Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Heute gibt es bedauerlicherweise keine Geburtstage
zu erwähnen, sodass wir gleich in die Tagesordnung eintreten können und müssen. Das muss aber der guten
Laune nicht im Wege stehen.
Ich rufe unseren Zusatzpunkt 6 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch
Wettbewerbsfähigkeit
Ich weise darauf hin, dass es hierzu einen Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke gibt.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das ist offensichtlich einvernehmlich und damit so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Europa ist in einer Prägephase. Das Bild Europas in der Welt wird jetzt nachhaltig geprägt. Das Bild Europas bei den Bürgerinnen
und Bürgern in Europa wird jetzt nachhaltig geprägt,
aber auch das Bild Deutschlands in Europa wird jetzt für
viele Jahre nachhaltig geprägt.
Wir haben es mit einer Staatsschuldenkrise zu tun.
Die Schuldenstände einzelner Euro-Staaten sind zu
hoch. Die Finanzmärkte haben infrage gestellt, ob diese
Schuldenberge jemals wieder abgetragen werden können. Aus der Staatsschuldenkrise ist somit eine Vertrauenskrise geworden. Um Vertrauen zurückzugewinnen,
müssen wir überzeugend darlegen, dass der Euro-Raum
künftig ein Ort dauerhafter finanzieller Stabilität sein
wird. Dazu haben wir die richtigen Weichen gestellt. Der
Stabilitäts- und Wachstumspakt bekommt neue Autorität. Verstöße gegen den Stabilitätspakt werden in Zukunft früh und wirkungsvoll sanktioniert. Die Bundesregierung aus dem Jahre 2004 hat den Stabilitätspakt
aufgeweicht. Diese Bundesregierung wird die Fehler
von damals nicht wiederholen.
({0})
Wir wollen raus aus der Schuldenpolitik hier bei uns
in Deutschland, auch in den Bundesländern,
({1})
in Europa, weil wir der Überzeugung sind, dass das Anwerfen von Notenpressen, das Drucken von Geld keine
Antwort sein kann. Das führt zur Geldentwertung. Das
führte zur Inflation. Die Stabilität unseres Geldes ist ein
Kernanliegen der Bundesregierung. Es ist auch eine soziale Herausforderung. Denn unter Inflation leiden die
Ärmsten am allermeisten.
({2})
Mit dem Fiskalpakt verpflichten sich die Regierungen
in ganz Europa, nationale Schuldenbremsen einzuführen. Der Fiskalpakt trägt die Unterschrift von 25 Staatsund Regierungschefs. Drei Mitgliedstaaten haben den
Fiskalpakt bereits ratifiziert, nämlich Portugal, Slowenien und auch Griechenland. Irland führt am 31. Mai ein
Referendum zum Fiskalpakt durch. In anderen Mitgliedstaaten ist das parlamentarische Verfahren eingeleitet.
Ich will es noch einmal mit großer Deutlichkeit sagen: Der Fiskalpakt ist beschlossen, und er gilt.
({3})
Das Ende der Schuldenpolitik in Europa ist vereinbart.
Dabei bleibt es. Vereinbarungen zwischen Staaten werden durch Wahlen nicht ungültig.
Deutschland hat für diesen Kurs unermüdlich geworben und hart verhandelt: der Finanzminister, ich selbst
als Außenminister, aber vor allem an der Spitze die Bundeskanzlerin. In Europa und international setzt sich
Deutschland für ein Ende der Politik des Schuldenmachens ein. Es untergräbt die Glaubwürdigkeit unseres
Landes, wenn einzelne Bundesländer in Deutschland
ihre Schuldenpolitik trotzdem weiter fortsetzen wollen.
({4})
Die Ursache der Krise waren zu hohe Staatsschulden.
Die Folge waren verantwortungslose Spekulationen. Gegen beides brauchen wir neue Regeln.
Zu den richtigen Lehren aus der Krise gehört auch die
bessere Regulierung der Finanzmärkte. Die Bundesregierung hat ungedeckte Leerverkäufe bereits im Mai
2010 dauerhaft verboten. Wir sorgen für einen stabileren
Bankensektor. Wir haben strengere Eigenkapitalvorschriften eingeführt. Mit der Bankenabgabe haben wir
Risiko und Haftung wieder zusammengebracht.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, die erste Säule unserer Politik ist der Fiskalpakt für
weniger Schulden; die zweite Säule unserer Politik ist
Wachstum durch mehr Wettbewerbsfähigkeit. Zu einer
wachstumsorientierten Politik muss diese Bundesregierung niemand überreden. Wachstum ist ein Kernanliegen
der christlich-liberalen Koalition.
({5})
Ohne Schuldenabbau kein Vertrauen. Ohne Vertrauen
keine Investitionen. Ohne Investitionen kein Wachstum.
Ohne Wachstum keine Arbeitsplätze. Ohne Arbeitsplätze keine neuen Staatseinnahmen. Haushaltsdisziplin
und Wachstum sind deshalb zwei Seiten derselben Medaille.
({6})
Die Bundesregierung hat sich seit Beginn der Staatsschuldenkrise neben der notwendigen Haushaltskonsolidierung konsequent für mehr Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit in Europa eingesetzt. Bereits vor zwei
Jahren wurde die neue Strategie für Beschäftigung und
Wachstum „Europa 2020“ beschlossen. Seither haben
sich alle - alle! - Europäischen Räte wie auch zahlreiche
Allgemeine Räte und Fachräte mit den Themen Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung befasst,
übrigens immer wieder auch auf deutsch-französische
Initiative.
({7})
Auch der letzte Europäische Rat im März dieses Jahres betonte die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung wie auch die Notwendigkeit der Förderung von
Wachstum, von Wettbewerbsfähigkeit und natürlich
auch von Beschäftigung. Wie schon beim informellen
Sonderrat am 23. Mai - die Bundeskanzlerin hat gestern
in ihrer Regierungserklärung darauf hingewiesen - steht
auch beim Europäischen Rat im Juni das Thema Wachstum erneut auf der Tagesordnung.
Manche haben uns in den letzten Monaten und in den
letzten beiden Jahren empfohlen, wir hätten von Anfang
an einen anderen Weg einschlagen sollen, der im Wesentlichen in folgender Weise zusammengefasst ist: Von
Anfang an hätte Deutschland, hätte die Bundesregierung
einen großen Batzen Geld ins Schaufenster legen sollen
zur Stabilisierung und zur Abschreckung der Spekulation der Finanzmärkte. - Hätten wir als Bundesregierung
zu Beginn der Krise gleich den von der Opposition geforderten Blankoscheck der Solidarität ausgestellt: Wir
hätten in den Verhandlungen keine einzige der Gegenleistungen für Stabilität durchsetzen können.
({8})
Es war richtig, dass Leistung und Gegenleistung von uns
stets zusammen gesehen wurden.
Wachstum kann man nicht mit Schulden kaufen.
Wettbewerbsfähigkeit ist der Schlüssel für mehr Wachstum. Wettbewerbsfähigkeit erlangt man durch Strukturreformen; darauf weist der Wirtschaftsminister zu Recht
hin.
({9})
Gut zehn Jahre ist es her, da galt Deutschland als der
kranke Mann Europas. Heute ist Deutschland wieder die
Wachstumslokomotive in Europa.
({10})
Heute ist Deutschland wieder global wettbewerbsfähig.
Die Arbeitslosigkeit sinkt; vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa.
Das ist der Lohn der Mühe unserer Bürgerinnen und
Bürger. Das ist das Ergebnis von verantwortungsvollem
Handeln der Tarifparteien. Es ist auch das Ergebnis der
neuen politischen Rahmenbedingungen durch die christlich-liberale Koalition.
({11})
Ich füge ausdrücklich hinzu: Auch die Agenda 2010 hat
die Grundlagen dafür gelegt, dass wir heute so gut dastehen. Deswegen ist es gänzlich unverständlich, dass Sie
sich davon wieder abseilen wollen.
({12})
Wir wissen um den schweren Weg, den viele Menschen in Europa derzeit gehen müssen. Dafür empfinden
wir großen Respekt und höchste Anerkennung. Die
Menschen, die derzeit in vielen Ländern Europas in einer sehr schwierigen Lage sind, können persönlich
nichts dafür, dass Reformen in ihren Ländern in den letzten Jahren unterlassen worden sind. Deswegen rate ich
uns allen, nicht mit Hochnäsigkeit auf die Lage in diesen
Ländern zu reagieren, sondern Verständnis dafür zu haben, was diese Menschen durchmachen. Diesen Rat
richte ich nicht nur an eine Seite, sondern an alle, die darüber diskutieren. Gerade weil wir derzeit wirtschaftlich
so stark sind, müssen wir in den europäischen Diskussionen eine besondere Sensibilität zeigen.
({13})
Angesichts einer zum Teil stark schrumpfenden Wirtschaft, angesichts hoher Arbeitslosigkeit, angesichts einer vor allem erschreckend hohen Jugendarbeitslosigkeit
sind die jetzt angepackten Reformen die einzige nachhaltige Chance. Nur so können wir die wirtschaftliche
und soziale Lage in den jeweiligen Mitgliedstaaten und
überall in Europa zum Guten wenden.
Ein Wort zu Griechenland: Wir stehen zu unseren
Hilfszusagen. Das bedeutet aber auch, dass die vereinbarten Reformen in Griechenland umgesetzt werden.
Wir wollen die Euro-Zone zusammenhalten. Die Zukunft Griechenlands in der Euro-Zone liegt nun in den
Händen Griechenlands. Wir wollen und werden Griechenland helfen. Griechenland muss sich aber auch helfen lassen wollen. Wenn der verbindlich vereinbarte Reformweg verlassen werden sollte, dann ist die
Auszahlung weiterer Hilfstranchen nicht mehr möglich.
Solidarität ist keine Einbahnstraße. Solidarität funktioniert nicht ohne Solidität. Was vereinbart ist, muss gelten.
({14})
Das ist die Haltung der Bundesregierung, meine Damen
und Herren Abgeordnete. Das ist die Haltung unserer europäischen Partner. Das ist übrigens auch die Haltung
des Präsidenten der Europäischen Kommission, und das
ist die Haltung des Präsidenten des Europäischen Parlaments.
Für neues Wachstum liegt die Verantwortung zuerst
und vor allem bei den Mitgliedstaaten. Durch nationale
Strukturreformen müssen die Mitgliedstaaten die Wettbewerbsfähigkeit wieder herstellen, die für neues
Wachstum zwingend ist. Hierzu gehört es beispielsweise, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu
machen. Dazu zählt, die Arbeitsmärkte gerade für junge
Menschen stärker zu öffnen und Schwarzarbeit abzubauen.
({15})
Dazu bedarf es eines klaren Bekenntnisses zur Förderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung. Auch
auf europäischer Ebene wollen wir noch stärker auf
Wachstum setzen. Ein europäischer Wachstumspakt
muss folgende sechs Punkte beinhalten:
Erstens. Die Europäische Union darf nicht mehr ausgeben als bisher. Sie muss aber ihre Mittel besser einsetzen als bisher.
({16})
Geld ist durchaus vorhanden. Der Zukunftshaushalt
der Europäischen Union für die Jahre 2014 bis 2020
sieht ein Volumen von über 1 Billion Euro vor. Aus diesem Haushaltsplan muss der politische Anspruch der Europäischen Union ablesbar sein, Zukunft zu gestalten
und nicht nur Vergangenheit zu verwalten. Wir brauchen
bei der Verwendung dieser Mittel ein neues Denken. Es
darf nicht mehr darum gehen, einfach möglichst viel
Geld für die eigenen nationalen Steckenpferde zurückzuholen. Das führt am Ende zu Fehlentwicklungen wie europäisch geförderte Wellnessoasen in Romantikhotels.
Wir alle kennen solche Beispiele, übrigens auch aus unserem eigenen Land.
Strukturmittel, die die Europäische Union ausgibt,
müssen zu mehr Wachstum und zu mehr Wettbewerbsfähigkeit in Europa beitragen. Das sind wir nicht nur denen schuldig, die auf unsere Solidarität angewiesen sind,
sondern das schulden wir allen europäischen Steuerzahlern. Die Bundesregierung hat in die laufenden Haushaltsverhandlungen in Brüssel einen Aktionsplan zum
Better Spending eingebracht. Gleichzeitig wollen wir,
dass die Ausgaben stärker überwacht und an messbare
Kriterien geknüpft werden. Mit dem Geld der europäischen Steuerzahler wollen wir gute Ergebnisse befördern
statt Förderquoten zu erfüllen.
({17})
Zweitens. Aus den Struktur- und Kohäsionsfonds der
laufenden Haushaltsperiode stehen noch knapp 80 Milliarden Euro zur Verfügung, die bis heute noch keinen
konkreten Projekten zugeordnet sind. Wir wollen, dass
die Europäische Kommission diese Mittel nutzt und gemeinsam mit den Mitgliedstaaten jetzt schneller und wirkungsvoller in neues Wachstum durch bessere Wettbewerbsfähigkeit investiert.
