Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/27/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Sitzung ist eröffnet. Die heutige Fragestunde ist geteilt. Nach einer Stunde werde ich die Fragestunde für die Regierungserklärung mit anschließender Aussprache zur internationalen Afghanistan-Konferenz unterbrechen. Im Anschluss daran wird die Fragestunde fortgesetzt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Fragestunde - Drucksachen 17/493, 17/517 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die Dringlichen Fragen auf Drucksache 17/517 auf. Es handelt sich zunächst um Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula HeinenEsser zur Verfügung. Ich rufe zunächst die Dringliche Frage 1 des Kollegen Oliver Krischer auf: Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung von den ersten Ergebnissen der Auswertung des technischen Berichts, über die unter anderem die ARD-Tagesschau am Sonntag, dem 24. Januar 2010, berichtet hat, wonach der genaue Unfallhergang in der Urananreicherungsanlage, UAA, in Gronau noch immer nicht abschließend geklärt sei, und welche Konsequenzen zieht sie daraus? Bitte schön, Frau Staatssekretärin.

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Danke, Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kollege Krischer, die zuständige atomrechtliche Aufsichtsbehörde für Gronau ist das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie in Nordrhein-Westfalen. Das Ministerium hat das Bundesumweltministerium am Freitag, dem 22. Januar 2010, von dem Ereignis in der Urananreicherungsanlage in Gronau mündlich und schriftlich unterrichtet. Den Vermerk, den wir darüber erhalten haben, stellen wir Ihnen selbstverständlich gern zur Verfügung, Herr Krischer. Nach bisherigen Erkenntnissen wurde am Donnerstag, dem 21. Januar 2010, um exakt 14.32 Uhr im Raumbereich „Behältervorbereitung“ - so nennt sich dieser Raum Uranhexafluorid aus einem Behälter freigesetzt. In diesem Raum sollte ein als leer und ausgewaschen bezeichneter, angelieferter Uranbehälter für eine routinemäßig erforderliche Druckprüfung vorbereitet werden. Beim Öffnen des Behälterventils kam es dann - jedenfalls nach ersten Abschätzungen - zur Freisetzung von wenigen Gramm Uranhexafluorid. Eine Anlagenbegehung der Aufsichtsbehörde und des von ihr beauftragten Sachverständigen - das ist der TÜV Rheinland - hat am Montag, dem 25. Januar 2010, stattgefunden. Allerdings muss man darauf hinweisen, dass man den Raum aus Sicherheitsgründen zurzeit nur für wenige Stunden und dann auch nur im Schutzanzug und mit Atemmaske betreten kann, sodass weitere Untersuchungsergebnisse voraussichtlich erst am Ende dieser Woche zu erwarten sind. Diese werden dann Gegenstand des von der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde angeforderten ausführlichen Berichts der Urananreicherungsanlage in Gronau sein. Ich sage Ihnen zu: Sobald uns alle Berichte vorliegen, werden wir Sie selbstverständlich sofort unterrichten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Krischer, darf ich Sie bitten, aufzustehen, damit die Zuschauer sehen, wer der Fragesteller ist. Sie haben das Recht auf zwei Zusatzfragen. Bitte schön.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank für den Bericht, Frau Staatssekretärin. Ich möchte nachfragen: Wie viel Radioaktivität war in dem betreffenden Behältnis? Wie viel ist ausgetreten? Welche Erkenntnisse hat man darüber? Ein weiterer entscheidender Punkt ist: Wo hat das falsche Labeling stattgefunden? Wie konnte es möglich sein, dass im Behälter radioaktives Material enthalten war? Redetext

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Herr Kollege Krischer, die letzte Frage hat auch mich bei der Vorbereitung für heute sehr interessiert. Wir wissen bis jetzt nicht, ob der Behälter tatsächlich falsch gelabelt war. Wir können auch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass es tatsächlich der Behälter war. Deshalb bitte ich Sie, abzuwarten, bis der endgültige Untersuchungsbericht vorliegt, der genau das zum Gegenstand der Untersuchung hat. Es wird die Frage zu klären sein, ob der angeblich leere, gewaschene Behälter schuld war oder ob es vielleicht eine andere Ursache gab; wobei das wahrscheinlich eher zu vernachlässigen ist. Der Behälter kam aus Schweden. Das ist, wenn ich das richtig gesehen habe, einer der Lieferanten für Gronau, was diese Behälter betrifft. Das ist das Erste. Das Zweite ist: Was die Mengen der Freisetzung angeht, kann ich Ihnen keine ganz genauen Mengen nennen. Nach Angaben des Betreibers wurden - nach ersten Abschätzungen - wahrscheinlich nur sehr wenige Gramm Uranhexafluorid freigesetzt. Die Messungen am Kamin des Gebäudes …, in dem sich die Behältervorbereitung befindet, haben gezeigt, - ich zitiere aus dem Bericht, den wir aus NordrheinWestfalen bekommen haben dass etwa ein Sechstel des genehmigten Wochenabgabegrenzwertes für den Kamin … in die Umgebung abgegeben wurde. Eine Dosisbelastung der Bevölkerung ist daher nicht anzunehmen. Das ist die Antwort auf die wahrscheinlich folgende Frage.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Eine weitere Nachfrage, Herr Kollege Krischer? Bitte.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es macht wenig Sinn, weiter nach den konkreten Umständen zu fragen, wenn Sie sagen, dass Ihnen die entsprechenden Erkenntnisse noch nicht vorliegen. Ich möchte folgende Frage nachschieben: Der betroffene Mitarbeiter ist durch mehrere Krankenhäuser geschleust worden, die letztendlich alle nicht die notwendige Kompetenz haben. Das deutet ja darauf hin, dass man auf einen Notfall nicht vorbereitet war, obwohl ein Notfallplan eigentlich vorliegen sollte, bzw. mit einem solchen Störfall offensichtlich nicht gerechnet wurde. Ich bitte um Beantwortung der Frage: Warum ist dieser Mitarbeiter zunächst in die falschen Krankenhäuser überstellt worden und nicht in eine zuständige Fachklinik?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Der Frage werde ich aber sehr gerne nachgehen. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass bei Kontakt mit Uranhexafluorid zwei Gefährdungen bestehen: Das ist einmal die Gefährdung durch einen radiologisch gefährlichen Stoff. Das ist aber auch die Gefährdung durch einen Giftstoff, der zu Verätzungen führen kann. Der Mitarbeiter ist zurzeit im Universitätsklinikum Düsseldorf. Wir werden wohl in der nächsten Woche einen genaueren Bericht von dort erhalten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es gibt eine weitere Frage der Kollegin Kotting-Uhl. Bitte schön.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, es ist mir völlig klar, dass wir im Moment die situativen Umstände noch nicht bewerten können, weil wir sie noch nicht richtig kennen. Deswegen habe ich noch eine Frage zu den allgemeinen Vorsichtsmaßnahmen: Es muss ja allgemeine Sicherheitsmaßnahmen geben, die gewährleisten sollen, dass es zu solchen Zwischenfällen, zu solchen Unfällen nicht kommt. Welche sind das im Fall dieser Uranfabrik? Im Anschluss daran frage ich: Warum trug dieser Arbeiter offensichtlich keine Schutzkleidung?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Die letzte Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Das muss ich nachliefern. Die erste Frage beantworte ich so: Die Urananreicherungsanlage in Gronau wurde nach einem sehr aufwendigen Genehmigungsverfahren genehmigt. Es wurde festgestellt, dass die Anlage dem Stand der Wissenschaft und der Technik entspricht, was bedeutet, dass sie wirklich so sicher ist, wie sie sein muss. Ich darf weiter darauf hinweisen, dass wir drei Kategorien von Ereignissen haben: Kategorie N, normaler Unfall, Kategorie E, Unfall, der eine Eilmeldung erfordert, und die höchste Kategorie von Störfällen, nämlich die S-Kategorie. Es handelt sich hierbei nach Einschätzung aller Experten um ein „normales“ Ereignis der Kategorie N. Ich denke, dass da alle Notfallszenarien sehr vernünftig abgelaufen sind, wobei wir den Fragen, die auch Ihr Kollege Krischer gerade gestellt hat, insbesondere was die Behandlung in den Krankenhäusern angeht, natürlich noch einmal sehr genau nachgehen werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich rufe die Dringliche Frage 2 der Kollegin Kathrin Vogler von der Fraktion die Linke auf: Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Ursache des Unfalls in der UAA in Gronau, bei dem am Donnerstag letzter Woche - 21. Januar 2010 - ein Arbeiter verletzt und mit giftigem, radioaktivem und hochreaktivem Uranhexafluorid, UF6, kontaminiert wurde, und welche Schlussfolgerungen für den weiteren Betrieb der UAA zieht sie aus diesem ernsten Zwischenfall?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Kollegin Vogler, ich kann ein Stück weit auf die Antwort verweisen, die ich dem Kollegen Krischer gerade gegeben habe. Vielleicht nur noch so viel, um das deutlich zu machen: Der Unfall hat sich im Bereich der Behältervorbereitung bei einer sehr routinemäßigen Prüfung eines Behälters ereignet. Bei dieser Behälterprüfung besteht kein Zusammenhang mit dem eigentlichen Anreicherungsbetrieb der Urananreicherungsanlage in Gronau. Darüber hinaus muss ich hier auf den endgültigen Bericht der Sachverständigen des TÜVs verweisen, der uns hoffentlich Ende der Woche, spätestens Anfang nächster Woche zur Verfügung steht und den wir Ihnen, dem Parlament, selbstverständlich direkt zuleiten werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nachfrage, Frau Vogler?

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Staatssekretärin. Es ist ja schon erwähnt worden, dass der betroffene Mitarbeiter jetzt im insgesamt vierten Krankenhaus liegt, nachdem die Urenco, die Betreiberin der Anlage, zunächst einmal hatte verlauten lassen, es gehe ihm gut. Ich war am Sonntag in Gronau, und es gibt in der Bevölkerung erhebliche Beunruhigung und viele Nachfragen, inwieweit man den Beteuerungen der Urenco über die Harmlosigkeit dieses Vorfalls Glauben schenken kann und inwieweit die Informationspolitik dieses Unternehmens dazu geeignet ist, den Vorfall schnell und umfassend aufzuklären. Ich möchte daher an dieser Stelle nachfragen: Wie bewertet die Bundesregierung die bisherige Kommunikation der Betreiberfirma in diesem Zusammenhang?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Die Betreiberfirma hat direkt nach dem Ereignis eine Pressemitteilung herausgegeben. Gleichzeitig gab es eine erste vorläufige Untersuchung des Ministeriums für Wirtschaft, Mittelstand und Energie des Landes NordrheinWestfalen, welches die entsprechende Aufsichtsbehörde ist. Wir sind aus Nordrhein-Westfalen direkt, vernünftig, ausreichend, umfassend mündlich und schriftlich unterrichtet worden. Den Vermerk dazu habe ich bereits Kollegen Krischer zugesagt; auch Sie werden ihn erhalten. Dann sehen Sie, dass es eine umfangreiche Information gegeben hat. Gestatten Sie mir, Herr Präsident, dass ich bezüglich des Gesundheitszustandes des Mitarbeiters aus einer Agenturmeldung von gestern zitiere: Vorläufige Messungen hätten gezeigt, dass der 45-Jährige nur eine „sehr niedrige Dosis“ der radioaktiven Strahlung aufgenommen habe, sagte der behandelnde Arzt Hubertus Hautzel der Deutschen Presse-Agentur am Dienstag. Endgültige Ergebnisse wollen die Ärzte der Nuklearmedizinischen Klinik des Universitätsklinikums Düsseldorf … in der nächsten Woche präsentieren. So viel zum Gesundheitszustand des betroffenen Mitarbeiters. Was die Belastung durch den Stoff durch die Kamine angeht, habe ich vorhin schon ausgeführt, dass es sich hierbei um eine nur sehr geringe Belastung handelt, nämlich ein Sechstel des Wochengrenzwertes, sodass es wohl zu überhaupt keiner Belastung der Bevölkerung gekommen ist. Die Messgeräte zeigen ja an, welche Belastungen es tatsächlich gibt. Die Belastungen, denen der betroffene Mitarbeiter ausgesetzt war, lagen, so wurde uns mitgeteilt, zwischen 1 und 5 Millisievert. 20 Millisievert dürfen Mitarbeiter laut Strahlenschutzverordnung aushalten; dieser Wert liegt also am unteren Rand. Alle Fakten zusammengenommen zeigen, dass es sich hierbei - ich bleibe in der „Kategorie-Sprache“ - um ein Ereignis der Kategorie N, einen sogenannten „normalen“ Unfall, handelt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zweite Nachfrage?

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine weitere Nachfrage bezieht sich auch auf ein Problem, das mir am Wochenende vorgetragen wurde. Es gibt sehr große Besorgnis in der lokalen Bevölkerung hinsichtlich der Beschäftigten in den Krankenhäusern, in die der Betroffene eingeliefert wurde. Diese sahen sich wenig informiert darüber, wie sie mit einer solchen Situation umzugehen haben. Nun ist die UAA nicht erst seit letzter Woche in Gronau. Das wirft für mich die Frage auf, inwieweit die Notfallpläne die Beschäftigten in den Krankenhäusern überhaupt in den Stand setzen, mit so einem Vorfall umzugehen.

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Ich habe bereits auf die Frage des Kollegen Krischer geantwortet, dass wir diesem Vorgang sehr genau nachgehen werden. Der betroffene Mitarbeiter ist jetzt in der Nuklearmedizinischen Klinik der Universitätsklinik Düsseldorf und dort mit Sicherheit in den besten Händen. Was die Mitarbeiter in den Krankenhäusern ansonsten angeht, denke ich, dass wir davon ausgehen können, dass sie alle entsprechenden Schutzmaßnahmen eingehalten haben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es gibt eine weitere Frage des Kollegen Krischer.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, Sie haben gerade ausgeführt, dass die Menge des Materials, das ausgetreten ist, noch gar nicht bekannt ist. Auf der anderen Seite haben Sie dargelegt, dass Sie die Strahlenbelastung, die Dosis, die der Mitarbeiter abbekommen hat, relativ genau definieren können. Könnten Sie erläutern, wie es sein kann, dass man einerseits die Dosis sehr genau definieren und sagen kann, dass sie wahrscheinlich ungefährlich und gering ist - so habe jedenfalls ich Sie verstanden -, andererseits aber die Menge, die aus dem Fass, dem Behältnis ausgetreten ist, und die Menge, die darin enthalten war, gar nicht genau kennt? Das ist ein Widerspruch, den ich nicht verstehe. Hier bitte ich Sie um eine Erläuterung.

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Ich habe vorhin ausgeführt, dass Messungen am Kamin des betreffenden Gebäudes durchgeführt wurden; diese Messungen sind sehr genau. Bei diesen Messungen am Kamin kam man, wie ich dargelegt habe, auf ein Sechstel der zulässigen Wochenbelastung. Aus diesen Messungen am Kamin lassen sich auch Rückschlüsse auf die freigesetzte Menge ziehen. Weil ich Ihnen keinen genauen Wert angeben kann, habe ich gesagt: Es handelt sich um eine Bandbreite zwischen 1 und 5 Millisievert.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es gibt eine weitere Wortmeldung von Frau KottingUhl.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, an dieser Stelle würde ich gerne eine Nachfrage stellen. Mir ist klar, dass die Behörden immer auch bemüht sind, keine unnötige Panik und Unruhe aufkommen zu lassen; dafür habe ich volles Verständnis. Dennoch haben wir natürlich ein großes Interesse daran, dass nichts verharmlost wird, was im Hinblick auf diese Uranfabrik leider hin und wieder der Fall ist. Der Presse können wir entnehmen, dass die Ärzte mögliche Spätfolgen nicht ausschließen können. Sie haben gerade dargelegt, woher Sie wissen, wie viel Radioaktivität dort ausgetreten ist. Aber es spielt doch auch eine Rolle, wie viel dieser Arbeiter zum Beispiel eingeatmet hat. Man kann nicht allein aus der Tatsache, was im Kamin gemessen wurde, ableiten, wie stark der Arbeiter belastet ist. Würden Sie mir zustimmen, dass die Aussage, dass die Strahlenbelastung nur gering ist - diese Aussage wurde teilweise getroffen -, vielleicht ein bisschen verfrüht ist?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Ich habe Ihnen gesagt, dass es sich um eine sehr große Bandbreite handelt und ich Ihnen noch keine exakten Zahlen nennen kann, bevor nicht die Abschlussprüfung durch den TÜV erfolgt ist. Weil sich die Zahlen überhaupt noch nicht exakt beziffern lassen, habe ich nur sehr grobe Angaben gemacht. Ich habe diese Zahlen nur deshalb genannt, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, um welche Größenordnung es geht. Es ist in der Tat so - vielleicht muss ich meine Antwort auf die Frage der Kollegin Vogler etwas ergänzen -, dass es hier zwei Probleme gibt, die zur Folge haben, dass der Mitarbeiter besonders intensiv untersucht werden muss. Erstens geht es um radiologische Gesichtspunkte, für die weniger die Direktstrahlung als vielmehr ein direkter Kontakt mit dem Stoff eine Rolle spielt. Zweitens ist es so - das ist das besonders Gefährliche -, dass Uranhexafluorid sich zu einem ätzenden Giftstoff zersetzen kann. Deshalb ist der Mitarbeiter unter ganz besonderer Beobachtung. Was die exakten Werte und alles Weitere angeht, sollten wir den TÜV-Bericht abwarten. Ich hoffe, auch im Interesse der Aufklärung der Bevölkerung, dass er möglichst bald vorliegt. Darüber hinaus muss ich Ihnen sagen: Im Dezember 2009 haben Sie zu diesem Thema eine Anfrage gestellt. In diesem Rahmen sind wir auf einzelne Fragestellungen, die Sie auch jetzt angesprochen haben, sehr ausführlich eingegangen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Eine weitere Frage stellt die Kollegin Arndt-Brauer.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Staatssekretärin, die Firma Urenco ist in meinem Wahlkreis tätig; deswegen bin ich mit diesem Thema ganz gut vertraut. Wir müssen, wie ich denke, zwei Dinge unterscheiden: die Ursache und die Frage, wie wir damit umgehen. Die Ursache hat die CDU-Wirtschaftsministerin Thoben in Schweden entdeckt; das mag richtig sein. Aber es stellt sich die Frage: Wie gehen wir damit um, wenn etwas passiert, worauf wir selbst keinen Einfluss haben? Wir kennen nur das Ergebnis. Urenco hat vor Ort keine sauberen Behälter, sondern in irgendeiner Form verunreinigte Behälter. Das, was passiert ist, war katastrophal. Krankenhäuser, die nicht darauf vorbereitet waren, wurden konsultiert: zunächst Gronau, dann Ochtrup und Jülich, erst danach Münster. Gibt es denn konkret das Bestreben, einen neuen Katastrophenschutzplan zu entwickeln, der etwa vorsieht, dass die Freiwillige Feuerwehr Gronau, die mit so etwas umgehen kann, vielleicht stärker eingebunden wird, dass die Werksfeuerwehr besser ausgebildet wird und dass vor allem der Transport Verletzter in eine Fachklinik sichergestellt wird, ohne andere Menschen etwaig zu gefährden?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Was den Behälter angeht: Der Behälter wurde wohl aus Schweden nach Gronau geliefert. Wir werden uns sehr genau anschauen, was der TÜV-Sachverständige über die tatsächlichen Ursachen sagt. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es an dem Behälter lag, hoch ist, bin ich zum jetzigen Zeitpunkt vorsichtig damit, einfach zu sagen: Das ist der Behälter gewesen. - Das muss der Sachverständige beurteilen. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der Sachverständige nicht rund um die Uhr arbeiten kann, weil der Raum zurzeit nur mit Schutzanzug etc. betreten werden kann. Den Bericht des Sachverständigen bekommen Sie, wenn er vorliegt, sofort zur Verfügung gestellt. Dann werden wir uns auch die Notfallpläne sehr genau anschauen. Ich will aber noch einmal darauf verweisen, dass der Unfall nicht in der Urananreicherungsanlage selbst geschehen ist, sondern in einem sogenannten Vorbereitungsraum und dass eine umfangreiche Sicherheitsprüfung der gesamten Anlage bei ihrer Genehmigung vorgenommen worden ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt haben wir eine weitere Frage des Kollegen Dr. Ott von den Grünen.

Dr. Hermann E. Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004125, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatssekretärin, wir haben Tickermeldungen vorliegen, dass der Boden in dem Raum mit 170 Becquerel belastet war. Haben Sie Informationen darüber, ob das richtig ist und ob man davon auf die Belastung der Raumluft rückschließen kann?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Ich habe noch keine solchen Meldungen vorliegen, jedenfalls keine bestätigten. Das ist auch nicht Teil des Berichts, den wir aus Nordrhein-Westfalen als ersten Bericht bekommen haben. Auch hier muss ich noch einmal darauf verweisen, dass der TÜV-Bericht, aus dem hervorgehen wird, wie die Belastung genau aussieht, wohl zum Ende der Woche vorliegen wird. Dass es noch eine Belastung gibt, sehen wir auch daran, dass der Sachverständige in dem Raum tatsächlich nur sehr vorsichtig arbeiten kann.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Dann kommen wir zur Dringlichen Frage 3 der Kollegin Vogler: Welche Gefahren für die Beschäftigten und die Bevölkerung des Münsterlandes bestehen durch den Betrieb der UAA in Gronau und insbesondere durch die Atomtransporte durch die Region?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Kollegin Vogler, die Frage nach Gefahren für die Beschäftigten und die Bevölkerung habe ich zum Teil schon mit beantwortet. Ich habe schon mehrfach darauf verwiesen, dass der Endausbau der Urananreicherungsanlage in Gronau am 14. Februar 2005 genehmigt worden ist. Sowohl das Bundesumweltministerium als auch das Land Nordrhein-Westfalen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Anlage hinsichtlich der sicherheitstechnischen Auslegung und des sicheren Betriebs den nach Stand von Wissenschaft und Technik zu stellenden Anforderungen entspricht. Die Messungen am Kamin des Gebäudes, in dem sich die Behältervorbereitung befindet, haben gezeigt - darauf habe ich schon mehrfach verwiesen -, dass im Zusammenhang mit dem Ereignis etwa ein Sechstel des genehmigten Wochenabgabegrenzwertes für diesen Kamin in die Umgebung abgegeben wurde. Eine Dosisbelastung der Bevölkerung und der Umwelt ist daher nicht anzunehmen. Die Messwerte der Umgebungsüberwachung - das habe ich vorhin noch nicht gesagt - zeigten nach Angabe der atomrechtlichen Aufsichtsbehörde erwartungsgemäß keinerlei Auffälligkeiten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nachfrage? - Bitte.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke. - Frau Staatssekretärin, ich bin nicht der Auffassung, dass die Frage, die ich gestellt habe, damit vollständig beantwortet ist. Zum Betrieb der Urananreicherungsanlage gehört nämlich eine erhebliche Zahl von Atomtransporten, die Monat für Monat durch unsere Region rollen und die für ebenso viel Beunruhigung - berechtigte Beunruhigung und Besorgnis in der Bevölkerung sorgen. Auf diesen Punkt sind Sie jetzt gar nicht eingegangen. Meine Frage ist also: Wie bewertet die Bundesregierung eigentlich die Gefahren, die von diesen regelmäßigen Atomtransporten durch unsere Region ausgehen, und was tun Sie, um die Bevölkerung zu schützen?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Dazu gibt es eine Antwort der Bundesregierung aus dem Mai 2007 auf eine Kleine Anfrage Ihrer Fraktion. Ich möchte Sie bitten, sich diese Antwort noch einmal genau anzuschauen. Da finden Sie auch unsere Stellungnahme zum Thema Transport. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Vogler, Sie haben das Recht zu einer weiteren Nachfrage.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

2007 war eine andere Bundesregierung im Amt, die die Antwort auf diese Anfrage zu verantworten hatte. Erfreut höre ich, dass Sie es genauso sehen.

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Wir haben die wenigen Monate nicht genutzt, um die gesetzlichen Grundlagen zu ändern. Deshalb zitiere ich gerne aus der Antwort vom Mai 2007.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gut. Dann stelle ich jetzt eine Nachfrage, die sich spezifisch an die neue Bundesregierung richtet. Ich möchte gerne wissen, ob die Bundesregierung ange1516 sichts des erneuten Zwischenfalls in der Urananreicherungsanlage, dem bereits Zwischenfälle im September und Dezember letzten Jahres vorausgegangen sind, nicht bereit ist, ihre Position zu überdenken, die Laufzeiten der Atomkraftwerke und damit auch die Betriebszeit und Auslastung der Urananreichungsanlage in Gronau zu verlängern bzw. auszuweiten. Ich glaube, das wäre auch für die Menschen in der Region interessant zu wissen.

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Wie Sie wissen, ist das Thema Laufzeitverlängerung Teil des Energiekonzepts, an dem zurzeit das Umweltministerium und das Wirtschaftsministerium arbeiten und das im Herbst dieses Jahres vorliegen wird. Überlegungen zu Laufzeitverlängerungen sowie all das, was Sie genannt haben, werden in dieses Konzept einfließen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es liegt eine Frage der Kollegin Arndt-Brauer vor.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nach der Erweiterung der Urananreicherungsanlage ist ein Erdwall aufgeschüttet worden. Hinter dem Erdwall - nicht sichtbar, aber ohne Dach - werden befüllte und unbefüllte Behälter gelagert. Ist es nach diesem Unfall nicht sinnvoll, über die Lagerung nachzudenken, weil das, was in den Behältern ist, vielleicht nicht der Deklaration entspricht, von dieser Art der Lagerung also vielleicht eine größere Gefährdung der Bevölkerung ausgeht, als man vorher erwarten konnte?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Wir warten die Fertigstellung des TÜV-Berichts ab. Ich denke, das ist vernünftiger, als jetzt zusammen munter Spekulationen zu äußern. Es handelt sich nur noch um wenige Tage, bis der Bericht fertiggestellt ist. Ich denke, wir haben dann Gelegenheit, entweder im Ausschuss oder hier im Plenum, in der Fragestunde, ausführlich darüber zu beraten. Das Hauptproblem beim Umgang mit Uranhexafluorid ist, wie gesagt, nicht die Direktstrahlung, sondern der Kontakt zum Stoff.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es liegt eine Frage des Kollegen Krischer vor.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Wenn meine Informationen stimmen, hat das System zur automatischen Meldung von Radioaktivität in dem Raum nicht angeschlagen. Vielmehr ist der Mitarbeiter, der das Behältnis geöffnet hat, in einen Nachbarraum gegangen und hat dort einen Mitarbeiter informiert. Erst dann ist der Alarm ausgelöst worden. Meine Frage ist: Ab welcher Strahlenbelastung müsste ein solcher Alarm in diesem Raum eigentlich ausgelöst werden?

