Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Die heutige Fragestunde ist geteilt. Nach einer Stunde
werde ich die Fragestunde für die Regierungserklärung
mit anschließender Aussprache zur internationalen Afghanistan-Konferenz unterbrechen. Im Anschluss daran
wird die Fragestunde fortgesetzt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/493, 17/517 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die Dringlichen Fragen auf Drucksache 17/517 auf.
Es handelt sich zunächst um Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht
die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula HeinenEsser zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Dringliche Frage 1 des Kollegen
Oliver Krischer auf:
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung von den ersten Ergebnissen der Auswertung des technischen Berichts,
über die unter anderem die ARD-Tagesschau am Sonntag,
dem 24. Januar 2010, berichtet hat, wonach der genaue Unfallhergang in der Urananreicherungsanlage, UAA, in Gronau
noch immer nicht abschließend geklärt sei, und welche Konsequenzen zieht sie daraus?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Danke, Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kollege
Krischer, die zuständige atomrechtliche Aufsichtsbehörde für Gronau ist das Ministerium für Wirtschaft,
Mittelstand und Energie in Nordrhein-Westfalen. Das
Ministerium hat das Bundesumweltministerium am
Freitag, dem 22. Januar 2010, von dem Ereignis in der
Urananreicherungsanlage in Gronau mündlich und
schriftlich unterrichtet. Den Vermerk, den wir darüber
erhalten haben, stellen wir Ihnen selbstverständlich gern
zur Verfügung, Herr Krischer.
Nach bisherigen Erkenntnissen wurde am Donnerstag,
dem 21. Januar 2010, um exakt 14.32 Uhr im Raumbereich
„Behältervorbereitung“ - so nennt sich dieser Raum Uranhexafluorid aus einem Behälter freigesetzt. In diesem Raum sollte ein als leer und ausgewaschen bezeichneter, angelieferter Uranbehälter für eine routinemäßig
erforderliche Druckprüfung vorbereitet werden. Beim
Öffnen des Behälterventils kam es dann - jedenfalls nach
ersten Abschätzungen - zur Freisetzung von wenigen
Gramm Uranhexafluorid.
Eine Anlagenbegehung der Aufsichtsbehörde und des
von ihr beauftragten Sachverständigen - das ist der TÜV
Rheinland - hat am Montag, dem 25. Januar 2010, stattgefunden. Allerdings muss man darauf hinweisen, dass
man den Raum aus Sicherheitsgründen zurzeit nur für
wenige Stunden und dann auch nur im Schutzanzug und
mit Atemmaske betreten kann, sodass weitere Untersuchungsergebnisse voraussichtlich erst am Ende dieser
Woche zu erwarten sind. Diese werden dann Gegenstand
des von der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde angeforderten ausführlichen Berichts der Urananreicherungsanlage in Gronau sein. Ich sage Ihnen zu: Sobald uns alle
Berichte vorliegen, werden wir Sie selbstverständlich
sofort unterrichten.
Herr Kollege Krischer, darf ich Sie bitten, aufzustehen, damit die Zuschauer sehen, wer der Fragesteller ist.
Sie haben das Recht auf zwei Zusatzfragen. Bitte schön.
Herzlichen Dank für den Bericht, Frau Staatssekretärin. Ich möchte nachfragen: Wie viel Radioaktivität war
in dem betreffenden Behältnis? Wie viel ist ausgetreten?
Welche Erkenntnisse hat man darüber? Ein weiterer entscheidender Punkt ist: Wo hat das falsche Labeling stattgefunden? Wie konnte es möglich sein, dass im Behälter
radioaktives Material enthalten war?
Redetext
Herr Kollege Krischer, die letzte Frage hat auch mich
bei der Vorbereitung für heute sehr interessiert. Wir wissen bis jetzt nicht, ob der Behälter tatsächlich falsch gelabelt war. Wir können auch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass es tatsächlich der Behälter
war. Deshalb bitte ich Sie, abzuwarten, bis der endgültige Untersuchungsbericht vorliegt, der genau das zum
Gegenstand der Untersuchung hat. Es wird die Frage zu
klären sein, ob der angeblich leere, gewaschene Behälter
schuld war oder ob es vielleicht eine andere Ursache
gab; wobei das wahrscheinlich eher zu vernachlässigen
ist. Der Behälter kam aus Schweden. Das ist, wenn ich
das richtig gesehen habe, einer der Lieferanten für Gronau, was diese Behälter betrifft. Das ist das Erste.
Das Zweite ist: Was die Mengen der Freisetzung angeht, kann ich Ihnen keine ganz genauen Mengen nennen. Nach Angaben des Betreibers wurden - nach ersten
Abschätzungen - wahrscheinlich nur sehr wenige
Gramm Uranhexafluorid freigesetzt.
Die Messungen am Kamin des Gebäudes …, in
dem sich die Behältervorbereitung befindet, haben
gezeigt,
- ich zitiere aus dem Bericht, den wir aus NordrheinWestfalen bekommen haben dass etwa ein Sechstel des genehmigten Wochenabgabegrenzwertes für den Kamin … in die Umgebung abgegeben wurde. Eine Dosisbelastung der
Bevölkerung ist daher nicht anzunehmen.
Das ist die Antwort auf die wahrscheinlich folgende
Frage.
Eine weitere Nachfrage, Herr Kollege Krischer? Bitte.
Es macht wenig Sinn, weiter nach den konkreten Umständen zu fragen, wenn Sie sagen, dass Ihnen die entsprechenden Erkenntnisse noch nicht vorliegen.
Ich möchte folgende Frage nachschieben: Der betroffene Mitarbeiter ist durch mehrere Krankenhäuser geschleust worden, die letztendlich alle nicht die notwendige Kompetenz haben. Das deutet ja darauf hin, dass
man auf einen Notfall nicht vorbereitet war, obwohl ein
Notfallplan eigentlich vorliegen sollte, bzw. mit einem
solchen Störfall offensichtlich nicht gerechnet wurde.
Ich bitte um Beantwortung der Frage: Warum ist dieser
Mitarbeiter zunächst in die falschen Krankenhäuser
überstellt worden und nicht in eine zuständige Fachklinik?
Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Der Frage werde
ich aber sehr gerne nachgehen. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass bei Kontakt mit Uranhexafluorid
zwei Gefährdungen bestehen: Das ist einmal die Gefährdung durch einen radiologisch gefährlichen Stoff. Das ist
aber auch die Gefährdung durch einen Giftstoff, der zu
Verätzungen führen kann. Der Mitarbeiter ist zurzeit im
Universitätsklinikum Düsseldorf. Wir werden wohl in
der nächsten Woche einen genaueren Bericht von dort
erhalten.
Es gibt eine weitere Frage der Kollegin Kotting-Uhl.
Bitte schön.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, es ist mir völlig
klar, dass wir im Moment die situativen Umstände noch
nicht bewerten können, weil wir sie noch nicht richtig
kennen.
Deswegen habe ich noch eine Frage zu den allgemeinen Vorsichtsmaßnahmen: Es muss ja allgemeine Sicherheitsmaßnahmen geben, die gewährleisten sollen,
dass es zu solchen Zwischenfällen, zu solchen Unfällen
nicht kommt. Welche sind das im Fall dieser Uranfabrik?
Im Anschluss daran frage ich: Warum trug dieser Arbeiter offensichtlich keine Schutzkleidung?
Die letzte Frage kann ich Ihnen nicht beantworten.
Das muss ich nachliefern.
Die erste Frage beantworte ich so: Die Urananreicherungsanlage in Gronau wurde nach einem sehr aufwendigen Genehmigungsverfahren genehmigt. Es wurde
festgestellt, dass die Anlage dem Stand der Wissenschaft
und der Technik entspricht, was bedeutet, dass sie wirklich so sicher ist, wie sie sein muss.
Ich darf weiter darauf hinweisen, dass wir drei Kategorien von Ereignissen haben: Kategorie N, normaler
Unfall, Kategorie E, Unfall, der eine Eilmeldung erfordert, und die höchste Kategorie von Störfällen, nämlich
die S-Kategorie. Es handelt sich hierbei nach Einschätzung aller Experten um ein „normales“ Ereignis der Kategorie N. Ich denke, dass da alle Notfallszenarien sehr
vernünftig abgelaufen sind, wobei wir den Fragen, die
auch Ihr Kollege Krischer gerade gestellt hat, insbesondere was die Behandlung in den Krankenhäusern angeht,
natürlich noch einmal sehr genau nachgehen werden.
Ich rufe die Dringliche Frage 2 der Kollegin Kathrin
Vogler von der Fraktion die Linke auf:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Ursache des Unfalls in der UAA in Gronau, bei dem am Donnerstag letzter Woche - 21. Januar 2010 - ein Arbeiter verletzt
und mit giftigem, radioaktivem und hochreaktivem Uranhexafluorid, UF6, kontaminiert wurde, und welche Schlussfolgerungen für den weiteren Betrieb der UAA zieht sie aus diesem
ernsten Zwischenfall?
Kollegin Vogler, ich kann ein Stück weit auf die Antwort verweisen, die ich dem Kollegen Krischer gerade
gegeben habe. Vielleicht nur noch so viel, um das deutlich
zu machen: Der Unfall hat sich im Bereich der Behältervorbereitung bei einer sehr routinemäßigen Prüfung eines
Behälters ereignet. Bei dieser Behälterprüfung besteht
kein Zusammenhang mit dem eigentlichen Anreicherungsbetrieb der Urananreicherungsanlage in Gronau.
Darüber hinaus muss ich hier auf den endgültigen Bericht der Sachverständigen des TÜVs verweisen, der uns
hoffentlich Ende der Woche, spätestens Anfang nächster
Woche zur Verfügung steht und den wir Ihnen, dem Parlament, selbstverständlich direkt zuleiten werden.
Nachfrage, Frau Vogler?
Danke, Frau Staatssekretärin. Es ist ja schon erwähnt
worden, dass der betroffene Mitarbeiter jetzt im insgesamt vierten Krankenhaus liegt, nachdem die Urenco,
die Betreiberin der Anlage, zunächst einmal hatte verlauten lassen, es gehe ihm gut. Ich war am Sonntag in
Gronau, und es gibt in der Bevölkerung erhebliche Beunruhigung und viele Nachfragen, inwieweit man den
Beteuerungen der Urenco über die Harmlosigkeit dieses
Vorfalls Glauben schenken kann und inwieweit die Informationspolitik dieses Unternehmens dazu geeignet
ist, den Vorfall schnell und umfassend aufzuklären. Ich
möchte daher an dieser Stelle nachfragen: Wie bewertet
die Bundesregierung die bisherige Kommunikation der
Betreiberfirma in diesem Zusammenhang?
Die Betreiberfirma hat direkt nach dem Ereignis eine
Pressemitteilung herausgegeben. Gleichzeitig gab es eine
erste vorläufige Untersuchung des Ministeriums für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes NordrheinWestfalen, welches die entsprechende Aufsichtsbehörde
ist. Wir sind aus Nordrhein-Westfalen direkt, vernünftig,
ausreichend, umfassend mündlich und schriftlich unterrichtet worden. Den Vermerk dazu habe ich bereits Kollegen Krischer zugesagt; auch Sie werden ihn erhalten.
Dann sehen Sie, dass es eine umfangreiche Information
gegeben hat.
Gestatten Sie mir, Herr Präsident, dass ich bezüglich
des Gesundheitszustandes des Mitarbeiters aus einer
Agenturmeldung von gestern zitiere:
Vorläufige Messungen hätten gezeigt, dass der
45-Jährige nur eine „sehr niedrige Dosis“ der radioaktiven Strahlung aufgenommen habe, sagte der behandelnde Arzt Hubertus Hautzel der Deutschen
Presse-Agentur am Dienstag. Endgültige Ergebnisse wollen die Ärzte der Nuklearmedizinischen
Klinik des Universitätsklinikums Düsseldorf … in
der nächsten Woche präsentieren.
So viel zum Gesundheitszustand des betroffenen Mitarbeiters.
Was die Belastung durch den Stoff durch die Kamine
angeht, habe ich vorhin schon ausgeführt, dass es sich
hierbei um eine nur sehr geringe Belastung handelt,
nämlich ein Sechstel des Wochengrenzwertes, sodass es
wohl zu überhaupt keiner Belastung der Bevölkerung
gekommen ist. Die Messgeräte zeigen ja an, welche Belastungen es tatsächlich gibt. Die Belastungen, denen der
betroffene Mitarbeiter ausgesetzt war, lagen, so wurde
uns mitgeteilt, zwischen 1 und 5 Millisievert. 20 Millisievert dürfen Mitarbeiter laut Strahlenschutzverordnung
aushalten; dieser Wert liegt also am unteren Rand.
Alle Fakten zusammengenommen zeigen, dass es sich
hierbei - ich bleibe in der „Kategorie-Sprache“ - um ein
Ereignis der Kategorie N, einen sogenannten „normalen“ Unfall, handelt.
Zweite Nachfrage?
Meine weitere Nachfrage bezieht sich auch auf ein
Problem, das mir am Wochenende vorgetragen wurde.
Es gibt sehr große Besorgnis in der lokalen Bevölkerung
hinsichtlich der Beschäftigten in den Krankenhäusern, in
die der Betroffene eingeliefert wurde. Diese sahen sich
wenig informiert darüber, wie sie mit einer solchen Situation umzugehen haben. Nun ist die UAA nicht erst seit
letzter Woche in Gronau. Das wirft für mich die Frage
auf, inwieweit die Notfallpläne die Beschäftigten in den
Krankenhäusern überhaupt in den Stand setzen, mit so
einem Vorfall umzugehen.
Ich habe bereits auf die Frage des Kollegen Krischer
geantwortet, dass wir diesem Vorgang sehr genau nachgehen werden. Der betroffene Mitarbeiter ist jetzt in der
Nuklearmedizinischen Klinik der Universitätsklinik Düsseldorf und dort mit Sicherheit in den besten Händen. Was
die Mitarbeiter in den Krankenhäusern ansonsten angeht,
denke ich, dass wir davon ausgehen können, dass sie alle
entsprechenden Schutzmaßnahmen eingehalten haben.
Es gibt eine weitere Frage des Kollegen Krischer.
Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade ausgeführt,
dass die Menge des Materials, das ausgetreten ist, noch
gar nicht bekannt ist. Auf der anderen Seite haben Sie
dargelegt, dass Sie die Strahlenbelastung, die Dosis, die
der Mitarbeiter abbekommen hat, relativ genau definieren können. Könnten Sie erläutern, wie es sein kann,
dass man einerseits die Dosis sehr genau definieren und
sagen kann, dass sie wahrscheinlich ungefährlich und
gering ist - so habe jedenfalls ich Sie verstanden -, andererseits aber die Menge, die aus dem Fass, dem Behältnis ausgetreten ist, und die Menge, die darin enthalten war, gar nicht genau kennt? Das ist ein Widerspruch,
den ich nicht verstehe. Hier bitte ich Sie um eine Erläuterung.
Ich habe vorhin ausgeführt, dass Messungen am Kamin des betreffenden Gebäudes durchgeführt wurden;
diese Messungen sind sehr genau. Bei diesen Messungen
am Kamin kam man, wie ich dargelegt habe, auf ein
Sechstel der zulässigen Wochenbelastung. Aus diesen
Messungen am Kamin lassen sich auch Rückschlüsse
auf die freigesetzte Menge ziehen. Weil ich Ihnen keinen
genauen Wert angeben kann, habe ich gesagt: Es handelt
sich um eine Bandbreite zwischen 1 und 5 Millisievert.
Es gibt eine weitere Wortmeldung von Frau KottingUhl.
Frau Staatssekretärin, an dieser Stelle würde ich gerne
eine Nachfrage stellen. Mir ist klar, dass die Behörden
immer auch bemüht sind, keine unnötige Panik und Unruhe aufkommen zu lassen; dafür habe ich volles Verständnis. Dennoch haben wir natürlich ein großes Interesse daran, dass nichts verharmlost wird, was im
Hinblick auf diese Uranfabrik leider hin und wieder der
Fall ist.
Der Presse können wir entnehmen, dass die Ärzte
mögliche Spätfolgen nicht ausschließen können. Sie haben gerade dargelegt, woher Sie wissen, wie viel Radioaktivität dort ausgetreten ist. Aber es spielt doch auch
eine Rolle, wie viel dieser Arbeiter zum Beispiel eingeatmet hat. Man kann nicht allein aus der Tatsache, was im
Kamin gemessen wurde, ableiten, wie stark der Arbeiter
belastet ist. Würden Sie mir zustimmen, dass die Aussage, dass die Strahlenbelastung nur gering ist - diese
Aussage wurde teilweise getroffen -, vielleicht ein bisschen verfrüht ist?
Ich habe Ihnen gesagt, dass es sich um eine sehr große
Bandbreite handelt und ich Ihnen noch keine exakten
Zahlen nennen kann, bevor nicht die Abschlussprüfung
durch den TÜV erfolgt ist. Weil sich die Zahlen überhaupt noch nicht exakt beziffern lassen, habe ich nur
sehr grobe Angaben gemacht. Ich habe diese Zahlen nur
deshalb genannt, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, um welche Größenordnung es geht.
Es ist in der Tat so - vielleicht muss ich meine Antwort auf die Frage der Kollegin Vogler etwas ergänzen -,
dass es hier zwei Probleme gibt, die zur Folge haben,
dass der Mitarbeiter besonders intensiv untersucht werden muss. Erstens geht es um radiologische Gesichtspunkte, für die weniger die Direktstrahlung als vielmehr
ein direkter Kontakt mit dem Stoff eine Rolle spielt.
Zweitens ist es so - das ist das besonders Gefährliche -,
dass Uranhexafluorid sich zu einem ätzenden Giftstoff
zersetzen kann. Deshalb ist der Mitarbeiter unter ganz
besonderer Beobachtung. Was die exakten Werte und alles Weitere angeht, sollten wir den TÜV-Bericht abwarten. Ich hoffe, auch im Interesse der Aufklärung der Bevölkerung, dass er möglichst bald vorliegt.
Darüber hinaus muss ich Ihnen sagen: Im Dezember
2009 haben Sie zu diesem Thema eine Anfrage gestellt.
In diesem Rahmen sind wir auf einzelne Fragestellungen, die Sie auch jetzt angesprochen haben, sehr ausführlich eingegangen.
Eine weitere Frage stellt die Kollegin Arndt-Brauer.
Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, die Firma
Urenco ist in meinem Wahlkreis tätig; deswegen bin ich
mit diesem Thema ganz gut vertraut. Wir müssen, wie
ich denke, zwei Dinge unterscheiden: die Ursache und
die Frage, wie wir damit umgehen.
Die Ursache hat die CDU-Wirtschaftsministerin Thoben
in Schweden entdeckt; das mag richtig sein. Aber es stellt
sich die Frage: Wie gehen wir damit um, wenn etwas passiert, worauf wir selbst keinen Einfluss haben? Wir kennen nur das Ergebnis. Urenco hat vor Ort keine sauberen
Behälter, sondern in irgendeiner Form verunreinigte Behälter. Das, was passiert ist, war katastrophal. Krankenhäuser, die nicht darauf vorbereitet waren, wurden konsultiert: zunächst Gronau, dann Ochtrup und Jülich, erst
danach Münster.
Gibt es denn konkret das Bestreben, einen neuen Katastrophenschutzplan zu entwickeln, der etwa vorsieht,
dass die Freiwillige Feuerwehr Gronau, die mit so etwas
umgehen kann, vielleicht stärker eingebunden wird, dass
die Werksfeuerwehr besser ausgebildet wird und dass
vor allem der Transport Verletzter in eine Fachklinik sichergestellt wird, ohne andere Menschen etwaig zu gefährden?
Was den Behälter angeht: Der Behälter wurde wohl
aus Schweden nach Gronau geliefert. Wir werden uns
sehr genau anschauen, was der TÜV-Sachverständige
über die tatsächlichen Ursachen sagt. Auch wenn die
Wahrscheinlichkeit, dass es an dem Behälter lag, hoch
ist, bin ich zum jetzigen Zeitpunkt vorsichtig damit, einfach zu sagen: Das ist der Behälter gewesen. - Das muss
der Sachverständige beurteilen.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der Sachverständige nicht rund um die Uhr arbeiten kann, weil der
Raum zurzeit nur mit Schutzanzug etc. betreten werden
kann. Den Bericht des Sachverständigen bekommen Sie,
wenn er vorliegt, sofort zur Verfügung gestellt. Dann
werden wir uns auch die Notfallpläne sehr genau anschauen.
Ich will aber noch einmal darauf verweisen, dass der
Unfall nicht in der Urananreicherungsanlage selbst geschehen ist, sondern in einem sogenannten Vorbereitungsraum und dass eine umfangreiche Sicherheitsprüfung der gesamten Anlage bei ihrer Genehmigung
vorgenommen worden ist.
Jetzt haben wir eine weitere Frage des Kollegen
Dr. Ott von den Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatssekretärin,
wir haben Tickermeldungen vorliegen, dass der Boden
in dem Raum mit 170 Becquerel belastet war. Haben Sie
Informationen darüber, ob das richtig ist und ob man davon auf die Belastung der Raumluft rückschließen kann?
Ich habe noch keine solchen Meldungen vorliegen, jedenfalls keine bestätigten. Das ist auch nicht Teil des Berichts, den wir aus Nordrhein-Westfalen als ersten Bericht bekommen haben. Auch hier muss ich noch einmal
darauf verweisen, dass der TÜV-Bericht, aus dem hervorgehen wird, wie die Belastung genau aussieht, wohl
zum Ende der Woche vorliegen wird. Dass es noch eine
Belastung gibt, sehen wir auch daran, dass der Sachverständige in dem Raum tatsächlich nur sehr vorsichtig arbeiten kann.
Vielen Dank. - Dann kommen wir zur Dringlichen
Frage 3 der Kollegin Vogler:
Welche Gefahren für die Beschäftigten und die Bevölkerung des Münsterlandes bestehen durch den Betrieb der UAA
in Gronau und insbesondere durch die Atomtransporte durch
die Region?
Kollegin Vogler, die Frage nach Gefahren für die Beschäftigten und die Bevölkerung habe ich zum Teil
schon mit beantwortet. Ich habe schon mehrfach darauf
verwiesen, dass der Endausbau der Urananreicherungsanlage in Gronau am 14. Februar 2005 genehmigt worden ist. Sowohl das Bundesumweltministerium als auch
das Land Nordrhein-Westfalen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Anlage hinsichtlich der sicherheitstechnischen Auslegung und des sicheren Betriebs den
nach Stand von Wissenschaft und Technik zu stellenden
Anforderungen entspricht.
Die Messungen am Kamin des Gebäudes, in dem sich
die Behältervorbereitung befindet, haben gezeigt - darauf habe ich schon mehrfach verwiesen -, dass im Zusammenhang mit dem Ereignis etwa ein Sechstel des genehmigten Wochenabgabegrenzwertes für diesen Kamin
in die Umgebung abgegeben wurde. Eine Dosisbelastung der Bevölkerung und der Umwelt ist daher nicht anzunehmen. Die Messwerte der Umgebungsüberwachung
- das habe ich vorhin noch nicht gesagt - zeigten nach
Angabe der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde erwartungsgemäß keinerlei Auffälligkeiten.
Nachfrage? - Bitte.
Danke. - Frau Staatssekretärin, ich bin nicht der Auffassung, dass die Frage, die ich gestellt habe, damit vollständig beantwortet ist.
Zum Betrieb der Urananreicherungsanlage gehört
nämlich eine erhebliche Zahl von Atomtransporten, die
Monat für Monat durch unsere Region rollen und die für
ebenso viel Beunruhigung - berechtigte Beunruhigung und Besorgnis in der Bevölkerung sorgen. Auf diesen
Punkt sind Sie jetzt gar nicht eingegangen. Meine Frage
ist also: Wie bewertet die Bundesregierung eigentlich
die Gefahren, die von diesen regelmäßigen Atomtransporten durch unsere Region ausgehen, und was tun Sie,
um die Bevölkerung zu schützen?
Dazu gibt es eine Antwort der Bundesregierung aus
dem Mai 2007 auf eine Kleine Anfrage Ihrer Fraktion.
Ich möchte Sie bitten, sich diese Antwort noch einmal
genau anzuschauen. Da finden Sie auch unsere Stellungnahme zum Thema Transport.
({0})
Frau Vogler, Sie haben das Recht zu einer weiteren
Nachfrage.
2007 war eine andere Bundesregierung im Amt, die
die Antwort auf diese Anfrage zu verantworten hatte. Erfreut höre ich, dass Sie es genauso sehen.
Wir haben die wenigen Monate nicht genutzt, um die
gesetzlichen Grundlagen zu ändern. Deshalb zitiere ich
gerne aus der Antwort vom Mai 2007.
Gut. Dann stelle ich jetzt eine Nachfrage, die sich
spezifisch an die neue Bundesregierung richtet. Ich
möchte gerne wissen, ob die Bundesregierung ange1516
sichts des erneuten Zwischenfalls in der Urananreicherungsanlage, dem bereits Zwischenfälle im September
und Dezember letzten Jahres vorausgegangen sind, nicht
bereit ist, ihre Position zu überdenken, die Laufzeiten
der Atomkraftwerke und damit auch die Betriebszeit und
Auslastung der Urananreichungsanlage in Gronau zu
verlängern bzw. auszuweiten. Ich glaube, das wäre auch
für die Menschen in der Region interessant zu wissen.
Wie Sie wissen, ist das Thema Laufzeitverlängerung
Teil des Energiekonzepts, an dem zurzeit das Umweltministerium und das Wirtschaftsministerium arbeiten und
das im Herbst dieses Jahres vorliegen wird. Überlegungen zu Laufzeitverlängerungen sowie all das, was Sie
genannt haben, werden in dieses Konzept einfließen.
Es liegt eine Frage der Kollegin Arndt-Brauer vor.
Nach der Erweiterung der Urananreicherungsanlage
ist ein Erdwall aufgeschüttet worden. Hinter dem Erdwall - nicht sichtbar, aber ohne Dach - werden befüllte
und unbefüllte Behälter gelagert. Ist es nach diesem Unfall nicht sinnvoll, über die Lagerung nachzudenken,
weil das, was in den Behältern ist, vielleicht nicht der
Deklaration entspricht, von dieser Art der Lagerung also
vielleicht eine größere Gefährdung der Bevölkerung ausgeht, als man vorher erwarten konnte?
Wir warten die Fertigstellung des TÜV-Berichts ab.
Ich denke, das ist vernünftiger, als jetzt zusammen munter Spekulationen zu äußern. Es handelt sich nur noch
um wenige Tage, bis der Bericht fertiggestellt ist. Ich
denke, wir haben dann Gelegenheit, entweder im Ausschuss oder hier im Plenum, in der Fragestunde, ausführlich darüber zu beraten. Das Hauptproblem beim Umgang mit Uranhexafluorid ist, wie gesagt, nicht die
Direktstrahlung, sondern der Kontakt zum Stoff.
Es liegt eine Frage des Kollegen Krischer vor.
Vielen Dank. - Wenn meine Informationen stimmen,
hat das System zur automatischen Meldung von Radioaktivität in dem Raum nicht angeschlagen. Vielmehr ist
der Mitarbeiter, der das Behältnis geöffnet hat, in einen
Nachbarraum gegangen und hat dort einen Mitarbeiter
informiert. Erst dann ist der Alarm ausgelöst worden.
Meine Frage ist: Ab welcher Strahlenbelastung müsste
ein solcher Alarm in diesem Raum eigentlich ausgelöst
werden?
Kollege Krischer, das kann ich Ihnen leider nicht beantworten; ich muss es nachliefern. Ich zitiere aus dem
Bericht des Landes Nordrhein-Westfalen. Dort heißt es
in der Tat:
Die Freisetzung wurde von einem in dem betreffenden Raum arbeitenden weiteren Mitarbeiter bemerkt und telefonisch sofort die Werksfeuerwehr
und die Warte informiert.
Außerdem heißt es:
Die Monitore der Raumluftüberwachung haben angesprochen und die Störfalllüftung wurde eingeschaltet.
Es hat also einen Automatismus gegeben. Alles Weitere werden wir dem TÜV-Bericht entnehmen.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Wir kommen
dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Arbeit und Soziales. Für die Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel zur
Verfügung.
Wir kommen zur Dringlichen Frage 4 der Kollegin
Dr. Barbara Höll:
Wie viele Hartz-IV-Empfänger - in absoluten Zahlen und
prozentual von allen - sind von der laut Presseberichten vom
Wochenende im Januar 2010 nicht korrekt berücksichtigten
Kindergelderhöhung bei der Ermittlung der Leistungshöhe
betroffen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Dr. Höll, Ihre Frage nimmt Bezug auf
Presseberichte. In diesen Presseberichten ist die Rede
von einer nicht korrekt berücksichtigten Kindergelderhöhung. Bezogen auf diese Formulierung beantworte ich
die Frage so: Es hat keine Betroffenen gegeben.
Mit der jetzigen Änderung der Bescheide erfolgt die
im Zehnten Buch Sozialgesetzbuch verankerte Anpassung an die geänderten Verhältnisse. Hierbei handelt es
sich um eine völlig korrekte Berücksichtigung. In sämtlichen Leistungsbescheiden ist das Kindergeld in der jeweils geltenden gesetzlichen Höhe korrekt als Einnahme
berücksichtigt worden.
Eine nachträgliche Änderung der Bescheide ist aufgrund der späten Verabschiedung des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes notwendig geworden. Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist bekanntlich in sehr kurzer
Zeit gelungen, nämlich bereits kurz nachdem diese Koalition die Arbeit aufgenommen hatte.
Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, in dem die
Kindergelderhöhung geregelt ist, wurde am 30. Dezember 2009 im Bundesgesetzblatt verkündet. Vor diesem
Zeitpunkt war es nicht möglich, eine Korrektur der Bescheide für Januar oder eine geänderte Auszahlung der
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts durch
die Bescheide zu realisieren. Das Bundesministerium für
Arbeit und Soziales hatte auch ausdrücklich davon abgesehen, vor Verkündung des Gesetzes Änderungen der
Leistungshöhe zulasten der Leistungsbezieher zuzulassen. Die jetzige Anpassung entspricht damit vollständig
der Rechtslage.