Drittens. Weil der Bankensektor unter der Last fauler
Kredite leidet, klagen viele Unternehmen in Europa über
eine Kreditklemme. Mit der Europäischen Investitionsbank verfügen wir über ein Instrument, das wir stärker
und gezielter nutzen sollten. Wir wollen den Zugang gerade kleinerer und mittelständischer Unternehmen zu
Krediten verbessern und die Expertise der Europäischen
Investitionsbank besser nutzen.
({18})
Viertens. Europas Straßen und Schienen, unsere Energie- und Telekommunikationsnetze gehören zu den
großen Trümpfen der europäischen Wirtschaft. Sie zu erhalten und zu verbessern, eröffnet neue Wachstumsperspektiven. Für den grenzüberschreitenden Ausbau der
europäischen Infrastruktur muss mehr privates Kapital
mobilisiert werden. Wir müssen hier auch innovative
Wege im Bereich Public-Private-Partnership ausloten.
Fünftens. Schon einmal wurden in den 80er- und
90er-Jahren durch die Verwirklichung der sogenannten
vier Freiheiten im europäischen Binnenmarkt enorme
Wachstumskräfte freigesetzt. Heute bietet die Ausdehnung des Binnenmarktes auf neue Felder erneut große
Chancen. Das gilt für die digitalisierte Wirtschaft und
den Internethandel. Das betrifft den Energiesektor, wo
mehr Wettbewerb zu niedrigeren Preisen und größerer
Versorgungssicherheit für die Verbraucher führen wird,
und das zielt auf die Stärkung von kleinen und mittleren
Unternehmen durch den Abbau von Bürokratie, durch
besseren Zugang zu Risikokapital und eine Modernisierung des europäischen Vergaberechts.
Sechstens. Wir wollen den Freihandel stärken. Drei
Viertel der Weltwirtschaft liegt außerhalb der Europäischen Union. Mehr als 80 Prozent des weltweiten Wachstums werden mittlerweile außerhalb der Europäischen
Union erwirtschaftet, vor allem in Asien sowie in Nordund Südamerika. Solange ein Abschluss der Doha-Runde
für ein weltweites Freihandelssystem nicht erreichbar ist,
muss die Europäische Union daran arbeiten, weitere Freihandelsabkommen mit den alten und neuen Kraftzentren
der Welt abzuschließen.
Die Verhandlungen mit Kanada und Indien wollen
wir zügig zum Abschluss bringen. Mit Singapur und
Malaysia sind die Verhandlungen auf gutem Wege. Auf
dem EU-Asien-Außenministertreffen vor wenigen Tagen hat sich gezeigt, dass in der gesamten Region großes
Interesse an Abkommen mit der Europäischen Union besteht. Die Vorgespräche für die Aufnahme von Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Japan stehen kurz vor ihrem Abschluss.
Gegenüber Partnern wie den Golfstaaten und Brasilien werben wir dafür, den Verhandlungen neue Impulse
zu geben. Mit den USA gibt es Vorgespräche und bereits
erhebliche Vorarbeiten. Wir sind bereit zu einem umfassenden Abkommen mit unseren engsten Verbündeten,
den Vereinigten Staaten von Amerika.
Diese sechs Punkte für mehr Wachstum in Europa
zeigen, dass man Wachstum schaffen kann, ohne neue
Schulden zu machen.
({19})
Der Kurs der Bundesregierung bei der Bewältigung
der Krise ist klar.
({20})
Wir sind der Überzeugung: Europa ist nicht das Problem, sondern es ist Teil der Lösung des Problems. Es
reicht nicht, aus der Krise nur finanz- und wirtschaftspolitische Konsequenzen zu ziehen, so wichtig die natürlich sind. Wir müssen strukturelle Antworten geben. Die
Europäische Union muss handlungsfähiger und effizienter werden. Auch das ist eine Lehre aus der Krise.
Wir haben eine Zukunftsgruppe ins Leben gerufen,
({21})
in der wir institutionelle Verbesserungen diskutieren, die
auch unterhalb von Vertragsänderungen umgesetzt werden können. Wir werden alle europäischen Mitgliedsländer und natürlich auch die europäischen Institutionen,
insbesondere das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, in diese Diskussion einbeziehen.
Mit dem Präsidenten des Europäischen Parlamentes
habe ich dazu in dieser Woche hier in Berlin Gespräche
geführt.
({22})
Die große historische Frage ist, ob die Fliehkräfte, die
in der Krise auf Europa wirken, größer sind als die politische Kraft des Zusammenhalts. Es gibt Renationalisierungstendenzen, die mich besorgen. Die Reisefreiheit
gehört für mich zu den kostbarsten europäischen Errungenschaften. Sie zu bewahren und zu verteidigen ist ein
Kernanliegen der Bundesregierung. Wer anfängt, Europa
stückweise aufzugeben, der wird es am Ende ganz verlieren.
({23})
Die Welt verändert sich, und die Architektur der Welt
verändert sich, weil die Gewichte sich verschieben.
Deutschland ist in Europa relativ groß, in der Welt ist
Deutschland relativ klein. Wir brauchen unsere europäischen Partner. Gefragt ist der ökonomische, politische
und kulturelle Selbstbehauptungswille von uns Europäern. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Deshalb
schweigen wir nicht, wenn in unmittelbarer Nachbarschaft auf unserem europäischen Kontinent gemeinsame
Werte verletzt werden. Wir stehen an der Seite der Unterdrückten in Weißrussland, übrigens auch dann, wenn
dies nicht jeden Tag Gegenstand medialer Betrachtung
ist. Das ist Europa, und das, was in Weißrussland stattfindet, ist eine Schande für Europa.
({24})
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind Grundpfeiler
unserer europäischen Werteordnung. Ohne sie, ohne Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, kann es keine weitere
Annäherung an die Europäische Union geben. Das gilt
auch für die Ukraine.
Es gibt ein europäisches Lebensmodell, auf das wir
stolz sein können. Dazu gehört, dass Freiheit und Sicherheit in Balance gehalten werden, dass der Einzelne etwas
zählt und nicht nur das Kollektiv, dass wir nicht nur materielle, sondern auch postmaterielle Werte schätzen,
nämlich individuelle Freiheit, soziale Sicherheit,
({25})
Freiheit von Angst, kulturelle Vielfalt und eine lebenswerte Umwelt. In der Globalisierung müssen wir dieses
Lebensmodell gemeinsam verteidigen. Wir wollen, dass
sich Europa als Kulturgemeinschaft behauptet.
Die deutsch-französische Freundschaft ist für den Erfolg Europas unverzichtbar. Wir gratulieren dem neu gewählten französischen Präsidenten François Hollande.
({26})
Wir werden bewährt und eng mit der neuen französischen Regierung zusammenarbeiten und gemeinsam mit
unseren europäischen Partnern die Lösung der Probleme
anpacken. Ich denke - das hat der Beifall gezeigt -, wir
gratulieren alle gemeinsam dem neu gewählten, dem demokratisch gewählten französischen Präsidenten.
({27})
Ich bin gespannt auf das Folgende. Wir danken dem
scheidenden Präsidenten Frankreichs, Nicolas Sarkozy,
für die freundschaftliche Zusammenarbeit der letzten
Jahre. Erlauben Sie mir, dass ich in diesen Dank auch
Außenminister Alain Juppé und die anderen Kabinettskollegen einschließe.
({28})
- An dieser Stelle, Genossen, fehlt der Beifall.
({29})
Ich will es Ihnen ganz offen sagen: Ich finde, dass die
deutsch-französische Freundschaft von nationalen parteipolitischen Präferenzen völlig unabhängig ist.
({30})
Wir kämpfen für Europa - mit Pragmatismus und
Weitsicht, mit Verstand und Herz. Unser Auftrag ist das,
was bereits in der Präambel des Grundgesetzes festgelegt wurde. An diese Präambel des Grundgesetzes, die
uns alle verpflichtet, möchte ich erinnern: „… in einem
vereinten Europa“ - so heißt es dort - „dem Frieden der
Welt zu dienen“. Europa ist die Antwort auf das dunkelste Kapitel unserer Geschichte. Europa ist eine Antwort des Friedens auf Jahrhunderte der Kriege. Noch
mehr aber ist Europa unsere Zukunft. Europa ist unser
Schicksal, und Europa ist auch unsere Leidenschaft.
Deshalb arbeiten wir alle gemeinsam dafür, dass Europa
diese Bewährungsprobe besteht. Wir wissen, was wir an
Europa haben. Deshalb wollen wir, dass Europa diese
Lage meistert.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({31})
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Westerwelle! Als Sie vor einigen
Tagen für heute eine Regierungserklärung zum Thema
„Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit“ angemeldet haben, hatte ich gewisse
Hoffnungen. Ich wollte eigentlich sagen: Willkommen
in einer Debatte über Europa, an der Sie zwei, drei Jahre
nicht teilgenommen haben. Herzlich willkommen in einer Debatte über Wachstum, zu der Sie in den letzten
Wochen und Monaten nichts beigetragen haben. - Und
jetzt höre ich 26 Minuten lang nichts anderes als heiße
Luft und Stanzen. Der Verdruss über Europa hat auch
mit dieser Art von Reden zu tun, die Sie hier liefern.
({0})
Es war kein einziger neuer Gedanke und kein konkreter
Vorschlag zu hören, sondern lediglich das Mantra von
Guido Westerwelle zwei Tage vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl. Das ist der Grund für Ihre Regierungserklärung. Das ist aber keine Regierungserklärung
von Guido Westerwelle. Das hätte eine Regierungserklärung der Bundesregierung sein sollen, die in diesem
Punkt sträflich versagt.
({1})
Lassen Sie uns einmal Klartext reden, Herr
Westerwelle, über das, was Sie in den letzten zwei, drei
Jahren unterlassen haben: Ihr Zögern und Zaudern, auch
die Feigheit der Bundeskanzlerin, den Menschen die
Wahrheit über das Ausmaß der Krise zu sagen, und die
Unfähigkeit, Wachstumsinitiativen auf den Weg zu bringen, sowie der Glaube daran, dass man allein mit Hilfskrediten und kurzfristigen fiskalischen Auflagen Europa
aus der Krise führen kann - dieser Weg ist es, der
Europa im Moment noch tiefer in die Krise führt, anstatt
Europa herauszuführen.
({2})
Wenn Sie uns nicht glauben, Herr Westerwelle, dann
hören Sie wenigstens auf das, was Ihnen inzwischen die
ganze Welt ins Stammbuch schreibt. Hören Sie auf
Christine Lagarde, die Chefin des IWF. Hören Sie auf
Bill Clinton, der sich zu diesem Thema geäußert hat. Hören Sie auf den Nobelpreisträger für Ökonomie, Paul
Krugman, der Ihnen das ins Stammbuch geschrieben hat.
Ja, Strukturreformen sind notwendig. Das ist gar keine
Frage. Davon haben wir übrigens ein bisschen mehr Ahnung als diese Regierung; das will ich klar sagen.
({3})
Ich sage Ihnen einmal etwas, Herr Brüderle: Dampfplauderreden, wie Sie sie hier halten, kann jeder. Wir
hingegen haben uns darangemacht, schwierige und mutige Entscheidungen zu treffen, und das hat Deutschland
gedient. Das waren wir und nicht Sie.
({4})
Jetzt will ich Ihnen etwas zu dem Popanz sagen, den
Sie hier aufbauen: Es ist doch überhaupt gar keine Frage,
dass Länder, die Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeit
haben, auch langfristig wirkende Strukturreformen brauchen. Das bezweifelt niemand. Es ist auch keine Frage,
dass Europa Haushaltsdisziplin braucht. Die Staaten
müssen unabhängiger werden von den Launen der
Hubertus Heil ({5})
Finanzmärkte und ihrer Finanzierung. Ganz klar ist aber
auch: Ohne Wachstumsperspektiven und wirtschaftliche
Dynamik gelingt es nicht, die Haushalte zu konsolidieren, und Wachstum braucht Investitionen, Herr
Westerwelle. Das ist in dieser Situation wichtig, aber das
haben Sie nicht begriffen.
({6})
- Private und öffentliche Investitionen; das sage ich Ihnen. - Das haben Sie nicht begriffen. Private Investitionen fallen nicht vom Himmel, zumal nicht in dieser Situation. Dafür braucht man mutige Politik und mutige
Initiativen. Ich will Ihnen dazu gleich ein paar Vorschläge machen.
({7})
Niemand bezweifelt - das sage ich noch einmal -,
dass wir von der Staatsverschuldung in Europa heruntermüssen. Aber schon die Krisenanalyse, die Sie hier zimmern, stimmt so nicht.
({8})
Ja, es gab Staaten, die fiskalisch weit über ihre Verhältnisse gelebt haben. Das ist Politikversagen. Aber es gab
auch Staaten wie Irland und Spanien, wo es kein Politikversagen oder Haushaltsversagen gab, das zu einem Defizit führte. In Irland ist eine Finanzblase geplatzt, in
Spanien eine Immobilienblase. Dann musste der Staat
ins Obligo gehen und Banken retten. Das ist der Grund,
warum diese Länder im Defizit sind. Dort hat nicht Politik versagt, sondern die Finanzkrise hat diese Länder in
Schieflage gebracht. Das verschweigen Sie, weil es nicht
in Ihr Weltbild passt.