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Kollege Krischer, das kann ich Ihnen leider nicht beantworten; ich muss es nachliefern. Ich zitiere aus dem Bericht des Landes Nordrhein-Westfalen. Dort heißt es in der Tat: Die Freisetzung wurde von einem in dem betreffenden Raum arbeitenden weiteren Mitarbeiter bemerkt und telefonisch sofort die Werksfeuerwehr und die Warte informiert. Außerdem heißt es: Die Monitore der Raumluftüberwachung haben angesprochen und die Störfalllüftung wurde eingeschaltet. Es hat also einen Automatismus gegeben. Alles Weitere werden wir dem TÜV-Bericht entnehmen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. - Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Für die Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel zur Verfügung. Wir kommen zur Dringlichen Frage 4 der Kollegin Dr. Barbara Höll: Wie viele Hartz-IV-Empfänger - in absoluten Zahlen und prozentual von allen - sind von der laut Presseberichten vom Wochenende im Januar 2010 nicht korrekt berücksichtigten Kindergelderhöhung bei der Ermittlung der Leistungshöhe betroffen? Bitte, Herr Staatssekretär.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Frau Kollegin Dr. Höll, Ihre Frage nimmt Bezug auf Presseberichte. In diesen Presseberichten ist die Rede von einer nicht korrekt berücksichtigten Kindergelderhöhung. Bezogen auf diese Formulierung beantworte ich die Frage so: Es hat keine Betroffenen gegeben. Mit der jetzigen Änderung der Bescheide erfolgt die im Zehnten Buch Sozialgesetzbuch verankerte Anpassung an die geänderten Verhältnisse. Hierbei handelt es sich um eine völlig korrekte Berücksichtigung. In sämtlichen Leistungsbescheiden ist das Kindergeld in der jeweils geltenden gesetzlichen Höhe korrekt als Einnahme berücksichtigt worden. Eine nachträgliche Änderung der Bescheide ist aufgrund der späten Verabschiedung des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes notwendig geworden. Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist bekanntlich in sehr kurzer Zeit gelungen, nämlich bereits kurz nachdem diese Koalition die Arbeit aufgenommen hatte. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, in dem die Kindergelderhöhung geregelt ist, wurde am 30. Dezember 2009 im Bundesgesetzblatt verkündet. Vor diesem Zeitpunkt war es nicht möglich, eine Korrektur der Bescheide für Januar oder eine geänderte Auszahlung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts durch die Bescheide zu realisieren. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hatte auch ausdrücklich davon abgesehen, vor Verkündung des Gesetzes Änderungen der Leistungshöhe zulasten der Leistungsbezieher zuzulassen. Die jetzige Anpassung entspricht damit vollständig der Rechtslage.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Eine Nachfrage, Frau Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Staatssekretär. - Darf ich Ihre Beantwortung meiner Frage so verstehen, dass die Kindergelderhöhung für alle Kinder und Jugendlichen, deren Eltern Hartz IV beziehen, ausgezahlt wurde? Es ist also meine Frage zu beantworten, ob diese Erhöhung zu 100 Prozent ausgezahlt worden ist. Muss dies jetzt zu 100 Prozent korrigiert und das Geld zurückgeholt werden? Ist das richtig?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Das wird durch einen Änderungsbescheid korrigiert. Ob im Einzelnen eine Rückholbarkeit gegeben ist, hängt von der jeweiligen Situation ab. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Eine weitere Nachfrage, Frau Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, ich möchte jetzt noch eine Frage zu der Ursache und zu Ihren Schlussfolgerungen stellen. Die Ursache liegt also darin, dass das Ministerium bzw. die Bundesregierung bewusst entschieden hat, dass die Bescheide nicht im Voraus korrigiert werden. Es hätte ja auch sein können, dass Sie dem Vorschlag der Linken folgen würden, die ja beantragt hatten, gleich die Nichtanrechnung der Kindergelderhöhung zu verabschieden. Die Korrektur der Bescheide, die Sie jetzt beschrieben haben, soll im Januar erfolgen. Gilt im Februar dann noch die alte Situation, sodass die Kindergelderhöhung de facto noch zu 100 Prozent ausgezahlt wird, oder nicht?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Es ist folgendermaßen: Zunächst einmal kann während des laufenden Bezugs keine Rückforderung der Gelder erfolgen, die durch die ergangenen Bescheide gewährt wurden. Das kann nur dann der Fall sein, wenn sich die entsprechende finanzielle Situation ändert, nämlich zum Beispiel durch die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit. Es ist auch nicht möglich, dass hier eine Aufrechnung erfolgt. Somit sind die Bescheide zunächst einmal Ausdruck der Rechtslage, und die Erstattung des überzahlten Betrages erfolgt dann, wenn die Vermögens- und Einkommensverhältnisse das zulassen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es gibt eine weitere Nachfrage. Kollegin Mast.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, können Sie eine Aussage darüber treffen, wie hoch die Verwaltungskosten dafür sein werden, die Rückforderungsbescheide im Zusammenhang mit der Anrechnung der Erhöhung des Kindergeldes um 20 Euro auszusenden und die entsprechenden Gespräche zu führen? Insgesamt geht es ja ungefähr um 2,2 Millionen Kinder und 1,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften. Da der Normenkontrollrat eine Grenze von 50 Euro proklamiert, unterhalb welcher es sich nicht lohnt, Rückforderungen zu stellen, stellt sich schon die Frage, wieso Sie an dieser Stelle keinen anderen Weg gegangen sind.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Zur Zahl der betroffenen Bedarfsgemeinschaften darf ich hier noch einmal Folgendes darstellen: Wir nehmen an, dass es circa 1,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften gibt, bei denen Kindergeld als Einnahme anzurechnen ist. Wegen des unterschiedlichen Beginns des Bewilligungszeitraums - die Bewilligungen, um die es geht, sind in etwa ab August, also über ein halbes Jahr hinweg, erteilt worden - ist davon auszugehen, dass circa 1,1 Millionen Bedarfsgemeinschaften betroffen sind. Die Abwägung der Kosten-Nutzen-Relation und die Berücksichtigung der zu erwartenden Verwaltungskosten haben zu der Entscheidung geführt, die ich vorgetragen habe.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt folgt eine Frage der Kollegin Haßelmann von den Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Herr Staatssekretär, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie davon ausgehen, dass bei 1,1 Millionen der 1,3 Millionen Bedarfsgemeinschaften, an die möglicherweise eine zu hohe Zahlung erfolgt ist, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Diese Einzelfallprüfung ist nicht sehr schwierig. Es geht um eine einzige Position. Dadurch lässt sich die Korrektur mit einem Verwaltungsaufwand realisieren, der in der Relation als sinnvoll erachtet wird. Sie dürfen bei all dem nicht vergessen, dass eine vierjährige Rückforderungsfrist besteht. Das ist ein Zeitraum, in dem sehr viele Bedarfsgemeinschaften wieder finanziell stärker werden und in der Lage sind, diese Zahlungen zu erbringen. ({0}) Es ist auch im Interesse der Gemeinschaft der Steuerzahler, dass solche Forderungen realisiert werden müssen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat die Kollegin Krellmann eine Frage.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich muss nachfragen, damit ich den Menschen in meiner Region, die davon möglicherweise betroffen sind, keine falschen Informationen weitergebe. Bei mir ist angekommen, dass die Betroffenen die 20 Euro, die sie formal zu viel erhalten haben, nicht zurückzahlen müssen und einen neuen Bescheid bekommen werden, aus dem hervorgeht, dass sie zukünftig diese 20 Euro nicht mehr zahlen müssen. Ist das richtig?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Nein, das ist nicht richtig. Insofern ist es gut, dass Sie nachgefragt haben. Denn wir wünschen verständlicherweise nicht, dass falsche Informationen weitergegeben werden. Die Bescheide werden die Korrektur ab Jahresbeginn beinhalten, die Rückzahlungen werden auf der Basis des geltenden Rechts umgesetzt, das heißt, wenn die finanzielle Möglichkeit dazu besteht.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Darf ich noch eine Nachfrage stellen?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Leider nein. Sie müssen sich wieder hinten anstellen. Jetzt folgt nämlich der Kollege Lehrieder.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ich habe eine kurze Ergänzungsfrage: Warum sind vor dem Inkrafttreten des Gesetzes keine Änderungen in den Bescheiden zur Vermeidung der Überzahlungen möglich gewesen?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Um der Rechtslage Rechnung zu tragen, hat die Bundesregierung gegenüber der Bundesagentur für Arbeit ausdrücklich darauf geachtet, dass keine vorzeitigen Reduzierungen in den Bescheiden vorgenommen wurden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die nächste Frage stellt Frau Kollegin LösekrugMöller.

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wir sind beide schon eine Weile Abgeordnete des Deutschen Bundestages, und Sie haben schon viele Pflichten im Haushaltsausschuss erfüllt. Ich erinnere mich an einen Jahreswechsel, zu dem die Große Koalition aus guten Gründen ebenfalls eine Kindergelderhöhung vorgenommen hatte. Auch seinerzeit waren Bescheide über Grundsicherung respektive Sozialgeld ergangen, und man hatte in einer klugen Entscheidung darauf verzichtet, alle neu zu bescheiden, und zwar nicht nur wegen des damit verbundenen hohen Verwaltungsaufwandes, sondern auch deshalb, weil man vermuten musste, dass die Hilfeempfänger in gutem Glauben das Sozialgeld bzw. die Grundsicherung zur Bestreitung der Kosten des Alltags verwendet hatten. Können Sie sich an diesen Vorgang erinnern? Er liegt circa ein Jahr zurück.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Frau Kollegin, ich kann mich daran erinnern. Sie nehmen bewusst auf meine frühere Tätigkeit im Haushaltsausschuss Bezug. Ich kann bestätigen, dass im Jahre 2009 die Übergangsfragen gemäß einer entsprechenden Regelung so beantwortet wurden, dass keine Rückzahlungen zu erbringen waren. Das hat man diesmal nicht gemacht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt noch eine Frage von Frau Krellmann, bitte.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich stelle die Frage: Warum kann die Bundesregierung darauf nicht verzichten? Es liegt doch auf der Hand, dass die Verwaltungskosten der Überprüfung in den nächsten vier Jahren, ob die Betreffenden wieder in Arbeit gekommen sind und gegebenenfalls eine Rückzahlung leisten müssen, höher sind als die Kosten, die durch einen kompletten Verzicht entstehen. Da Sie schon einmal auf Rückzahlungen verzichtet haben, schlage ich vor: Tun Sie es auch diesmal!

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Die entscheidende Frage ist in der Tat, wie man hier grundsätzlich vorgehen möchte. Es ist richtig, dass einmal darauf verzichtet wurde. Aber die Berechnungen haben auch ergeben, dass die Summe, die zurückfließen wird, weitaus höher sein wird als die Verwaltungsausgaben, die hier getätigt werden müssen. Ich darf auch darauf hinweisen, dass es viele Menschen gibt, die bereit sind, die erhaltenen Zahlungen, die höher sind als das, was sie hätten erhalten sollen, freiwillig, also ohne Zwang, zurückzuzahlen. Dies muss berücksichtigt werden, wenn man sich diesem Fragenkomplex zuwendet.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nun hat Kollegin Keul von den Grünen eine Frage.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, haben Sie bei der Bemessung der Verwaltungskosten auch die Ausgaben für die Prozesskostenhilfe und zusätzliche Richterstellen bei den Sozialgerichten berücksichtigt? Schließlich haben bereits namhafte Sozialrechtler, unter anderem der ehemalige Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Hartmut Kilger, öffentlich darauf hingewiesen, dass Klagen der Betroffenen, denen die Gelder aufgedrängt wurden, wegen Entreicherung zulässig und begründet sein könnten.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Das betrifft die fünfte Dringliche Frage. Herr Präsident, ich weiß nicht, ob ich dazu bereits Stellung nehmen soll.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nehmen Sie ruhig Stellung.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Es ist ein völliger Rechtsirrtum, wenn gesagt wird, dass § 818 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches hier greife. Dies wird zwar immer wieder behauptet, entspricht aber überhaupt nicht dem Stand der herrschenden Meinung. Zudem beinhaltet das Sozialrecht hierfür eigene Vorschriften. Es wird kein Bezug auf das BGB und den Entreicherungsparagrafen genommen. Deswegen gehen Klagen, die damit begründet werden, ins Leere. Daher wird sicherlich keine Prozesskostenhilfe, die eine Vorprüfung verlangt, ob ein Prozess erfolgreich geführt werden kann, gewährt werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die letzte Zusatzfrage zur Dringlichen Frage 4 stellt Frau Kollegin Mast.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich habe noch einmal eine Frage zum Verhältnis von Verwaltungskosten zu den Gesamtkosten, die durch das zu hoch ausbezahlte Kindergeld entstanden sind, und möchte von Ihnen ganz konkrete Zahlen wissen. Wie hoch kalkulieren Sie die Verwaltungskosten für diese Rückforderungen, und wie hoch sind die Gesamtkosten des überzahlten Kindergeldes?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Frau Kollegin, auf diese Frage stellte ich Ihnen gern schriftlich etwas dar, weil man dazu einige weitere Ausführungen machen muss. Dies kann hier im Augenblick auf die Schnelle nicht geschehen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Dann kommen wir zur dringlichen Frage 5 der Kollegin Dr. Höll: Teilt die Bundesregierung die juristische Schlussfolgerung, dass eine Rückzahlung der nicht korrekt berücksichtigten Kindergelderhöhung in den Hartz-IV-Bescheiden unter Berufung auf § 818 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches vermieden werden kann, und, wenn nein, wie soll eine Korrektur der fehlerhaften Bescheide erfolgen ({0})?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Diese Frage nimmt ebenfalls auf die angesprochenen Presseberichte Bezug, und deswegen muss ich auch diese Frage bezüglich der korrekten Berücksichtigung der Kindergelderhöhung mit Nein beantworten. Die rechtliche Behandlung der Überzahlung hat wie folgt zu erfolgen - ich habe dies vorhin schon einmal referiert -: Die Bescheide sind für den Monat Januar sowie für die weiteren Monate, für die die Leistungen unter Berücksichtigung des alten Kindergeldbetrages ermittelt wurden, teilweise zu ändern. Dies erfolgt durch einen Aufhebungsbescheid nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Sozialgesetzbuches X. Für die im Januar überzahlten Leistungen ist ein Erstattungsbescheid nach § 50 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches X zu erlassen. Die Regelung des § 818 Abs. 3 BGB gilt nicht; das habe ich zuvor schon ausgeführt. Daher kann die Bundesregierung die in der Frage wiedergegebene Auffassung nicht teilen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nachfrage, Frau Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, Sie merken ja, dass auch wir Abgeordneten das nicht ganz verstehen. Nun muss man einmal in Rechung stellen, dass es für jemanden, der Hartz IV bezieht, ebenfalls relativ schwierig sein dürfte, wenn Aufhebungsbescheid, Erstattungsbescheid usw. mehrmals hin- und hergehen. Deshalb möchte ich wirklich noch einmal nachfragen. Die Überzahlung erfolgte im Monat Januar; ab diesem Monat ist sie teilweise wieder aufgehoben. Ich habe immer noch nicht verstanden, wann es aufgehoben wird und wann nicht. Es heißt, ab Februar erfolgt keine Überzahlung. Dann bekommen die betroffenen Familien einen Erstattungsbescheid, der über vier Jahre gilt. Das heißt, in Bezug auf das Geld, das Sie nicht aus den laufenden Lebenshaltungskosten zurückverlangen, sind die Familien verpflichtet, diese „Überzahlung“ zurückzuzahlen, sobald sich ihre finanzielle Situation verändert hat. Angesichts dessen beziffern Sie die Kosten. Wenn man die Zahlen kennt, wenn man weiß, wie viele Menschen leider langzeitarbeitslos sind und über Jahre im Hartz-IV-Bezug sind, gerade Alleinerziehende mit Kindern, und wenn man weiß, dass Experten von Bearbeitungskosten pro Fall von etwa 80 Euro ausgehen, wie kann man dann annehmen, dass Sie nur über einen Monat reden? Um die Kosten hereinzuholen, müssten schon vier Kinder in der Familie betroffen sein. Sie sagen, dieser ganze bürokratische Aufwand und die Bestrafung der Familien - letztendlich kommt es bei ihnen so an - lohne sich und Sie erhöben damit wesentlich mehr als die damit verbundenen Verwaltungskosten. Dies ist mir immer noch nicht durchschaubar. Vielleicht könnten Sie mir an dieser Stelle noch einmal helfen.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Ich versuche noch einmal, hier wirklich zu helfen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gerne.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Zunächst gehe ich davon aus, dass der Fall so liegt: Im Januar kam es zu der Überzahlung, im Februar möglicherweise auch noch einmal. Dies ist davon abhängig, wie schnell die Änderungsbescheide ergehen, also die an der gesamten Abwicklung beteiligten Personen und Institutionen in der Lage sind, die Änderungen vorzunehmen. Dann erfolgt der Änderungsbescheid. In diesem Bescheid steht, welcher Zahlbetrag ab Januar gilt und dass für die Zeit ab Januar der überzahlte Betrag zurückzuleisten ist. Diese Rückleistung kann aber nicht vom Laufenden genommen werden, sondern sie kann erst dann erfolgreich umgesetzt werden, wenn eine andere Vermögens- und Einkommenssituation besteht. Innerhalb der nächsten vier Jahre wäre eine entsprechende Maßnahme noch möglich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zweite Nachfrage, Frau Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, vor dem Hintergrund, dass wir hier im Haus wissen, dass die letzte Kindergelderhöhung auch die Erhöhung der Kinderfreibeträge beinhaltet hat, sodass beispielsweise Millionäre mit Kindern pro Monat 40 Euro bekommen, Normalverdiener aber nur 20 Euro mehr erhalten, frage ich Sie: Sind Sie der Meinung, dass diese kleine Geldleistung im Januar und eventuell Februar gerade für die Kinder und Jugendlichen, die finanzielle Hilfe nötig haben, zu viel ist und die Bundesregierung deshalb die Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit mit der Erstellung von Rückforderungsbescheiden und mit Widerspruchsverfahren, die zu erwarten sind, beschäftigen muss? Sind Sie der Meinung, dass das sozialpolitisch richtig ist?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Hier geht es darum, dass eine zu viel erhaltene Leistung wieder zurückgezahlt werden soll. Dies wird in allen vergleichbaren Fällen, die wir im Sozialrecht und auch im Rentenrecht kennen, ebenfalls so gehandhabt. Daher ist es auch in diesem Fall ein Gebot rechtsstaatlichen Handelns, dass man an dieser Haltung festhält.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kollegin Mast hat eine Frage.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wir hatten gerade eben die Möglichkeit, uns auf die letzte Legislaturperiode zurückzubesinnen, als auch eine Kindergelderhöhung anstand. Damals waren wir in einer Großen Koalition, und Sie waren der verantwortliche Haushälter für den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit. Wir haben seinerzeit eine Übergangsregelung von Januar bis Mai 2009 als politisch sinnvolles Instrument eingeführt. Das wäre die eine politische Möglichkeit gewesen, wenn man das Problem hätte lösen wollen. Aber es gibt noch ein weiteres Instrument, mit dem man das Problem politisch lösen könnte, damit es nicht zu überdimensionierten Verwaltungskosten kommt, nämlich das Instrument der Generalstundung. Meine Frage lautet: Ist Ihnen bekannt, dass es dieses Instrument gibt, und ziehen Sie in Erwägung, das Problem mit diesem Instrument zu lösen?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Mir ist natürlich bekannt, dass es Stundungsmöglichkeiten gibt. Aber ich sage Ihnen nochmals, dass aufgrund der Tatsache, dass keine Übergangsregelung getroffen wurde, eine eindeutige Festlegung erfolgt ist, wie der Sachverhalt zu behandeln ist. Nach dieser Festlegung ist die Änderung des Bescheids die Grundlage, und danach wird verfahren.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat die Kollegin Haßelmann eine Frage.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident! - Herr Staatssekretär, sicherlich bedauert Ihr Haus, dass Sie keine Übergangsregelung getroffen haben, wie es in der letzten Legislaturperiode bei der Kindergelderhöhung möglich war, und Sie sich jetzt zu einer solchen Handhabung veranlasst sehen. Meine Frage lautet: Wie hoch schätzen Sie die monetären Rückflüsse an die BA durch die Einzelfallprüfungen der 1,1 Millionen betroffenen Familien? Liegen Ihnen darüber Zahlen vor? Haben Sie geprüft, wie hoch der Aufwand der Einzelfallprüfungen bei 1,1 Millionen Betroffenen ist und ob er in einem angemessenen Verhältnis zu den zu erwartenden Rückflüssen an die BA steht?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Sie nehmen die Zahl von 1,1 Millionen betroffenen Bedarfsgemeinschaften, die ich Ihnen auf Ihre Zusatzfrage genannt habe - ich habe Ihre Frage übrigens vollständig beantwortet -, zum Anlass, den Aufwand sehr stark in den Mittelpunkt zu stellen. Wir haben aber auch ansonsten in diesem Bereich sehr viele Veränderungen und müssen entsprechende Bescheide erlassen, sodass die Dimension nicht so groß ist, dass wir diesen Weg aus praktischen Gründen nicht gehen könnten. Es ist möglich, dass man diesen Weg auf sehr unkomplizierte Weise geht, wie in allen anderen Fällen, in denen solche Bescheide erlassen werden müssen. Insoweit ist es rechtmäßig, dass man dem Bürger das, was zu Recht beansprucht wird, gibt, dass man aber die Überzahlungen, die erfolgt sind, zurückfordert.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es gibt zwei weitere Fragewünsche. Zunächst fragt Frau Dr. Hendricks.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, es ist nicht so, dass Sie das absichtlich gemacht haben oder dass Sie das haben kommen sehen; das will ich Ihnen zugutehalten. Warum trauen Sie sich eigentlich nicht, auf dieses Parlament zuzugehen und zu sagen: „Wir haben einen Fehler gemacht, und wir wollen gern die gesetzliche Grundlage dafür schaffen, die Rückzahlungsbescheide für die Monate Januar und Februar nicht erlassen zu müssen, sodass darauf verzichtet werden kann, dass 1,1 Millionen Bedarfsgemeinschaften die Kindergelderhöhung - ich verweise auf die damit verbundene Behördentätigkeit zurückzahlen.“? Wir können sowieso kaum davon ausgehen, dass dieses Geld vollständig zurückgezahlt wird. Es wäre sicherlich auch in Ihrem Interesse, den Mut aufzubringen, mit diesem Anliegen an das Parlament heranzutreten. ({0})

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Frau Kollegin, Sie sind lange genug Mitglied in der Regierung gewesen, um zu wissen, wie so etwas in einer Regierung zustande kommt. Wenn die Regierung, nachdem sie abgewogen hat, welche Kosten entstehen werden und wie hoch der Rückfluss sein wird, sich entschieden hat, diesen Weg zu gehen, dann wird sie die beschlossenen Maßnahmen umsetzen. Das hat nichts mit der Frage zu tun, ob sich diese Regierung traut, auf das Parlament zuzugehen. ({0}) Diese Regierung arbeitet mit diesem Parlament sehr gut zusammen. Wir haben eine Entscheidung getroffen, und das Ganze ist jetzt in der Umsetzung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt fragt die Kollegin Lösekrug-Möller.

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, zunächst möchte ich feststellen: Es ist immer ehrenwert, zu seinen Entscheidungen zu stehen. Gelegentlich ist es aber ehrenwerter, zu erkennen, dass sie vielleicht nicht ganz richtig waren. Möglicherweise handelt es sich bei der Fragestellung, über die wir hier jetzt schon länger diskutieren, genau um den zweiten Fall. Deshalb bitte ich Sie herzlich, zu überprüfen, ob Sie Ihre Ministerin motivieren können, das zu tun, was wir im Rechtsstaat vor zwölf Monaten ebenfalls getan haben. Ich erinnere daran, dass wir damals gemeinsam die Regierung gestellt haben. Sie haben in Ihren Antworten zweimal darauf abgehoben, dass Sie sich jetzt leider nicht anders verhalten können, weil wir in einem - ich zitiere Sie - „sozialen Rechtsstaat leben“. Ich frage Sie: In welchem Staat haben wir vor zwölf Monaten gelebt? Könnte diese Debatte dazu führen, dass es ein Einsehen gibt? Hier geht es nämlich um einen Personenkreis, für den 20 Euro im Monat wirklich eine Menge