Eine Nachfrage, Frau Höll.
Danke, Herr Staatssekretär. - Darf ich Ihre Beantwortung meiner Frage so verstehen, dass die Kindergelderhöhung für alle Kinder und Jugendlichen, deren Eltern
Hartz IV beziehen, ausgezahlt wurde? Es ist also meine
Frage zu beantworten, ob diese Erhöhung zu 100 Prozent ausgezahlt worden ist. Muss dies jetzt zu 100 Prozent korrigiert und das Geld zurückgeholt werden? Ist
das richtig?
Das wird durch einen Änderungsbescheid korrigiert.
Ob im Einzelnen eine Rückholbarkeit gegeben ist, hängt
von der jeweiligen Situation ab.
({0})
Eine weitere Nachfrage, Frau Höll.
Herr Staatssekretär, ich möchte jetzt noch eine Frage
zu der Ursache und zu Ihren Schlussfolgerungen stellen.
Die Ursache liegt also darin, dass das Ministerium bzw.
die Bundesregierung bewusst entschieden hat, dass die
Bescheide nicht im Voraus korrigiert werden. Es hätte ja
auch sein können, dass Sie dem Vorschlag der Linken
folgen würden, die ja beantragt hatten, gleich die Nichtanrechnung der Kindergelderhöhung zu verabschieden.
Die Korrektur der Bescheide, die Sie jetzt beschrieben haben, soll im Januar erfolgen. Gilt im Februar dann
noch die alte Situation, sodass die Kindergelderhöhung
de facto noch zu 100 Prozent ausgezahlt wird, oder
nicht?
Es ist folgendermaßen: Zunächst einmal kann während des laufenden Bezugs keine Rückforderung der
Gelder erfolgen, die durch die ergangenen Bescheide gewährt wurden. Das kann nur dann der Fall sein, wenn
sich die entsprechende finanzielle Situation ändert, nämlich zum Beispiel durch die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit. Es ist auch nicht möglich, dass hier eine Aufrechnung erfolgt.
Somit sind die Bescheide zunächst einmal Ausdruck
der Rechtslage, und die Erstattung des überzahlten Betrages erfolgt dann, wenn die Vermögens- und Einkommensverhältnisse das zulassen.
Es gibt eine weitere Nachfrage. Kollegin Mast.
Herr Staatssekretär, können Sie eine Aussage darüber
treffen, wie hoch die Verwaltungskosten dafür sein werden, die Rückforderungsbescheide im Zusammenhang
mit der Anrechnung der Erhöhung des Kindergeldes um
20 Euro auszusenden und die entsprechenden Gespräche
zu führen? Insgesamt geht es ja ungefähr um
2,2 Millionen Kinder und 1,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften.
Da der Normenkontrollrat eine Grenze von 50 Euro
proklamiert, unterhalb welcher es sich nicht lohnt, Rückforderungen zu stellen, stellt sich schon die Frage, wieso
Sie an dieser Stelle keinen anderen Weg gegangen sind.
Zur Zahl der betroffenen Bedarfsgemeinschaften darf
ich hier noch einmal Folgendes darstellen: Wir nehmen
an, dass es circa 1,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften
gibt, bei denen Kindergeld als Einnahme anzurechnen
ist. Wegen des unterschiedlichen Beginns des Bewilligungszeitraums - die Bewilligungen, um die es geht,
sind in etwa ab August, also über ein halbes Jahr hinweg, erteilt worden - ist davon auszugehen, dass circa
1,1 Millionen Bedarfsgemeinschaften betroffen sind.
Die Abwägung der Kosten-Nutzen-Relation und die Berücksichtigung der zu erwartenden Verwaltungskosten
haben zu der Entscheidung geführt, die ich vorgetragen
habe.
Jetzt folgt eine Frage der Kollegin Haßelmann von
den Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Herr Staatssekretär,
habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie davon ausgehen, dass bei 1,1 Millionen der 1,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften, an die möglicherweise eine zu hohe Zahlung erfolgt ist, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist?
Diese Einzelfallprüfung ist nicht sehr schwierig. Es
geht um eine einzige Position. Dadurch lässt sich die
Korrektur mit einem Verwaltungsaufwand realisieren,
der in der Relation als sinnvoll erachtet wird.
Sie dürfen bei all dem nicht vergessen, dass eine vierjährige Rückforderungsfrist besteht. Das ist ein Zeitraum, in dem sehr viele Bedarfsgemeinschaften wieder
finanziell stärker werden und in der Lage sind, diese
Zahlungen zu erbringen.
({0})
Es ist auch im Interesse der Gemeinschaft der Steuerzahler, dass solche Forderungen realisiert werden müssen.
Jetzt hat die Kollegin Krellmann eine Frage.
Ich muss nachfragen, damit ich den Menschen in meiner Region, die davon möglicherweise betroffen sind,
keine falschen Informationen weitergebe. Bei mir ist angekommen, dass die Betroffenen die 20 Euro, die sie
formal zu viel erhalten haben, nicht zurückzahlen müssen und einen neuen Bescheid bekommen werden, aus
dem hervorgeht, dass sie zukünftig diese 20 Euro nicht
mehr zahlen müssen. Ist das richtig?
Nein, das ist nicht richtig. Insofern ist es gut, dass Sie
nachgefragt haben. Denn wir wünschen verständlicherweise nicht, dass falsche Informationen weitergegeben
werden.
Die Bescheide werden die Korrektur ab Jahresbeginn
beinhalten, die Rückzahlungen werden auf der Basis des
geltenden Rechts umgesetzt, das heißt, wenn die finanzielle Möglichkeit dazu besteht.
Darf ich noch eine Nachfrage stellen?
Leider nein. Sie müssen sich wieder hinten anstellen.
Jetzt folgt nämlich der Kollege Lehrieder.
Herr Staatssekretär, ich habe eine kurze Ergänzungsfrage: Warum sind vor dem Inkrafttreten des Gesetzes
keine Änderungen in den Bescheiden zur Vermeidung
der Überzahlungen möglich gewesen?
Um der Rechtslage Rechnung zu tragen, hat die Bundesregierung gegenüber der Bundesagentur für Arbeit
ausdrücklich darauf geachtet, dass keine vorzeitigen Reduzierungen in den Bescheiden vorgenommen wurden.
Die nächste Frage stellt Frau Kollegin LösekrugMöller.
Herr Staatssekretär, wir sind beide schon eine Weile
Abgeordnete des Deutschen Bundestages, und Sie haben
schon viele Pflichten im Haushaltsausschuss erfüllt. Ich
erinnere mich an einen Jahreswechsel, zu dem die Große
Koalition aus guten Gründen ebenfalls eine Kindergelderhöhung vorgenommen hatte. Auch seinerzeit waren
Bescheide über Grundsicherung respektive Sozialgeld
ergangen, und man hatte in einer klugen Entscheidung
darauf verzichtet, alle neu zu bescheiden, und zwar nicht
nur wegen des damit verbundenen hohen Verwaltungsaufwandes, sondern auch deshalb, weil man vermuten
musste, dass die Hilfeempfänger in gutem Glauben das
Sozialgeld bzw. die Grundsicherung zur Bestreitung der
Kosten des Alltags verwendet hatten. Können Sie sich
an diesen Vorgang erinnern? Er liegt circa ein Jahr zurück.
Frau Kollegin, ich kann mich daran erinnern. Sie nehmen bewusst auf meine frühere Tätigkeit im Haushaltsausschuss Bezug. Ich kann bestätigen, dass im Jahre
2009 die Übergangsfragen gemäß einer entsprechenden
Regelung so beantwortet wurden, dass keine Rückzahlungen zu erbringen waren. Das hat man diesmal nicht
gemacht.
Jetzt noch eine Frage von Frau Krellmann, bitte.
Ich stelle die Frage: Warum kann die Bundesregierung darauf nicht verzichten? Es liegt doch auf der
Hand, dass die Verwaltungskosten der Überprüfung in
den nächsten vier Jahren, ob die Betreffenden wieder in
Arbeit gekommen sind und gegebenenfalls eine Rückzahlung leisten müssen, höher sind als die Kosten, die
durch einen kompletten Verzicht entstehen. Da Sie schon
einmal auf Rückzahlungen verzichtet haben, schlage ich
vor: Tun Sie es auch diesmal!
Die entscheidende Frage ist in der Tat, wie man hier
grundsätzlich vorgehen möchte. Es ist richtig, dass einmal darauf verzichtet wurde. Aber die Berechnungen haben auch ergeben, dass die Summe, die zurückfließen
wird, weitaus höher sein wird als die Verwaltungsausgaben, die hier getätigt werden müssen. Ich darf auch darauf hinweisen, dass es viele Menschen gibt, die bereit
sind, die erhaltenen Zahlungen, die höher sind als das,
was sie hätten erhalten sollen, freiwillig, also ohne
Zwang, zurückzuzahlen. Dies muss berücksichtigt werden, wenn man sich diesem Fragenkomplex zuwendet.
Nun hat Kollegin Keul von den Grünen eine Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär,
haben Sie bei der Bemessung der Verwaltungskosten
auch die Ausgaben für die Prozesskostenhilfe und zusätzliche Richterstellen bei den Sozialgerichten berücksichtigt? Schließlich haben bereits namhafte Sozialrechtler, unter anderem der ehemalige Präsident des
Deutschen Anwaltvereins, Hartmut Kilger, öffentlich darauf hingewiesen, dass Klagen der Betroffenen, denen
die Gelder aufgedrängt wurden, wegen Entreicherung
zulässig und begründet sein könnten.
Das betrifft die fünfte Dringliche Frage. Herr Präsident, ich weiß nicht, ob ich dazu bereits Stellung nehmen
soll.
Nehmen Sie ruhig Stellung.
Es ist ein völliger Rechtsirrtum, wenn gesagt wird,
dass § 818 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches hier
greife. Dies wird zwar immer wieder behauptet, entspricht aber überhaupt nicht dem Stand der herrschenden
Meinung. Zudem beinhaltet das Sozialrecht hierfür eigene Vorschriften. Es wird kein Bezug auf das BGB und
den Entreicherungsparagrafen genommen. Deswegen
gehen Klagen, die damit begründet werden, ins Leere.
Daher wird sicherlich keine Prozesskostenhilfe, die eine
Vorprüfung verlangt, ob ein Prozess erfolgreich geführt
werden kann, gewährt werden.
Die letzte Zusatzfrage zur Dringlichen Frage 4 stellt
Frau Kollegin Mast.
Herr Staatssekretär, ich habe noch einmal eine Frage
zum Verhältnis von Verwaltungskosten zu den Gesamtkosten, die durch das zu hoch ausbezahlte Kindergeld
entstanden sind, und möchte von Ihnen ganz konkrete
Zahlen wissen. Wie hoch kalkulieren Sie die Verwaltungskosten für diese Rückforderungen, und wie hoch
sind die Gesamtkosten des überzahlten Kindergeldes?
Frau Kollegin, auf diese Frage stellte ich Ihnen gern
schriftlich etwas dar, weil man dazu einige weitere Ausführungen machen muss. Dies kann hier im Augenblick
auf die Schnelle nicht geschehen.
Dann kommen wir zur dringlichen Frage 5 der Kollegin Dr. Höll:
Teilt die Bundesregierung die juristische Schlussfolgerung, dass eine Rückzahlung der nicht korrekt berücksichtigten Kindergelderhöhung in den Hartz-IV-Bescheiden unter
Berufung auf § 818 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches
vermieden werden kann, und, wenn nein, wie soll eine Korrektur der fehlerhaften Bescheide erfolgen ({0})?
Diese Frage nimmt ebenfalls auf die angesprochenen
Presseberichte Bezug, und deswegen muss ich auch
diese Frage bezüglich der korrekten Berücksichtigung
der Kindergelderhöhung mit Nein beantworten.
Die rechtliche Behandlung der Überzahlung hat wie
folgt zu erfolgen - ich habe dies vorhin schon einmal referiert -: Die Bescheide sind für den Monat Januar sowie
für die weiteren Monate, für die die Leistungen unter
Berücksichtigung des alten Kindergeldbetrages ermittelt
wurden, teilweise zu ändern. Dies erfolgt durch einen
Aufhebungsbescheid nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des
Sozialgesetzbuches X. Für die im Januar überzahlten
Leistungen ist ein Erstattungsbescheid nach § 50 Abs. 1
des Sozialgesetzbuches X zu erlassen. Die Regelung des
§ 818 Abs. 3 BGB gilt nicht; das habe ich zuvor schon
ausgeführt. Daher kann die Bundesregierung die in der
Frage wiedergegebene Auffassung nicht teilen.
Nachfrage, Frau Höll.
Herr Staatssekretär, Sie merken ja, dass auch wir Abgeordneten das nicht ganz verstehen. Nun muss man einmal in Rechung stellen, dass es für jemanden, der
Hartz IV bezieht, ebenfalls relativ schwierig sein dürfte,
wenn Aufhebungsbescheid, Erstattungsbescheid usw.
mehrmals hin- und hergehen. Deshalb möchte ich wirklich noch einmal nachfragen.
Die Überzahlung erfolgte im Monat Januar; ab diesem Monat ist sie teilweise wieder aufgehoben. Ich habe
immer noch nicht verstanden, wann es aufgehoben wird
und wann nicht. Es heißt, ab Februar erfolgt keine Überzahlung. Dann bekommen die betroffenen Familien einen Erstattungsbescheid, der über vier Jahre gilt. Das
heißt, in Bezug auf das Geld, das Sie nicht aus den laufenden Lebenshaltungskosten zurückverlangen, sind die
Familien verpflichtet, diese „Überzahlung“ zurückzuzahlen, sobald sich ihre finanzielle Situation verändert
hat.
Angesichts dessen beziffern Sie die Kosten. Wenn
man die Zahlen kennt, wenn man weiß, wie viele Menschen leider langzeitarbeitslos sind und über Jahre im
Hartz-IV-Bezug sind, gerade Alleinerziehende mit Kindern, und wenn man weiß, dass Experten von Bearbeitungskosten pro Fall von etwa 80 Euro ausgehen, wie
kann man dann annehmen, dass Sie nur über einen Monat reden? Um die Kosten hereinzuholen, müssten schon
vier Kinder in der Familie betroffen sein. Sie sagen, dieser ganze bürokratische Aufwand und die Bestrafung der
Familien - letztendlich kommt es bei ihnen so an - lohne
sich und Sie erhöben damit wesentlich mehr als die damit verbundenen Verwaltungskosten. Dies ist mir immer
noch nicht durchschaubar. Vielleicht könnten Sie mir an
dieser Stelle noch einmal helfen.
Ich versuche noch einmal, hier wirklich zu helfen.
Gerne.
Zunächst gehe ich davon aus, dass der Fall so liegt:
Im Januar kam es zu der Überzahlung, im Februar möglicherweise auch noch einmal. Dies ist davon abhängig,
wie schnell die Änderungsbescheide ergehen, also die an
der gesamten Abwicklung beteiligten Personen und Institutionen in der Lage sind, die Änderungen vorzunehmen. Dann erfolgt der Änderungsbescheid. In diesem
Bescheid steht, welcher Zahlbetrag ab Januar gilt und
dass für die Zeit ab Januar der überzahlte Betrag zurückzuleisten ist. Diese Rückleistung kann aber nicht vom
Laufenden genommen werden, sondern sie kann erst
dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn eine andere
Vermögens- und Einkommenssituation besteht. Innerhalb der nächsten vier Jahre wäre eine entsprechende
Maßnahme noch möglich.
Zweite Nachfrage, Frau Höll.
Herr Staatssekretär, vor dem Hintergrund, dass wir
hier im Haus wissen, dass die letzte Kindergelderhöhung
auch die Erhöhung der Kinderfreibeträge beinhaltet hat,
sodass beispielsweise Millionäre mit Kindern pro Monat
40 Euro bekommen, Normalverdiener aber nur 20 Euro
mehr erhalten, frage ich Sie: Sind Sie der Meinung, dass
diese kleine Geldleistung im Januar und eventuell Februar gerade für die Kinder und Jugendlichen, die finanzielle Hilfe nötig haben, zu viel ist und die Bundesregierung deshalb die Mitarbeiter der Bundesagentur für
Arbeit mit der Erstellung von Rückforderungsbescheiden und mit Widerspruchsverfahren, die zu erwarten
sind, beschäftigen muss? Sind Sie der Meinung, dass das
sozialpolitisch richtig ist?
Hier geht es darum, dass eine zu viel erhaltene Leistung wieder zurückgezahlt werden soll. Dies wird in allen vergleichbaren Fällen, die wir im Sozialrecht und
auch im Rentenrecht kennen, ebenfalls so gehandhabt.
Daher ist es auch in diesem Fall ein Gebot rechtsstaatlichen Handelns, dass man an dieser Haltung festhält.
Kollegin Mast hat eine Frage.
Herr Staatssekretär, wir hatten gerade eben die Möglichkeit, uns auf die letzte Legislaturperiode zurückzubesinnen, als auch eine Kindergelderhöhung anstand. Damals waren wir in einer Großen Koalition, und Sie
waren der verantwortliche Haushälter für den Haushalt
der Bundesagentur für Arbeit. Wir haben seinerzeit eine
Übergangsregelung von Januar bis Mai 2009 als politisch sinnvolles Instrument eingeführt. Das wäre die eine
politische Möglichkeit gewesen, wenn man das Problem
hätte lösen wollen. Aber es gibt noch ein weiteres Instrument, mit dem man das Problem politisch lösen könnte,
damit es nicht zu überdimensionierten Verwaltungskosten kommt, nämlich das Instrument der Generalstundung. Meine Frage lautet: Ist Ihnen bekannt, dass es dieses Instrument gibt, und ziehen Sie in Erwägung, das
Problem mit diesem Instrument zu lösen?
Mir ist natürlich bekannt, dass es Stundungsmöglichkeiten gibt. Aber ich sage Ihnen nochmals, dass aufgrund der Tatsache, dass keine Übergangsregelung getroffen wurde, eine eindeutige Festlegung erfolgt ist, wie
der Sachverhalt zu behandeln ist. Nach dieser Festlegung ist die Änderung des Bescheids die Grundlage, und
danach wird verfahren.
Jetzt hat die Kollegin Haßelmann eine Frage.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Herr Staatssekretär,
sicherlich bedauert Ihr Haus, dass Sie keine Übergangsregelung getroffen haben, wie es in der letzten Legislaturperiode bei der Kindergelderhöhung möglich war,
und Sie sich jetzt zu einer solchen Handhabung veranlasst sehen. Meine Frage lautet: Wie hoch schätzen Sie
die monetären Rückflüsse an die BA durch die Einzelfallprüfungen der 1,1 Millionen betroffenen Familien?
Liegen Ihnen darüber Zahlen vor? Haben Sie geprüft,
wie hoch der Aufwand der Einzelfallprüfungen bei
1,1 Millionen Betroffenen ist und ob er in einem angemessenen Verhältnis zu den zu erwartenden Rückflüssen
an die BA steht?
Sie nehmen die Zahl von 1,1 Millionen betroffenen
Bedarfsgemeinschaften, die ich Ihnen auf Ihre Zusatzfrage genannt habe - ich habe Ihre Frage übrigens vollständig beantwortet -, zum Anlass, den Aufwand sehr
stark in den Mittelpunkt zu stellen. Wir haben aber auch
ansonsten in diesem Bereich sehr viele Veränderungen
und müssen entsprechende Bescheide erlassen, sodass
die Dimension nicht so groß ist, dass wir diesen Weg aus
praktischen Gründen nicht gehen könnten.
Es ist möglich, dass man diesen Weg auf sehr unkomplizierte Weise geht, wie in allen anderen Fällen, in denen solche Bescheide erlassen werden müssen. Insoweit
ist es rechtmäßig, dass man dem Bürger das, was zu
Recht beansprucht wird, gibt, dass man aber die Überzahlungen, die erfolgt sind, zurückfordert.
Es gibt zwei weitere Fragewünsche.
Zunächst fragt Frau Dr. Hendricks.
Herr Staatssekretär, es ist nicht so, dass Sie das absichtlich gemacht haben oder dass Sie das haben kommen sehen; das will ich Ihnen zugutehalten. Warum
trauen Sie sich eigentlich nicht, auf dieses Parlament zuzugehen und zu sagen: „Wir haben einen Fehler gemacht, und wir wollen gern die gesetzliche Grundlage
dafür schaffen, die Rückzahlungsbescheide für die Monate Januar und Februar nicht erlassen zu müssen, sodass darauf verzichtet werden kann, dass 1,1 Millionen
Bedarfsgemeinschaften die Kindergelderhöhung - ich
verweise auf die damit verbundene Behördentätigkeit zurückzahlen.“? Wir können sowieso kaum davon ausgehen, dass dieses Geld vollständig zurückgezahlt wird.
Es wäre sicherlich auch in Ihrem Interesse, den Mut aufzubringen, mit diesem Anliegen an das Parlament heranzutreten.
({0})
Frau Kollegin, Sie sind lange genug Mitglied in der
Regierung gewesen, um zu wissen, wie so etwas in einer
Regierung zustande kommt. Wenn die Regierung, nachdem sie abgewogen hat, welche Kosten entstehen werden und wie hoch der Rückfluss sein wird, sich entschieden hat, diesen Weg zu gehen, dann wird sie die
beschlossenen Maßnahmen umsetzen. Das hat nichts mit
der Frage zu tun, ob sich diese Regierung traut, auf das
Parlament zuzugehen.
({0})
Diese Regierung arbeitet mit diesem Parlament sehr
gut zusammen. Wir haben eine Entscheidung getroffen,
und das Ganze ist jetzt in der Umsetzung.
Jetzt fragt die Kollegin Lösekrug-Möller.
Herr Staatssekretär, zunächst möchte ich feststellen:
Es ist immer ehrenwert, zu seinen Entscheidungen zu
stehen. Gelegentlich ist es aber ehrenwerter, zu erkennen, dass sie vielleicht nicht ganz richtig waren. Möglicherweise handelt es sich bei der Fragestellung, über die
wir hier jetzt schon länger diskutieren, genau um den
zweiten Fall. Deshalb bitte ich Sie herzlich, zu überprüfen, ob Sie Ihre Ministerin motivieren können, das zu
tun, was wir im Rechtsstaat vor zwölf Monaten ebenfalls
getan haben. Ich erinnere daran, dass wir damals gemeinsam die Regierung gestellt haben. Sie haben in Ihren Antworten zweimal darauf abgehoben, dass Sie sich
jetzt leider nicht anders verhalten können, weil wir in einem - ich zitiere Sie - „sozialen Rechtsstaat leben“. Ich
frage Sie: In welchem Staat haben wir vor zwölf Monaten gelebt? Könnte diese Debatte dazu führen, dass es
ein Einsehen gibt? Hier geht es nämlich um einen Personenkreis, für den 20 Euro im Monat wirklich eine Menge
Ich kann hier nur wiederholen, dass die Regierung
eine Entscheidung getroffen hat und dass sie dies nach
intensiven Überlegungen getan hat. In der jetzigen Situation müssen wir sehen, dass wir dort sparen, wo es möglich ist, und dass wir kein zusätzliches Geld ausgeben. In
diesem Fall ist es eben so, dass es zu Überzahlungen gekommen ist. Diese Überzahlungen müssen im Rahmen
des Möglichen zurückgeführt werden.
Ich betone, dass den Betroffenen von ihren laufenden
Einnahmen zunächst nichts weggenommen wird, dass es
vielmehr nur dann zu einer Rückforderung kommen
kann, wenn wieder eine andere Einkommenssituation
besteht. Tun Sie daher bitte nicht so, als nähme man den
Leuten aktuell Geld weg. Man fordert es dann zurück,
wenn die finanziellen Voraussetzungen des Einzelnen,
also seine Leistungsfähigkeit, dies zulassen.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Wir sind am Ende
der Behandlung der Dringlichen Fragen.
Frau Bundeskanzlerin, ich begrüße Sie. Da der Tagesordnungspunkt „Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin“ pünktlich um 15 Uhr beginnen soll, unterbreche ich die Sitzung für wenige Sekunden.
({0})
Ich eröffne die kurz unterbrochene Sitzung wieder
und rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zur internationalen Afghanistan-Konferenz am
28. Januar 2010 in London
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ende
2001 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, deutsche
Soldaten im Rahmen des internationalen NATO-Einsatzes auf der Grundlage einer Resolution des UN-Sicherheitsrates nach Afghanistan zu entsenden. Das war eine
der schwierigsten Entscheidungen, die die damalige
Bundesregierung und der Deutsche Bundestag im ganzen letzten Jahrzehnt zu treffen hatten. Leicht gemacht
hat es sich damals niemand. Mitgetragen haben diese
Entscheidung am Ende die allermeisten in diesem Hohen
Haus, und zwar bis heute. Dafür danke ich Ihnen im Namen der Bundesregierung und unserer Soldaten ganz
herzlich.
({0})
Nach den Anschlägen des 11. September galt es mitzuhelfen, dem internationalen Terrorismus die Rückkehr
an seine wichtigste Heimstatt zu verwehren. Es galt mitzuhelfen, Afghanistan den Weg zurück zu Frieden und
Stabilität zu öffnen. Dieser Auftrag hat an seiner Bedeutung und seiner Gültigkeit nichts verloren. Dennoch:
Heute, gut acht Jahre später, ist die Bilanz dieses Einsatzes gemischt.
({1})
Es gab manche Fortschritte und zu viele Rückschläge.
Außer Zweifel steht: Die internationale Staatengemeinschaft hat das Ziel ihres Einsatzes noch nicht erreicht. Deshalb müssen wir handeln. Frankreich, Großbritannien und Deutschland haben dazu im September
letzten Jahres, also noch zu Zeiten der damaligen Bundesregierung der Großen Koalition, die Initiative ergriffen und eine internationale Afghanistan-Konferenz angestoßen. Sie findet morgen in London statt. Unser
Bundesaußenminister Guido Westerwelle wird Deutschland dort vertreten. Ich möchte ihm von diesem Ort aus
ausdrücklich für die hervorragende Vorbereitung der
Konferenz danken.
({2})
Danken möchte ich genauso dem Verteidigungsminister,
dem Innenminister und dem Entwicklungshilfeminister.
({3})
In London wird die internationale Staatengemeinschaft beraten, wie die Aufgabe, in Afghanistan für Sicherheit und Stabilität zu sorgen, in den nächsten Jahren
Schritt für Schritt in die Hände der Afghanen gelegt werden kann.
Meine Damen und Herren, in London geht es also um
nichts weniger als um eine Weichenstellung. Es geht um
eine Weichenstellung, die nach meiner Überzeugung
über Erfolg oder Misserfolg des Einsatzes in Afghanistan entscheiden wird. In einem Satz: Es geht um die Entwicklung einer Strategie zur Übergabe in Verantwortung, und zwar einer gemeinsamen internationalen
Strategie. Übergabe in Verantwortung - daran müssen
wir alles ausrichten: die Zahl der Soldaten und Ausbilder, die Grundsätze des Einsatzes, die regionalen Zuständigkeiten.
In diesem Sinne hat die Bundesregierung ein Paket
für eine Weiterentwicklung unseres Afghanistan-Einsatzes geschnürt. Gestern habe ich gemeinsam mit den zuständigen Ministern die Partei- und Fraktionsvorsitzenden der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien
darüber unterrichtet. Heute nun möchte ich Ihnen in diesem Hohen Haus unser Konzept vorstellen. Es umfasst
fünf Punkte:
Erstens. Wir werden die Ausbildung der afghanischen Armee stark forcieren. Sie wird nicht nur wie bisher in den Camps erfolgen; nein, in Zukunft sollen unsere Soldaten gemeinsam mit ihren afghanischen
Kameraden für den Schutz der Bevölkerung in der Nordregion sorgen. Diese Aufgabe wird künftig im Zentrum
unseres Engagements stehen. Dazu wollen wir - natürlich vorbehaltlich der Zustimmung des Deutschen Bundestages - 500 Soldatinnen und Soldaten zusätzlich nach
Afghanistan entsenden. Sie sind für Ausbildung, für Begleitung, für den Schutz der Bevölkerung sowie für Führungsleistungen vorgesehen. Durch Umschichtung der
Aufgaben im bestehenden Kontingent und durch die zusätzlichen Soldaten können statt heute 280 in Zukunft
1 400 Soldaten in die Ausbildung mit einbezogen werden. Das Kommando in der Region Nord soll auch in
Zukunft von Deutschland geführt werden. Weitere
350 Soldaten werden als flexibel eingesetzte Reserve benötigt, insbesondere um auf besondere Situationen, zum
Beispiel bei der Absicherung der Parlamentswahlen im
Herbst, angemessen reagieren zu können. Sie werden
nur - das ist neu - nach Befassung des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages eingesetzt, und zwar jeweils zeitlich
befristet und auf die Aufgabe ausgerichtet.
Zweitens. Wir werden die Zahl der deutschen Polizeiausbilder in unserem bilateralen Projekt in diesem
Jahr von 123 auf 200 und somit deutlich erhöhen. Damit
können wir bis 2012 etwa ein Drittel der neuen Kräfte
ausbilden, die laut Aufwuchsplan in die afghanische Polizei aufgenommen werden sollen. Wir werden dabei nicht
nur mehr afghanische Polizisten, sondern gezielt auch
afghanische Polizeitrainer ausbilden und zusätzliche Polizeiinfrastruktur aufbauen. Darüber hinaus werden wir
auch unseren Beitrag zur Europäischen Polizeimission,
EUPOL, kurzfristig erhöhen, und zwar von 45 auf
60 Polizeiexperten. Von 2002 bis 2009 haben wir bereits
circa 30 000 afghanische Polizisten aus- und fortgebildet. 30 000 von insgesamt 97 000 afghanischen Polizisten - dieser Beitrag Deutschlands kann sich wirklich sehen lassen. Er ist in seiner Bedeutung gar nicht hoch
genug einzuschätzen.
