalen Überfall, der sich in einem
Café ereignet hatte, und jagdähnlichen Szenen in der
Regensburger Innenstadt schlossen sich spontan rund
130 Gastronomiebetreiber zusammen. Unter dem gemeinsamen Motto „Keine Bedienung für Nazis“ lehnen
sie Intoleranz und Rassismus ab. Zitat aus der gemeinsamen Erklärung: „Nazis und Rassisten haben in unseren Räumen nichts zu suchen. Wir dulden keine rassistischen, diskriminierenden Äußerungen in unserem
Lokal.“
Diese Initiativen müssen unbedingt unterstützt werden. Die Regensburger Gastwirte und das Bündnis für
Menschenwürde wissen, um was es geht: nicht nur um
wirtschaftliche Interessen, die im Übrigen durch einen
gewissen öffentlichen Werbeeffekt sogar unterstützt werden. Vielmehr geht es um konkrete Zeichen, Regensburg
und Augsburg als weltoffene Städte zu zeigen, in der
Menschen verschiedenster Herkunft friedlich und
freundschaftlich zusammenleben und Intoleranz keinen
Platz hat. Es geht um die kulturelle Offenheit einer Gesellschaft, die das Miteinander praktiziert, Toleranz akzeptiert und dem Hass mutig entgegentritt.
Die Regensburger Gastwirte haben dabei das Recht
auf ihrer Seite. Denn hinter ihnen steht das Hausrecht.
Erst im März 2012 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass nicht nur Privatleute, sondern auch Unternehmer ihr Hausrecht grundsätzlich als Ausdruck der Privatautonomie frei ausüben können.
Häufig ist es für Gastwirte jedoch nicht sofort ersichtlich, dass es sich um eine Veranstaltung von Personen oder Gruppierungen mit rechtsradikalem Hintergrund handelt. Immer wieder werden Räumlichkeiten
unter falschen Angaben angemietet, beispielsweise für
private Geburtstagsfeiern, Sommer- oder Weihnachtsfeste. Trotz des Hausrechts der Gastwirte herrscht unter
ihnen häufig Unkenntnis und Unsicherheit darüber, wie
man rechte Veranstaltungen in den eigenen Räumen verhindern kann.
Um der betroffenen Branche eine Hilfestellung an die
Hand zu geben, haben zum Beispiel die Mobile Beratung
gegen Rechtsextremismus Berlin, „pro aktiv gegen
rechts - Mobile Beratung in Bremen und Bremerhaven“,
die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten und der
Deutsche Hotel- und Gaststättenverband Hamburg Anfang Dezember 2011 einen Ratgeber veröffentlicht, der
Merkmale für eine frühzeitige Erkennung und verschiedene Handlungsmöglichkeiten für Gastwirte, zum Beispiel bei der Gestaltung von Mietverträgen, aufzeigt.
Derartige Initiativen gilt es zu fördern und bekannter
zu machen. Gastwirte müssen sensibilisiert, bestmöglich
beraten und unterstützt werden; denn so kann man den
Rechtsextremisten Publikum und Versammlungsorte entziehen. Das kann zum Beispiel durch Informationsveranstaltungen, Verbreitung von Broschüren oder im Rahmen des Bundesprogramms „Toleranz fördern Kompetenz stärken“ erfolgen. Hier gibt es jedoch noch
eheblichen Verbesserungsbedarf; denn die Extremistenklausel von Bundesfamilienministerin Schröder ist kontraproduktiv und rechtswidrig, wie das Verwaltungsgericht Dresden erst im April 2012 bestätigte. Diese
Klausel verlangt von Personen, die Mittel aus dem Bundesprogramm beantragen, die Abgabe einer „Einverständniserklärung“ mit der demokratischen Grundordnung. Die Antragsteller werden außerdem aufgefordert,
zu versichern, dass sich auch die Partner ihrer Projekte
dem Grundgesetz verpflichtet sehen. Dies sät eine Kultur des Misstrauens, in der Engagement und Zivilcourage nicht gestärkt werden, sondern erlahmen. Unsere
Demokratie bedarf jedoch dieses alltäglichen Engagements der Bürgerinnen und Bürger. Daher muss die Förderung von Initiativen gegen Rechtsextremismus von
dem Gedanken des Vertrauens getragen werden.
Dies gilt auch für uns. Jedes Mitglied des Bundestages ist dazu aufgerufen, seinen Beitrag zu leisten, unabhängig von Parteigrenzen und Fraktionen.
Zahlreiche Forschungsarbeiten und Publikationen
bestätigen, dass rechtsextreme Gruppierungen sich zunehmend unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit
vernetzen; rechte Einstellungen zeigen sich im Alltag
und rücken vor in die Mitte unserer Gesellschaft. Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle die hervorragende Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung erwähnen, die mit vielen Mythen aufräumt. Es sind nicht allein die
gewaltbereiten Schlägertrupps mit Springerstiefeln und
Hakenkreuz, die uns Sorge bereiten müssten, sondern
auch der alltägliche Rechtsextremismus und rechte Einstellungen um uns herum, rechte Milieus, die als solche
erst auf den zweiten Blick erkennbar sind. Immer häufiger verdrängen rassistische und autoritäre Ideen den
Gemeinwohlgedanken und den Glauben an die Demokratie - oft auf Kosten von Ausländern, Schwulen, Muslimen, Armen.
Der Staat und dieses Hohe Haus sind damit direkt
zum Handeln aufgefordert. Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages, als politische Vertreter der gesamten Bevölkerung in Deutschland, stehen in einer tiefen
Verantwortung, die sich aus den Erfahrungen der deutschen Vergangenheit nährt, uns vor allem aber den Weg
in eine gemeinsame Zukunft weist. Wir müssen die
Demokratie leben und stärken. Daher bitte ich die Fraktionen aller Parteien, an dieser Stelle zusammenzustehen, sich gegen Rechtsextreme und Rassisten einzusetzen und das Gaststätten- und Hotelgewerbe zu
unterstützen. Unterstützen Sie unser gemeinsames Anliegen - machen Sie unseren Antrag zu einem gemeinsamen Antrag!
Dass der Rechtextremismus eine nicht zu unterschätzende Bedrohung in Deutschland ist, zeigen die EreigZu Protokoll gegebene Reden
nisse rund um die kürzlich aufgedeckte Vereinigung des
Nationalsozialistischen Untergrunds. Hier konnten
Rechtsextreme jahrelang, ohne dass die Öffentlichkeit,
die Polizei oder der Verfassungsschutz etwas davon mitbekommen hätten, ihre brutalen Verbrechen ausüben.
Wir müssen jetzt unbedingt alles in unserer Macht Stehende tun, um aufzuklären, wie es dazu kommen konnte.
Zusätzlich sollten wir unseren Blick aber auch in die Zukunft richten. Die Aufklärung ist wichtig, keine Frage,
aber mindestens ebenso wichtig ist es, dafür zu sorgen,
dass in Zukunft so etwas nicht noch einmal passiert.
Daher ist der Grundgedanke des Antrags der SPD
durchaus richtig: Rechtsextreme und rechtsextremistische Gruppierungen müssen daran gehindert werden,
ihre Ideologien zu verbreiten. Schade ist nur, dass in
dem Antrag nicht wirklich etwas steht, was hierbei helfen kann.
Die SPD will Gastwirten helfen, zu verhindern, dass
ihre Räumlichkeiten von der rechten Szene missbraucht
werden. So weit, so gut. Und jetzt kommt der enttäuschende Part: Erreicht werden soll dies laut Antrag
durch eine bessere Aufklärung der Gastwirte, einen runden Tisch und eine Infobroschüre.
Ich würde mir hier als Gastwirt ein wenig verschaukelt vorkommen. Die SPD tut ja gerade so, als würden
Betreiber von Gaststätten alle hinterm Mond leben und
vollkommen unselbstständig sein. Ich zitiere: „Trotz des
Hausrechts der Gastwirte herrschen unter ihnen häufig
Unkenntnis und Unsicherheit darüber, wie man rechte
Veranstaltungen in den eigenen Räumen verhindern
kann.“
Es wird die SPD vielleicht überraschen, aber das Bewusstsein der Bevölkerung und vor allem auch der Gastwirte ist bereits sehr hoch, was den Rechtsextremismus
angeht. Stellen Sie sich vor, viele Wirte wissen um ihr
Hausrecht und machen sogar Gebrauch davon. Die SPD
weist sogar selbst auf eine Initiative aus meiner Heimatstadt Regensburg hin: Hier haben mehr als 100 Gastronomiebetreiber eine Erklärung unterschrieben, dass sie
keine Rechtsextremen bedienen. Diese Aktion hat auch
gleich in der Nachbarstadt mit dem Schwandorfer Bündnis gegen Rechtsextremismus einen Nachahmer gefunden.
Geld für Informationsveranstaltungen auszugeben,
bei denen den Gastwirten gesagt wird, was sie eh schon
wissen - und vermutlich sogar besser als Beamte in Berlin -, halte ich für rausgeschmissenes Geld, das anderweitig weitaus effektiver eingesetzt werden kann, wie
zum Beispiel für Aufklärungsmaßnahmen an Schulen
und für Programme, die die Integration fördern. Die
Bunderegierung investiert bereits in Maßnahmen und ist
auch dabei, diese noch weiterzuentwickeln und auszubauen.
Runde Tische sind an sich sehr sinnvoll, aber am effektivsten, wenn an diesen Tischen auch wirklich die
Menschen sitzen, die vor Ort betroffen sind. Ein AlibiTisch mit Vertretern aus Bund und Ländern ist doch wieder nur ein riesiges, rein symbolisches Bürokratiemonster, das in der Praxis nichts ausrichtet.
Und am „besten“ finde ich die Idee, eine weitere Informationsbroschüre mit Hinweisen dafür herauszugeben, wie man potenzielle rechtsextreme Gäste im Vorfeld
besser erkennt. Es gibt bereits eine sehr hilfreiche Broschüre der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten
und der DEHOGA, die genau diese Hinweise enthält
und zudem auch noch nützliche Tipps zum Gebrauch des
Hausrechts und der Gestaltung von Mietverträgen gibt auch diese erwähnt die SPD selber in ihrem Antrag.
Aber anscheinend will die SPD auch hier Geld, das
sinnvoller in andere Projekte gegen Rechts investiert
werden kann, ausgeben, um noch eine zweite Broschüre
herauszugeben. Aber als Opposition kann man es sich ja
erlauben, sinnlos Geld aus dem Fenster zu werfen.
Was soll nun dieser absolut überflüssige Antrag der
SPD? Anstatt sich ernsthaft mit dem Problem, mit der
Ursache des Rechtsextremismus zu beschäftigen und
konstruktive Vorschläge zu machen, verschießt sie ihr
Pulver, indem sie bereits erfolgreiche Maßnahmen, die
zum Teil sogar aus der Bevölkerung selbst kommen, doppelt und Vorschläge macht, die nicht weiterführen. Ich
muss zugeben, ich bin ein bisschen überrascht von diesem überflüssigen Antrag.
Es ist unbestritten, dass das Engagement und der
Kampf gegen Rechts auf verschiedenen Ebenen verstärkt, weiterentwickelt und fortgeführt werden muss.
Dazu zählt natürlich auch, dass Nazis kein Raum gegeben wird, in dem sie ihre menschenverachtende Propaganda darstellen und ausbreiten können. Weder auf öffentlichen Plätzen oder Straßen - als Kundgebungen
oder Demonstrationen - noch in Gaststätten und Kneipen - als Informationsveranstaltungen, Liederabende
und Konzerte - soll Platz für ewiggestriges Gedankengut und seine Verbreitung sein.
Leider ist es rechtlich nicht in dem Maße möglich, wie
es notwendig wäre, Nazis den öffentlichen Raum zu verbieten. Die Losung „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ hat seinen Einzug in dieses
Rechtssystem und teilweise auch in diese Gesellschaft
leider noch nicht gefunden. Deshalb ist es umso wichtiger, im privatwirtschaftlichen Bereich wie zum Beispiel
in der Gastwirtschaft Nazis geeignete Mittel entgegenzusetzen.
Die Initiative der SPD mit ihrem heute hier debattierten Antrag und seinen Forderungen ist generell unterstützenswert und im Prinzip völlig richtig. Ihr Anliegen
tragen wir gerne mit! Allerdings stellt sich schon die
Frage, ob es tatsächlich bundesstaatliche Aufgabe ist,
runde Tische zu organisieren, oder ob das nicht Aufgabe
der Zivilgesellschaft ist, die dabei durch den Bund gefördert und unterstützt werden sollte. Ein zu großer Protagonismus staatlicher Akteure birgt die Gefahr, dass
das Engagement und der Protest gegen Nazis „gedeckelt“ werden. So könnte das wichtige und klare Zeichen
der Bevölkerung verloren gehen, dass Nazis mit ihrer
Ideologie auf breiter Ebene abgelehnt werden.
Der doch etwas übereifrige und einem relativ staatszentrierten Verständnis folgende Antrag greift, obwohl
Zu Protokoll gegebene Reden
er sich eines sehr spezifischen Themas annimmt, nicht
alle in diesem Zusammenhang zu beachtenden Aspekte
auf. Mit keinem Wort erwähnt die SPD, dass viel früher
angesetzt werden muss, um effektiv gegen Rechtsextreme
vorgehen und der Gesamtheit der Problematik gerecht
werden zu können. Doch dazu später.
Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, geht es im Grunde doch hoffentlich auch darum, dass Nazis kein Raum zur Verfügung steht, um ihre
Ideologie zu verbreiten. Doch leider gehen Sie nicht im
Geringsten darauf ein, wie mit Gastronomen und Wirten
umgegangen werden soll, die sich selber der rechten
Szene zugehörig fühlen und explizit rechte Veranstaltungen unterstützen bzw. ihre Räumlichkeiten für Veranstaltungen der extremen Rechten zur Verfügung stellen. In
solchen Räumen finden von der Öffentlichkeit ungestört
Veranstaltungen, Konzerte etc. statt, die den Rechten zur
inneren Stärkung dienen. Hier müsste der Staat dringend aktiv werden. Solche Orte und Veranstaltungen
müssen frühzeitig ausfindig gemacht und aufgelöst werden. So müsste einmal darüber nachgedacht werden, ob
Gastronomen, die ihre Räumlichkeiten wiederholt für
Veranstaltungen der extremen Rechten zur Verfügung
stellen und bei denen es zu Straftaten kommt, die Lizenz
entzogen werden kann. Ein Beispiel wäre die Kneipe
„Zum Henker“ hier in Berlin-Schöneweide. Es ist offensichtlich, dass aus dieser Gaststätte heraus schon des
Öfteren Straftaten begangen wurden. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der leider keinen
Eingang in Ihren Antrag gefunden hat, ist die Sensibilisierung der Gastronomen im Zusammenhang mit einem
leider auch von Ihnen etwas stiefmütterlich behandelten
Thema: dem Alltagsrassismus. Dieser tritt in nicht unerheblichem Maße auch in der Gastronomie zutage. Wichtig für eine offene, aufgeschlossene Gesellschaft ist eben
nicht nur die Auseinandersetzung mit offensichtlich
rechtem Gedankengut und klar erkennbaren Rechtsextremen, die ihr braunes Gedankengut zur Schau
stellen, sondern eine Auseinandersetzung mit in der Gesellschaft tief verwurzelten Rassismen und Fremdenfeindlichkeit. Diese spiegeln sich beispielsweise in der
Sprache wider. So ist es etwa in Bayern leider noch immer ganz normal, auf der Getränkekarte einen „Neger“,
ein Mischgetränk aus Weißbier und Cola, oder einen
„Russen“, ein Mischgetränk aus Weißbier und Zitronenlimonade, zu finden. Leider kommt es auch nicht allzu
selten vor, dass an manchen Stammtischen xenophobe
Äußerungen fallen und dort zum „guten Ton“ gehören.
Hier ist ein entschiedenes Eingreifen der Gastronomen
und der Zivilgesellschaft notwendig. Denn dieser Alltagsrassismus bildet einen willkommenen Nährboden
für die extreme Rechte. Deshalb ist es notwendiger denn
je, Aufklärungsarbeit zu betreiben und Fremdenfeindlichkeit entschieden entgegenzutreten.
Ganz wesentlich hierfür ist - wie von uns schon lange
gefordert -, die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus auszubauen, an den entscheidenden Stellen zu
verbessern und ihre finanzielle Förderung auszuweiten
und zu verstetigen. Das ist die Basis für die Unterstützung des Engagements vor Ort. Diese Programme haben in ihrer Gesamtheit viel Anerkennung gefunden und
sind auch vonseiten der wissenschaftlichen Begleitforschung als wichtige und richtige Ansatzpunkte zur Auseinandersetzung mit der extremen Rechten gewertet
worden. Es hat sich gezeigt, dass eine langfristige, auf
die Stärkung engagierter Akteure vor Ort setzende Arbeit die beste Gewähr dafür ist, lokale Strukturen der
extremen Rechten abzuschwächen und auszubooten. An
dieser Stelle muss die Bundesregierung unterstützend
wirken, damit die erfolgreiche Arbeit vor Ort kontinuierlich weitergeführt werden kann. Geeignete Maßnahmen
hierfür wären zum einen, den finanziellen Umfang des
Bundesprogramms „Vielfalt tut gut“ dem tatsächlichen
Bedarf entsprechend zu erhöhen.
Zum anderen müsste die Zahl der lokalen Aktionspläne entsprechend dem angemeldeten Bedarf ausgeweitet werden. Hierbei müssen die Förderkriterien dahin gehend geändert werden, dass nicht ausschließlich
Kommunen und Landkreise Mittel beantragen können,
sondern auch zivilgesellschaftliche Träger. Vor allem die
über das Bundesprogramm „kompetent. für Demokratie“ geförderten mobilen Beratungen und Opferberatungen dürfen nicht länger als Modellprojekte laufen. Sie
müssen als dauerhafte Aufgabe des Bundes gefördert
werden und eine langfristige Perspektive erhalten. Erforderlich ist eine auf Dauer angelegte Beratungsarbeit
vor Ort, die sich nicht in kurzfristiger Krisenintervention erschöpft.
Engagement und Unterstützung von Initiativen gegen
Rechtsextreme dürfen nicht erst dann zum Tragen kommen, wenn es bereits zu akuten Fällen von Gewalttätigkeiten und Straftaten gekommen ist. Es muss frühzeitig
damit angefangen werden, die Bevölkerung und natürlich auch Gastwirte für das Thema Rechtsextremismus
zu sensibilisieren und den Widerstand dagegen zu unterstützen. Wir verfolgen dabei einen zivilgesellschaftlichen Ansatz; das heißt, die Bürgergesellschaft wird aktiv
gegen Nazis und setzt sich aktiv mit ihnen auseinander.
Der Staat muss ein solches Engagement fördern und unterstützen; er sollte es aber nicht ersetzen.
Das in dem Antrag aufgeführte Beispiel der Regensburger Initiative „Keine Bedienung für Neonazis“ ist
wahrlich ein Vorzeigeprojekt, das Ausstrahlungskraft
hat und auch für weitere Städte Modellcharakter besitzt.
Die Initiatoren und Mitbegründer dieser Initiative haben sich aus zivilgesellschaftlichem Engagement heraus
selbst ermächtigt, gegen Nazis vorzugehen, und haben
diese Kampagne vorangebracht und zum Erfolg geführt.
Mittlerweile gibt es Anfragen aus 15 weiteren Städten,
um diese Kampagne andernorts zu etablieren.
Wesentlich für eine erfolgreiche Anti-Naziarbeit sind
eine auf Dauer angelegte Kampagne bzw. Projekte, die
nicht nur kurzfristige Effekte haben. Hier muss die Politik ansetzen! Wir müssen das Übel bei der Wurzel packen und dürfen nicht nur Feuerwehrpolitik betreiben.
Schon lange sind Neonazis nicht mehr sicher am äußeren Erscheinungsbild zu erkennen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viele Rechtsextreme verfolgen die Strategie der
schleichenden Unterwanderung gesellschaftlicher Bereiche. Um Kontakte zu knüpfen, in Vereinen Fuß zu fassen oder in Elternvertretungen gewählt zu werden, wollen sie sympathisch und unauffällig wirken.
Diese Verschleierungstaktik führt auch in der Gastwirtschaft immer wieder zu Problemen. Häufig verhalten sich Neonazis bei Anmeldungen betont unauffällig
und melden eine Veranstaltung unter einem privaten Anlass an.
Gastwirte brauchen fundierte Aufklärung, um im Geschäftsalltag Neonazis rechtzeitig erkennen und böse
Überraschungen vermeiden zu können. Auch juristisches Wissen ist erforderlich. Denn selbst wenn Gastwirte bemerken, dass sie Rechtsextremisten vor sich haben, herrscht vielfach Unsicherheit: Wie soll man mit
ihnen umgehen? Ist man berechtigt, Menschen wegen
ihrer Gesinnung des Hauses zu verweisen, oder verstößt
man damit gegen das Gleichbehandlungsgebot und riskiert eine Klage?
Angesichts solcher Fragen bin ich froh, dass der Bundesgerichtshof am 9. März 2012 klargestellt hat: Sowohl
Privatleute als auch Unternehmerinnen und Unternehmer dürfen ihr Hausrecht grundsätzlich frei ausüben.
Anlass für diese Entscheidung war der Wunsch des ehemaligen NDP-Chefs Udo Voigt, sich in einem Brandenburger Wellnesshotel einzubuchen, was der Hotelbesitzer abgelehnt hatte.
Dass man auch mit Kreativität zum Ziel kommen
kann, zeigte bereits 2007 ein Hotelier aus Dresden. Dort
hatten sich die NPD-Funktionäre Holger Apfel und
Alexander Delle online eingemietet. Die Buchung war
vorab bezahlt und vom Hotel bestätigt worden. Insofern
bot sich eine rechtliche Lösung nicht an. Der Hotelier
schrieb stattdessen einen offenen Brief an die beiden.
Darin bat er sie, nicht in seinem Hotel zu übernachten,
da er seinen Mitarbeitern nicht zumuten wolle, sie begrüßen und bedienen zu müssen. Für den Fall, sie würden dennoch nicht von der Buchung zurücktreten, kündigte er an, alle durch sie erwirtschafteten Einkünfte
sofort als Spende an die Dresdner Synagoge weiterzuleiten. Das wollten Apfel und Co. dann doch nicht und sagten den Aufenthalt ab.
Mittlerweile haben Gastwirte eigene Initiativen gegen Rechts ins Leben gerufen. So schlossen sich unter
dem Motto „Keine Bedienung für Neonazis“ in mehreren Städten engagierte Gastwirte zusammen.
Unterstützung kommt auch von der DEHOGA, der
Gewerkschaft NGG und der Mobilen Beratung gegen
Rechtsextremismus Berlin. Ihr Ratgeber ist in der Praxis
eine große Unterstützung.
Ein aktueller Erfolg ist auch der ausgefallene NPDParteitag im sächsischen Plauen. Dort wollte die NPD
den Mietvertrag nicht unterzeichnen, da dieser zwei für
die NPD nicht einlösbare Klauseln enthielt. In einer
Klausel wurde der NPD untersagt, in den gewünschten
Räumen der Festhalle rassistisches, antisemitisches und
antidemokratisches Gedankengut zu äußern. Der NPDLandesvorstand war empört und meinte, es werde für sie
immer schwieriger, Veranstaltungsräume anzumieten.
Das ist ein großer Erfolg des Engagements und der Sensibilisierung in den letzten Jahren.
Auch öffentliche Zeichen gegen Rechts sind sehr
wichtig, gerade dann, wenn Nazis aggressiv gegen Gastwirte vorgehen.
Ein aktuelles Beispiel gab es kürzlich in Geithain in
der Nähe von Leipzig. Dort wurde ein Sprengstoffanschlag auf die Pizzeria eines pakistanischen Betreibers
verübt. Geithains Bürgermeisterin Romy Bauer, eine
CDU-Politikerin, bekennt bei einer Gedenkveranstaltung: „Seit Herr Sayal eröffnet hat, gab es Bedrohungen
und Anschläge. Für mich haben diese Taten ganz eindeutig einen rechtsextremen Hintergrund.“
Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen verschreckt, angegriffen und verjagt werden, weder in der
Gastwirtschaft noch anderswo. Dabei geht es nicht nur
um die unmittelbar betroffenen Opfer. Rechtsextremismus schädigt auch die regionale Tourismuswirtschaft.
Studien ergaben Verluste in Milliardenhöhe, weil ausländisch Aussehende Reisen in „braune Angstzonen“
scheuen. Gerade dort brauchen wir bunte lokale Bündnisse, die gegensteuern.
Publikationen und Aktionen, die Gastwirte in der
Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus stärken,
müssen bekannter gemacht werden. Hier sind Bund und
Länder gleichermaßen gefragt.
Die SPD fordert in ihrem Antrag eine Informationsoffensive. Wir Grüne unterstützen diesen Antrag. Besonders einen runden Tisch mit Vertreterinnen und Vertretern von Bund, Ländern, Kommunen, Gewerkschaften,
Branchenverbänden, zivilgesellschaftlichen Akteuren
sowie betroffenen Gastwirten halten wir für eine gute
Idee. Denn Bündnisse ermöglichen Solidarität mit bedrängten Gastwirten - und deren Gästen. Miteinander
können wir ein Umfeld schaffen, das Neonazis in die Defensive drängt und Vielfalt vor Ort erleichtert.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Hans-Joachim Hacker, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Ausbau der Offshore-Windenergie erfordert
moderne Hafeninfrastruktur
- Drucksache 17/9573 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschuss
Vizepräsident Eduard Oswald
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen, auf deren Verlesung ich verzichte,
liegen mir vor.
Wie immer hat sich die Bundestagsfraktion der SPD
in dem vorliegenden Antrag „Ausbau der OffshoreWindenergie erfordert moderne Hafeninfrastruktur“
nicht mit realistischen Problemen auseinandergesetzt
und fordert stattdessen Dinge ein, die wir von der CDU/
CSU-Fraktion ohnehin unlängst ins Rollen gebracht haben.
Denn wir haben uns erneuerbare Energien ganz groß
auf die Fahnen geschrieben. Wir wollen in Deutschland
eine sichere und zuverlässige energetische Zukunft gestalten und haben schon einige Programme zur Unterstützung dieser Branchen initiiert. Mit der Photovoltaikförderung, der energetischen Gebäudesanierung und
dem seit Juni 2011 in Kraft getretenen Offshore-KfWFörderprogramm haben wir einiges in die deutsche
Energiezukunft investiert. Dennoch müssen wir die regenerativen Energien und vor allem den Netzausbau weiter vorantreiben, um die Energiewende erfolgreich umzusetzen.
Insbesondere im Offshorebereich gibt es derzeit noch
einige Probleme. Anders als zuvor - klug auf dem Papier geplant und gedacht - stellen uns die Realität und
der politische Alltag oftmals vor vielschichtige und ungeahnte Herausforderungen. Vor diesem aktuellen Hintergrund muss man sagen, dass der Antrag der SPD
überzogen und an den Dringlichkeiten vorbei formuliert
ist.