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Ich kann hier nur wiederholen, dass die Regierung eine Entscheidung getroffen hat und dass sie dies nach intensiven Überlegungen getan hat. In der jetzigen Situation müssen wir sehen, dass wir dort sparen, wo es möglich ist, und dass wir kein zusätzliches Geld ausgeben. In diesem Fall ist es eben so, dass es zu Überzahlungen gekommen ist. Diese Überzahlungen müssen im Rahmen des Möglichen zurückgeführt werden. Ich betone, dass den Betroffenen von ihren laufenden Einnahmen zunächst nichts weggenommen wird, dass es vielmehr nur dann zu einer Rückforderung kommen kann, wenn wieder eine andere Einkommenssituation besteht. Tun Sie daher bitte nicht so, als nähme man den Leuten aktuell Geld weg. Man fordert es dann zurück, wenn die finanziellen Voraussetzungen des Einzelnen, also seine Leistungsfähigkeit, dies zulassen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Wir sind am Ende der Behandlung der Dringlichen Fragen. Frau Bundeskanzlerin, ich begrüße Sie. Da der Tagesordnungspunkt „Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin“ pünktlich um 15 Uhr beginnen soll, unterbreche ich die Sitzung für wenige Sekunden. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich eröffne die kurz unterbrochene Sitzung wieder und rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur internationalen Afghanistan-Konferenz am 28. Januar 2010 in London Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ende 2001 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, deutsche Soldaten im Rahmen des internationalen NATO-Einsatzes auf der Grundlage einer Resolution des UN-Sicherheitsrates nach Afghanistan zu entsenden. Das war eine der schwierigsten Entscheidungen, die die damalige Bundesregierung und der Deutsche Bundestag im ganzen letzten Jahrzehnt zu treffen hatten. Leicht gemacht hat es sich damals niemand. Mitgetragen haben diese Entscheidung am Ende die allermeisten in diesem Hohen Haus, und zwar bis heute. Dafür danke ich Ihnen im Namen der Bundesregierung und unserer Soldaten ganz herzlich. ({0}) Nach den Anschlägen des 11. September galt es mitzuhelfen, dem internationalen Terrorismus die Rückkehr an seine wichtigste Heimstatt zu verwehren. Es galt mitzuhelfen, Afghanistan den Weg zurück zu Frieden und Stabilität zu öffnen. Dieser Auftrag hat an seiner Bedeutung und seiner Gültigkeit nichts verloren. Dennoch: Heute, gut acht Jahre später, ist die Bilanz dieses Einsatzes gemischt. ({1}) Es gab manche Fortschritte und zu viele Rückschläge. Außer Zweifel steht: Die internationale Staatengemeinschaft hat das Ziel ihres Einsatzes noch nicht erreicht. Deshalb müssen wir handeln. Frankreich, Großbritannien und Deutschland haben dazu im September letzten Jahres, also noch zu Zeiten der damaligen Bundesregierung der Großen Koalition, die Initiative ergriffen und eine internationale Afghanistan-Konferenz angestoßen. Sie findet morgen in London statt. Unser Bundesaußenminister Guido Westerwelle wird Deutschland dort vertreten. Ich möchte ihm von diesem Ort aus ausdrücklich für die hervorragende Vorbereitung der Konferenz danken. ({2}) Danken möchte ich genauso dem Verteidigungsminister, dem Innenminister und dem Entwicklungshilfeminister. ({3}) In London wird die internationale Staatengemeinschaft beraten, wie die Aufgabe, in Afghanistan für Sicherheit und Stabilität zu sorgen, in den nächsten Jahren Schritt für Schritt in die Hände der Afghanen gelegt werden kann. Meine Damen und Herren, in London geht es also um nichts weniger als um eine Weichenstellung. Es geht um eine Weichenstellung, die nach meiner Überzeugung über Erfolg oder Misserfolg des Einsatzes in Afghanistan entscheiden wird. In einem Satz: Es geht um die Entwicklung einer Strategie zur Übergabe in Verantwortung, und zwar einer gemeinsamen internationalen Strategie. Übergabe in Verantwortung - daran müssen wir alles ausrichten: die Zahl der Soldaten und Ausbilder, die Grundsätze des Einsatzes, die regionalen Zuständigkeiten. In diesem Sinne hat die Bundesregierung ein Paket für eine Weiterentwicklung unseres Afghanistan-Einsatzes geschnürt. Gestern habe ich gemeinsam mit den zuständigen Ministern die Partei- und Fraktionsvorsitzenden der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien darüber unterrichtet. Heute nun möchte ich Ihnen in diesem Hohen Haus unser Konzept vorstellen. Es umfasst fünf Punkte: Erstens. Wir werden die Ausbildung der afghanischen Armee stark forcieren. Sie wird nicht nur wie bisher in den Camps erfolgen; nein, in Zukunft sollen unsere Soldaten gemeinsam mit ihren afghanischen Kameraden für den Schutz der Bevölkerung in der Nordregion sorgen. Diese Aufgabe wird künftig im Zentrum unseres Engagements stehen. Dazu wollen wir - natürlich vorbehaltlich der Zustimmung des Deutschen Bundestages - 500 Soldatinnen und Soldaten zusätzlich nach Afghanistan entsenden. Sie sind für Ausbildung, für Begleitung, für den Schutz der Bevölkerung sowie für Führungsleistungen vorgesehen. Durch Umschichtung der Aufgaben im bestehenden Kontingent und durch die zusätzlichen Soldaten können statt heute 280 in Zukunft 1 400 Soldaten in die Ausbildung mit einbezogen werden. Das Kommando in der Region Nord soll auch in Zukunft von Deutschland geführt werden. Weitere 350 Soldaten werden als flexibel eingesetzte Reserve benötigt, insbesondere um auf besondere Situationen, zum Beispiel bei der Absicherung der Parlamentswahlen im Herbst, angemessen reagieren zu können. Sie werden nur - das ist neu - nach Befassung des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages eingesetzt, und zwar jeweils zeitlich befristet und auf die Aufgabe ausgerichtet. Zweitens. Wir werden die Zahl der deutschen Polizeiausbilder in unserem bilateralen Projekt in diesem Jahr von 123 auf 200 und somit deutlich erhöhen. Damit können wir bis 2012 etwa ein Drittel der neuen Kräfte ausbilden, die laut Aufwuchsplan in die afghanische Polizei aufgenommen werden sollen. Wir werden dabei nicht nur mehr afghanische Polizisten, sondern gezielt auch afghanische Polizeitrainer ausbilden und zusätzliche Polizeiinfrastruktur aufbauen. Darüber hinaus werden wir auch unseren Beitrag zur Europäischen Polizeimission, EUPOL, kurzfristig erhöhen, und zwar von 45 auf 60 Polizeiexperten. Von 2002 bis 2009 haben wir bereits circa 30 000 afghanische Polizisten aus- und fortgebildet. 30 000 von insgesamt 97 000 afghanischen Polizisten - dieser Beitrag Deutschlands kann sich wirklich sehen lassen. Er ist in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen. ({4}) Genau diesen Weg - das haben wir heute Morgen auch mit dem Präsidenten Karzai besprochen - werden wir fortsetzen. Drittens. Die Bundesregierung plant eine Entwicklungsoffensive mit einem Schwerpunkt in unserem Verantwortungsbereich, also im Norden Afghanistans. Unser finanzielles Engagement dazu wird nahezu verdoppelt. Konkret heißt das: Vorbehaltlich der Zustimmung der Haushaltsgremien des Deutschen Bundestages werden wir bis 2013 jährlich statt heute 220 Millionen Euro 430 Millionen Euro in den zivilen Wiederaufbau investieren. ({5}) Damit wollen wir ganz konkrete Ziele erreichen, zum Beispiel für 3 Millionen Menschen mehr Einkommen und Beschäftigung schaffen. Das sind drei Viertel der Bevölkerung in den Schwerpunktprovinzen unseres Verantwortungsbereichs. Wir werden mit diesen Mitteln weitere Straßen bauen - insgesamt 700 Kilometer -, die ganzjährig befahrbar sind. Wir werden neue Lehrer ausbilden. Und wir werden zusätzlich 500 000 Schülern einen Schulbesuch ermöglichen. Das heißt nichts anderes, als dass statt heute 25 Prozent der Kinder zukünftig 60 Prozent der Kinder Zugang zu Schulen haben werden. ({6}) Wir verpflichten uns als Bundesregierung, dem Parlament über die erreichten Fortschritte regelmäßig Bericht zu erstatten. Viertens. Deutschland beabsichtigt, für den neuen internationalen Reintegrationsfonds jährlich 10 Millionen Euro für die kommenden fünf Jahre, also insgesamt 50 Millionen Euro, zur Verfügung zu stellen. Dafür müssen natürlich die Voraussetzungen stimmen. Die Risiken eines solchen Fonds liegen ohne jeden Zweifel auf der Hand, aber ebenso die Chancen. Denn wenn es uns gelingt, mit einem solchen Integrationsfonds mehr Kräfte in Afghanistan zu erreichen, die die Verfassung als Grundlage des politischen Handelns akzeptieren, und regierungsfeindliche Kämpfer zu motivieren, die Waffen niederzulegen und die Gesetze zu respektieren, dann können wir auf diesem Wege Anreize geben, damit diese Menschen auch am Aufbau des Landes mitwirken. Präsident Karzai hat in seiner Inaugurationsrede die Reintegration zu einem Schwerpunkt der Arbeit der neuen Regierung gemacht. Er hat dies auch bei seinen Gesprächen gestern Abend und heute Morgen hier in Berlin noch einmal ganz deutlich unterstrichen. Wir unterstützen diesen Ansatz ausdrücklich. Fünftens. In London müssen ganz konkrete Ziele vereinbart werden, damit wir gemeinsam mit der afghanischen Regierung präzise überprüfen können, wie weit wir auf dem Weg zu Sicherheit und Stabilität vorangekommen sind. Dazu gehört vor allem eine klare Verabredung, welchen Umfang die afghanischen Sicherheitskräfte in den Jahren 2010 und 2011 erreichen sollen. Wir gehen von insgesamt gut 300 000 Sicherheitskräften aus; das ist die Summe aus Soldaten und Polizisten. Die in London zu vereinbarenden Zielmarken sollten den endgültigen Umfang der afghanischen Sicherheitskräfte darstellen. Dann können wir auch den tatsächlichen Bedarf feststellen und die notwendigen Maßnahmen zur Ausbildung und Ausrüstung ergreifen. Zugleich muss uns die afghanische Regierung einen glaubwürdigen Entwicklungsplan vorlegen und Bereitschaft zu strukturellen Reformen erkennen lassen, um gute Regierungsführung auch auf zentraler und lokaler Ebene zu stärken. Damit es keine Missverständnisse gibt: Wir haben keine Illusionen hinsichtlich bestimmter Demokratievorstellungen nach unseren Kriterien. Solche Vorstellungen wären angesichts der Geschichte und Tradition des Landes wohl auch vermessen. Dennoch müssen wir Mindestanforderungen an die Effizienz und die Legitimität der Institutionen stellen. Korruption muss wirksamer bekämpft werden. Wahlen müssen nach demokratischen Standards ablaufen. Drogenanbau muss intensiver bekämpft werden, und regierungsfeindliche Kräfte dürfen keinen weiteren Unterschlupf außerhalb Afghanistans finden. ({7}) Um das zuletzt Genannte zu erreichen, muss der Dialog zwischen Afghanistan und den Partnerländern, ganz besonders Pakistan, dringend intensiviert werden. Ohne eine verbesserte regionale Kooperation, insbesondere zwischen Afghanistan und Pakistan, wird es in Afghanistan keinen Frieden geben. Meine Damen und Herren, das sind die fünf Punkte, mit denen Deutschland morgen in die Afghanistan-Konferenz gehen wird. Sie zeigen das Leitmotiv unseres Handelns: Ohne Sicherheit kann es nicht gehen; aber dauerhaft stabilisieren kann Afghanistan nur eine politische Strategie. Ziviler Aufbau und Entwicklung, militärische Ausbildung und Schutz der Bevölkerung, das geht für uns Hand in Hand. Unser Konzept ist eng mit unseren wichtigsten Partnern abgestimmt: mit Frankreich, mit den Vereinigten Staaten von Amerika genauso wie mit Großbritannien. ({8}) Die internationale Staatengemeinschaft hat eine klare Vorstellung von Sinn und Zweck der Londoner Konferenz. London ist weder eine Geber- noch eine Truppenstellerkonferenz; London ist eine Strategiekonferenz. Ihr Ziel ist es, die Voraussetzungen für die Übergabe in Verantwortung zu schaffen, und zwar gemeinsam mit den afghanischen Autoritäten. Wenn die Umsetzung dieser Strategie gelingt, strebt Deutschland unter den jetzt bekannten Voraussetzungen an, die Übergabe in Verantwortung in einzelnen Distrikten in Nordafghanistan bereits im ersten Halbjahr 2011 einzuleiten. Dann beabsichtigt Deutschland, einzelne Fähigkeiten, die nicht mehr benötigt werden, ab Ende 2011 zu reduzieren. Dann können ab diesem Zeitpunkt gegebenenfalls auch der Gesamtumfang unserer Truppen und die Mandatsobergrenze gesenkt werden. Wir unterstützen das Ziel der afghanischen Regierung, bis 2014 die Verantwortung für die Sicherheit zu übernehmen. Aber ich sage an dieser Stelle klar und deutlich: Ein endgültiges Abzugsdatum nenne ich ausdrücklich nicht. ({9}) Das hielte ich für kontraproduktiv und für falsch. Mehr noch: Gerade wer tatsächlich möchte, dass der Einsatz der internationalen Staatengemeinschaft in Afghanistan nicht unendlich weitergeht, sondern in absehbarer Zeit abgeschlossen werden kann, und zwar erfolgreich, der darf dem manchmal vielleicht emotional ja nachvollziehbaren Impuls, ein solches Abzugsdatum zu nennen, nicht nachgeben. Das ist meine tiefe Überzeugung. ({10}) Deshalb wird die Bundesregierung das auch nicht tun. Dabei kenne ich die kritischen Fragen so gut wie Sie alle: Engagieren wir uns nicht schon genug in Afghanistan? Lassen wir uns zu sehr von anderen drängen? Können wir dort überhaupt erfolgreich sein? Ich weiß sehr gut, dass gerade die Erhöhung der Zahl der Soldaten von niemandem mit leichtem Herzen beschlossen werden kann. Ich weiß sehr gut, dass wir sie in einen belastenden, in einen gefährlichen Einsatz schicken. Deshalb sind wir es ihnen, den Soldaten, den Polizisten, den zivilen Aufbauhelfern, die wir in diesen gefährlichen Einsatz schicken, ja, wir sind es der gesamten deutschen Öffentlichkeit schuldig, hier und heute ehrlich Rechenschaft abzulegen - Rechenschaft über das, was erreicht wurde, und über das, was nicht erreicht wurde. Ja, es ist wahr: Der Einsatz dauert länger, und er ist schwieriger, als wir zu seinem Beginn vor gut acht Jahren gedacht haben. Ja, es hat schwere Rückschläge gegeben, die wir so nicht vorausgesehen haben. Und ja, der Einsatz fordert Menschenleben bei unseren Soldaten, bei den Polizisten, bei den zivilen Helfern und in der afghanischen Bevölkerung, Menschenleben, deren Verlust wir inständig gehofft haben nicht beklagen zu müssen. Es gibt Menschen, die auch infolge deutschen Handelns ihr Leben verloren haben oder verletzt wurden, wie dies beim Luftschlag von Kunduz am 4. September des vergangenen Jahres geschehen ist. Die Bundesregierung bedauert dies zutiefst. Die Bundesregierung trauert um jedes unschuldige Opfer. Wir sehen nicht darüber hinweg: Es herrscht immer noch kein Frieden in diesem leidgeprüften Land. Zerstörung und Tod sind tägliche, bittere Erfahrungen. Unsere Soldaten erleben vor Ort hautnah, was es bedeutet, wenn wir von kriegsähnlichen Zuständen sprechen. Das sollten wir, die hier im fernen, sicheren Berlin debattieren, in keiner Sekunde vergessen. Wir müssen uns der Größe der Aufgabe bewusst sein. Doch sollte uns die Größe dieser Aufgabe entmutigen? Sollte sie etwas daran ändern, dem internationalen Terrorismus entschlossen entgegenzutreten und alles zu tun, um einen neuen 11. September, ein neues Madrid, ein neues London zu verhindern? Ich sage ganz klar: Nein. Die Aufgabe war 2001 richtig, und sie ist es heute genauso. ({11}) Manche meinen, Afghanistan sei ein unverständliches Land, weit weg, getrennt von uns durch andere Kulturkreise. Ja, das mag so sein. Dieses Land mag vielleicht tatsächlich weit weg sein, aber was auf dem Spiel steht, das ist ganz und gar nicht weit weg. Wir dürfen nie die Umstände vergessen, die alle Bundesregierungen seit Ende 2001 bis heute zum Afghanistan-Einsatz bewogen haben: dass das von Taliban und al-Qaida beherrschte Afghanistan die Brutstätte des Terrors vom 11. September 2001 war. Ihm folgten weitere Anschläge. Deshalb galt damals und gilt heute: Der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des internationalen NATO-Einsatzes war und ist in dringendem Interesse der Sicherheit unseres Landes. ({12}) Ich ergänze ganz ausdrücklich: Eine Haltung nach dem Motto „Sollen doch die anderen, die Amerikaner, die Engländer, die Kohlen aus dem Feuer holen“ ist für mich als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und für die gesamte Bundesregierung unverantwortbar. ({13}) Deshalb wird es in meiner Regierungsverantwortung einen deutschen Alleingang niemals geben. ({14}) Wir haben diesen Einsatz gemeinsam beschlossen - in den Vereinten Nationen, in der NATO -, und wir werden ihn mit überarbeiteter Strategie gemeinsam fortsetzen. Wir wollen alles daransetzen, ihn gemeinsam zum Erfolg zu führen. Deswegen wäre ein einseitiger Abzug der Bundeswehr kein Beitrag zur Übergabe in Verantwortung, sondern ein Beispiel für Aufgabe in Verantwortungslosigkeit. ({15}) Das gilt umso mehr, als doch trotz aller Rückschläge auch Fortschritte zu verzeichnen sind: Gingen 2001 nur 1 Million Kinder von insgesamt rund 10 Millionen afghanischen Kindern zur Schule, davon kein einziges Mädchen, so waren es 2009 immerhin schon 7 Millionen Kinder, davon ein gutes Drittel Mädchen. Oder die Gesundheitsversorgung: Sie hat sich deutlich verbessert; die Kindersterblichkeit ist um 50 Prozent gesunken. Oder die legale Wirtschaft: Der IWF hat in diesem Bereich für das Jahr 2009 ein Wachstum von mehr als 15 Prozent festgestellt. Oder die Infrastruktur: Alle Provinzen in Nordafghanistan sind inzwischen über gut ausgebaute Straßen mit Kabul und den Nachbarstaaten verbunden; 900 000 Menschen im Norden haben oft zum ersten Mal überhaupt Zugang zu Strom und Wasser. Noch einmal, meine Damen und Herren: Niemand in diesem Haus will hier und heute über die Probleme und Rückschläge den Mantel des Schweigens legen, ich jedenfalls nicht. Es steht außer Zweifel: Die internationale Staatengemeinschaft hat eine Bewährungsprobe zu bestehen. Es ist auch eine Bewährungsprobe für die drei Grundprinzipien, die die deutsche Außenpolitik in der Vergangenheit immer geleitet haben und sie weiter leiten werden - der Dienst für den Frieden, der wehrhafte Rechtsstaat, feste Bündnisse und Partnerschaften. Alle drei Grundsätze galten und gelten immer im Zusammenhang. Die Verteidigung der Menschenrechte hat ihren Preis, und die unserer Sicherheit auch - das ist wahr -, aber ich bin weder bereit, das eine, noch bin ich bereit, das andere aufzugeben. Beides zusammen trägt unser Land. ({16}) Genau das ist doch der Grund, warum seit der Konferenz auf dem Petersberg alle Bundesregierungen zu dieser Verantwortung Deutschlands in Afghanistan gestanden haben. Darum geht es auch heute. Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, wenn es eine Aufgabe gibt, die zu wichtig ist, als dass parteipolitische Interessen den Ausschlag geben dürfen, dann ist es genau diese Aufgabe. ({17}) In diesem Sinne bitte ich das ganze Hohe Haus um Unterstützung, damit wir unserer Verantwortung für Deutschland und für Afghanistan gerecht werden können. Herzlichen Dank. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion. ({0})

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren! Ich finde es nicht ganz einfach, an einem Tag wie heute sofort wieder in den politischen Alltag zurückzukehren. Ich gebe zu, dass mir selbst die notwendige sachliche Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition angesichts der, wie ich jedenfalls finde, sehr bewegenden Gedenkstunde für die Schoah und die Befreiung von Auschwitz hier im Parlament schwerfällt. Im Namen der SPD und der SPD-Fraktion will ich dem Präsidenten und allen, die daran beteiligt waren, ausdrücklich für diese Gedenkstunde danken. ({0}) Aber vielleicht ist gerade dieser Tag richtig, um unsere Bereitschaft, auch militärische Mittel bei der Bekämpfung von Terror, Diktatur und Bürgerkrieg einzusetzen, neu zu begründen; denn das ist dringend notwendig. Nicht zuletzt wegen unserer deutschen Geschichte gibt es in unserem Land eine große Skepsis und Ablehnung gegenüber der Verwicklung Deutschlands in bewaffnete Auseinandersetzungen. Eigentlich ist das auch gut so. Trotzdem haben wir uns vor rund neun Jahren entschlossen, an einer solchen Auseinandersetzung nicht nur mit zivilem Wiederaufbau, sondern auch mit bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr teilzunehmen. Wir wissen: Dieser Einsatz war von Anfang an umstritten, und die Skepsis gegenüber und die Ablehnung dieses Einsatzes sind bis zum heutigen Tag gewachsen. Natürlich führen die Anschläge, die Korruption, die Menschenrechtsverletzungen - auch der Regierung Karzai -, die Wahlfälschungen und nicht zuletzt das Bombardement von Kunduz zu Verunsicherungen und zur Ablehnung des Einsatzes. Was immer wir in einigen Wochen hier im Haus beschließen werden, wir Parlamentarier, die Politikerinnen und Politiker in Deutschland, aber noch mehr unsere Soldatinnen und Soldaten sind in unserer Demokratie auf die Unterstützung unserer Bevölkerung angewiesen. Deshalb müssen wir vor allen Dingen unsere früheren Entscheidungen, unsere heutigen Diskussionen und Beratungen und unsere künftigen Entscheidungen erneut begründen, erklären und öffentlich zur Diskussion stellen. Wir und unsere Soldatinnen und Soldaten dürfen in unserer Bevölkerung nicht noch mehr Rückhalt für den Afghanistan-Einsatz verlieren. ({1}) Dafür gibt es zwei Voraussetzungen. Die erste und für mich wichtigste Voraussetzung ist: Wir müssen aufhören, mit dem Begriff „Krieg“ oder „kriegerische Auseinandersetzung“ so leichtfertig umzugehen wie in den letzten Monaten. ({2}) Jeder hier im Saal kann verstehen, dass die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan und auch unsere Bevölkerung fragen: Was, bitte, ist das, was wir dort erleben, anderes als ein Krieg? Wer Zustimmung in der Bevölkerung erreichen will, muss der Versuchung widerstehen, leichtfertig mit dem Wort „Krieg“ umzugehen, nur um den Eindruck zu erwecken, er verstehe die Menschen und Soldaten. Wer Zustimmung will, der muss erklären, um was es in Afghanistan wirklich geht und worin der Unterschied zum tatsächlichen Krieg im Irak besteht. ({3}) Es geht bei der Frage, ob wir das, was in Afghanistan stattfindet, Krieg nennen oder nicht, nicht nur um eine juristische Definition, wie der Bundesverteidigungsminister gelegentlich meint. Es geht im Kern um unser Verständnis vom Zusammenleben der Völker, vom Völkerrecht und um die Zivilisierung und strikte Bindung militärischer Operationen an Entscheidungen der Vereinten Nationen. Niemand außer den Vereinten Nationen soll nach unserer Auffassung das Recht haben, militärische Mittel einzufordern, um Menschen vor Diktatoren, Terroristen oder Völkermördern zu schützen. ({4}) Wer für diese Zivilisierung militärischer Operationen eintritt, wer für diese strikte Bindung streitet und sie Schritt für Schritt fester in der Völkergemeinschaft verankern will, der darf das, was in Afghanistan stattfindet, nicht in die Nähe eines Krieges rücken. Denn die Vereinten Nationen führen dort keinen Krieg, und unsere Soldatinnen und Soldaten sind dort keine Krieger. ({5}) Wer die Zustimmung unserer Bevölkerung zu dieser militärischen Beteiligung oder zu künftigen militärischen Beteiligungen Deutschlands auf Grundlage von Entscheidungen der UN gewinnen will, der darf diese UN-Mission eben nicht in die Nähe des Krieges rücken. Wenn die Vereinten Nationen militärische Hilfe anfordern, tun sie dies gerade in Afghanistan nicht zum Zwecke des Krieges. Im UN-Einsatz sind Soldatinnen und Soldaten, jedenfalls nach unserem Verständnis, eher so etwas wie Weltpolizisten dort, wo die normalen polizeilichen Mittel versagen und nicht wirken. ({6}) - Ich verstehe, dass Sie an dieser Stelle eine andere Haltung haben. Ich habe sie immer respektiert, weil ich verstanden habe, dass eine Partei, deren Bekenntnis zu ihren Vorläuferorganisationen jeden Krieg der Sowjetunion gerechtfertigt hat, jetzt ausschließlich pazifistisch sein will. Ich verstehe, dass das der Grund für Ihre pazifistische Haltung ist. ({7}) - Ich weiß nicht, warum Sie Zwischenrufe machen. Endlich äußert mal jemand Verständnis für Sie, und dann sind Sie damit auch nicht einverstanden. ({8}) Wer generell Nein sagt, wie es zum Beispiel Ihre Partei tut, der hilft letztlich denen, die diese strikte völkerrechtliche Bindung von militärischer Gewalt an ein Mandat der Vereinten Nationen noch nie gewollt haben und diesen Fortschritt im Völkerrecht politisch bekämpfen. Sie helfen damit denjenigen, die entweder weiter zur Privatisierung militärischer Gewalt beitragen wollen oder nationale Alleingänge beim Einsatz militärischer Interventionen für richtig halten. Das ist nicht unser Weg. ({9}) Wir können nicht die Einhaltung des Völkerrechts einfordern und dann nicht bereit sein, dem Völkerrecht auch Nachdruck zu verleihen. Das eine ist so falsch wie das andere: von Krieg zu reden oder kriegerische Einsätze zu beschwören, wo es um den Schutz vor Krieg, Bürgerkrieg und Terrorismus geht, oder die hehren Grundsätze zur Stärkung des Völkerrechts und der UN zu beschweren, ihr aber die Mittel zu verweigern, das Völkerrecht auch durchzusetzen. Wer von Krieg redet, wird an Zustimmung für den Einsatz in Afghanistan verlieren und missachtet, Herr Bundesverteidigungsminister, die Leistungen, die unsere Soldatinnen und Soldaten dort erbringen, außerordentlich. ({10}) Es lässt sich leicht im Deutschen Bundestag darlegen, dass der Schutz der Zivilisten bei jeder militärischen Aktion Vorrang haben muss. Dies umzusetzen, ist aber außerordentlich schwer. Dennoch hat es die Bundeswehr, haben es die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, bis auf den Einsatz in Kunduz, in Afghanistan in hervorragender Weise getan. ({11}) Wir brauchen keine Militarisierung der Sprache, um die Menschen psychologisch an mehr zivile Opfer zu gewöhnen, sondern wir brauchen die deutliche Distanz zu Forderungen nach robusteren Mandaten und kriegerischen Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan. ({12}) Herr zu Guttenberg, niemand hat in den letzten Wochen so viel über den deutschen Afghanistan-Einsatz geredet wie Sie. Man konnte den Eindruck gewinnen, als ob der Verteidigungsminister und seine Militärs die deutsche Außenpolitik definieren und nicht der nach der Verfassung zuständige Außenminister. Wir haben uns die ganze Zeit gefragt: Was sind denn nun die Konsequenzen aus dieser Form von Kriegssemantik, die den Verteidigungsminister von Talkshow zu Talkshow trug? Herr zu Guttenberg, noch am 9. Januar dieses Jahres haben Sie erklärt, dass dem Afghanistan-Einsatz die Klarheit eines nicht internationalen Krieges fehle. Aus Ihrer Sicht fehlt es der Bundeswehr also an einer sicheren rechtlichen Grundlage für diesen Einsatz; damals ging es Ihnen ja genau darum. Ich frage Sie: Wenn es wirklich Ihre Ansicht ist, dass für die Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan keine sichere Rechtsgrundlage vorhanden ist, warum haben Sie dem Deutschen Bundestag dann einen Monat zuvor ein Mandat vorgelegt, das genau diese Forderungen von Ihnen nicht enthalten hat? Warum? ({13}) Herr zu Guttenberg, wenn Sie dem Bundestag schon im Dezember 2009 ein aus Ihrer Sicht falsches Mandat vorgelegt haben, warum bringen Sie nicht jetzt eine Vorlage, die eine andere rechtliche Grundlage für den Afghanistan-Einsatz vorsieht, in den Bundestag ein? Kein Wort davon in der Regierungserklärung der Kanzlerin. Herr zu Guttenberg, Sie haben sich in den letzten Monaten, je nach öffentlicher Stimmung, mal vor die Soldaten gestellt und sich mal hinter ihnen versteckt. Mal Kampftruppen, mal keine, mal waren die Bomben auf Kunduz gerechtfertigt, dann wieder nicht, mal sollten wir Krieg führen, jetzt wohl eher doch nicht - immer schön hart am Wind der jeweiligen Medienlage und immer im Konjunktiv; denn festlegen wollten Sie sich nie. ({14}) Wir verstehen jetzt besser, was der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Schneiderhan, Ihnen vorgehalten hat, als er sagte, Sie seien jemand, der „vorschnell formuliert“. Von all den Forderungen nach robusteren Mandaten, von dem Bekenntnis zum Krieg und zu mehr Kampftruppen bleibt nun nichts übrig. Wir begrüßen diesen Wechsel. Wir haben den Eindruck, es handelt sich nicht so sehr um einen Strategiewechsel in Afghanistan als vielmehr um einen Strategiewechsel in Ihrer eigenen Bundesregierung. Wir begrüßen das ausdrücklich, Frau Dr. Merkel. ({15}) Wir begrüßen in diesem Zusammenhang auch, dass sich die USA endlich der schon länger existierenden deutschen Strategie angeschlossen haben: Endlich steht auch bei den US-Truppen der Schutz der Zivilbevölkerung im Mittelpunkt aller Einsätze. Das ist ein Erfolg des Wechsels von Bush zu Barack Obama, und es ist ein Wechsel zu einer Strategie, die den Auftrag der Bundeswehr schon immer bestimmt hat. Was wir nicht begrüßen, Frau Bundeskanzlerin, ist, dass Sie uns Ihre Überlegungen nach wochenlangem Schweigen erst gestern, kurz vor der Londoner Afghanistan-Konferenz, vorgelegt haben. ({16}) Wir mussten heute lesen, dass Ihr Außenminister die Verbündeten, beispielsweise die amerikanische Außenministerin, erst gestern, kurz vor Beginn der Londoner Afghanistan-Konferenz, sozusagen mit einem Last-Minute-Ticket, über die neue Afghanistan-Strategie informiert hat. ({17}) So gewinnt man keine Verbündeten für die eigene Strategie. Da muss man sich nicht wundern, wenn man am Ende am Katzentisch sitzt. ({18}) Die zweite wichtige Voraussetzung dafür, dass die Zustimmung für eine deutsche Beteiligung am Afghanistan-Einsatz wieder wächst, ist, dass wir bei der Stabilisierung in Afghanistan realistische Ziele haben und sie mit einer Abzugsperspektive auch für die deutschen Soldatinnen und Soldaten verbinden. Das steht im Mittelpunkt der Forderungen und der Haltung der SPD. Wir wollen einen realistischen Fahrplan für den Abzug unserer Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan. Wir wollen die Schritte dieses Abzugsfahrplans verbinden mit einer ebenso realistischen Perspektive für die Gewährleistung der Sicherheit in Afghanistan durch afghanische Sicherheitskräfte und wachsende Investitionen in den zivilen Aufbau des Landes. Das steht im Zentrum unserer Überlegungen. Man findet in Ihrer Regierungserklärung eine Menge, bei der man den Eindruck haben kann, dass das auch bei Ihren Überlegungen im Mittelpunkt steht. Für die SPD ist diese Haltung nicht neu. Es gab bereits früher Vorstöße, aus der Erstarrung der Auseinandersetzung in Afghanistan herauszukommen und die Logik der bewaffneten Konfrontation nach und nach aufzubrechen. Als der damalige Vorsitzende der SPD, Kurt Beck, die innerafghanische Versöhnung unter Einbeziehung moderater Taliban gefordert hat, nannte der damalige außenpolitische Sprecher der Union, Herr von Klaeden, diesen Ansatz erbärmlich. ({19}) Der damals ebenfalls für Außenpolitik zuständige Herr zu Guttenberg sagte zu diesem Vorschlag, dass niemand je einen vernünftigen Taliban getroffen habe. Inzwischen vermittelt er den Eindruck, er sei der Erfinder der Idee, Gesprächsbereitschaft gegenüber allen Konfliktparteien in Afghanistan zu zeigen. ({20}) Überhaupt ist es so, dass die konservative Regierung bis zu der heutigen Regierungserklärung der Kanzlerin einen langen Weg hinter sich hat. Im Dezember erklärte der deutsche Außenminister Westerwelle, er wolle nicht zu einer reinen Truppenstellerkonferenz fahren. Ich habe das nicht als Angriff auf die USA oder andere Verbündete verstanden, Herr Westerwelle. Mein Eindruck war, Sie wollten damit dafür sorgen, dass in Ihrer eigenen Bundesregierung die Stimmen, die nach einer Aufstockung der Kampftruppen rufen, endlich ein Ende haben. In dieser Hinsicht hat der Sicherheitsexperte der CSU, der Kollege Uhl, vorgedacht, als er im Dezember ein deutlich robusteres Afghanistan-Mandat gefordert hat. Genauso hat sich der Stellvertreter von Frau Merkel, Herr Wulff, geäußert. Und heute? Heute erklärt die Bundeskanzlerin im Namen der Bundesregierung: Es werden keine zusätzlichen Kampftruppen nach Afghanistan geschickt; ({21}) stattdessen werden innerhalb des Kontingentes Kampfeinheiten zugunsten von mehr Ausbildung umgeschichtet. Zum guten Schluss erklären Sie, dass Sie selbstverständlich alles dafür tun wollen, dass die afghanische Regierung dabei unterstützt wird, spätestens ab 2015 keine internationalen Streitkräfte mehr an bewaffneten Einsätzen zu beteiligen, also auch nicht die Bundeswehr. Frau Bundeskanzlerin, wir halten die Strategie, die Sie damit betreiben, für die richtige Strategie, wenn es darum geht, realistische Abzugsperspektiven bis 2015 voranzutreiben. Wir wollen Sie dabei unterstützen, aber wir sind nicht sicher, ob die Strategie tatsächlich in der gesamten Bundesregierung angekommen ist. Gestern gab es fünf Pressekonferenzen, die Sie und Ihre Minister abgehalten haben. Ich bin nicht sicher, ob Ihre Strategie nachhaltig bei den vier Ministern, die auch eine Pressekonferenz abgehalten haben, angekommen ist; denn trotz all der Äußerungen vom gestrigen Tage rumpelt es erheblich. Auf der einen Seite erklärte der Außenminister auf seiner gestrigen Pressekonferenz: Wir wollen im Jahr 2011 auch den Abbau unseres eigenen Kontingents beginnen, und wir wollen im Jahr 2014 die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an Afghanistan schaffen. Auf der anderen Seite äußerte sich der Bundesverteidigungsminister auf seiner Pressekonferenz wie folgt: Also, zunächst, was die Abzugsperspektive anbelangt, so ist das Jahr 2011 mit Sicherheit eines, das in gewissen Teilbereichen Möglichkeiten zulassen kann. ({22}) Herr zu Guttenberg, à la bonne heure! Sie sind wahrlich ein Meister des Konjunktivs. ({23}) Es reicht aber nicht aus, entschlossen dreinzuschauen; man muss auch wollen, was die Kanzlerin sagt, und darf nicht das Gegenteil beschreiben. ({24}) Frau Bundeskanzlerin, Ihr Auftrag ist es, solche realistischen Ziele für den deutschen Einsatz zu definieren und Ihrem Bundesverteidigungsminister beizubringen, was das bedeutet. Wir brauchen dringend qualitative und quantitative Kriterien für den Erfolg oder Misserfolg unseres Engagements in Afghanistan. Diese Kriterien sollten nicht von Regierungen festgelegt, vorgestellt und überprüft werden, sondern am besten von Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftlern. ({25}) Hier geht es zum Beispiel um folgende Fragen: Wie viele Polizisten und Soldaten wollen wir bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgebildet haben? Wie soll die Armutsbekämpfung aussehen? Welche Fortschritte wollen wir beim zivilen Wiederaufbau machen? - Erst die kontinuierliche Überprüfung solcher Ziele macht für das Parlament, aber auch für die deutsche Öffentlichkeit nachvollziehbar, ob unser Afghanistan-Einsatz gerechtfertigt ist und ob wir die richtigen Mittel einsetzen oder nicht. ({26}) Das Wichtigste, Frau Bundeskanzlerin: Das Ganze muss dazu dienen, dass die Bundeswehr und alle internationalen Streitkräfte Afghanistan wieder verlassen, ohne die Sicherheit und Stabilität des Landes zu gefährden. Unser Ziel ist es, 2011 - parallel zum schrittweisen Rückzug der US-Streitkräfte - mit dem Rückzug zu beginnen. Wir wollen alles tun, um die afghanische Regierung zu unterstützen, die selbst erklärt hat, dass sie 2014/ 2015 keine internationalen Streitkräfte mehr für bewaffnete Konflikte im Land haben will. Das ist der Grund für uns, zu sagen: Lasst uns ein Abzugsdatum im Korridor zwischen 2013 und 2015 wählen, damit die afghanische Regierung weiß, dass wir es mit einer Begrenzung unseres Militäreinsatzes in Afghanistan ernst meinen. ({27}) Frau Bundeskanzlerin, wir sind nicht überzeugt davon, dass wir für diese Strategie 850 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten brauchen. Darüber werden wir hier im Deutschen Bundestag sicherlich noch heftig diskutieren. Aber unabhängig von der Frage, wie viele Soldatinnen und Soldaten am Ende benötigt werden: Eine Zustimmung der SPD zu einem veränderten AfghanistanMandat hängt entscheidend davon ab, ob ein klares Datum 2011 für den Beginn des schrittweisen Abzugs der Bundeswehr festgelegt wird, ob Sie qualitative und quantitative Ziele für den Afghanistan-Einsatz entwickeln und überprüfen lassen, ob die geplanten Truppenaufstockungen zwingend und zeitlich klar begrenzt sind, und ob Sie eine Beendigung der Beteiligung der Bundeswehr an bewaffneten Einsätzen im Zeitraum 2013 bis 2015 nachvollziehbar herbeiführen können. ({28}) Die SPD hat im letzten Herbst mit dem Zehnpunkteplan von Frank-Walter Steinmeier die Debatte um den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan begonnen. Wenn die Bundesregierung diesen zehn Punkten folgt, wird sie unsere Zustimmung bekommen. Damit geben wir den Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten und allen zivilen Aufbauhelfern eine klare Perspektive für die Grundlage ihrer Arbeit; wir geben den Soldatinnen und Soldaten eine klare Perspektive für die Beendigung ihres Aufenthalts in Afghanistan. Wir wissen, dass es notwendig sein kann, in einer Welt, in der Diktatoren, Fanatiker, Kriegsherren und Terroristen uns und andere bedrohen, auch militärische Mittel einzusetzen. Trotzdem ist es am Ende nicht unser eigenes Leben, das wir gefährden, wenn wir Politiker über solche Einsätze entscheiden. Es könnte aber immer auch das Leben unserer eigenen Söhne und Töchter gefährden. Deshalb ist es gut, wenn wir es uns schwer machen, solche Einsätze oder ihre Fortsetzung zu beschließen. Deshalb ist es wichtig, den Männern und Frauen in solchen Einsätzen, die auf unseren Befehl oder, wenn es sich um zivile Hilfskräfte für den Wiederaufbau handelt, auf unsere Bitte dort hingehen, auch für ihren Mut und ihre Tapferkeit zu danken und ihnen immer wieder unter Beweis zu stellen, dass wir einerseits die Grundlagen des Einsatzes gewissenhaft prüfen und andererseits, wenn wir entscheiden, den Einsatz fortzusetzen, auch fest hinter ihrer Arbeit stehen. ({29}) Ich danke natürlich all denen, die sich an dem Einsatz beteiligen, aber ich danke auch denen, die sich kritisch zum deutschen Militärengagement äußern. Was wären wir für ein armseliges Land, wenn wir nicht auch die kritische Einmischung und das Hinterfragen unserer Entscheidungen begrüßen würden! ({30}) Schon deshalb danke ich der Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, die jüngst eine kluge und differenzierte Predigt gehalten hat; sie war jedenfalls klüger und differenzierter als die Äußerungen mancher ihrer Kritiker. ({31}) Wer, wenn nicht die Kirchen und die Religionsgemeinschaften dieser Welt, hat das Recht, wenn nicht sogar die Pflicht, mehr Fantasie für den Frieden einzufordern? Die SPD steht zum deutschen Engagement in Afghanistan und auch zum Einsatz der Bundeswehr im Auftrag der UN. Das sage ich auch im Bewusstsein, dass in meiner Partei über nichts so engagiert und mit so heißem Herzen gestritten wird wie über Militäreinsätze. Auf nichts ist die SPD mehr stolz als darauf, dass wir spätestens seit dem Ersten Weltkrieg militärische Mittel in die Hände der internationalen Staatengemeinschaft legen wollen, damit kein einzelner Staat darüber entscheidet und damit militärische Mittel die Ultima Ratio bleiben, um die Freiheit und die Sicherheit von Menschen zu schützen. Für mich ist klar: Ohne die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, in den Krieg gegen Hitler-Deutschland einzutreten, wäre der Krieg am Ende nicht so schnell vorbei und wären noch Millionen Tote mehr zu beklagen gewesen. Ich sage das auch im Bewusstsein des heutigen Gedenktages, der an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erinnert. Manchmal sind Militäreinsätze zwingend. Für die SPD waren und sind seit nun fast 150 Jahren die Fragen hinsichtlich Krieg und Frieden niemals taktische Fragen. Wir haben uns bei der Beantwortung dieser Fragen nie daran orientiert, ob unsere Antworten gerade in die aktuelle politische Landschaft passten oder ob wir uns einen politischen Vorteil erhofften. ({32}) - Ich darf einmal daran erinnern: Sie waren es, die im Jahre 2001 gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr gestimmt haben. Sie haben damals gesagt: Wir können das nicht machen, weil wir sonst Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstützen. - Sie waren es, die aus innenpolitischen Gründen der Notwendigkeit dieses Einsatzes widersprochen haben. Lachen Sie also mal nicht so laut! ({33}) - Es gibt ein altes Sprichwort: Ein getretener Hund bellt. Ich scheine offensichtlich Ihre Erinnerung geweckt zu haben. ({34}) Wir haben das nicht an taktische Erwägungen geknüpft. ({35}) - Wenn wir das getan hätten, dann hätten wir dem Afghanistan-Einsatz nach dem Regierungswechsel nicht zugestimmt. Sie können von uns doch nicht erwarten, dass wir jedem Unsinn, der in der Zeit zwischen dem Regierungswechsel und der heutigen Regierungserklärung gemacht wurde, öffentlich Beifall zollen. Wir sind gegen zusätzliche Kampftruppen, wir sind für einen Beginn des Abzugs im Jahre 2011, wir sind für eine Beendigung. ({36}) Wir sagen das klar, weil wir glauben, dass wir den Einsatz damit legitimieren. Das ist der Grund, warum wir darüber reden. ({37})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Gabriel!