({9})
Vor Jahren haben Sie uns Irland noch als leuchtendes
Beispiel genannt. Der keltische Tiger, die Zukunft der
tollen Finanzmarktdienstleistungen, der Abschied von
der Industrie - das war jahrelang das Mantra von Guido
Westerwelle in diesem Parlament. Wohin das führt, können wir gerade in Irland beobachten.
({10})
Darüber müssen wir einmal reden. Herr Westerwelle,
wir haben Ihre fünf oder sechs Punkte mit großer Aufmerksamkeit verfolgt,
({11})
und wir haben festgestellt, dass Sie im Rahmen dessen,
was man sich mit Copy and Paste an Überschriften aus
europäischen Papieren ziehen kann, einen großartigen
Redenschreiber haben.
({12})
Lassen Sie uns jetzt über fünf konkrete Vorschläge reden. Ich willen wissen, wie sich diese Bundesregierung
dazu verhält.
Erstens. Um öffentliche und private Investitionen zu
bündeln, um Investitionsimpulse für Wachstum in
Europa zu generieren, schlagen wir Ihnen die Gründung
eines Investitions- und Aufbaufonds vor, gespeist aus
den Mitteln der europäischen Strukturhilfen - die da
sind -, aus einer Umsteuerung bei der Strukturförderung
im Agrarsektor, die in den Krisenländern zum Teil vollkommen falsch geleitet war - warum Sie dazu keinen
Satz sagen, weiß ich nicht -, und dem Aufkommen einer
Finanztransaktionsteuer; das Wort fehlt bei Ihnen.
({13})
Wir wollen nicht neue Schulden machen. Wir brauchen die Besteuerung der Finanzmärkte, um Wachstumsimpulse zu bekommen. Herr Westerwelle, da sind Sie
der Bremser in Europa. Dass Frau Merkel hilflos in
Europa herumstrauchelt und sagt: „Privat bin auch ich irgendwie für eine Finanztransaktionsteuer, aber ich
schaffe es nicht einmal, das in meiner eigenen Koalition
durchzusetzen“, das zeigt, dass das Chaos von SchwarzGelb zum Problem für Europa geworden ist.
({14})
Also: Sind Sie für einen solchen Investitions- und Aufbaufonds, ja oder nein?
Zweitens. Sind Sie für die Beteiligung des Finanzsektors? Sagen Sie doch einmal einen Satz dazu, was
diese Bundesregierung auf dem nächsten europäischen
Gipfel in Sachen Finanztransaktionsteuer auf den Weg
bringen will. Die Chance ist jetzt nach der Wahl in
Frankreich noch größer. Es gibt immer mehr Verbündete.
Die Einzigen, die es nicht begriffen haben, sind die Menschen, die der FDP angehören.
Drittens. Sie haben erfreulicherweise - vielleicht hat
Herr Hoyer, der neue Chef der Europäischen Investitionsbank, Ihrem Redenschreiber das zugearbeitet - die
Europäische Investitionsbank als ein wesentliches Instrument genannt, um private und öffentliche Investitionen zu mobilisieren - vollkommen d'accord -, aber Sie
haben keine Idee, wie Sie die Europäische Investitionsbank als Instrument in dieser Situation stärken können,
um öffentliche und private Investitionen miteinander zu
verbinden. Herr Westerwelle, sind Sie bereit, den Menschen in Deutschland offen zu sagen, dass das nicht geht,
wenn man nicht die Möglichkeiten der Europäischen Investitionsbank, zum Beispiel durch die Erhöhung des
Stammkapitals der Mitgliedstaaten, ausbaut?
Viertens. Sie haben sehr nebelig davon gesprochen,
dass man auch innovative Möglichkeiten der Public-PriHubertus Heil ({15})
vate-Partnerships zur Finanzierung von Infrastruktur
nutzen soll. Was meinen Sie eigentlich damit? Meinen
Sie das Instrument der Projektanleihen? Das ist ein gutes
Instrument. Meinen Sie die Möglichkeit, dass wir öffentliches und privates Kapital in die Netze investieren, in
die Telekommunikationsnetze, in Energienetze und in
Verkehrswege? Dann sagen Sie das. Aber Sie haben
doch Projektbonds schon fast wieder ausgeschlossen.
Sie sagen den Menschen nicht, dass wir das brauchen,
um diese Investitionen in diesem Land tatsächlich zu hebeln.
({16})
Nein, Sie sind jemand, der morgen schon wieder fressen
muss, was er gestern ausgeschlossen hat.
Ich sage ihnen - fünftens - auch: Mich hat richtig enttäuscht,
({17})
dass Sie neben den Weihrauchreden über Europa mit den
gestanzten Formeln, die in Europa keiner mehr hören
kann und die das Vertrauen untergraben, nicht einen Satz
zur Jugendarbeitslosigkeit in den Defizitländern gesagt
haben. Sie sprechen von Herz und Leidenschaft. Ihnen
fehlt aber jegliche Empathie mit den jungen Menschen
im Süden Europas, die keine Perspektive haben.
({18})
Ihnen fehlt jede Idee für ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das wir fordern.
Wenn in Spanien jeder dritte junge Mensch arbeitslos ist,
wenn die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland bei fast
50 Prozent liegt, dann kann man nicht dabei zugucken,
dass eine ganze verlorene Generation perspektivlos ist.
({19})
Dann brauchen wir auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen. Dass Sie dazu
konkrete Vorschläge machen, hätten wir erwartet.
({20})
Unter Strukturreformen, Herr Westerwelle, verstehen
Sie höchstens die Deregulierung des Taxigewerbes in
Griechenland. Das hat mit wirtschaftspolitischem Sachverstand nichts zu tun. Ich sage Ihnen: Der fehlende Mut
dieser Regierung, der fehlende Mut von Angela Merkel
und Guido Westerwelle,
({21})
hat Europa schon Schaden zugefügt.
({22})
Die Realität wird aber in diesem Sommer über Sie hinweggehen. Dessen bin ich mir sicher.
Herzlichen Dank.
({23})
Gunther Krichbaum erhält nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Heil, ich habe Ihnen sehr
aufmerksam zugehört.
({0})
Eines ist sicher: Mit Ihnen hätten wir den Weg aus der
Krise nicht geschafft, und mit Ihnen würden wir den
Weg aus der Krise nicht schaffen.
({1})
Vor zwei Tagen jährte sich die Schuman-Erklärung.
Robert Schuman, damaliger französischer Außenminister, unterbreitete Deutschland einen revolutionären Vorschlag: Nach einem entsetzlichen Krieg, von Deutschland verursacht, sollten Kohle und Stahl für die Zukunft
unter eine gemeinsame Verantwortung gestellt werden,
Rohstoffe, die leider auch für die Rüstungsindustrie
maßgeblich waren und die deswegen auch mit die Ursache für viele Kriege waren. Dies war die Geburtsstunde
der europäischen Integration. Sozusagen im Zeitraffer
dargestellt: Es folgten 1957 mit den Römischen Verträgen die Gründung der Europäischen Gemeinschaft und
mit dem Vertrag von Maastricht 1992 die Gründung der
Europäischen Union.
Aus den Jahrzehnten der Zusammenarbeit erwuchsen
Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie,
Wohlstand und auch sozialer Fortschritt, wie Sie, Herr
Außenminister Westerwelle, es vorhin richtig benannt
haben. Der Wechsel von EG zu EU bedeutete sicherlich
mehr als nur den Austausch eines Buchstabens. Mit der
Verwirklichung einer Union war auch der Anspruch verbunden, Probleme in Zukunft politisch lösen zu wollen.
Dies war ein politischer Anspruch. So ist es auch jetzt
ein politischer Anspruch, auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren und diese Krise bewältigen zu wollen.
Ich glaube, an dieser Stelle dürfen wir die Ursachen
dieser Krise nicht ausblenden. Die Ursachen lagen darin,
dass viele Staaten auf der Welt über ihre Verhältnisse gelebt haben
({2})
und dass die Ausgaben weit über den Einnahmen lagen.
Die Pleite einer Bank namens Lehman Brothers veränderte, ausgehend von den Vereinigten Staaten von Amerika, die Welt und auch Europa. Das, was lange Zeit als
ein Axiom galt, dass nämlich europäische Staaten ihren
Rückzahlungsverpflichtungen nachkommen können, geriet plötzlich in Zweifel. Mit den Zweifeln schwand das
Vertrauen. Mit dem schwindenden Vertrauen stiegen die
Zinsen. Wir müssen genau dort ansetzen, wo die Ursachen dieser Krise liegen: bei einer überbordenden Verschuldungspolitik.
Der erste Schritt ist, dass die Haushalte innerhalb der
Europäischen Union konsolidiert werden und die Staaten
ihrerseits Strukturreformen durchführen müssen, weil
wir sonst gar keine Möglichkeit haben, mit Hilfe anzusetzen.
({3})
Sie haben es richtigerweise gesagt, Herr Außenminister:
Erst einmal müssen sich die betreffenden Staaten selbst
helfen. Da wir oftmals allgemein von Strukturreformen
sprechen, sei dies an nur zwei Beispielen etwas konkretisiert.
Beispiel Nummer eins: Spanien. Ja, es ist richtig: Die
Jugendarbeitslosigkeit ist hier viel zu hoch. Ich muss Ihnen aber sagen, dass gerade auf dem spanischen Arbeitsmarkt abstrus hohe Abfindungsregelungen existieren,
die mittelständische und kleine Betriebe davon abhalten
- auch bei Auftragslagen, die das eigentlich rechtfertigen würden -, Mitarbeiter einzustellen. Genau daran
liegt es, dass der Arbeitsmarkt mit der Auftragslage der
Firmen nicht zusammengebracht werden kann.
Beispiel Nummer zwei: Griechenland. Die Außenstände des griechischen Staates bei den Steuerforderungen liegen bei einer Größenordnung von 60 Milliarden
Euro. Das ist deutlich mehr, als wir im ersten Griechenland-Paket allein an möglichen Privatisierungserlösen
angesetzt haben. Das heißt, es geht hier gar nicht darum,
nur entsprechende Gesetzeslagen zu schaffen - sie existieren dort bereits -, sondern darum, Gesetze zu vollziehen.
Allein an diesen Beispielen wird deutlich, wo wir ansetzen müssen.
Ich möchte auch den Blick auf die bisherige Politik
der Europäischen Kommission und der Europäische
Union lenken:
Gerade in diesen Tagen kann man schon etwas irritiert sein, wenn versucht wird, den Eindruck zu erwecken, als würden Wettbewerbspolitik und Wachstumspolitik etwas ganz Neues für die Europäische Kommission
und die Europäische Union bedeuten. Seit wir ab 1957
die Strukturfonds und später auch die Kohäsionsfonds
haben, ist es eine der Maximen der Europäischen Union,
Wachstum und Beschäftigung in der Europäischen
Union zu fördern. Last, but not least dokumentiert sich
das in der Agenda 2020, einer Wachstumsagenda, und
auch in den Beschlüssen des letzten Europäischen Rates,
die Sie, Herr Außenminister, vorhin noch einmal dargestellt haben. Deswegen möchte ich mir hier weitere Ausführungen dazu sparen.
({4})
Eines ist aber sicher: Genau diese Dinge, die jetzt oftmals lautstark gefordert werden - auch von einem Nachbarland -, gibt es längst, und sie werden jetzt mit Sicherheit auch konkretisiert werden.
Wenn wir über Europa, den politischen Anspruch und
die Krise sprechen, dann dürfen wir auch nicht das vergessen, was uns Europa in der Vergangenheit gebracht
hat, nämlich Errungenschaften, um die wir weltweit beneidet werden. Ich habe sie vorhin schon genannt: Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. All das ist alles
andere als selbstverständlich. Diese Werte und Errungenschaften zu bewahren, muss eine Vision sein, die wir
erfüllen müssen - erst recht vor dem Hintergrund, dass
wir in Europa immer weniger werden.
Heute repräsentieren wir Europäer nur noch einen
Bruchteil der Weltbevölkerung. Am Ende dieses Jahrhunderts werden wir nur noch 4 Prozent sein. Die deutsche Bevölkerung hat schon heute nur noch einen Anteil
von 1 Prozent an der Weltbevölkerung. Das bedeutet im
Zeitalter der Globalisierung, dass wir nüchtern auf die
Realitäten schauen müssen.
Wir sind dazu verurteilt - in Anführungszeichen -,
zusammenzuarbeiten und zusammenzuwirken. Die Herausforderungen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise
sind unglaublich hoch. Dazu kommen noch: der Klimawandel, die Gewährleistung von Sicherheit - allein mit
Blick auf den Iran wird hier manches deutlich -, aber
auch eine Industriepolitik, die uns unabhängig macht,
auch von Märkten in der Welt. Hierzu kann ich Ihnen
auch zwei Beispiele nennen: Hätten wir Airbus nicht,
dann gäbe es in der Welt nur Boeing; hätten wir Galileo
nicht, gäbe es auf der Welt nur GPS. - Daneben geht es
um die Sicherheit der Rohstoffversorgung, die Sicherheit
der Energieversorgung und auch um die Bewahrung unserer sozialen Standards. Deswegen müssen wir alles darauf richten, auch diese Werte zu bewahren.