Gern will ich das begründen: Vor allem im Offshorebereich gibt es noch viele Kapazitäten und wirtschaftliche Potenziale, die wir fördern wollen. Trotz bestehender Probleme beim Netzausbau und Netzanschluss
haben wir ein 5 Milliarden starkes KfW-Förderprogramm auferlegt, welches den Ausbau der Offshoreanlagen an unseren Küsten vorantreiben wird. Daher ist die
im Antrag der SPD geforderte Öffnung dieses Kreditprogramms zugunsten der Hafeninfrastruktur falsch. Das
Förderprogramm soll dazu dienen, den Ausbau der
Windkraft und die Offshoretechnik voranzutreiben, und
sollte keine weiteren Bereiche mit fördern. Das Volumen
von 5 Milliarden wird schließlich vollumfänglich benötigt, wenn man bedenkt, was ein Offshorepark kostet - je
nach Standort pro 1 installiertes Megawatt Leistung
rund 2,5 Millionen Euro.
Wir haben den Ausstieg aus der Atomenergie bis
Ende 2020 beschlossen und benötigen zum Gelingen
dieser Energiewende zweifelsohne einen großen Anteil
Offshoreenergie. Diesbezüglich plant die Bundesregierung, bis 2020 eine Offshorewindkraftleistung von
10 000 Megawatt an der deutschen Küste installiert zu
haben. Bis 2030 sollen es sogar zischen 20 000 bis
25 000 Megawatt sein. Für das Gelingen dieses ehrgeizigen Ziels benötigt der Offshoresektor politische Unterstützung, die er durch unser KfW-Programm erhält. Das
zeitlich begrenzte Kreditprogramm wird vor allem dazu
dienen, die Anschubfinanzierung in diesem Bereich erheblich zu unterstützen. Die von der SPD in ihrem Antrag geforderte Abzweigung von Geldern aus diesem
volumenmäßig begrenzten Programm halte ich daher
für grundlegend falsch.
Nichtsdestotrotz findet die Förderung der Hafeninfrastrukturen meine vollste Zustimmung. Häfen sind
die Tore zur Welt und müssen sowohl über eine gut strukturierte Hinterlandanbindung verfügen als auch über
optimale seewärtige Zufahrten. Aber deshalb haben wir
ja auch das Nationale Hafenkonzept auf den Weg gebracht. Im Nationalen Hafenkonzept und in der Koalitionsvereinbarung sprechen wir uns für die vorrangige
Bedeutung der Häfen aus und sehen den Ausbau der hafenrelevanten Verkehrsinfrastrukturen als ein Kernziel
an.
Zusätzlich muss man sagen, dass wir bereits mit Intensität daran arbeiten, die Probleme und Potenziale
rund um den Offshore- und den maritimen Wirtschaftsbereich zu untersuchen. Auf Grund der Komplexität und
der zahlreichen Komponenten, die bei der Errichtung eines Offshoreparks berücksichtigt werden müssen, geht
so etwas allerdings nicht von jetzt auf gleich. Das Bundesumweltministerium hat bereits angekündigt, einen
Fortschrittsbericht zu dieser Untersuchung Mitte des
Jahres 2012 zu veröffentlichen. In diesem Bericht werden die Anforderungen für Häfen und Schiffe überhaupt
erst einmal untersucht, und hier werden auch die angesprochenen Marktpotenziale zum Beispiel der Werften
berücksichtigt.
Der Antrag der SPD ist überflüssig, da die Bundesregierung bereits an einer Bedarfsanalyse im Bereich der
Hemmnisse für die maritime Wirtschaft und den Offshoreausbau arbeitet. Diese Untersuchung wird die
Ausbaupotenziale in diesen Bereichen aufzeigen und damit zusammenhängende Hindernisse identifizieren.
Schließlich kann man sich erst mit hinreichenden Untersuchungen ein brauchbares Urteil bilden. Zusätzlich haben wir das bereits im Jahr 2009 verabschiedete Nationale Hafenkonzept, das ein strategischer Leitfaden für
den Ausbau der See- und Binnenhäfen ist.
Auch das angesprochene KfW-Programm sollte in
diesem Umfang weiter bestehen, um den Ausbau der erneuerbaren Energien als signifikanten Wirtschaftsfaktor
weiter zu fördern. Vor allem die norddeutschen Länder
spielen hier eine Schlüsselrolle, und daher begrüße ich
die Zusammenarbeit der Bundesländer, des Bundes und
der Branche. Die maritime Wirtschaft und die Offshorewindenergiebranche sind wichtige Partner unserer
Energiewende und blicken gemeinsam mit uns für das
selbe Ziel nach vorn.
Allerdings bringen uns unbedachte Förderungen
quer Beet, ohne zugrundeliegende Kenntnisse kein Stück
weiter. Darum bitte ich Sie, liebe Kollegen der Sozialdemokratischen Partei, nicht zu vergessen, dass bei all
den Förderungen und den stets von Ihnen geforderten
Subventionen in diesen Bereichen auch immer über
Steuergelder und Energiekosten der Bürger geredet
wird. Wir wollen keinen Haushalt für unbedachte Versprechen überlasten.
Daher ist der Antrag er SPD-Fraktion abzulehnen.
Ich freue mich sehr, dass die wirtschaftlichen Chancen, die der Ausbau der Offshorewindenergie für die
deutsche Küste bringt, inzwischen auch von der SPD erkannt und sogar im Bundestag thematisiert werden. Für
sozialdemokratische Verhältnisse ist das nämlich ziemlich zeitnah geschehen. Die CDU-geführte niedersächsische Landesregierung und die unionsgeführte Bundesregierung schaffen auf diesem Gebiet durch eine
hervorragende Zusammenarbeit und Abstimmung schon
seit einigen Jahren Fakten - beeindruckende, überzeugende Fakten.
Wie gut wir waren, zeigen die wirtschaftlichen Ergebnisse, die akribisch und bienenfleißig in dem Antrag aufgeführt werden. Uns von der Union überrascht ja nicht,
dass wir eine hervorragende Wirtschaftspolitik machen.
Für die Sozialdemokraten müssen diese Zahlen eine Offenbarung sein. So, Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, geht es nämlich auch.
Vieles, was in dem Antrag angesprochen wird, haben
wir schon längst auf den Weg gebracht. Dabei waren wir
in Niedersachsen viel besser als Landesregierungen mit
SPD-Beteiligung. Und ich versichere Ihnen, dass das
ganz sicher zuallerletzt an der Geografie lag.
Niedersachsen hat nicht nur die Zeichen der Zeit erkannt, sondern entfaltet schon jetzt vielversprechende
Aktivitäten für die Zukunft. Lassen Sie mich auf einige
Aspekte ganz konkret eingehen, damit Sie sehen, dass
sich im Norden etwas bewegt:
Da der Seaports of Niedersachsen GmbH schon
lange bewusst ist, dass umfangreiche Logistikdienstleistungen für die Windenergiebranche unvergleichliche
wirtschaftliche Chancen für unsere Häfen eröffnen, geht
sie offensiv und - wie ich meine - sehr strategisch vor.
Ich kann die verdienstvollen Aktivitäten dieser Gesellschaft hier natürlich nicht alle aufzählen; das würde die
Redezeit der CDU/CSU-Fraktion der nächsten Jahrzehnte aufbrauchen.
Dennoch möchte ich auf einige Vorstöße aus den letzten Wochen hinweisen: Die Seaports of Niedersachsen
GmbH war im April mit einem eigenen Messestand auf
der Windenergiekonferenz EWEA in Kopenhagen vertreten. Vertreter von Unternehmen aus den Seehäfen Brake,
Cuxhaven, Emden und Nordenham standen in der dänischen Hauptstadt potenziellen Kunden Rede und Antwort
und präsentierten den Fachbesuchern ihre umfangreichen Logistikdienstleistungen. Diese beinhalten längst
nicht mehr nur den klassischen Hafenumschlag und die
Lagerung, sondern sind vielmehr komplexe Logistikprozesse geworden, die auch wertschöpfende Tätigkeiten am
Produkt und das komplette Supply Chain Management
mit einschließen. Unsere Unternehmen warten nicht auf
irgendwelche Koordinationsprogramme mit SPD-Unterbezirken und Gewerkschaftsfunktionären, deren letzte
praktische Tätigkeit in der Beladung von Stückgutfrachtern bestanden hat. Unsere Unternehmen legen los.
Wie gut die Infrastruktur in unseren Häfen schon jetzt
ist, zeigt die Professionalität, mit der eine 220 Tonnen
schwere Kabelrolle mit einem Durchmesser von sieben
Metern im Hafen von Emden von einem Coaster aus
Norwegen mit einem Schwimmkran auf einen Spezialkabelleger verladen wurde. Dies hört sich zunächst vielleicht banal an. In Wirklichkeit aber haben hier die
Logistikspezialisten aus Emden einen sehr anspruchsvollen Auftrag perfekt abgewickelt. Wer dies einmal gesehen hat, weiß, wie gut unsere Häfen und Unternehmen
aufgestellt sind.
Auch anderswo geht es an der Küste voran: Das Terminal in Cuxhaven wird für Eon der Basishafen für die
Installationsphase des Offshorewindparks Amrumbank.
Deshalb hat Eon mit dem Betreiber des Cuxhavener Hafens eine Reservierungsvereinbarung für die Nutzung
von Hafenflächen geschlossen. Eon will sich so Flächen
im Hafengebiet und die exklusive Nutzung von einer der
drei Kaianlagen in Cuxhaven für Montage, Transport
und Lagerung von wichtigen Komponenten des Offshoreparks sichern. Unser Ministerpräsident David
McAllister, der das Vorhaben sehr intensiv und in enger
und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit unserem
Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium Enak
Ferlemann begleitet hat, hat die vorzüglichen Perspektiven Cuxhavens kurz und knapp zusammengefasst: „Die
Unterzeichnung der Reservierungsvereinbarung von
Hafenflächen für den Aufbau des Offshore-Windparks
Amrumbank ist ein wichtiger Schritt, um Cuxhaven zunehmend als Hafen der Energiewende zu nutzen. Das
stärkt die Rolle Cuxhavens als ein führender OffshoreBasishafen an der Nordsee.“ Besser kann man gar nicht
sagen, dass es in Cuxhaven bald brummen wird.
Selbstverständlich gehen durch die Offshorewindparks auch starke wirtschaftliche Impulse in die Stadt
Wilhelmshaven und die benachbarten Kreise Wittmund
und Friesland sowie die Wesermarsch. Das beeindruckendste Vorhaben hier ist das Engagement eines chinesischen Unternehmens, das in Wilhelmshaven rund
50 Millionen Euro investieren möchte. Es möchte am
Nordhafen eine Montagebasis für schwere Stahlfundamente für Offshorewindkrafträder bauen. Im August soll
mit dem Bau der 260 Meter langen und 45 Meter hohen
Halle begonnen werden. Voraussichtlich werden hier
mehr als 200 Arbeitsplätze entstehen. Ich bin der festen
Überzeugung, dass von dieser Investition eine erhebliche Ausstrahlung ausgehen wird. Man kann es auch anders formulieren: Die Region nimmt wirtschaftlich wieder Fahrt auf.
Für uns von der Union ist aber auch klar, dass wir
diese Entwicklung mit größter Aufmerksamkeit auch
weiterhin verfolgen müssen, damit einzigartige Chancen
für die Region nicht durch zögerliche und zu späte Entscheidungen vernichtet werden. Insofern passt es ganz
gut, dass wir keine entsprechenden charakterlichen Neigungen haben.
Ansonsten bietet der Antrag der Sozialdemokraten
das, was diese Partei unter Wirtschaftspolitik versteht:
Pläne, gesetzliche Vorschriften, Strategien, die mit diesem und jenem so lange diskutiert werden, bis die Zeit
Zu Protokoll gegebene Reden
über sie hinweggegangen ist, und natürlich auch Selbstverständlichkeiten, die jeder normal denkende Mensch
sowieso berücksichtigt. Manche glauben, dass solche
Rezepte aus der sozialdemokratischen Mottenkiste kommen. Das ist aber ein gewaltiger Irrtum. So sieht die
brandaktuelle Wirtschaftsvernichtungspolitik der Sozialdemokratie aus.
Der Wechsel im Amt des Bundesumweltministers ist
eine Chance - eine Chance für die Bundesregierung, zu
zeigen, dass die Energiewende unter Schwarz-Gelb
nicht komplett abgeschaltet wird.
Seit Monaten streiten sechs Ministerien und drei Parteien mit viel Energie um den richtigen Kurs. Was fehlt,
ist ein Konzept, das den Weg in die Stromversorgung der
Zukunft weist. Dabei drängt die Zeit, und langfristige
Projekte hätten längst angeschoben werden müssen. Das
gilt für den Netzausbau, das betrifft aber auch den Aufbau des Zukunftsmarktes Offshorewindenergie.
Der hektisch einberufene Energiegipfel im Kanzleramt nach dem unrühmlichen Ministerabgang ändert
nichts daran, dass die Bundesregierung - allen voran
Bundeskanzlerin Angela Merkel - beim Ausbau der Offshorestromerzeugung „offline“ ist. Und so war denn
auch das Spitzentreffen in Berlin nur eine Showveranstaltung: große Worte, wenig Konkretes. Einziges Ergebnis: für die Energiewende braucht es mehr Tempo
und mehr Abstimmung. Allein: Diese Erkenntnis ist
nicht neu, und das Treffen kommt viel zu spät.
„Nicht mehr als ein laues Lüftchen“ könnte die Überschrift über der Energiepolitik der Bundesregierung lauten. Der Ausbau der Offshorewindenergie wird aber nur
gelingen, wenn die Netzanbindung der Windparks auf
See endlich vorankommt und wenn ausreichende Hafenkapazitäten zur Verfügung stehen. Denn die Hafenstandorte in Deutschland sind bislang nicht genügend
für Offshoreprojekte gerüstet. Dies droht die Entwicklung der gesamten Branche zu behindern. Dies gilt umso
mehr, als der Neubau von Hafeninfrastruktur, abhängig
vom Grad der Planungs- und Baureife, durchaus mehrere Jahre beanspruchen kann.