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Prinzipien, an die wir uns auch jetzt halten, lauten: Der Einsatz militärischer Mittel bleibt die Ultima Ratio. Natürlich will die SPD zu ihrer internationalen und auch zu ihrer deutschen Verantwortung stehen. Eine Verlässlichkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik ist für Deutschland unverzichtbar. Niemand würde auf uns hören, wenn wir uns erratisch und nach aktueller Stimmungslage verhalten würden. - All das muss dazu beitragen, das Versprechen gegenüber der deutschen Bevölkerung und den Angehörigen der Bundeswehr einzulösen, dass wir in Afghanistan nicht auf Dauer militärisch engagiert sein wollen und dass wir all unsere Mittel und Instrumente, die wir einsetzen, dem Ziel unterzuordnen haben, die Sicherheit in Afghanistan durch afghanische Soldaten und Polizeikräfte zu gewährleisten und die Soldatinnen und Soldaten aus bewaffneten Kampfeinsätzen nach Deutschland zurückzuholen. Das ist das Ziel sozialdemokratischer Politik. Wenn auch Sie dieses Ziel verfolgen, finden Sie unsere Zustimmung. Wenn Sie es infrage stellen, dann haben Sie unsere Zustimmung nicht zu erwarten. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Andreas Schockenhoff.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Gabriel, Sie haben gerade behauptet, die CDU/CSU habe 2001 gegen eines der ISAF-Mandate gestimmt. Diese Behauptung ist falsch. Richtig ist vielmehr, dass die CDU/CSU von Beginn des Einsatzes an jedem ISAF-Mandat zugestimmt hat. ({0}) Es gab eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers Gerhard Schröder im Zusammenhang mit dem Mandat für die Operation Enduring Freedom. Auch hier hat die CDU/CSU nicht gegen das Mandat gestimmt. Wir haben uns aber damals der Stimme enthalten, weil Sie die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verknüpft haben. Ich will Ihnen Gelegenheit geben, Ihre falsche Behauptung zurückzunehmen. ({1})