({4})
Genau diesen Weg - das haben wir heute Morgen auch
mit dem Präsidenten Karzai besprochen - werden wir
fortsetzen.
Drittens. Die Bundesregierung plant eine Entwicklungsoffensive mit einem Schwerpunkt in unserem Verantwortungsbereich, also im Norden Afghanistans. Unser
finanzielles Engagement dazu wird nahezu verdoppelt.
Konkret heißt das: Vorbehaltlich der Zustimmung der
Haushaltsgremien des Deutschen Bundestages werden
wir bis 2013 jährlich statt heute 220 Millionen Euro
430 Millionen Euro in den zivilen Wiederaufbau investieren.
({5})
Damit wollen wir ganz konkrete Ziele erreichen, zum
Beispiel für 3 Millionen Menschen mehr Einkommen
und Beschäftigung schaffen. Das sind drei Viertel der
Bevölkerung in den Schwerpunktprovinzen unseres Verantwortungsbereichs. Wir werden mit diesen Mitteln
weitere Straßen bauen - insgesamt 700 Kilometer -, die
ganzjährig befahrbar sind. Wir werden neue Lehrer ausbilden. Und wir werden zusätzlich 500 000 Schülern einen Schulbesuch ermöglichen. Das heißt nichts anderes,
als dass statt heute 25 Prozent der Kinder zukünftig
60 Prozent der Kinder Zugang zu Schulen haben werden.
({6})
Wir verpflichten uns als Bundesregierung, dem Parlament über die erreichten Fortschritte regelmäßig Bericht
zu erstatten.
Viertens. Deutschland beabsichtigt, für den neuen internationalen Reintegrationsfonds jährlich 10 Millionen Euro für die kommenden fünf Jahre, also insgesamt
50 Millionen Euro, zur Verfügung zu stellen. Dafür müssen natürlich die Voraussetzungen stimmen. Die Risiken
eines solchen Fonds liegen ohne jeden Zweifel auf der
Hand, aber ebenso die Chancen. Denn wenn es uns gelingt, mit einem solchen Integrationsfonds mehr Kräfte
in Afghanistan zu erreichen, die die Verfassung als
Grundlage des politischen Handelns akzeptieren, und regierungsfeindliche Kämpfer zu motivieren, die Waffen
niederzulegen und die Gesetze zu respektieren, dann
können wir auf diesem Wege Anreize geben, damit diese
Menschen auch am Aufbau des Landes mitwirken.
Präsident Karzai hat in seiner Inaugurationsrede die
Reintegration zu einem Schwerpunkt der Arbeit der
neuen Regierung gemacht. Er hat dies auch bei seinen
Gesprächen gestern Abend und heute Morgen hier in
Berlin noch einmal ganz deutlich unterstrichen. Wir unterstützen diesen Ansatz ausdrücklich.
Fünftens. In London müssen ganz konkrete Ziele vereinbart werden, damit wir gemeinsam mit der afghanischen Regierung präzise überprüfen können, wie weit
wir auf dem Weg zu Sicherheit und Stabilität vorangekommen sind. Dazu gehört vor allem eine klare Verabredung, welchen Umfang die afghanischen Sicherheitskräfte in den Jahren 2010 und 2011 erreichen sollen.
Wir gehen von insgesamt gut 300 000 Sicherheitskräften
aus; das ist die Summe aus Soldaten und Polizisten. Die
in London zu vereinbarenden Zielmarken sollten den
endgültigen Umfang der afghanischen Sicherheitskräfte
darstellen. Dann können wir auch den tatsächlichen Bedarf feststellen und die notwendigen Maßnahmen zur
Ausbildung und Ausrüstung ergreifen.
Zugleich muss uns die afghanische Regierung einen
glaubwürdigen Entwicklungsplan vorlegen und Bereitschaft zu strukturellen Reformen erkennen lassen, um
gute Regierungsführung auch auf zentraler und lokaler
Ebene zu stärken. Damit es keine Missverständnisse
gibt: Wir haben keine Illusionen hinsichtlich bestimmter
Demokratievorstellungen nach unseren Kriterien. Solche
Vorstellungen wären angesichts der Geschichte und Tradition des Landes wohl auch vermessen. Dennoch müssen wir Mindestanforderungen an die Effizienz und die
Legitimität der Institutionen stellen. Korruption muss
wirksamer bekämpft werden. Wahlen müssen nach demokratischen Standards ablaufen. Drogenanbau muss intensiver bekämpft werden, und regierungsfeindliche
Kräfte dürfen keinen weiteren Unterschlupf außerhalb
Afghanistans finden.
({7})
Um das zuletzt Genannte zu erreichen, muss der Dialog zwischen Afghanistan und den Partnerländern, ganz
besonders Pakistan, dringend intensiviert werden. Ohne
eine verbesserte regionale Kooperation, insbesondere
zwischen Afghanistan und Pakistan, wird es in Afghanistan keinen Frieden geben.
Meine Damen und Herren, das sind die fünf Punkte,
mit denen Deutschland morgen in die Afghanistan-Konferenz gehen wird. Sie zeigen das Leitmotiv unseres
Handelns: Ohne Sicherheit kann es nicht gehen; aber
dauerhaft stabilisieren kann Afghanistan nur eine politische Strategie. Ziviler Aufbau und Entwicklung, militärische Ausbildung und Schutz der Bevölkerung, das geht
für uns Hand in Hand. Unser Konzept ist eng mit unseren wichtigsten Partnern abgestimmt: mit Frankreich,
mit den Vereinigten Staaten von Amerika genauso wie
mit Großbritannien.
({8})
Die internationale Staatengemeinschaft hat eine klare
Vorstellung von Sinn und Zweck der Londoner Konferenz. London ist weder eine Geber- noch eine Truppenstellerkonferenz; London ist eine Strategiekonferenz.
Ihr Ziel ist es, die Voraussetzungen für die Übergabe in
Verantwortung zu schaffen, und zwar gemeinsam mit den
afghanischen Autoritäten. Wenn die Umsetzung dieser
Strategie gelingt, strebt Deutschland unter den jetzt bekannten Voraussetzungen an, die Übergabe in Verantwortung in einzelnen Distrikten in Nordafghanistan bereits
im ersten Halbjahr 2011 einzuleiten. Dann beabsichtigt
Deutschland, einzelne Fähigkeiten, die nicht mehr benötigt werden, ab Ende 2011 zu reduzieren. Dann können ab
diesem Zeitpunkt gegebenenfalls auch der Gesamtumfang unserer Truppen und die Mandatsobergrenze gesenkt werden.
Wir unterstützen das Ziel der afghanischen Regierung, bis 2014 die Verantwortung für die Sicherheit zu
übernehmen. Aber ich sage an dieser Stelle klar und
deutlich: Ein endgültiges Abzugsdatum nenne ich ausdrücklich nicht.
({9})
Das hielte ich für kontraproduktiv und für falsch. Mehr
noch: Gerade wer tatsächlich möchte, dass der Einsatz
der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan
nicht unendlich weitergeht, sondern in absehbarer Zeit
abgeschlossen werden kann, und zwar erfolgreich, der
darf dem manchmal vielleicht emotional ja nachvollziehbaren Impuls, ein solches Abzugsdatum zu nennen,
nicht nachgeben. Das ist meine tiefe Überzeugung.
({10})
Deshalb wird die Bundesregierung das auch nicht tun.
Dabei kenne ich die kritischen Fragen so gut wie Sie
alle: Engagieren wir uns nicht schon genug in Afghanistan? Lassen wir uns zu sehr von anderen drängen? Können wir dort überhaupt erfolgreich sein? Ich weiß sehr
gut, dass gerade die Erhöhung der Zahl der Soldaten von
niemandem mit leichtem Herzen beschlossen werden
kann. Ich weiß sehr gut, dass wir sie in einen belastenden, in einen gefährlichen Einsatz schicken. Deshalb
sind wir es ihnen, den Soldaten, den Polizisten, den zivilen Aufbauhelfern, die wir in diesen gefährlichen Einsatz schicken, ja, wir sind es der gesamten deutschen
Öffentlichkeit schuldig, hier und heute ehrlich Rechenschaft abzulegen - Rechenschaft über das, was erreicht
wurde, und über das, was nicht erreicht wurde.
Ja, es ist wahr: Der Einsatz dauert länger, und er ist
schwieriger, als wir zu seinem Beginn vor gut acht Jahren gedacht haben. Ja, es hat schwere Rückschläge gegeben, die wir so nicht vorausgesehen haben. Und ja, der
Einsatz fordert Menschenleben bei unseren Soldaten, bei
den Polizisten, bei den zivilen Helfern und in der afghanischen Bevölkerung, Menschenleben, deren Verlust wir
inständig gehofft haben nicht beklagen zu müssen. Es
gibt Menschen, die auch infolge deutschen Handelns ihr
Leben verloren haben oder verletzt wurden, wie dies
beim Luftschlag von Kunduz am 4. September des vergangenen Jahres geschehen ist. Die Bundesregierung bedauert dies zutiefst. Die Bundesregierung trauert um jedes unschuldige Opfer.
Wir sehen nicht darüber hinweg: Es herrscht immer
noch kein Frieden in diesem leidgeprüften Land. Zerstörung und Tod sind tägliche, bittere Erfahrungen. Unsere
Soldaten erleben vor Ort hautnah, was es bedeutet, wenn
wir von kriegsähnlichen Zuständen sprechen. Das sollten wir, die hier im fernen, sicheren Berlin debattieren,
in keiner Sekunde vergessen. Wir müssen uns der Größe
der Aufgabe bewusst sein. Doch sollte uns die Größe
dieser Aufgabe entmutigen? Sollte sie etwas daran ändern, dem internationalen Terrorismus entschlossen entgegenzutreten und alles zu tun, um einen neuen
11. September, ein neues Madrid, ein neues London zu
verhindern? Ich sage ganz klar: Nein. Die Aufgabe war
2001 richtig, und sie ist es heute genauso.
({11})
Manche meinen, Afghanistan sei ein unverständliches
Land, weit weg, getrennt von uns durch andere Kulturkreise. Ja, das mag so sein. Dieses Land mag vielleicht
tatsächlich weit weg sein, aber was auf dem Spiel steht,
das ist ganz und gar nicht weit weg. Wir dürfen nie die
Umstände vergessen, die alle Bundesregierungen seit
Ende 2001 bis heute zum Afghanistan-Einsatz bewogen
haben: dass das von Taliban und al-Qaida beherrschte
Afghanistan die Brutstätte des Terrors vom 11. September 2001 war. Ihm folgten weitere Anschläge. Deshalb
galt damals und gilt heute: Der Einsatz der Bundeswehr
im Rahmen des internationalen NATO-Einsatzes war
und ist in dringendem Interesse der Sicherheit unseres
Landes.
({12})
Ich ergänze ganz ausdrücklich: Eine Haltung nach
dem Motto „Sollen doch die anderen, die Amerikaner,
die Engländer, die Kohlen aus dem Feuer holen“ ist für
mich als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und für die gesamte Bundesregierung unverantwortbar.
({13})
Deshalb wird es in meiner Regierungsverantwortung einen deutschen Alleingang niemals geben.
({14})
Wir haben diesen Einsatz gemeinsam beschlossen
- in den Vereinten Nationen, in der NATO -, und wir
werden ihn mit überarbeiteter Strategie gemeinsam fortsetzen. Wir wollen alles daransetzen, ihn gemeinsam
zum Erfolg zu führen. Deswegen wäre ein einseitiger
Abzug der Bundeswehr kein Beitrag zur Übergabe in
Verantwortung, sondern ein Beispiel für Aufgabe in Verantwortungslosigkeit.
({15})
Das gilt umso mehr, als doch trotz aller Rückschläge
auch Fortschritte zu verzeichnen sind: Gingen 2001 nur
1 Million Kinder von insgesamt rund 10 Millionen
afghanischen Kindern zur Schule, davon kein einziges
Mädchen, so waren es 2009 immerhin schon 7 Millionen
Kinder, davon ein gutes Drittel Mädchen. Oder die Gesundheitsversorgung: Sie hat sich deutlich verbessert;
die Kindersterblichkeit ist um 50 Prozent gesunken.
Oder die legale Wirtschaft: Der IWF hat in diesem Bereich für das Jahr 2009 ein Wachstum von mehr als
15 Prozent festgestellt. Oder die Infrastruktur: Alle Provinzen in Nordafghanistan sind inzwischen über gut ausgebaute Straßen mit Kabul und den Nachbarstaaten verbunden; 900 000 Menschen im Norden haben oft zum
ersten Mal überhaupt Zugang zu Strom und Wasser.
Noch einmal, meine Damen und Herren: Niemand in
diesem Haus will hier und heute über die Probleme und
Rückschläge den Mantel des Schweigens legen, ich jedenfalls nicht. Es steht außer Zweifel: Die internationale
Staatengemeinschaft hat eine Bewährungsprobe zu bestehen. Es ist auch eine Bewährungsprobe für die drei
Grundprinzipien, die die deutsche Außenpolitik in der
Vergangenheit immer geleitet haben und sie weiter leiten
werden - der Dienst für den Frieden, der wehrhafte
Rechtsstaat, feste Bündnisse und Partnerschaften. Alle
drei Grundsätze galten und gelten immer im Zusammenhang. Die Verteidigung der Menschenrechte hat ihren
Preis, und die unserer Sicherheit auch - das ist wahr -,
aber ich bin weder bereit, das eine, noch bin ich bereit,
das andere aufzugeben. Beides zusammen trägt unser
Land.
({16})
Genau das ist doch der Grund, warum seit der Konferenz
auf dem Petersberg alle Bundesregierungen zu dieser
Verantwortung Deutschlands in Afghanistan gestanden haben. Darum geht es auch heute.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, wenn es
eine Aufgabe gibt, die zu wichtig ist, als dass parteipolitische Interessen den Ausschlag geben dürfen, dann ist
es genau diese Aufgabe.
({17})
In diesem Sinne bitte ich das ganze Hohe Haus um Unterstützung, damit wir unserer Verantwortung für
Deutschland und für Afghanistan gerecht werden können.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich eröffne die Aussprache.
Erster Redner ist der Kollege Sigmar Gabriel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen
und Herren! Ich finde es nicht ganz einfach, an einem
Tag wie heute sofort wieder in den politischen Alltag zurückzukehren. Ich gebe zu, dass mir selbst die notwendige sachliche Auseinandersetzung zwischen Regierung
und Opposition angesichts der, wie ich jedenfalls finde,
sehr bewegenden Gedenkstunde für die Schoah und die
Befreiung von Auschwitz hier im Parlament schwerfällt.
Im Namen der SPD und der SPD-Fraktion will ich dem
Präsidenten und allen, die daran beteiligt waren, ausdrücklich für diese Gedenkstunde danken.
({0})
Aber vielleicht ist gerade dieser Tag richtig, um
unsere Bereitschaft, auch militärische Mittel bei der Bekämpfung von Terror, Diktatur und Bürgerkrieg einzusetzen, neu zu begründen; denn das ist dringend notwendig. Nicht zuletzt wegen unserer deutschen Geschichte
gibt es in unserem Land eine große Skepsis und Ablehnung gegenüber der Verwicklung Deutschlands in bewaffnete Auseinandersetzungen. Eigentlich ist das auch
gut so. Trotzdem haben wir uns vor rund neun Jahren
entschlossen, an einer solchen Auseinandersetzung nicht
nur mit zivilem Wiederaufbau, sondern auch mit bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr teilzunehmen. Wir wissen: Dieser Einsatz war von Anfang an umstritten, und
die Skepsis gegenüber und die Ablehnung dieses Einsatzes sind bis zum heutigen Tag gewachsen. Natürlich
führen die Anschläge, die Korruption, die Menschenrechtsverletzungen - auch der Regierung Karzai -, die
Wahlfälschungen und nicht zuletzt das Bombardement
von Kunduz zu Verunsicherungen und zur Ablehnung
des Einsatzes.
Was immer wir in einigen Wochen hier im Haus beschließen werden, wir Parlamentarier, die Politikerinnen
und Politiker in Deutschland, aber noch mehr unsere
Soldatinnen und Soldaten sind in unserer Demokratie
auf die Unterstützung unserer Bevölkerung angewiesen. Deshalb müssen wir vor allen Dingen unsere früheren Entscheidungen, unsere heutigen Diskussionen und
Beratungen und unsere künftigen Entscheidungen erneut
begründen, erklären und öffentlich zur Diskussion stellen. Wir und unsere Soldatinnen und Soldaten dürfen in
unserer Bevölkerung nicht noch mehr Rückhalt für den
Afghanistan-Einsatz verlieren.
({1})
Dafür gibt es zwei Voraussetzungen. Die erste und für
mich wichtigste Voraussetzung ist: Wir müssen aufhören, mit dem Begriff „Krieg“ oder „kriegerische Auseinandersetzung“ so leichtfertig umzugehen wie in den
letzten Monaten.
({2})
Jeder hier im Saal kann verstehen, dass die Soldatinnen
und Soldaten in Afghanistan und auch unsere Bevölkerung fragen: Was, bitte, ist das, was wir dort erleben, anderes als ein Krieg? Wer Zustimmung in der Bevölkerung erreichen will, muss der Versuchung widerstehen,
leichtfertig mit dem Wort „Krieg“ umzugehen, nur um
den Eindruck zu erwecken, er verstehe die Menschen
und Soldaten. Wer Zustimmung will, der muss erklären,
um was es in Afghanistan wirklich geht und worin der
Unterschied zum tatsächlichen Krieg im Irak besteht.
({3})
Es geht bei der Frage, ob wir das, was in Afghanistan
stattfindet, Krieg nennen oder nicht, nicht nur um eine
juristische Definition, wie der Bundesverteidigungsminister gelegentlich meint. Es geht im Kern um unser
Verständnis vom Zusammenleben der Völker, vom Völkerrecht und um die Zivilisierung und strikte Bindung
militärischer Operationen an Entscheidungen der
Vereinten Nationen. Niemand außer den Vereinten Nationen soll nach unserer Auffassung das Recht haben,
militärische Mittel einzufordern, um Menschen vor Diktatoren, Terroristen oder Völkermördern zu schützen.
({4})
Wer für diese Zivilisierung militärischer Operationen
eintritt, wer für diese strikte Bindung streitet und sie
Schritt für Schritt fester in der Völkergemeinschaft verankern will, der darf das, was in Afghanistan stattfindet,
nicht in die Nähe eines Krieges rücken. Denn die Vereinten Nationen führen dort keinen Krieg, und unsere Soldatinnen und Soldaten sind dort keine Krieger.
({5})
Wer die Zustimmung unserer Bevölkerung zu dieser
militärischen Beteiligung oder zu künftigen militärischen Beteiligungen Deutschlands auf Grundlage von
Entscheidungen der UN gewinnen will, der darf diese
UN-Mission eben nicht in die Nähe des Krieges rücken.
Wenn die Vereinten Nationen militärische Hilfe anfordern, tun sie dies gerade in Afghanistan nicht zum
Zwecke des Krieges. Im UN-Einsatz sind Soldatinnen
und Soldaten, jedenfalls nach unserem Verständnis, eher
so etwas wie Weltpolizisten dort, wo die normalen polizeilichen Mittel versagen und nicht wirken.
({6})
- Ich verstehe, dass Sie an dieser Stelle eine andere Haltung haben. Ich habe sie immer respektiert, weil ich verstanden habe, dass eine Partei, deren Bekenntnis zu ihren
Vorläuferorganisationen jeden Krieg der Sowjetunion
gerechtfertigt hat, jetzt ausschließlich pazifistisch sein
will. Ich verstehe, dass das der Grund für Ihre pazifistische Haltung ist.
({7})
- Ich weiß nicht, warum Sie Zwischenrufe machen. Endlich äußert mal jemand Verständnis für Sie, und dann
sind Sie damit auch nicht einverstanden.
({8})
Wer generell Nein sagt, wie es zum Beispiel Ihre Partei tut, der hilft letztlich denen, die diese strikte völkerrechtliche Bindung von militärischer Gewalt an ein
Mandat der Vereinten Nationen noch nie gewollt haben
und diesen Fortschritt im Völkerrecht politisch bekämpfen. Sie helfen damit denjenigen, die entweder weiter zur
Privatisierung militärischer Gewalt beitragen wollen
oder nationale Alleingänge beim Einsatz militärischer
Interventionen für richtig halten. Das ist nicht unser
Weg.
({9})
Wir können nicht die Einhaltung des Völkerrechts einfordern und dann nicht bereit sein, dem Völkerrecht
auch Nachdruck zu verleihen.
Das eine ist so falsch wie das andere: von Krieg zu reden oder kriegerische Einsätze zu beschwören, wo es
um den Schutz vor Krieg, Bürgerkrieg und Terrorismus
geht, oder die hehren Grundsätze zur Stärkung des Völkerrechts und der UN zu beschweren, ihr aber die Mittel
zu verweigern, das Völkerrecht auch durchzusetzen. Wer
von Krieg redet, wird an Zustimmung für den Einsatz in
Afghanistan verlieren und missachtet, Herr Bundesverteidigungsminister, die Leistungen, die unsere Soldatinnen und Soldaten dort erbringen, außerordentlich.
({10})
Es lässt sich leicht im Deutschen Bundestag darlegen,
dass der Schutz der Zivilisten bei jeder militärischen Aktion Vorrang haben muss. Dies umzusetzen, ist aber außerordentlich schwer. Dennoch hat es die Bundeswehr,
haben es die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr,
bis auf den Einsatz in Kunduz, in Afghanistan in hervorragender Weise getan.
({11})
Wir brauchen keine Militarisierung der Sprache, um die
Menschen psychologisch an mehr zivile Opfer zu gewöhnen, sondern wir brauchen die deutliche Distanz zu
Forderungen nach robusteren Mandaten und kriegerischen Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan.
({12})
Herr zu Guttenberg, niemand hat in den letzten Wochen so viel über den deutschen Afghanistan-Einsatz geredet wie Sie. Man konnte den Eindruck gewinnen, als
ob der Verteidigungsminister und seine Militärs die deutsche Außenpolitik definieren und nicht der nach der Verfassung zuständige Außenminister. Wir haben uns die
ganze Zeit gefragt: Was sind denn nun die Konsequenzen aus dieser Form von Kriegssemantik, die den Verteidigungsminister von Talkshow zu Talkshow trug? Herr
zu Guttenberg, noch am 9. Januar dieses Jahres haben
Sie erklärt, dass dem Afghanistan-Einsatz die Klarheit
eines nicht internationalen Krieges fehle. Aus Ihrer Sicht
fehlt es der Bundeswehr also an einer sicheren rechtlichen Grundlage für diesen Einsatz; damals ging es Ihnen
ja genau darum. Ich frage Sie: Wenn es wirklich Ihre
Ansicht ist, dass für die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan keine sichere Rechtsgrundlage vorhanden ist,
warum haben Sie dem Deutschen Bundestag dann einen
Monat zuvor ein Mandat vorgelegt, das genau diese Forderungen von Ihnen nicht enthalten hat? Warum?
({13})
Herr zu Guttenberg, wenn Sie dem Bundestag schon im
Dezember 2009 ein aus Ihrer Sicht falsches Mandat vorgelegt haben, warum bringen Sie nicht jetzt eine Vorlage, die eine andere rechtliche Grundlage für den Afghanistan-Einsatz vorsieht, in den Bundestag ein? Kein
Wort davon in der Regierungserklärung der Kanzlerin.
Herr zu Guttenberg, Sie haben sich in den letzten Monaten, je nach öffentlicher Stimmung, mal vor die Soldaten gestellt und sich mal hinter ihnen versteckt. Mal
Kampftruppen, mal keine, mal waren die Bomben auf
Kunduz gerechtfertigt, dann wieder nicht, mal sollten
wir Krieg führen, jetzt wohl eher doch nicht - immer
schön hart am Wind der jeweiligen Medienlage und immer im Konjunktiv; denn festlegen wollten Sie sich nie.
({14})
Wir verstehen jetzt besser, was der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Schneiderhan, Ihnen vorgehalten hat, als er sagte, Sie seien jemand, der
„vorschnell formuliert“.
Von all den Forderungen nach robusteren Mandaten,
von dem Bekenntnis zum Krieg und zu mehr Kampftruppen bleibt nun nichts übrig. Wir begrüßen diesen
Wechsel. Wir haben den Eindruck, es handelt sich nicht
so sehr um einen Strategiewechsel in Afghanistan als
vielmehr um einen Strategiewechsel in Ihrer eigenen
Bundesregierung. Wir begrüßen das ausdrücklich, Frau
Dr. Merkel.
({15})
Wir begrüßen in diesem Zusammenhang auch, dass
sich die USA endlich der schon länger existierenden
deutschen Strategie angeschlossen haben: Endlich steht
auch bei den US-Truppen der Schutz der Zivilbevölkerung im Mittelpunkt aller Einsätze. Das ist ein Erfolg des
Wechsels von Bush zu Barack Obama, und es ist ein
Wechsel zu einer Strategie, die den Auftrag der Bundeswehr schon immer bestimmt hat.
Was wir nicht begrüßen, Frau Bundeskanzlerin, ist,
dass Sie uns Ihre Überlegungen nach wochenlangem
Schweigen erst gestern, kurz vor der Londoner Afghanistan-Konferenz, vorgelegt haben.
({16})
Wir mussten heute lesen, dass Ihr Außenminister die
Verbündeten, beispielsweise die amerikanische Außenministerin, erst gestern, kurz vor Beginn der Londoner
Afghanistan-Konferenz, sozusagen mit einem Last-Minute-Ticket, über die neue Afghanistan-Strategie informiert hat.
({17})
So gewinnt man keine Verbündeten für die eigene Strategie. Da muss man sich nicht wundern, wenn man am
Ende am Katzentisch sitzt.
({18})
Die zweite wichtige Voraussetzung dafür, dass die
Zustimmung für eine deutsche Beteiligung am Afghanistan-Einsatz wieder wächst, ist, dass wir bei der Stabilisierung in Afghanistan realistische Ziele haben und sie
mit einer Abzugsperspektive auch für die deutschen
Soldatinnen und Soldaten verbinden. Das steht im Mittelpunkt der Forderungen und der Haltung der SPD. Wir
wollen einen realistischen Fahrplan für den Abzug unserer Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan. Wir wollen die Schritte dieses Abzugsfahrplans verbinden mit
einer ebenso realistischen Perspektive für die Gewährleistung der Sicherheit in Afghanistan durch afghanische
Sicherheitskräfte und wachsende Investitionen in den zivilen Aufbau des Landes. Das steht im Zentrum unserer
Überlegungen. Man findet in Ihrer Regierungserklärung
eine Menge, bei der man den Eindruck haben kann, dass
das auch bei Ihren Überlegungen im Mittelpunkt steht.
Für die SPD ist diese Haltung nicht neu. Es gab bereits früher Vorstöße, aus der Erstarrung der Auseinandersetzung in Afghanistan herauszukommen und die Logik der bewaffneten Konfrontation nach und nach
aufzubrechen. Als der damalige Vorsitzende der SPD,
Kurt Beck, die innerafghanische Versöhnung unter Einbeziehung moderater Taliban gefordert hat, nannte der
damalige außenpolitische Sprecher der Union, Herr von
Klaeden, diesen Ansatz erbärmlich.
({19})
Der damals ebenfalls für Außenpolitik zuständige Herr
zu Guttenberg sagte zu diesem Vorschlag, dass niemand
je einen vernünftigen Taliban getroffen habe. Inzwischen
vermittelt er den Eindruck, er sei der Erfinder der Idee,
Gesprächsbereitschaft gegenüber allen Konfliktparteien
in Afghanistan zu zeigen.
({20})
Überhaupt ist es so, dass die konservative Regierung
bis zu der heutigen Regierungserklärung der Kanzlerin
einen langen Weg hinter sich hat. Im Dezember erklärte
der deutsche Außenminister Westerwelle, er wolle nicht
zu einer reinen Truppenstellerkonferenz fahren. Ich habe
das nicht als Angriff auf die USA oder andere Verbündete verstanden, Herr Westerwelle. Mein Eindruck war,
Sie wollten damit dafür sorgen, dass in Ihrer eigenen
Bundesregierung die Stimmen, die nach einer Aufstockung der Kampftruppen rufen, endlich ein Ende haben.
In dieser Hinsicht hat der Sicherheitsexperte der CSU,
der Kollege Uhl, vorgedacht, als er im Dezember ein
deutlich robusteres Afghanistan-Mandat gefordert hat.
Genauso hat sich der Stellvertreter von Frau Merkel,
Herr Wulff, geäußert. Und heute? Heute erklärt die Bundeskanzlerin im Namen der Bundesregierung: Es werden
keine zusätzlichen Kampftruppen nach Afghanistan geschickt;
({21})
stattdessen werden innerhalb des Kontingentes Kampfeinheiten zugunsten von mehr Ausbildung umgeschichtet. Zum guten Schluss erklären Sie, dass Sie selbstverständlich alles dafür tun wollen, dass die afghanische Regierung dabei unterstützt wird, spätestens ab 2015 keine
internationalen Streitkräfte mehr an bewaffneten Einsätzen zu beteiligen, also auch nicht die Bundeswehr.
Frau Bundeskanzlerin, wir halten die Strategie, die Sie
damit betreiben, für die richtige Strategie, wenn es darum
geht, realistische Abzugsperspektiven bis 2015 voranzutreiben. Wir wollen Sie dabei unterstützen, aber wir sind
nicht sicher, ob die Strategie tatsächlich in der gesamten
Bundesregierung angekommen ist. Gestern gab es fünf
Pressekonferenzen, die Sie und Ihre Minister abgehalten
haben. Ich bin nicht sicher, ob Ihre Strategie nachhaltig
bei den vier Ministern, die auch eine Pressekonferenz abgehalten haben, angekommen ist; denn trotz all der Äußerungen vom gestrigen Tage rumpelt es erheblich. Auf
der einen Seite erklärte der Außenminister auf seiner gestrigen Pressekonferenz:
Wir wollen im Jahr 2011 auch den Abbau unseres
eigenen Kontingents beginnen, und wir wollen im
Jahr 2014 die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an Afghanistan schaffen.