Eine Vision muss aber auch dem afrikanischen Kontinent gelten. Die Bekämpfung des Hungers und die
Schaffung von Lebensperspektiven verlangen geradezu
nach einer europäischen Entwicklungspolitik. Der arabische Frühling droht in einigen Ländern schon heute zu
einem demokratischen Herbst zu werden.
Es kann uns als Europäischer Union nicht egal sein,
was dort vor Europas Haustüre passiert. Wir müssen deswegen bereit sein, auch unsere Märkte zu öffnen, dort
produzierte Ware nach Europa hereinzulassen, auch
wenn das mehr Wettbewerb und Konkurrenz für hiesige
Länder und hiesige Unternehmen bedeutet. Wenn wir
das nicht schaffen, wird der Migrationsdruck - das ist
bisher nur die Spitze des Eisberges -, der gegenwärtig in
Europa zu spüren ist, weiter zunehmen.
Herr Außenminister, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie
auch die Verhältnisse in Belarus und der Ukraine angesprochen haben. Gerade dort sind die Wahrung von
Menschenrechten und die Schaffung von demokratischer
Teilhabe leider noch nicht verwirklicht. Bei dieser Gelegenheit möchte ich insbesondere den vielen NGOs und
auch unseren politischen Stiftungen danken, die gerade
hier eine hervorragende Arbeit leisten. Das ist eine Investition in die Demokratie. Deswegen sollte gerade
auch, lieber Norbert Barthle, was die Haushaltsverhandlungen angeht, die Arbeit der Stiftungen eine ganz besondere Berücksichtigung finden.
({5})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir werden
die Herausforderungen, von denen ich eben gesprochen
habe, nur gemeinsam bewältigen können. Eines fällt auf:
Wir werden von außen als wesentlich stärker wahrgenommen als von uns selbst. Deswegen können wir es ruhig einmal wagen, den Blick nach außen zu richten. Die
USA sind ein Land, das mit einer Staatsverschuldung
von 15 Billionen Dollar kämpft. Auf der anderen Seite
haben wir China, das freien Zugang zum Markt in den
USA bekommt, aber im Gegenzug die amerikanischen
Bonds kauft und damit den Markt finanziert. In China
darf die Duldsamkeit der Menschen nicht mit Stabilität
verwechselt werden; die Ereignisse von 1989 haben darauf ein Schlaglicht geworfen. Deswegen: Auch diese
Länder und Regionen haben ihre Probleme; mit ihnen
möchte ich nicht unbedingt tauschen.
Herr Kollege.
Die Ursache der Krise lag mit Sicherheit in einem Zuwenig an Europa. Die Lösung kann also nur darin liegen,
dass wir mehr Europa wagen. Wenn wir das beherzigen,
ist mir persönlich um die Zukunft unseres Kontinents
nicht bange.
Vielen Dank.
({0})
Sahra Wagenknecht ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon verblüffend, wie schnell sich die Rhetorik ändert: Gestern ging es immer nur ums Sparen, jetzt ist
plötzlich Wachstum das neue Zauberwort. Aber wenn
man genauer hinhört, dann merkt man - das ist natürlich
das Problem -, dass diese ganze Wachstumsrhetorik genauso verlogen ist wie vorher die Sparrhetorik. Darauf
möchte ich jetzt näher eingehen.
Es wurde und wird in Europa überhaupt nicht gespart,
sondern der Bevölkerung in Europa werden unter dem
Vorwand der Schuldenbremse brachiale Kürzungsprogramme diktiert. Gleichzeitig werden unverändert Milliarden Euro dafür verpulvert, um Banken, Hedgefonds
und Spekulanten von ihrer Verantwortung und von ihren
Verlusten freizukaufen. Das läuft doch gerade.
Der nächste große Bankenrettungsschirm ESM wird
in Kürze den Bundestag passieren. Wer tatsächlich diese
unglaubliche öffentliche Schuldenspirale stoppen möchte,
der müsste etwas dafür tun, dass genau dieser Wahnsinn
ein Ende hat. Aber das ist leider noch nicht einmal von
SPD und Grünen zu erwarten.
({0})
Er müsste sich auch dafür einsetzen, beispielsweise den
Wettbewerb der Steuersysteme in Europa zu beenden.
Nichts davon ist mit dem Fiskalpakt vorgesehen.
Die Länder sollen die demokratische Souveränität
verlieren, dass sie über ihre Ausgabenpolitik selbst demokratisch entscheiden können. Aber es ist nicht geplant, etwa in Europa höhere und vor allem einheitliche
Konzernsteuern oder beispielsweise eine europaweite
Millionärssteuer für sehr Reiche einzuführen, die von
der Staatsverschuldung mit einem Zuwachs ihres Vermögens wesentlich profitiert haben. Nichts davon ist
vorgesehen.
Das zeigt sehr deutlich: Es geht hier überhaupt nicht
ums Sparen. Es geht auch gar nicht um die Schulden, die
übrigens munter weiter wachsen, allen Konsolidierungsund Kürzungsorgien zum Trotz,
({1})
sondern es geht in Europa um die Zerschlagung des europäischen Sozialstaats und die Außerkraftsetzung der
Demokratie.
({2})
Darauf läuft Ihre Politik hinaus, und damit fahren Sie
Europa im Eiltempo gegen die Wand. Das müssen wir
ändern.
({3})
Welche Art Wachstum mit dieser Art von Politik erreicht werden kann, kann man besonders krass in Griechenland besichtigen: ein beispielloses Wachstum der
Arbeitslosigkeit - die Jugendarbeitslosigkeit wurde
schon erwähnt -, ein sagenhaftes Wachstum der Armut
und der Obdachlosigkeit und ein erschreckendes Wachstum der Selbstmordraten. Die griechische Wirtschaftsleistung dagegen ist allein in den letzten zwei Jahren um
11 Prozent geschrumpft, und die privaten Investitionen
sind sogar um 50 Prozent eingebrochen.
Ist das Ihr Modell für Europa, eine verzweifelte Bevölkerung auf der einen Seite, der Löhne, Renten, Gesundheitsleistungen und Bildung gnadenlos weggekürzt
werden, und eine reiche Oberschicht auf der anderen
Seite, deren Vermögen allen Krisen zum Trotz nach wie
vor kräftig weiterwächst? Ich finde, es ist gut, dass sich
die Menschen in Europa gegen dieses Modell immer
stärker zur Wehr setzen.
({4})
Man muss es immer wieder deutlich sagen: Ein öffentlicher Haushalt hat nicht nur eine Ausgaben-, sondern auch eine Einnahmeseite. Man muss nicht Renten
kürzen und Schulen und Straßen verrotten lassen, damit
die Schulden nicht aus dem Ruder laufen. Man könnte ja
auch die Reichen mal wieder etwas heftiger besteuern,
nachdem sie jahrelang immer nur entlastet wurden.
({5})
Diese Entlastungen ziehen sich wie ein roter Faden
durch die Steuerpolitik in Deutschland, von Rot-Grün
bis Schwarz-Gelb.
Hätten wir in der Bundesrepublik heute noch die
Steuergesetze der Ära Helmut Kohl mit dem höheren
Spitzensteuersatz und einer deutlich höheren Unternehmensbesteuerung, dann hätten Bund, Länder und Gemeinden immerhin 75 Milliarden Euro mehr Einnahmen
im Jahr. Allein ein Land wie Nordrhein-Westfalen hätte
7,5 Milliarden Euro im Jahr mehr zur Verfügung.
({6})
Das heißt, bei gleichen Ausgaben gäbe es heute gar kein
Defizit; man würde vielmehr einen Überschuss von
4,5 Milliarden Euro erzielen, die man für ein Sozialticket und eine bessere Ausstattung der Kommunen verwenden könnte. Das wäre alles möglich gewesen.
({7})
Die tollen Strukturreformen, die Sie jetzt den anderen
Euro-Ländern als Wachstumsbringer andienen, sind zum
Teil in Deutschland Realität - das ist wahr -: die Agenda
2010, die Deregulierung des Arbeitsmarktes, Hartz IV
und die Zerschlagung der gesetzlichen Rente. Was ist dabei herausgekommen? Herausgekommen ist seit dem
Jahr 2000 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum
von 1 Prozent. Das ist weniger als in Frankreich und viel
weniger als in früheren Jahren der alten Bundesrepublik.
Herausgekommen sind Wirtschaftsaufschwünge, die regelmäßig an der Mehrheit der Menschen vorbeigehen.
Herausgekommen sind Aufschwünge der Profite, der
Leiharbeit und Werkverträge. Herausgekommen ist eine
Situation, in der immer mehr Menschen nicht mehr von
ihrer Arbeit leben können, geschweige denn, dass sie
noch irgendeine Aussicht auf eine auskömmliche Rente
haben.
Das ist die wahre Bilanz der Agenda 2010. Es ist
peinlich, Herr Heil, dass die SPD noch heute darauf stolz
ist, dass sie die Grundlage dafür gelegt hat.
({8})
Nun sollen dieser Generalangriff auf den Wohlstand
der großen Mehrheit und die miserable Lohnentwicklung, die wir infolgedessen in Deutschland seit Jahren
haben und die inzwischen auch Herrn Schäuble aufgefallen ist, offensichtlich als Erfolgsmodell auf ganz Europa
übertragen werden. Dazu kann ich nur sagen: Gute
Nacht, Europa!
Wer tatsächlich aus dem entstandenen Desaster Konsequenzen ziehen möchte, der müsste als Allererstes den
ESM und auch den Fiskalpakt da hinwerfen, wo sie hingehören: in den Reißwolf.
({9})
Wenn die SPD einen Rest von sozialem Verantwortungsgefühl hätte, dann würden Sie sich nicht immer nur
heldenhaft zur Grundsatzkritik aufplustern und am Ende
doch immer wieder Merkels Katastrophenkurs brav die
Stimme geben. Dann würden Sie diese Art von Politik
nämlich stoppen müssen. Aber Sie haben eben diese soziale Verantwortung nicht.
({10})
Das ist bedauerlich.
({11})
Eine Politik, die wild entschlossen scheint, demokratische Rechte immer dann außer Kraft zu setzen, wenn
die Interessen der Finanzlobby und der Finanzbranche
berührt sind, werden sich die Menschen in Europa auf
Dauer nicht mehr gefallen lassen. Das ist das Ergebnis,
und das zeigen die Wahlen in Griechenland und Frankreich schon deutlich. Es wird noch mehr geben.
Auch in Deutschland werden die Menschen beginnen,
sich zu wehren, selbst wenn jetzt wie in Frankfurt versucht wird, solche Proteste schlicht zu verbieten. Das
wird nicht gelingen; das sage ich Ihnen.
Europa braucht Gegenwehr. Denn Europa braucht
eine andere Wirtschafts- und Finanzordnung. Dafür
kämpft die Linke.
({12})
Ich erteile nun dem Kollegen Joachim Spatz für die
FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Wagenknecht, wir tagen zwar hier
im Reichstag. Trotzdem finde ich es nicht angemessen,
dass Sie hier Reden von 1902 halten und uns alte Rezepte vorstellen. Wir alle müssten aufgrund der Schuldenkrise erkannt haben, dass Schulden unfrei machen.
Sie vergessen immer, dass alles, was Sie einfordern, irgendjemand finanzieren muss. Wir haben doch bemerkt:
Die Dritten, die das finanzieren, tun das zu immer
schlechteren Konditionen und engen die Spielräume der
Zukunft immer weiter ein. Darum kommen Sie nicht herum. Deswegen gibt es zum Konsolidierungskurs überhaupt keine echte Alternative.
({0})
Wenn Sie einen Schritt von der Weltkarte zurücktreten, werden Sie sehen, dass Europa in eine viel dynamischer gewordene Welt eingebettet ist. Das macht - das
ist unumgänglich - mehr Europa notwendig und nicht
weniger Europa. Wir sind - Kollege Krichbaum hat das
schon erwähnt - in vielen Politikbereichen, nicht nur im
ökonomischen Bereich - denken Sie nur an das Thema
Sicherheit und die neue Schwerpunktsetzung der USAmerikaner -, dazu verurteilt, mehr Europa zu wagen,
um in dieser neuen Welt bestehen zu können. Natürlich
müssen wir uns im Ideenwettbewerb an den Besten
orientieren. Cicero hat einmal gesagt, dass man auf
Dauer die Schwachen nicht stärken kann, indem man die
Starken schwächt.