Sigmar Gabriel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003755, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ich habe auf Zwischenrufe hinsichtlich taktischen Verhaltens in der Innenpolitik mit der Bemerkung reagiert, dass man Einsätze der Bundeswehr nicht mitgetragen hat. Das haben Sie nach Ihrer eigenen Aussage damals aus innenpolitischer Taktik nicht getan. ({0}) - Nichts anderes haben Sie gemacht. Abgesehen davon unterscheidet uns im Wesentlichen, dass wir wissen, was völkerrechtlich in Ordnung ist und was nicht. ({1}) Wir erinnern uns gut daran, dass Sie und auch Ihre damalige Fraktionsvorsitzende damals nicht genug dafür werben konnten, den völkerrechtswidrigen Krieg im Irak zu legitimieren. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir wissen, was völkerrechtlich richtig ist, und wir verstoßen nicht gegen das Völkerrecht, wie Sie es damals getan haben. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als das Afghanistan-Engagement im Jahr 2001 von SPD und Grünen begonnen wurde, wusste jeder von uns und vor allen Dingen von den beiden damals tragenden Parteien, dass es sich um ein langfristiges Engagement handeln würde. ({0}) - Ihr damaliger Parteikönig, Herr Ströbele, Außenminister Fischer, hat damals in der Debatte über das Mandat am 20. Dezember 2002 gesagt: Man muss aber ehrlich hinzufügen: Es wird lange dauern. Man müsse wissen, dass es ein sehr langfristiges Engagement wird. Das hat Ihr Herr Fischer hier gesagt. ({1}) Herr Gabriel, Sie haben sich heute in einem großen Teil Ihrer Rede am Kriegsbegriff abgearbeitet. Ich darf Sie daran erinnern, was Ihr damaliger Parteivorsitzender und Bundeskanzler Schröder am 22. Dezember 2001 in einer Afghanistan-Debatte im Deutschen Bundestag gesagt hat. Ich zitiere wörtlich: Im Deutschen Bundestag ist über die Frage, ob es verantwortbar sei, sich an Kriegshandlungen zu beteiligen - in welcher Form auch immer -, wie nicht anders zu erwarten, sehr heftig gestritten worden. Es sind viele Argumente ausgetauscht worden. Zum Beispiel wurde gesagt, dass Krieg immer auch Unschuldige trifft. Das ist wahr. Aber das Problem, dem wir uns heute stellen müssen, ist: Die Abwesenheit von demokratisch legitimierter Gewalt hat viel, viel mehr Unschuldige getroffen, hat sie rechtlos gemacht, zumal Frauen und Kinder. Er fährt fort: Krieg trifft Unschuldige. Das ist keine Frage. Aber das Beispiel Afghanistan zeigt: Nur mithilfe militärischer Gewalt konnte verhindert werden, dass auch in Zukunft Unschuldige unendlich leiden müssen. Es sind also nicht die jetzige Bundesregierung und der jetzige Verteidigungsminister, die den Kriegsbegriff in die Debatte eingeführt haben, sondern es war Ihr Parteivorsitzender, dem Sie damals auf breiter Ebene zugejubelt haben. ({2}) Herr Gabriel, Ihr Gedächtnis ist sehr kurz. Erwarten Sie aber nicht, dass unseres ähnlich kurz ist. Herr Schockenhoff hat darauf hingewiesen, dass Sie die Afghanistan-Debatte falsch memoriert haben. Auch wir haben dem ISAF-Einsatz zugestimmt. Wegen der Verknüpfung mit der Vertrauensfrage haben wir damals in der Tat nicht sofort zugestimmt, wohl aber einige Jahre später. Bitte gehen Sie in die Archive und vor allen Dingen in sich! ({3}) Der Parteivorsitzende der SPD verbreitet nun wohlfeile Vorschläge an die politische Klasse bzw. die Bundesregierung. Ich darf Sie daran erinnern, sehr geehrter Herr Gabriel, dass Ihre Regierungszeit von 1998 bis 2009 gedauert hat und dass Sie zuerst den Bundeskanzler und dann vier Jahre den Außenminister gestellt haben. Nun stellen Sie sich hierhin und werfen der Bundesregierung vor, dass in Afghanistan nicht die notwendigen Fortschritte gemacht worden seien. ({4}) Herr Gabriel, Ihnen kann ich nur das alte Sprichwort zurufen: Der beste Beweis für das Können ist das Tun. Sie haben es jahrelang nicht getan. Diese Bundesregierung packt es endlich an und tut das Richtige. ({5}) Wir haben von der Bundesregierung erwartet, dass sie mit eigenen, konsistenten und alle Bereiche umfassenden Vorschlägen nach London geht. Diese Erwartung ist erstmals erfüllt worden. Auch das ist neu, Herr Gabriel. Sie haben immer von vernetzter Sicherheit gesprochen. Die jetzige Bundesregierung tut diesbezüglich erstmalig etwas. Wir können deutlich erkennen, dass alle vier beteiligten Ressorts gemeinsam mitgearbeitet haben. ({6}) Die Bundesregierung hat sich auch nicht von dem logisch richtigen Weg abbringen lassen: zuerst Ziele definieren, dann Strategien als Wege zu den Zielen festlegen und schließlich über die Mittel reden. Sie, Herr Gabriel, haben primär über die Zahl der Soldaten und Abzugsdaten gesprochen. Das sind Resultanten, Ergebnisse einer vorherigen Zieldefinition und einer Strategiefestlegung. Das kommt am Ende und nicht am Anfang. Deshalb hat die Bundesregierung in ihrem Vorgehen recht. ({7}) Alle vier Ressorts haben unter Federführung des Auswärtigen Amtes eindeutig und stark mitgewirkt. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben dafür dem Außenminister - zu Recht - herzlich gedankt. Ich möchte Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, für Ihre Regierungserklärung danken, die vollumfänglich unsere Zustimmung gefunden hat. Das haben Sie sicherlich am Beifall gemerkt. Lassen Sie mich auf ein Element ausführlich eingehen: den Integrationsfonds. Herr Karzai hat heute genauso wie die internationale Gemeinschaft und alle anderen Vernünftigen auf der Welt gesagt: Ohne den Versuch, die Hardcore-Taliban von den Mitläufern zu trennen, und ohne den Versuch, Tausende, Zehntausende bzw. Hunderttausende wieder in die Gesellschaft eines „normalen“ Afghanistans zu integrieren, wird es nie und nimmer Frieden in diesem Land geben können. Deshalb ist die jetzige Initiative richtig. Sehr geehrter Herr Gabriel, jeder weiß, dass das schwierig werden wird. Keiner glaubt, dass wir jetzt mit Geldscheinen Taliban fangen können. Jeder weiß, dass dadurch Nichtmitläufer nicht benachteiligt werden dürfen. Keiner glaubt, dass es sinnvoll ist, der afghanischen Regierung einfach 350 Millionen Euro zu geben und ihr zu sagen: Nun macht mal schön! - Nein, wir alle wissen, dass es sehr schwierig wird. Aber wir wissen genauso wie Herr Karzai und Vertreter vieler anderer Länder, dass das unmittelbar notwendig ist. Die zivile Unterstützung wird sehr deutlich ausgeweitet, genauso wie die Polizei. Ich habe keine Zeit mehr, darauf im Einzelnen einzugehen, weil Sie, Herr Gabriel, mich gezwungen haben, auf Sie einzugehen. Nur so viel: Wir von der FDP-Fraktion haben seit Jahren ein solches Konzept gefordert. Wir haben es jetzt. Auf die Frage „Wird jetzt alles gut in Afghanistan?“ kann ich aber nur antworten: Natürlich wird jetzt nicht alles gut. Das weiß jeder von uns. Aber wir haben mit diesem Konzept die Chance, zu Frieden und Entwicklung in diesem Land beizutragen. Wir haben die Chance, unser Gesicht international zu wahren. Wir haben die Chance, unsere Interessen zu vertreten. Deshalb unterstützen wir das Konzept der Bundesregierung. Herzlichen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, welche Gründe gibt es eigentlich für den Krieg in Afghanistan? Diese Frage steht, auch wenn Sie, Herr Gabriel, den Krieg nicht Krieg nennen wollen, obwohl Bomben geworfen werden und millionenfach geschossen wird. Das ist nichts anderes als Krieg, Herr Gabriel. ({0}) Sie, Frau Bundeskanzlerin, erklären erstens den Kampf gegen den Terrorismus zum Ziel. Die Terroristen waren und sind in der al-Qaida organisiert. Deren Lager in Afghanistan sind zerstört, die Finanzströme stillgelegt. Al-Qaida operiert jetzt von Pakistan und anderen Ländern aus. Wenn Sie ernsthaft glauben, Terrorismus mit Krieg bekämpfen zu können, müssten Sie Afghanistan unverzüglich verlassen und in anderen Ländern Krieg führen, aber das ohne Ende, weil es dann immer irgendwelche Wechsel der Terroristinnen und Terroristen gäbe. Nur, mit Krieg kann man niemals wirksam Terrorismus bekämpfen; ({1}) im Gegenteil, man erzeugt neuen Terrorismus. Im Krieg sterben immer Unbeteiligte, Unschuldige, am Kunduz nun eindeutig auch durch die Bundeswehr. Diese haben Angehörige, haben Freundinnen und Freunde, bei denen Hass entsteht. So gelingt es den Bin Ladens dieser Erde, immer wieder neue Terroristinnen und Terroristen zu rekrutieren. Einen Bin Laden kann niemand von uns verhindern; aber dass er so viele für Gewaltakte gewinnen kann, das könnte man verhindern, aber niemals mit Krieg. ({2}) Hauptursache des globalen Terrorismus ist die Ungerechtigkeit des Westens gegenüber der Dritten und der muslimischen Welt. Statt Ausweitung des Krieges auf den Jemen und auf Somalia wären Friedenslösungen wichtig: für Afghanistan, für den Irak, für Somalia, für den Jemen und für den Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina. Nur mit einem gerechten Welthandel, mit größerer, nicht selbstnütziger Entwicklungshilfe, mit einer anderen Toleranz zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen lässt sich dem Terrorismus der Boden entziehen, aber eben nicht mit Krieg. ({3}) Ihr Ziel soll zweitens darin bestehen, die Taliban zu bekämpfen. Die Taliban sind aber keine internationalen Terroristen, wenngleich sie den Terroristen von al-Qaida erlaubt haben, sich in Afghanistan auszubilden. Die Taliban haben keine internationalen Ziele, schon gar keine terroristischen, sondern sie wollen ein bestimmtes Regime in Afghanistan wieder errichten, das uns allen nicht gefällt. Präsident Karzai versucht, mit bestimmten Taliban einen politischen Ausgleich zu finden; anders geht es auch nicht. Wenn Sie im Unterschied zu Minister zu Guttenberg ernsthaft glauben, eine demokratische Kultur europäischer Prägung in Afghanistan installieren zu können, werden Sie mit Ihrem Krieg genauso scheitern. Alle Versuche, die Kultur und Struktur des Landes militärisch zu verändern, sind gescheitert. Das gilt für den britischen Versuch, für den sowjetischen Versuch und für den jetzigen Versuch der NATO. ({4}) Indirekt und wahrscheinlich eher unbewusst bestätigt dies Hans-Ulrich Klose von der SPD, indem er sagt, dass neun Wochen nach dem Abzug der NATO-Truppen gegenwärtig die alte Taliban-Herrschaft wieder installiert wäre. Mit anderen Worten: Er sagt, dass der neunjährige Krieg diesbezüglich völlig sinnlos war, weil er demnach nichts an Strukturen geändert hat. ({5}) Sie sagen drittens, dass es Ihnen um den zivilen Aufbau gehe, der nur militärisch abgesichert werden müsse, solange keine ausreichende eigene afghanische Sicherheitsstruktur vorhanden sei. Die Organisation der UNO, die UNDP, hat über den zivilen Aufbau in Afghanistan folgenden Bericht vorgelegt, den Sie, Frau Bundeskanzlerin, leider nur einseitig wiedergegeben haben. Zunächst werden Verbesserungen festgestellt. Beim Zugang zur Grundschule gibt es einen Anstieg von 54 auf 60 Prozent der Kinder. Nach neun Jahren Krieg von 54 auf 60 Prozent der Kinder! Bei der Alphabetisierung gibt es einen Anstieg von 34 auf 36,5 Prozent der Bevölkerung. Die Kindersterblichkeit ist von 257 auf 191 bei 1 000 geborenen Kindern reduziert worden. Der Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner mit Zugang zu Wasser ist von 23 auf 41,4 Prozent angestiegen. Dann beschäftigt sich der UN-Bericht mit Verschlechterungen und stellt fest: Der Prozentsatz der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ist von 33 auf 42 Prozent angestiegen. Die Unterernährung betrifft nicht mehr 30, sondern 39 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Der Anteil der Bevölkerung mit Zugang zu sanitären Einrichtungen erlebte einen Rückgang von 12 auf nur noch 5,2 Prozent. Die Zahl der Menschen, die in Slums leben, beträgt nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Millionen. Die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen stieg von 26 auf 47 Prozent an. Mohnfelder zur Gewinnung von Rauschgift umfassen nicht mehr 131 000, sondern 193 000 Hektar. Zusammengefasst heißt das, dass sich die Situation trotz einiger Fortschritte letztlich nicht verbessert, sondern deutlich verschlechtert hat. Die Hauptrichtung war nie der zivile Aufbau; denn die USA setzen zehnmal so viel Geld für die Finanzierung des Krieges wie für die Entwicklungshilfe ein. Deutschland setzt viermal so viel Geld für den Krieg wie für die Entwicklungshilfe ein. Es gibt sechs afghanische Organisationen der Zivilgesellschaft, die von der Afghanistan-Konferenz in London wörtlich Folgendes fordern - ich darf zitieren, Herr Präsident -: Die Entwicklung Afghanistans muss durch Afghanen erfolgen und rechenschaftspflichtig gegenüber den afghanischen Bürgerinnen und Bürgern sein. Die Entwicklungshilfe sollte nicht mit militärischen Zielen verbunden werden. Hilfe ist keine Waffe. ({6}) Dieser Forderung schließt sich die Fraktion Die Linke in vollem Umfang an. Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagen es nicht, aber viele vermuten, dass es Ihnen, viertens, auch um ökonomische Ziele geht. Es gab langjährige Verhandlungen der USA mit den Taliban über den Bau einer Erdgasleitung von Turkmenistan über Afghanistan nach Pakistan. Mehr Unabhängigkeit von Russland war und ist ebenso das Ziel wie gigantische Profite. Während eines Krieges kann man keine Erdgasleitung bauen. Selbst solche Strategen brauchten irgendwann ein Ende des Krieges. Im Übrigen darf doch aber noch darauf hingewiesen werden, dass solche Motive für Kriege nicht nur höchst unmoralisch, sondern auch eindeutig völkerrechtswidrig sind. ({7}) Zusammenfassend gibt es also keinen anderen verantwortbaren Weg für Afghanistan und für Deutschland als den Weg des Abzugs der Bundeswehr, und zwar ohne Bedingungen, vollständig und sofort, das heißt noch in diesem Jahr, verbunden mit einer deutlichen Aufstockung der Mittel für den zivilen Aufbau. ({8}) Nur wenn ein solcher ziviler Aufbau stattfindet, nur wenn die Menschen eine neue und höhere Lebensqualität erfahren, kann man sie so stark motivieren, dass sie diskriminierende, kulturell unerträgliche Herrschaftsstrukturen wie die der Taliban so sehr ablehnen, dass sie nicht, schon gar nicht dauerhaft, wieder installiert werden können. ({9}) Die Afghaninnen und Afghanen können sich nur selbst befreien. Dabei können wir helfen, aber wir können dies niemals militärisch erzwingen. ({10}) Die Bundesregierung geht weiterhin einen völlig falschen Weg. Die Aufstockung der Zahl der Soldaten, egal welche Motive Sie angeben, führt zu einer Verschärfung und nicht zu einer Verbesserung der Situation. Die SPD unterstützt das wie gewohnt und verkündet zusammen mit einigen aus der Regierung - andere in der Regierung sehen das offenbar anders - als neue Entscheidung, dass sie dann, wenn die USA mit einem Truppenabzug 2011 beginnen, ebenfalls damit beginnen wollen, wobei kein Termin für das Ende des Abzugs genannt wird. Die Logik, erst aufzustocken, um dann mit dem Abzug zu beginnen, ist zwar nicht nachvollziehbar; aber wenn das neu ist, dann heißt das, dass diese Vertreter der Regierung und der SPD bisher der Meinung waren, länger als die USA in Afghanistan zu bleiben. Das erscheint mir doch mehr als erstaunlich. Im Übrigen bleibt Folgendes unerklärbar: Wenn in neun Jahren die Ausbildung von Armee und Polizei nicht gelungen ist, sodass laut Hans-Ulrich Klose die alte Taliban-Herrschaft neun Wochen nach Abzug der Truppen der NATO wieder etabliert wäre, wie wollen Sie dann innerhalb eines Jahres das zustande bringen, was Ihnen in neun Jahren nicht gelungen ist? ({11}) Daran können nicht einmal Sie selbst glauben. Sie, Frau Bundeskanzlerin, haben kein Konzept. Sie stocken die Zahl der Soldaten auf und wissen nicht, wie Sie die Situation endlich beherrschen können, wie die Soldaten aus Afghanistan herauskommen können. Ihnen fehlt der Mut, wie ihn Länder wie Kanada und die Niederlande gezeigt haben bzw. beginnen zu zeigen, den USA und anderen NATO-Partnern einfach und deutlich zu sagen: Wir ziehen die Bundeswehr ab; wir halten den Krieg für das falsche Mittel; wir wollen den Afghaninnen und Afghanen wirksam, das heißt zivil helfen. Wenn Sie diesen Mumm bewiesen, Frau Bundeskanzlerin Merkel, dann könnten Sie diesbezüglich positiv in die Geschichte eingehen. Wenn Sie den USA aber nur hinterherrennen, schaden Sie nicht nur Afghanistan, sondern auch unserem Land. Die einzige Fraktion im Bundestag, die schon immer klar gegen diesen Krieg gesprochen hat und dabei bleiben wird, das ist die Fraktion Die Linke. ({12}) Darauf, Herr Gabriel, bin ich stolz. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich ein paar einleitende Worte zu dem Verfahren sagen, mit dem dieses Konzept dem Parlament und der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist; ich glaube nämlich, dass es bemerkenswert ist. Oft klagen Parlamentarier, dass sie sich zu wenig eingebunden fühlen. Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundesaußenminister, Herr Verteidigungsminister, man schaue sich die vergangenen Tage und Wochen an. Ich fand es gut, dass über dieses Konzept nicht öffentlich, in großen Talkshows oder Interviews, Auskunft gegeben worden ist, sondern genau an den Orten, an die der Fachdiskurs gehört, etwa in das Vorfeld der parlamentarischen Beratungen, zum Beispiel auf die Tagung der renommierten Körber-Stiftung vergangene Woche, Herr Bundesaußenminister. Richtig war auch, die Obleute, die Fraktionsvorsitzenden und die Ausschüsse zeitnah und nicht öffentlich zu informieren, sodass zuerst an diesen Orten darüber diskutiert wurde, wie wir mit Afghanistan weiter verfahren. Man muss wirklich sagen: An dieser Stelle ist das Parlament so eng wie selten eingebunden worden. Vor diesem Hintergrund danke ich der Regierung für diesen klaren und vernünftigen Kurs. ({0}) Im Übrigen möchte ich auf Folgendes verweisen: Vorschläge, die von allen Fraktionen, insbesondere von unseren Kollegen der SPD, von Herrn Erler und Herrn Mützenich, frühzeitig in den vergangenen Debatten hier geäußert worden sind, sind aufgenommen worden, zum Beispiel, dass wir vor der Afghanistan-Konferenz im Parlament über die Frage der Zukunft Afghanistans diskutieren. Allein das ist richtig. Wir werden in zwei Wochen, wenn die Afghanistan-Konferenz vorbei ist, im Parlament über die Ergebnisse dieser Konferenz in London diskutieren. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die Vorschläge der Opposition und des Parlaments insgesamt sehr ernst genommen werden. ({1}) Dieser Hinweis ist erlaubt: Wir wünschen uns, dass die Regierung mit dem Parlament auch bei anderen Themen so umgeht. Dieses Musterbeispiel sollte zu einer Selbstverständlichkeit für den Umgang zwischen Parlament und Regierung werden. Es ist vorhin die Frage gestellt worden, warum wir in Afghanistan sind. Ich habe, Herr Kollege Gysi, allerdings nicht ganz verstanden, warum Sie uns hierfür ökonomische Motive unterstellen wollen. Ich habe es wirklich nicht verstanden. ({2}) Es ist aber festzuhalten, dass die Bundeskanzlerin und auch wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer deutlich gemacht haben, warum wir da sind. Es ist kein Selbstzweck, in Afghanistan zu sein, sondern es liegt in unserem ureigensten Interesse, unsere Interessen, die Interessen Deutschlands und die Interessen der Menschen in Deutschland, auch in Afghanistan zu verteidigen. Wir machen es uns nicht einfach und kommen nicht mit starken Sprüchen daher. An die Adresse der SPD gerichtet möchte ich dagegen sagen: Die von Ihnen für Ihre Afghanistan-Strategie in den letzten Jahren gelieferten Begründungen beruhten immer auf sehr starken Worten. Zunächst einmal sprachen Sie von der „uneingeschränkten Solidarität“, was auch immer das bedeuten sollte, ({3}) und brachten es dann auf die einfache Formel: Deutschland werde am Hindukusch verteidigt. Davon wollen Sie heute offenbar nichts mehr hören. Vor diesem Hintergrund haben wir ganz bewusst einen anderen Weg gewählt und gemeinsam mit der Regierung ein geschlossenes Konzept entwickelt und eine große Konzeption auf den Weg gebracht, mit der wir einerseits deutlich machen, dass unsere Interessen gewahrt werden sollen, aber andererseits auch die Zukunft Afghanistans in den Mittelpunkt stellen. Warum sind wir in Afghanistan? Wir sind da, um zu verhindern, dass Afghanistan dauerhaft zu einem der großen Umschlagplätze für den internationalen Terrorismus wird. Alle Gesprächspartner, die wir in den vergangenen Tagen aus Afghanistan hier hatten, haben uns bestätigt, dass die Fäden nahezu aller relevanten internationalen fundamentalistischen Terrororganisationen teilweise in Afghanistan selbst oder in unmittelbarer Nachbarschaft in Pakistan zusammenlaufen. Allein schon, dass wir verhindern wollen, dass Afghanistan dauerhaft als Terrorbasis bzw. Umschlagplatz des Terrors etabliert wird, rechtfertigt unser Engagement. Ich glaube aber, dass es viel wichtiger ist, dass wir den Beitrag zur Stabilisierung Afghanistans, den wir in den vergangenen Jahren schon geleistet haben, weiterhin leisten. ({4}) Seit 2002 ist unser Engagement immer mit Schwierigkeiten verbunden gewesen, aber trotzdem sehr ausgewogen gewesen. Eine unserer Befürchtungen ist zwar, dass die Lücke zwischen militärischem und zivilem Engagement an manchen Stellen zu groß geworden ist, aber diese Lücke wird - das vollziehen wir mit dem vorliegenden Konzept - jetzt geschlossen. Indem wir das zivile Engagement massiv erhöhen, machen wir deutlich, welche strategische Ausrichtung wir in den nächsten Jahren verfolgen wollen. Wenn gesagt wird, in Afghanistan laufe alles schlecht, halte ich dagegen und sage: Das stimmt nicht. Wir haben heute, wie gesagt, im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages die Gelegenheit gehabt, mit Präsident Karzai darüber zu diskutieren. Die SPD hat auf ihrer Fachtagung am vergangenen Freitag die Gelegenheit genutzt, mit dem früheren Außenminister und jetzigen Sicherheitsberater Spanta intensiver darüber zu diskutieren. Dabei wurde uns doch gerade bestätigt, dass das Engagement erfolgreich war. Schauen Sie sich allein einmal an, wie massiv sich das Rollenverständnis der Frauen innerhalb Afghanistans trotz der schwierigen gesellschaftlichen Situation verbessert hat. Das ist aus meiner Sicht beachtlich und sollte nicht unerwähnt bleiben. Vor dem Hintergrund, dass zu Zeiten der Taliban-Herrschaft keine Frau eine Universität und kein Mädchen eine Schule betreten durfte, halte ich es nach wie vor für erwähnens- und lobenswert, festzustellen, dass die Situation heute ganz anders ist. ({5}) Ein großer Erfolg ist auch, dass im Auswärtigen Dienst der afghanischen Regierung der Frauenanteil heute 18 Prozent beträgt. ({6}) Und wenn Sie in Berlin einen Ansprechpartner der afghanischen Regierung telefonisch sprechen wollen, dann rufen Sie nicht irgendjemanden an, sondern Sie rufen eine Frau an, nämlich die Geschäftsträgerin. Auch das halte ich für bemerkenswert. Was, glauben Sie - Herr Kollege Klose hat das an anderer Stelle ja schon oft gesagt -, würde als Allererstes zurückgedrängt, wenn sich die internationale Staatengemeinschaft dort nicht mehr engagieren würde? Das Hauptziel der Taliban wäre doch - da bin ich mir sicher - in erster Linie, die Rolle der Frauen wieder zurückzudrängen und die Erfolge, die auf diesem Gebiet erreicht worden sind, zunichte zu machen. Wir haben die Situation - die Bundesregierung weist in ihrer Stellungnahme deutlich darauf hin -, dass 11 000 Unterrichtsräume für 500 000 Schülerinnen und 25 000 Lehrer unter deutscher Führung entstanden. Heute gehen rund 7 Millionen Kinder zur Schule; davon sind 35 Prozent Mädchen. Das ist ein großer Erfolg; auch solche Erfolge sind in Afghanistan zu verzeichnen. 600 Kilometer Straße sind gebaut worden. 250 000 Haushalte in Nordafghanistan sind an Bewässerungsanlagen angeschlossen. Auch der Optimismus, den die Afghanen in ihrer Gesellschaft selber spüren, sollte erwähnt werden. Eine Umfrage von ARD, BBC und dem amerikanischen Sender ABC macht deutlich, dass 70 Prozent der Afghanen optimistisch in die Zukunft blicken. ({7}) Allein deshalb sollten wir diese Debatte mit einer großen Ernsthaftigkeit führen. Denn ich bin mir sicher, dass viele Menschen in Afghanistan diese Debatte und die strategische Diskussion in Deutschland genau verfolgen. Die Hoffnung, die viele Menschen in Afghanistan in uns setzen, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. ({8}) Unsere Ziele sind klar umrissen: Wir wollen den Terror vor Ort bekämpfen, eine Stabilisierung der Region insgesamt erreichen, einen Beitrag zur Stabilisierung Pakistans, einer schwierigen Atommacht, leisten, die Menschen- und Frauenrechte dauerhaft durchsetzen, ein funktionierendes Rechtssystem etablieren und die wirtschaftliche Prosperität unterstützen, sodass Afghanistan auf Dauer auf eigenen Beinen stehen kann. Ich glaube, dass wir einen ausgewogenen Beitrag leisten. Deshalb will meine Fraktion den Vorschlägen der Regierung zustimmen. Ich halte diesen Beitrag deshalb für ausgewogen, weil er alle Ansätze - das zivile Engagement, das militärische Engagement, das polizeiliche Engagement - umfasst und damit eine dauerhafte Perspektive unseres Engagements gewährleistet. Wir haben eine Abzugsperspektive genannt. Insofern möchte ich meinen Vorredner ein Stück weit korrigieren: Niemand von uns hat jemals gesagt, dass es in unserem Interesse liegt, ewig in Afghanistan zu bleiben. Aber Sie haben auch in früheren Zeiten gesagt, dass es absolut falsch wäre, Afghanistan kopflos zu verlassen. Angesichts der Chuzpe, mit der die Taliban selber über unsere Debatte urteilen, erinnere ich Sie gerne an Ihre eigenen früheren Äußerungen. In vielen Medien und in vielen Gesprächen wird der Ausspruch eines Taliban-Führers zitiert, der zu US-Diplomaten lächelnd gesagt haben soll: Ihr habt alle Uhren, wir haben alle Zeit. Wenn Sie jetzt ein konkretes Datum für den endgültigen Abzug nennen, dann wiegen Sie die Taliban noch mehr in Sicherheit. Sie werden sich kurzfristig zurückziehen; aber die Gefahr ist sehr groß, dass sie nach kurzem Abwarten gestärkt wieder hervorkommen und damit unser entwicklungspolitisches Engagement zunichtemachen werden. Deshalb gibt es mit uns keinen kopflosen Abzug aus Afghanistan. Vielmehr wollen wir unser Engagement mit einer realistischen Abzugsperspektive verbinden. Dafür haben wir klare Konditionen genannt. ({9}) Meine Damen und Herren, mein Dank in dieser Debatte - das möchte ich deutlich erwähnen - gilt nicht nur unseren Soldatinnen und Soldaten und deren Angehörigen, sondern auch den Diplomatinnen und Diplomaten, die vor Ort für die Bundesrepublik und in unserem Interesse im Einsatz sind, den Entwicklungshelfern, den Polizisten und letztendlich auch - ich glaube, dass ein großer Teil von Ihnen diese Debatte gespannt verfolgt - den Angehörigen der Personen, die sich in Afghanistan engagieren und die zu Recht einfordern, dass wir uns ernsthaft mit der Perspektive des Abzugs und eines erfolgreichen Einsatzes, für den unsere Menschen dort vor Ort einstehen, beschäftigen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich ganz fokussiert auf das Thema, um das es eigentlich geht, nämlich die Londoner Konferenz und eine neue Strategie für Afghanistan, konzentrieren. Die Situation ist schwierig. Wir haben darüber gestern eine erste lange und sehr ruhige und sachliche Diskussion in unserer Fraktion geführt. Ich glaube, man kann unser mehrheitliches Gefühl angesichts der internationalen, auch deutschen Diskussion durchaus mit den Worten beschreiben: Jetzt ist Licht, allerdings in viel Schatten. Ich will nicht negieren, Frau Bundeskanzlerin, dass es hier positive Elemente gibt. Trotzdem muss ich sagen, dass Ihre Rede eben hinreichend unbestimmt war. ({0}) Sie haben viele Fakten und Zahlen genannt, haben aber nicht die Frage beantwortet, wie Sie die Vergangenheit beurteilen. Auch dazu haben Sie zwar Zahlen - hier Prozentzahlen, da Prozentzahlen - genannt. Von Herrn Gysi bin ich das gewöhnt; er liest hier halbjährlich den gleichen Text vor. Immer wieder Zahlen! Es geht aber um folgende Fragen: Haben wir das Gefühl, grundsätzlich die richtige Strategie gewählt zu haben? Auf welcher Basis und mit welcher Philosophie soll es in Zukunft weitergehen? Eine Antwort darauf hat gefehlt. Ich habe von Ihnen bezüglich des bisherigen Einsatzes positive Worte gehört. Im Ticker wurde Herr Westerwelle dahin gehend zitiert, dass alles gescheitert sei. ({1}) - Dann machen Sie eine Gegendarstellung. - Ich sage Ihnen: An dieser Stelle gibt es unterschiedliche öffentliche Positionierungen. Im Vorfeld der Londoner Konferenz wollen wir nicht einfach trockene Zahlen hören, sondern wissen: Wie sind die Zielmarken, in Neudeutsch: die Benchmarks? Bis wann soll wer was erfüllt haben? Egal ob es uns, andere Staaten oder die Regierung des Präsidenten Karzai betrifft. Eine Lehre aus der Vergangenheit ist für uns, dass darauf eine Antwort gefunden werden muss. Nur wenn diese Fragen beantwortet werden, wird das Ziel von Karzai, 2014 selbstständig für Sicherheit zu sorgen, überhaupt erreicht werden können. ({2}) Wir hätten eigentlich auch erwartet, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie etwas zur Evaluierung der bisherigen Einsätze sagen. Sie sagen so schön: 30 Polizisten haben wir ausgebildet. ({3}) - Was habe ich gesagt? ({4}) - Entschuldigung. 30 000 stimmt. - Aber die Frage ist doch: Sind diese Polizisten jetzt effizient eingesetzt? Ist die Struktur zum Beispiel gegen Korruption ausgerichtet und verhindert sie, dass ein Großteil dieser Leute zu den Taliban überläuft, nachdem die westliche Staatengemeinschaft sie ausgebildet hat? Eine Evaluierung im Hinblick auf diese Fragen würde mich interessieren. ({5}) Ich hätte in all diesen Debatten über die Zukunft gerne auch gehört, ob es nicht nur heute, sondern grund1536 sätzlich eine andere Vorgehensweise im Umgang mit dem Bundestag gibt, was die Zielstellung der Afghanistan-Politik und die Vorlage regelmäßiger Zwischenberichte angeht. Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute über eine neue Strategie und deren Umsetzung, die der afghanische Präsident Karzai in seiner Antrittsrede im November mit der Zielstellung 2014 angekündigt hat. Das ist eine Strategie der nationalen Versöhnung. Jetzt geht es darum, dass die internationale Staatengemeinschaft sagt: Wir unterstützen dies und leisten unseren Beitrag dazu. Es gibt aber Grundsatzfragen, die Sie nicht einmal angetippt haben, Frau Merkel. Sie sprachen über das Reintegrationsprogramm, das ein Kern des Programms der nationalen Versöhnung von Karzai ist. An dieser Stelle muss man aber die Frage stellen - eine Antwort darauf muss gefunden werden -: Wo sind die roten Linien, die Karzai hier und da andeutet und die da heißen: Verhinderung von Gewaltbereitschaft, Entwaffnung und das Ziel, dass man sich auf dem Boden der afghanischen Verfassung befinden und sich an die universellen Menschenrechte halten muss? Das allein sind aber nur warme Worte. Wir müssen auch sicherstellen, dass dies umgesetzt wird, und von Karzai die Formulierung von Kriterien verlangen. Mir reicht nicht aus, dass einfach gesagt wird, wir könnten Hunderttausende unideologische junge afghanische Männer mit dem Angebot von Geld und Land, also mit wirtschaftlichen Perspektiven, aus Pakistan zurückholen. Man muss klar hinzufügen, was mit den anderen geschieht. Denn für die einen ist dies ein Finanzierungsprogramm. Zur nationalen Versöhnung gehört aber auch, mit den ehemals Gewaltbereiten zu reden, sie zurückzuholen und ihnen Asyl zu gewähren. Wo genau ist eigentlich die rote Linie, um zu verhindern, dass aus den investierten 500 Millionen Euro nur ein Rückführungsprogramm oder sogar ein Rückkaufprogramm wird, dessen negative Wirkungen man überhaupt nicht absehen kann? Dazu haben Sie geschwiegen, Frau Merkel. ({6}) Wie soll das denn gehen und wie wäre das Verfahren, wenn es solche Rückkehrprogramme gäbe und man einzelnen Provinzen mehr Selbstständigkeit zugestehen würde? Wie soll denn dann das Spannungsverhältnis, das zwischen der Geltung der universellen Menschenrechte und der in der afghanischen Verfassung postulierten Scharia herrscht, in der Realität umgesetzt werden? Das alles sind Fragen, die sich an dieser Stelle ergeben. Ich hatte die Freude, gestern Herrn Karzai zu treffen und von Ihnen gestern früh informiert zu werden. Weil das alles hinreichend unbestimmt ist, stelle ich mir die Frage: Wie soll Korruption in Zukunft bekämpft werden? Die Aussage, Afghanistan brauche ein Backing der Staatengemeinschaft und davon ziemlich viel, reicht mir auch nicht aus. Wir wollen von der afghanischen Regierung wissen, wie sie das Geld tatsächlich in den Aufbau des Landes investiert, wie das strukturell funktionieren soll. Es macht Sinn, Karzai mit seiner Regierungserklärung und der Art seines Versprechens an sein Volk zu unterstützen. Er will fünf Bereiche weiterentwickeln und verspricht, die Bemühungen so zu organisieren, dass man Ende 2014 fertig sei. Wir können das unterstützen. Aber mir ist es egal, ob die einen sagen, wir unterstützen das, und die anderen sagen, wir brauchen ein Abzugsdatum. Zwischen dem 31. Dezember 2014 und dem 1. Januar 2015 liegt nur eine juristische Sekunde. Insofern: Regen Sie sich untereinander doch nicht darüber auf! Machen wir uns lieber Gedanken darüber, wie wir Afghanistan konkret unterstützen können. Ich will zu drei Punkten etwas sagen, zu dem, was die neue Strategie ausmachen soll: Für den zivilen Wiederaufbau sind Mittel von 210 Millionen Euro vorgesehen. Das macht Hoffnung. Das ist ein Wort, aber mehr auch nicht. Noch bin ich zurückhaltend, weil schon oft versprochen wurde, man wolle Gelder anders implementieren, aber es nie gemacht wurde. Ich sage Ihnen - auch nach der letzten Legislaturperiode - ehrlich: Wir wollen sehen, dass gezielt in die Entwicklung der ländlichen Räume Geld investiert wird, dass es aufgelegt wird und dort auch ankommt. ({7}) Ich hoffe, dass wir nach dem Rückzug vieler Organisationen nicht zu spät sind. Wir begrüßen es, dass die Kanzlerin in der Art von Abkehr und Distanzierung zum Angriff im Kunduz sagt: weg vom offensiven Vorgehen, hin zu einer Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz. Dieser Satz war längst überfällig. Das falsche Verhalten in der Vergangenheit hat uns einen Untersuchungsausschuss beschert, der nicht überflüssig ist. Ich hoffe, Frau Merkel, Sie machen gegenüber dem Kommandeur McChrystal endlich deutlich, dass Sie das verstanden haben; intern sagen Sie das ja auch. Wenn Sie verstanden haben, dass es um Ausbildung und Schutz gehen soll, dann muss es jetzt an der Zeit sein, sich ehrlich zu machen. Man muss sich sehr genau überlegen: Wofür haben wir bisher Geld ausgegeben? War es effizient? Haben wir unsere Versprechungen eingehalten? Zum Thema Polizei. Sie haben immer versprochen, einen Schwerpunkt bei der zivilen Aufbauoffensive, auch beim Polizeiaufbau, zu setzen. Wo ist der? Sie haben schon einmal 120 Polizeikräfte für EUPOL und 60 Polizeikräfte für bilaterale Polizeiarbeit versprochen. Derzeit sind allerdings gerade mal 123 Polizeikräfte im Einsatz. Die Ankündigung, auf 200 Polizeikräfte aufzustocken, gab es längst. Sie kündigen als Schwerpunkt der Aufbauoffensive etwas an, wo wir doch in der Vergangenheit schon immer darauf gewartet haben, dass die alte Ankündigung realisiert wird. Das ist keine Polizeiaufbauoffensive. ({8}) Wir werden sehr genau beobachten, wie Sie diese Offensive angehen wollen, wie Sie das, bis hin zum Partnering, beim Aufbau in den Distrikten gewährleisten wollen. Unsere Forderung war bisher, 500 Ausbilder bei der Polizei einzusetzen. Zum Thema Bundeswehr. Ich glaube, das ist eine Mogelpackung. Es gab eine Art Stammeskonflikt zwischen den Regierungsministern. Es ging um die Frage, wie stark die Bundeswehrkapazität ausgebaut werden soll. Nun passiert Folgendes: Zusätzlich zu den 280 Ausbildern, die es schon gab, hat man nach effizienten Kontrollen und langem Suchen intern 620 gefunden. Nun will man noch 500 Soldaten zusätzlich. Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden auch in der Ausschussarbeit sehr genau beobachten, wo überflüssige und falsche Einsätze stattfinden. Der Tornadoeinsatz mit bis zu 100 Soldaten macht militärisch keinen Sinn. Auch hier gäbe es Umbaumöglichkeiten, Frau Merkel. ({9}) Meine letzte Anmerkung zur Bundeswehr: Ein Plus von 350 „flexiblen“ Soldaten kann ich nicht akzeptieren. Wir haben in unserem bisherigen Kontingent von 4 500 Soldaten längst Flexibilität drin. Frau Merkel, wir können nicht akzeptieren - ich habe eine, zwei Nächte darüber geschlafen und mit vielen geredet -, dass wir hier einfach für diese oder jene Aufgabe, für die Wahlen, für Übergänge und das Auswechseln von Truppen, sicherheitshalber die Zahl 350 verabschieden. Wenn davon, wie Sie hier gerade sagten, zum Beispiel bei den Wahlen einige eingesetzt werden sollen, soll sich der Verteidigungsausschuss zuvor damit befassen. Ich sage Ihnen ganz klar: Wir wollen keine Zum-Beispiel-Einsätze der Bundeswehr. Die Entscheidung ist immer konkret im Plenum zu treffen. Deshalb werden wir uns jeden einzelnen Antrag von Ihnen sehr kritisch und genau ansehen. ({10}) Fazit: Es gibt zwar Licht bei viel Schatten, aber jetzt gilt es, die Londoner Ergebnisse abzuwarten. Wir wollen konkrete Schritte und Transparenz für die Zukunft. Wir wollen wissen, wie eine Politik der Versöhnung in etwa funktionieren kann, ohne dass es zum Beispiel bei der Umsetzung der Menschenrechte zu massiven Brüchen und Rissen kommt. Jetzt muss es um einen wirklichen Vorrang des Zivilen gehen, um einen wirklichen Vorrang von Ausbildung und Schutz unter Wahrung der Menschenrechte. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, ich möchte Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich meinen persönlichen Respekt für Ihre Regierungserklärung zollen, weil Sie sehr deutlich gemacht haben, wie die Eckpunkte der neuen Strategie dieser Bundesregierung im Vorfeld der Londoner Konferenz aussehen. Ich glaube, dass jeder, der richtig zugehört hat, genau erkennen konnte, mit welchen neuen Ausrichtungen diese Bundesregierung nach London fährt. ({0}) Ich habe auch mit sehr großer Aufmerksamkeit den Worten der Kollegen Gabriel und Gysi zugehört. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle empfehlen: Fahren Sie doch gemeinsam mit Frau Käßmann nach Afghanistan. Schauen Sie sich die Situation vor Ort an. ({1}) - Fahren Sie noch einmal hin und schauen Sie sich die Situation noch einmal an. Dann würden Sie, glaube ich, über die Problematik, die dort vor Ort herrscht, wesentlich konkreter und wesentlich realistischer reden können, als Sie das heute hier getan haben. ({2}) Ich hatte heute den Eindruck, dass, mit Ausnahme einer Fraktion, in diesem Haus bezüglich der strategischen Ausrichtung der Bundesregierung für die Londoner Afghanistan-Konferenz an vielen Stellen eine Übereinstimmung zum Vorschein kommt, wenn sich der parteipolitische Pulverdampf verzieht. Wir haben zum ersten Mal deutlich gemacht, dass der Primat der Politik in diesem Einsatz wieder die Oberhand gewinnt. Ich halte das für sehr wichtig. Wir haben viele Forderungen, die in den vergangenen Jahren im Parlament stets wiederholt worden sind - mehr Aufbau von Polizei, mehr zivile Unterstützung, mehr Übergabe von Verantwortung an die afghanische Regierung, mehr Schutz der Bevölkerung -, in diese Strategie implementiert. ({3}) Ich hatte heute an vielen Stellen der Diskussion den Eindruck, dass wir mit rückwärtsgerichteten Termini arbeiten. Der Punkt, an dem wir heute sind, bedeutet für mich einen Aufbruch. Wir zeigen eine Perspektive für Afghanistan, aber auch eine Perspektive für die internationale Gemeinschaft auf. Man sollte hier nicht den Eindruck erwecken, dass die Bundesregierung die Probleme in Afghanistan alleine lösen kann. Es war eine internationale Kraftanstrengung. Es ist eine internationale Kraftanstrengung. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir in London noch einmal allen Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten deutlich machen, dass das auch weiterhin eine internationale Kraftanstrengung ist. ({4}) Herr Gysi, Sie haben heute hier Zahlen vorgetragen, um zu unterlegen, dass sich die Situation in Afghanistan nicht signifikant verbessert hat. ({5}) Sie haben dabei aber eines außer Acht gelassen: Die Rückführung von Millionen von Flüchtlingen aus den benachbarten Ländern Pakistan und Iran ist eine große Belastung, die dieses Land zusätzlich zu den Folgen des Bürgerkrieges zu tragen hat, bzw. es ist eine unmittelbare Folge aus dem Bürgerkrieg. Das wirkt sich selbstverständlich auch auf diese Strukturen aus. Man sollte nicht so tun, als sei die Präsenz der internationalen Gemeinschaft in den letzten Jahren vollkommen umsonst gewesen. Dies ist eine komplexe und komplizierte Region. Ich bin dankbar, dass heute auch das Thema Pakistan angesprochen worden ist. Es wird viel zu wenig zur Kenntnis genommen, dass Pakistans Regierung unter anderem mit militärischen Anstrengungen ebenfalls versucht, Stabilität in der Region herbeizuführen. An dieser Stelle sind sehr viele Todesopfer zu beklagen, auch unter den Soldaten und den Polizisten. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ein sehr herzliches Dankeschön an die pakistanischen Entscheidungsträger zu richten; denn letztendlich profitieren auch wir bei unserem Einsatz und Engagement in Afghanistan davon. ({6}) Wir haben heute die Frage gehört: Warum ist erst eine Truppenaufstockung notwendig, um die Zahl dann zurückzuführen? Wenn ich dieser neuen Strategie den Schutz der Zivilbevölkerung und die Übergabe in Verantwortung als wesentliche Punkte zugrunde lege, bedeutet das, dass ich in den bevölkerungsstarken Regionen Sicherheit herstellen und gleichzeitig die afghanische Armee ausbilden muss, um diese in die Lage zu versetzen, die Aufgaben der Sicherheitskräfte eines souveränen Landes zu erfüllen. Insofern ist das vollkommen logisch; das ist überhaupt nicht unlogisch. Das sieht man, wenn man sich einmal etwas intensiver mit den Einzelheiten dieser strategischen Überlegungen befasst. Ich möchte hier weiterhin zum Ausdruck bringen, dass ich das notwendige Vertrauen in die Fähigkeiten unserer Bundeswehr in dem Bereich habe. Wir werden in Zukunft eine große Verantwortung bei der Führung des Regionalkommandos Nord haben. Ich wünsche mir, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, dass Sie, um die Ziele zu erreichen - Stärkung des zivilen Wiederaufbaus, mehr Übergabe in Eigenverantwortung, Schutz der Zivilbevölkerung -, den Einsatz unserer Bundeswehrsoldaten auf der Basis dieses neuen Mandates mittragen. Ich wiederhole das an dieser Stelle und danke all den besonnenen Kolleginnen und Kollegen in den anderen Fraktionen dafür, dass sie diesen Weg mitgehen wollen. Ich bin der Meinung, dass die zeitlichen Ziele, über die wir heute gesprochen haben, durchaus zu erreichen sind. Aber wenn wir unsere eigene Strategie nicht unterstützen, wenn wir nicht an sie glauben und wenn wir schon von vornherein unseren zivilen Aufbauhelfern, den Diplomaten und den Soldaten dem Grunde nach sagen, dass wir nicht so ganz dahinterstehen oder nicht so ganz davon überzeugt sind, dann frage ich mich, wo die Menschen, die das vor Ort umsetzen sollen, die Motivation hernehmen sollen. ({7}) Ich glaube, dass in Zukunft ein wesentlicher Punkt der diplomatischen und politischen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft sein wird, die afghanische Regierung dabei zu unterstützen, als souveräner Staat die Versöhnung, die ihre Aufgabe in ihrem Land ist, zu erreichen. Das wird schwierig werden. Das wird viel Geduld bedürfen. Wir werden hier sicherlich viele - ich sage es einmal salopp - Kröten zu schlucken haben. Aber am Ende jeder militärischen Mission muss es eine politische Lösung geben. Wir sind zum ersten Mal gemeinsam in einer so realistischen Bewertung der Lage angekommen, dass ich der Überzeugung bin, dass wir hier mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung in den nächsten vier bis fünf Jahren zu wesentlich besseren Ergebnissen kommen werden als in den vergangenen acht Jahren. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Ernst-Reinhard Beck. ({0})