Auf der anderen Seite äußerte sich der Bundesverteidigungsminister auf seiner Pressekonferenz wie folgt:
Also, zunächst, was die Abzugsperspektive anbelangt, so ist das Jahr 2011 mit Sicherheit eines, das
in gewissen Teilbereichen Möglichkeiten zulassen
kann.
({22})
Herr zu Guttenberg, à la bonne heure! Sie sind wahrlich
ein Meister des Konjunktivs.
({23})
Es reicht aber nicht aus, entschlossen dreinzuschauen;
man muss auch wollen, was die Kanzlerin sagt, und darf
nicht das Gegenteil beschreiben.
({24})
Frau Bundeskanzlerin, Ihr Auftrag ist es, solche realistischen Ziele für den deutschen Einsatz zu definieren und
Ihrem Bundesverteidigungsminister beizubringen, was das
bedeutet. Wir brauchen dringend qualitative und quantitative Kriterien für den Erfolg oder Misserfolg unseres
Engagements in Afghanistan. Diese Kriterien sollten
nicht von Regierungen festgelegt, vorgestellt und überprüft werden, sondern am besten von Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlern.
({25})
Hier geht es zum Beispiel um folgende Fragen: Wie
viele Polizisten und Soldaten wollen wir bis zu einem
bestimmten Zeitpunkt ausgebildet haben? Wie soll die
Armutsbekämpfung aussehen? Welche Fortschritte wollen wir beim zivilen Wiederaufbau machen? - Erst die
kontinuierliche Überprüfung solcher Ziele macht für das
Parlament, aber auch für die deutsche Öffentlichkeit
nachvollziehbar, ob unser Afghanistan-Einsatz gerechtfertigt ist und ob wir die richtigen Mittel einsetzen oder
nicht.
({26})
Das Wichtigste, Frau Bundeskanzlerin: Das Ganze muss
dazu dienen, dass die Bundeswehr und alle internationalen Streitkräfte Afghanistan wieder verlassen, ohne die
Sicherheit und Stabilität des Landes zu gefährden.
Unser Ziel ist es, 2011 - parallel zum schrittweisen
Rückzug der US-Streitkräfte - mit dem Rückzug zu beginnen. Wir wollen alles tun, um die afghanische Regierung zu unterstützen, die selbst erklärt hat, dass sie 2014/
2015 keine internationalen Streitkräfte mehr für bewaffnete Konflikte im Land haben will. Das ist der Grund für
uns, zu sagen: Lasst uns ein Abzugsdatum im Korridor
zwischen 2013 und 2015 wählen, damit die afghanische
Regierung weiß, dass wir es mit einer Begrenzung unseres Militäreinsatzes in Afghanistan ernst meinen.
({27})
Frau Bundeskanzlerin, wir sind nicht überzeugt davon, dass wir für diese Strategie 850 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten brauchen. Darüber werden wir hier
im Deutschen Bundestag sicherlich noch heftig diskutieren. Aber unabhängig von der Frage, wie viele Soldatinnen und Soldaten am Ende benötigt werden: Eine Zustimmung der SPD zu einem veränderten AfghanistanMandat hängt entscheidend davon ab, ob ein klares Datum 2011 für den Beginn des schrittweisen Abzugs der
Bundeswehr festgelegt wird, ob Sie qualitative und
quantitative Ziele für den Afghanistan-Einsatz entwickeln und überprüfen lassen, ob die geplanten Truppenaufstockungen zwingend und zeitlich klar begrenzt sind,
und ob Sie eine Beendigung der Beteiligung der Bundeswehr an bewaffneten Einsätzen im Zeitraum 2013 bis
2015 nachvollziehbar herbeiführen können.
({28})
Die SPD hat im letzten Herbst mit dem Zehnpunkteplan von Frank-Walter Steinmeier die Debatte um den
Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan begonnen.
Wenn die Bundesregierung diesen zehn Punkten folgt,
wird sie unsere Zustimmung bekommen. Damit geben
wir den Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und
Polizisten und allen zivilen Aufbauhelfern eine klare
Perspektive für die Grundlage ihrer Arbeit; wir geben
den Soldatinnen und Soldaten eine klare Perspektive für
die Beendigung ihres Aufenthalts in Afghanistan.
Wir wissen, dass es notwendig sein kann, in einer
Welt, in der Diktatoren, Fanatiker, Kriegsherren und Terroristen uns und andere bedrohen, auch militärische Mittel einzusetzen. Trotzdem ist es am Ende nicht unser eigenes Leben, das wir gefährden, wenn wir Politiker über
solche Einsätze entscheiden. Es könnte aber immer auch
das Leben unserer eigenen Söhne und Töchter gefährden. Deshalb ist es gut, wenn wir es uns schwer machen,
solche Einsätze oder ihre Fortsetzung zu beschließen.
Deshalb ist es wichtig, den Männern und Frauen in
solchen Einsätzen, die auf unseren Befehl oder, wenn es
sich um zivile Hilfskräfte für den Wiederaufbau handelt,
auf unsere Bitte dort hingehen, auch für ihren Mut und
ihre Tapferkeit zu danken und ihnen immer wieder unter
Beweis zu stellen, dass wir einerseits die Grundlagen des
Einsatzes gewissenhaft prüfen und andererseits, wenn
wir entscheiden, den Einsatz fortzusetzen, auch fest hinter ihrer Arbeit stehen.
({29})
Ich danke natürlich all denen, die sich an dem Einsatz
beteiligen, aber ich danke auch denen, die sich kritisch
zum deutschen Militärengagement äußern. Was wären
wir für ein armseliges Land, wenn wir nicht auch die kritische Einmischung und das Hinterfragen unserer Entscheidungen begrüßen würden!
({30})
Schon deshalb danke ich der Vorsitzenden des Rates der
Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, die jüngst eine
kluge und differenzierte Predigt gehalten hat; sie war jedenfalls klüger und differenzierter als die Äußerungen
mancher ihrer Kritiker.
({31})
Wer, wenn nicht die Kirchen und die Religionsgemeinschaften dieser Welt, hat das Recht, wenn nicht sogar die
Pflicht, mehr Fantasie für den Frieden einzufordern?
Die SPD steht zum deutschen Engagement in Afghanistan und auch zum Einsatz der Bundeswehr im Auftrag
der UN. Das sage ich auch im Bewusstsein, dass in meiner Partei über nichts so engagiert und mit so heißem
Herzen gestritten wird wie über Militäreinsätze. Auf
nichts ist die SPD mehr stolz als darauf, dass wir spätestens seit dem Ersten Weltkrieg militärische Mittel in die
Hände der internationalen Staatengemeinschaft legen
wollen, damit kein einzelner Staat darüber entscheidet
und damit militärische Mittel die Ultima Ratio bleiben,
um die Freiheit und die Sicherheit von Menschen zu
schützen.
Für mich ist klar: Ohne die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, in den Krieg gegen Hitler-Deutschland einzutreten, wäre der Krieg am Ende nicht so schnell vorbei
und wären noch Millionen Tote mehr zu beklagen gewesen. Ich sage das auch im Bewusstsein des heutigen Gedenktages, der an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erinnert. Manchmal sind Militäreinsätze
zwingend.
Für die SPD waren und sind seit nun fast 150 Jahren
die Fragen hinsichtlich Krieg und Frieden niemals taktische Fragen. Wir haben uns bei der Beantwortung dieser
Fragen nie daran orientiert, ob unsere Antworten gerade
in die aktuelle politische Landschaft passten oder ob wir
uns einen politischen Vorteil erhofften.
({32})
- Ich darf einmal daran erinnern: Sie waren es, die im
Jahre 2001 gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gestimmt haben. Sie haben damals gesagt: Wir
können das nicht machen, weil wir sonst Bundeskanzler
Gerhard Schröder unterstützen. - Sie waren es, die aus
innenpolitischen Gründen der Notwendigkeit dieses Einsatzes widersprochen haben. Lachen Sie also mal nicht
so laut!
({33})
- Es gibt ein altes Sprichwort: Ein getretener Hund bellt.
Ich scheine offensichtlich Ihre Erinnerung geweckt zu
haben.
({34})
Wir haben das nicht an taktische Erwägungen geknüpft.
({35})
- Wenn wir das getan hätten, dann hätten wir dem Afghanistan-Einsatz nach dem Regierungswechsel nicht
zugestimmt. Sie können von uns doch nicht erwarten,
dass wir jedem Unsinn, der in der Zeit zwischen dem
Regierungswechsel und der heutigen Regierungserklärung gemacht wurde, öffentlich Beifall zollen.
Wir sind gegen zusätzliche Kampftruppen, wir sind
für einen Beginn des Abzugs im Jahre 2011, wir sind für
eine Beendigung.
({36})
Wir sagen das klar, weil wir glauben, dass wir den Einsatz damit legitimieren. Das ist der Grund, warum wir
darüber reden.
({37})
Herr Kollege Gabriel!
Die Prinzipien, an die wir uns auch jetzt halten, lauten: Der Einsatz militärischer Mittel bleibt die Ultima
Ratio. Natürlich will die SPD zu ihrer internationalen
und auch zu ihrer deutschen Verantwortung stehen. Eine
Verlässlichkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik ist
für Deutschland unverzichtbar. Niemand würde auf uns
hören, wenn wir uns erratisch und nach aktueller Stimmungslage verhalten würden. - All das muss dazu beitragen, das Versprechen gegenüber der deutschen Bevölkerung und den Angehörigen der Bundeswehr
einzulösen, dass wir in Afghanistan nicht auf Dauer militärisch engagiert sein wollen und dass wir all unsere
Mittel und Instrumente, die wir einsetzen, dem Ziel unterzuordnen haben, die Sicherheit in Afghanistan durch
afghanische Soldaten und Polizeikräfte zu gewährleisten
und die Soldatinnen und Soldaten aus bewaffneten
Kampfeinsätzen nach Deutschland zurückzuholen. Das
ist das Ziel sozialdemokratischer Politik. Wenn auch Sie
dieses Ziel verfolgen, finden Sie unsere Zustimmung.
Wenn Sie es infrage stellen, dann haben Sie unsere Zustimmung nicht zu erwarten.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Andreas Schockenhoff.
Herr Kollege Gabriel, Sie haben gerade behauptet, die
CDU/CSU habe 2001 gegen eines der ISAF-Mandate
gestimmt. Diese Behauptung ist falsch. Richtig ist vielmehr, dass die CDU/CSU von Beginn des Einsatzes an
jedem ISAF-Mandat zugestimmt hat.
({0})
Es gab eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers
Gerhard Schröder im Zusammenhang mit dem Mandat
für die Operation Enduring Freedom. Auch hier hat
die CDU/CSU nicht gegen das Mandat gestimmt. Wir
haben uns aber damals der Stimme enthalten, weil Sie
die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verknüpft haben. Ich will Ihnen Gelegenheit geben, Ihre falsche Behauptung zurückzunehmen.
({1})
Herr Kollege, ich habe auf Zwischenrufe hinsichtlich
taktischen Verhaltens in der Innenpolitik mit der Bemerkung reagiert, dass man Einsätze der Bundeswehr nicht
mitgetragen hat. Das haben Sie nach Ihrer eigenen Aussage damals aus innenpolitischer Taktik nicht getan.
({0})
- Nichts anderes haben Sie gemacht.
Abgesehen davon unterscheidet uns im Wesentlichen,
dass wir wissen, was völkerrechtlich in Ordnung ist und
was nicht.
({1})
Wir erinnern uns gut daran, dass Sie und auch Ihre damalige Fraktionsvorsitzende damals nicht genug dafür
werben konnten, den völkerrechtswidrigen Krieg im Irak
zu legitimieren. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen
und uns: Wir wissen, was völkerrechtlich richtig ist, und
wir verstoßen nicht gegen das Völkerrecht, wie Sie es
damals getan haben.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Rainer Stinner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als das Afghanistan-Engagement im Jahr 2001 von
SPD und Grünen begonnen wurde, wusste jeder von uns
und vor allen Dingen von den beiden damals tragenden
Parteien, dass es sich um ein langfristiges Engagement
handeln würde.
({0})
- Ihr damaliger Parteikönig, Herr Ströbele, Außenminister Fischer, hat damals in der Debatte über das Mandat
am 20. Dezember 2002 gesagt:
Man muss aber ehrlich hinzufügen: Es wird lange
dauern.
Man müsse wissen, dass es ein sehr langfristiges Engagement wird. Das hat Ihr Herr Fischer hier gesagt.
({1})
Herr Gabriel, Sie haben sich heute in einem großen
Teil Ihrer Rede am Kriegsbegriff abgearbeitet. Ich darf
Sie daran erinnern, was Ihr damaliger Parteivorsitzender
und Bundeskanzler Schröder am 22. Dezember 2001 in
einer Afghanistan-Debatte im Deutschen Bundestag gesagt hat. Ich zitiere wörtlich:
Im Deutschen Bundestag ist über die Frage, ob es
verantwortbar sei, sich an Kriegshandlungen zu beteiligen - in welcher Form auch immer -, wie nicht
anders zu erwarten, sehr heftig gestritten worden.
Es sind viele Argumente ausgetauscht worden. Zum
Beispiel wurde gesagt, dass Krieg immer auch Unschuldige trifft. Das ist wahr. Aber das Problem,
dem wir uns heute stellen müssen, ist: Die Abwesenheit von demokratisch legitimierter Gewalt hat
viel, viel mehr Unschuldige getroffen, hat sie rechtlos gemacht, zumal Frauen und Kinder.
Er fährt fort:
Krieg trifft Unschuldige. Das ist keine Frage. Aber
das Beispiel Afghanistan zeigt: Nur mithilfe militärischer Gewalt konnte verhindert werden, dass auch
in Zukunft Unschuldige unendlich leiden müssen.
Es sind also nicht die jetzige Bundesregierung und der
jetzige Verteidigungsminister, die den Kriegsbegriff in
die Debatte eingeführt haben, sondern es war Ihr Parteivorsitzender, dem Sie damals auf breiter Ebene zugejubelt haben.
({2})
Herr Gabriel, Ihr Gedächtnis ist sehr kurz. Erwarten
Sie aber nicht, dass unseres ähnlich kurz ist. Herr
Schockenhoff hat darauf hingewiesen, dass Sie die Afghanistan-Debatte falsch memoriert haben. Auch wir haben dem ISAF-Einsatz zugestimmt. Wegen der Verknüpfung mit der Vertrauensfrage haben wir damals in der Tat
nicht sofort zugestimmt, wohl aber einige Jahre später.
Bitte gehen Sie in die Archive und vor allen Dingen in
sich!
({3})
Der Parteivorsitzende der SPD verbreitet nun wohlfeile Vorschläge an die politische Klasse bzw. die Bundesregierung. Ich darf Sie daran erinnern, sehr geehrter
Herr Gabriel, dass Ihre Regierungszeit von 1998 bis
2009 gedauert hat und dass Sie zuerst den Bundeskanzler und dann vier Jahre den Außenminister gestellt haben.
Nun stellen Sie sich hierhin und werfen der Bundesregierung vor, dass in Afghanistan nicht die notwendigen
Fortschritte gemacht worden seien.
({4})
Herr Gabriel, Ihnen kann ich nur das alte Sprichwort zurufen: Der beste Beweis für das Können ist das Tun. Sie haben es jahrelang nicht getan. Diese Bundesregierung packt es endlich an und tut das Richtige.
({5})
Wir haben von der Bundesregierung erwartet, dass sie
mit eigenen, konsistenten und alle Bereiche umfassenden Vorschlägen nach London geht. Diese Erwartung ist
erstmals erfüllt worden. Auch das ist neu, Herr Gabriel.
Sie haben immer von vernetzter Sicherheit gesprochen.
Die jetzige Bundesregierung tut diesbezüglich erstmalig
etwas. Wir können deutlich erkennen, dass alle vier beteiligten Ressorts gemeinsam mitgearbeitet haben.
({6})
Die Bundesregierung hat sich auch nicht von dem logisch richtigen Weg abbringen lassen: zuerst Ziele definieren, dann Strategien als Wege zu den Zielen festlegen
und schließlich über die Mittel reden. Sie, Herr Gabriel,
haben primär über die Zahl der Soldaten und Abzugsdaten gesprochen. Das sind Resultanten, Ergebnisse einer
vorherigen Zieldefinition und einer Strategiefestlegung.
Das kommt am Ende und nicht am Anfang. Deshalb hat
die Bundesregierung in ihrem Vorgehen recht.
({7})
Alle vier Ressorts haben unter Federführung des Auswärtigen Amtes eindeutig und stark mitgewirkt. Frau
Bundeskanzlerin, Sie haben dafür dem Außenminister
- zu Recht - herzlich gedankt. Ich möchte Ihnen, Frau
Bundeskanzlerin, für Ihre Regierungserklärung danken,
die vollumfänglich unsere Zustimmung gefunden hat.
Das haben Sie sicherlich am Beifall gemerkt.
Lassen Sie mich auf ein Element ausführlich eingehen: den Integrationsfonds. Herr Karzai hat heute genauso wie die internationale Gemeinschaft und alle anderen Vernünftigen auf der Welt gesagt: Ohne den
Versuch, die Hardcore-Taliban von den Mitläufern zu
trennen, und ohne den Versuch, Tausende, Zehntausende
bzw. Hunderttausende wieder in die Gesellschaft eines
„normalen“ Afghanistans zu integrieren, wird es nie und
nimmer Frieden in diesem Land geben können. Deshalb
ist die jetzige Initiative richtig. Sehr geehrter Herr
Gabriel, jeder weiß, dass das schwierig werden wird.
Keiner glaubt, dass wir jetzt mit Geldscheinen Taliban
fangen können. Jeder weiß, dass dadurch Nichtmitläufer
nicht benachteiligt werden dürfen. Keiner glaubt, dass es
sinnvoll ist, der afghanischen Regierung einfach
350 Millionen Euro zu geben und ihr zu sagen: Nun
macht mal schön! - Nein, wir alle wissen, dass es sehr
schwierig wird. Aber wir wissen genauso wie Herr
Karzai und Vertreter vieler anderer Länder, dass das unmittelbar notwendig ist.
Die zivile Unterstützung wird sehr deutlich ausgeweitet, genauso wie die Polizei. Ich habe keine Zeit
mehr, darauf im Einzelnen einzugehen, weil Sie, Herr
Gabriel, mich gezwungen haben, auf Sie einzugehen.
Nur so viel: Wir von der FDP-Fraktion haben seit Jahren
ein solches Konzept gefordert. Wir haben es jetzt. Auf
die Frage „Wird jetzt alles gut in Afghanistan?“ kann ich
aber nur antworten: Natürlich wird jetzt nicht alles gut.
Das weiß jeder von uns. Aber wir haben mit diesem
Konzept die Chance, zu Frieden und Entwicklung in diesem Land beizutragen. Wir haben die Chance, unser Gesicht international zu wahren. Wir haben die Chance, unsere Interessen zu vertreten. Deshalb unterstützen wir
das Konzept der Bundesregierung.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, welche Gründe gibt es eigentlich für den
Krieg in Afghanistan? Diese Frage steht, auch wenn Sie,
Herr Gabriel, den Krieg nicht Krieg nennen wollen, obwohl Bomben geworfen werden und millionenfach geschossen wird. Das ist nichts anderes als Krieg, Herr
Gabriel.
({0})
Sie, Frau Bundeskanzlerin, erklären erstens den
Kampf gegen den Terrorismus zum Ziel. Die Terroristen waren und sind in der al-Qaida organisiert. Deren
Lager in Afghanistan sind zerstört, die Finanzströme
stillgelegt. Al-Qaida operiert jetzt von Pakistan und anderen Ländern aus. Wenn Sie ernsthaft glauben, Terrorismus mit Krieg bekämpfen zu können, müssten Sie
Afghanistan unverzüglich verlassen und in anderen Ländern Krieg führen, aber das ohne Ende, weil es dann immer irgendwelche Wechsel der Terroristinnen und Terroristen gäbe.
Nur, mit Krieg kann man niemals wirksam Terrorismus bekämpfen;
({1})
im Gegenteil, man erzeugt neuen Terrorismus. Im Krieg
sterben immer Unbeteiligte, Unschuldige, am Kunduz
nun eindeutig auch durch die Bundeswehr. Diese haben
Angehörige, haben Freundinnen und Freunde, bei denen
Hass entsteht. So gelingt es den Bin Ladens dieser Erde,
immer wieder neue Terroristinnen und Terroristen zu rekrutieren. Einen Bin Laden kann niemand von uns verhindern; aber dass er so viele für Gewaltakte gewinnen
kann, das könnte man verhindern, aber niemals mit
Krieg.
({2})
Hauptursache des globalen Terrorismus ist die Ungerechtigkeit des Westens gegenüber der Dritten und der
muslimischen Welt. Statt Ausweitung des Krieges auf
den Jemen und auf Somalia wären Friedenslösungen
wichtig: für Afghanistan, für den Irak, für Somalia, für
den Jemen und für den Nahostkonflikt zwischen Israel
und Palästina. Nur mit einem gerechten Welthandel, mit
größerer, nicht selbstnütziger Entwicklungshilfe, mit einer anderen Toleranz zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen lässt sich dem Terrorismus der Boden entziehen, aber eben nicht mit Krieg.
({3})
Ihr Ziel soll zweitens darin bestehen, die Taliban zu
bekämpfen. Die Taliban sind aber keine internationalen
Terroristen, wenngleich sie den Terroristen von al-Qaida
erlaubt haben, sich in Afghanistan auszubilden. Die
Taliban haben keine internationalen Ziele, schon gar
keine terroristischen, sondern sie wollen ein bestimmtes
Regime in Afghanistan wieder errichten, das uns allen
nicht gefällt.
Präsident Karzai versucht, mit bestimmten Taliban
einen politischen Ausgleich zu finden; anders geht es
auch nicht. Wenn Sie im Unterschied zu Minister zu
Guttenberg ernsthaft glauben, eine demokratische Kultur
europäischer Prägung in Afghanistan installieren zu können, werden Sie mit Ihrem Krieg genauso scheitern. Alle
Versuche, die Kultur und Struktur des Landes militärisch
zu verändern, sind gescheitert. Das gilt für den britischen
Versuch, für den sowjetischen Versuch und für den jetzigen Versuch der NATO.
({4})
Indirekt und wahrscheinlich eher unbewusst bestätigt
dies Hans-Ulrich Klose von der SPD, indem er sagt, dass
neun Wochen nach dem Abzug der NATO-Truppen gegenwärtig die alte Taliban-Herrschaft wieder installiert
wäre. Mit anderen Worten: Er sagt, dass der neunjährige
Krieg diesbezüglich völlig sinnlos war, weil er demnach
nichts an Strukturen geändert hat.
({5})
Sie sagen drittens, dass es Ihnen um den zivilen
Aufbau gehe, der nur militärisch abgesichert werden
müsse, solange keine ausreichende eigene afghanische
Sicherheitsstruktur vorhanden sei. Die Organisation der
UNO, die UNDP, hat über den zivilen Aufbau in Afghanistan folgenden Bericht vorgelegt, den Sie, Frau Bundeskanzlerin, leider nur einseitig wiedergegeben haben.
Zunächst werden Verbesserungen festgestellt. Beim Zugang zur Grundschule gibt es einen Anstieg von 54 auf
60 Prozent der Kinder. Nach neun Jahren Krieg von
54 auf 60 Prozent der Kinder! Bei der Alphabetisierung
gibt es einen Anstieg von 34 auf 36,5 Prozent der Bevölkerung. Die Kindersterblichkeit ist von 257 auf 191 bei
1 000 geborenen Kindern reduziert worden. Der Anteil
der Bewohnerinnen und Bewohner mit Zugang zu Wasser ist von 23 auf 41,4 Prozent angestiegen.
Dann beschäftigt sich der UN-Bericht mit Verschlechterungen und stellt fest: Der Prozentsatz der
Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ist
von 33 auf 42 Prozent angestiegen. Die Unterernährung
betrifft nicht mehr 30, sondern 39 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Der Anteil der Bevölkerung mit Zugang
zu sanitären Einrichtungen erlebte einen Rückgang von
12 auf nur noch 5,2 Prozent. Die Zahl der Menschen, die
in Slums leben, beträgt nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Millionen. Die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen stieg von 26 auf 47 Prozent an. Mohnfelder zur
Gewinnung von Rauschgift umfassen nicht mehr
131 000, sondern 193 000 Hektar.
Zusammengefasst heißt das, dass sich die Situation
trotz einiger Fortschritte letztlich nicht verbessert, sondern deutlich verschlechtert hat. Die Hauptrichtung war
nie der zivile Aufbau; denn die USA setzen zehnmal so
viel Geld für die Finanzierung des Krieges wie für die
Entwicklungshilfe ein. Deutschland setzt viermal so viel
Geld für den Krieg wie für die Entwicklungshilfe ein.
Es gibt sechs afghanische Organisationen der Zivilgesellschaft, die von der Afghanistan-Konferenz in London wörtlich Folgendes fordern - ich darf zitieren, Herr
Präsident -:
Die Entwicklung Afghanistans muss durch Afghanen erfolgen und rechenschaftspflichtig gegenüber
den afghanischen Bürgerinnen und Bürgern sein.
Die Entwicklungshilfe sollte nicht mit militärischen
Zielen verbunden werden. Hilfe ist keine Waffe.
({6})
Dieser Forderung schließt sich die Fraktion Die Linke in
vollem Umfang an.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagen es nicht, aber viele
vermuten, dass es Ihnen, viertens, auch um ökonomische Ziele geht. Es gab langjährige Verhandlungen der
USA mit den Taliban über den Bau einer Erdgasleitung
von Turkmenistan über Afghanistan nach Pakistan.
Mehr Unabhängigkeit von Russland war und ist ebenso
das Ziel wie gigantische Profite. Während eines Krieges
kann man keine Erdgasleitung bauen. Selbst solche Strategen brauchten irgendwann ein Ende des Krieges. Im
Übrigen darf doch aber noch darauf hingewiesen werden, dass solche Motive für Kriege nicht nur höchst unmoralisch, sondern auch eindeutig völkerrechtswidrig
sind.
({7})
Zusammenfassend gibt es also keinen anderen verantwortbaren Weg für Afghanistan und für Deutschland als
den Weg des Abzugs der Bundeswehr, und zwar ohne
Bedingungen, vollständig und sofort, das heißt noch in
diesem Jahr, verbunden mit einer deutlichen Aufstockung der Mittel für den zivilen Aufbau.
({8})
Nur wenn ein solcher ziviler Aufbau stattfindet, nur
wenn die Menschen eine neue und höhere Lebensqualität erfahren, kann man sie so stark motivieren, dass sie
diskriminierende, kulturell unerträgliche Herrschaftsstrukturen wie die der Taliban so sehr ablehnen, dass sie
nicht, schon gar nicht dauerhaft, wieder installiert werden können.
({9})
Die Afghaninnen und Afghanen können sich nur selbst
befreien. Dabei können wir helfen, aber wir können dies
niemals militärisch erzwingen.
({10})
Die Bundesregierung geht weiterhin einen völlig falschen Weg. Die Aufstockung der Zahl der Soldaten, egal
welche Motive Sie angeben, führt zu einer Verschärfung
und nicht zu einer Verbesserung der Situation. Die SPD
unterstützt das wie gewohnt und verkündet zusammen
mit einigen aus der Regierung - andere in der Regierung
sehen das offenbar anders - als neue Entscheidung, dass
sie dann, wenn die USA mit einem Truppenabzug 2011
beginnen, ebenfalls damit beginnen wollen, wobei kein
Termin für das Ende des Abzugs genannt wird. Die Logik, erst aufzustocken, um dann mit dem Abzug zu beginnen, ist zwar nicht nachvollziehbar; aber wenn das
neu ist, dann heißt das, dass diese Vertreter der Regierung und der SPD bisher der Meinung waren, länger als
die USA in Afghanistan zu bleiben. Das erscheint mir
doch mehr als erstaunlich.
Im Übrigen bleibt Folgendes unerklärbar: Wenn in
neun Jahren die Ausbildung von Armee und Polizei
nicht gelungen ist, sodass laut Hans-Ulrich Klose die
alte Taliban-Herrschaft neun Wochen nach Abzug der
Truppen der NATO wieder etabliert wäre, wie wollen
Sie dann innerhalb eines Jahres das zustande bringen,
was Ihnen in neun Jahren nicht gelungen ist?
({11})
Daran können nicht einmal Sie selbst glauben.
Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben kein Konzept. Sie
stocken die Zahl der Soldaten auf und wissen nicht, wie
Sie die Situation endlich beherrschen können, wie die
Soldaten aus Afghanistan herauskommen können. Ihnen
fehlt der Mut, wie ihn Länder wie Kanada und die Niederlande gezeigt haben bzw. beginnen zu zeigen, den
USA und anderen NATO-Partnern einfach und deutlich
zu sagen: Wir ziehen die Bundeswehr ab; wir halten den
Krieg für das falsche Mittel; wir wollen den Afghaninnen und Afghanen wirksam, das heißt zivil helfen. Wenn
Sie diesen Mumm bewiesen, Frau Bundeskanzlerin
Merkel, dann könnten Sie diesbezüglich positiv in die
Geschichte eingehen. Wenn Sie den USA aber nur hinterherrennen, schaden Sie nicht nur Afghanistan, sondern auch unserem Land.
Die einzige Fraktion im Bundestag, die schon immer
klar gegen diesen Krieg gesprochen hat und dabei bleiben wird, das ist die Fraktion Die Linke.