({1})
Das bedeutet zweierlei: Erstens. Es gab schon damals
Umverteilungspolitiker. Zweitens. Umverteilung war
schon damals falsch. Deshalb haben wir uns in Deutschland - angefangenen mit der Agenda 2010 - dem neuen
Denken und den Reformen gestellt. Das Traurige ist
- um noch ein historisches Beispiel zu nennen -, dass
Sie die Namen derjenigen, die das damals gemacht haben, aus den Geschichtsbüchern tilgen und von den Stelen meißeln wollen, weil Sie nicht wahrhaben wollen,
dass dieser Politikansatz richtig ist.
Der ganze Kontinent übt sich im Paradigmenwechsel,
weg vom süßen Gift der Verschuldung, hin zu neuer Solidität. Deshalb ist der Dreiklang, den wir anbieten, nämlich für Solidarität in Form des ESM zu sorgen, Solidität
in Form des Fiskalpaktes einzufordern und Wachstum
durch eine effizientere Ausgabenpolitik - auch aufseiten
der Europäischen Union - zu stimulieren, die richtige
Antwort auf die Herausforderungen der Zeit.
({2})
Selbstverständlich sind die Hilfen nur ein Angebot.
Jede Nation muss sich entscheiden, ob sie den Weg mitgeht, die Griechen genauso wie die Portugiesen und die
Iren. Gerade die Iren und die Portugiesen sind mit diesem Kurs gut gefahren und auf einem richtigen Weg. In
Portugal wurde sogar eine Regierung abgewählt, die die
entsprechenden Vereinbarungen unterzeichnet hat, und
durch eine Regierung ersetzt, die noch ehrgeizigere Ansprüche hat. So reif kann ein Volk sein. Aber wir können
von außen nur Angebote machen. Umgesetzt werden
muss es durch die betreffenden Länder.
Was das Wachstum betrifft, stehen wir vor Herausforderungen in Europa. Hier können wir gemeinsam gestalten. Modernisierungen und Investitionen sind dringend
notwendig. Das hat auch die Europäische Kommission
schon festgestellt. Wir alle werden im Zuge der Beratungen über den Finanzrahmen des EU-Haushalts für den
Zeitraum von 2014 bis 2020 die Gelegenheit bekommen,
die neuen Schwerpunktsetzungen zu beachten. Ich bin
gespannt, wie mutig all jene, die das heute einfordern,
sein werden, wenn die Mitgliedstaaten, der Rat, das Europäische Parlament und die Kommission neue Schwerpunkte setzen, und das - so viel wollen wir zahlen - bei
einem begrenzten Volumen von 1,0 Prozent des EU-BIP.
Ich bin gespannt, ob wir den Mut aufbringen, auch nur
einen Bruchteil dessen zu leisten, was wir den Reformstaaten, die unseren Schutzschirm genießen wollen, im
Moment abverlangen. Ich bin gespannt, ob wir alle miteinander das hinbekommen.
Meine Worte richten sich an alle, auch an den Kollegen Heil. Ich bin gespannt, ob er dazu steht. Er fragt, wo
die Finanzierungsinstrumente seien. Er ist nicht mehr
hier, aber bitte richten Sie ihm das aus.
({3})
Die Antwort darauf ist mit dem Beschluss des Deutschen
Bundestages zu dem Antrag der Koalition im Dezember
zum mehrjährigen Finanzrahmen gegeben worden. Wir
haben die Finanzierungsmittel ganz genau aufgezählt
und dargelegt, wie die Rolle der öffentlichen Finanzierung dabei zu bewerten ist. Wenn er sich mehr um Inhalte kümmern würde, anstatt oberflächliche Wahlkampfreden zu halten, wäre ihm das vielleicht nicht
entgangen.
Wir alle wissen - das ist nicht die übliche Sonntagsrhetorik -, dass Europa die Basis unseres Zusammenlebens ist. Das gilt für viele Politikbereiche. Wir sind, im
besten Sinne des Wortes, dazu verurteilt, zusammenzuhalten.
({4})
Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger Europa. Wir
brauchen es in der Form, in der wir es in 50 Jahren aufgebaut haben. Dabei müssen alle mitwirken und ihre jeweilige Verantwortung wahrnehmen. Ich kann nur all
jene warnen, die mit dem Gedanken liebäugeln, bei der
Europapolitik parteitaktische Erwägungen anzustellen,
was gestern an der einen oder anderen Stelle zu befürchten war. Am Ende wiegt das Gemeinwohl Europas und
Deutschlands mehr als parteitaktische Erwägungen.
Danke schön.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Frithjof Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Außenminister, lassen Sie mich mit einer Gemeinsamkeit anfangen; viel mehr werden es leider nicht. Die
europäische Einigung ist ein gemeinsames Projekt. Wir
verteidigen es gemeinsam, wir müssen gemeinsam daran
weiterbauen, und ich glaube, dass wir da zentrale Ziele
teilen. Aber was Sie in den letzten zweieinhalb Jahren
praktisch gemacht haben, verdient wirklich Kritik.
({0})
Es gab ein Muster der Krisenreaktion der Bundesregierung: Ob Hilfe für Griechenland oder Aufbau des ESFS
und dann des ESM - Sie haben erst gezögert, dann Nein
gesagt. Dann haben Sie zwar gehandelt, aber immer zu
spät und immer zu wenig. Das war schlecht für Europa
und schlecht für Deutschlands Ansehen.
({1})
Zwei Schwächen Ihrer Politik sind zentral. Der erste
Fehler ist schon sprichwörtlich in Europa geworden.
Man nennt ihn die „Methode Merkel“. Das ist - oder
besser: war - die Etablierung eines Direktoriums im
Europäischen Rat gemeinsam mit Herrn Sarkozy. Ja, die
deutsch-französische Kooperation ist zentral; aber sie
darf eine Gründungsidee Europas nicht aushebeln,
({2})
nämlich die eines zentralen Interessenausgleichs zwischen den kleinen und den großen Staaten, zwischen den
nördlichen und den südlichen Staaten und zwischen Ostund Westeuropa. Hier haben Sie die Balance eindeutig
verloren. Das wird in weiten Teilen Europas als Anmaßung verstanden.
({3})
Der zweite Kardinalfehler ist Ihr Konzept, nur zu sparen, ohne auch zu investieren. Das ist Ihre einäugige Stabilitätspolitik. So verschärfen Sie die Krise, so fördern
Sie die Rezession in weiten Teilen Europas. Meine Fraktion hat trotzdem den Rettungspaketen für Griechenland
und den Planungen zum ESM aus europäischer Solidarität zugestimmt, damit Geld an Krisenländer fließen
kann, das sie dringend brauchen, weil sonst die Situation
noch dramatischer geworden wäre.
({4})
Das ist uns aber wegen der sozialen Schieflage dieser
Rettungspakete ausdrücklich nicht leichtgefallen. Wir
haben in den Debatten hier immer deutlich vor den politischen Folgen gewarnt. Die Wahl in Griechenland zeigt,
wohin eine Politik führt, die rücksichtslos die sozialen
Belange ignoriert, Investitionen zur Stimulierung der
Konjunktur unmöglich macht und den Menschen so die
Hoffnung nimmt.
({5})
Das Scheitern von Präsident Sarkozy in Frankreich
hingegen gibt Hoffnung. Gegen jeden politischen Stil hat
die deutsche Kanzlerin für Sarkozy in Frankreich Wahlwerbung betrieben. Damit ist seine Abwahl auch eine
Niederlage für Frau Merkel.
({6})
Das ist gut so. Das Direktorium Merkozy wurde halbiert,
und das ist ein Anfang. Jetzt muss es mit Kurskorrekturen an der einäugigen Stabilitätspolitik weitergehen.
({7})
Der Fiskalpakt ist ein Torso und eine befristete Hilfskonstruktion. Er muss - so steht es darin - in maximal
fünf Jahren in Europarecht überführt werden. Allerdings
habe ich hier von Ihnen keinerlei Vorschläge gehört, wie
Sie das machen wollen. Sie unterschlagen immer, dass
das verbindlich ist.
({8})
Außerdem muss der Fiskalpakt mit einem Investitionsprogramm verbunden werden, um dem Ungleichgewicht
in der Gemeinschaft zu entgegnen. Darüber will Frankreich verhandeln, und dafür haben wir bis Ende des Jahres Zeit.
({9})
Es gibt kein objektives Junktim zwischen diesem Pakt
und der Ratifizierung des ESM. Das ist eine innenpolitisch motivierte Konstruktion von Ihnen.
({10})
Den ESM können wir sofort ratifizieren; dafür hätten Sie
unsere Stimmen. Warum tun wir es also nicht? Hören Sie
endlich mit der falschen Verknüpfung auf, dass beides
nur zusammen ginge. Das ist falsch.
({11})
Wir brauchen vor allem ein europäisches Programm
für die Entwicklung einer nachhaltigen Struktur mit einem Schwerpunkt auf erneuerbare Energien, wenn wir
aus der Krise kommen wollen. Lassen Sie mich zur Begründung nur eine Zahl nennen: Für circa zwei Drittel
der Leistungsbilanzdefizite in Spanien und Frankreich
ist der Ölpreisanstieg verantwortlich. Das sind die Zahlen von Eurostat. Deshalb ist es gut, wenn François
Hollande Vorschläge zur Finanzierung solcher Investitionen macht wie die Ausweitung der Programme der
Europäischen Investitionsbank und eine Erhöhung des
Stammkapitals. Das brauchen wir.
({12})
Es ist falsch, wenn Deutschland hier bremst; es ist
falsch, wenn die FDP da bremst. Sie sollten dabei helfen,
die Banken und Märkte endlich zur Finanzierung der
Kosten der Krise heranzuziehen, aber Sie weigern sich.
Eine Finanztransaktionsteuer ist notwendig, damit
Europa profitiert. Das haben Sie nicht verstanden.
({13})
Stattdessen macht der Bundesumweltminister im
Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen polemische Stimmung gegen den neuen französischen Präsidenten. Herr
Röttgen schürt antieuropäische Affekte, um Stimmen
von rechts zu bekommen, und zündelt an der deutschfranzösischen Freundschaft. Dass Sie das in Ihren Reihen dulden, ist ein völliges europapolitisches Versagen.
Da nützen auch alle schönen Worte des Außenministers
gar nichts.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({14})
Der Kollege Thomas Silberhorn erhält nun das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wachstum ist kein Selbstzweck. Ziel der Krisenbewältigung muss sein, dass die Staaten der Euro-Zone ihre
Kreditwürdigkeit wiedergewinnen und damit auch ihre
politische Handlungsfähigkeit wiederherstellen. Das ist
die Zielsetzung unserer Strategie zur Krisenbewältigung,
und dazu kann man in der Tat Wachstum gebrauchen.
Aber vor allem müssen diese Staaten wettbewerbsfähig
werden. Um das zu erreichen, führt an einer Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und auch an Strukturreformen in Wirtschaft und Verwaltung kein Weg vorbei.
({0})
Mehr einnehmen als ausgeben wäre der richtige Weg;
aber mehr ausgeben als einnehmen, das funktioniert nirgendwo auf der Welt, auch nicht außerhalb der EuroZone.
({1})
Wir sehen in Griechenland, dass der Konsum der Gesellschaft größer ist als die Wirtschaftsleistung. Da
bliebe theoretisch nichts mehr übrig für Investitionen der
öffentlichen Hand oder für Zins- und Tilgungsleistungen. Deswegen müssen wir in einem Land wie Griechenland darauf achten, dass wieder Spielraum entsteht.
Die Griechen müssen nolens volens billiger werden; sie
müssen abwerten. Sie können nicht mehr konsumieren,
als sie überhaupt erwirtschaften. Wenn man die Abwertung in der Euro-Zone vornimmt, dann führt natürlich
auch kein Weg daran vorbei, dass Löhne und soziale
Leistungen gekürzt werden.
Aber auch außerhalb der Euro-Zone ist es unabdingbar, dass die Staaten ausgeglichene Haushalte anstreben.
Wir brauchen nachhaltige Solidität im Interesse künftiger Generationen, und deswegen ist die Konsolidierung
der öffentlichen Finanzen der erste und wichtigste
Schritt in der Krisenbewältigung.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die strukturellen Reformen, die wir in Wirtschaft und Verwaltung
brauchen, sind ein kostenloses Wachstumsprogramm.
Das können alle tun, ohne neue Schulden zu machen. Es
gibt genügend Handlungsspielräume und Ansätze, um
die Verwaltung in überschuldeten Staaten effizienter zu
gestalten, um die Arbeitsmärkte flexibler zu machen, um
Anreize für Investitionen und für Innovationen zu setzen, im Mittelstand wie in der Industrie. Wir brauchen
natürlich europaweit auch ein gemeinsames Verständnis
dafür, dass wir unsere sozialen Sicherungssysteme generationenfest machen müssen; denn wir haben die Situation, dass die Bevölkerungen in Europa kleiner werden.
Ohne Sparen und ohne Reformen gibt es keinen stabilen
Euro.
({3})
Nun sagt der Kollege Heil, Wachstum brauche Investitionen. Dem stimme ich durchaus zu. Aber wir brauchen private Investitionen.