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Gabriel, vorneweg möchte ich sagen: Ich glaube, es ist nicht ganz seriös, das, was man selbst acht Jahre lang nicht geschafft hat, was einem acht Jahre lang nicht gelungen ist, den Nachfolgern in dieser Form anzuhängen. ({0}) Schlicht und ergreifend bis vor vier Monaten hat Ihr Außenminister hier Verantwortung getragen. Diese rückwärtsgewandte Geschichte ist schwer erträglich. ({1}) Wenn Sie etwas zum Konzept gesagt hätten, wäre das etwas anderes. Aber Sie haben damit im Grunde Ihre eigene Regierungszeit mit schlechten Noten versehen. ({2}) Das will ich am Anfang sagen. ({3}) Ernst-Reinhard Beck ({4}) Natürlich, der Afghanistan-Einsatz dauert länger, ist schwieriger und auch teurer, als wir es uns am Anfang vorgestellt haben; das ist richtig. Aber, Frau Kollegin Künast, die Frau Bundeskanzlerin hat sich hier sehr klar geäußert und über ein Fünfpunkteprogramm unter der Überschrift „Übergabe in Verantwortung“ gesprochen. Ich glaube, das ist in der Tat ein Programm, das dem Konzept der vernetzten Sicherheit wirklich Rechnung trägt, eine Strategie, die auch nach vorne gerichtet ist. Sie sprachen den Dreiklang von Ausbildung, Schutz und Präsenz in der Fläche an. Dieser Dreiklang wird den Herausforderungen in einer angepassten Sicherheitslage gerecht. Die Erhöhung der Zahl der Militärausbilder von derzeit 280 auf circa 1 400 wird dazu führen, dass wir die Zielgröße der afghanischen Armee schneller erreichen. Frau Künast, das ist keine Mogelpackung. Im Rahmen der Verstärkung der Ausbildung stocken wir die Zahl von derzeit 500 auf. Das spielt auch mit Blick auf die Führungsfähigkeit eine Rolle, nämlich dann, wenn 2 500 amerikanische Soldaten in den Norden entsandt werden. Sie stoßen sich oft an der Zahl 350. ({5}) Ich gehe davon aus, dass die Zahl 350 an die Obergrenze angepasst wird. Das würde dann einem Plus von 850 entsprechen. ({6}) - Herr Kollege Nouripour, das ist auch im Verteidigungsausschuss zu klären. Bisher war ein solcher Schritt angesichts der Obergrenze überhaupt nicht notwendig. Ich kann nicht verstehen, warum das ein Weniger sein soll. Ich glaube, das, was die Bundesregierung an dieser Stelle vorschlägt, ist ein Mehr an parlamentarischer Mitbestimmung. Das muss ich in aller Klarheit sagen. ({7}) Die Verbesserung des Schutzes der afghanischen Bevölkerung wird die Rahmenbedingungen des zivilen Aufbaus optimieren. Schließlich soll die Präsenz in der Fläche den Kontakt zur Bevölkerung verbessern. Ich sage ganz klar: Präsenz in der Fläche kann im Grunde nur heißen, in ausgewählten kritischen Distrikten gemeinsam mit den afghanischen Soldaten, die wir selber ausbilden, den Schutz der Bevölkerung mit der Ausbildung der Soldaten zu verbinden. Das ist das neue und richtige Konzept. Ich glaube, diese Dreisäulenlösung wird für die Zukunft tragfähig sein. Jedes Element für sich genommen hatte bereits in der Vergangenheit seinen Platz, wenn es um Aufbau und Sicherheit ging. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich betonen: Dass der neue Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung keinerlei Berührungsängste mit der Bundeswehr hat, lässt mich auch hoffen, ({8}) dass wir unsere Anstrengungen beim zivilen Aufbau verstärken und den Menschen dort, wo wir Verantwortung tragen, wo auch unsere Soldaten sind, nicht nur das Gefühl vermitteln, dass es besser wird, dass sie jetzt besser leben, dass das, was wir wollen, auch bei den Menschen ankommt, sondern dass wir auch Tatsachen schaffen. Ich meine, dass es durchaus richtig ist, den Schwerpunkt in der Region des Nordens zu setzen. Die afghanische Armee auszubilden, ist richtig. Dabei helfen in unserem Verantwortungsbereich auch 2 000 amerikanische Soldaten, die schwerpunktmäßig ausbilden und dem deutschen Kommando unterstellt sind. Zeitgleich wird die Anwesenheit der Amerikaner dazu beitragen, eine Fähigkeitslücke im Norden zu schließen, nämlich bei der Luftbeweglichkeit im deutschen Verantwortungsbereich. Dadurch, dass die Amerikaner jetzt 50 Hubschrauber bei uns stationieren, wird auch die Fähigkeit verbessert, im Bereich der medizinischen Versorgung, etwa bei MEDEVAC, eine Lücke zu schließen. Transport und Beweglichkeit werden wesentlich verbessert. Eine Bemerkung zur Polizeiausbildung. Frau Künast, Sie haben völlig recht, wenn Sie monieren, dass manches, was wir uns vorgenommen haben, noch nicht erreicht ist. Es ist auch richtig, dass wir Zwischenziele formulieren. Wir müssen uns immer wieder fragen: Wie weit sind wir noch von ihnen entfernt? Dennoch ist klar, dass die Polizeiausbildung jetzt mit verstärkten Anstrengungen angegangen wird; das liegt in deutscher Verantwortung. Ich glaube, dass durch eine solidarische Anstrengung der 16 Bundesländer, die dafür verantwortlich sind - das geschieht ja nicht par ordre de mufti vonseiten der Bundesregierung -, eine entscheidende Verbesserung erzielt wird. Im Übrigen rege ich an, auch die Konzeption von EUPOL zu überdenken. EUPOL berät nur afghanische Ministerien und afghanische Behörden. Wäre nicht ein Teil dieser 200 Polizisten, die von europäischen Ländern gestellt werden, besser aufgehoben, indem sie zur Verstärkung der Ausbildung vor Ort eingesetzt werden? ({9}) Dass für die Reintegration von Taliban viel Geld fließt, hat viele Vorwürfe nach sich gezogen. Ich rege an, zu überlegen, die afghanischen Soldaten und Polizisten, die von uns ausgebildet werden, zumindest für eine bestimmte Zeit besser zu bezahlen. Sozial abgesicherte Sicherheitskräfte sind weniger anfällig für Geldzuwendungen von anderer Seite. Auch hier wäre das Geld gut investiert, wenn man wirklich Versöhnung herbeiführen will. ({10}) Die massive Aufstockung der Zahl der Ausbildungskräfte, die Verdopplung der Mittel für den zivilen Aufbau, die Umkehr in Richtung einer etwas defensiveren Strategie, das sollte der Opposition erlauben, dem veränderten Mandat für den Afghanistan-Einsatz auch in Zukunft zuzustimmen. Ernst-Reinhard Beck ({11}) Ich habe Signale erkannt, dass sich die Grünen ihrer Verantwortung für diesen Einsatz, den sie einmal mitgetragen haben, weiter bewusst sind. Auch wenn mir Frau Künast jetzt nicht zuhört, werbe ich bei der Opposition um Zustimmung; ich sehe nämlich, dass durchaus Bereitschaft da ist. Man sollte diesem Konzept die Zustimmung nicht versagen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Unsere Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr benötigen die Rückendeckung des gesamten Parlaments. Im Namen des Parlaments sind sie in den Einsatz geschickt worden. Je größer die Unterstützung in diesem Parlament ist, desto besser. Das ist wichtig. Ich komme zu einem weiteren Punkt. Ich glaube, dass wir auch bei dem neuen Mandat die rechtlichen Grundlagen für den Einsatz der Bundeswehr neu definieren müssen. Herr Gabriel, ich möchte jetzt nicht darüber diskutieren, ob der Begriff „Krieg“ angemessen ist; es wäre natürlich interessant, einmal seriös darüber zu diskutieren. Aber wenn wir uns einig sind, dass wir in Afghanistan einen nicht internationalen militärischen Konflikt haben, dann muss, meine ich, das humanitäre Völkerrecht und nicht die deutsche Strafprozessordnung zur rechtlichen Grundlage für den Einsatz unserer Soldaten werden. Diese Rechtssicherheit sind wir unseren Soldaten schuldig. ({12}) Ich erinnere daran, und ich bitte darum, dass wir die im Koalitionsvertrag festgelegte Forderung nach der Einrichtung einer zentralen Staatsanwaltschaft zügig in Angriff nehmen. Wir dürfen die Angehörigen der Bundeswehr, die im Einsatz ohnehin erheblichen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt sind, nicht mit zusätzlichen Bürden belasten. Mit der neuen Strategie gewinnen wir Initiative und Gestaltungskraft zurück. Sie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Erfolg. Als souveräner Staat in einem sicheren Umfeld leben zu können, ist nicht selbstverständlich; gerade wir Deutschen haben dies erfahren. Heute ist es an uns, Afghanistan diese Möglichkeit zu eröffnen. Dem dient dieser Vorschlag, dem dient dieses Konzept. Herzlichen Dank. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, weil er heute das erste Mal in seiner neuen Funktion der Diskussion in diesem Hohen Hause beiwohnt, den neuen Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wieker, herzlich willkommen zu heißen und ihm für die schwierigen Aufgaben, die er vor sich hat, viel Erfolg und viel Glück zu wünschen. ({0}) Ich hatte in der Vergangenheit, vor allem in den letzten Wochen, die Möglichkeit, mit vielen Soldatinnen und Soldaten zu sprechen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Afghanistan, auch in Kunduz. Wenn man sie fragt: „Was wünscht ihr euch von der Politik?“, ist die Antwort: Wir wünschen uns von der Politik mehr Ehrlichkeit. Jetzt schaue ich mir an, was uns vorliegt, und frage mich: Gibt es diese Ehrlichkeit? Allein bei der Frage nach mehr Soldaten sehe ich sie an drei Stellen nicht. Die erste: Natürlich gibt es in bestimmten Bereichen Bedarf. Ich will das in der knappen Zeit nicht ausführen; aber natürlich brauchen wir mehr Stabsoffiziere in Masar-i-Scharif, und wir brauchen mehr Sicherheit in Kunduz. Aber bevor man aufstockt, muss man eine Evaluation vornehmen. Das hat meine Fraktionsvorsitzende bereits gesagt, das hat aber auch Herr Guttenberg schon gesagt: Als er noch nicht Minister war, hat er die Einsetzung einer Evaluationskommission gefordert. Es wäre höchste Zeit für eine Evaluation, nicht nur darüber, was in Afghanistan schiefläuft, sondern auch darüber, was in Afghanistan richtig gelaufen ist, damit man auch das der Öffentlichkeit präsentieren kann. ({1}) Ich glaube im Übrigen, dass das ein deutlich besserer Weg ist, die deutsche Öffentlichkeit von bestimmten Notwendigkeiten zu überzeugen, Kollege Gabriel, als zu sagen: Der Kriegsbegriff ist nicht realitätstauglich; es ist also egal, ob da Krieg herrscht oder nicht, wir sparen das aus. Ich glaube, man kann unserer Öffentlichkeit mehr zumuten; die Deutschen vertragen mehr, wenn sie wissen, dass man ihnen die Wahrheit sagt, und man sagt, warum man bestimmte Dinge tut. Ein zweiter Punkt, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob wir es hier mit Ehrlichkeit zu tun haben, ist die Frage der Alternativen. Wir haben Alternativen, die aber nicht geprüft werden, etwa den von uns so genannten Vollmer-Plan, den General Vollmer, der Commander im Regional Command North, bereits im letzten Jahr vorgestellt hat. Der Plan sieht die Ausbildung von 2 500 afghanischen Polizisten im Raum Kunduz vor, die wir bezahlen. Die Kosten dafür belaufen sich auf 9 Millionen Dollar; das ist verhältnismäßig wenig. Die Ausbildung könnte schnell vollzogen werden. Der Plan ist von der neuen Regierung abgelehnt worden, wäre aber eine wunderbare Alternative, der man sich annehmen könnte. Ich erinnere mich auch an die Beschlussfassung zum Einsatz von Tornados im Jahr 2007. Deren Nutzen beispielsweise für die Soldaten in Kunduz ist gleich null. Im Mandatstext stand, dass dafür 500 Soldaten gebraucht werden. Das entspricht der Zahl von 500 zusätzlichen Soldaten, die Sie jetzt beschließen wollen. In diesem Zusammenhang komme ich zur dritten Stelle, an der mir die Ehrlichkeit fehlt - Kollege Beck hat es gesagt; ich bin froh, wenn wir darüber reden können, ob man das nicht hineinschreiben kann -: Es ist nicht wirklich redlich, 350 Soldaten als Reserve für Wahlen und für Kontingentwechsel aufzuführen. Wir haben schon bei den letzten beiden Aufstockungen über die Argumente dafür gesprochen. Da hat man uns immer gesagt: Wir brauchen einen Puffer für Kontingentwechsel. Minister Jung selbst hat gesagt - ich habe die Zitate hier vorliegen -, dass man den Puffer sowieso nicht ausschöpfen werde. Drei Monate später waren wir an der Mandatsobergrenze angelangt. Das wird auch hier der Fall sein. Herr Minister, ich wette mit Ihnen, dass Sie spätestens im Herbst herkommen und sagen werden: Wir haben den Puffer von 350 Soldaten ausgeschöpft. Wenn wir ehrlich sind, sprechen wir also über 850 Soldaten. Zur Ehrlichkeit würde auch gehören, zu sagen: Vielleicht müssen wir hier in wenigen Wochen oder Monaten die AWACS beschließen. Wir werden dann auch wie beim letzten Mal den Einsatz von 300 Soldaten beschließen sollen. Wir alle wissen, dass 300 Soldaten zu viel sind; 150 würden reichen. 150 plus 350 plus 500 macht 1 000 Soldaten; das ist die Zahl, die Guttenberg ursprünglich wollte, nicht die Zahl, die Herr Westerwelle wollte. Sie tricksen mit den Zahlen herum. Das ist Parteienspiel und wird der Ernsthaftigkeit, die die Kanzlerin vorhin gefordert hat, nicht gerecht, auch nicht der Ehrlichkeit, die die Soldatinnen und Soldaten brauchen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selten zuvor haben wir so ausführlich, in so breiter Öffentlichkeit und so engagiert über Afghanistan debattiert wie in den letzten Wochen. Ich finde, das war dringend notwendig. Wir brauchen einen Strategiewechsel, nicht nur für Afghanistan, sondern auch für die Weise unserer Diskussion über Afghanistan. ({0}) Die Zeit der Parolen ist vorbei. Viel zu lange haben wir uns mit Parolen beschäftigt - „unverbrüchliche Solidarität“ mit den USA; „Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“ -, anstatt über die Strategie zu diskutieren. Ich freue mich, dass wir nun endlich zu einer schonungslosen Analyse der Lage vor Ort kommen, ({1}) dass man zu einer klaren Sprache findet und die Dinge so benennt, wie man sie vor Ort vorfindet. ({2}) Deswegen begrüße ich es, dass Bundesminister zu Guttenberg ausdrücklich von „kriegsähnlichen Zuständen“ spricht, weil er damit deutlich macht, ({3}) dass wir klären müssen, auf welcher Rechtsgrundlage unsere Soldaten vor Ort im Einsatz sind. ({4}) Damit wird auch deutlich, dass wir unseren Soldaten Rückendeckung für ihren Einsatz in Afghanistan geben müssen, den wir beauftragen; denn sie erwarten zu Recht Verständnis für ihren Einsatz bei ihrem Auftraggeber, dem Bundestag. Wir müssen uns auch selbst darüber klar werden: Wer Fakten verklärt oder nicht klärt, stellt auch nicht die richtigen Fragen und kann nicht zu den richtigen Antworten kommen. Herr Gabriel, die Elaborate, die Sie vorhin zum Thema Vereinte Nationen vorgetragen haben, waren völlig neben der Sache. Wir streiten uns nicht über die Rechtsgrundlage dieses Einsatzes. Auch uns sind die Resolutionen der Vereinten Nationen bekannt; aber diese Resolutionen klären nicht die Frage, ob das konkrete Handeln eines Bundeswehrsoldaten vor Ort nach deutschem Strafrecht oder nach Völkerrecht zu beurteilen ist. Ich finde, diese Frage kann man nicht den Staatsanwälten überlassen, die ja nur am grünen Tisch entscheiden können. Das ist auch für die Staatsanwälte eine Zumutung. ({5}) Wir, der Deutsche Bundestag, müssen dazu Stellung nehmen, weil wir bei diesem Einsatz die Auftraggeber sind. ({6}) Deswegen finde ich es richtig, wenn wir beim nächsten Mandat dahin kommen könnten, dass wir eine Aussage dazu treffen, ({7}) dass wir diese Auseinandersetzung in Afghanistan als einen nicht internationalen bewaffneten Konflikt verstehen und deswegen nicht deutsches Strafrecht, sondern Völkerrecht Grundlage der Beurteilung des Handelns unserer Soldaten vor Ort ist. Genau das ist die Rechtssicherheit, die unsere Soldaten brauchen, und es ist schlicht inakzeptabel, dass diese Fragen bis heute, also auch im neunten Jahr des Einsatzes, noch offen und nicht beantwortet sind. Wir müssen sie bei nächster Gelegenheit beantworten. ({8}) Die ursprüngliche Zielvorstellung, die mit diesem Einsatz in Afghanistan verbunden war, eine Demokratie nach westlichem Vorbild zu schaffen, hat sich als reichlich naiv erwiesen. Es kann nur um eines gehen, nämlich darum, dieses Land so zu stabilisieren, dass wir die Verantwortung für die Sicherheit in afghanische Hände geben können. Dazu brauchen wir einen vernetzten Ansatz; das war bisher schon Konsens. Ich glaube, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass auch die Bundesregierung in den eigenen Reihen bisher ihre liebe Not mit dem vernetzten Ansatz hatte. Deswegen finde ich es wichtig, dass wir im Koalitionsvertrag ausdrücklich vereinbart haben, die ressortübergreifenden Anstrengungen innerhalb der Bundesregierung stärker zu bündeln. Dieses Versprechen wird jetzt eingelöst. Erstmals liegt uns eine Strategie vor, die von allen beteiligten Ressorts gemeinsam erarbeitet worden ist, mit der klare Zielvorstellungen dafür gegeben werden, was wir in Afghanistan erreichen wollen, mit der genau beschrieben wird, welche Beiträge wir dazu leisten wollen, und durch die auch ein Zeitrahmen genannt wird, in dem wir diese Erfolge erreichen wollen. Genau so und in dieser Reihenfolge muss es gehen. Deswegen ist dies der richtige Ansatz. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu der Debatte über ein mögliches Ende des Abzugs will ich nur Folgendes sagen: Bisher waren wir uns darüber einig, dass mit einem Enddatum den Falschen in die Hände gespielt wird. Herr Steinmeier, auch wenn Sie heute nicht reden durften, darf ich daran erinnern, dass Sie in Ihrem Zehnpunkteplan vom September letzten Jahres gesagt haben: Wir müssen die Grundlagen für den Abzug aus Afghanistan bis 2013 schaffen. - Darin stimme ich Ihnen zu. Gleichzeitig haben Sie aber gesagt: Eine konkrete Jahreszahl könnte in Afghanistan von den Falschen als Ermutigung verstanden werden. Genau so ist es, und weil sich das seit September 2009 nicht geändert hat, ist es richtig, kein Enddatum zu nennen. Ich habe aber Sympathie dafür, ins Auge zu fassen, dass wir dann mit dem Abzug beginnen, wenn auch die Amerikaner 2011 damit beginnen wollen. Zumindest dieses Ziel sollten wir uns setzen. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei unserem Engagement in Afghanistan und bei dem gesamten Einsatz der internationalen Gemeinschaft fehlt mir bislang, dass wir uns mit der afghanischen Regierung auf klare Ziele verständigen; denn es hilft doch nichts, wenn sich die internationale Gemeinschaft anstrengt, man aber den Eindruck gewinnen muss, dass auf afghanischer Seite eher passiv zugesehen wird. Ich begrüße es, dass sich Präsident Karzai in seiner Antrittsrede kürzlich sehr klar geäußert hat. Ich darf diese zwei Sätze zitieren: Innerhalb der nächsten drei Jahre möchte Afghanistan militärische Operationen in vielen unsicheren Gebieten des Landes selbst führen und durchführen. Entschlossen wollen wir uns dafür einsetzen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte in den nächsten fünf Jahren fähig sind, überall im Land die Führung zu übernehmen und Sicherheit und Stabilität zu garantieren. Ich finde, wir sollten die afghanische Regierung hier beim Wort nehmen. Deswegen ist es richtig, dass wir für die Ausbildung und die Ausstattung der afghanischen Armee und Polizei deutlich höhere Beiträge erbringen, als das bisher der Fall war. Ferner begrüße ich es, dass wir in militärischer Hinsicht in vielen Details einen Strategiewechsel vornehmen - Bundesminister zu Guttenberg hat dies bereits im Einzelnen erläutert -: Die Ausbildung der afghanischen Soldaten wird künftig im Feld stattfinden, die Schnelle Eingreiftruppe wird zu einer Ausbildungs- und Schutztruppe umgewandelt, und die Wiederaufbauteams in den Provinzen werden mit einem neuen Fokus auf den Wiederaufbau umstrukturiert. Auch das ist ein klares Signal dafür, dass wir uns stärker an den tatsächlichen Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung ausrichten. Ich vermisse in Afghanistan greifbare Erfolge bei der Bekämpfung des Drogenanbaus, beim Aufbau von Verwaltung und Justiz und bei der Bekämpfung von Korruption und Kriminalität. Ich finde, wir müssen darüber mit der afghanischen Regierung sehr deutliche Worte sprechen. Wir müssen zumindest versuchen, dafür Sorge zu tragen, dass unsere Hilfe nicht als ein Beitrag zur Stabilisierung der derzeitigen Amtsinhaber missverstanden wird oder gar zur Aufrechterhaltung korrupter Strukturen missbraucht werden kann. Deswegen ist es notwendig, dass die afghanische Regierung sich selbst die vereinbarten Ziele zur Aufgabe macht und sich auch dafür einsetzt, dass die afghanische Bevölkerung selber ein Interesse an der Stabilisierung des Landes und am Gelingen des politischen Prozesses entwickelt. Ohne den eigenen Willen der Afghanen werden alle Bemühungen von außen nicht erfolgreich sein können. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber eine Schule, die wir aufbauen, kann auch sehr schnell wieder vergammeln, wenn sie nicht vom eigenen Willen der Bevölkerung getragen wird, diese Schule aufrechtzuerhalten. Wir können nur die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Afghanen eine Chance zur politischen und wirtschaftlichen Entwicklung bekommen. Letztlich müssen die Afghanen diese Chance selbst ergreifen. Ich finde, wir sollten mit einer klaren Strategie und klaren Vorgaben für die afghanische Regierung dabei ein bisschen nachhelfen. Ich wünsche der Bundesregierung viel Erfolg bei der Afghanistan-Konferenz morgen in London. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Holger Haibach für die CDU/CSU-Fraktion.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selten war in einer Debatte im Deutschen Bundestag so oft wie heute die Rede von Ehrlichkeit und Offenheit, die immer wieder eingefordert werden. Dazu will ich drei Vorbemerkungen machen, die mir wichtig erscheinen. Erstens. Es wird sehr häufig gesagt - das ist auch heute in der einen oder anderen Intervention angeklungen -, es sei in Afghanistan nichts passiert, es sei dort nichts gut. Abgesehen davon, dass es schlichtweg falsch ist - das beweisen die Zahlen -, ist diese Aussage, glaube ich, auch nicht fair und anständig; denn diejenigen, die das sagen, meinen zwar die Politik, aber letzten Endes ist es ein Schlag ins Gesicht aller Soldatinnen und Soldaten, aller Diplomatinnen und Diplomaten und aller Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, die in Afghanistan seit Jahren einen sehr gefährlichen Job sehr gut erledigen. ({0}) Deswegen kämpfe ich immer gegen solche Äußerungen. Zweitens ist von Herrn Gabriel kritisiert worden, dass sich die Information des Parlaments gestern auf die Fraktions- und Parteivorsitzenden beschränkt habe. Ich glaube - darauf hat der Kollege Mißfelder schon hingewiesen -, es hat in der Frage von Auslandseinsätzen der Bundeswehr selten so ein offenes Verfahren gegeben wie in diesem Fall. - Das ist das eine. Das andere ist: Dass ausgerechnet Herr Gabriel dies gesagt hat, finde ich sehr bemerkenswert. Wenn ich mich recht entsinne, war Herr Schröder früher SPD-Parteivorsitzender und damit der Amtsvorgänger von Herrn Gabriel. Herr Schröder ist doch dafür bekannt, dass er die Leitlinien deutscher Außenpolitik zwar über die Marktplätze der Republik gerufen, aber nicht im Parlament verkündet und diskutiert hat. ({1}) Insofern glaube ich, dass auch an dieser Stelle ein bisschen Zurückhaltung von Ihrer Seite angebracht ist. ({2}) Als dritter Punkt ist mir in der Debatte, wenn wir über Offenheit und Ehrlichkeit sprechen, Folgendes aufgefallen: Es wird immer wieder gesagt, wir müssten viel mehr über das zivile Engagement reden, wir müssten viel mehr im zivilen Bereich machen und wir bräuchten viel mehr Geld. Die Medienberichterstattung der letzten Tage zeigt, dass es um eine einzige Frage geht: Um wie viele zusätzliche deutsche Soldaten in Afghanistan geht es auf der Londoner Konferenz? Ich finde, das muss man bei dieser Gelegenheit sagen, weil es eigentlich um etwas anderes geht. Wir alle haben immer betont, dass London keine reine Truppenstellerkonferenz sein darf. Das Konzept, das die Bundesregierung heute vorgelegt hat, zeigt auch deutlich, dass zumindest wir einen anderen Ansatz verfolgen. Ich denke, dass wir gerade über die entwicklungspolitischen Aspekte noch einmal sprechen müssen. Zunächst einmal ist es wichtig, zu betonen, dass es diese Bundesregierung war, die schon in diesem Jahr die Mittel für den zivilen Aufbau in Afghanistan auf über 140 Millionen Euro erhöht hat, und dass wir uns vorgenommen haben, die Mittel insgesamt auf über 400 Mil-lionen Euro aufzustocken. Das hat keine andere Bundesregierung vor uns gemacht. Ich halte das in dieser Zeit für ein goldrichtiges Zeichen. Wir müssen hier einen klaren Schritt tun. Neben der finanziellen Frage bedeutet das aber auch, dass wir die richtigen Strukturen schaffen und sagen müssen, was wir mit dem Geld eigentlich erreichen wollen. Aus meiner Sicht gibt es hier drei entscheidende Bereiche. Der erste ist das Thema Sicherheit, der zweite das Thema Entwicklung und der dritte das Thema Regierungsfähigkeit. Sicherheit bedeutet nicht nur Sicherheit für unsere Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer, sondern zuerst und vor allem auch Sicherheit für die Menschen in Afghanistan. Denn wir wissen - das ist ein altbekannter Satz -: Ohne Sicherheit gibt es keine Entwicklung, genauso wenig wie es ohne Entwicklung Sicherheit geben kann. All diejenigen, die sagen, die Bundeswehr müsse, wenn es geht, sofort raus aus Afghanistan, müssen erklären, wie sie die Sicherheitsfrage beantworten wollen. Ich glaube, sie haben dafür keine Lösung. ({3}) Wenn ein Entwicklungshilfeminister sagt, er habe keine Scheu vor einer Zusammenarbeit mit der Bundeswehr, dann finde ich das prinzipiell nicht verwerflich. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich finde es richtig, weil es eine Zusammenarbeit geben muss. Es geht nicht darum - so wird es manchmal dargestellt -, die Unterschiede zu verwischen; das darf nicht sein. Aber es muss klar sein, dass es eine solche Zusammenarbeit geben muss. Der zweite Punkt ist das Thema Entwicklung. Bis heute gibt es eine ungelöste Frage, nämlich die nach dem Drogenanbau. Der Drogenanbau stellt eines der größten Probleme nicht nur für Afghanistan, sondern auch für uns dar. Es geht hier auch um unsere eigenen Interessen. Welche Interessen haben wir in dieser Angelegenheit? Ich gebe zu, dass es bislang niemandem gelungen ist, hier eine vollständig befriedigende Lösung zu finden; denn der Drogenanbau ist offensichtlich noch immer lukrativer als beispielsweise die Erzeugung von Lebensmitteln. Wir müssen noch sehr viel darüber nachdenken, wie wir an dieser Stelle vernünftig weiterkommen. Das Dritte ist - das halte ich ehrlich gesagt für das Wichtigste, was wir noch schaffen müssen - die Frage nach der Regierungsfähigkeit. Über 400 Millionen Euro in die Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan zu investieren, ist keine ganz einfache Aufgabe, vor allen Dingen dann nicht, wenn keine Strukturen vorhanden sind, die das absorbieren können. Die Frage nach der Absorptionsfähigkeit ist ganz wichtig. Deshalb ist es richtig, dass die neue Strategie der Bundesregierung darauf setzt, noch mehr in die ländlichen Räume zu gehen und noch mehr in den Aufbau von Strukturen zu investieren, die in der Lage sind, ein Gebiet zu verwalten sowie mit zu gestalten und zu entscheiden, was unter anderem mit deutschem Geld passieren soll. Das halte ich für ganz entscheidend. Wir reden immer darüber, dass die Afghanen ihre Sicherheit selbst in die Hand nehmen sollen. Wir reden immer darüber, dass sie über ihr Land selbst bestimmen sollen. Aber dazu gehört, dass wir sie bei der Entscheidung, was vor Ort in welchen Projekten gemacht wird, tatsächlich unterstützen und dass wir sie beteiligen. Der Provincial Development Fund zum Beispiel bietet dazu sehr gute Möglichkeiten. Die Erkenntnis, dass Afghanistan ein Land ist, das nie eine sehr starke Zentralgewalt gekannt hat und immer sehr provinziell und nach Stämmen aufgestellt war, lässt sich in der nun vorgelegten Strategie sehr gut wiederfinden. Das bedeutet nicht die Delegitimation der Zentralregierung. Vielmehr wird auf die historischen Gegebenheiten dieses Landes Rücksicht genommen. Wir wollen keinen Kolonialstaat aufbauen; Afghanistan soll sich vielmehr nach eigenen Regeln entwickeln. Das ermöglichen wir mit dem Plan der Bundesregierung. ({4}) Wenn wir über Abzugsdaten reden, dürfen wir nie vergessen, dass es wichtig ist, nicht die falschen Signale zu setzen. Es ist richtig, dass wir uns Gedanken darüber machen, wann deutsche Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan zurückkommen können. Aber wir müssen die Dinge vom Ende her betrachten; das wurde schon deutlich. Ein Abzug kann nur dann wirklich sinnvoll sein, wenn eine selbsttragende Sicherheit und vernünftige Strukturen vorhanden sind. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Sicherheit, sondern auch im Hinblick auf die Sicherung des Lebensunterhalts, die Bildung und die Infrastruktur. Ich wehre mich gegen ein konkretes Abzugsdatum; denn wenn ein konkretes Abzugsdatum genannt wird, dann ist es für diejenigen, die andere Interessen in diesem Land haben, relativ einfach, abzuwarten und zu sagen: Wir warten, bis die Bundeswehr bzw. die internationalen Truppen weg sind. Dann übernehmen wir wieder das Kommando im Land. - Das halte ich auf jeden Fall für falsch, auch deshalb, weil wir es denjenigen, die mit uns zusammenarbeiten wollen, ein gutes Stück schwieriger machen; denn wenn sie wissen, dass der Schutz durch die internationalen Truppen begrenzt ist, aber nicht dadurch, dass selbsttragende Sicherheit vorhanden ist, sondern dadurch, dass es innenpolitische Debatten in den Ländern der Truppensteller gibt, dann tun wir ihnen keinen Gefallen, sondern lassen sie am Ende des Tages allein. Das sollten wir nicht tun. Genau deshalb meine ich, dass die Regierung hier ein sehr tragfähiges Konzept vorgelegt hat. Danke sehr. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/519. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun können wir die Fragestunde fortsetzen. Ich rufe dazu den Tagesordnungspunkt 3 auf: Fragestunde - Drucksachen 17/493, 17/517 Bevor wir damit beginnen, gebe ich den Kolleginnen und Kollegen, die daran nicht teilnehmen können, Gelegenheit, anderen Verpflichtungen nachzugehen. Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Für die Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel zur Verfügung. Ich rufe zunächst die Frage 1 der Kollegin Britta Haßelmann auf: Wann wird die Bundesregierung die Anpassungsformel des Bundesanteils für die Unterkunftskosten für ALG-II-Beziehende entsprechend der Forderung der Bundesländer an der Entwicklung der tatsächlichen Unterkunftskosten ausrichten? Herr Staatssekretär, bitte.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Ich darf die Antwort wie folgt geben: Die Bundesregierung sieht von sich aus aktuell keinen Anlass, die festgelegte Anpassungsformel zu verändern. Sie ist bekanntlich in § 46 Abs. 7 Sozialgesetzbuch II fixiert. Der Regierungsentwurf des Sechsten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, mit dem die nach § 46 Abs. 8 Sozialgesetzbuch II notwendige jährliche Anpassung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung für Arbeitssuchende erfolgt, wurde vom Deutschen Bundestag in seiner 10. Sitzung am 4. Dezember 2009 unverändert angenommen. Der Bundesrat hat am 18. Dezember 2009 den Vermittlungsausschuss mit dem Ziel der grundlegenden Überarbeitung des Gesetzes angerufen; es handelt sich bekanntlich um ein Einspruchsgesetz. Der Vermittlungsausschuss wird dazu in einer ersten Sitzung am heutigen Tage in anderthalb Stunden beraten. Ob und in welcher Form die Anpassung der Beteiligung an den Kosten für Unterkunft seitens des Bundes künftig erfolgt, hängt von den Ergebnissen der Ausschussverhandlungen ab.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Nachfrage, Frau Kollegin? - Bitte sehr.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin; vielen Dank auch Ihnen, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Frage. Ich habe Sie also richtig verstanden, dass Sie keinerlei Änderungsbedarf in Bezug auf die Anpassungsformel sehen und mit dieser Haltung auch in das Bundesratsverfahren gehen, obwohl klar ist, dass auch aus dem CDUPräsidium und dem CDU-Vorstand ganz klare öffentliche Äußerungen dahin gehend erfolgt sind, dass Veränderungen der Anpassungsformel im Zusammenhang mit den Änderungen hinsichtlich der Jobcenter und der Hartz-IV-Reform im März getroffen werden?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Ich gehe nochmals auf die Historie der gesamten Gesetzesentwicklung ein. Man hatte sich in den letzten Jahren darauf verständigt, von den ursprünglichen Berechnungen abzugehen und nun eine mehr technische Berechnung stattfinden zu lassen. Dieses Ergebnis wurde erzielt, indem man den Ländern bei verschiedenen Positionen finanziell entgegengekommen ist. Man hat dann 2008 festgelegt, dass eine Regelung auf der Grundlage, die ich vorhin skizziert habe, erfolgt, und zwar unbefristet. Das war eine Übereinkunft von Bund und Ländern. Das ist die Grundlage, von der die Bundesregierung ausgeht.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, ich fände es gut, wenn wir jetzt nicht in die Historie gingen; es ist den Abgeordneten hier im Haus sicherlich bekannt, wie die Anpassungsformel zustande gekommen ist. Wir sollten uns vielmehr mit der tatsächlichen Situation auseinandersetzen. Diese ist ganz eindeutig so, dass es einen massiven Anstieg der Kosten für die Unterkunft für die Städte und Gemeinden gibt. Gleichzeitig wird durch die bestehende Anpassungsformel der Bundesanteil ständig reduziert. Das wurde mit der Bundesratsinitiative des schwarz-gelb regierten Landes Nordrhein-Westfalen aufgegriffen, und die Bundesregierung wurde aufgefordert, diese Anpassungsformel zu verändern. Deshalb frage ich nicht nach der bestehenden Formel und nach der Historie, sondern ich frage, ob Sie sich aufgrund der tatsächlichen Kostenentwicklung der Kommunen und der Bundesratsinitiative von Nordrhein-Westfalen bemüßigt sehen, diese Anpassungsformel zu verändern.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Die Bundesregierung hat natürlich Verständnis für die schwierige Situation der Kommunen. Wir alle wissen, dass die finanziellen Verhältnisse der Kommunen aufgrund der Gesamtentwicklung sehr angespannt sind. Ich muss aber daran erinnern, dass man sich auch mit dem Wissen all der möglichen Entwicklungen, die die gefundene Formel auslösen könnte, im Jahr 2008 eindeutig auf diese Formel verständigt hat. Der Bund hat schon einmal zusätzliche Kosten übernommen, die ich jetzt nicht beziffern möchte, die ich Ihnen aber auflisten könnte. Die Gesamtausgaben für die Kosten der Unterkunft und Heizung im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende betragen zwischen 14 Milliarden und 15 Milliarden Euro im Jahr 2010. Wir wissen auch, dass sich die Summe in diesen Zeiten nicht reduzieren wird. Ich möchte als Sachwalter von Steuergeldern des Bundes doch darauf hinweisen, dass die Erhöhung der Bundesbeteiligung um 1 Prozent Mehrkosten des Bundes in Höhe von rund 150 Millionen Euro auslösen würde. Jedes weitere Prozent würde natürlich weitere Mehrkosten bedeuten. Ich darf darauf hinweisen, dass wir in Kürze den Bundeshaushalt in zweiter und dritter Lesung beraten werden und wir gegebenenfalls höhere Summen einstellen müssten - und dies bei dem derzeitigen Defizit des Bundes. Ich bitte um Verständnis, dass die Bundesregierung im Augenblick keine weitergehenden Vorschläge zu diesem Thema zu machen hat.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir kommen zur Frage 2 der Kollegin Haßelmann: Welche Art von Länderöffnungsklauseln plant die Bundesregierung, bei den Kosten für Unterkunft für ALG-II-Beziehende umzusetzen?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Auf diese Frage gebe ich Ihnen eine kurze Antwort: Die Bundesregierung plant von sich aus derzeit keine weiteren länderspezifischen Beteiligungsquoten bei der Beteiligung an den Kosten für Unterkunft und Heizung.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Nachfrage dazu? - Bitte sehr.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, vielen Dank für Ihre Antwort. - Schließen Sie mit Ihrer Antwort Länderöffnungsklauseln aus, oder sollte das heißen, dass Sie von sich aus nichts planen?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Anderthalb Stunden vor Beginn eines Vermittlungsverfahrens wäre ich schlecht beraten, weiter gehende Äußerungen als die zu machen, die ich gerade zu den Themen hier gemacht habe. Wir haben auch hier die Historie zu beachten. Sie haben vorhin gesagt, die sei im ganzen Haus bekannt. Nun möchte ich sie zu diesem Punkt nicht wiederholen. Mehrheitsfähig war im Jahre 2007 nur eine besondere Formel für die Länder Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz; für diese beiden Länder hat man bekanntlich besondere Quoten eingeführt. Mir sind natürlich Modelle bekannt, die darauf abzielen, dass man das alles differenzierter gestaltet. Die Kunst des Vermittlungsverfahrens wird darin bestehen, die Gesamtinteressen abzuwägen und dann zu einem Ergebnis zu kommen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Haßelmann, wie ich sehe, haben Sie noch eine Zusatzfrage.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, Sie haben von sich aus gerade die Länder Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz angesprochen. Die Kommunen in diesen Ländern und auch diese Länder selbst haben andere prozentuale Beteiligungen als die anderen 14 Bundesländer. Um es einmal einfach zu sagen: Diese beiden Ländern stellte man besser. Welche sachlichen Gründe waren eigentlich ausschlaggebend dafür - da gehe ich jetzt in die Historie -, dass man unabhängig von der Einnahmesituation und der Verfasstheit der Länder ausgerechnet RheinlandPfalz und Baden-Württemberg gegenüber den anderen 14 Bundesländern bei der Zuweisung bevorteilt?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Wir alle in diesem Hohen Hause sind Politikerinnen und Politiker; daher wissen wir, dass so etwas nicht ohne Grundlagen, die so etwas rechtfertigen, zustande kommt. Es ist interessant, dass zwei Bundesländer bessergestellt wurden. Das hat seine Ursache darin, dass man ganz zu Beginn, als man das System umgestellt hat, gerechnet und festgestellt hat, dass in diesen beiden Bundesländern einige für die Gesamtformel signifikante Fakten erheblich anders sind als in den restlichen Bundesländern. Dabei ging es um Anteile an der Arbeitslosenhilfe und an der Sozialhilfe. Bekanntlich sind diese beiden Transferleistungen im Rahmen des ALG II zusammengeführt worden. In diesem Umfeld gab es Abwägungen, die dazu führten, dass man diese Formel gefunden hat; damals verstand man dies als gerechten Interessenausgleich. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger wird es möglich sein, die Historie neu aufzurollen; daher hat man in dem letzten Gesetz keine Änderungen vorgenommen, sondern man hat die zuvor entwickelte Formel beibehalten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir kommen damit zur Frage 3 des Kollegen Matthias Birkwald: Wie erklärt sich die Bundesregierung die vom Umfrageinstitut Forsa im Auftrag eines Finanzdienstleisters ({0}) konstatierte Diskrepanz bei jungen Leuten - Altersgruppe 20 bis 29 Jahre -, einerseits überdurchschnittlich häufig die Notwendigkeit zu sehen, sich mit dem Thema der privaten Vorsorge zu beschäftigen, andererseits sich aber unterdurchschnittlich häufig tatsächlich intensiv mit diesem Thema zu befassen, und welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus diesen Umfrageergebnissen? Herr Staatssekretär, bitte.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Ich möchte mich zunächst für diese Frage bedanken. In ihr wird ein sehr wichtiges Thema angesprochen. Es geht um den immer wichtiger werdenden Bereich der privaten Altersvorsorge. Herr Birkwald, Sie beziehen sich auf eine Aussage in der Pressemitteilung der Union Investment vom 7. Januar 2010. Dort wird auf die große Diskrepanz bei jungen Menschen im Hinblick auf die Wahrnehmung der Bedeutung des Themas „private Altersvorsorge“ einerseits und der tatsächlichen Beschäftigung mit diesem Thema andererseits hingewiesen. Schaut man sich nicht nur die von Ihnen angeführte Stelle, sondern die gesamte Pressemitteilung an, so erkennt man, dass etwas außer Acht gelassen wird: Dort wird ausgeführt, dass sich 63 Prozent der 20- bis 29-Jährigen bereits stark oder sehr stark mit dem Thema „private Altersvorsorge“ beschäftigt haben. Ein Anteil von 63 Prozent ist nach unserer Auffassung ein beachtlicher Wert, auch wenn er unter dem auf sämtliche Altersgruppen bezogenen Durchschnittswert von 71 Prozent liegt. Dieser Umfrage zufolge kann festgestellt werden, dass die Notwendigkeit zusätzlicher privater Altersvorsorge knapp 80 Prozent der jungen Menschen bewusst ist und dass diese Notwendigkeit bereits bei fast zwei Dritteln dieser Altersgruppe zu einer intensiven Befassung mit diesem Thema geführt hat. Dies ist angesichts des Beginns der gesamten Entwicklung eine erfreuliche und ermutigende Zahl, gerade wenn man bedenkt, dass junge Leute naturgemäß andere Sachen im Kopf haben als ihre Altersversorgung. Ich halte deshalb noch einmal fest: Die Bundesregierung sieht durch diese Zahlen ihre Informationspolitik in Sachen Zusatzrente bestätigt und wird sie unvermindert fortsetzen. Beispielhaft sei hier auch auf die erfolgreiche Kampagne „Altersvorsorge macht Schule“ hingewiesen, die auch ein spezifisches Angebot für jüngere Menschen bereithält. Außerdem ist in diesem Zusammenhang noch darauf hinzuweisen, dass es seit 2008 einen Berufseinsteigerbonus gibt. Unmittelbar Zulageberechtigte, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erhalten einmalig - ich nehme das Forum hier gerne wahr, um das nochmals deutlich zu sagen - eine um bis zu 200 Euro erhöhte Grundzulage bei Zahlung eines entsprechenden Beitrags auf ihren Altersvorsorgevertrag. Durch diesen Bonus wird ein zusätzlicher Anreiz geschaffen, frühzeitig mit dem Altersvorsorgesparen zu beginnen. Dies ist auch deswegen sinnvoll, weil gerade junge Versicherte durch die erwartungsgemäß lange Laufzeit der Verträge besonders stark von den Zinseffekten profitieren können. Dass dieses noch junge Förderinstrument bereits zunehmend zielgerichtet wirkt, zeigen aktuelle Erhebungen. Danach haben bis Mitte 2009 immerhin 920 000 Personen eine entsprechende Bonuszahlung erhalten. Im Jahr 2005 belief sich die Zahl der unter 25-Jährigen bei den Riester-Sparern noch auf knapp 260 000. Daran sieht man, dass die ganze Entwicklung in die richtige Richtung geht und nun mit positiven Informationen, die weit gestreut werden müssen, begleitet werden muss. Möglichkeiten dazu haben wir ja dann, wenn wir auf entsprechende Fragen von Ihnen oder anderen antworten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Nachfrage, Herr Kollege?