Nach aktuellen Studien sind bis zum Jahr 2021 in
Deutschland rund 33 000 Arbeitsplätze in der Offshorewindenergiebranche zu erwarten. Schon heute arbeiten rund 15 000 Menschen in diesem Segment. Das
Wachstumspotenzial der Offshorewindenergie wird sich
aber nur dann in Umsätzen und Jobs auszahlen, wenn
die Rahmenbedingungen stimmen. Doch die Bundesregierung hat beim Thema Offshoreanlagen den Anschluss
verpasst. Weil die Energiewende zu schleppend vorangeht, sind Investitionen in die Offshorewindparks und
die Infrastruktur gefährdet.
Aufgrund der geringen Erfahrungen mit der neuen
Technologie zögern viele Banken und Finanzinstitute
derzeit, den Bau von Offshorewindparks zu finanzieren.
Das Sonderprogramm „Offshore-Windenergie“ der
KfW-Bankengruppe stehe ausschließlich zur Verfügung,
um die ersten zehn Windparks vor der deutschen Nordund Ostseeküste zu finanzieren.
Um die Jahrhundertchance zu nutzen, die die Offshoretechnik für Norddeutschland bedeutet, ist aber eine
breit angelegte Investitionsoffensive erforderlich. Die
Bundesregierung muss sich endlich auf eine einheitliche
Strategie zur Entwicklung der Offshore-Infrastruktur einigen und diese dann auch entschlossen umsetzen. Sie
muss endlich den bereits für 2011 angekündigten Fortschrittsbericht „Offshore-Windenergie“ vorlegen und
insbesondere im Hinblick auf die Hafenkapazitäten eine
umfassende Bedarfsanalyse vornehmen. Vor allem aber
muss sie dafür sorgen, dass das bestehende KfW-Programm für den Bereich der Hafen- und Schiffskapazitäten geöffnet wird. Die verfügbaren Mittel müssen bis zu
einer Höhe von 10 Prozent des Gesamtvolumens vorrangig für Kreditvergaben in diesem Bereich verwendet
werden, um damit den dringend erforderlichen Ausbau
der Häfen zu finanzieren.
Gemeinsam mit den Küstenländern und der maritimen Branche sollte die Bundesregierung zudem so bald
wie möglich einen Expertenkreis einberufen, um weitere
flankierende Maßnahmen zu erarbeiten. Dazu gehört es
auch, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die
Anlagenteile der Offshorewindparks über schwerlastfähige Verbindungswege an die Küste verschafft werden
können. Die seewärtigen Zufahrten sind entsprechend
dem sich entwickelnden Bedarf der Offshorewindbranche auszubauen. Notwendig sind aber auch einheitliche
Standards beim Bau der Verkehrsinfrastruktur, um den
Transport von großen Offshorekomponenten wie Turmsegmenten oder Rotorblättern über Land und auf Wasser
schnell und ohne Komplikationen zu ermöglichen.
Der Erfolg von Offshoreprojekten wird künftig wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, einen möglichst
hohen Anteil der Arbeiten bereits an Land durchzuführen. Das kann helfen, die Bauzeit „offshore“ zu verringern und Kosten zu senken, was Investitionsentscheidungen positiv beeinflussen dürfte.
Nur weil die schwarz-gelbe Bundesregierung das
Thema Energiewende erst jetzt für sich entdeckt hat,
heißt das nicht, dass wir die Zeit haben, wieder bei null
anzufangen. Die Vorschläge für den Ausbau der Offshorewindenergie liegen längst auf dem Tisch. Die Bundeskanzlerin muss endlich aufhören, sie vom linken auf
den rechten Stapel zu schieben. Deutschland kann es
sich nicht leisten, beim Offshoreausbau abgehängt zu
werden.
Die Energiewende ist beschlossen und auf dem Wege.
Sie stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen.
Um die aus dem beschlossenen Atomausstieg entstehende Versorgungslücke auszufüllen, müssen in den
nächsten Jahren umfangreiche Investitionen in Energieeffizienz, neue Stromtrassen und die erneuerbaren Energien getätigt werden.
Der Offshorewindenergie fällt beim zukünftigen
Energiemix eine wichtige Rolle zu. Die verhältnismäßig
Zu Protokoll gegebene Reden
starken und regelmäßigen Winde auf dem Meer versprechen ein immenses Energiepotenzial, das es zu heben
gilt. Bis 2030 sind in Deutschland 25 Gigawatt an Offshorewindleistung geplant, was einer Leistung von
15 bis 20 Atomkraftwerken entspricht. Hierfür sind Investitionen von bis zu 75 Milliarden Euro notwendig.
Die Offshoretechnologie ist eine große Chance für
die vielerorts strukturschwachen Küstenregionen. Das
erforderliche Know-how muss entwickelt und Produktionskapazitäten müssen geschaffen werden. Für den
Bau und Betrieb sind Spezialschiffe nötig, die in Werften
gebaut und an den Küstenstandorten bereedert werden
müssen. Das führt vor Ort zu Beschäftigungseffekten
und Steuereinnahmen. Die Küstenländer und ihre Bewohner können diese Aufgaben gut erfüllen, da sie seit
Jahrhunderten den Blick seewärts gerichtet haben und
mit dem Meer leben.
Die Energiewende gibt es aber nicht zum Nulltarif.
Neben den Stromkunden und den Energieversorgungsunternehmen sind auch Bund und Länder gefordert. Die
Bundesregierung hat große Anstrengungen unternommen und ist ihrer Verantwortung gerecht geworden, indem sie Genehmigungsverfahren strafft und finanzielle
Mittel zur Verfügung stellt. Das mit einem Kreditvolumen von 5 Milliarden Euro aufgelegte Sonderprogramm
„Offshore-Windenergie“ der Kreditanstalt für Wiederaufbau fördert die ersten zehn Offshorewindparks. Das
Programm läuft bereits, und Auszahlungen sind auch
schon getätigt. Damit können Erfahrungen bezüglich
technischer Risiken gesammelt werden. Weitere Beispiele für die notwendige Unterstützung des Bundes ließen sich anführen. Das ist sehr beachtlich und keineswegs selbstverständlich, wenn davon ausgegangen wird,
dass grundsätzlich Ertrag und Risiko in den Händen der
Unternehmen liegen sollten. Von diesem ordnungspolitisch richtigen Prinzip weicht die Bundesregierung für
die Realisierung der Energiewende aus guten Gründen
bereits erheblich ab.
Und natürlich ist eine angepasste Hafeninfrastruktur
nötig, von der aus die Montage und Verschiffung der riesigen Komponenten durchgeführt werden kann. In diesem Punkt geht die Grundüberlegung des SPD-Antrags
in die richtige Richtung.
Sie müssen dabei aber auch immer im Auge behalten,
dass Hafenpolitik und der Ausbau der Häfen in die Kompetenz der Länder fallen. Die entsprechenden Verantwortungen sollten nicht vermischt werden. Denn es ist
zum Beispiel nicht in der Verantwortung des Bundes,
dass es beispielsweise in meinem Bundesland Bremen
dem rot-grünen Senat nicht gelingt, den notwenigen Offshorehafen in Bremerhaven zu bauen.
Dabei geht es in Bremerhaven nicht nur um Geld. Für
den Bau des Hafens sollen nämlich keine öffentlichen
Mittel eingesetzt werden. Vielmehr soll ein privater
Investor gefunden werden. Offensichtlich besteht hier
der Wunsch, die Risiken der privaten Investoren beim
Offshorehafenbau auf den Bund zu verlagern, vermutlich weil der rot-grüne Bremer Senat nicht in der Lage
ist, aus eigener Kraft ein attraktives Angebot zu realisieren. Leider zeigt uns der im Bau befindliche Jade-WeserPort in Wilhelmshaven zurzeit mehr als deutlich, welche
Risiken bei einem Hafenausbau entstehen können.
Ein weiteres Argument spricht gegen die Beteiligung
des Bundes an Offshorehafenprojekten. Es muss doch jedem klar sein, dass derjenige, der zahlt, auch Einfluss
auf den Hafen haben wird. Das ist eine logische Konsequenz. Wer glaubt, er kriege den Bund als Finanzier mit
ins Boot, ohne dass dieser damit auch seinen Einfluss
gelten macht, ist realitätsfremd. Die norddeutschen Bundesländer sollten sich sehr gut überlegen, ob ihr spezieller Status innerhalb des bundesrepublikanischen Gefüges, der nicht zuletzt auch aus der für Deutschland
wichtigen Funktion der Häfen resultiert, leichtfertig
aufs Spiel gesetzt werden sollte. Unter föderalen Gesichtspunkten sehe ich das kritisch.
Die Bundeskanzlerin hat die Energiewende zu einem
zentralen Projekt ihrer Regierung gemacht. Die Windenergie auf See mit sogenannten Offshoreanlagen bildet
dessen Kern. Bis zum Jahr 2030 sollen 15 Prozent des
gesamten deutschen Strombedarfs auf See produziert
werden. Doch diese Pläne der Bundesregierung stehen
vor dem Scheitern. Ob das mit dem Austausch des
Ministers abgewendet werden kann, weiß ich nicht.
Für das Problem sind die großen Energiekonzerne
verantwortlich. Sie haben viel versprochen, aber dann
doch nicht geliefert. Seit Jahren gibt es einen Boom in
der Offshorebranche. Aber es ist ein Planungsboom.
Bauanträge wurden eingereicht und veraltete Genehmigungen immer wieder verlängert. Aktuell liegen für die
deutsche Wirtschaftszone der Nord- und Ostsee 28 Genehmigungen von Offshorewindparks mit über 2 000 Anlagen
vor. Anträge über weitere 93 Parks mit über 6 500 Anlagen befinden sich in der Bearbeitung. Wissen Sie, wie
viele sich davon in Bau befinden? Grade einmal zwei
Parks mit 160 Anlagen.
Es gibt viele Fragen in Sachen Offshorewindenergie
zu klären. Die Kolleginnen und Kollegen von der SPD
gehen aber schon davon aus, dass alles so kommt, wie es
die großen Energiekonzerne planen. Das ist noch lange
nicht ausgemacht. Aber egal. Es ist ja richtig, dass man
sich mit der Frage beschäftigt, wie wir es eigentlich hinkriegen wollen, Tausende Windenergieanlagen aufs
Meer zu transportieren und dort aufzubauen.
Die Häfen und auch die Werften an den norddeutschen Küsten werden eine herausragende Rolle übernehmen, wenn die Offshorewindparks weiter wachsen.
Es stimmt, dass die Hafenstandorte Deutschlands unzureichend auf die Offshoreprojekte eingestellt sind. Hier
muss sich etwas tun.
Hafenbau ist langwierig und schwierig. Der JadeWeser-Port in Wilhelmshaven ist das Paradebeispiel.
Viel, viel teurer als geplant, viel später fertig als vorgesehen und jetzt auch noch Pfusch am Bau.
Darum ist es sinnvoll, sich rechtzeitig mit den Anpassungen der Häfen zu beschäftigen. Die SPD fordert deshalb zu Recht von der Bundesregierung, dass sie endlich
Zu Protokoll gegebene Reden
den Fortschrittsbericht „Offshore-Windenergie“ vorlegt. Dieser war schließlich schon für 2011 angekündigt.
Es ist richtig, wenn gefordert wird, dass der Bund
sich in die Planung notwendiger Baumaßnahmen in Häfen stärker einmischt. Genauso richtig wäre es, wenn die
Bundesregierung der Forderung nachkäme, das Nationale Hafenkonzept für die See- und Binnenhäfen weiterzuentwickeln.
Die Vorlage von Fortschrittsberichten, die Unterstützung der Bundesländer bei ihren Planungen, die Vorlage
von Markteinschätzungen und Treffen mit Branchenvertretern, das alles ist schön und gut. Aber es hilft am Ende
nur, wenn auch das notwendige Geld für die wichtigen
Aufgaben zur Verfügung steht. Mit Schuldenbremse und
Milliardenausgaben für die Bankenrettung wird es das
notwendige Geld nicht geben.
Darum würden wir Ihren Antrag zur Schaffung einer
modernen Hafeninfrastruktur gern mit einem Finanzierungskonzept unterlegen. Wir brauchen auch in der
Hafeninfrastruktur ein Investitionsprogramm zum Bau
notwendiger Anlagen und zum Aufbau guter Arbeitsplätze in der Hafenwirtschaft. Gerade diese sind aktuell
in der Offshoreindustrie nur selten zu finden.
Der Bau von Hafeninfrastruktur ist häufig mit großen
ökologischen Problemen verbunden. Herr Beckmeyer,
Sie wissen um die Schwierigkeiten beim Projekt
Offshorehafen in Bremerhaven, mittendrin im FFHSchutzgebiet. Das ist nicht akzeptabel und nicht notwendig.
Ein weiterer Punkt: Sie wollen die seewärtigen Zufahrten ausbauen und meinen damit vermutlich die Vertiefung der Fahrrinnen von Weser und Elbe. Die Kosten
dafür sind extrem hoch und die Risiken für die Menschen, die an den Flüssen leben, enorm. Das Ausbaggern der Flüsse ist nicht notwendig, wenn es eine vernünftige Kooperation zwischen den Häfen gibt.
Moderne Infrastruktur in den Häfen? Ja, die wollen
wir. Aber wir wollen eine Stromproduktion, die wir als
Bürgerinnen und Bürger auch in der Hand behalten.
Riesige Windparks auf dem Meer sind Geschäfte für
Großinvestoren. Die öffentliche Hand soll die Infrastruktur bezahlen. und die Konzerne machen das Geschäft. Das ist nicht sinnvoll.