({4})
Wir müssen privates Kapital akquirieren. Das Problem,
das wir in Griechenland und in anderen verschuldeten
Staaten der Euro-Zone sehen, ist doch, dass eine Kapitalflucht aus diesen Ländern stattfindet. Das ist ein Beleg
dafür, dass ein Vertrauensverlust eingetreten ist. Die Investoren packen nicht an; sie warten ab. Deswegen müssen wir die Frage beantworten, was wir tun können,
({5})
um dafür zu sorgen, dass privates Kapital wieder investiert wird. Man muss die Rahmenbedingungen für die
privaten Haushalte und für die Unternehmen stärken,
({6})
um Konsum und Investitionen anzureizen. Aber dazu
bedarf es vor allem der Reformbereitschaft der Regierungen. Sie müssen unter Beweis stellen, dass sie sich
ernsthaft und zielstrebig den Realitäten stellen. Sonst
brauchen wir über Wachstumsprogramme nicht zu reden.
Wachstum braucht sicher Investitionen, aber Wachstum braucht keine neuen Schulden. Wer jetzt auf neue
Ausgabenprogramme setzt, der nährt geradezu neue
Zweifel am Reformwillen der Regierungen. Das wäre
ein fatales Signal im Sinne von Weiter-so. Ich kann verstehen, dass in manchen verschuldeten Staaten die Bevölkerung durchaus erwartet, im Wesentlichen so weitermachen zu können wie bisher. Aber ich glaube, dass es
in der politischen Verantwortung liegt, den Menschen zu
sagen, dass das nicht gehen wird. Wir müssen uns verändern. Ein Weiter-so kann nicht zum Erfolg führen. Deswegen darf man nicht mit neuen Schuldenprogrammen
falsche Anreize setzen. Das würde die Probleme nur verschärfen.
({7})
Es gibt keine einfachen Lösungen. Ohne Sparen und
ohne Reformen geht es nicht.
Wachstum ist dann vorhanden, wenn die Einnahmen
des Staates steigen, und nicht, wenn die Schulden steigen. Deswegen ist es so wichtig, dass der Fiskalvertrag
umgesetzt wird, dass wir uns selbst disziplinieren durch
die Schuldenbremse, die wir im deutschen Grundgesetz
bereits haben und die wir in ganz Europa einführen wollen.
Ich darf aus bayerischer Sicht hinzufügen: Es kann
gelingen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.
Wir haben in Bayern jetzt im siebten Jahr in Folge keine
neuen Schulden im Haushalt.
({8})
Wir haben uns ganz konkret das Ziel gesetzt, auch die alten Schulden vollständig abzubauen. Das zeigt: Wir
müssen die richtigen politischen Ziele setzen und uns auf
den Weg machen. Die politische Reformbereitschaft erfordert auch ein klares politisches Bekenntnis zum Sparen und zu Reformen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die aktuelle
Krise ist sicherlich zum einen Anlass, eine Standortbestimmung vorzunehmen - wo stehen wir gerade? -, zum
anderen, eine strategische Debatte darüber zu führen,
wohin uns das Ganze führt. Ich möchte an dieser Stelle
ein bisschen Wasser in den Wein gießen, der unter der
Chiffre „Mehr Europa“ ausgegossen wird.
({9})
„Mehr Europa“ ist offenkundig eine etwas elitäre Antwort einer Diskussion, die nur unter politischen Eliten
und Akademikern geführt wird, bei der es darum geht,
die Integration zu beschleunigen. Ist es nicht so, dass die
Bevölkerung eine ganz andere Debatte führt, dass wir einen Vertrauensverlust zu beklagen haben,
({10})
dass die politische Akzeptanz der europäischen Integration schwindet? Glauben Sie wirklich, dass man die
Kluft zwischen politischen Eliten und der Bevölkerung
dadurch überwinden kann, dass man eindimensional auf
„Mehr Europa“ setzt?
({11})
Müssten wir nicht die Frage „Wie kann man diese Kluft
überwinden?“ beantworten.
({12})
Ich glaube, dass viele in der Bevölkerung zumindest
den Eindruck gewinnen, dass Europa schon mit den vorhandenen Aufgaben nicht ganz zurechtkommt.
({13})
Deswegen wird zu Recht die Frage gestellt: Kann man
das bewältigen, indem man darüber diskutiert, neue Aufgaben auf Europa zu übertragen?
({14})
Wir müssen zunächst einmal die vorhandenen Aufgaben
erfolgreich bewältigen. Angesichts dessen sollte man
diese Debatte nicht paralysieren, indem man über neue
Aufgaben für Europa nachdenkt.
({15})
Diese Eindimensionalität beklage ich.
Was wir brauchen, ist nicht der eindimensionale Weg
„Mehr Europa“, sondern eine dreidimensionale Lösung.
Diese Lösung beinhaltet erstens, dass wir die vorhandenen Aufgaben erfolgreich bewältigen und unsere internen Mängel abstellen. Dazu gehört in der Tat ein bisschen mehr Europa; denn die internen Mängel zeigen,
dass wir mit dem Rahmen der Währungsunion so nicht
zurechtkommen und nachjustieren müssen. Diese Lösung beinhaltet zweitens, dass wir die Frage stellen, wie
wir Europa in der Welt starkmachen können. Europa
stark nach außen zu präsentieren, das ist eine wichtige
Aufgabe. Diese Lösung beinhaltet drittens, dass wir
schlanker nach innen werden. Europa muss stark nach
außen, aber schlank nach innen sein. Wir müssen insofern die Europäische Union umbauen und sie nicht nach
innen weiter ausbauen. Wir müssen auch darüber nachdenken, welche Kompetenzen man auf die nationale
Ebene zurückverlagern kann. Das sollte aber nicht in der
Form geschehen, in der es die Europäische Zentralbank
tut, indem sie die Geldpolitik renationalisiert.
({16})
Ich rede nicht über Renationalisierung. Ich will nur
vermeiden, dass es eine einseitige Zentralisierung in
Europa gibt. Was wir brauchen, ist eine ausgewogene
Balance zwischen der europäischen Ebene einerseits und
den Mitgliedstaaten und den Regionen andererseits. Das
ist kein nationales, das ist vielmehr ein gemeinsames europäisches Interesse; denn nur die Ausgewogenheit, die
Balance, garantiert, dass wir den eingetretenen Vertrauensverlust überwinden und neues Vertrauen in die europäische Integration begründen können.
Europas Reichtum besteht in dieser Vielfalt, die unsere Mitgliedstaaten und Regionen zum Ausdruck bringen. Wir sind in Europa über die Jahrhunderte deswegen
so erfolgreich gewesen, weil wir nicht in großen Reichen
organisiert waren, wo niemand der Knute der Lehnsherren entkommen konnte. Der Reichtum Europas ist vielmehr deshalb entstanden, weil wir so kleine Gebilde hatten, dass diejenigen, die mit ihren Lehnsherren nicht
zurechtkamen, woandershin gehen konnten.
({17})
Das war eine Ursache für Aufklärung, für freiheitliche
Gesellschaftsformen, die sich in Europa entwickelt haben. Freiheit und Vielfalt sind also der Reichtum Europas. Die europäische Integration wird dann erfolgreich
voranschreiten, wenn wir weiter auf Freiheit und Wettbewerbsfähigkeit setzen.
Vielen Dank.
({18})
Michael Roth ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Welches Bild haben viele, leider zu viele Bürgerinnen
und Bürger derzeit von Europa? Dieses Bild ist ziemlich
jämmerlich. Dieses Bild ist ziemlich deprimierend. Zu
sehen sind demonstrierende Jugendliche auf den Plätzen
der europäischen Hauptstädte, brennende Europaflaggen, Nazisymbole, feilschende Staats- und Regierungschefs, die in Nachtsitzungen zusammenkommen und
dann ihre mühselig erzielten Kompromisse schlechtgelaunt und übernächtigt den Medienvertretern zu verkaufen versuchen. Ich frage Sie, Herr Außenminister,
und ich frage die Bundesregierung: Was tun Sie konkret,
um den Bürgerinnen und Bürgern ein anderes, ein hoffnungsvolleres Bild von Europa entgegenzuhalten? Spätestens nach dieser Rede von Ihnen, Herr Außenminister,
ist deutlich geworden: Sie tun nichts. Sie tun rein gar
nichts.
({0})
Sie haben zwar vor wenigen Wochen eine Kommunikationsstrategie angekündigt, aber die ist nicht die Tinte
wert, mit der sie geschrieben wurde. Das alles ist eine
Ansammlung von Allgemeinplätzen und trifft auch nicht
das Problem in seinem Kern, nämlich: Wie können wir
die Bürgerinnen und Bürger wieder davon überzeugen,
dass Europa eben nicht Teil des Problems, sondern Teil
der Lösung ist? Dazu habe ich außer dem allgemeinen
plattitüdenhaften Vortragen von Dingen, die wir schon
längst irgendwo gelesen und gehört haben, nichts Neues
vermerken können. Da kann man nur sagen: Gut, dass
Sie nicht mehr Europaminister der Bundesrepublik
Deutschland sind!
({1})
Das Auswärtige Amt hat als Europaministerium ausgedient. Wir erleben einen dramatischen Niedergang des
Auswärtigen Amts als zentrales Steuerungsministerium,
wenn es um Europaangelegenheiten geht. Dafür trägt
nicht allein der Lissabon-Vertrag Verantwortung - die
Position des Regierungschefs, der Kanzlerin, die Position des Kanzleramts wurde gestärkt; Frau Merkel ist
seitens der Bundesregierung weitgehend die alleinige
Gipfelstürmerin -, sondern das liegt auch an Ihnen persönlich. Sie haben viel zu lange geschwiegen, Sie waren
viel zu lange der Herr Westerwelle und nicht der Bundesaußenminister. Sie laden jetzt einmal ein paar Außenminister ein - aber auch nur einige -, reflektieren, trinken zusammen eine Tasse Kaffee und meinen, damit
würden wir Europa voranbringen. Das alles ist nur Symbolpolitik, viel heiße Luft, wenig Substanz. Das ist auch
heute in Ihrer Rede zum Ausdruck gekommen.
({2})
Auch da, wo das Auswärtige Amt noch über europapolitische Kompetenzen verfügt, nämlich wenn es darum geht, konkret dazu beizutragen, dass Europa mit einer Stimme spricht, haben Sie versagt. Ich erinnere nur
an das Libyen-Desaster, wo Sie sich mit Ihrer Enthaltung
dagegen gesperrt haben, dass die Europäische Union in
einem der zentralen Felder der Außen- und Sicherheitspolitik mit einer Stimme zu sprechen vermag.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, welches Bild vermitteln wir als Europäer im Ausland? Da müssen wir
einmal Amerikaner fragen. Da müssen wir einmal andere fragen. Wir bekommen überall dieselbe Antwort:
Ihr Europäer bekommt die Probleme nicht in den Griff.
Frau Merkel klopft bei Madame Lagarde an. Sie bittet
darum, dass der Internationale Währungsfonds die Mittel aufstockt. Was ist eigentlich aus dem Vorschlag der
Sozialdemokratie geworden, den Bundesfinanzminister
Schäuble dankenswerterweise aufgegriffen hat, einen eigenen europäischen Währungsfonds zu schaffen? So
könnten wir selber einen Beitrag dazu leisten, aus der
Krise zu kommen. So bräuchten wir nicht ständig immer
nur die internationale Solidarität einzufordern, sondern
könnten sagen: Wir haben ein europäisches Problem,
und dieses europäische Problem wollen wir auch gemeinsam lösen. - Da kommt von Ihnen gar nichts.
({4})
Genauso desaströs sieht das Bild bei der Krisenbeschreibung aus. Wir haben viel zu lange den Eindruck
erweckt, wir hätten es in erster Linie mit einer Staatsschuldenkrise zu tun. Das hat mich jetzt etwas optimistisch gestimmt, weil ich den Eindruck hatte, Sie hätten
verstanden, dass es nicht allein darum geht. Wir haben
doch eine politische Krise. Wir haben eine institutionelle
Krise. Alle wissen doch: Der Geburtsfehler von Maastricht wird durch all das, was Sie jetzt auf den Weg zu
bringen versuchen, nicht geheilt. Eine gemeinsame
Währung funktioniert eben nicht ohne koordinierte Wirtschaftspolitik, ohne abgestimmte Sozial-, Steuer- und
Beschäftigungspolitik.
({5})
Sie aber reden ständig nur von Haushaltskonsolidierung
und Schuldenabbau. Diesen Weg sind wir bereit mitzugehen, aber nur, wenn Sie Ihren wohlfeilen Worten zu
mehr Wachstum und Beschäftigung dann auch Taten folgen lassen. Wir sind ja dankbar, dass Sie langsam auf die
Linie der SPD einzuschwenken versuchen,
({6})
indem Sie sagen: Wir brauchen auch Wachstum und Beschäftigung. - Das ist schon einmal anerkennenswert.
Wir sind jetzt gespannt, was Sie gemeinsam mit François
Hollande und den anderen Staats- und Regierungschefs
hinbekommen.