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Antwort. Es wird Sie nicht wundern, dass die Linke das, was Sie eben dargestellt haben, anders einschätzt und die Richtung Ihrer Politik anders bewertet. Die junge Generation wird von einer aus unserer Sicht falschen Politik nämlich dazu gezwungen, privat für ihr Alter vorzusorgen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hätten derzeit 37 Prozent der Personen in der Altersgruppe zwischen 20 und 29, da sie keine private Altersvorsorge betreiben, salopp formuliert, im Alter ein deutliches Problem, da sie dann nur auf die Zahlungen der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgreifen könnten. Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie fragen, ob nach Meinung der Bundesregierung die Diskrepanz zwischen der Erkenntnis, sich mit dem Thema beschäftigen zu müssen, und der Folgerung daraus, das tatsächlich zu tun - dass diese besteht, haben Sie ja vorhin auch noch einmal bestätigt -, eher auf dem Mangel an Informationen oder eher auf dem Mangel an eigenen finanziellen Mitteln für private Vorsorge beruht. Die Frage ist ja, ob die finanzielle Situation der 20- bis 29-Jährigen überhaupt so ist, dass sie entsprechende Beiträge leisten können. Gibt es dazu Erkenntnisse?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Kürzlich wurde eine große Untersuchung durchgeführt, die von den Verbänden des Verbraucherschutzes mitgetragen wurde. Dabei hat man sich erstmals sehr gründlich mit der Sache beschäftigt. Diese Untersuchung wird jetzt gerade von der Bundesregierung ausgewertet, damit daraus weitere Schlüsse gezogen werden können. Ich möchte aber doch aufzeigen, dass die Gesamtentwicklung in der Tendenz ganz klar positiv verläuft. Bis Ende September 2009 wurden nämlich bereits knapp 13 Millionen Riester-Verträge abgeschlossen. Dabei wurden natürlich auch die Wechsel von einem Vertrag zum anderen erfasst, sodass es sich nicht unbedingt um 13 Millionen Menschen handeln muss, die einen Riester-Vertrag haben; das möchte ich der Vollständigkeit halber hinzufügen. Sehr interessant ist aber, dass in den vergangenen zwölf Monaten trotz der Wirtschafts- und Finanzkrise 1 Million Neuverträge hinzugekommen sind. Das zeigt, dass das Bewusstsein generell wächst und dass die Maßnahmen vorankommen. Ich möchte ebenfalls hinzufügen, dass man auch Folgendes berücksichtigen muss: Inzwischen haben - die Zahl stammt von Ende 2007 - circa 17,5 Millionen Beschäftigte einen Anspruch auf eine Betriebsrente erworben, und über 1 Million Bürgerinnen und Bürger haben mittlerweile eine Basisrente abgeschlossen. Daran zeigt sich, dass das System der zusätzlichen Altersvorsorge im privaten und im betrieblichen Bereich Früchte trägt und zunehmend größere Teile der Bevölkerung erfasst.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre zweite Nachfrage, bitte.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mich würde noch Folgendes interessieren: Wie viele von den von Ihnen erwähnten 1 Million neuen Verträgen wurden in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen abgeschlossen, und wie hoch war der finanzielle Aufwand für die Öffentlichkeitsarbeit, um diese Zielgruppe zu informieren?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Die positive Entwicklung folgt zunächst einmal daraus, dass man ein Zusatzbonussystem auf den Markt gebracht, also die Möglichkeiten ausgebaut hat. Zu den Zahlen im Einzelnen kann man Näheres sagen, wenn die Studie ausgewertet ist. Dann können Sie gerne noch einmal auf mich zukommen, und wir können das im Einzelnen klären.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Eine weitere Frage hat der Kollege Lehrieder.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, den ersten Teil meiner Frage haben Sie bereits bei der Vorfrage beantwortet, nämlich wie viele Riester-Verträge bisher abgeschlossen worden sind. Sie haben von 13 Millionen Verträgen gesprochen. Ich beschränke mich deshalb auf den zweiten Teil meiner Frage: Wie bewertet die Bundesregierung diese Entwicklung, und welcher Personenkreis profitiert insbesondere von dieser staatlichen Förderung?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Von dieser staatlichen Förderung profitiert zunehmend auch der Teil der Bevölkerung, der kein überdurchschnittliches Einkommen hat. Das können wir aufgrund dieser Untersuchungen ganz deutlich feststellen. Da sind natürlich weitere Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Ich weise darauf hin, dass der Anteil der jüngeren Zulageempfänger weiter steigt, insbesondere bei den Jahrgängen 1981 und jünger. Das lässt auf eine Gesamtdynamik schließen. Das gilt auf jeden Fall für den Kreis der 25-Jährigen und Jüngeren. Die Zwischenergebnisse für die Beitragsjahre 2007 und 2008 bestätigen diesen Trend eindeutig. Zu dem Ergebnis kommt auch ein Wochenbericht des DIW vom 5. August 2009. Danach ist der Anteil der Riester-Sparer in der Altersgruppe 17 bis 24 Jahre von 3,9 Prozent im Jahre 2004 auf 11,1 Prozent im Jahre 2007 gestiegen. Auch dadurch wird das bestätigt, was ich eingangs ausgeführt habe.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Birkwald auf: Welche Effekte hätte die von den Autoren der DIW-Studie „Alterssicherungsvermögen dämpft Ungleichheit“ ({0}) angeregte Einbeziehung der Beamten in den Adressatenkreis der gesetzlichen Rentenversicherung, GRV, auf die Einnahme- und Ausgabenseite der GRV, und welche zusätzlichen Effekte hätte die Einbeziehung der Selbstständigen in den Adressatenkreis der GRV auf die Einnahme- und Ausgabenseite der GRV?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Grundsätzlich ist eine Ausweitung des versicherten Personenkreises für die Rentenversicherung im Umlageverfahren mit Einführungsgewinnen verbunden, weil die zusätzlichen Versicherten zunächst nur Beiträge zahlen. Da sie jedoch später eine Gegenleistung in Form von Renten erhalten und deshalb den höheren Beitragseinnahmen längerfristig auch höhere Rentenausgaben gegenüberstehen, ergibt sich für die Rentenversicherung nur in der Übergangsphase eine finanzielle Entlastung. Das Ausmaß der finanziellen Auswirkungen und die Dauer der Übergangsphase hängen dabei maßgeblich vom Potenzial der zusätzlichen Versicherten und von deren Beitragsleistungen ab und können daher pauschal nicht bestimmt werden. Bei Einbeziehung von Beamten in den versicherten Personenkreis ist zudem zu berücksichtigen, dass für den öffentlichen Haushalt eine Doppelbelastung entstünde, da die Gebietskörperschaften sowohl die bereits erworbenen Pensionsansprüche zu bedienen hätten als auch die Arbeitgeberanteile im Rahmen der Rentenversicherungsbeiträge und die Umlage zu den Zusatzversorgungen des öffentlichen Dienstes zu leisten hätten. Auf dieses Dilemma möchte ich aufmerksam machen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre Nachfrage, bitte.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank für die Antwort, Herr Staatssekretär. Wie ist dann die von Markus Grabka, einem der Autoren der DIW-Studie, als doppelte Privilegierung kritisierte Altersvorsorge der Beamtinnen und Beamten - einerseits zahlen sie keine Beiträge, und andererseits erlangen sie ein höheres Versorgungsniveau - aus Sicht der Bundesregierung heute noch zu rechtfertigen?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Ich möchte darauf hinweisen, dass die in der Studie ermittelte, im Vergleich zu den übrigen Personengruppen günstige Position der Beamten und Pensionäre, die Sie gerade beschrieben haben, unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass in der Studie Anwartschaften in der privaten und betrieblichen Altersvorsorge, in den berufsständischen Versorgungswerken und in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes nicht berücksichtigt wurden. Da die Berücksichtigung dieser Anwartschaften fehlt, kommt es zu Verzerrungen der Ergebnisse zugunsten der Beamten und Pensionäre, bei denen wegen der Bifunktionalität der Pensionen die zweite Säule in die Altersvorsorge integriert ist. - Das ist das eine. Ferner ist zu berücksichtigen, dass Beamte von ihrem Wesen her in der Regel ununterbrochene Erwerbsverläufe und ein vergleichsweise hohes Qualifikationsniveau aufweisen. Das ist ein wichtiger Grund dafür, dass es in dieser Studie zu der Bewertung kam, auf die Sie gerade hingewiesen haben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine weitere Frage schließt sich an Ihre Antwort an. Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen, ob Ihnen Zahlen bekannt sind, wie viele Beschäftigte bei Eintritt in das Rentenalter über eine betriebliche oder eine private Altersvorsorge verfügen und wie viele nicht, sodass klar gesagt werden könnte, wie stark die Verzerrung, wie Sie es genannt haben, ist.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Ich habe bei der Beantwortung einer vorherigen Frage schon ausgeführt, dass 17,5 Millionen Personen Anwartschaften auf eine Betriebsrente haben - mit steigender Tendenz. Daraus ergibt sich das Volumen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Lehrieder.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, noch eine Frage zu diesem Komplex: Welche Möglichkeiten haben eigentlich Selbstständige, die nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung sind, Alterssicherungsvermögen aufzubauen, und wie wird dieses Alterssicherungsvermögen gesetzlich geschützt?

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Selbstständigen wird über die sogenannte Rürup- oder Basisrente der Aufbau einer staatlich geförderten Alterssicherung ermöglicht. Die Förderung besteht darin, dass die Beiträge zu einer solchen Rürup-Rente zusammen mit den Beiträgen zu gesetzlichen Alterssicherungssystemen, zum Beispiel zur gesetzlichen Rentenversicherung, stufenweise ansteigend bis zum Jahre 2025 völlig steuerfrei gestellt werden. Das heißt, schließt man eine RürupRente ab, so hat dies eine interessante und günstige steuerliche Auswirkung. Dem Prinzip der nachgelagerten Besteuerung entsprechend werden die Renten später ebenParl. Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel falls stufenweise ansteigend bis zum Jahre 2040 voll besteuert. Rürup-Produkte - ich habe mir extra ein paar Fakten zusammengestellt, weil ich dachte, dass dies zum Gesamtthemenkomplex gehört - müssen weitgehend den Kriterien der gesetzlichen Rentenversicherung entsprechen. Das heißt, solche Verträge sind zum Beispiel nicht veräußerbar und auch nicht vererbbar. Der überwiegende Teil der circa 1 Million abgeschlossenen Verträge sind Rentenversicherungen. Hier besteht für den Fall der Insolvenz - das ist sehr wichtig, um den Gesamtzusammenhang zu beurteilen - das gleiche Schutzsystem wie bei Lebensversicherungsverträgen. Seit 2009 müssen solche Verträge, mit der RiesterRente vergleichbar, von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zertifiziert werden. Daran sieht man, dass die Qualität dieses Instruments angehoben wurde. Daher wird dieses Instrument künftig auf dem Markt eine noch größere Rolle spielen und insbesondere - das war Ihre Frage - den Selbstständigen helfen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Fragen 5 bis 9 der Kollegen Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Veronika Bellmann und Volker Beck werden schriftlich beantwortet. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herr Staatssekretär Fuchtel, herzlichen Dank für die Beantwortung der Fragen. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Hier steht für die Beantwortung der Fragen Frau Parlamentarische Staatssekretärin Julia Klöckner zur Verfügung. Ich rufe die Frage 10 der Kollegin Dagmar Ziegler auf: Wann wird die Bundesregierung darüber entscheiden, wo in Neuruppin der neue Standort der Außenstelle des Bundesinstituts für Risikobewertung errichtet wird? Frau Staatssekretärin.