({12})
Darauf, Herr Gabriel, bin ich stolz.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich ein paar einleitende Worte zu dem Verfahren sagen, mit dem dieses
Konzept dem Parlament und der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist; ich glaube nämlich, dass es bemerkenswert ist. Oft klagen Parlamentarier, dass sie sich zu
wenig eingebunden fühlen. Frau Bundeskanzlerin, Herr
Bundesaußenminister, Herr Verteidigungsminister, man
schaue sich die vergangenen Tage und Wochen an. Ich
fand es gut, dass über dieses Konzept nicht öffentlich, in
großen Talkshows oder Interviews, Auskunft gegeben
worden ist, sondern genau an den Orten, an die der Fachdiskurs gehört, etwa in das Vorfeld der parlamentarischen Beratungen, zum Beispiel auf die Tagung der renommierten Körber-Stiftung vergangene Woche, Herr
Bundesaußenminister. Richtig war auch, die Obleute, die
Fraktionsvorsitzenden und die Ausschüsse zeitnah und
nicht öffentlich zu informieren, sodass zuerst an diesen
Orten darüber diskutiert wurde, wie wir mit Afghanistan
weiter verfahren. Man muss wirklich sagen: An dieser
Stelle ist das Parlament so eng wie selten eingebunden
worden. Vor diesem Hintergrund danke ich der Regierung für diesen klaren und vernünftigen Kurs.
({0})
Im Übrigen möchte ich auf Folgendes verweisen:
Vorschläge, die von allen Fraktionen, insbesondere von
unseren Kollegen der SPD, von Herrn Erler und Herrn
Mützenich, frühzeitig in den vergangenen Debatten hier
geäußert worden sind, sind aufgenommen worden, zum
Beispiel, dass wir vor der Afghanistan-Konferenz im
Parlament über die Frage der Zukunft Afghanistans diskutieren. Allein das ist richtig. Wir werden in zwei Wochen, wenn die Afghanistan-Konferenz vorbei ist, im
Parlament über die Ergebnisse dieser Konferenz in London diskutieren. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die
Vorschläge der Opposition und des Parlaments insgesamt sehr ernst genommen werden.
({1})
Dieser Hinweis ist erlaubt: Wir wünschen uns, dass die
Regierung mit dem Parlament auch bei anderen Themen
so umgeht. Dieses Musterbeispiel sollte zu einer Selbstverständlichkeit für den Umgang zwischen Parlament
und Regierung werden.
Es ist vorhin die Frage gestellt worden, warum wir in
Afghanistan sind. Ich habe, Herr Kollege Gysi, allerdings nicht ganz verstanden, warum Sie uns hierfür ökonomische Motive unterstellen wollen. Ich habe es wirklich nicht verstanden.
({2})
Es ist aber festzuhalten, dass die Bundeskanzlerin und
auch wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer
deutlich gemacht haben, warum wir da sind. Es ist kein
Selbstzweck, in Afghanistan zu sein, sondern es liegt in
unserem ureigensten Interesse, unsere Interessen, die
Interessen Deutschlands und die Interessen der Menschen in Deutschland, auch in Afghanistan zu verteidigen. Wir machen es uns nicht einfach und kommen nicht
mit starken Sprüchen daher.
An die Adresse der SPD gerichtet möchte ich dagegen sagen: Die von Ihnen für Ihre Afghanistan-Strategie
in den letzten Jahren gelieferten Begründungen beruhten
immer auf sehr starken Worten. Zunächst einmal sprachen Sie von der „uneingeschränkten Solidarität“, was
auch immer das bedeuten sollte,
({3})
und brachten es dann auf die einfache Formel: Deutschland werde am Hindukusch verteidigt. Davon wollen Sie
heute offenbar nichts mehr hören. Vor diesem Hintergrund haben wir ganz bewusst einen anderen Weg gewählt und gemeinsam mit der Regierung ein geschlossenes Konzept entwickelt und eine große Konzeption auf
den Weg gebracht, mit der wir einerseits deutlich machen, dass unsere Interessen gewahrt werden sollen, aber
andererseits auch die Zukunft Afghanistans in den Mittelpunkt stellen.
Warum sind wir in Afghanistan? Wir sind da, um zu
verhindern, dass Afghanistan dauerhaft zu einem der
großen Umschlagplätze für den internationalen Terrorismus wird. Alle Gesprächspartner, die wir in den vergangenen Tagen aus Afghanistan hier hatten, haben uns
bestätigt, dass die Fäden nahezu aller relevanten internationalen fundamentalistischen Terrororganisationen teilweise in Afghanistan selbst oder in unmittelbarer Nachbarschaft in Pakistan zusammenlaufen. Allein schon,
dass wir verhindern wollen, dass Afghanistan dauerhaft
als Terrorbasis bzw. Umschlagplatz des Terrors etabliert
wird, rechtfertigt unser Engagement.
Ich glaube aber, dass es viel wichtiger ist, dass wir
den Beitrag zur Stabilisierung Afghanistans, den wir in
den vergangenen Jahren schon geleistet haben, weiterhin
leisten.
({4})
Seit 2002 ist unser Engagement immer mit Schwierigkeiten verbunden gewesen, aber trotzdem sehr ausgewogen gewesen. Eine unserer Befürchtungen ist zwar, dass
die Lücke zwischen militärischem und zivilem Engagement an manchen Stellen zu groß geworden ist, aber
diese Lücke wird - das vollziehen wir mit dem vorliegenden Konzept - jetzt geschlossen. Indem wir das zivile Engagement massiv erhöhen, machen wir deutlich,
welche strategische Ausrichtung wir in den nächsten
Jahren verfolgen wollen.
Wenn gesagt wird, in Afghanistan laufe alles schlecht,
halte ich dagegen und sage: Das stimmt nicht. Wir haben
heute, wie gesagt, im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages die Gelegenheit gehabt, mit Präsident Karzai darüber zu diskutieren. Die SPD hat auf ihrer Fachtagung am vergangenen Freitag die Gelegenheit
genutzt, mit dem früheren Außenminister und jetzigen
Sicherheitsberater Spanta intensiver darüber zu diskutieren. Dabei wurde uns doch gerade bestätigt, dass das Engagement erfolgreich war.
Schauen Sie sich allein einmal an, wie massiv sich
das Rollenverständnis der Frauen innerhalb Afghanistans trotz der schwierigen gesellschaftlichen Situation
verbessert hat. Das ist aus meiner Sicht beachtlich und
sollte nicht unerwähnt bleiben. Vor dem Hintergrund,
dass zu Zeiten der Taliban-Herrschaft keine Frau eine
Universität und kein Mädchen eine Schule betreten
durfte, halte ich es nach wie vor für erwähnens- und lobenswert, festzustellen, dass die Situation heute ganz anders ist.
({5})
Ein großer Erfolg ist auch, dass im Auswärtigen Dienst
der afghanischen Regierung der Frauenanteil heute 18 Prozent beträgt.
({6})
Und wenn Sie in Berlin einen Ansprechpartner der
afghanischen Regierung telefonisch sprechen wollen,
dann rufen Sie nicht irgendjemanden an, sondern Sie rufen eine Frau an, nämlich die Geschäftsträgerin. Auch
das halte ich für bemerkenswert. Was, glauben Sie
- Herr Kollege Klose hat das an anderer Stelle ja schon
oft gesagt -, würde als Allererstes zurückgedrängt, wenn
sich die internationale Staatengemeinschaft dort nicht
mehr engagieren würde? Das Hauptziel der Taliban wäre
doch - da bin ich mir sicher - in erster Linie, die Rolle
der Frauen wieder zurückzudrängen und die Erfolge, die
auf diesem Gebiet erreicht worden sind, zunichte zu machen.
Wir haben die Situation - die Bundesregierung weist in
ihrer Stellungnahme deutlich darauf hin -, dass 11 000 Unterrichtsräume für 500 000 Schülerinnen und 25 000 Lehrer unter deutscher Führung entstanden. Heute gehen
rund 7 Millionen Kinder zur Schule; davon sind 35 Prozent Mädchen. Das ist ein großer Erfolg; auch solche Erfolge sind in Afghanistan zu verzeichnen. 600 Kilometer
Straße sind gebaut worden. 250 000 Haushalte in Nordafghanistan sind an Bewässerungsanlagen angeschlossen. Auch der Optimismus, den die Afghanen in ihrer
Gesellschaft selber spüren, sollte erwähnt werden. Eine
Umfrage von ARD, BBC und dem amerikanischen Sender ABC macht deutlich, dass 70 Prozent der Afghanen
optimistisch in die Zukunft blicken.
({7})
Allein deshalb sollten wir diese Debatte mit einer großen Ernsthaftigkeit führen. Denn ich bin mir sicher, dass
viele Menschen in Afghanistan diese Debatte und die
strategische Diskussion in Deutschland genau verfolgen.
Die Hoffnung, die viele Menschen in Afghanistan in uns
setzen, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
({8})
Unsere Ziele sind klar umrissen: Wir wollen den Terror vor Ort bekämpfen, eine Stabilisierung der Region
insgesamt erreichen, einen Beitrag zur Stabilisierung Pakistans, einer schwierigen Atommacht, leisten, die Menschen- und Frauenrechte dauerhaft durchsetzen, ein
funktionierendes Rechtssystem etablieren und die wirtschaftliche Prosperität unterstützen, sodass Afghanistan
auf Dauer auf eigenen Beinen stehen kann.
Ich glaube, dass wir einen ausgewogenen Beitrag leisten. Deshalb will meine Fraktion den Vorschlägen der
Regierung zustimmen. Ich halte diesen Beitrag deshalb
für ausgewogen, weil er alle Ansätze - das zivile Engagement, das militärische Engagement, das polizeiliche
Engagement - umfasst und damit eine dauerhafte Perspektive unseres Engagements gewährleistet.
Wir haben eine Abzugsperspektive genannt. Insofern
möchte ich meinen Vorredner ein Stück weit korrigieren:
Niemand von uns hat jemals gesagt, dass es in unserem
Interesse liegt, ewig in Afghanistan zu bleiben. Aber Sie
haben auch in früheren Zeiten gesagt, dass es absolut
falsch wäre, Afghanistan kopflos zu verlassen. Angesichts der Chuzpe, mit der die Taliban selber über unsere
Debatte urteilen, erinnere ich Sie gerne an Ihre eigenen
früheren Äußerungen. In vielen Medien und in vielen
Gesprächen wird der Ausspruch eines Taliban-Führers
zitiert, der zu US-Diplomaten lächelnd gesagt haben
soll: Ihr habt alle Uhren, wir haben alle Zeit.
Wenn Sie jetzt ein konkretes Datum für den endgültigen Abzug nennen, dann wiegen Sie die Taliban noch
mehr in Sicherheit. Sie werden sich kurzfristig zurückziehen; aber die Gefahr ist sehr groß, dass sie nach kurzem Abwarten gestärkt wieder hervorkommen und
damit unser entwicklungspolitisches Engagement zunichtemachen werden.
Deshalb gibt es mit uns keinen kopflosen Abzug aus
Afghanistan. Vielmehr wollen wir unser Engagement
mit einer realistischen Abzugsperspektive verbinden.
Dafür haben wir klare Konditionen genannt.
({9})
Meine Damen und Herren, mein Dank in dieser Debatte - das möchte ich deutlich erwähnen - gilt nicht nur
unseren Soldatinnen und Soldaten und deren Angehörigen, sondern auch den Diplomatinnen und Diplomaten,
die vor Ort für die Bundesrepublik und in unserem Interesse im Einsatz sind, den Entwicklungshelfern, den Polizisten und letztendlich auch - ich glaube, dass ein großer Teil von Ihnen diese Debatte gespannt verfolgt - den
Angehörigen der Personen, die sich in Afghanistan
engagieren und die zu Recht einfordern, dass wir uns
ernsthaft mit der Perspektive des Abzugs und eines erfolgreichen Einsatzes, für den unsere Menschen dort vor
Ort einstehen, beschäftigen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat nun die Kollegin Renate Künast für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mich ganz fokussiert auf das Thema, um das es
eigentlich geht, nämlich die Londoner Konferenz und
eine neue Strategie für Afghanistan, konzentrieren.
Die Situation ist schwierig. Wir haben darüber gestern eine erste lange und sehr ruhige und sachliche Diskussion in unserer Fraktion geführt. Ich glaube, man
kann unser mehrheitliches Gefühl angesichts der internationalen, auch deutschen Diskussion durchaus mit den
Worten beschreiben: Jetzt ist Licht, allerdings in viel
Schatten.
Ich will nicht negieren, Frau Bundeskanzlerin, dass es
hier positive Elemente gibt. Trotzdem muss ich sagen,
dass Ihre Rede eben hinreichend unbestimmt war.
({0})
Sie haben viele Fakten und Zahlen genannt, haben aber
nicht die Frage beantwortet, wie Sie die Vergangenheit
beurteilen. Auch dazu haben Sie zwar Zahlen - hier
Prozentzahlen, da Prozentzahlen - genannt. Von Herrn
Gysi bin ich das gewöhnt; er liest hier halbjährlich den
gleichen Text vor. Immer wieder Zahlen! Es geht aber
um folgende Fragen: Haben wir das Gefühl, grundsätzlich die richtige Strategie gewählt zu haben? Auf welcher Basis und mit welcher Philosophie soll es in Zukunft weitergehen? Eine Antwort darauf hat gefehlt. Ich
habe von Ihnen bezüglich des bisherigen Einsatzes positive Worte gehört. Im Ticker wurde Herr Westerwelle
dahin gehend zitiert, dass alles gescheitert sei.
({1})
- Dann machen Sie eine Gegendarstellung. - Ich sage
Ihnen: An dieser Stelle gibt es unterschiedliche öffentliche Positionierungen.
Im Vorfeld der Londoner Konferenz wollen wir nicht
einfach trockene Zahlen hören, sondern wissen: Wie
sind die Zielmarken, in Neudeutsch: die Benchmarks?
Bis wann soll wer was erfüllt haben? Egal ob es uns, andere Staaten oder die Regierung des Präsidenten Karzai
betrifft. Eine Lehre aus der Vergangenheit ist für uns,
dass darauf eine Antwort gefunden werden muss. Nur
wenn diese Fragen beantwortet werden, wird das Ziel
von Karzai, 2014 selbstständig für Sicherheit zu sorgen,
überhaupt erreicht werden können.
({2})
Wir hätten eigentlich auch erwartet, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie etwas zur Evaluierung der bisherigen Einsätze sagen. Sie sagen so schön: 30 Polizisten haben wir ausgebildet.
({3})
- Was habe ich gesagt?
({4})
- Entschuldigung. 30 000 stimmt. - Aber die Frage ist
doch: Sind diese Polizisten jetzt effizient eingesetzt? Ist
die Struktur zum Beispiel gegen Korruption ausgerichtet
und verhindert sie, dass ein Großteil dieser Leute zu den
Taliban überläuft, nachdem die westliche Staatengemeinschaft sie ausgebildet hat? Eine Evaluierung im
Hinblick auf diese Fragen würde mich interessieren.
({5})
Ich hätte in all diesen Debatten über die Zukunft
gerne auch gehört, ob es nicht nur heute, sondern grund1536
sätzlich eine andere Vorgehensweise im Umgang mit
dem Bundestag gibt, was die Zielstellung der Afghanistan-Politik und die Vorlage regelmäßiger Zwischenberichte angeht.
Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute über
eine neue Strategie und deren Umsetzung, die der afghanische Präsident Karzai in seiner Antrittsrede im November mit der Zielstellung 2014 angekündigt hat. Das
ist eine Strategie der nationalen Versöhnung. Jetzt
geht es darum, dass die internationale Staatengemeinschaft sagt: Wir unterstützen dies und leisten unseren
Beitrag dazu.
Es gibt aber Grundsatzfragen, die Sie nicht einmal angetippt haben, Frau Merkel. Sie sprachen über das Reintegrationsprogramm, das ein Kern des Programms der
nationalen Versöhnung von Karzai ist. An dieser Stelle
muss man aber die Frage stellen - eine Antwort darauf
muss gefunden werden -: Wo sind die roten Linien, die
Karzai hier und da andeutet und die da heißen: Verhinderung von Gewaltbereitschaft, Entwaffnung und das Ziel,
dass man sich auf dem Boden der afghanischen Verfassung befinden und sich an die universellen Menschenrechte halten muss? Das allein sind aber nur warme
Worte. Wir müssen auch sicherstellen, dass dies umgesetzt wird, und von Karzai die Formulierung von Kriterien verlangen.
Mir reicht nicht aus, dass einfach gesagt wird, wir
könnten Hunderttausende unideologische junge afghanische Männer mit dem Angebot von Geld und Land, also
mit wirtschaftlichen Perspektiven, aus Pakistan zurückholen. Man muss klar hinzufügen, was mit den anderen
geschieht. Denn für die einen ist dies ein Finanzierungsprogramm. Zur nationalen Versöhnung gehört aber auch,
mit den ehemals Gewaltbereiten zu reden, sie zurückzuholen und ihnen Asyl zu gewähren. Wo genau ist eigentlich die rote Linie, um zu verhindern, dass aus den
investierten 500 Millionen Euro nur ein Rückführungsprogramm oder sogar ein Rückkaufprogramm wird, dessen negative Wirkungen man überhaupt nicht absehen
kann? Dazu haben Sie geschwiegen, Frau Merkel.
({6})
Wie soll das denn gehen und wie wäre das Verfahren,
wenn es solche Rückkehrprogramme gäbe und man einzelnen Provinzen mehr Selbstständigkeit zugestehen
würde? Wie soll denn dann das Spannungsverhältnis,
das zwischen der Geltung der universellen Menschenrechte und der in der afghanischen Verfassung postulierten Scharia herrscht, in der Realität umgesetzt werden?
Das alles sind Fragen, die sich an dieser Stelle ergeben.
Ich hatte die Freude, gestern Herrn Karzai zu treffen
und von Ihnen gestern früh informiert zu werden. Weil
das alles hinreichend unbestimmt ist, stelle ich mir die
Frage: Wie soll Korruption in Zukunft bekämpft werden? Die Aussage, Afghanistan brauche ein Backing der
Staatengemeinschaft und davon ziemlich viel, reicht mir
auch nicht aus. Wir wollen von der afghanischen Regierung wissen, wie sie das Geld tatsächlich in den Aufbau
des Landes investiert, wie das strukturell funktionieren
soll.
Es macht Sinn, Karzai mit seiner Regierungserklärung und der Art seines Versprechens an sein Volk zu unterstützen. Er will fünf Bereiche weiterentwickeln und
verspricht, die Bemühungen so zu organisieren, dass man
Ende 2014 fertig sei. Wir können das unterstützen. Aber
mir ist es egal, ob die einen sagen, wir unterstützen das,
und die anderen sagen, wir brauchen ein Abzugsdatum.
Zwischen dem 31. Dezember 2014 und dem 1. Januar
2015 liegt nur eine juristische Sekunde. Insofern: Regen
Sie sich untereinander doch nicht darüber auf! Machen
wir uns lieber Gedanken darüber, wie wir Afghanistan
konkret unterstützen können.
Ich will zu drei Punkten etwas sagen, zu dem, was die
neue Strategie ausmachen soll:
Für den zivilen Wiederaufbau sind Mittel von
210 Millionen Euro vorgesehen. Das macht Hoffnung.
Das ist ein Wort, aber mehr auch nicht. Noch bin ich zurückhaltend, weil schon oft versprochen wurde, man
wolle Gelder anders implementieren, aber es nie gemacht wurde. Ich sage Ihnen - auch nach der letzten Legislaturperiode - ehrlich: Wir wollen sehen, dass gezielt
in die Entwicklung der ländlichen Räume Geld investiert
wird, dass es aufgelegt wird und dort auch ankommt.
({7})
Ich hoffe, dass wir nach dem Rückzug vieler Organisationen nicht zu spät sind.
Wir begrüßen es, dass die Kanzlerin in der Art von
Abkehr und Distanzierung zum Angriff im Kunduz sagt:
weg vom offensiven Vorgehen, hin zu einer Ausrichtung
auf Ausbildung und Schutz. Dieser Satz war längst
überfällig. Das falsche Verhalten in der Vergangenheit
hat uns einen Untersuchungsausschuss beschert, der
nicht überflüssig ist. Ich hoffe, Frau Merkel, Sie machen
gegenüber dem Kommandeur McChrystal endlich deutlich, dass Sie das verstanden haben; intern sagen Sie das
ja auch. Wenn Sie verstanden haben, dass es um Ausbildung und Schutz gehen soll, dann muss es jetzt an der
Zeit sein, sich ehrlich zu machen. Man muss sich sehr
genau überlegen: Wofür haben wir bisher Geld ausgegeben? War es effizient? Haben wir unsere Versprechungen eingehalten?
Zum Thema Polizei. Sie haben immer versprochen,
einen Schwerpunkt bei der zivilen Aufbauoffensive,
auch beim Polizeiaufbau, zu setzen. Wo ist der? Sie haben schon einmal 120 Polizeikräfte für EUPOL und
60 Polizeikräfte für bilaterale Polizeiarbeit versprochen.
Derzeit sind allerdings gerade mal 123 Polizeikräfte im
Einsatz. Die Ankündigung, auf 200 Polizeikräfte aufzustocken, gab es längst. Sie kündigen als Schwerpunkt der
Aufbauoffensive etwas an, wo wir doch in der Vergangenheit schon immer darauf gewartet haben, dass die
alte Ankündigung realisiert wird. Das ist keine Polizeiaufbauoffensive.
({8})
Wir werden sehr genau beobachten, wie Sie diese Offensive angehen wollen, wie Sie das, bis hin zum Partnering, beim Aufbau in den Distrikten gewährleisten wollen. Unsere Forderung war bisher, 500 Ausbilder bei der
Polizei einzusetzen.
Zum Thema Bundeswehr. Ich glaube, das ist eine
Mogelpackung. Es gab eine Art Stammeskonflikt zwischen den Regierungsministern. Es ging um die Frage,
wie stark die Bundeswehrkapazität ausgebaut werden
soll. Nun passiert Folgendes: Zusätzlich zu den 280 Ausbildern, die es schon gab, hat man nach effizienten Kontrollen und langem Suchen intern 620 gefunden. Nun
will man noch 500 Soldaten zusätzlich. Ich sage Ihnen
ganz klar: Wir werden auch in der Ausschussarbeit sehr
genau beobachten, wo überflüssige und falsche Einsätze
stattfinden. Der Tornadoeinsatz mit bis zu 100 Soldaten
macht militärisch keinen Sinn. Auch hier gäbe es Umbaumöglichkeiten, Frau Merkel.
({9})
Meine letzte Anmerkung zur Bundeswehr: Ein Plus
von 350 „flexiblen“ Soldaten kann ich nicht akzeptieren.
Wir haben in unserem bisherigen Kontingent von
4 500 Soldaten längst Flexibilität drin. Frau Merkel, wir
können nicht akzeptieren - ich habe eine, zwei Nächte darüber geschlafen und mit vielen geredet -, dass wir hier
einfach für diese oder jene Aufgabe, für die Wahlen, für
Übergänge und das Auswechseln von Truppen, sicherheitshalber die Zahl 350 verabschieden. Wenn davon, wie
Sie hier gerade sagten, zum Beispiel bei den Wahlen einige eingesetzt werden sollen, soll sich der Verteidigungsausschuss zuvor damit befassen. Ich sage Ihnen
ganz klar: Wir wollen keine Zum-Beispiel-Einsätze der
Bundeswehr. Die Entscheidung ist immer konkret im Plenum zu treffen. Deshalb werden wir uns jeden einzelnen
Antrag von Ihnen sehr kritisch und genau ansehen.
({10})
Fazit: Es gibt zwar Licht bei viel Schatten, aber jetzt
gilt es, die Londoner Ergebnisse abzuwarten. Wir wollen konkrete Schritte und Transparenz für die Zukunft.
Wir wollen wissen, wie eine Politik der Versöhnung in
etwa funktionieren kann, ohne dass es zum Beispiel bei
der Umsetzung der Menschenrechte zu massiven Brüchen und Rissen kommt. Jetzt muss es um einen wirklichen Vorrang des Zivilen gehen, um einen wirklichen
Vorrang von Ausbildung und Schutz unter Wahrung der
Menschenrechte.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, ich möchte Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich meinen persönlichen
Respekt für Ihre Regierungserklärung zollen, weil Sie
sehr deutlich gemacht haben, wie die Eckpunkte der
neuen Strategie dieser Bundesregierung im Vorfeld der
Londoner Konferenz aussehen. Ich glaube, dass jeder,
der richtig zugehört hat, genau erkennen konnte, mit
welchen neuen Ausrichtungen diese Bundesregierung
nach London fährt.
({0})
Ich habe auch mit sehr großer Aufmerksamkeit den
Worten der Kollegen Gabriel und Gysi zugehört. Ich
möchte Ihnen an dieser Stelle empfehlen: Fahren Sie
doch gemeinsam mit Frau Käßmann nach Afghanistan.
Schauen Sie sich die Situation vor Ort an.
({1})
- Fahren Sie noch einmal hin und schauen Sie sich die
Situation noch einmal an. Dann würden Sie, glaube ich,
über die Problematik, die dort vor Ort herrscht, wesentlich konkreter und wesentlich realistischer reden können, als Sie das heute hier getan haben.
({2})
Ich hatte heute den Eindruck, dass, mit Ausnahme einer Fraktion, in diesem Haus bezüglich der strategischen
Ausrichtung der Bundesregierung für die Londoner Afghanistan-Konferenz an vielen Stellen eine Übereinstimmung zum Vorschein kommt, wenn sich der parteipolitische Pulverdampf verzieht. Wir haben zum ersten Mal
deutlich gemacht, dass der Primat der Politik in diesem
Einsatz wieder die Oberhand gewinnt. Ich halte das für
sehr wichtig. Wir haben viele Forderungen, die in den
vergangenen Jahren im Parlament stets wiederholt worden sind - mehr Aufbau von Polizei, mehr zivile Unterstützung, mehr Übergabe von Verantwortung an die afghanische Regierung, mehr Schutz der Bevölkerung -,
in diese Strategie implementiert.
({3})
Ich hatte heute an vielen Stellen der Diskussion den
Eindruck, dass wir mit rückwärtsgerichteten Termini arbeiten. Der Punkt, an dem wir heute sind, bedeutet für
mich einen Aufbruch. Wir zeigen eine Perspektive für
Afghanistan, aber auch eine Perspektive für die internationale Gemeinschaft auf. Man sollte hier nicht den Eindruck erwecken, dass die Bundesregierung die Probleme
in Afghanistan alleine lösen kann. Es war eine internationale Kraftanstrengung. Es ist eine internationale
Kraftanstrengung. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn
wir in London noch einmal allen Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten deutlich machen, dass das auch
weiterhin eine internationale Kraftanstrengung ist.
({4})
Herr Gysi, Sie haben heute hier Zahlen vorgetragen,
um zu unterlegen, dass sich die Situation in Afghanistan
nicht signifikant verbessert hat.
({5})
Sie haben dabei aber eines außer Acht gelassen: Die
Rückführung von Millionen von Flüchtlingen aus den
benachbarten Ländern Pakistan und Iran ist eine große
Belastung, die dieses Land zusätzlich zu den Folgen des
Bürgerkrieges zu tragen hat, bzw. es ist eine unmittelbare Folge aus dem Bürgerkrieg. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf diese Strukturen aus. Man sollte
nicht so tun, als sei die Präsenz der internationalen Gemeinschaft in den letzten Jahren vollkommen umsonst
gewesen.
Dies ist eine komplexe und komplizierte Region. Ich
bin dankbar, dass heute auch das Thema Pakistan angesprochen worden ist. Es wird viel zu wenig zur Kenntnis
genommen, dass Pakistans Regierung unter anderem mit
militärischen Anstrengungen ebenfalls versucht, Stabilität in der Region herbeizuführen. An dieser Stelle sind
sehr viele Todesopfer zu beklagen, auch unter den Soldaten und den Polizisten. Ich möchte die Gelegenheit
nutzen, ein sehr herzliches Dankeschön an die pakistanischen Entscheidungsträger zu richten; denn letztendlich
profitieren auch wir bei unserem Einsatz und Engagement in Afghanistan davon.
({6})
Wir haben heute die Frage gehört: Warum ist erst eine
Truppenaufstockung notwendig, um die Zahl dann zurückzuführen? Wenn ich dieser neuen Strategie den
Schutz der Zivilbevölkerung und die Übergabe in Verantwortung als wesentliche Punkte zugrunde lege, bedeutet
das, dass ich in den bevölkerungsstarken Regionen Sicherheit herstellen und gleichzeitig die afghanische Armee ausbilden muss, um diese in die Lage zu versetzen,
die Aufgaben der Sicherheitskräfte eines souveränen
Landes zu erfüllen. Insofern ist das vollkommen logisch;
das ist überhaupt nicht unlogisch. Das sieht man, wenn
man sich einmal etwas intensiver mit den Einzelheiten
dieser strategischen Überlegungen befasst.
Ich möchte hier weiterhin zum Ausdruck bringen,
dass ich das notwendige Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Bundeswehr in dem Bereich habe. Wir werden in
Zukunft eine große Verantwortung bei der Führung des
Regionalkommandos Nord haben. Ich wünsche mir,
liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, dass Sie, um die
Ziele zu erreichen - Stärkung des zivilen Wiederaufbaus, mehr Übergabe in Eigenverantwortung, Schutz der
Zivilbevölkerung -, den Einsatz unserer Bundeswehrsoldaten auf der Basis dieses neuen Mandates mittragen.
Ich wiederhole das an dieser Stelle und danke all den besonnenen Kolleginnen und Kollegen in den anderen
Fraktionen dafür, dass sie diesen Weg mitgehen wollen.