Wir fordern eine Wirtschaftskoordination, die demokratischen und sozialen Ansprüchen gerecht wird. Sie
haben ein Europa der Hinterzimmer und der Regierungen geschaffen. Wir wollen ein Europa der Parlamente,
ein Europa der demokratischen Strukturen und ein
Europa der Solidarität. An diesem Europa haben Sie sich
Michael Roth ({7})
versündigt, meine sehr verehrten Damen und Herren der
Bundesregierung.
({8})
Es ist eben auch beim Kollegen Silberhorn deutlich
geworden, dass bei vielen die Alarmglocken schrillen,
wenn es um die vermeintliche Abgabe nationaler Souveränität geht. Ich lade uns alle dazu ein, etwas weniger
ideologisch an diese Frage heranzugehen. Wir mögen
zwar rechtlich Kompetenzen abgeben; aber politisch gewinnen wir doch Handlungsspielräume zurück, die wir
als Nationalstaaten in einer globalisierten Welt schon
lange nicht mehr haben. Wir können den Bürgerinnen
und Bürgern doch nicht vorgaukeln, dass es allein nationalstaatlich geht. Es geht nur gemeinsam in Europa.
({9})
Wir sagen: Es geht nur gemeinsam, solidarisch und demokratisch in Europa. Hier benötigen Sie noch Nachhilfe, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Fraktionen der Koalition.
({10})
Wir müssen endlich die Wettbewerbslogik in Europa
überwinden. Ihr neoliberaler Dreisatz, Herr Bundesaußenminister, Steuersenkungen, Deregulierung, Sozialabbau würden automatisch zur Lösung führen, ist ein Irrweg. Ich dachte eigentlich, dass wir da gemeinsam
weitergekommen sind. Wir müssen den Bürgerinnen und
Bürgern wieder Sicherheit vermitteln. Wir müssen deutlich machen: Lohndumping muss verhindert werden.
Wir brauchen auch in Deutschland nicht nur höhere
Löhne, worum die Gewerkschaften erfolgreich kämpfen,
sondern auch Mindestlöhne.
({11})
Wir müssen das Steuerdumping verhindern. Wir müssen
Sozialdumping verhindern. Wie können wir Europa in
der Mitte der Gesellschaft verankern, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Angst und Sorgen haben?
({12})
Insofern: Europa muss mit dem Herzen gestaltet werden.
Es stimmt mich schon sehr nachdenklich, wenn dies
ausschließlich verdienstvolle alte Männer in diesen Tagen in Kommentaren eindrucksvoll zum Ausdruck bringen. Es werden eben Herr Genscher, Herr von
Weizsäcker, Helmut Schmidt oder Jürgen Habermas gefragt.
({13})
- Zum Glück werden Sie nicht gefragt, Herr Genscher
- Entschuldigung! - Herr Westerwelle.
({14})
- Da haben Sie völlig recht.
({15})
Ich würde mich darüber freuen, wenn irgendwann
einmal ein Bundesaußenminister wieder in diesen Reigen eintreten und positiv, hoffnungsvoll, konstruktiv, mit
Verve und Empathie über Europa sprechen würde. Sie
gehören bislang dezidiert nicht dazu.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat nun der Kollege Oliver Luksic für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Roth, in Ihrer Rede haben wir außer alten
Rezepten, die mit neuen Schulden finanziert werden,
wenig gehört. Sie kritisieren immer, dass das Thema
Europa auf unserer Seite einen so geringen Stellenwert
habe. Von Ihren drei Kanzlerkandidaten ist bei dieser
Debatte niemand anwesend. Ich wäre insofern also etwas zurückhaltend.
Vergangenen Sonntag wurde in zwei Ländern Europas gewählt: in Frankreich und in Griechenland. Es
wurde auch bei uns in einem Bundesland gewählt. Die
Berichterstattungen und die Diskussion in unserem Land
zeigen: In einem zusammenwachsenden Europa haben
Wahlen in Frankreich und Griechenland vielleicht mehr
Bedeutung für unser Land als die Wahl in einem unserer
Bundesländer. Ich glaube, wir erleben gerade einen Paradigmenwechsel in Europa. Die Stabilisierung des Euro
wird eben nicht nur im Deutschen Bundestag oder in
Brüssel entschieden, sondern vor allem in den einzelnen
Mitgliedstaaten; denn dort ist der Kern der Staatsschuldenkrise. Es ist wichtig, dass wir auch diese Wahlergebnisse diskutieren; denn es ist in hohem Maße bedenklich,
wenn in Frankreich und Griechenland mit antieuropäischen Parolen Wahlkampf geführt wird und in beiden
Ländern die extremen Parteien gewinnen. In Griechenland ziehen sogar Faschisten ins Parlament ein. Das ist
nicht gut für die Demokratie, und das ist nicht gut für
Europa.
({0})
Im französischen Wahlkampf haben die Zentrumspartei von Bayrou und die Grünen für Europa geworben.
Leider müssen wir feststellen, dass die Europakritiker
von links und rechts im ersten Wahlgang mehr Stimmen
als Hollande und Sarkozy zusammen bekommen haben,
die übrigens beide auch nicht gerade mit proeuropäischen Ideen im Wahlkampf geworben haben. Hollande
hat den Fiskalpakt infrage gestellt. Sarkozy hat viel vom
starken Frankreich und wenig vom starken Europa gesprochen und das Schengen-Abkommen infrage gestellt,
die Reisefreiheit.
({1})
Aber klar ist: Der deutsch-französische Motor wird
trotz einiger Misstöne im Wahlkampf weiterlaufen. Die
Vergangenheit hat gezeigt, dass über Parteigrenzen
hinweg gut zusammengearbeitet wird, ob es Giscard
d’Estaing und Schmidt waren, Kohl und Mitterrand oder
Schröder und Chirac. Das ist im Interesse beider Länder
dringend notwendig und unabdingbar für den Erfolg Europas. Die deutsch-französische Freundschaft ist Staatsräson in Deutschland und in Frankreich, und das ist auch
gut so.
({2})
Helmut Kohl sagte einmal: „Ich weiß nicht, was der
französische Staatspräsident denkt, aber ich denke dasselbe.“ Dieser Satz ist heute vielleicht nicht mehr wahr.
Auch das müssen wir ansprechen und diskutieren. Gerade wenn es um den Euro geht, gibt es konzeptionell
große Unterschiede. Wir stehen vor einer großen europapolitischen Herausforderung.
Wenn Herr Hollande - wie auch Herr Sarkozy Wachstum auf Pump finanzieren will, eine andere EZB
als die Koalition und eine Aufweichung der Stabilitätsregeln will, muss darüber nachgedacht werden. In der griechischen Innenpolitik berufen sich die Parteien auf die
Gedanken des neuen Präsidenten und wollen die Schuldenrückzahlungen kippen. Das hilft den Griechen nicht
weiter, und es ist nicht verhandelbar. Ich hoffe, dass der
neue französische Präsident diesen Fehler korrigiert.
Sie haben eben gesagt, man dürfe die Politik kritisieren; das haben Sie bei Sarkozy gemacht. Der Wahlsieg
von François Hollande basiert auf Versprechungen, die
so nicht einzuhalten sind: Senkung der Mehrwertsteuer,
Renteneintrittsalter mit 60, Einfrieren der Benzinpreise.
Er lehnt die Schuldenbremse ab - ich hoffe, dass sich die
SPD hierzu einmal positioniert - und will sie nicht in die
nationale Verfassung übernehmen. Ich halte das für einen Fehler.
Ich hoffe, dass er nicht den gleichen Fehler macht wie
François Mitterrand in den 80er-Jahren, der nach zwei
Jahren völlig verfehlter Schuldenpolitik erst im Jahr
1983 die Wende geschafft hat. Diese unbequeme Botschaft müssen wir mit unseren französischen Freunden
diskutieren. Frankreich muss Partner bleiben, wenn es
darum geht, wieder eine Stabilitätskultur in Europa zu
etablieren. Alleine schaffen wir das nicht. Dazu brauchen wir unsere französischen Freunde. Wir stehen jetzt
vor einer zentralen europapolitischen Herausforderung.
({3})
Nicht nur die Wahlen in Frankreich zeigen deutlich,
welchen Einfluss die Politik anderer Länder mittlerweile
auf Europa, den Euro und damit auch auf uns hat, wenn
mühsam ausgehandelte Verträge wieder aufgeschnürt
werden. Auch in Griechenland wurde am Sonntag gewählt. Dort gestaltet sich die Regierungsbildung leider
äußerst schwierig. Die einstigen Volksparteien wurden
abgestraft; beide haben das Land an die Wand gefahren
und damit die Krise der Währungsunion mit ausgelöst.
In Griechenland steht für Europa viel auf dem Spiel.
Wir müssen uns angesichts des instabilen politischen
Systems Sorgen machen; denn dadurch wird das wackelige Wirtschaftssystem nicht gerade stabilisiert. Das eigentliche Problem besteht darin, dass viele Griechen bei
der Stimmabgabe gedacht haben, die harten Sparauflagen könnten nachverhandelt werden. Das fordern jetzt
auch alle Parteien. Dabei muss Griechenland in jedem
Fall sparen, weil das strukturelle Defizit schon ohne
Zinszahlungen riesengroß ist.
Die Zeit drängt. Ich glaube, es ist gut und richtig, dass
sowohl die Europäische Kommission als auch die deutsche Bundesregierung klar gesagt haben, dass Verträge
eingehalten werden müssen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Vertragstreue ist ein zentraler europäischer
Wert; immerhin leben wir in Europa in einer Gemeinschaft des Rechts.
Das Kernproblem liegt darin, dass 80 Prozent der
griechischen Bevölkerung, also eine große Mehrheit,
den Euro wollen, aber keine Parteien wählen, die diesen
Kurs unterstützen. Wir haben großes Interesse daran,
dass Griechenland auf europäischem Kurs bleibt. Es
muss klarer gesagt werden, was die Konsequenzen einer
unkontrollierten Staatspleite in Griechenland wären.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die neue griechische Regierung sowie das griechische Volk eine
Grundsatzentscheidung treffen müssen, denn ein Ja zum
Euro, aber ein Nein zu den verabredeten Auflagen passen nicht zusammen. Diese Frage muss in Griechenland
klar beantwortet werden.
Die Krise des Euro ist im Kern eine Staatsschuldenkrise. Da hilft die vulgäre Kapitalismuskritik nur wenig
weiter. Die Staaten müssen sich unabhängiger von den
Finanzmärkten machen, indem sie weniger Schulden haben. Neben dem Sparkurs brauchen wir eine nachhaltige
Wachstumspolitik, das ist völlig klar. Das Ganze muss
aber auf finanzpolitischer Solidität aufbauen, denn weder der Euro noch der Markt zerstören die Fundamente
in Europa. Vielmehr ist es das süße Gift der Schulden. Es
muss uns gelingen, den Euro zu stabilisieren; denn sonst
wird in allen Ländern Europas nicht nur der Euro, sondern auch das europäische Projekt infrage gestellt.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Deswegen ist es wichtig,
liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen,
dass Sie in Bezug auf den ESM und den Fiskalpakt nicht
wieder den gleichen Fehler machen wie 2010, als Sie
sich wegen der NRW-Wahl beim ersten Griechenlandpaket aus der Verantwortung gestohlen haben. Machen Sie
jetzt in Bezug auf den ESM und den Fiskalpakt nicht den
gleichen Fehler!
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt der Kollege
Hunko das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Titel
dieser Debatte heute lautet: „Europas Weg aus der
Krise“. Nach der Regierungserklärung, Herr Westerwelle,
die ich eben gehört habe, muss ich sagen, der Titel sollte
heißen: „Europas Weg immer tiefer in die Krise“; denn
das ist die Konsequenz Ihres Programms, das Sie vorgestellt haben.
Herr Westerwelle, Sie sind in Ihrem Beitrag gar nicht
auf die Signale eingegangen, die am Wochenende aus
Griechenland und aus Frankreich gekommen sind. Die
Signale bedeuten, dass Ihre Politik gescheitert ist, dass
die Politik nicht nur sozial ungerecht ist, dass sie nicht
nur ökonomisch irrsinnig ist, sondern dass sie in Europa
politisch nicht mehr durchsetzbar ist. Das ist die Botschaft der Wahlen in Griechenland und in Frankreich.
({0})
Nicht nur die Menschen in vielen europäischen Ländern lehnen diese Art der Krisenbewältigung ab. Es gibt
auch von Tag zu Tag mehr Ökonomen, die sich kritisch
zu der Krisenbewältigung äußern, die Sie auch heute
vorgestellt haben. Ich könnte viele zitieren. Herr Heil hat
vorhin Paul Krugman erwähnt. Ihn will ich zitieren. Es
lohnt sich wirklich, genau hinzuhören, was der Wirtschaftsnobelpreisträger von 2008 sagt:
Europas große Täuschung besteht in dem Glauben,
dass die Krise durch unverantwortliche Haushaltsführung zustande kam.