Julia Klöckner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003566

Frau Kollegin Ziegler, Sie möchten erfahren, wann die Entscheidung getroffen wird, wo in Neuruppin die Außenstelle des BfR errichtet wird. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben führt derzeit eine Wirtschaftlichkeitsuntersuchung in Bezug auf den Standort in Neuruppin durch. Es geht bei den Unterbringungsalternativen darum, ob sich die alte Panzerkaserne oder der Neubau anbietet. Nach dem Vorliegen des Ergebnisses dieser Wirtschaftlichkeitsuntersuchung wird über den endgültigen Standort dieser Außenstelle des Bundesinstituts entschieden werden.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Ziegler, bitte.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Nachfrage bezieht sich darauf, ob der Standort Neuruppin damit nicht infrage steht.

Julia Klöckner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003566

Ich kann Ihnen versichern - ich weiß auch, dass das Ihr Anliegen ist, weil es Ihre Region ist -: Wir stellen diesen Standort nicht infrage. Das ist im Haushalt klar vorgesehen. Ich weiß, dass es vonseiten des Personalrats Einwände gab, weil die Mitarbeiter umziehen müssen, aber von unserer Seite aus ist das klare Bekenntnis zu Neuruppin weiterhin gegeben. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Es gibt keine weitere Zusatzfrage. Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung auf. Hier steht für die Beantwortung der Fragen der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt zur Verfügung. Ich rufe die Frage 11 der Kollegin Ziegler auf: Wann schließt die Bundesregierung die Prüfung zur weiteren Verwendung des Truppenübungsplatzes Wittstock - Kyritz-Ruppiner Heide - ab? Herr Staatssekretär, bitte sehr.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Frau Kollegin, auf Ihre Frage, wann die Prüfung einer zukünftigen Nutzung des Truppenübungsplatzes abgeschlossen sein wird, muss ich Ihnen antworten, dass über die weitere Verwendung noch nicht entschieden wurde. Wir haben derzeit Prüfungen möglicher Handlungsoptionen, die umfangreiche und komplexe Analysen umfassen, in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse werden im Ministerium erwartet. Es ist gegenwärtig noch nicht abzusehen, wann mit einer abschließenden Entscheidung zu rechnen ist. Ich kann allerdings zusagen, dass wir ein Interesse daran haben, dass nach dem Vorliegen der Ergebnisse sehr bald über die Vorschläge entschieden wird. Ein Zeitrahmen ist gegenwärtig leider noch nicht absehbar.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, befindet sich unter den Optionen, die geprüft werden, auch die militärische Nutzung, oder ist die von vornherein ausgeschlossen?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Der Verzicht, den Truppenübungsplatz Wittstock als Luft-Boden-Schießplatz zu nutzen, gilt weiterhin.

Dagmar Ziegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Fragen 12 und 13 der Kollegin Ingrid ArndtBrauer werden schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Hans-Christian Ströbele auf: Wie oft waren Soldaten der Bundeswehr im Jahr 2009 in Afghanistan an kinetischen oder anderen Operationen in irgendeiner Form beteiligt, bei denen Menschen - Taliban, andere Aufständische oder Zivilpersonen - durch Bomben oder Raketen von US-Flugzeugen oder Drohnen vernichtet werden sollten oder vernichtet wurden, etwa indem sie die US-Luftschläge angefordert, freigegeben, geleitet oder angewiesen haben, und wie oft waren die Soldaten der Bundeswehr, die in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 mit dem Einsatz von US-Flugzeugen gegen entwendete Tanklastkraftwagen befasst waren, vorher schon einmal an Einsätzen und Operationen in Afghanistan beteiligt, bei denen Menschen durch Raketen oder Bomben vernichtet werden sollten oder vernichtet wurden, die von US-Flugzeugen oder Drohnen abgefeuert wurden?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Vielen Dank, Herr Kollege. Sie hatten diese Frage ja schon einmal gestellt. Ich hatte zu dem damaligen Zeitpunkt auf die umfangreichen Recherchen hingewiesen, die notwendig waren. Diese sind zwischenzeitlich erfolgt. Insofern kann ich Ihre Frage wie folgt beantworten: Im Jahr 2009 wurden in insgesamt 37 Fällen Einsätze im Rahmen der Luftnahunterstützung unter Beteiligung deutscher Soldaten am Boden durchgeführt. 28 dieser 37 Einsätze erfolgten in der Form „Show of Force“, waren also Fähigkeitsdarstellungen: Überfliegen. 9 Einsätze erfolgten mit Waffeneinsatz. Bei diesen 9 Einsätzen ging es im Regelfall aber nicht, wie das dem Duktus Ihrer Frage vielleicht entnommen werden könnte, um das Töten von Menschen, sondern um eine Warnung im Rahmen einer Eskalation zum Schutz von ISAF-Soldaten. Soll ich die Frage 15 gleich mitbeantworten?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nein, das geht extra. - Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist ja ein Fortschritt, dass Sie sich immerhin bemühen, auf Fragen zu antworten. Beim letzten Mal wurde die Frage ja nicht beantwortet. Mich interessiert natürlich in erster Linie der zweite Teil dieser Frage: Inwiefern waren Soldaten der Bundeswehr, die an dem Einsatz vom 4. September 2009 beteiligt waren, vorher an solchen kinetischen Operationen beteiligt? Da Sie diese Frage ja eigentlich gerade schon hätten beantworten sollen, schließe ich gleich die eigentliche Nachfrage an: Wie viele Menschen sind denn bei den Waffeneinsätzen, die Sie eingeräumt haben, „vernichtet“ worden? Ich benutze dieses Wort nicht, weil ich es so gerne ausspreche, sondern weil das offenbar der Sprachgebrauch der Bundeswehr ist. Das entnehme ich der Didaktik des Oberst Klein.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Sehr verehrter Herr Kollege, zum Ersten darf ich mich bedanken, dass das beiderseitige Bemühen um die Findung von Informationen, von Auskünften und die Weiterreichung derselben uns nahezu in eine Harmonie bringt. ({0}) Die erste Frage hatte ich in der Tat - ich bitte um Nachsicht - der Frage 15 zugerechnet. Das war ein Missverständnis meinerseits. Zur Frage zum 4. September: Der JTAC - das ist eine NATO-Bezeichnung für den Fliegerleitfeldwebel -, der am 4. September 2009 in Kunduz die Luftnahunterstützung eingesetzt hatte - wir wissen, dass über die Umstände noch zu sprechen sein wird -, hatte vor diesem Einsatz viermal Luftnahunterstützung in Form von „Show of Force“ ohne Waffeneinsatz und einmal Luftnahunterstützung mit Waffeneinsatz angefordert. Bezüglich der Ergänzungsfrage, die Sie zum 4. September gestellt haben, kann ich Sie auf die bekannten Daten hinweisen. Es ist umfangreich vorgetragen worden, wie viele Getötete es gegeben hat. Bei den anderen ist mir eine Zahl nicht ersichtlich. Ich bitte darum, dass ich die nachreichen kann. Bisher hat es da, soweit ich das sehe, keine Tötungen gegeben. Aber ich sage das unter dem Vorbehalt der nochmaligen detaillierten Prüfung, über die ich Sie zeitnah informieren werde, Herr Kollege Ströbele.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Ströbele, bitte.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da wir gerade bei den Höflichkeiten sind: Ich danke natürlich für das Angebot, dass Sie nachliefern, und hoffe, dass die Nachlieferung bald kommt. Meine zweite Nachfrage lautet: Können Sie jetzt schon sagen, wann die Einsätze mit Waffengewalt, über die Sie sich noch einmal kundig machen wollen, stattgefunden haben? Vielleicht können Sie nicht Tag und Stunde nennen, aber in welchen Monaten im Jahr 2009 haben sie stattgefunden? Hat zum Beispiel eine im Mai 2009 stattgefunden? Können Sie dazu etwas sagen?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Zu den neuen Einsätzen kann ich keine tageweise Einzelaufschlüsselung geben. Es lässt sich allerdings keine besondere Zusammenballung erkennen mit der Ausnahme, dass in der Winterzeit die Anzahl der Einsätze geringer war. Soweit das recherchierbar ist - das dürfte es ja nun sein -, will ich zusagen, Ihnen auch dies mit Monatsbenennung und Zahl zu geben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun rufe ich Frage 15 des Kollegen Hans-Christian Ströbele auf: In welcher Weise war der neue Generalinspekteur der Bundeswehr, General Volker Wieker, in seiner vorherigen Funktion als Chef des ISAF-Stabes im ISAF-Hauptquartier in Kabul an der Sachverhaltsfeststellung sowie Bewertung der Bombardierung einer Menschenmenge in Kunduz/Afghanistan am 4. September 2009 beteiligt, so wie dies etwa Ausdruck fand in den kritischen Äußerungen seines damaligen Vorgesetzten Stanley McChrystal oder dem erstellten ISAFUntersuchungsbericht, und wann teilte General Volker Wieker möglicherweise seine diesbezüglichen Feststellungen und Wertungen erstmals Vertretern der Bundesregierung mit?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Sie fragen nach der Tätigkeit von General Wieker in Kabul als Chef des Stabes ISAF, also als der Stabschef des Kommandeurs General McChrystal. Er hat diesen Dienst am 6. Oktober 2009 angetreten. Herr Kollege, Sie mögen schon daraus schließen, dass eine Befassung mit den Vorfällen vom 4. September 2009 zeitlich unmittelbar nicht stattgefunden hat. General McChrystal hatte zwei Untersuchungsgruppen eingesetzt, deren Selbstständigkeit in der Ermittlung er sehr strikt bedacht und betrachtet hat, nämlich das Initial Action Team, das den ursprünglichen Bericht geschrieben hat, und das Joint Investigation Board, die beide ausschließlich mit der Ermittlung des Sachverhaltes beschäftigt waren. Daher kann ich Ihre Frage, ob General Wieker in seiner Funktion bei ISAF an Sachverhaltsdarstellungen oder Wertungen beteiligt war, mit Nein beantworten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, Sie weisen darauf hin, dass er im Hauptquartier von General McChrystal war. General McChrystal hat sich in einem sehr frühen Stadium, wenn ich mich richtig erinnere, schon am 5. September 2009, also sehr zeitnah zum 4. September, auch in der Öffentlichkeit sehr kritisch geäußert, unter anderem anlässlich seines Besuchs eines Krankenhauses in Kunduz, wo er einige Verletzte besucht hat. Nun kam Herr General Wieker im Oktober 2009 dazu. Ich vermute, dass dann auch über die kritische Haltung seines Vorgesetzten zu diesem deutschen Einsatz gesprochen wurde. Können Sie das bestätigen? In welcher Weise hat der deutsche General das dann an die deutsche Bundesregierung weitergegeben?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Herr Kollege Ströbele, Sie gestatten, dass ich das jetzt etwas bildhaft mache. ({0}) Die militärischen Verhaltensweisen gerade in internationalen Stäben zeichnen sich nicht dadurch aus, dass da einer kommt und sagt: „Hallo, ich bin der Neue. Sag einmal, was hast du eigentlich vor drei Wochen hier gesagt?“ - Das ist nicht üblich. Deswegen kann ich nur unterstreichen, dass das kein Thema war. Ich möchte das mit einem anderen Hinweis ergänzen. Der damalige Generalinspekteur, General Schneiderhan, hatte in dieser Funktion einige Tage nach dem 4. September 2009, nach dem Vorfall, eine Reise nach Afghanistan unternommen. Da war bereits das Joint Investigation Board unter der Leitung eines kanadischen Generals von General McChrystal eingesetzt. General Schneiderhan berichtete von einem zufälligen Zusammentreffen mit ihm auf dem Gang - offensichtlich haben sich da zwei Raucher getroffen - und einem deutlichen Hinweis von General McChrystal, man möge jede Kontaktaufnahme und jegliche Gespräche bitte unterlassen. Das war also sehr strikt. Ich denke - das ist eine Vermutung; das ist keine Kenntnis, die ich durch Befragung gewonnen habe -, dass sich auch General Wieker seinem Chef gegenüber entsprechend verhalten hat. An einer Stelle habe ich allerdings nicht vermutet, sondern befragt: Herr General Wieker hat zu diesem Thema keine Beiträge geliefert.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine zweite Zusatzfrage, Frau Präsidentin, wenn Sie gestatten. - Mir leuchtet Ihre Argumentation nicht ganz ein. Es handelte sich ja nicht um irgendeinen Stabswechsel, dass jemand dorthin kommt und Hallo sagt, wie Sie es gerade zu bagatellisieren versuchten, sondern es kommt ein deutscher General in einen Kommandostab. Der Chef dieses Kommandostabs hat vor ein paar Wochen einen deutschen Einsatz getadelt - das hat er vorher noch nie getan; jedenfalls ist das mir und der Öffentlichkeit nicht bekannt -, dass dieser nicht seinen Befehlen entsprochen habe, dass seine Befehle also missachtet worden seien. In dieser Situation kommt der neue deutsche General dorthin. Dass darüber nicht gesprochen worden ist, ist für mich schwer nachvollziehbar. Haben Sie das mit dem deutschen General erörtert?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Ich habe nicht mit ihm erörtert, ob das für Sie schwer nachvollziehbar ist oder nicht. Ich habe mit ihm erörtert, dass es so ist.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Frage 16 des Kollegen Fritz Rudolf Körper wird schriftlich beantwortet. Ich rufe damit die Frage 17 des Kollegen Andrej Hunko auf: Warum ist die Bundesregierung der Auffassung, dass für die von der Bundeskanzlerin zugesicherte „lückenlose Aufklärung“ des tragischen Luftangriffs zur Vernichtung soge1552 Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt nannter Aufständischer in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 in Kunduz weitere Ermittlungen durch das Kommando Führung Operationen von Spezialkräften notwendig sind, und, wenn nein, warum nicht?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Herr Hunko, Ihre Frage erschließt sich mir nicht ganz, weder von der Syntax noch von der Intention her. Darf ich fragen, auf welche wo geäußerte Auffassung der Bundesregierung Sie sich beziehen, damit ich weiß, was der Hintergrund ist?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege.

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es geht darum, ob Sie, was das Kommando Führung Operationen von Spezialkräften angeht, weitere Aufklärung für notwendig erachten oder nicht.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Vielen Dank, Herr Kollege. - Dann verstehe ich Sie so, dass Sie an mich die Frage richten, ob ich als Vertreter der Bundesregierung dieser Auffassung bin und ob die Bundesregierung insgesamt dieser Auffassung ist. Ich kann diese Frage klar beantworten. Der Luftangriff gegen die beiden entführten Tanklastzüge war keine Operation der Spezialkräfte, stand auch in keinerlei Zusammenhang mit der zum damaligen Zeitpunkt laufenden Operationsführung der bekannten Task Force 47. Nach den uns zwischenzeitlich vorliegenden Ergebnissen, Informationen und Bewertungen sind zum derzeitigen Stand der Untersuchung des Vorfalls keine weiteren Ermittlungen des Kommandos FOSK, der Führung von Operationen von Spezialkräften, erforderlich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege?

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. - Es ist bekannt, dass mindestens ein KSK-Soldat in der Task Force 47 war. Unter welcher Führung stand dieser Soldat? Unterstand er der Führung des Kommandos FOSK, oder war er in die Task Force 47 eingebunden?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Das Kommando Führung von Operationen von Spezialkräften war weder an der Vorbereitung noch an der Durchführung des Luftangriffs beteiligt und erhielt auch erst nach erfolgtem Luftangriff von dem Vorkommnis Kenntnis. Die Tatsache, dass ein Soldat aus dem Bereich der Task Force 47 stammt und dort angesiedelt ist, ist richtig. Das heißt aber nicht, dass die Task Force 47 gestaltenden Einfluss auf die Operation hatte. Die Operationsführung lag nicht bei der Task Force 47.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Können Sie dann sagen, wie viele KSK-Soldaten insgesamt in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 in Kunduz im Einsatz waren?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nicht ad hoc, welche Einsätze insgesamt im Bereich Kunduz stattgefunden haben. Wenn Sie auf die speziellen Fragen hinsichtlich des Angriffes auf die Tanklastfahrzeuge und die Bombardierung Bezug nehmen, dann gilt das, was ich gesagt habe: Die Task Force 47 ist nicht betroffen gewesen. Nach meiner Kenntnis war mindestens ein Soldat, der im Bereich der Task Force 47 tätig ist, mit vor Ort. Sollte ein weiterer da gewesen sein - was ebenfalls nicht dazu führt, dass die Task Force 47 operativ beteiligt war -, würde ich das noch sagen. Nach meiner gegenwärtigen Erinnerung war es aber nur ein Einziger. Die Operationsführung lag definitiv bei dem Kommandeur des PRT Kunduz, Oberst Klein.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich rufe die Frage 18 der Kollegin Inge Höger auf: Warum druckt das Bundessprachenamt, das zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung gehört, den 61-seitigen „Persisch-Sprachführer für die Bundeswehr“ - Nachdruck: Mai 2008 -, dessen Vokabular sich insbesondere auf den Iran bezieht und militärische Befehle beinhaltet?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Es geht - damit das jeder nachvollziehen kann - um die Übersetzung von militärischen Befehlen. Die persische Sprache ist eine Sprache, die auch in Afghanistan gesprochen wird. Daraus ergibt sich, dass es im Hinblick auf die Kommunikationsfähigkeit unserer Soldaten Sinn macht, ihnen eine Handreichung zu geben. In Ihrer Frage wird möglicherweise insinuiert - dieser Eindruck entsteht, da ja ein Artikel aus der Jungen Welt die Grundlage für Ihre Frage ist -, dieser Sprachführer sei eine Vorbereitung für was wann wie auch immer. In diesem Sprachführer ist eine Stadt erwähnt, das ist die Stadt Köln. Der Satz „Ich stamme aus Köln“ wird in die Sprache Dari übersetzt; ich kann das leider nicht vortragen. Wenn die Frau Präsidentin mir das gestattet, möchte ich mir erlauben, darauf hinzuweisen, dass in diesem Hohen Hause vor wenigen Stunden der Bundestagspräsident den israelischen Staatspräsidenten begrüßt hat und dabei auf die Bedrohungslage Israels hingewiesen und das Existenzrecht Israels bekräftigt hat. Der israelische Staatspräsident hat aus der Rede, die die Bundeskanzlerin vor dem amerikanischen Kongress gehalten hat, zitiert: Ein Angriff auf Israel kommt einem Angriff auf Deutschland gleich. Der missverständliche Eindruck, der aus Ihrer Frage heraus möglicherweise entsteht, ist in diesem Hause heute - Sie gestatten mir diese Bewertung - völlig fehl am Platze. Zum Inhalt habe ich weiter nichts zu sagen, weil die Frage jeglicher Substanz entbehrt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Höger.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich finde, dass ich als Parlamentarierin durchaus das Recht habe, zu fragen, warum die Bundesregierung einen Sprachführer mit militärischem Vokabular in iranischer Sprache druckt. ({0}) Ich habe jetzt eine Zusatzfrage. Das ist auch mein gutes Recht. Meine Zusatzfrage ist - ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat die Kollegin Höger.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In diesem Sprachführer kommt zum Beispiel der Satz vor: „Der Iran ist ein sehr schönes Land.“ Daher kann man schon den Eindruck haben, dass sich die Bundeswehr auf weitere Auslandseinsätze, zum Beispiel auch im Iran, vorbereitet. Ich hätte gern eine Antwort darauf, ob das so ist. ({0})

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Frau Kollegin Künast, ich bleibe gelassen. Bleiben Sie auch gelassen! Sie sind gar nicht gefragt; aber auch Sie waren heute dabei: Wir haben in diesem Hause über andere Dinge, über unsere Geschichte und über die Bedrohung, die durch den Iran entsteht, diskutiert. - Frau Höger, hier bleibe ich nicht gelassen und sage: Wenn der Satz „Der Iran ist ein sehr schönes Land“ im Sprachführer steht, dann soll das so sein. Was Sie darin lesen können oder nicht, bleibt Ihnen überlassen. Jedenfalls wird die Bundesregierung hierzu keine Stellung nehmen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich möchte gerade nichts hineininterpretieren. ({0}) Deshalb möchte ich diese Frage stellen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Frau Kollegin hat noch die Möglichkeit zur zweiten Zusatzfrage.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es waren weitere Formulierungen in diesem Sprachführer enthalten, zum Beispiel „Wir gehören zu den UNO-Peacekeeping-Kräften“, „Halt oder ich schieße!“, „Die Hände hoch!“ oder „Widerstand ist zwecklos!“ Warum will das Verteidigungsministerium Bundeswehrsoldaten diese Sätze auf Persisch beibringen?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Weil es in Afghanistan Leute gibt, die als erste Sprache Persisch sprechen. Das ist zwar nicht im Norden der Fall, aber Afghanistan ist ein großes Land. Wer einmal in Herat gewesen ist, der weiß durchaus, dass es dort eine große iranische Minderheit gibt. Das geht übrigens sogar so weit - das will ich bei dieser Gelegenheit sagen -, dass es dort ein durchaus positives iranisches Engagement in der praktischen Entwicklungszusammenarbeit gibt. Ich weiß von einem Projekt im Norden der Provinz Herat, das die deutsche Nichtregierungsorganisation Help betreut, bei dem es ein Investment vonseiten der iranischen Behörden gibt, in Form von Schulbauten. Allerdings muss die Kommunikation in diesen Schulen in persischer Sprache stattfinden. Ich möchte Sie - wenn ich das noch sagen darf - bei aller Gelassenheit und mit Respekt vor Ihrem Recht, Fragen zu stellen, bitten, zu reflektieren, ob man es nicht beim Komplex der Fragestellung und bei meinen Antworten bewenden lassen sollte. Man sollte tatsächlich nicht Dinge „hineingeheimnissen“, die nicht da sind. Wir können uns gemeinsam bei anderer Gelegenheit mit dem Autor der Jungen Welt und seinen kruden Vorstellungen auseinandersetzen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir kommen zur Frage 19 der Kollegin Sevim Dağdelen: Wie will die Bundesregierung verhindern, dass mit dem neuen Beschluss des Rates zur Änderung des Mandats der Atalanta-Mission vom 8. Dezember 2009 ({0}), der explizit die Verbindung und Zusammenarbeit mit der im Rahmen der Operation „Dauerhafte Freiheit“ agierenden Seestreitkraft Combined Task Force 150 vorsieht, über die Zusammenarbeit auch etwa Aufklärungsdaten an die USA und deren Verbündete, einschließlich der jemenitischen Streitkräfte, weitergegeben werden, die im Jemen mehrfach und in Zukunft absehbar verstärkt gezielte Tötungen durch bemannte und unbemannte Luftangriffe vornehmen?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Frau Kollegin, der neue Ratsbeschluss zur EUNAVFOR-Operation Atalanta sieht vor, die Koordination der vor der Küste Somalias in unterschiedlichen Operationen bezüglich der Pirateriebekämpfung auf See eingesetzten Einheiten weiter zu verbessern; er ist wichtig und gut. Weder im Rahmen der Operation „Dauerhafte Freiheit“ - häufig wird der englische Begriff „Enduring Freedom“ verwendet - noch bei der EU-Mission Atalanta haben die dort eingesetzten deutschen Einheiten die Aufgabe, Informationen über terroristische Netzwerke innerhalb des Jemen zu erfassen. Das Operationsgebiet ist auf die Seegebiete am Horn von Afrika begrenzt und schließt damit den Jemen nicht ein. Die Weitergabe von Informationen durch die Bundeswehr an Freunde und Partner ist durch Weisungen eindeutig geregelt. Die Weitergabe von Verschlusssachen durch die Bundeswehr an den Jemen kann grundsätzlich - ungeachtet der Tatsache, dass es in diesem Zusammenhang gar nicht geschieht - nicht erfolgen, weil es die dafür notwendige Vereinbarung, ein sogenanntes Geheimschutzabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Jemen, nicht gibt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, die Frage war ja eigentlich, wie sie das verhindern will. Dass das in dem Mandat normalerweise nicht enthalten ist, ist mir klar. Ich möchte gerne zu meiner Nachfrage kommen: Trifft es zu, dass der deutsche Beitrag zur Operation Enduring Freedom - „Dauerhafte Freiheit“ - und zu Atalanta unter anderem in der Bereitstellung eines Seefernaufklärers P3-C Orion liegt, der mit modernster Technologie für die weiträumige Aufklärung auch über Land ausgerüstet ist, und dass dabei, wie es durch verschiedene Berichte auf der Homepage der Bundeswehr nahegelegt wird, ein und dasselbe Flugzeug im selben Einsatzraum unter beiden Mandaten im Einsatz ist?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Die Bundeswehr beteiligt sich in der Tat im Rahmen der Operation „Dauerhafte Freiheit“, und sie hat für die entsprechenden Zeiträume - nach meiner Kenntnis beginnt das in diesem Jahr im März - ein Seefernaufklärungsflugzeug P3-C Orion in Dschibuti stationiert. Dieses Aufklärungsflugzeug wird für die Erfüllung der Aufgaben der Task Force 150 innerhalb der Operation Enduring Freedom - „Dauerhafte Freiheit“ - genutzt. Das bezieht sich ausschließlich auf das Seegebiet, ein Gebiet, in dem auch die Pirateriebekämpfung stattfindet. Man muss dazu wissen, dass die P3-C Orion ein Flugzeug ist, das im Gegensatz zu den AWACS keinen Radius von Hunderten von Kilometern abdecken kann, um irgendwo hineinzuschauen, sondern sehr präzise Bilder von einem relativ begrenzten Bereich des Seegebiets liefert. Das ist sinnvoll und notwendig, insbesondere, um festzustellen, ob beispielsweise Waffenschmuggel über See stattfindet, und um im Rahmen der Pirateriebekämpfung zu ermitteln, wie die Skiffs besetzt sind und ob die Piraten bewaffnet sind. Aus meiner farbigen Darstellung erkennen Sie, dass ich selbst in der P3-C Orion solches schon betrachtet und beobachtet habe. Ich kann ausschließen, dass die P3-C Orion über jemenitischem Staatsgebiet - ({0}) - Das war nicht die Frage?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, der Herr Staatssekretär antwortet noch.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Okay. - Es ging darum, ob es unter beiden Mandaten eingesetzt wird.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Ich kann ausschließen, dass der Seefernaufklärer im Rahmen der Operation „Dauerhafte Freiheit“ Nachrichten übermittelt und dass eine solche Nachrichtenübermittlung an jemenitische Behörden stattfindet. Entsprechende Informationen fallen auch nicht an, weil es aufgrund der Technik keine großflächigen Zufallsbeobachtungen gibt. Das ist also sichergestellt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Sie haben die Möglichkeit, noch eine weitere Zusatzfrage zu stellen. - Bitte.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin, ich darf feststellen, dass die Frage nicht klar und deutlich beantwortet worden ist. ({0}) Ich möchte meine zweite Nachfrage dazu nutzen, die Bundesregierung zu fragen: Sieht sich die Bundesregierung aufgrund dieser Zusammenarbeit und vor dem Hintergrund, dass General David Petraeus in einem Interview mit al-Arabiya angab, dass zumindest die USMarine im Golf von Aden auch damit beauftragt sei, Waffenlieferungen an die Huthi-Bewegung zu unterbinden, als Konfliktpartei in der innerjemenitischen Auseinandersetzung?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Frau Kollegin Dağdelen, ich bin gerne bereit, Ihre Frage zu beantworten und auch Ihre Rüge hinzunehmen, dass Ihnen meine Antwort nicht ausreichend erscheint. Sie gehen davon aus, dass die Task Force 150, die Sie in Ihrer Frage genannt haben, Informationen sammelt, die dem entsprechen, was Sie nach Ihren Schilderungen erwarten. Das ist im Auftrag der Operation „Dauerhafte Freiheit“ für die Task Force 150 nicht der Fall. Über die Fähigkeiten von Schiffen und Überwachungsgeräten, die von anderen Ländern beigestellt werden, kann ich nichts im Detail sagen. Das Einzige, was ich konkret angeben kann, ist das, was die P3-C Orion kann. Das kann ich für uns und für unsere Vereinbarungen sagen, die wir im Rahmen von OEF getroffen haben und an die wir uns halten. Was andere Länder gegebenenfalls bilateral machen, ist eine Angelegenheit dieser Länder, über die ich weder seriös berichten kann noch will, weil das über meinen Informationsstand hinausgeht. Allein bei der Pirateriebekämpfung befinden sich nach meiner Information gegenwärtig über 20 Länder zum Teil in nationalen Operationen in dem Gebiet, in dem sowohl die Task Force 150 als auch Atalanta tätig sind. Deswegen kann ich das nicht ausschließen. Aber ich meine, es gehört nicht zur Berichtspflicht der Bundesregierung, weil es uns auch an eigenen Informationen mangelt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Staatssekretär, vielen Dank. Damit haben wir den zeitlichen Rahmen der Fragestunde mehr als ausgeschöpft. Die restlichen noch offenen Fragen werden schriftlich beantwortet. Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. Januar 2010, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.