Die Windenergiebranche ist nicht nur eine Offshorebranche. Windenergie an Land, betrieben von kommunalen Stadtwerken oder von Genossenschaften, ist ein
vernünftiges Modell. Das erspart uns manche Großinvestition. Das stärkt den Mittelstand und bringt mehr
Arbeitsplätze - auch an der Küste.
Die Offshorewindenergie ist eine wichtige Erneuer-
bare-Energien-Technologie und gewinnt weltweit an
Bedeutung. Etwa 40 Prozent der Menschheit lebt küsten-
nah und benötigt dort viel Strom. Deshalb ist gerade für
die an der Küste gelegenen Megacitys die Entwicklung
der Offshorewindenergie zusammen mit anderen
Meeresenergietechniken von zentraler Bedeutung. Ein
großer Teil der Atomkraftwerke liegt ebenfalls an den
Küsten, was, wie in Fukushima zu sehen, fatale Folgen
haben kann. Offshorewindenergie kann daher einen gro-
ßen Beitrag leisten, die Bewohner der Küsten mit Strom
zu versorgen und den Ausstieg aus der Atomenergie und
den fossilen Energien zu ermöglichen. So hat die Ent-
wicklung der Offshoretechniken nicht nur für die natio-
nale Energiewende hohe Bedeutung, sondern auch als
Exporttechnologie für die weltweit schnell wachsenden
Windenergiemärkte.
In Deutschland soll die Offshorewindenergie nach
den Plänen der Bundesregierung eine tragende Säule
der Energiewende werden. Bis 2020 sollen 10 Gigawatt
Leistung installiert sein. Dass diese von Rot-Grün be-
gründeten Planungen eingehalten werden können,
glaubt jedoch niemand mehr. Zu viele Versäumnisse ha-
ben sich vor allem unter Schwarz-Gelb aufgetürmt.
Da ist zum einen die Infrastruktur für den Ausbau der
Offshore-Windenergie, bei der wir nur wenig Fortschritt
sehen. Über die Probleme bei der Netzanbindung kön-
nen wir seit Monaten in den Zeitungen lesen. Im Novem-
ber letzten Jahres hat der Netzbetreiber Tennet bekannt
gegeben, dass sich die Anbindung der Windparks auf
See über Jahre verzögern wird. Jedoch sind die notwen-
digen Aufgaben zur Offshorenetzanbindung nicht erst
seit heute, sondern schon seit Jahren bekannt. Aber
diese schwarz-gelbe Regierung handelte ähnlich wie die
Flughafenbetreiber in Berlin nach dem Motto: Wenn
sich keiner beschwert, wird es schon gut gehen.
Bei der Netzanbindung kann man auch infrage stel-
len, ob es eine gute Idee war, die Verantwortung für die
Netzanbindung der Windparks in der Nordsee einem
Unternehmen anzuvertrauen, welches die Anbindung
aufgrund seiner Größe finanziell gar nicht stemmen
kann. Vielleicht sollte man die Anbindungen neu aus-
schreiben. Auf jeden Fall müssen neue Wege der Finan-
zierung gefunden werden.
Darüber hinaus muss, wie im Antrag der SPD gefor-
dert, auch die weitere Infrastruktur koordiniert ausge-
baut werden. Häfen, Werften und Spezialschiffe sind
nötig, um das Ausbautempo zu erhöhen.
Neben der Infrastruktur müssen aber auch die weite-
ren Rahmenbedingungen stimmen. Das für die Offshore-
genehmigungen zuständige Personal beim Bundesamt
für Seeschifffahrt und Hydrographie wurde nach Jahren
nun endlich aufgestockt. Aber die anderen Behörden, so-
wohl auf Landes- als auch auf Bundesebene, und ebenso
die zuständigen Abteilungen in den Bundesministerien
sind immer noch nicht mit ausreichend Personal aus-
gestattet. Man könnte meinen, der Ausbau der Off-
shorewindenergie wurde für diese Regierung erst mit
dem Atomausstieg ein echtes Ziel. Vorher galt die De-
vise: Verzögern durch Passivität. Jetzt läuft die Bundes-
regierung ihren Versäumnissen hinterher und die Zeit
davon. Ganz zum Schaden von Unternehmen, wie Sie-
mens, wofür letztendlich die schwarz-gelbe Bundesre-
gierung die Verantwortung trägt.
Die Offshorewindenergie wird neben der Photovol-
taik weltweit eine der wichtigsten Stützen im Gesamt-
Zu Protokoll gegebene Reden
konzept der erneuerbaren Energien. Deutschland kann
in der Offshorewindenergie, wie bei der Photovoltaik,
eine technologische Vorreiterrolle einnehmen. Damit die
Offshorewindenergie ihr enormes Potenzial verwirkli-
chen kann, muss diese Regierung endlich die Zügel in
die Hand nehmen und die Voraussetzungen schaffen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9573 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Alle sind damit
einverstanden. Dann ist es auch so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Polarregionen schützen - Polarforschung stärken
- Drucksachen 17/5228, 17/9722 Berichterstattung:Abgeordnete Ewa KlamtRené RöspelDr. Martin Neumann ({1})-
Dr. Petra Sitte-
Krista Sager
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann E. Ott,
Dr. Valerie Wilms, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Abkommen zum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen - Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis
- Drucksachen 17/6499, 17/7987 Berichterstattung:Abgeordnete Ingbert LiebingFrank SchwabeAngelika BrunkhorstSabine StüberDr. Hermann E. Ott
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Die Namen der Kolleginnen und Kollegen liegen mir vor.
Bei der Entwicklung des Weltklimas spielen die Polarregionen eine entscheidende Rolle. Sie werden daher
auch die Klimakammern der Erde genannt. Der Polarforschung kommt damit eine Bedeutung zu, die weit über
das regionale Interesse hinaus wirkt. Nahezu täglich lesen wir neue beunruhigende Nachrichten über zunehmend schneller schmelzende und immer größere Eisflächen.
Für das europäische Klima spielt insbesondere die
Arktis eine entscheidende Rolle. Sie ist die Klimaküche
Europas. Auch hier müssen wir feststellen, dass die
Temperaturen weiterhin ansteigen. Welche Folgen beispielsweise ein Auftauen des Permafrosts und die voraussichtlich damit einhergehende Freisetzung großer
CO2-Mengen haben wird, muss erst noch erforscht
werden. Jüngste Erkenntnisse lassen befürchten, dass
größere Methanmengen auch aus Seen, Fjorden und
Moränen austreten, die die schrumpfenden Gletscher
freigegeben haben. Die schonende und nachhaltige Nutzung der arktischen Ressourcen muss ebenfalls Gegenstand künftiger Forschung sein.
Deutschland betreibt mit seiner Polarforschung sowohl in der Arktis als auch in der Antarktis Untersuchungen. Das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und
Meeresforschung, AWI, koordiniert die deutsche Polarforschung mit großem international anerkanntem Erfolg. Als zentrales Forschungsinstitut für die Polarregionen leistet es in der Helmholtz-Gemeinschaft im
Rahmen der programmorientierten Forschung interdisziplinäre Arbeiten von hohem internationalem Stellenwert in den Polarregionen.
2011 hat das BMBF allein die Arktis-Forschung mit
32 Millionen Euro gefördert. Davon erhielt das AWI im
Rahmen der institutionellen Förderung 25 Millionen
Euro. 94 Millionen Euro erhielt das AWI insgesamt
vom Bundesforschungsministerium. Zusätzlich standen
7 Millionen Euro im Rahmen der Projektförderung des
BMBF für Vorhaben der Arktis-Forschung verschiedener Institutionen zur Verfügung. Dass dieser Betrag im
laufenden Jahr um 5 Millionen geringer ist, liegt lediglich an einer einmaligen Anschaffung des Polarflugzeugs im Jahr 2011. Die Anzahl der geförderten Projekte
hat sich nicht verringert.
Diese Zahlen belegen, dass das AWI gut finanziert ist.
Vor wenigen Tagen hat der Haushaltsausschuss des
Deutschen Bundestages den Weg für die neue maritime
Forschungsflotte frei gemacht. Dafür wird die Bundesregierung in den kommenden acht Jahren rund 850 Millionen Euro bereitstellen. Besonders relevant für den
Bereich der Polarforschung ist der Bau des Nachfolgers
der in die Jahre gekommenen „Polarstern“, der bis zum
Jahr 2017 mit einem Budget von 450 Millionen Euro realisiert werden soll.
Bedauerlicherweise konnten internationale Kooperationspartner für die Finanzierung eines - wie vom Wissenschaftsrat vorgeschlagen - parallelen Einsatzes der
alten und neuen „Polarstern“ nicht gefunden werden,
sodass die parallele Erforschung von Arktis und Antarktis nicht umsetzbar ist. Nach Übergabe der neuen „Polarstern“ an die Wissenschaft wird daher der Verkauf
der jetzigen „Polarstern“ angestrebt.
Das AWI profitiert auch vom Pakt für Forschung und
Innovation, der außeruniversitären ForschungseinrichEwa Klamt
tungen einen jährlichen Mittelzuwachs von 5 Prozent
garantiert.
Im Hinblick auf die Nachwuchsförderung hat sich
insbesondere die Deutsche Gesellschaft für Polarforschung verdient gemacht. Sie ist ein wichtiges Instrument interdisziplinärer Koordination und Zusammenarbeit. Entsprechend finden Kapazität und Expertise
deutscher Polarforschung heute internationale Anerkennung.
Festzuhalten ist, dass die Bundesregierung der herausragenden Bedeutung der Polarforschung bereits
heute mit einer Vielzahl von Projekten, Programmen und
Initiativen Rechnung trägt.
Innerhalb des Rahmenprogramms „Forschung für
nachhaltige Entwicklung“ fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Polarforschung mit
circa 10 Millionen Euro je Projektförderung an außeruniversitären Institutionen und Universitäten. Sie ist
Bestandteil der Erdsystemforschung. Eine Aufteilung in
Einzelprogramme halten wir hier nicht für angezeigt.
Zudem fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft
die Polarforschung zusätzlich mit einem eigenen
Schwerpunktprogramm „Antarktisforschung mit vergleichenden Untersuchungen in arktischen Eisgebieten“. Weiterhin finden Kooperationen auf europäischer
Ebene unter anderem im Rahmen des Polar-ClimateProgramms statt, die das Forschungsministerium derzeit mit 2,3 Millionen Euro fördert.
International arbeitet Deutschland im Bereich der
Arktis-Forschung insbesondere mit Russland zusammen. Ziel sind die effizientere Nutzung vorhandener Infrastruktur einerseits sowie die Sicherstellung des Zugangs deutscher Meeresforscher zu den relevanten
Gebieten andererseits. Gemeinsam betreiben die beiden
Partner das Otto-Schmidt-Labor für Polar- und Meeresforschung in St. Petersburg.
In der von Ihnen geforderten internationalen Vernetzung, insbesondere auf europäischer Ebene, sind wir
also bereits sehr gut aufgestellt. Die Kooperation und
Koordination funktionieren. Ich bin überzeugt: Auch in
Zukunft wird die Bundesregierung sich dafür einsetzen,
dass internationale Vereinbarungen getroffen werden,
die - analog zum Antarktis-Vertrag - die Freiheit der
Forschung in der Arktis-Region garantieren.
Die Arktis ist ein Lebensraum, der genauso einzigartig wie sensibel ist. Hier macht sich der Klimawandel
besonders drastisch und stark bemerkbar. Die Durchschnittstemperatur in dieser Region der Erde steigt, die
Eisberge schmelzen, die Meereisbedeckung sinkt. Wechselwirkungen mit dem globalen Klima sind nicht ausgeschlossen.
Mit den klimatischen Veränderungen einher geht der
freiwerdende Zugang zu Schifffahrtsrouten und Ressourcen. Die Arktis verfügt über gewaltige Öl- und Gasvorkommen, die ihrerseits wiederum den Klimawandel beschleunigen. Kurzum: Die Arktis ist zur Zielscheibe
wirtschaftlicher und verkehrspolitischer Interessen geworden. Die menschlichen Aktivitäten in der Arktis nehmen zu. Ihr Schutz erscheint dringender denn je.
Dem vorliegenden Antrag der Grünen halte ich zugute, dass er diese Grundproblematik und die damit verbundenen Probleme weitestgehend korrekt beschreibt.
Die Ausschussberatungen haben deutlich gemacht: Wir
sind uns darin einig, dass nichts getan werden darf, was
das ökologische Gleichgewicht und die Ökologie der
Arktis gefährdet. Dies gilt im Übrigen für alle Meere.
Deutschland ist bereit, seinen Beitrag für den Schutz
und die nachhaltige Nutzung der Arktis zu leisten. Da
der Schutz der Arktis jedoch über Umweltschutzinteressen hinausgeht, ist ein abgestimmtes Handeln innerhalb
Deutschlands erforderlich - eingebettet in die Aktivitäten der EU. Gerne möchte ich an dieser Stelle die Bundesregierung in ihren Bemühungen bestärken, eine
übergreifende, eigene Arktis-Strategie zu entwickeln.
Neben den Bereichen Wirtschaft, Umwelt und Sicherheit
soll hier insbesondere die Forschung im Vordergrund
stehen.
An dieser Stelle möchte ich das Alfred-Wegener-Institut
für Polar- und Meeresforschung als eines der weltweit
anerkannten Polarforschungsinstitute hervorheben. Die
deutsche Polarforschung wird durch eine Vielzahl von
Projekten gefördert. Sie ist auf ihrem Gebiet international führend.