Ich bin der Meinung, dass die zeitlichen Ziele, über
die wir heute gesprochen haben, durchaus zu erreichen
sind. Aber wenn wir unsere eigene Strategie nicht unterstützen, wenn wir nicht an sie glauben und wenn wir
schon von vornherein unseren zivilen Aufbauhelfern,
den Diplomaten und den Soldaten dem Grunde nach sagen, dass wir nicht so ganz dahinterstehen oder nicht so
ganz davon überzeugt sind, dann frage ich mich, wo die
Menschen, die das vor Ort umsetzen sollen, die Motivation hernehmen sollen.
({7})
Ich glaube, dass in Zukunft ein wesentlicher Punkt
der diplomatischen und politischen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft sein wird, die afghanische
Regierung dabei zu unterstützen, als souveräner Staat
die Versöhnung, die ihre Aufgabe in ihrem Land ist, zu
erreichen. Das wird schwierig werden. Das wird viel Geduld bedürfen. Wir werden hier sicherlich viele - ich
sage es einmal salopp - Kröten zu schlucken haben.
Aber am Ende jeder militärischen Mission muss es eine
politische Lösung geben. Wir sind zum ersten Mal gemeinsam in einer so realistischen Bewertung der Lage
angekommen, dass ich der Überzeugung bin, dass wir
hier mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung in den
nächsten vier bis fünf Jahren zu wesentlich besseren Ergebnissen kommen werden als in den vergangenen acht
Jahren.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege
Ernst-Reinhard Beck.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber
Kollege Gabriel, vorneweg möchte ich sagen: Ich
glaube, es ist nicht ganz seriös, das, was man selbst acht
Jahre lang nicht geschafft hat, was einem acht Jahre lang
nicht gelungen ist, den Nachfolgern in dieser Form anzuhängen.
({0})
Schlicht und ergreifend bis vor vier Monaten hat Ihr Außenminister hier Verantwortung getragen. Diese rückwärtsgewandte Geschichte ist schwer erträglich.
({1})
Wenn Sie etwas zum Konzept gesagt hätten, wäre das etwas anderes. Aber Sie haben damit im Grunde Ihre eigene Regierungszeit mit schlechten Noten versehen.
({2})
Das will ich am Anfang sagen.
({3})
Ernst-Reinhard Beck ({4})
Natürlich, der Afghanistan-Einsatz dauert länger, ist
schwieriger und auch teurer, als wir es uns am Anfang
vorgestellt haben; das ist richtig. Aber, Frau Kollegin
Künast, die Frau Bundeskanzlerin hat sich hier sehr klar
geäußert und über ein Fünfpunkteprogramm unter der
Überschrift „Übergabe in Verantwortung“ gesprochen.
Ich glaube, das ist in der Tat ein Programm, das dem
Konzept der vernetzten Sicherheit wirklich Rechnung
trägt, eine Strategie, die auch nach vorne gerichtet ist.
Sie sprachen den Dreiklang von Ausbildung, Schutz
und Präsenz in der Fläche an. Dieser Dreiklang wird den
Herausforderungen in einer angepassten Sicherheitslage
gerecht. Die Erhöhung der Zahl der Militärausbilder
von derzeit 280 auf circa 1 400 wird dazu führen, dass
wir die Zielgröße der afghanischen Armee schneller erreichen. Frau Künast, das ist keine Mogelpackung. Im
Rahmen der Verstärkung der Ausbildung stocken wir die
Zahl von derzeit 500 auf. Das spielt auch mit Blick auf
die Führungsfähigkeit eine Rolle, nämlich dann, wenn
2 500 amerikanische Soldaten in den Norden entsandt
werden. Sie stoßen sich oft an der Zahl 350.
({5})
Ich gehe davon aus, dass die Zahl 350 an die Obergrenze
angepasst wird. Das würde dann einem Plus von 850
entsprechen.
({6})
- Herr Kollege Nouripour, das ist auch im Verteidigungsausschuss zu klären. Bisher war ein solcher Schritt
angesichts der Obergrenze überhaupt nicht notwendig.
Ich kann nicht verstehen, warum das ein Weniger sein
soll. Ich glaube, das, was die Bundesregierung an dieser
Stelle vorschlägt, ist ein Mehr an parlamentarischer Mitbestimmung. Das muss ich in aller Klarheit sagen.
({7})
Die Verbesserung des Schutzes der afghanischen Bevölkerung wird die Rahmenbedingungen des zivilen
Aufbaus optimieren. Schließlich soll die Präsenz in der
Fläche den Kontakt zur Bevölkerung verbessern. Ich
sage ganz klar: Präsenz in der Fläche kann im Grunde
nur heißen, in ausgewählten kritischen Distrikten gemeinsam mit den afghanischen Soldaten, die wir selber
ausbilden, den Schutz der Bevölkerung mit der Ausbildung der Soldaten zu verbinden. Das ist das neue und
richtige Konzept. Ich glaube, diese Dreisäulenlösung
wird für die Zukunft tragfähig sein. Jedes Element für
sich genommen hatte bereits in der Vergangenheit seinen
Platz, wenn es um Aufbau und Sicherheit ging.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich betonen: Dass der neue Minister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung keinerlei Berührungsängste mit der Bundeswehr hat, lässt mich auch
hoffen,
({8})
dass wir unsere Anstrengungen beim zivilen Aufbau verstärken und den Menschen dort, wo wir Verantwortung
tragen, wo auch unsere Soldaten sind, nicht nur das Gefühl vermitteln, dass es besser wird, dass sie jetzt besser
leben, dass das, was wir wollen, auch bei den Menschen
ankommt, sondern dass wir auch Tatsachen schaffen. Ich
meine, dass es durchaus richtig ist, den Schwerpunkt in
der Region des Nordens zu setzen.
Die afghanische Armee auszubilden, ist richtig. Dabei
helfen in unserem Verantwortungsbereich auch
2 000 amerikanische Soldaten, die schwerpunktmäßig
ausbilden und dem deutschen Kommando unterstellt
sind. Zeitgleich wird die Anwesenheit der Amerikaner
dazu beitragen, eine Fähigkeitslücke im Norden zu
schließen, nämlich bei der Luftbeweglichkeit im deutschen Verantwortungsbereich. Dadurch, dass die Amerikaner jetzt 50 Hubschrauber bei uns stationieren, wird
auch die Fähigkeit verbessert, im Bereich der medizinischen Versorgung, etwa bei MEDEVAC, eine Lücke zu
schließen. Transport und Beweglichkeit werden wesentlich verbessert.
Eine Bemerkung zur Polizeiausbildung. Frau
Künast, Sie haben völlig recht, wenn Sie monieren, dass
manches, was wir uns vorgenommen haben, noch nicht
erreicht ist. Es ist auch richtig, dass wir Zwischenziele
formulieren. Wir müssen uns immer wieder fragen: Wie
weit sind wir noch von ihnen entfernt? Dennoch ist klar,
dass die Polizeiausbildung jetzt mit verstärkten Anstrengungen angegangen wird; das liegt in deutscher Verantwortung. Ich glaube, dass durch eine solidarische Anstrengung der 16 Bundesländer, die dafür verantwortlich
sind - das geschieht ja nicht par ordre de mufti vonseiten
der Bundesregierung -, eine entscheidende Verbesserung erzielt wird.
Im Übrigen rege ich an, auch die Konzeption von
EUPOL zu überdenken. EUPOL berät nur afghanische
Ministerien und afghanische Behörden. Wäre nicht ein
Teil dieser 200 Polizisten, die von europäischen Ländern
gestellt werden, besser aufgehoben, indem sie zur Verstärkung der Ausbildung vor Ort eingesetzt werden?
({9})
Dass für die Reintegration von Taliban viel Geld
fließt, hat viele Vorwürfe nach sich gezogen. Ich rege an,
zu überlegen, die afghanischen Soldaten und Polizisten,
die von uns ausgebildet werden, zumindest für eine bestimmte Zeit besser zu bezahlen. Sozial abgesicherte
Sicherheitskräfte sind weniger anfällig für Geldzuwendungen von anderer Seite. Auch hier wäre das Geld gut
investiert, wenn man wirklich Versöhnung herbeiführen
will.
({10})
Die massive Aufstockung der Zahl der Ausbildungskräfte, die Verdopplung der Mittel für den zivilen Aufbau, die Umkehr in Richtung einer etwas defensiveren
Strategie, das sollte der Opposition erlauben, dem veränderten Mandat für den Afghanistan-Einsatz auch in Zukunft zuzustimmen.
Ernst-Reinhard Beck ({11})
Ich habe Signale erkannt, dass sich die Grünen ihrer
Verantwortung für diesen Einsatz, den sie einmal mitgetragen haben, weiter bewusst sind. Auch wenn mir Frau
Künast jetzt nicht zuhört, werbe ich bei der Opposition
um Zustimmung; ich sehe nämlich, dass durchaus
Bereitschaft da ist. Man sollte diesem Konzept die Zustimmung nicht versagen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Unsere Soldatinnen und Soldaten und die
zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr benötigen die
Rückendeckung des gesamten Parlaments. Im Namen
des Parlaments sind sie in den Einsatz geschickt worden.
Je größer die Unterstützung in diesem Parlament ist,
desto besser. Das ist wichtig.
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Ich glaube, dass
wir auch bei dem neuen Mandat die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz der Bundeswehr neu definieren
müssen. Herr Gabriel, ich möchte jetzt nicht darüber diskutieren, ob der Begriff „Krieg“ angemessen ist; es wäre
natürlich interessant, einmal seriös darüber zu diskutieren. Aber wenn wir uns einig sind, dass wir in Afghanistan einen nicht internationalen militärischen Konflikt haben, dann muss, meine ich, das humanitäre Völkerrecht
und nicht die deutsche Strafprozessordnung zur rechtlichen Grundlage für den Einsatz unserer Soldaten werden. Diese Rechtssicherheit sind wir unseren Soldaten
schuldig.
({12})
Ich erinnere daran, und ich bitte darum, dass wir die
im Koalitionsvertrag festgelegte Forderung nach der
Einrichtung einer zentralen Staatsanwaltschaft zügig
in Angriff nehmen. Wir dürfen die Angehörigen der
Bundeswehr, die im Einsatz ohnehin erheblichen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt sind, nicht
mit zusätzlichen Bürden belasten.
Mit der neuen Strategie gewinnen wir Initiative und
Gestaltungskraft zurück. Sie ist ein wichtiger Schritt auf
dem Weg zum Erfolg. Als souveräner Staat in einem sicheren Umfeld leben zu können, ist nicht selbstverständlich; gerade wir Deutschen haben dies erfahren. Heute
ist es an uns, Afghanistan diese Möglichkeit zu eröffnen.
Dem dient dieser Vorschlag, dem dient dieses Konzept.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, weil er heute das erste Mal in seiner neuen
Funktion der Diskussion in diesem Hohen Hause beiwohnt, den neuen Generalinspekteur der Bundeswehr,
General Wieker, herzlich willkommen zu heißen und
ihm für die schwierigen Aufgaben, die er vor sich hat,
viel Erfolg und viel Glück zu wünschen.
({0})
Ich hatte in der Vergangenheit, vor allem in den letzten Wochen, die Möglichkeit, mit vielen Soldatinnen
und Soldaten zu sprechen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Afghanistan, auch in Kunduz. Wenn man
sie fragt: „Was wünscht ihr euch von der Politik?“, ist
die Antwort: Wir wünschen uns von der Politik mehr
Ehrlichkeit.
Jetzt schaue ich mir an, was uns vorliegt, und frage
mich: Gibt es diese Ehrlichkeit? Allein bei der Frage
nach mehr Soldaten sehe ich sie an drei Stellen nicht.
Die erste: Natürlich gibt es in bestimmten Bereichen Bedarf. Ich will das in der knappen Zeit nicht ausführen;
aber natürlich brauchen wir mehr Stabsoffiziere in
Masar-i-Scharif, und wir brauchen mehr Sicherheit in
Kunduz.
Aber bevor man aufstockt, muss man eine Evaluation vornehmen. Das hat meine Fraktionsvorsitzende bereits gesagt, das hat aber auch Herr Guttenberg schon
gesagt: Als er noch nicht Minister war, hat er die Einsetzung einer Evaluationskommission gefordert. Es wäre
höchste Zeit für eine Evaluation, nicht nur darüber, was
in Afghanistan schiefläuft, sondern auch darüber, was in
Afghanistan richtig gelaufen ist, damit man auch das der
Öffentlichkeit präsentieren kann.
({1})
Ich glaube im Übrigen, dass das ein deutlich besserer
Weg ist, die deutsche Öffentlichkeit von bestimmten
Notwendigkeiten zu überzeugen, Kollege Gabriel, als zu
sagen: Der Kriegsbegriff ist nicht realitätstauglich; es ist
also egal, ob da Krieg herrscht oder nicht, wir sparen das
aus. Ich glaube, man kann unserer Öffentlichkeit mehr
zumuten; die Deutschen vertragen mehr, wenn sie wissen, dass man ihnen die Wahrheit sagt, und man sagt,
warum man bestimmte Dinge tut.
Ein zweiter Punkt, bei dem ich mir nicht sicher bin,
ob wir es hier mit Ehrlichkeit zu tun haben, ist die Frage
der Alternativen. Wir haben Alternativen, die aber nicht
geprüft werden, etwa den von uns so genannten
Vollmer-Plan, den General Vollmer, der Commander im
Regional Command North, bereits im letzten Jahr vorgestellt hat. Der Plan sieht die Ausbildung von 2 500 afghanischen Polizisten im Raum Kunduz vor, die wir bezahlen. Die Kosten dafür belaufen sich auf 9 Millionen
Dollar; das ist verhältnismäßig wenig. Die Ausbildung
könnte schnell vollzogen werden. Der Plan ist von der
neuen Regierung abgelehnt worden, wäre aber eine wunderbare Alternative, der man sich annehmen könnte.
Ich erinnere mich auch an die Beschlussfassung zum
Einsatz von Tornados im Jahr 2007. Deren Nutzen beispielsweise für die Soldaten in Kunduz ist gleich null.
Im Mandatstext stand, dass dafür 500 Soldaten gebraucht werden. Das entspricht der Zahl von 500 zusätzlichen Soldaten, die Sie jetzt beschließen wollen.
In diesem Zusammenhang komme ich zur dritten
Stelle, an der mir die Ehrlichkeit fehlt - Kollege Beck
hat es gesagt; ich bin froh, wenn wir darüber reden können, ob man das nicht hineinschreiben kann -: Es ist
nicht wirklich redlich, 350 Soldaten als Reserve für
Wahlen und für Kontingentwechsel aufzuführen. Wir haben schon bei den letzten beiden Aufstockungen über die
Argumente dafür gesprochen. Da hat man uns immer gesagt: Wir brauchen einen Puffer für Kontingentwechsel.
Minister Jung selbst hat gesagt - ich habe die Zitate hier
vorliegen -, dass man den Puffer sowieso nicht ausschöpfen werde. Drei Monate später waren wir an der
Mandatsobergrenze angelangt. Das wird auch hier der
Fall sein. Herr Minister, ich wette mit Ihnen, dass Sie
spätestens im Herbst herkommen und sagen werden: Wir
haben den Puffer von 350 Soldaten ausgeschöpft.
Wenn wir ehrlich sind, sprechen wir also über
850 Soldaten. Zur Ehrlichkeit würde auch gehören, zu
sagen: Vielleicht müssen wir hier in wenigen Wochen
oder Monaten die AWACS beschließen. Wir werden
dann auch wie beim letzten Mal den Einsatz von
300 Soldaten beschließen sollen. Wir alle wissen, dass
300 Soldaten zu viel sind; 150 würden reichen. 150 plus
350 plus 500 macht 1 000 Soldaten; das ist die Zahl, die
Guttenberg ursprünglich wollte, nicht die Zahl, die Herr
Westerwelle wollte. Sie tricksen mit den Zahlen herum.
Das ist Parteienspiel und wird der Ernsthaftigkeit, die
die Kanzlerin vorhin gefordert hat, nicht gerecht, auch
nicht der Ehrlichkeit, die die Soldatinnen und Soldaten
brauchen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Silberhorn
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Selten zuvor haben wir so ausführlich, in so
breiter Öffentlichkeit und so engagiert über Afghanistan
debattiert wie in den letzten Wochen. Ich finde, das war
dringend notwendig. Wir brauchen einen Strategiewechsel, nicht nur für Afghanistan, sondern auch für die
Weise unserer Diskussion über Afghanistan.
({0})
Die Zeit der Parolen ist vorbei. Viel zu lange haben
wir uns mit Parolen beschäftigt - „unverbrüchliche Solidarität“ mit den USA; „Deutschland wird auch am
Hindukusch verteidigt“ -, anstatt über die Strategie zu
diskutieren. Ich freue mich, dass wir nun endlich zu einer schonungslosen Analyse der Lage vor Ort kommen,
({1})
dass man zu einer klaren Sprache findet und die Dinge
so benennt, wie man sie vor Ort vorfindet.
({2})
Deswegen begrüße ich es, dass Bundesminister zu
Guttenberg ausdrücklich von „kriegsähnlichen Zuständen“ spricht, weil er damit deutlich macht,
({3})
dass wir klären müssen, auf welcher Rechtsgrundlage
unsere Soldaten vor Ort im Einsatz sind.
({4})
Damit wird auch deutlich, dass wir unseren Soldaten
Rückendeckung für ihren Einsatz in Afghanistan geben
müssen, den wir beauftragen; denn sie erwarten zu Recht
Verständnis für ihren Einsatz bei ihrem Auftraggeber,
dem Bundestag.
Wir müssen uns auch selbst darüber klar werden: Wer
Fakten verklärt oder nicht klärt, stellt auch nicht die richtigen Fragen und kann nicht zu den richtigen Antworten
kommen. Herr Gabriel, die Elaborate, die Sie vorhin
zum Thema Vereinte Nationen vorgetragen haben, waren
völlig neben der Sache. Wir streiten uns nicht über die
Rechtsgrundlage dieses Einsatzes. Auch uns sind die Resolutionen der Vereinten Nationen bekannt; aber diese
Resolutionen klären nicht die Frage, ob das konkrete
Handeln eines Bundeswehrsoldaten vor Ort nach deutschem Strafrecht oder nach Völkerrecht zu beurteilen ist.
Ich finde, diese Frage kann man nicht den Staatsanwälten überlassen, die ja nur am grünen Tisch entscheiden können. Das ist auch für die Staatsanwälte eine
Zumutung.
({5})
Wir, der Deutsche Bundestag, müssen dazu Stellung
nehmen, weil wir bei diesem Einsatz die Auftraggeber
sind.
({6})
Deswegen finde ich es richtig, wenn wir beim nächsten
Mandat dahin kommen könnten, dass wir eine Aussage
dazu treffen,
({7})
dass wir diese Auseinandersetzung in Afghanistan als einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt verstehen und deswegen nicht deutsches Strafrecht, sondern
Völkerrecht Grundlage der Beurteilung des Handelns
unserer Soldaten vor Ort ist.
Genau das ist die Rechtssicherheit, die unsere Soldaten brauchen, und es ist schlicht inakzeptabel, dass diese
Fragen bis heute, also auch im neunten Jahr des Einsatzes, noch offen und nicht beantwortet sind. Wir müssen
sie bei nächster Gelegenheit beantworten.
({8})
Die ursprüngliche Zielvorstellung, die mit diesem
Einsatz in Afghanistan verbunden war, eine Demokratie
nach westlichem Vorbild zu schaffen, hat sich als reichlich naiv erwiesen. Es kann nur um eines gehen, nämlich
darum, dieses Land so zu stabilisieren, dass wir die Verantwortung für die Sicherheit in afghanische Hände geben können.
Dazu brauchen wir einen vernetzten Ansatz; das war
bisher schon Konsens. Ich glaube, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass auch die Bundesregierung
in den eigenen Reihen bisher ihre liebe Not mit dem vernetzten Ansatz hatte. Deswegen finde ich es wichtig,
dass wir im Koalitionsvertrag ausdrücklich vereinbart
haben, die ressortübergreifenden Anstrengungen innerhalb der Bundesregierung stärker zu bündeln. Dieses
Versprechen wird jetzt eingelöst.
Erstmals liegt uns eine Strategie vor, die von allen beteiligten Ressorts gemeinsam erarbeitet worden ist, mit
der klare Zielvorstellungen dafür gegeben werden, was
wir in Afghanistan erreichen wollen, mit der genau beschrieben wird, welche Beiträge wir dazu leisten wollen,
und durch die auch ein Zeitrahmen genannt wird, in dem
wir diese Erfolge erreichen wollen. Genau so und in dieser Reihenfolge muss es gehen. Deswegen ist dies der
richtige Ansatz.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu der Debatte über ein mögliches Ende des Abzugs will ich nur
Folgendes sagen: Bisher waren wir uns darüber einig,
dass mit einem Enddatum den Falschen in die Hände
gespielt wird. Herr Steinmeier, auch wenn Sie heute
nicht reden durften, darf ich daran erinnern, dass Sie in
Ihrem Zehnpunkteplan vom September letzten Jahres
gesagt haben: Wir müssen die Grundlagen für den Abzug aus Afghanistan bis 2013 schaffen. - Darin stimme
ich Ihnen zu. Gleichzeitig haben Sie aber gesagt:
Eine konkrete Jahreszahl könnte in Afghanistan
von den Falschen als Ermutigung verstanden werden.
Genau so ist es, und weil sich das seit September 2009
nicht geändert hat, ist es richtig, kein Enddatum zu nennen.
Ich habe aber Sympathie dafür, ins Auge zu fassen,
dass wir dann mit dem Abzug beginnen, wenn auch die
Amerikaner 2011 damit beginnen wollen. Zumindest
dieses Ziel sollten wir uns setzen.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei unserem Engagement in Afghanistan und bei dem gesamten
Einsatz der internationalen Gemeinschaft fehlt mir bislang, dass wir uns mit der afghanischen Regierung auf
klare Ziele verständigen; denn es hilft doch nichts, wenn
sich die internationale Gemeinschaft anstrengt, man aber
den Eindruck gewinnen muss, dass auf afghanischer
Seite eher passiv zugesehen wird.
Ich begrüße es, dass sich Präsident Karzai in seiner
Antrittsrede kürzlich sehr klar geäußert hat. Ich darf
diese zwei Sätze zitieren:
Innerhalb der nächsten drei Jahre möchte Afghanistan militärische Operationen in vielen unsicheren
Gebieten des Landes selbst führen und durchführen. Entschlossen wollen wir uns dafür einsetzen,
dass die afghanischen Sicherheitskräfte in den
nächsten fünf Jahren fähig sind, überall im Land die
Führung zu übernehmen und Sicherheit und Stabilität zu garantieren.
Ich finde, wir sollten die afghanische Regierung hier
beim Wort nehmen. Deswegen ist es richtig, dass wir für
die Ausbildung und die Ausstattung der afghanischen
Armee und Polizei deutlich höhere Beiträge erbringen,
als das bisher der Fall war.
Ferner begrüße ich es, dass wir in militärischer Hinsicht in vielen Details einen Strategiewechsel vornehmen - Bundesminister zu Guttenberg hat dies bereits im
Einzelnen erläutert -: Die Ausbildung der afghanischen
Soldaten wird künftig im Feld stattfinden, die Schnelle
Eingreiftruppe wird zu einer Ausbildungs- und Schutztruppe umgewandelt, und die Wiederaufbauteams in den
Provinzen werden mit einem neuen Fokus auf den Wiederaufbau umstrukturiert. Auch das ist ein klares Signal
dafür, dass wir uns stärker an den tatsächlichen Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung ausrichten.
Ich vermisse in Afghanistan greifbare Erfolge bei der
Bekämpfung des Drogenanbaus, beim Aufbau von Verwaltung und Justiz und bei der Bekämpfung von Korruption und Kriminalität. Ich finde, wir müssen darüber mit
der afghanischen Regierung sehr deutliche Worte sprechen. Wir müssen zumindest versuchen, dafür Sorge zu
tragen, dass unsere Hilfe nicht als ein Beitrag zur Stabilisierung der derzeitigen Amtsinhaber missverstanden
wird oder gar zur Aufrechterhaltung korrupter Strukturen missbraucht werden kann.
Deswegen ist es notwendig, dass die afghanische Regierung sich selbst die vereinbarten Ziele zur Aufgabe
macht und sich auch dafür einsetzt, dass die afghanische
Bevölkerung selber ein Interesse an der Stabilisierung
des Landes und am Gelingen des politischen Prozesses
entwickelt. Ohne den eigenen Willen der Afghanen
werden alle Bemühungen von außen nicht erfolgreich
sein können. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber eine Schule, die wir aufbauen, kann auch sehr
schnell wieder vergammeln, wenn sie nicht vom eigenen
Willen der Bevölkerung getragen wird, diese Schule aufrechtzuerhalten.
Wir können nur die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass die Afghanen eine Chance zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung bekommen. Letztlich müssen
die Afghanen diese Chance selbst ergreifen. Ich finde,
wir sollten mit einer klaren Strategie und klaren Vorgaben für die afghanische Regierung dabei ein bisschen
nachhelfen.
Ich wünsche der Bundesregierung viel Erfolg bei der
Afghanistan-Konferenz morgen in London.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Holger Haibach für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selten war in
einer Debatte im Deutschen Bundestag so oft wie heute
die Rede von Ehrlichkeit und Offenheit, die immer wieder eingefordert werden. Dazu will ich drei Vorbemerkungen machen, die mir wichtig erscheinen.
Erstens. Es wird sehr häufig gesagt - das ist auch
heute in der einen oder anderen Intervention angeklungen -, es sei in Afghanistan nichts passiert, es sei dort
nichts gut. Abgesehen davon, dass es schlichtweg falsch
ist - das beweisen die Zahlen -, ist diese Aussage,
glaube ich, auch nicht fair und anständig; denn diejenigen, die das sagen, meinen zwar die Politik, aber letzten
Endes ist es ein Schlag ins Gesicht aller Soldatinnen und
Soldaten, aller Diplomatinnen und Diplomaten und aller
Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, die in
Afghanistan seit Jahren einen sehr gefährlichen Job sehr
gut erledigen.
({0})
Deswegen kämpfe ich immer gegen solche Äußerungen.
Zweitens ist von Herrn Gabriel kritisiert worden, dass
sich die Information des Parlaments gestern auf die
Fraktions- und Parteivorsitzenden beschränkt habe. Ich
glaube - darauf hat der Kollege Mißfelder schon hingewiesen -, es hat in der Frage von Auslandseinsätzen der
Bundeswehr selten so ein offenes Verfahren gegeben wie
in diesem Fall. - Das ist das eine.
Das andere ist: Dass ausgerechnet Herr Gabriel dies
gesagt hat, finde ich sehr bemerkenswert. Wenn ich mich
recht entsinne, war Herr Schröder früher SPD-Parteivorsitzender und damit der Amtsvorgänger von Herrn
Gabriel. Herr Schröder ist doch dafür bekannt, dass er
die Leitlinien deutscher Außenpolitik zwar über die
Marktplätze der Republik gerufen, aber nicht im Parlament verkündet und diskutiert hat.
({1})
Insofern glaube ich, dass auch an dieser Stelle ein bisschen Zurückhaltung von Ihrer Seite angebracht ist.
({2})
Als dritter Punkt ist mir in der Debatte, wenn wir über
Offenheit und Ehrlichkeit sprechen, Folgendes aufgefallen: Es wird immer wieder gesagt, wir müssten viel mehr
über das zivile Engagement reden, wir müssten viel
mehr im zivilen Bereich machen und wir bräuchten viel
mehr Geld. Die Medienberichterstattung der letzten
Tage zeigt, dass es um eine einzige Frage geht: Um wie
viele zusätzliche deutsche Soldaten in Afghanistan geht
es auf der Londoner Konferenz? Ich finde, das muss man
bei dieser Gelegenheit sagen, weil es eigentlich um etwas anderes geht. Wir alle haben immer betont, dass
London keine reine Truppenstellerkonferenz sein darf.
Das Konzept, das die Bundesregierung heute vorgelegt
hat, zeigt auch deutlich, dass zumindest wir einen anderen Ansatz verfolgen.
Ich denke, dass wir gerade über die entwicklungspolitischen Aspekte noch einmal sprechen müssen. Zunächst
einmal ist es wichtig, zu betonen, dass es diese Bundesregierung war, die schon in diesem Jahr die Mittel für
den zivilen Aufbau in Afghanistan auf über 140 Millionen Euro erhöht hat, und dass wir uns vorgenommen
haben, die Mittel insgesamt auf über 400 Mil-lionen
Euro aufzustocken. Das hat keine andere Bundesregierung vor uns gemacht. Ich halte das in dieser Zeit für ein
goldrichtiges Zeichen. Wir müssen hier einen klaren
Schritt tun. Neben der finanziellen Frage bedeutet das
aber auch, dass wir die richtigen Strukturen schaffen und
sagen müssen, was wir mit dem Geld eigentlich erreichen wollen. Aus meiner Sicht gibt es hier drei entscheidende Bereiche. Der erste ist das Thema Sicherheit, der
zweite das Thema Entwicklung und der dritte das Thema
Regierungsfähigkeit.
Sicherheit bedeutet nicht nur Sicherheit für unsere
Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, sondern zuerst und vor allem auch Sicherheit für die Menschen in Afghanistan. Denn wir wissen - das ist ein altbekannter Satz -: Ohne Sicherheit gibt es keine
Entwicklung, genauso wenig wie es ohne Entwicklung
Sicherheit geben kann. All diejenigen, die sagen, die
Bundeswehr müsse, wenn es geht, sofort raus aus Afghanistan, müssen erklären, wie sie die Sicherheitsfrage beantworten wollen. Ich glaube, sie haben dafür keine Lösung.
({3})
Wenn ein Entwicklungshilfeminister sagt, er habe keine
Scheu vor einer Zusammenarbeit mit der Bundeswehr,
dann finde ich das prinzipiell nicht verwerflich. Um es
ganz deutlich zu sagen: Ich finde es richtig, weil es eine
Zusammenarbeit geben muss. Es geht nicht darum - so
wird es manchmal dargestellt -, die Unterschiede zu verwischen; das darf nicht sein. Aber es muss klar sein, dass
es eine solche Zusammenarbeit geben muss.