Darüber hinaus nimmt Deutschland an den Beratungen des Arktischen Rats teil, des gemeinsamen Konsultationsgremiums der acht Staaten mit Gebieten - Land
und Wasser - nördlich des Polarkreises. Hier verfügen
wir nur über einen Beobachterstatus, denn wir reden bei
der Arktis nicht über eigenes Territorium. Es gibt fünf
Anrainerstaaten - Dänemark/Grönland, Russische Föderation, Kanada, Norwegen, USA -, die über ihr arktisches Territorium souverän entscheiden. Diese Staaten
lassen sich ihr Handeln auf eigenem Territorium nicht
diktieren. Dies beschränkt auf natürliche Weise unsere
Einflussmöglichkeiten; das müssen wir anerkennen. Wir
bewegen uns auf sehr dünnem Eis, wenn wir glauben,
andere Staaten zu einem bestimmten Handeln auf ihrem
eigenen Territorium zwingen zu können. An dieser Tatsache kommen wir nicht vorbei.
Dieser Umstand wirkt sich auch auf die Kernforderung des Antrags nach einem Arktis-Vertrag aus, eine
überaus schwierige Forderung. Ein Arktis-Vertrag soll,
so fordern die Grünen, nach dem Vorbild des AntarktisVertrags von 1959 ausgehandelt werden und die wirtschaftliche Ausbeutung durch die Anrainerstaaten verhindern. Der Vergleich hinkt: Im Gegensatz zur Arktis
hat in der Antarktis kein Staat direkte Ansprüche angemeldet; hier gibt es keine nennenswerten Rohstoffe oder
Verkehrswege.
Solange also der Abschluss eines solchen Arktis-Vertrags durch die Anrainerstaaten, über deren Hoheitsgebiet wir reden, nicht realistisch ist, werden auch BeZu Protokoll gegebene Reden
schlüsse des Deutschen Bundestages dieses Ziel nicht
erreichen können.
Wichtig ist und bleibt, dass Deutschland weiterhin
mit Nachdruck seine Interessenlage in die Gespräche
mit den Anrainerstaaten einbringt und die Arktis als gemeinsames Erbe der Menschheit erhalten bleibt. Hier ist
die Bundesregierung aktiv und bestrebt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein Optimum an Schutz für die Arktis
sicherzustellen. Hier kann sie auf unsere volle Unterstützung zählen.
Den Eindruck, den der Antrag der Grünen erwecken
will, die Bundesregierung würde ausschließlich die wirtschaftliche Ausbeutung der Meere verfolgen und den
Schutz der Arktis vernachlässigen, verkennt eindeutig
die Realität. Die Bundesregierung verfolgt die Entwicklung der Arktis aufmerksam und verantwortungsbewusst: mit Blick auf die ökonomischen Chancen und auf
den Schutz des sensiblen Ökosystems.
Konkret wirkt Deutschland beispielsweise aktuell an
der Ausarbeitung internationaler Sicherheitsstandards
mit. Das Ziel ist ein verbindlicher Polar Code im Rahmen der International Maritime Organization, IMO.
Dessen Fertigstellung scheint bis 2014 möglich zu sein.
Bei der Gestaltung des Umweltkapitels des Polar Codes
hat sich das Umweltbundesamt, UBA, bereits aktiv einbringen können.
Der Schutz der Arktis ist ein wichtiges Thema.
Deutschland nimmt Einfluss - im Interesse der Arktis
und im Rahmen seiner Möglichkeiten. Den uns vorliegenden Antrag der Grünen lehnen wir ab. Obwohl dieser in Teilen über gute Ansätze verfügt, zeugt er schlussendlich von Unkenntnis der rechtlichen Situation und ist
aus diesem Grund nicht hilfreich. Hingegen danken wir
der Bundesregierung und dem Bundesumweltministerium für ihre Bemühungen zum Schutz und zur nachhaltigen Nutzung der Arktis und sichern weiterhin unsere
umfassende Unterstützung zu.
Nach unseren Diskussionen im Plenum und Ausschuss kann man wohl sagen, dass alle hier vertretenen
Fraktionen die Überzeugung eint, dass die Polarforschung einen wichtigen und notwendigen Forschungszweig darstellt. Mit Freude habe ich darüber hinaus
wahrgenommen, dass alle Fraktionen ebenfalls das Ziel
unseres Antrages, die Polarforschung weiter zu stärken,
unterstützen. Bei der Entscheidung über die notwendigen Instrumente zur Stärkung der Polarforschung verabschiedet sich hingegen die Regierungskoalition aus
der Einigkeit der Fraktionen.
Für das Jahr 2012 hat die Bundesregierung circa
12 Millionen Euro als Projektförderung für die Meeresund Polarforschung eingeplant. Das begrüßen wir als
SPD-Bundestagsfraktion ausdrücklich. Doch angesichts
der zu stemmenden Herausforderungen, insbesondere
im Bereich des Klimawandels, wird diese Summe nicht
ausreichen. Als SPD-Bundestagsfraktion fordern wir in
unserem Antrag deshalb eine Verstärkung der nationalen Mittel. Eine zentrale Rolle spielen wie so häufig die
Menschen. Ich weiß, dass viele junge Menschen gerne
engagiert und begeistert in diesem Bereich arbeiten und
forschen würden. Aber es fehlt an Stellen und damit an
Perspektiven. Deshalb fordern wir eine verstärkte Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses auch in
diesem Bereich. Da kann doch ernsthaft auch die Regierungskoalition nichts dagegen haben.
In meiner letzten Rede zum Thema habe ich bereits
auf die wissenschaftliche Notwendigkeit einer ganzjährigen Polarforschung in der Arktis und Antarktis hingewiesen. Möglich würde dies zum Beispiel durch die zeitlich begrenzte Parallelnutzung der Forschungsschiffe
„Polarstern I“ und der neu zu bauenden „Polarstern II“.
Der Wissenschaftsrat hat diese Parallelnutzung ebenfalls vorgeschlagen. Arktis-Forschungsfahrten im
Herbst, Winter und frühen Frühjahr würden helfen, die
dringend notwendigen Klima- und Meereismodelle zur
Ermittlung zukünftiger Entwicklung zu optimieren.
Diese notwendigen Messungen können aktuell nicht erhoben werden, da die „Polarstern I“ in diesem Zeitraum
normalerweise in der Antarktis unterwegs ist und andere
Forschungsschiffe für den ganzjährigen Arktis-Einsatz
nicht einsetzbar sind. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, BMBF, hat sich nun in der aktuellen Gesamtschiffsstrategie gegen die parallele Nutzung
zweier Schiffe ausgesprochen. Als SPD-Bundestagsfraktion halten wir diese Entscheidung für falsch. Insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass fast alle europäischen Staaten eigene Polarforschungsprogramme
haben, gleichzeitig aktuell aber nur die Schweden einen
eigenen Forschungseisbrecher besitzen, hätte Deutschland somit durch die Bereitstellung von Forschungsschiffszeiten eine koordinierende Rolle in Europa
einnehmen können. Diese Chance für den Forschungsstandort Deutschland nutzt das BMBF leider nicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und
FDP, warum steuern Sie bei diesem Thema nicht gegen?
In der Gesamtschiffsstrategie schreibt das BMBF,
dass die Regierung plant, die „Polarstern I“ zu verkaufen. Ein Käufer wird sich sicherlich finden. Denn nicht
ohne Grund beneiden uns viele Staaten um die „Polarstern I“. Aber wir sollten hier nichts überstürzen. Ein
Verkauf sollte erst vonstatten gehen, wenn klar ist, dass
die „Polarstern II“ ein ebenso gelungenes Forschungsschiff ist wie ihre Vorgängerin. Schiffbauliche Nachbesserungen können wir uns nicht leisten. Deshalb ist
die enge und gute Zusammenarbeit des Alfred-WegenerInstituts, des BMBF, der noch zu beauftragenden Reederei und Werft so wichtig. Nur so wird gewährleistet, dass
die neue „Polarstern II“ auch wirklich wie angekündigt
2017 in See stechen kann. Als SPD-Bundestagsfraktion
werden wir diesen Prozess weiter positiv-kritisch begleiten.
In unserem Antrag sprechen wir uns als SPD-Bundestagsfraktion für ein fokussiertes europäisches Polarforschungsprogramm innerhalb „Horizon 2020“ aus. Die
Koalition lehnt diese Forderung ab. Wieso, ist mir ehrlich gesagt schleierhaft. In der Wissenschaftscommunity
wird nach einem europäischen Arktis-ForschungsproZu Protokoll gegebene Reden
gramm und damit nach einer politischen Aufwertung der
europäischen Polarforschung gerufen. Um die Chancen
dafür zu erhöhen, benötigen die Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler aber die politische Unterstützung
insbesondere der Bundesregierung. Leider warten sie
auf diese bisher vergebens. Das muss sich ändern!
Am Ende meiner Rede möchte ich noch auf einen
Punkt eingehen, der mich in der Diskussion über die Polarforschung erschreckt hat. Bei der ersten Lesung spekulierte ein Kollege aus der CDU/CSU ganz offen über
die Chancen der unerschlossenen natürlichen Ressourcen der Arktis. Dabei müssten doch eigentlich alle wissen, wie sensibel dieses Ökosystem ist. Wollen wir dies
wirklich für kurzfristige wirtschaftliche Interessen aufs
Spiel setzen? Die Forderungen nach einem stärkeren
Schutz der Arktis, die sich unter anderem in dem uns
hier vorliegenden Grünen-Antrag wiederfindet, können
wir als SPD-Bundestagsfraktion deshalb nur voll unterstützen. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Regierungsfraktionen, kann ich für beide hier vorliegenden Anträge aus diesen Gründen nur ans Herz legen:
Stimmen Sie zu!
Wie der Kollege Röspel schon deutlich gemacht hat,
hat der Antrag „Polarregion schützen - Polarforschung
stärken“ in der Grundbewertung in der ersten Lesung
und im Ausschuss auch bei den übrigen Fraktionen des
Bundestages eine positive Beurteilung und Unterstützung bekommen. Wir sind uns auch darin einig, dass die
Polarforschung in Deutschland traditionell eine starke
Position und eine sehr hohe Leistungsfähigkeit hat. Dies
bezieht sich nicht nur auf die langjährigen Forschungen, bei denen Deutschland echte Pionierleistungen erbracht hat, sondern auch auf das europa- und weltweite
Ansehen exponierter deutscher Forschungsinstitutionen
wie zum Beispiel das Alfred-Wegener-Institut für Polarforschung in Bremerhaven oder auch das Institut für
Meereswissenschaften/GEOMAR in Kiel, auf die ich als
norddeutscher Abgeordneter und häufiger Besucher dieser Einrichtungen besonders stolz bin. Wenn wir seinerzeit, jetzt schon vor einem Jahr, mit diesem Antrag eine
zusätzliche Initiative ergriffen haben, so will ich hierzu
noch einmal vier Punkte deutlich und konzentriert
zuspitzen:
Erstens. Zu den schriftlichen Debattenbeiträgen der
ersten Runde hier im Parlament wurde von den Regierungsfraktionen vielfach darauf hingewiesen, dass
Deutschland ja gar nicht unmittelbarer Anlieger von
Arktis und Antarktis sei. Das ist natürlich richtig, ändert
aber doch nichts an der Bedeutung dieser Aufgabe und
den Chancen, die gerade auch für die deutsche Mitwirkung an der Polarforschung und dem Polarschutz liegen, in der Rolle als beobachtende und beratende Teilhaber an den Forschungsanstrengungen, aber genauso
an den ökonomischen Perspektiven, die sich auftun und
die bereits jetzt zu intensiven Kooperationen, aber auch
Konkurrenzen zwischen den verschiedenen Anliegerstaaten speziell bei der Arktis geführt haben. Die
Aussicht auf ganz andere Verkehrsverbindungen und
Transportwege wie auf Rohstoffe zur Energieversorgung
oder auch auf seltene Metalle etc. lässt diese Konkurrenz absehbar noch stärker anwachsen. Umso wichtiger
ist uns - und hierauf wollten wir auch mit unser Initiative und den darin enthaltenen Forderungen noch einmal deutlich hinweisen -, dass Europa im Forschungsbereich die Möglichkeiten nutzt, sich hier seinerseits in
Verantwortung für Verständnis, Erklärung und Projektion ganz wichtiger klimatischer und ökologischer
Zusammenhänge zu positionieren, dieses aber auch einzubringen in die Forschungsarbeit, die von unmittelbaren Anliegerregionen und -nationen - speziell wie
Russland und den USA - an vorderster Interessenlage
mit geleistet wird. Europa kann damit auch seinen Teil
dazu beizutragen, über Forschung nicht nur Problembewusstsein, sondern auch Kooperationsbereitschaft zu
stärken.
Dieses ist das eigentliche politische Anliegen, das wir
mit der Forderung verbinden, die Polarforschung mit einer sehr prominenten Perspektive im 8. Europäischen
Forschungsrahmenprogramm, dem sogenannten Horizon 2020, zu verankern.
Wenn Sie allerdings in die wichtigsten Dokumente,
die hierzu bisher vorgelegt worden sind, hineinschauen,
dann sehen Sie, dass, wie die Kolleginnen und Kollegen
in der bisherigen Debatte richtig angesprochen haben,
es dort einen Schwerpunkt Klimaschutz, Ressourceneffizienz und Rohstoffe unter den sechs genannten gesellschaftlichen Herausforderungen für die Kommission
gibt, aber in den einschlägigen Dokumenten der Europäischen Kommission vom 2. Dezember 2011 eben die
Polarforschung und die Konzentration auch auf die
Probleme, die sich gerade um die Pole und speziell die
Arktis ergeben, nicht herausgestellt werden. Deshalb
geht die Forderung auch nicht dahin, an erster Stelle ein
eigenes Polarforschungsprogramm zu machen, sondern
wir haben bewusst vom fokussierenden Polarforschungsprogramm gesprochen, und das heißt hier, sich
in der allgemeinen Klimaforschung eben besonders
auch auf die Polarforschung zu konzentrieren. Dass dieses notwendig ist, zeigt sich nicht nur in den Dokumenten der Kommission vom 2. Dezember 2011, sondern
auch in einem Beschluss des Rates über das spezifische
Programm zur Durchführung des Rahmenprogramms
für Forschung und Innovation, bei dem weder in dem
Teil, der die internationale Zusammenarbeit anführt,
speziell Projekte der Polarforschung benannt worden
sind, wohl aber solche der Raumfahrt, der seltenen
Krankheiten oder der Biowirtschaft, noch in dem Teil
des Dokumentes, der vor allem die führende Rolle der
Industrie mit herausarbeitet und dort allerdings die maritimen Industrien leider nicht mit benennt.
Allein aus diesem Grund werben wir noch einmal
dafür, dass sich auch die Bundesregierung in ihren Beratungen gegenüber der Europäischen Kommission und
auch in den Ministerräten sehr nachdrücklich dafür einsetzt, die Polarforschung als ein Fokusthema stärker
herauszuarbeiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zweitens. Einigkeit herrschte in der ersten Debattenrunde zu unserem Antrag im Juni letzten Jahres auch
darüber, wie wichtig die Verfügbarkeit von guten eisbrechenden Forschungsschiffen ist. Es war unser Kollege
René Röspel, der daran erinnerte, dass nicht zuletzt in
so renommierten Organen wie der US-amerikanischen
Zeitschrift „Nature“ zu lesen war, dass das Polar Research Board der US-amerikanischen National Academy of Science in einem Bericht dazu aufgefordert
hatte, die Forschung an beiden Polen stärker zu verzahnen. Durch mehr bipolare Forschung besteht die
Chance auf schnellere Ergebnisse über die Auswirkungen des Klimawandels. Dass sich diese schnelleren Ergebnisse gerade an den Polen gewinnen lassen, ist ja
auch dadurch evident, dass die Pole nicht nur Treiber
des Klimawandels sind, sondern auch in besonders
drastischer Weise aufzeigen, was sich im Umfeld des
Klimawandels an Veränderungen vollzieht und welche
Rückwirkungen auf andere Ökosysteme, auf den Zustand
der Ozeane, auf die Belastungen der Ökosphären und
maritimen Küstenzonen zu erwarten sind.
„Polarforschung first“ ist deshalb vielleicht für eine
wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Argumentation zu sehr verkürzt, trifft aber unseres Erachtens
einen entscheidenden Punkt, nämlich die zeitliche Priorität, die Polarforschung im Gesamtkonzept von Polar-,
Meeres- und Küstenforschung im engeren Sinne und Klimaforschung im weiteren Sinne auch haben sollte.
Ganz konkret hat deshalb auch der deutsche Wissenschaftsrat in seiner Stellungnahme vom Jahresanfang
2011 zu den deutschen Forschungsschiffen darauf hingewiesen, dass zwei eisbrechende Forschungsschiffe,
die beide Polargebiete ganzjährig erforschen könnten,
sehr sinnvoll seien. Denn aktuell wird die „Polarstern“,
dieses unverwüstliche und hochleistungsfähige deutsche
eisbrechende Forschungsschiff, für die gesamte Bandbreite der Meeresforschung in der Arktis und Antarktis
eingesetzt. Sie diente sowohl der Antarktis-Station Neumeyer III wie der Koldewey-Station auf Spitzbergen als
Versorgungsschiff und nähert sich damit allmählich der
Grenze für ihre schiffbaulich und wirtschaftlich sinnvolle Nutzung, auch wenn sie von 1998 bis 2002 noch
einmal eine gute Generalüberholung erfahren hat. Nun
hat die Ministerin kürzlich verkündet und der Haushaltsausschuss des Bundestages hat es entsprechend beschlossen, dass noch in diesem Jahrzehnt drei neue Forschungsschiffe auf Kiel gelegt und fertiggestellt werden
sollen. So soll die „Sonne“ für Wilhelmshaven 2015 fertig sein, das Ersatzschiff für die „Polarstern“ in
Bremerhaven 2017 und eine Nachfolgerin für die Hamburger „Meteor“ 2020. Dieses ist sicherlich ein ambitioniertes, aber auch notwendiges Programm für dieses
Jahrzehnt.
Mit unserem Antrag wollen wir seitens der SPDFraktion dennoch einmal mehr darauf drängen, für eine
begrenzte Zeit zwei eisbrechende Forschungsschiffe zur
Verfügung zu stellen und damit neben der neuen „Polarstern“, die in 2017 fertiggestellt sein soll, eben auch die
alte „Polarstern“ für eine tragfähige Zeit weiter zu betreiben, um damit mindestens für ein vier- bis fünfjähriges Zeitfenster eine ganzjährige Forschung an beiden
Polen möglich zu machen.
Dieses wäre eine sehr große Chance und fast eine
Verpflichtung, angesichts der rasanten Veränderung in
der Sphäre den Polen die entsprechenden Forschungskapazitäten und Gerätschaften gleichzeitig und ausreichend zur Verfügung zu stellen.
Drittens. Kritiker der letzten Debatte, so unter anderem die Kollegin Sitte von der Fraktion Die Linke, haben
gegenüber dem SPD-Antrag eingewandt, dass dort zwar
von der Stärkung der Polarforschung, aber nicht ausreichend vom Schutz der Polarregion die Rede war. Nun
meinen wir allerdings, dass unter Forschungsgesichtspunkten die Stärkung der Polarforschung eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, um dann politisch die
Polarregionen besser zu schützen, zumal wenn der Forschungsansatz die ganze Breite mit einschließt und entwickelt, die jetzt schon von vielen Forschungsmissionen
mit ausgefüllt wird.
Wir unterstützen auch nachdrücklich, wenn der Bundesaußenminister bei verschiedenen geeigneten Gelegenheiten, so unter anderem bei der Zweiten Internationalen Arktiskonferenz des Auswärtigen Amts im Jahr
2011, deutlich gemacht hat, dass der arktische Ozean als
gemeinsames Erbe der Menschheit zu erhalten ist und
die Forschung nicht durch künftige wirtschaftliche Nutzung der Arktis eingeschränkt werden darf. Gleichzeitig
wissen wir, dass das ressourcenökonomische Erfordernis wie der wirtschaftliche Druck auf die Nutzung von
Energiequellen und Bodenschätzen wachsen wird und
deshalb höchste Anforderung nicht nur an die rechtliche
und politische Klärung von Umweltschutzerfordernissen
zu stellen sind, sondern es auch eine höchste technologische Qualität geben muss, damit in der Exploration von
Bodenschätzen und Energieressourcen nicht eine unwiederbringliche Zerstörung in der Arktis stattfindet.
Wir brauchen ganz hohe Umweltschutzauflagen, wir
brauchen umfassende Schutzzonen, und wir brauchen
höchsten technologischen Standard dort, wo ökonomische Interessen befriedigt werden. Aus diesem Grunde
muss zumindest in dieser Debatte darauf hingewiesen
werden, dass über die Verstärkung der Polarforschung
und den Schutz der Polarregionen durch entsprechende
Forschung auch die Seite der maritimen Technologien
mit im Auge zu behalten sein wird. Schaut man in einschlägige Organe von Unternehmen und Initiativen aus
der maritimen Industrie, wird schnell sichtbar, dass hier
ein großer, auch ökonomisch relevanter Sektor an industriellen Ausrüstungsgütern aufgebaut wird, der noch viel
mehr politische und öffentliche Aufmerksamkeit verdient. Ein Beispiel hierfür ist die Technologieplattform
„Polar“ aus Mecklenburg Vorpommern in Rostock, wo
in einem umfassenden Konsortium von Partnern aus
Wissenschaft und Wirtschaft unter dem Stichwort „Polar“ ein Baukasten von zentralen Systemkomponenten
für Transport, Lagerung und Verarbeitung von Energieträgern und Rohstoffen entwickelt wird, dessen Fokus
gerade auf Regionen mit extremen Umweltbedingungen
Zu Protokoll gegebene Reden
gelegt wird, wie sie typischerweise im Nordatlantik, im
Nordpolarmeer und in der Antarktis vorkommen.
Wenn wir aber die Polarregionen bei den sich
zwangsläufig abzeichnenden Formen der wirtschaftlichen Erschließung und Ausbeutung weiterhin schützen
wollen, so müssen gerade an die Technologieträger im
maritimen Bereich die größten Umweltstandards und
Sicherheitsstandards angelegt werden. Auch dieses ist
forschungsrelevant, und hier müssen die klassische
Polarforschung und die maritime Technologie noch enger zusammenarbeiten. Die SPD wird dieses Engagement für höchste Qualität bei den maritimen Technologien noch in weiteren Initiativen und Anträgen
untermauern.
Viertens. Als die SPD-Bundestagsfraktion vor einiger
Zeit einen Workshop mit Fachleuten aus dem Bereich
der Meeres- und Polarforschung veranstaltete, kamen
nicht nur die große Attraktivität diese Forschungsgebietes zur Sprache, sondern auch die hohen Anforderungen,
die an das wissenschaftliche und technische Personal im
Bereich von Polar- und Meeresforschung gerichtet sind.
Weil Forschung nur so gut sein kann, wie die Forscherinnen und Forscher Exzellenz haben, möchten wir an
dieser Stelle noch einmal eine koordinierte und gezielte
Nachwuchsförderung für dieses zukunftsträchtige Forschungsgebiet ansprechen. Dazu gehören dann allerdings nicht nur die internationale Öffnung und der Ausbau von Mobilität junger Forscherinnen und Forscher,
sondern auch die Unterstützung dieser ambitionierten
jungen Wissenschaftler bei einer verlässlichen Lebensplanung, die durch lange Forschungsaufenthalte ohnehin schon stärker belastet ist, als dies bei anderer, stärker ortsgebundener Forschung der Fall ist. Dies darf
sich dann nicht nur auf die Spitzenkräfte beziehen, sondern muss genauso den wissenschaftlichen Nachwuchs
und die Doktoranden mit einbeziehen. Hier sind wir
dann bei vermeintlich banalen Themen wie den Wissenschaftszeitvertragsregelungen oder dem sogenannten
Wissenschaftsfreiheitsgesetz, bei der Frage von Verträgen, Laufzeiten und Finanzierungen. Dieses Anliegen
wird uns über die Polarforschung hinaus auch beschäftigen, wenn es demnächst zur Debatte über Aufgaben
und Schwerpunkte der Meeresforschung kommen wird,
für die wir auch einen Antrag in dieses Parlament eingebracht haben, und wenn wir die Hardwaregesetze zur Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses diskutieren
werden.
Gerade weil die Zukunft der Pole und der Meere von
existenzieller Bedeutung für das Klima und damit das
Leben der Menschheit auf diesem Planeten ist, bringen
wir von der SPD-Fraktion diese Forschungsfragen immer wieder in das Parlament ein. Dass unsere Anträge
diesmal noch nicht die Zustimmung der Regierung finden konnten, bedauern wir. Es wird uns nicht daran hindern, konstruktiv-kritisch das zu begleiten, was die Bundesregierung unserer Auffassung nach mit noch
größerer Anstrengung und klareren Perspektiven zum
Schutz von Polen, von Meeren und des Klimas betreiben
muss.
Die Polarregionen sind außerordentlich wichtige Gebiete; das ist in diesem Antrag durchaus eindrucksvoll
beschrieben. Ihre Bedeutung hat in den letzten Jahren
vor allem im Zusammenhang mit dem Klimawandel und
aufgrund geopolitischer Entwicklungen noch zugenommen. Dass es sinnvoll ist, die Polarregionen weiterhin zu
erforschen, ist unbestritten. Die Frage ist aber, ob
Deutschland jetzt wirklich ein eigenes Polarforschungsprogramm braucht.
Aus unserer Sicht ist ein eigenständiges Polarforschungsprogramm, wie es die SPD in ihrem Antrag fordert, nicht zielführend. Denn einerseits haben wir bereits mit dem Rahmenprogramm „Forschung für
nachhaltige Entwicklungen“, FONA, des BMBF ein
Programm, mit dem die Polarforschung stark gefördert
wird. Im Rahmen dieses Programms fließen etwa
10 Millionen Euro pro Jahr in Projekte zur Erforschung
beider Polarregionen, der Arktis und der Antarktis. Andererseits existiert mit dem Alfred-Wegener-Institut für
Polar- und Meeresforschung eine bundesfinanzierte Institution mit hervorragender technischer Ausstattung
und wissenschaftlicher Kompetenz.
Neben der nationalen Förderung gibt es außerdem
eine europäische Förderung. Aus dem Umweltteil des
laufenden europäischen Forschungsrahmenprogramms
werden auch Polarforschungsprojekte gefördert, an denen deutsche Forschungseinrichtungen ebenfalls partizipieren.
Der Wissenschaftsrat hat in seinem Gutachten „Empfehlungen zur zukünftigen Entwicklung der deutschen
marinen Forschungsflotte“ bestätigt, dass Deutschland
in der Polarforschung international eine führende Rolle
einnimmt. Deutschland verfügt wie nur wenige andere
Staaten über ein modernes Forschungsschiff, das die
Arktis befährt - das Forschungsschiff „Polarstern“. Es
ist Teil der deutschen Forschungsschiffflotte, die im europäischen und internationalen Vergleich als sehr stark
und leistungsfähig gilt.