Der zweite Punkt ist das Thema Entwicklung. Bis
heute gibt es eine ungelöste Frage, nämlich die nach dem
Drogenanbau. Der Drogenanbau stellt eines der größten
Probleme nicht nur für Afghanistan, sondern auch für
uns dar. Es geht hier auch um unsere eigenen Interessen.
Welche Interessen haben wir in dieser Angelegenheit?
Ich gebe zu, dass es bislang niemandem gelungen ist,
hier eine vollständig befriedigende Lösung zu finden;
denn der Drogenanbau ist offensichtlich noch immer lukrativer als beispielsweise die Erzeugung von Lebensmitteln. Wir müssen noch sehr viel darüber nachdenken,
wie wir an dieser Stelle vernünftig weiterkommen.
Das Dritte ist - das halte ich ehrlich gesagt für das
Wichtigste, was wir noch schaffen müssen - die Frage
nach der Regierungsfähigkeit. Über 400 Millionen
Euro in die Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan zu investieren, ist keine ganz einfache Aufgabe, vor
allen Dingen dann nicht, wenn keine Strukturen vorhanden sind, die das absorbieren können. Die Frage nach der
Absorptionsfähigkeit ist ganz wichtig. Deshalb ist es
richtig, dass die neue Strategie der Bundesregierung darauf setzt, noch mehr in die ländlichen Räume zu gehen
und noch mehr in den Aufbau von Strukturen zu investieren, die in der Lage sind, ein Gebiet zu verwalten sowie mit zu gestalten und zu entscheiden, was unter anderem mit deutschem Geld passieren soll. Das halte ich für
ganz entscheidend. Wir reden immer darüber, dass die
Afghanen ihre Sicherheit selbst in die Hand nehmen sollen. Wir reden immer darüber, dass sie über ihr Land
selbst bestimmen sollen. Aber dazu gehört, dass wir sie
bei der Entscheidung, was vor Ort in welchen Projekten
gemacht wird, tatsächlich unterstützen und dass wir sie
beteiligen. Der Provincial Development Fund zum Beispiel bietet dazu sehr gute Möglichkeiten. Die Erkenntnis, dass Afghanistan ein Land ist, das nie eine sehr
starke Zentralgewalt gekannt hat und immer sehr provinziell und nach Stämmen aufgestellt war, lässt sich in der
nun vorgelegten Strategie sehr gut wiederfinden. Das bedeutet nicht die Delegitimation der Zentralregierung.
Vielmehr wird auf die historischen Gegebenheiten dieses
Landes Rücksicht genommen. Wir wollen keinen Kolonialstaat aufbauen; Afghanistan soll sich vielmehr nach
eigenen Regeln entwickeln. Das ermöglichen wir mit
dem Plan der Bundesregierung.
({4})
Wenn wir über Abzugsdaten reden, dürfen wir nie
vergessen, dass es wichtig ist, nicht die falschen Signale
zu setzen. Es ist richtig, dass wir uns Gedanken darüber
machen, wann deutsche Soldatinnen und Soldaten aus
Afghanistan zurückkommen können. Aber wir müssen
die Dinge vom Ende her betrachten; das wurde schon
deutlich. Ein Abzug kann nur dann wirklich sinnvoll
sein, wenn eine selbsttragende Sicherheit und vernünftige Strukturen vorhanden sind. Das gilt nicht nur im
Hinblick auf die Sicherheit, sondern auch im Hinblick
auf die Sicherung des Lebensunterhalts, die Bildung und
die Infrastruktur. Ich wehre mich gegen ein konkretes
Abzugsdatum; denn wenn ein konkretes Abzugsdatum
genannt wird, dann ist es für diejenigen, die andere Interessen in diesem Land haben, relativ einfach, abzuwarten und zu sagen: Wir warten, bis die Bundeswehr bzw.
die internationalen Truppen weg sind. Dann übernehmen
wir wieder das Kommando im Land. - Das halte ich auf
jeden Fall für falsch, auch deshalb, weil wir es denjenigen, die mit uns zusammenarbeiten wollen, ein gutes
Stück schwieriger machen; denn wenn sie wissen, dass
der Schutz durch die internationalen Truppen begrenzt
ist, aber nicht dadurch, dass selbsttragende Sicherheit
vorhanden ist, sondern dadurch, dass es innenpolitische
Debatten in den Ländern der Truppensteller gibt, dann
tun wir ihnen keinen Gefallen, sondern lassen sie am
Ende des Tages allein. Das sollten wir nicht tun. Genau
deshalb meine ich, dass die Regierung hier ein sehr tragfähiges Konzept vorgelegt hat.
Danke sehr.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/519. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun können wir die
Fragestunde fortsetzen. Ich rufe dazu den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 17/493, 17/517 Bevor wir damit beginnen, gebe ich den Kolleginnen
und Kollegen, die daran nicht teilnehmen können, Gelegenheit, anderen Verpflichtungen nachzugehen.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Für die Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel zur Verfügung.
Ich rufe zunächst die Frage 1 der Kollegin Britta
Haßelmann auf:
Wann wird die Bundesregierung die Anpassungsformel
des Bundesanteils für die Unterkunftskosten für ALG-II-Beziehende entsprechend der Forderung der Bundesländer an
der Entwicklung der tatsächlichen Unterkunftskosten ausrichten?
Herr Staatssekretär, bitte.
Ich darf die Antwort wie folgt geben: Die Bundesregierung sieht von sich aus aktuell keinen Anlass, die
festgelegte Anpassungsformel zu verändern. Sie ist bekanntlich in § 46 Abs. 7 Sozialgesetzbuch II fixiert. Der
Regierungsentwurf des Sechsten Gesetzes zur Änderung
des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, mit dem die nach
§ 46 Abs. 8 Sozialgesetzbuch II notwendige jährliche
Anpassung der Bundesbeteiligung an den Kosten der
Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung für Arbeitssuchende erfolgt, wurde vom Deutschen Bundestag
in seiner 10. Sitzung am 4. Dezember 2009 unverändert
angenommen.
Der Bundesrat hat am 18. Dezember 2009 den Vermittlungsausschuss mit dem Ziel der grundlegenden
Überarbeitung des Gesetzes angerufen; es handelt sich
bekanntlich um ein Einspruchsgesetz. Der Vermittlungsausschuss wird dazu in einer ersten Sitzung am heutigen
Tage in anderthalb Stunden beraten. Ob und in welcher
Form die Anpassung der Beteiligung an den Kosten für
Unterkunft seitens des Bundes künftig erfolgt, hängt von
den Ergebnissen der Ausschussverhandlungen ab.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Bitte
sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin; vielen Dank auch Ihnen, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der
Frage.
Ich habe Sie also richtig verstanden, dass Sie keinerlei
Änderungsbedarf in Bezug auf die Anpassungsformel
sehen und mit dieser Haltung auch in das Bundesratsverfahren gehen, obwohl klar ist, dass auch aus dem CDUPräsidium und dem CDU-Vorstand ganz klare öffentliche Äußerungen dahin gehend erfolgt sind, dass Veränderungen der Anpassungsformel im Zusammenhang mit
den Änderungen hinsichtlich der Jobcenter und der
Hartz-IV-Reform im März getroffen werden?
Ich gehe nochmals auf die Historie der gesamten Gesetzesentwicklung ein. Man hatte sich in den letzten Jahren darauf verständigt, von den ursprünglichen Berechnungen abzugehen und nun eine mehr technische
Berechnung stattfinden zu lassen. Dieses Ergebnis wurde
erzielt, indem man den Ländern bei verschiedenen Positionen finanziell entgegengekommen ist. Man hat dann
2008 festgelegt, dass eine Regelung auf der Grundlage,
die ich vorhin skizziert habe, erfolgt, und zwar unbefristet. Das war eine Übereinkunft von Bund und Ländern.
Das ist die Grundlage, von der die Bundesregierung ausgeht.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, ich fände es gut, wenn wir jetzt
nicht in die Historie gingen; es ist den Abgeordneten hier
im Haus sicherlich bekannt, wie die Anpassungsformel
zustande gekommen ist. Wir sollten uns vielmehr mit der
tatsächlichen Situation auseinandersetzen. Diese ist ganz
eindeutig so, dass es einen massiven Anstieg der Kosten
für die Unterkunft für die Städte und Gemeinden gibt.
Gleichzeitig wird durch die bestehende Anpassungsformel der Bundesanteil ständig reduziert. Das wurde mit
der Bundesratsinitiative des schwarz-gelb regierten Landes Nordrhein-Westfalen aufgegriffen, und die Bundesregierung wurde aufgefordert, diese Anpassungsformel
zu verändern. Deshalb frage ich nicht nach der bestehenden Formel und nach der Historie, sondern ich frage, ob
Sie sich aufgrund der tatsächlichen Kostenentwicklung
der Kommunen und der Bundesratsinitiative von Nordrhein-Westfalen bemüßigt sehen, diese Anpassungsformel zu verändern.
Die Bundesregierung hat natürlich Verständnis für die
schwierige Situation der Kommunen. Wir alle wissen,
dass die finanziellen Verhältnisse der Kommunen aufgrund der Gesamtentwicklung sehr angespannt sind. Ich
muss aber daran erinnern, dass man sich auch mit dem
Wissen all der möglichen Entwicklungen, die die gefundene Formel auslösen könnte, im Jahr 2008 eindeutig
auf diese Formel verständigt hat. Der Bund hat schon
einmal zusätzliche Kosten übernommen, die ich jetzt
nicht beziffern möchte, die ich Ihnen aber auflisten
könnte.
Die Gesamtausgaben für die Kosten der Unterkunft
und Heizung im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende betragen zwischen 14 Milliarden und 15 Milliarden Euro im Jahr 2010. Wir wissen auch, dass sich
die Summe in diesen Zeiten nicht reduzieren wird. Ich
möchte als Sachwalter von Steuergeldern des Bundes
doch darauf hinweisen, dass die Erhöhung der Bundesbeteiligung um 1 Prozent Mehrkosten des Bundes in
Höhe von rund 150 Millionen Euro auslösen würde. Jedes weitere Prozent würde natürlich weitere Mehrkosten
bedeuten. Ich darf darauf hinweisen, dass wir in Kürze
den Bundeshaushalt in zweiter und dritter Lesung beraten werden und wir gegebenenfalls höhere Summen einstellen müssten - und dies bei dem derzeitigen Defizit
des Bundes. Ich bitte um Verständnis, dass die Bundesregierung im Augenblick keine weitergehenden Vorschläge zu diesem Thema zu machen hat.
Wir kommen zur Frage 2 der Kollegin Haßelmann:
Welche Art von Länderöffnungsklauseln plant die Bundesregierung, bei den Kosten für Unterkunft für ALG-II-Beziehende umzusetzen?
Auf diese Frage gebe ich Ihnen eine kurze Antwort:
Die Bundesregierung plant von sich aus derzeit keine
weiteren länderspezifischen Beteiligungsquoten bei der
Beteiligung an den Kosten für Unterkunft und Heizung.
Haben Sie eine Nachfrage dazu? - Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
vielen Dank für Ihre Antwort. - Schließen Sie mit Ihrer
Antwort Länderöffnungsklauseln aus, oder sollte das
heißen, dass Sie von sich aus nichts planen?
Anderthalb Stunden vor Beginn eines Vermittlungsverfahrens wäre ich schlecht beraten, weiter gehende
Äußerungen als die zu machen, die ich gerade zu den
Themen hier gemacht habe. Wir haben auch hier die Historie zu beachten. Sie haben vorhin gesagt, die sei im
ganzen Haus bekannt. Nun möchte ich sie zu diesem
Punkt nicht wiederholen. Mehrheitsfähig war im
Jahre 2007 nur eine besondere Formel für die Länder
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz; für diese beiden Länder hat man bekanntlich besondere Quoten eingeführt.
Mir sind natürlich Modelle bekannt, die darauf abzielen, dass man das alles differenzierter gestaltet. Die
Kunst des Vermittlungsverfahrens wird darin bestehen,
die Gesamtinteressen abzuwägen und dann zu einem Ergebnis zu kommen.
Frau Haßelmann, wie ich sehe, haben Sie noch eine
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben von sich aus gerade die
Länder Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz angesprochen. Die Kommunen in diesen Ländern und auch
diese Länder selbst haben andere prozentuale Beteiligungen als die anderen 14 Bundesländer. Um es einmal
einfach zu sagen: Diese beiden Ländern stellte man besser. Welche sachlichen Gründe waren eigentlich ausschlaggebend dafür - da gehe ich jetzt in die Historie -,
dass man unabhängig von der Einnahmesituation und
der Verfasstheit der Länder ausgerechnet RheinlandPfalz und Baden-Württemberg gegenüber den anderen
14 Bundesländern bei der Zuweisung bevorteilt?
Wir alle in diesem Hohen Hause sind Politikerinnen
und Politiker; daher wissen wir, dass so etwas nicht ohne
Grundlagen, die so etwas rechtfertigen, zustande kommt.
Es ist interessant, dass zwei Bundesländer bessergestellt
wurden. Das hat seine Ursache darin, dass man ganz zu
Beginn, als man das System umgestellt hat, gerechnet
und festgestellt hat, dass in diesen beiden Bundesländern
einige für die Gesamtformel signifikante Fakten erheblich anders sind als in den restlichen Bundesländern. Dabei ging es um Anteile an der Arbeitslosenhilfe und an
der Sozialhilfe. Bekanntlich sind diese beiden Transferleistungen im Rahmen des ALG II zusammengeführt
worden. In diesem Umfeld gab es Abwägungen, die
dazu führten, dass man diese Formel gefunden hat; damals verstand man dies als gerechten Interessenausgleich.
Je mehr Zeit vergeht, desto weniger wird es möglich
sein, die Historie neu aufzurollen; daher hat man in dem
letzten Gesetz keine Änderungen vorgenommen, sondern man hat die zuvor entwickelte Formel beibehalten.
Wir kommen damit zur Frage 3 des Kollegen
Matthias Birkwald:
Wie erklärt sich die Bundesregierung die vom Umfrageinstitut Forsa im Auftrag eines Finanzdienstleisters ({0}) konstatierte
Diskrepanz bei jungen Leuten - Altersgruppe 20 bis 29 Jahre -,
einerseits überdurchschnittlich häufig die Notwendigkeit zu
sehen, sich mit dem Thema der privaten Vorsorge zu beschäftigen, andererseits sich aber unterdurchschnittlich häufig tatsächlich intensiv mit diesem Thema zu befassen, und welche
Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus diesen Umfrageergebnissen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Ich möchte mich zunächst für diese Frage bedanken.
In ihr wird ein sehr wichtiges Thema angesprochen. Es
geht um den immer wichtiger werdenden Bereich der
privaten Altersvorsorge.
Herr Birkwald, Sie beziehen sich auf eine Aussage in
der Pressemitteilung der Union Investment vom 7. Januar 2010. Dort wird auf die große Diskrepanz bei jungen Menschen im Hinblick auf die Wahrnehmung der
Bedeutung des Themas „private Altersvorsorge“ einerseits und der tatsächlichen Beschäftigung mit diesem
Thema andererseits hingewiesen. Schaut man sich nicht
nur die von Ihnen angeführte Stelle, sondern die gesamte
Pressemitteilung an, so erkennt man, dass etwas außer
Acht gelassen wird: Dort wird ausgeführt, dass sich
63 Prozent der 20- bis 29-Jährigen bereits stark oder sehr
stark mit dem Thema „private Altersvorsorge“ beschäftigt haben.
Ein Anteil von 63 Prozent ist nach unserer Auffassung ein beachtlicher Wert, auch wenn er unter dem auf
sämtliche Altersgruppen bezogenen Durchschnittswert
von 71 Prozent liegt. Dieser Umfrage zufolge kann festgestellt werden, dass die Notwendigkeit zusätzlicher privater Altersvorsorge knapp 80 Prozent der jungen Menschen bewusst ist und dass diese Notwendigkeit bereits
bei fast zwei Dritteln dieser Altersgruppe zu einer intensiven Befassung mit diesem Thema geführt hat.
Dies ist angesichts des Beginns der gesamten Entwicklung eine erfreuliche und ermutigende Zahl, gerade
wenn man bedenkt, dass junge Leute naturgemäß andere
Sachen im Kopf haben als ihre Altersversorgung.
Ich halte deshalb noch einmal fest: Die Bundesregierung sieht durch diese Zahlen ihre Informationspolitik in
Sachen Zusatzrente bestätigt und wird sie unvermindert
fortsetzen. Beispielhaft sei hier auch auf die erfolgreiche
Kampagne „Altersvorsorge macht Schule“ hingewiesen,
die auch ein spezifisches Angebot für jüngere Menschen
bereithält.
Außerdem ist in diesem Zusammenhang noch darauf
hinzuweisen, dass es seit 2008 einen Berufseinsteigerbonus gibt. Unmittelbar Zulageberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erhalten einmalig
- ich nehme das Forum hier gerne wahr, um das nochmals deutlich zu sagen - eine um bis zu 200 Euro erhöhte Grundzulage bei Zahlung eines entsprechenden
Beitrags auf ihren Altersvorsorgevertrag. Durch diesen
Bonus wird ein zusätzlicher Anreiz geschaffen, frühzeitig mit dem Altersvorsorgesparen zu beginnen. Dies ist
auch deswegen sinnvoll, weil gerade junge Versicherte
durch die erwartungsgemäß lange Laufzeit der Verträge
besonders stark von den Zinseffekten profitieren können.
Dass dieses noch junge Förderinstrument bereits zunehmend zielgerichtet wirkt, zeigen aktuelle Erhebungen. Danach haben bis Mitte 2009 immerhin 920 000
Personen eine entsprechende Bonuszahlung erhalten. Im
Jahr 2005 belief sich die Zahl der unter 25-Jährigen bei
den Riester-Sparern noch auf knapp 260 000. Daran
sieht man, dass die ganze Entwicklung in die richtige
Richtung geht und nun mit positiven Informationen, die
weit gestreut werden müssen, begleitet werden muss.
Möglichkeiten dazu haben wir ja dann, wenn wir auf
entsprechende Fragen von Ihnen oder anderen antworten.
Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege?
Ja, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Antwort. Es wird Sie nicht wundern, dass die
Linke das, was Sie eben dargestellt haben, anders einschätzt und die Richtung Ihrer Politik anders bewertet.
Die junge Generation wird von einer aus unserer Sicht
falschen Politik nämlich dazu gezwungen, privat für ihr
Alter vorzusorgen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe,
hätten derzeit 37 Prozent der Personen in der Altersgruppe zwischen 20 und 29, da sie keine private Altersvorsorge betreiben, salopp formuliert, im Alter ein deutliches Problem, da sie dann nur auf die Zahlungen der
gesetzlichen Rentenversicherung zurückgreifen könnten.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen, ob
nach Meinung der Bundesregierung die Diskrepanz zwischen der Erkenntnis, sich mit dem Thema beschäftigen
zu müssen, und der Folgerung daraus, das tatsächlich zu
tun - dass diese besteht, haben Sie ja vorhin auch noch
einmal bestätigt -, eher auf dem Mangel an Informationen oder eher auf dem Mangel an eigenen finanziellen
Mitteln für private Vorsorge beruht. Die Frage ist ja, ob
die finanzielle Situation der 20- bis 29-Jährigen überhaupt so ist, dass sie entsprechende Beiträge leisten können. Gibt es dazu Erkenntnisse?
Kürzlich wurde eine große Untersuchung durchgeführt, die von den Verbänden des Verbraucherschutzes
mitgetragen wurde. Dabei hat man sich erstmals sehr
gründlich mit der Sache beschäftigt. Diese Untersuchung wird jetzt gerade von der Bundesregierung ausgewertet, damit daraus weitere Schlüsse gezogen werden
können.
Ich möchte aber doch aufzeigen, dass die Gesamtentwicklung in der Tendenz ganz klar positiv verläuft. Bis
Ende September 2009 wurden nämlich bereits knapp
13 Millionen Riester-Verträge abgeschlossen. Dabei wurden natürlich auch die Wechsel von einem Vertrag zum anderen erfasst, sodass es sich nicht unbedingt um 13 Millionen Menschen handeln muss, die einen Riester-Vertrag
haben; das möchte ich der Vollständigkeit halber hinzufügen. Sehr interessant ist aber, dass in den vergangenen
zwölf Monaten trotz der Wirtschafts- und Finanzkrise
1 Million Neuverträge hinzugekommen sind. Das zeigt,
dass das Bewusstsein generell wächst und dass die Maßnahmen vorankommen.
Ich möchte ebenfalls hinzufügen, dass man auch Folgendes berücksichtigen muss: Inzwischen haben - die
Zahl stammt von Ende 2007 - circa 17,5 Millionen Beschäftigte einen Anspruch auf eine Betriebsrente erworben, und über 1 Million Bürgerinnen und Bürger haben
mittlerweile eine Basisrente abgeschlossen. Daran zeigt
sich, dass das System der zusätzlichen Altersvorsorge im
privaten und im betrieblichen Bereich Früchte trägt und
zunehmend größere Teile der Bevölkerung erfasst.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Mich würde noch Folgendes interessieren: Wie viele
von den von Ihnen erwähnten 1 Million neuen Verträgen
wurden in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen abgeschlossen, und wie hoch war der finanzielle Aufwand
für die Öffentlichkeitsarbeit, um diese Zielgruppe zu informieren?
Die positive Entwicklung folgt zunächst einmal daraus, dass man ein Zusatzbonussystem auf den Markt gebracht, also die Möglichkeiten ausgebaut hat. Zu den
Zahlen im Einzelnen kann man Näheres sagen, wenn die
Studie ausgewertet ist. Dann können Sie gerne noch einmal auf mich zukommen, und wir können das im Einzelnen klären.
Eine weitere Frage hat der Kollege Lehrieder.
Herr Staatssekretär, den ersten Teil meiner Frage haben Sie bereits bei der Vorfrage beantwortet, nämlich
wie viele Riester-Verträge bisher abgeschlossen worden
sind. Sie haben von 13 Millionen Verträgen gesprochen.
Ich beschränke mich deshalb auf den zweiten Teil meiner Frage: Wie bewertet die Bundesregierung diese Entwicklung, und welcher Personenkreis profitiert insbesondere von dieser staatlichen Förderung?
Von dieser staatlichen Förderung profitiert zunehmend auch der Teil der Bevölkerung, der kein überdurchschnittliches Einkommen hat. Das können wir aufgrund dieser Untersuchungen ganz deutlich feststellen.
Da sind natürlich weitere Entwicklungsmöglichkeiten
gegeben.
Ich weise darauf hin, dass der Anteil der jüngeren Zulageempfänger weiter steigt, insbesondere bei den Jahrgängen 1981 und jünger. Das lässt auf eine Gesamtdynamik schließen. Das gilt auf jeden Fall für den Kreis der
25-Jährigen und Jüngeren. Die Zwischenergebnisse für
die Beitragsjahre 2007 und 2008 bestätigen diesen Trend
eindeutig. Zu dem Ergebnis kommt auch ein Wochenbericht des DIW vom 5. August 2009. Danach ist der Anteil der Riester-Sparer in der Altersgruppe 17 bis 24 Jahre von 3,9 Prozent im Jahre 2004 auf 11,1 Prozent im
Jahre 2007 gestiegen. Auch dadurch wird das bestätigt,
was ich eingangs ausgeführt habe.
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Birkwald auf:
Welche Effekte hätte die von den Autoren der DIW-Studie
„Alterssicherungsvermögen dämpft Ungleichheit“ ({0}) angeregte Einbeziehung der Beamten in den Adressatenkreis der gesetzlichen Rentenversicherung, GRV, auf die Einnahme- und Ausgabenseite der GRV,
und welche zusätzlichen Effekte hätte die Einbeziehung der
Selbstständigen in den Adressatenkreis der GRV auf die Einnahme- und Ausgabenseite der GRV?
Grundsätzlich ist eine Ausweitung des versicherten
Personenkreises für die Rentenversicherung im Umlageverfahren mit Einführungsgewinnen verbunden, weil die
zusätzlichen Versicherten zunächst nur Beiträge zahlen.
Da sie jedoch später eine Gegenleistung in Form von
Renten erhalten und deshalb den höheren Beitragseinnahmen längerfristig auch höhere Rentenausgaben gegenüberstehen, ergibt sich für die Rentenversicherung
nur in der Übergangsphase eine finanzielle Entlastung.
Das Ausmaß der finanziellen Auswirkungen und die
Dauer der Übergangsphase hängen dabei maßgeblich
vom Potenzial der zusätzlichen Versicherten und von deren Beitragsleistungen ab und können daher pauschal
nicht bestimmt werden.
Bei Einbeziehung von Beamten in den versicherten
Personenkreis ist zudem zu berücksichtigen, dass für den
öffentlichen Haushalt eine Doppelbelastung entstünde,
da die Gebietskörperschaften sowohl die bereits erworbenen Pensionsansprüche zu bedienen hätten als auch
die Arbeitgeberanteile im Rahmen der Rentenversicherungsbeiträge und die Umlage zu den Zusatzversorgungen des öffentlichen Dienstes zu leisten hätten. Auf dieses Dilemma möchte ich aufmerksam machen.
Ihre Nachfrage, bitte.
Vielen Dank für die Antwort, Herr Staatssekretär. Wie ist dann die von Markus Grabka, einem der Autoren
der DIW-Studie, als doppelte Privilegierung kritisierte
Altersvorsorge der Beamtinnen und Beamten - einerseits zahlen sie keine Beiträge, und andererseits erlangen
sie ein höheres Versorgungsniveau - aus Sicht der Bundesregierung heute noch zu rechtfertigen?
Ich möchte darauf hinweisen, dass die in der Studie
ermittelte, im Vergleich zu den übrigen Personengruppen
günstige Position der Beamten und Pensionäre, die Sie
gerade beschrieben haben, unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass in der Studie Anwartschaften in der
privaten und betrieblichen Altersvorsorge, in den berufsständischen Versorgungswerken und in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes nicht berücksichtigt
wurden. Da die Berücksichtigung dieser Anwartschaften
fehlt, kommt es zu Verzerrungen der Ergebnisse zugunsten der Beamten und Pensionäre, bei denen wegen der
Bifunktionalität der Pensionen die zweite Säule in die
Altersvorsorge integriert ist. - Das ist das eine.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass Beamte von ihrem
Wesen her in der Regel ununterbrochene Erwerbsverläufe und ein vergleichsweise hohes Qualifikationsniveau aufweisen. Das ist ein wichtiger Grund dafür,
dass es in dieser Studie zu der Bewertung kam, auf die
Sie gerade hingewiesen haben.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja. Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine weitere
Frage schließt sich an Ihre Antwort an. Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen, ob Ihnen Zahlen bekannt sind,
wie viele Beschäftigte bei Eintritt in das Rentenalter
über eine betriebliche oder eine private Altersvorsorge
verfügen und wie viele nicht, sodass klar gesagt werden
könnte, wie stark die Verzerrung, wie Sie es genannt haben, ist.
Ich habe bei der Beantwortung einer vorherigen Frage
schon ausgeführt, dass 17,5 Millionen Personen Anwartschaften auf eine Betriebsrente haben - mit steigender
Tendenz. Daraus ergibt sich das Volumen.
Herr Kollege Lehrieder.
Herr Staatssekretär, noch eine Frage zu diesem Komplex: Welche Möglichkeiten haben eigentlich Selbstständige, die nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung
sind, Alterssicherungsvermögen aufzubauen, und wie wird
dieses Alterssicherungsvermögen gesetzlich geschützt?
Selbstständigen wird über die sogenannte Rürup- oder
Basisrente der Aufbau einer staatlich geförderten Alterssicherung ermöglicht. Die Förderung besteht darin, dass
die Beiträge zu einer solchen Rürup-Rente zusammen mit
den Beiträgen zu gesetzlichen Alterssicherungssystemen,
zum Beispiel zur gesetzlichen Rentenversicherung, stufenweise ansteigend bis zum Jahre 2025 völlig steuerfrei
gestellt werden. Das heißt, schließt man eine RürupRente ab, so hat dies eine interessante und günstige steuerliche Auswirkung. Dem Prinzip der nachgelagerten Besteuerung entsprechend werden die Renten später ebenParl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
falls stufenweise ansteigend bis zum Jahre 2040 voll
besteuert. Rürup-Produkte - ich habe mir extra ein paar
Fakten zusammengestellt, weil ich dachte, dass dies zum
Gesamtthemenkomplex gehört - müssen weitgehend den
Kriterien der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechen. Das heißt, solche Verträge sind zum Beispiel nicht
veräußerbar und auch nicht vererbbar.
Der überwiegende Teil der circa 1 Million abgeschlossenen Verträge sind Rentenversicherungen. Hier
besteht für den Fall der Insolvenz - das ist sehr wichtig,
um den Gesamtzusammenhang zu beurteilen - das gleiche Schutzsystem wie bei Lebensversicherungsverträgen.
Seit 2009 müssen solche Verträge, mit der RiesterRente vergleichbar, von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zertifiziert werden. Daran sieht
man, dass die Qualität dieses Instruments angehoben
wurde. Daher wird dieses Instrument künftig auf dem
Markt eine noch größere Rolle spielen und insbesondere
- das war Ihre Frage - den Selbstständigen helfen.
Die Fragen 5 bis 9 der Kollegen Dr. Ilja Seifert,
Dr. Martina Bunge, Veronika Bellmann und Volker Beck
werden schriftlich beantwortet. Damit sind wir am Ende
dieses Geschäftsbereichs. Herr Staatssekretär Fuchtel,
herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz. Hier steht für die Beantwortung der
Fragen Frau Parlamentarische Staatssekretärin Julia
Klöckner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 10 der Kollegin Dagmar Ziegler
auf:
Wann wird die Bundesregierung darüber entscheiden, wo
in Neuruppin der neue Standort der Außenstelle des Bundesinstituts für Risikobewertung errichtet wird?
Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Ziegler, Sie möchten erfahren, wann
die Entscheidung getroffen wird, wo in Neuruppin die
Außenstelle des BfR errichtet wird. Die Bundesanstalt
für Immobilienaufgaben führt derzeit eine Wirtschaftlichkeitsuntersuchung in Bezug auf den Standort in Neuruppin durch. Es geht bei den Unterbringungsalternativen darum, ob sich die alte Panzerkaserne oder der
Neubau anbietet. Nach dem Vorliegen des Ergebnisses
dieser Wirtschaftlichkeitsuntersuchung wird über den
endgültigen Standort dieser Außenstelle des Bundesinstituts entschieden werden.
Frau Kollegin Ziegler, bitte.
Meine Nachfrage bezieht sich darauf, ob der Standort
Neuruppin damit nicht infrage steht.
Ich kann Ihnen versichern - ich weiß auch, dass das
Ihr Anliegen ist, weil es Ihre Region ist -: Wir stellen
diesen Standort nicht infrage. Das ist im Haushalt klar
vorgesehen. Ich weiß, dass es vonseiten des Personalrats
Einwände gab, weil die Mitarbeiter umziehen müssen,
aber von unserer Seite aus ist das klare Bekenntnis zu
Neuruppin weiterhin gegeben.
({0})
Es gibt keine weitere Zusatzfrage. Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Hier steht für die Beantwortung der Fragen der Parlamentarische Staatssekretär
Christian Schmidt zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 11 der Kollegin Ziegler auf:
Wann schließt die Bundesregierung die Prüfung zur
weiteren Verwendung des Truppenübungsplatzes Wittstock
- Kyritz-Ruppiner Heide - ab?
Herr Staatssekretär, bitte sehr.
Frau Kollegin, auf Ihre Frage, wann die Prüfung einer
zukünftigen Nutzung des Truppenübungsplatzes abgeschlossen sein wird, muss ich Ihnen antworten, dass über
die weitere Verwendung noch nicht entschieden wurde.
Wir haben derzeit Prüfungen möglicher Handlungsoptionen, die umfangreiche und komplexe Analysen umfassen, in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse werden im
Ministerium erwartet. Es ist gegenwärtig noch nicht abzusehen, wann mit einer abschließenden Entscheidung
zu rechnen ist. Ich kann allerdings zusagen, dass wir ein
Interesse daran haben, dass nach dem Vorliegen der Ergebnisse sehr bald über die Vorschläge entschieden wird.
Ein Zeitrahmen ist gegenwärtig leider noch nicht absehbar.
Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, befindet sich unter den Optionen,
die geprüft werden, auch die militärische Nutzung, oder
ist die von vornherein ausgeschlossen?
Der Verzicht, den Truppenübungsplatz Wittstock als
Luft-Boden-Schießplatz zu nutzen, gilt weiterhin.
Danke.
Die Fragen 12 und 13 der Kollegin Ingrid ArndtBrauer werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
Wie oft waren Soldaten der Bundeswehr im Jahr 2009 in
Afghanistan an kinetischen oder anderen Operationen in irgendeiner Form beteiligt, bei denen Menschen - Taliban, andere Aufständische oder Zivilpersonen - durch Bomben oder
Raketen von US-Flugzeugen oder Drohnen vernichtet werden
sollten oder vernichtet wurden, etwa indem sie die US-Luftschläge angefordert, freigegeben, geleitet oder angewiesen
haben, und wie oft waren die Soldaten der Bundeswehr, die in
der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 mit dem Einsatz
von US-Flugzeugen gegen entwendete Tanklastkraftwagen
befasst waren, vorher schon einmal an Einsätzen und Operationen in Afghanistan beteiligt, bei denen Menschen durch
Raketen oder Bomben vernichtet werden sollten oder vernichtet wurden, die von US-Flugzeugen oder Drohnen abgefeuert
wurden?
Vielen Dank, Herr Kollege. Sie hatten diese Frage ja
schon einmal gestellt. Ich hatte zu dem damaligen Zeitpunkt auf die umfangreichen Recherchen hingewiesen,
die notwendig waren. Diese sind zwischenzeitlich erfolgt.
Insofern kann ich Ihre Frage wie folgt beantworten:
Im Jahr 2009 wurden in insgesamt 37 Fällen Einsätze im
Rahmen der Luftnahunterstützung unter Beteiligung
deutscher Soldaten am Boden durchgeführt. 28 dieser
37 Einsätze erfolgten in der Form „Show of Force“, waren also Fähigkeitsdarstellungen: Überfliegen. 9 Einsätze erfolgten mit Waffeneinsatz. Bei diesen 9 Einsätzen ging es im Regelfall aber nicht, wie das dem Duktus
Ihrer Frage vielleicht entnommen werden könnte, um
das Töten von Menschen, sondern um eine Warnung im
Rahmen einer Eskalation zum Schutz von ISAF-Soldaten.
Soll ich die Frage 15 gleich mitbeantworten?
Nein, das geht extra. - Herr Ströbele.
Es ist ja ein Fortschritt, dass Sie sich immerhin bemühen, auf Fragen zu antworten. Beim letzten Mal wurde
die Frage ja nicht beantwortet.
Mich interessiert natürlich in erster Linie der zweite
Teil dieser Frage: Inwiefern waren Soldaten der Bundeswehr, die an dem Einsatz vom 4. September 2009 beteiligt waren, vorher an solchen kinetischen Operationen
beteiligt? Da Sie diese Frage ja eigentlich gerade schon
hätten beantworten sollen, schließe ich gleich die eigentliche Nachfrage an: Wie viele Menschen sind denn bei
den Waffeneinsätzen, die Sie eingeräumt haben, „vernichtet“ worden? Ich benutze dieses Wort nicht, weil ich
es so gerne ausspreche, sondern weil das offenbar der
Sprachgebrauch der Bundeswehr ist. Das entnehme ich
der Didaktik des Oberst Klein.
Sehr verehrter Herr Kollege, zum Ersten darf ich
mich bedanken, dass das beiderseitige Bemühen um die
Findung von Informationen, von Auskünften und die
Weiterreichung derselben uns nahezu in eine Harmonie
bringt.
({0})
Die erste Frage hatte ich in der Tat - ich bitte um Nachsicht - der Frage 15 zugerechnet. Das war ein Missverständnis meinerseits.
Zur Frage zum 4. September: Der JTAC - das ist eine
NATO-Bezeichnung für den Fliegerleitfeldwebel -, der
am 4. September 2009 in Kunduz die Luftnahunterstützung eingesetzt hatte - wir wissen, dass über die Umstände noch zu sprechen sein wird -, hatte vor diesem
Einsatz viermal Luftnahunterstützung in Form von
„Show of Force“ ohne Waffeneinsatz und einmal Luftnahunterstützung mit Waffeneinsatz angefordert.
Bezüglich der Ergänzungsfrage, die Sie zum
4. September gestellt haben, kann ich Sie auf die bekannten Daten hinweisen. Es ist umfangreich vorgetragen worden, wie viele Getötete es gegeben hat. Bei den
anderen ist mir eine Zahl nicht ersichtlich. Ich bitte darum, dass ich die nachreichen kann. Bisher hat es da, soweit ich das sehe, keine Tötungen gegeben. Aber ich
sage das unter dem Vorbehalt der nochmaligen detaillierten Prüfung, über die ich Sie zeitnah informieren werde,
Herr Kollege Ströbele.
Herr Ströbele, bitte.
Da wir gerade bei den Höflichkeiten sind: Ich danke
natürlich für das Angebot, dass Sie nachliefern, und
hoffe, dass die Nachlieferung bald kommt.
Meine zweite Nachfrage lautet: Können Sie jetzt
schon sagen, wann die Einsätze mit Waffengewalt, über
die Sie sich noch einmal kundig machen wollen, stattgefunden haben? Vielleicht können Sie nicht Tag und
Stunde nennen, aber in welchen Monaten im Jahr 2009
haben sie stattgefunden? Hat zum Beispiel eine im
Mai 2009 stattgefunden? Können Sie dazu etwas sagen?
Zu den neuen Einsätzen kann ich keine tageweise
Einzelaufschlüsselung geben. Es lässt sich allerdings
keine besondere Zusammenballung erkennen mit der
Ausnahme, dass in der Winterzeit die Anzahl der Einsätze geringer war. Soweit das recherchierbar ist - das
dürfte es ja nun sein -, will ich zusagen, Ihnen auch dies
mit Monatsbenennung und Zahl zu geben.
Nun rufe ich Frage 15 des Kollegen Hans-Christian
Ströbele auf:
In welcher Weise war der neue Generalinspekteur der
Bundeswehr, General Volker Wieker, in seiner vorherigen
Funktion als Chef des ISAF-Stabes im ISAF-Hauptquartier in
Kabul an der Sachverhaltsfeststellung sowie Bewertung der
Bombardierung einer Menschenmenge in Kunduz/Afghanistan am 4. September 2009 beteiligt, so wie dies etwa Ausdruck fand in den kritischen Äußerungen seines damaligen
Vorgesetzten Stanley McChrystal oder dem erstellten ISAFUntersuchungsbericht, und wann teilte General Volker Wieker
möglicherweise seine diesbezüglichen Feststellungen und
Wertungen erstmals Vertretern der Bundesregierung mit?
Sie fragen nach der Tätigkeit von General Wieker in
Kabul als Chef des Stabes ISAF, also als der Stabschef
des Kommandeurs General McChrystal. Er hat diesen
Dienst am 6. Oktober 2009 angetreten. Herr Kollege, Sie
mögen schon daraus schließen, dass eine Befassung mit
den Vorfällen vom 4. September 2009 zeitlich unmittelbar nicht stattgefunden hat. General McChrystal hatte
zwei Untersuchungsgruppen eingesetzt, deren Selbstständigkeit in der Ermittlung er sehr strikt bedacht und
betrachtet hat, nämlich das Initial Action Team, das den
ursprünglichen Bericht geschrieben hat, und das Joint
Investigation Board, die beide ausschließlich mit der Ermittlung des Sachverhaltes beschäftigt waren. Daher
kann ich Ihre Frage, ob General Wieker in seiner Funktion bei ISAF an Sachverhaltsdarstellungen oder Wertungen beteiligt war, mit Nein beantworten.
Haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte.
Herr Staatssekretär, Sie weisen darauf hin, dass er im
Hauptquartier von General McChrystal war. General
McChrystal hat sich in einem sehr frühen Stadium, wenn
ich mich richtig erinnere, schon am 5. September 2009,
also sehr zeitnah zum 4. September, auch in der Öffentlichkeit sehr kritisch geäußert, unter anderem anlässlich
seines Besuchs eines Krankenhauses in Kunduz, wo er
einige Verletzte besucht hat. Nun kam Herr General
Wieker im Oktober 2009 dazu. Ich vermute, dass dann
auch über die kritische Haltung seines Vorgesetzten zu
diesem deutschen Einsatz gesprochen wurde. Können
Sie das bestätigen? In welcher Weise hat der deutsche
General das dann an die deutsche Bundesregierung weitergegeben?
Herr Kollege Ströbele, Sie gestatten, dass ich das jetzt
etwas bildhaft mache.
({0})
Die militärischen Verhaltensweisen gerade in internationalen Stäben zeichnen sich nicht dadurch aus, dass da
einer kommt und sagt: „Hallo, ich bin der Neue. Sag einmal, was hast du eigentlich vor drei Wochen hier gesagt?“ - Das ist nicht üblich. Deswegen kann ich nur unterstreichen, dass das kein Thema war.
Ich möchte das mit einem anderen Hinweis ergänzen.
Der damalige Generalinspekteur, General Schneiderhan,
hatte in dieser Funktion einige Tage nach dem
4. September 2009, nach dem Vorfall, eine Reise nach
Afghanistan unternommen. Da war bereits das Joint
Investigation Board unter der Leitung eines kanadischen
Generals von General McChrystal eingesetzt. General
Schneiderhan berichtete von einem zufälligen Zusammentreffen mit ihm auf dem Gang - offensichtlich haben
sich da zwei Raucher getroffen - und einem deutlichen
Hinweis von General McChrystal, man möge jede Kontaktaufnahme und jegliche Gespräche bitte unterlassen.
Das war also sehr strikt.
Ich denke - das ist eine Vermutung; das ist keine
Kenntnis, die ich durch Befragung gewonnen habe -,
dass sich auch General Wieker seinem Chef gegenüber
entsprechend verhalten hat. An einer Stelle habe ich allerdings nicht vermutet, sondern befragt: Herr General
Wieker hat zu diesem Thema keine Beiträge geliefert.
Eine zweite Zusatzfrage, Frau Präsidentin, wenn Sie
gestatten. - Mir leuchtet Ihre Argumentation nicht ganz
ein. Es handelte sich ja nicht um irgendeinen Stabswechsel, dass jemand dorthin kommt und Hallo sagt, wie Sie
es gerade zu bagatellisieren versuchten, sondern es
kommt ein deutscher General in einen Kommandostab.
Der Chef dieses Kommandostabs hat vor ein paar Wochen einen deutschen Einsatz getadelt - das hat er vorher
noch nie getan; jedenfalls ist das mir und der Öffentlichkeit nicht bekannt -, dass dieser nicht seinen Befehlen
entsprochen habe, dass seine Befehle also missachtet
worden seien. In dieser Situation kommt der neue deutsche General dorthin. Dass darüber nicht gesprochen
worden ist, ist für mich schwer nachvollziehbar. Haben
Sie das mit dem deutschen General erörtert?
Ich habe nicht mit ihm erörtert, ob das für Sie schwer
nachvollziehbar ist oder nicht. Ich habe mit ihm erörtert,
dass es so ist.
Die Frage 16 des Kollegen Fritz Rudolf Körper wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe damit die Frage 17 des Kollegen Andrej
Hunko auf:
Warum ist die Bundesregierung der Auffassung, dass für
die von der Bundeskanzlerin zugesicherte „lückenlose Aufklärung“ des tragischen Luftangriffs zur Vernichtung soge1552
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
nannter Aufständischer in der Nacht vom 3. zum 4. September
2009 in Kunduz weitere Ermittlungen durch das Kommando
Führung Operationen von Spezialkräften notwendig sind,
und, wenn nein, warum nicht?
Herr Hunko, Ihre Frage erschließt sich mir nicht ganz,
weder von der Syntax noch von der Intention her. Darf
ich fragen, auf welche wo geäußerte Auffassung der
Bundesregierung Sie sich beziehen, damit ich weiß, was
der Hintergrund ist?
Herr Kollege.
Es geht darum, ob Sie, was das Kommando Führung
Operationen von Spezialkräften angeht, weitere Aufklärung für notwendig erachten oder nicht.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Dann verstehe ich Sie
so, dass Sie an mich die Frage richten, ob ich als Vertreter der Bundesregierung dieser Auffassung bin und ob
die Bundesregierung insgesamt dieser Auffassung ist.
Ich kann diese Frage klar beantworten. Der Luftangriff
gegen die beiden entführten Tanklastzüge war keine
Operation der Spezialkräfte, stand auch in keinerlei Zusammenhang mit der zum damaligen Zeitpunkt laufenden Operationsführung der bekannten Task Force 47.
Nach den uns zwischenzeitlich vorliegenden Ergebnissen, Informationen und Bewertungen sind zum derzeitigen Stand der Untersuchung des Vorfalls keine weiteren
Ermittlungen des Kommandos FOSK, der Führung von
Operationen von Spezialkräften, erforderlich.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege?
Ja. - Es ist bekannt, dass mindestens ein KSK-Soldat
in der Task Force 47 war. Unter welcher Führung stand
dieser Soldat? Unterstand er der Führung des Kommandos FOSK, oder war er in die Task Force 47 eingebunden?
Das Kommando Führung von Operationen von Spezialkräften war weder an der Vorbereitung noch an der
Durchführung des Luftangriffs beteiligt und erhielt auch
erst nach erfolgtem Luftangriff von dem Vorkommnis
Kenntnis. Die Tatsache, dass ein Soldat aus dem Bereich
der Task Force 47 stammt und dort angesiedelt ist, ist
richtig. Das heißt aber nicht, dass die Task Force 47 gestaltenden Einfluss auf die Operation hatte. Die Operationsführung lag nicht bei der Task Force 47.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Können Sie dann sagen, wie viele KSK-Soldaten insgesamt in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009
in Kunduz im Einsatz waren?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nicht ad
hoc, welche Einsätze insgesamt im Bereich Kunduz
stattgefunden haben. Wenn Sie auf die speziellen Fragen
hinsichtlich des Angriffes auf die Tanklastfahrzeuge und
die Bombardierung Bezug nehmen, dann gilt das, was
ich gesagt habe: Die Task Force 47 ist nicht betroffen gewesen.
Nach meiner Kenntnis war mindestens ein Soldat, der
im Bereich der Task Force 47 tätig ist, mit vor Ort. Sollte
ein weiterer da gewesen sein - was ebenfalls nicht dazu
führt, dass die Task Force 47 operativ beteiligt war -,
würde ich das noch sagen. Nach meiner gegenwärtigen
Erinnerung war es aber nur ein Einziger. Die Operationsführung lag definitiv bei dem Kommandeur des PRT
Kunduz, Oberst Klein.
Ich rufe die Frage 18 der Kollegin Inge Höger auf:
Warum druckt das Bundessprachenamt, das zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung gehört, den 61-seitigen „Persisch-Sprachführer für die Bundeswehr“ - Nachdruck: Mai 2008 -, dessen Vokabular sich
insbesondere auf den Iran bezieht und militärische Befehle
beinhaltet?
Es geht - damit das jeder nachvollziehen kann - um
die Übersetzung von militärischen Befehlen. Die persische Sprache ist eine Sprache, die auch in Afghanistan
gesprochen wird. Daraus ergibt sich, dass es im Hinblick
auf die Kommunikationsfähigkeit unserer Soldaten Sinn
macht, ihnen eine Handreichung zu geben.
In Ihrer Frage wird möglicherweise insinuiert - dieser
Eindruck entsteht, da ja ein Artikel aus der Jungen Welt
die Grundlage für Ihre Frage ist -, dieser Sprachführer
sei eine Vorbereitung für was wann wie auch immer.
In diesem Sprachführer ist eine Stadt erwähnt, das ist
die Stadt Köln. Der Satz „Ich stamme aus Köln“ wird in
die Sprache Dari übersetzt; ich kann das leider nicht vortragen.
Wenn die Frau Präsidentin mir das gestattet, möchte
ich mir erlauben, darauf hinzuweisen, dass in diesem
Hohen Hause vor wenigen Stunden der Bundestagspräsident den israelischen Staatspräsidenten begrüßt hat und
dabei auf die Bedrohungslage Israels hingewiesen und
das Existenzrecht Israels bekräftigt hat. Der israelische
Staatspräsident hat aus der Rede, die die Bundeskanzlerin vor dem amerikanischen Kongress gehalten hat, zitiert:
Ein Angriff auf Israel kommt einem Angriff auf
Deutschland gleich.
Der missverständliche Eindruck, der aus Ihrer Frage
heraus möglicherweise entsteht, ist in diesem Hause
heute - Sie gestatten mir diese Bewertung - völlig fehl
am Platze.
Zum Inhalt habe ich weiter nichts zu sagen, weil die
Frage jeglicher Substanz entbehrt.
Frau Kollegin Höger.
Ich finde, dass ich als Parlamentarierin durchaus das
Recht habe, zu fragen, warum die Bundesregierung einen Sprachführer mit militärischem Vokabular in iranischer Sprache druckt.
({0})
Ich habe jetzt eine Zusatzfrage. Das ist auch mein gutes Recht. Meine Zusatzfrage ist - ({1})
Das Wort hat die Kollegin Höger.
In diesem Sprachführer kommt zum Beispiel der Satz
vor: „Der Iran ist ein sehr schönes Land.“ Daher kann
man schon den Eindruck haben, dass sich die Bundeswehr auf weitere Auslandseinsätze, zum Beispiel auch
im Iran, vorbereitet. Ich hätte gern eine Antwort darauf,
ob das so ist.
({0})
Frau Kollegin Künast, ich bleibe gelassen. Bleiben
Sie auch gelassen! Sie sind gar nicht gefragt; aber auch
Sie waren heute dabei: Wir haben in diesem Hause über
andere Dinge, über unsere Geschichte und über die Bedrohung, die durch den Iran entsteht, diskutiert. - Frau
Höger, hier bleibe ich nicht gelassen und sage: Wenn der
Satz „Der Iran ist ein sehr schönes Land“ im Sprachführer steht, dann soll das so sein. Was Sie darin lesen können oder nicht, bleibt Ihnen überlassen. Jedenfalls wird
die Bundesregierung hierzu keine Stellung nehmen.
({0})
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ich möchte gerade nichts hineininterpretieren.
({0})
Deshalb möchte ich diese Frage stellen.
Die Frau Kollegin hat noch die Möglichkeit zur zweiten Zusatzfrage.
Es waren weitere Formulierungen in diesem Sprachführer enthalten, zum Beispiel „Wir gehören zu den
UNO-Peacekeeping-Kräften“, „Halt oder ich schieße!“,
„Die Hände hoch!“ oder „Widerstand ist zwecklos!“ Warum will das Verteidigungsministerium Bundeswehrsoldaten diese Sätze auf Persisch beibringen?
Weil es in Afghanistan Leute gibt, die als erste Sprache Persisch sprechen. Das ist zwar nicht im Norden der
Fall, aber Afghanistan ist ein großes Land. Wer einmal
in Herat gewesen ist, der weiß durchaus, dass es dort
eine große iranische Minderheit gibt. Das geht übrigens
sogar so weit - das will ich bei dieser Gelegenheit
sagen -, dass es dort ein durchaus positives iranisches
Engagement in der praktischen Entwicklungszusammenarbeit gibt. Ich weiß von einem Projekt im Norden der
Provinz Herat, das die deutsche Nichtregierungsorganisation Help betreut, bei dem es ein Investment vonseiten
der iranischen Behörden gibt, in Form von Schulbauten.
Allerdings muss die Kommunikation in diesen Schulen
in persischer Sprache stattfinden.
Ich möchte Sie - wenn ich das noch sagen darf - bei
aller Gelassenheit und mit Respekt vor Ihrem Recht,
Fragen zu stellen, bitten, zu reflektieren, ob man es nicht
beim Komplex der Fragestellung und bei meinen Antworten bewenden lassen sollte. Man sollte tatsächlich
nicht Dinge „hineingeheimnissen“, die nicht da sind.
Wir können uns gemeinsam bei anderer Gelegenheit mit
dem Autor der Jungen Welt und seinen kruden Vorstellungen auseinandersetzen.
Wir kommen zur Frage 19 der Kollegin Sevim
Dağdelen:
Wie will die Bundesregierung verhindern, dass mit dem
neuen Beschluss des Rates zur Änderung des Mandats der
Atalanta-Mission vom 8. Dezember 2009 ({0}), der explizit die Verbindung und Zusammenarbeit mit der im Rahmen der Operation „Dauerhafte
Freiheit“ agierenden Seestreitkraft Combined Task Force 150
vorsieht, über die Zusammenarbeit auch etwa Aufklärungsdaten an die USA und deren Verbündete, einschließlich der jemenitischen Streitkräfte, weitergegeben werden, die im Jemen
mehrfach und in Zukunft absehbar verstärkt gezielte Tötungen durch bemannte und unbemannte Luftangriffe vornehmen?
Frau Kollegin, der neue Ratsbeschluss zur EUNAVFOR-Operation Atalanta sieht vor, die Koordination der vor der Küste Somalias in unterschiedlichen
Operationen bezüglich der Pirateriebekämpfung auf See
eingesetzten Einheiten weiter zu verbessern; er ist wichtig und gut. Weder im Rahmen der Operation „Dauerhafte Freiheit“ - häufig wird der englische Begriff
„Enduring Freedom“ verwendet - noch bei der EU-Mission Atalanta haben die dort eingesetzten deutschen Einheiten die Aufgabe, Informationen über terroristische
Netzwerke innerhalb des Jemen zu erfassen. Das Operationsgebiet ist auf die Seegebiete am Horn von Afrika
begrenzt und schließt damit den Jemen nicht ein.
Die Weitergabe von Informationen durch die Bundeswehr an Freunde und Partner ist durch Weisungen eindeutig geregelt. Die Weitergabe von Verschlusssachen
durch die Bundeswehr an den Jemen kann grundsätzlich
- ungeachtet der Tatsache, dass es in diesem Zusammenhang gar nicht geschieht - nicht erfolgen, weil es die
dafür notwendige Vereinbarung, ein sogenanntes Geheimschutzabkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Jemen, nicht gibt.
Frau Kollegin, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
die Frage war ja eigentlich, wie sie das verhindern will.
Dass das in dem Mandat normalerweise nicht enthalten
ist, ist mir klar.
Ich möchte gerne zu meiner Nachfrage kommen:
Trifft es zu, dass der deutsche Beitrag zur Operation
Enduring Freedom - „Dauerhafte Freiheit“ - und zu
Atalanta unter anderem in der Bereitstellung eines Seefernaufklärers P3-C Orion liegt, der mit modernster
Technologie für die weiträumige Aufklärung auch über
Land ausgerüstet ist, und dass dabei, wie es durch verschiedene Berichte auf der Homepage der Bundeswehr
nahegelegt wird, ein und dasselbe Flugzeug im selben
Einsatzraum unter beiden Mandaten im Einsatz ist?
Die Bundeswehr beteiligt sich in der Tat im Rahmen
der Operation „Dauerhafte Freiheit“, und sie hat für die
entsprechenden Zeiträume - nach meiner Kenntnis beginnt das in diesem Jahr im März - ein Seefernaufklärungsflugzeug P3-C Orion in Dschibuti stationiert. Dieses Aufklärungsflugzeug wird für die Erfüllung der
Aufgaben der Task Force 150 innerhalb der Operation
Enduring Freedom - „Dauerhafte Freiheit“ - genutzt.
Das bezieht sich ausschließlich auf das Seegebiet, ein
Gebiet, in dem auch die Pirateriebekämpfung stattfindet.
Man muss dazu wissen, dass die P3-C Orion ein Flugzeug ist, das im Gegensatz zu den AWACS keinen Radius von Hunderten von Kilometern abdecken kann, um
irgendwo hineinzuschauen, sondern sehr präzise Bilder
von einem relativ begrenzten Bereich des Seegebiets liefert. Das ist sinnvoll und notwendig, insbesondere, um
festzustellen, ob beispielsweise Waffenschmuggel über
See stattfindet, und um im Rahmen der Pirateriebekämpfung zu ermitteln, wie die Skiffs besetzt sind und ob die
Piraten bewaffnet sind.
Aus meiner farbigen Darstellung erkennen Sie, dass
ich selbst in der P3-C Orion solches schon betrachtet
und beobachtet habe. Ich kann ausschließen, dass die
P3-C Orion über jemenitischem Staatsgebiet - ({0})
- Das war nicht die Frage?
Frau Kollegin, der Herr Staatssekretär antwortet noch.
Okay. - Es ging darum, ob es unter beiden Mandaten
eingesetzt wird.
Ich kann ausschließen, dass der Seefernaufklärer im
Rahmen der Operation „Dauerhafte Freiheit“ Nachrichten übermittelt und dass eine solche Nachrichtenübermittlung an jemenitische Behörden stattfindet. Entsprechende Informationen fallen auch nicht an, weil es
aufgrund der Technik keine großflächigen Zufallsbeobachtungen gibt. Das ist also sichergestellt.
Sie haben die Möglichkeit, noch eine weitere Zusatzfrage zu stellen. - Bitte.
Frau Präsidentin, ich darf feststellen, dass die Frage
nicht klar und deutlich beantwortet worden ist.
({0})
Ich möchte meine zweite Nachfrage dazu nutzen, die
Bundesregierung zu fragen: Sieht sich die Bundesregierung aufgrund dieser Zusammenarbeit und vor dem Hintergrund, dass General David Petraeus in einem Interview mit al-Arabiya angab, dass zumindest die USMarine im Golf von Aden auch damit beauftragt sei,
Waffenlieferungen an die Huthi-Bewegung zu unterbinden, als Konfliktpartei in der innerjemenitischen Auseinandersetzung?
Frau Kollegin Dağdelen, ich bin gerne bereit, Ihre
Frage zu beantworten und auch Ihre Rüge hinzunehmen,
dass Ihnen meine Antwort nicht ausreichend erscheint.
Sie gehen davon aus, dass die Task Force 150, die Sie
in Ihrer Frage genannt haben, Informationen sammelt,
die dem entsprechen, was Sie nach Ihren Schilderungen
erwarten. Das ist im Auftrag der Operation „Dauerhafte
Freiheit“ für die Task Force 150 nicht der Fall.
Über die Fähigkeiten von Schiffen und Überwachungsgeräten, die von anderen Ländern beigestellt werden, kann ich nichts im Detail sagen. Das Einzige, was
ich konkret angeben kann, ist das, was die P3-C Orion
kann. Das kann ich für uns und für unsere Vereinbarungen sagen, die wir im Rahmen von OEF getroffen haben
und an die wir uns halten.
Was andere Länder gegebenenfalls bilateral machen,
ist eine Angelegenheit dieser Länder, über die ich weder
seriös berichten kann noch will, weil das über meinen
Informationsstand hinausgeht. Allein bei der Pirateriebekämpfung befinden sich nach meiner Information gegenwärtig über 20 Länder zum Teil in nationalen Operationen in dem Gebiet, in dem sowohl die Task Force 150
als auch Atalanta tätig sind. Deswegen kann ich das
nicht ausschließen. Aber ich meine, es gehört nicht zur
Berichtspflicht der Bundesregierung, weil es uns auch an
eigenen Informationen mangelt.
Herr Staatssekretär, vielen Dank.
Damit haben wir den zeitlichen Rahmen der Fragestunde mehr als ausgeschöpft. Die restlichen noch offenen Fragen werden schriftlich beantwortet.
Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. Januar 2010,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.