Das Gutachten des Wissenschaftsrats, das dem SPDAntrag offensichtlich zugrunde liegt, empfiehlt aber keineswegs eine bevorzugte Förderung der Polarforschung. Vielmehr weist der Wissenschaftsrat darauf hin,
dass die maritime Forschung und die ihr dienende Forschungsschiffflotte auf die langfristigen Forschungsfragen ausgerichtet sein sollten. Der Wissenschaftsrat stellt
fest, dass zwar momentan die Polarforschung sehr aktuell ist, dass aber nicht absehbar ist, welche Forschungsfragen sich mittel- und langfristig als besonders
wichtig erweisen werden. Deshalb soll die maritime
Forschung auch in anderen Bereichen auf hohem
Niveau gehalten werden, zum Beispiel die Meeresbodenforschung, die Tiefseeforschung oder die Küstenforschung. Auch diese Bereiche sind für Deutschland von
großem Interesse. Die Küstenforschung spielt eine wichtige Rolle bei der Errichtung von Offshorewindparks.
Die Tiefseeforschung erschließt neue Potenziale durch
die Erkundung und Erforschung mariner Ressourcen
wie zum Beispiel Mangan, Edelmetalle oder GashyZu Protokoll gegebene Reden
drate. Eine weitere Priorisierung der Polarforschung ist
deshalb aus unserer Sicht nicht angebracht; vielmehr
geht es um eine Gesamtstrategie für die deutsche Meeresforschung.
Abschließend weise ich darauf hin, dass die deutsche
Polarforschung in die europäische und internationale
Forschungslandschaft eingebettet ist. Deutschland ist
Mitglied im 1995 gegründeten European Polar Board,
EPB. Hier werden gemeinsam die strategischen Prioritäten für die Forschung in Arktis und Antarktis festgelegt. Diese internationale Zusammenarbeit halten wir
für richtig und zukunftsweisend. Die Zusammenführung
von nationalen Projekten, die Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern in internationalen Projekten
und einen verstärkten Informationsaustausch über Projekte, Programme und Ergebnisse halten wir für wichtiger als das Auflegen neuer Polarforschungsprogramme - sei es in Deutschland oder in der EU.
Die SPD geht in ihrem Antrag nur im Ansatz auf die
Synergieeffekte einer europäischen und internationalen
Kooperation und Koordination ein. Darin liegt aber das
Potenzial für eine intensivere und verbesserte Polarforschung. Hier müssen und wollen wir das Potenzial auch
abrufen. Der Antrag wird diesem Anspruch nicht gerecht. Deshalb lehnen wir ihn ab.
Die Arktis zählt zu den letzten nahezu unberührten
Regionen der Erde, ein sensibles Ökosystem, das stark
vom Klimawandel bedroht wird. Die Eismassen des
Nordpols schmelzen immer schneller. Unter dem gewaltigen Eispanzer der Arktis ruhen beträchtliche Ressourcen, die bei den Anrainerstaaten Begehrlichkeiten
wecken: Edelmetalle, Seltene Erden, Erdöl- und Erdgasreserven, die weltweit knapp werden. Zudem eröffnen
die schmelzenden Eisflächen neue Perspektiven für
Schiffspassagen durch bisher unzugängliche Regionen.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen „Abkommen
zum Schutz der Arktis unverzüglich auf den Weg bringen Internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis“
hat eine gute Intention. Er zielt darauf ab, die Arktis zu
schützen. So weit sind wir einer Meinung; denn wir müssen uns auf die zukünftige Nutzung der Arktis vorbereiten. Viele Forderungen sind gut gemeint, jedoch jenseits
des Umsetzbaren.
Vor dem Hintergrund immer knapper werdender Rohstoffe werden sich die USA, Kanada, Norwegen, Russland und Dänemark/Grönland von Deutschland keine
vertraglichen Fesseln anlegen lassen.
Wir Liberale setzen uns für einen Schutz der Arktis
ein. Wir wollen keinen Raubbau am Ökosystem Arktis.
Wir setzen uns dafür ein, dass die Nutzung der Ressourcen im Einklang mit der Natur stattfindet. Es liegt insbesondere in den Händen der Anrainerstaaten, eine umweltverträgliche Nutzung der Region zu regeln. Wir sollten über unsere wissenschaftliche Kompetenz diesen
Prozess begleiten. Mit dem Alfred-Wegener-Institut für
Polar- und Meeresforschung bietet Deutschland ein
international anerkanntes Zentrum der Polarforschung.
Wir wollen diese Expertise einfließen lassen und beratend beim Schutz der Arktis zur Seite stehen.
Unrealistische Forderungen, wie sie im Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen erhoben werden, können wir jedoch nicht mittragen. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Der Haushaltsausschuss hat in der vergangenen Woche die vier bedeutenden Nachfolgebauten für die jetzige Forschungsflotte der Bundesrepublik gebilligt, darunter auch den Neubau eines Forschungseisbrechers.
Dieser soll ab 2017 die „Polarstern“ ersetzen und wird
nach den derzeitigen Planungen etwa 450 Millionen
Euro kosten. Fast 1 Milliarde Euro wird überwiegend
der Bund für die neue Flotte insgesamt ausgeben. Damit
könnte man den hier vorliegenden Antrag der SPD fast
für erledigt erklären, denn auch weitere Forderungen
der Kolleginnen und Kollegen an die Bundesregierung
können als erfüllt angesehen werden. So wird es im
8. Forschungsrahmenprogramm „Horizont 2020“ eine
Förderlinie zur Polarforschung geben, auch Preise für
besondere Leistungen auf diesem Gebiet existieren.
Was jedoch fehlt, sowohl bei der Bundesregierung als
auch im Antrag der sozialdemokratischen Fraktion, sind
konkrete Forschungsfragen für den Schutz der bedrohten Regionen. Vor etwa zwei Wochen schreckten mehrere
Studien die Wissenschaftsszene auf: Deutsche und britische Forscher hatten bestätigt, was auch früher nur gemutmaßt wurde: Auch der Eisdecke der Antarktis, die
man bisher eher unbeeindruckt von der Erderwärmung
geglaubt hatte, droht eine umfangreiche Schmelze. Die
Forscher vermuten, dass dieser Prozess von warmen
Strömungen ausgelöst werden könnte, die das Schelfeis
von unten angreifen.
Die genaue Erforschung solcher Prozesse ist ohne
eine entsprechende Infrastruktur, zu der auch die Forschungsschiffe gehören, nicht möglich. Sollten sich die
Aussagen verifizieren lassen, dürfte das eine ganz neue
Dynamik in die Debatte um den Klimawandel bringen.
Denn für den schlimmsten Fall kann die beschleunigte
Schmelze dieser Eismassen den Meerespegel bereits in
den kommenden 100 Jahren um etwa 40 Zentimeter steigen lassen. Vor diesem Hintergrund erscheint die Forderung berechtigt, zeitweise zwei eisbrechende Forschungsschiffe parallel zu betreiben, um in beiden
Polarregionen arbeiten zu können.
Denn auch der Arktis, bereits seit Jahrzehnten vom
Klimawandel betroffen, drohen weitere zerstörerische
Eingriffe durch den Menschen. Die Umweltorganisation
Greenpeace blockierte vor wenigen Wochen das Auslaufen eines gemieteten Eisbrechers in Dänemark. Mieter
war der Konzern Shell, der im Arktisraum neue Förderstätten für die am Meeresboden vermuteten riesigen Ölund Gasvorkommen erkunden will. Greenpeace verweist
hingegen darauf, dass die Risiken einer dortigen Förderung von Öl und Gas unkalkulierbar seien. Niemand
könne derzeit sagen, was im Falle einer Havarie an
Schutzmechanismen funktioniere und wie groß das ökoZu Protokoll gegebene Reden
logische und ökonomische Risiko eines solchen Unfalls
wie etwa der der als sicher geltenden Plattform „Deepwater Horizon“ sei.
Der Hunger auf die nach Schätzungen der amerikanischen Rohstoffbehörde etwa 22 Prozent der weltweiten
unentdeckten Ölvorkommen und auf die weiteren Basismetalle unter der arktischen Landschaft erzeugt einen
starken ökonomischen Druck. Von der Bundesregierung
war in der Ausschussberatung ebenfalls zu hören, dass
natürlich die wirtschaftlichen Interessen unseres Landes
in der Arktis gewahrt werden müssten. Auch im SPD-Antrag findet sich zur Verpflichtung der Forschungstätigkeit auf den Schutz von Umwelt und Klima nichts Konkretes. Wir unterstützen hingegen den Vorschlag der
Grünen, dem Arktischen Rat mehr Kompetenzen für den
Schutz dieser Region einzuräumen und in der deutschen
Politik Schutzbedarfen Vorrang vor ökonomischen Zielen einzuräumen.
Für die Forschung heißt das: Eine staatliche Unterstützung risikoreicher Explorationsvorhaben oder zur
Sicherung eines irgendwie gearteten geopolitischen Interesses kann nicht infrage kommen. Wenn wir der Bereitstellung großer Summen für Forschungsinfrastruktur
zustimmen, dann unter der Voraussetzung, dass diese
ausschließlich für Erhaltung und Rettung dieser für unser Klima und die Diversität unserer Umwelt so wichtigen Regionen eingesetzt werden.
Wir erinnern uns alle noch an das umstrittene Eisendüngungsexperiment LOHAFEX in südatlantischen Gewässern. Dieses hat uns hier im Bundestag eine kontroverse Debatte beschert, für deren Laufzeit das Experiment
vor Ort sogar gestoppt wurde. Dieser Fall zeigt, wie
schmal der Grat zwischen Grundlagenforschung und risikoreichen menschlichen Eingriffen in ein hochkomplexes Ökosystem ist.
Wir brauchen auch und gerade für die Polarforschung eine transparente Mission für mehr Nachhaltigkeit und eine fundierte Folgen- und Risikoabschätzung.
Grönland wird wieder grün. Und ausnahmsweise ist
dies kein Grund zur Freude. In der Arktis lässt sich das
Fortschreiten des Klimawandels deutlicher als anderswo erkennen. Die Eisbedeckung der Arktis-Region
ist seit Anfang der 1970er-Jahre um die Hälfte geschrumpft. Der Verlust des Eises verstärkt wiederum den
Klimawandel; denn das Eis bestimmt den Grad der
Reflektion des Sonnenlichtes, regelt den Austausch von
Wärme und Feuchtigkeit zwischen Meeresoberfläche
und Atmosphäre und beeinflusst die Verdunstung. Auch
weitere Effekte wirken sich auf den Klimawandel aus. So
wird durch das Freilegen von Seen, Fjorden und Moränen Methan frei, das seit Jahrtausenden eingeschlossen
war und jetzt seine klimaschädliche Wirkung entfalten
kann. Das Abtauen des Eises führt nicht nur zu Besorgnis, sondern weckt auch Begehrlichkeiten. Neue Schifffahrtsrouten werden möglich, neue Zugänge zum Festland werfen auch sicherheitspolitische Fragen auf.
Ressourcen, die überhaupt erst durch den Klimawandel
verfügbar werden, sollen ausgebeutet werden, was wiederum den Klimawandel verstärkt. Das kann man getrost als Wahnsinn bezeichnen.
Will man die globale Erwärmung auf maximal 2 Grad
Celsius begrenzen, so kann dies nur durch eine Abkehr
der fossilen Wirtschaft geschehen und ganz sicherlich
nicht dadurch, dass die gewaltigen fossilen Ressourcen,
die in der Arktis vermutet werden, nun auch noch ausgebeutet werden. Ein Arktis-Vertrag, der diese wirtschaftliche Ausbeutung verhindert, ist für eine erfolgreiche
Klimapolitik absolut notwendig und auch zum Schutz
der arktischen Biodiversität unabdingbar. Die Bundesregierung muss sich hier klar positionieren. Das gehört
auch zu einer glaubwürdigen internationalen Klimapolitik. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal
an die Bilder der Bundeskanzlerin erinnern, die sich mit
roter Rettungsweste vor den Eisbergen Grönlands als
„Klimakanzlerin“ fotografieren lassen hat. Von Rettung
bisher keine Spur. Es ist endlich an der Zeit, konkret
etwas für die Polarregion zu tun. Wir brauchen eine
Arktis-Politik, die sich nicht von Handels- und Ressourceninteressen leiten lässt, sondern den Umwelt- und
Klimaschutz in den Mittelpunkt stellt. Wir brauchen einen Arktis-Vertrag, der den Herausforderungen des fortschreitenden Klimawandels und des Schwundes der
Biodiversität Rechnung trägt. Dabei kommt auch der
indigenen Bevölkerung eine tragende Rolle zu, und die
Wahrung ihrer Rechte muss ein zentraler Bestandteil der
Arktis-Politik sein.
Retten und schützen kann man nur, was man auch
kennt. Unser Wissen über die Arktis verdanken wir der
Polarforschung, die besonders in Deutschland einen
guten Ruf hat. Es gilt, diesen zu bewahren und die Forscherinnen und Forscher in ihren Bemühungen um ein
besseres Verständnis dieses Lebensraumes und seiner
Bedeutung bei den Abläufen des Klimawandels zu unterstützen. Insbesondere auch die internationale Vernetzung und Zusammenarbeit muss noch verstärkt werden.
Doch Forschung und Verständnis der Region und ihrer Prozesse alleine können die Arktis nicht retten. Die
Politik muss die Forschungsergebnisse ernst nehmen
und konkrete Maßnahmen treffen, damit der Club of
Rome mit seiner wahrhaft düsteren Prognose für das
Jahr 2052 nicht recht behält: eine eisfreie Arktis und ein
zerstörtes Ökosystem mit schwerwiegenden Konsequenzen für den ganzen Planeten.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9722, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5228 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Fraktionen der Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Das ist die Fraktion Die Linke. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 30 b: Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
Vizepräsident Eduard Oswald
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7987,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6499 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe? - Das sind alle drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es nicht
glauben, aber es ist so: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({0})
Ich darf Sie auch überraschen: Ich berufe die nächste
Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag,
25. Mai 2012, bereits um 8.30 Uhr, ein.
Wir sehen uns in alter Frische.
Die Sitzung ist geschlossen.