Weiter heißt es:
Doch viele europäische Verantwortliche, allen voran deutsche Politiker, die Führung der Europäischen Zentralbank und die Meinungsführer in der
Finanzwelt, wiederholen gebetsmühlenartig die
große Täuschung und lassen sich auch von handfesten Gegenbeweisen nicht erschüttern. Sie kleiden
das Problem gern in ein moralisches Gewand: Die
betroffenen Länder haben gesündigt, und nun müssten sie büßen - ein ganz schlechter Ansatz zur Lösung der eigentlichen Probleme des Kontinents.
({1})
Was meint er zum Beispiel mit handfesten Beweisen?
Nehmen wir die Staatsverschuldung. Die Staatsverschuldung in der Euro-Zone ist vom Jahr 2000 bis Mitte 2008
im Durchschnitt tendenziell rückläufig gewesen, von
etwa 72 Prozent auf etwa 67 Prozent.
({2})
Das sind alles Zahlen, die man offiziell bei der EZB einsehen kann. Erst Mitte 2008 ist die Staatsverschuldung
deutlich auf über 80 Prozent angestiegen. Was war die
Ursache? Unverantwortliche Haushaltsführung durch
Sozialausgaben oder durch Leben über die Verhältnisse?
Nein, die Bankenrettungspakete sind für den Anstieg
verantwortlich und nicht etwa unverantwortliche Sozialausgaben.
Die zentralen Projekte dieser Bundesregierung sind
der Fiskalpakt und der ESM, die jetzt ratifiziert werden
sollen. Damit wird eine falsche Grundannahme in einen
Pakt gegossen, der Ewigkeitscharakter haben soll und
die Krise unnötig verschärfen wird. Der Fiskalpakt bedeutet in der Konsequenz genau die gleiche Politik, die
jetzt Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern auferlegt wird. Deswegen sagen wir Nein zum Fiskalpakt, deswegen sagen wir Nein zum ESM.
({3})
Es stehen noch Kollegen von SPD und Grünen auf
der Rednerliste. Mich würde schon interessieren: Werden Sie dem Fiskalpakt am Ende zustimmen - dazu
braucht man in Deutschland eine Zweidrittelmehrheit in
Bundestag und Bundesrat -, oder werden Sie ihn ablehnen? Wir plädieren für die Ablehnung.
({4})
Ich beende meine Reden hier im Bundestag meistens
mit dem Satz: Europa wird sozial sein, oder es wird
nichts sein. Das ist natürlich weiterhin richtig. Ich will
aber heute angesichts der dramatischen Situation in
Griechenland folgendermaßen enden:
Ανατροπή στην Ελλάδα, μήνημα στην Ευρωπη,
για μια Ευρωπη τον λαών και όχι των τραπεζιτών!
Die Veränderungen am Wochenende in Griechenland
sind ein Signal für Europa, für ein Europa der Menschen,
der Völker und nicht der Banken und Konzerne.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Sarrazin erhält nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte am Anfang meiner Rede kurz auf die Einführungsvorlesung
von Herrn Westerwelle eingehen. Herr Westerwelle - er
sitzt gar nicht auf der Regierungsbank, sondern spricht
mit Herrn Ramsauer -, Sie sind als einen der sechs
Punkte auf die Connecting Europe Facility eingegangen.
Ich glaube, dass man ein grundsätzliches Problem Ihrer
Europapolitik benennen kann: Als die Kommission im
letzten Herbst Vorschläge zu Projektbonds gemacht hat,
ist aus Ihren Reihen viel über Herrn Barroso geschimpft
worden, weil Sie das mit Euro-Bonds verwechselt haben.
({0})
Und jetzt stellen Sie hier Ihr Aktionsprogramm vor.
- Mögen Sie mir noch zuhören? - Dieses Aktionsprogramm besteht - das ist auch bei anderen Dingen der
Fall - aus einem Vorschlag, den die Kommission schon
im März vorgelegt hat. Abschreiben und Abkupfern
reicht nicht für die Europapolitik Deutschlands!
({1})
Das andere ist - das muss man in dieser Debatte und
nach dieser Vorlesung sagen -
Sie haben die Lage richtig wahrgenommen. Der Kollege Spatz möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Darf er das?
Klar.
Dem Kollegen Heil, der behauptet hat, wir hätten alternativlos abgelehnt, habe ich das auch schon gesagt:
Wenn Sie sich ein bisschen intensiver mit den Details
befassen würden, zum Beispiel mit den Vorschlägen, die
in unserer Stellungnahme zum MFR enthalten sind, die
der Bundestag auf Antrag der Koalition beschlossen hat!
Darin steht, dass wir eine andere Form von Projektanleihen wollen. Wir wollen keine Projektanleihen, bei denen
einfach nur öffentliches Geld ausgegeben wird, ohne
dass zusätzliches privates Geld mobilisiert wird. Es mag
ja sein, dass Sie das ablehnen. Aber die Behauptung, wir
hätten alternativlos abgelehnt, ist schlicht falsch.
Verehrter Herr Spatz, wenn Sie den Kommissionsentwurf bezüglich Connecting Europe Facility vom März
lesen, dann wird Ihnen ganz klar, was die Kommission
vorschlägt. Das ist eine Fazilität, die dafür sorgen soll,
dass mithilfe öffentlicher Mittel, mit Mitteln aus Strukturfonds aus anderen Bereichen gehebelt und mehr privates Kapital mobilisiert werden kann. Da hat nie jemand etwas anderes vorgeschlagen, auch Herr Barroso
damals nicht.
({0})
Das Problem an Ihrer Europapolitik ist, dass Sie nicht in
der Lage sind, konstruktive, vorausdenkende Vorschläge
zu machen. Sie müssen sich immer hinter den fehlenden
Mehrheiten in Ihren Reihen verstecken.
({1})
Das nimmt Stärke. Ihnen fehlt Stärke, um in Europa voranzugehen.
({2})
Eines muss man sagen - die Schuman-Erklärung ist
schon genannt worden -: Schuman hat damals geschrieben:
Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden
ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe
der Bedrohung entsprechen.
Wenn wir diesen Satz als Blaupause nehmen und uns
das, was Herr Westerwelle gerade gesagt hat, und Ihre
Beiträge in dieser Debatte vor Augen führen, dann ist,
glaube ich, die Analyse relativ klar.
Die große Frage in dieser Krise ist doch, Herr Spatz
und Herr Westerwelle, die integrationspolitische Demokratiefrage. Warum kommt von Herrn Westerwelle und
aus Ihren Reihe zu dieser großen Frage dieser Krise so
wenig, um nicht zu sagen: gar nichts?
({3})
Es ist doch bezeichnend, dass bei diesem Kernpunkt der
Europapolitik das Auswärtige Amt gar nicht präsent ist.
Ich muss Ihnen noch eines sagen - der Schuman-Plan
ist schon genannt worden -: Was war die große Idee von
Schuman neben dem, was Herr Krichbaum gewürdigt
hat? Es war die Hohe Behörde, die die gemeinsame
Montanunion verwaltet. Die Europapolitik dieser Regierung bricht mit dem Erbe von Schuman, weil Frau
Merkel in Brügge mit der Unionsmethode zum Angriff
auf die Kommission und das Europäische Parlament geblasen hat.
({4})
Sie brechen mit einer großen Tradition, indem Sie reine
Regierungspolitik machen und die Gemeinschaftsinstitutionen in dieser Krise schwächen.
({5})
Sie wissen, dass ich über die Geringschätzung der
Parlamente im Rahmen dieser Unionsmethode viel zu
sagen hätte. Deswegen haben wir in Karlsruhe geklagt.
Diesbezüglich haben wir in diesem Haus gemeinsame
Anliegen gegenüber der Regierung. Darüber werden wir
sprechen.
Ich möchte sagen, dass es aus meiner Sicht eine deutsche Aufgabe ist, den Mut, die Verträge zu ändern, zu
adressieren. Wir können ganz klar sagen, dass die Analyse in der Erklärung von Laeken, dass die Europäische
Union für die Herausforderungen der Globalisierung
nicht ausreichend gewappnet ist und dass die nationalen
Politiken besser koordiniert werden müssen, noch
stimmt. In dem Aktionsprogramm, das Herr Westerwelle
hier gerade genannt und vorgestellt hat, fehlt dieser
Punkt. Dort fehlt der deutsche Anspruch, dass wir die
Vordenker- und Vorreiterrolle in Europa übernehmen
müssen, wenn es darum geht, das Mehr an Europa konkret zu machen und über Vertragsänderungen zu reden,
und zwar mit einer Methode, die demokratisch und
transparent ist, also im Rahmen eines europäischen Konvents und nicht in den Hinterzimmern von Regierungskonferenzen.
({6})
Ich möchte meine letzten Sekunden Redezeit nutzen,
um etwas zu Griechenland zu sagen. Wenn ich mir die
Presselage ansehe - vieles von dem, was hier heute gesagt wurde, hebt sich positiv davon ab -, habe ich das
Gefühl, dass manche in Ihren Reihen noch nicht verstanden haben, für wen sie Stichwortgeber sein können, ob
willentlich oder aus Versehen. Ich frage mich manchmal:
Für wen machen Sie eigentlich Wahlkampf? Sie erwecken den Eindruck, es wäre möglich, Griechenland aus
der europäischen Schicksalsgemeinschaft auszuschließen, es wäre keine politische Wertentscheidung, die
Euro-Zone mit 17 Staaten zusammenzuhalten. Alle acht
Wochen wird aus den Reihen der Koalition diese politische Wertentscheidung infrage gestellt. Das ist ein Zeichen von politischer Schwäche. Diese politische Schwäche Ihrer Koalition und Ihrer Regierung ist mit ein
Grund für die Krise.
Vielen Dank.
({7})
Jürgen Hardt ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Europapolitiker und Außenpolitiker sind hier jetzt, da
die Debatte schon etwas fortgeschritten ist, relativ unter
uns. Ich freue mich trotzdem, dass der Präsident der
Europäischen Investitionsbank auf der Besuchertribüne
Platz genommen hat.
({0})
Ich glaube, wir alle setzen große Hoffnungen in die
Möglichkeiten und Perspektiven - diese gibt es zum Teil
aufgrund der neuen Ausgestaltung des finanziellen Rahmens der Europäischen Union -, die Instrumente, die
uns zur Verfügung stehen, zu schärfen und zu verbessern. Denn offensichtlich haben die Methoden, mit
denen wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten
versucht haben, Impulse für Wirtschaftswachstum zu
setzen, nicht ganz und nicht in allen Ländern den Erfolg
gehabt, den wir uns gewünscht haben.
Ich möchte in dieser Debatte ganz konkret auf die
Rede von Kollegen Roth eingehen - ich sehe ihn leider
gerade nicht -, der hier vorhin ein ziemlich düsteres Bild
Europas gemalt hat, um dann in den letzten zehn Sekunden seiner Rede die Regierung zu mahnen, sie solle doch
nicht alles so negativ malen und so schlecht sehen. Ich
möchte einen Beitrag dazu leisten, dass wir die Chancen
sehen, die vor uns liegen.
Wenn wir auf das zurückblicken, was wir in den letzten zwei Jahren in der Europapolitik erlebt haben, sehen
wir, dass wir viele Erschütterungen erlebt haben. Wir haben viele Dinge erlebt, die wir uns so nicht vorstellen
konnten, aber wir haben natürlich auch erlebt, dass wir
in den letzten 24 Monaten ganz gut um die vielen Klippen herumgeschifft sind, die uns im Weg standen.
Wir hören immer wieder Ratschläge von außen. Wenn
ich mir vorstelle, wir hätten vor 24 Monaten den Ratschlag angenommen, die Griechenland-Illiquidität, die
praktische Insolvenz dieses Staates, einfach hinzunehmen und nicht zu helfen, weil man als guter Kaufmann
dem schlechten kein gutes Geld hinterherwirft - das war
nur einer der Sprüche, die uns gesagt wurden -, dann
hätten wir einen enormen Schaden für Europa produziert, der weit über das hinausgeht, was man sich vorstellen kann.
Wir hätten selbst im günstigsten Fall auf das Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahre verzichtet, das
100 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen von
Bund, Ländern und Gemeinden gespült hat. All denjenigen, die uns vorwerfen, dass wir die Rettung des Euro
und die Rettung Griechenlands mit zu viel Geld, mit zu
viel gutem Willen und mit zu vielen Bürgschaften angehen, sei gesagt: Wenn wir diesen Vorschlag angenommen hätten, wäre die Situation heute schlagartig schlechter, und es wäre für uns mit Sicherheit auch teurer.
({1})
Ein möglicher Weg wäre damals gewesen, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen und das Auseinanderbrechen der Euro-Zone hinzunehmen. Diesen haben wir
zum Glück nicht eingeschlagen. Es gab einen anderen
extremen Vorschlag, über den man auch nachdenken
musste. Die Staats- und Regierungschefs hätten am
Abend des Ausbruchs der Staatsschuldenkrise sagen
können: Wir haften alle gemeinsam für alles. - Das hätte
die Märkte möglicherweise sogar beruhigt. Es hätte das
Problem der übermäßigen Verschuldung aber nicht gelöst. Deswegen bin ich der Bundesregierung dankbar,
dass sie diesen Weg nicht eingeschlagen hat, sondern gesagt hat: Wir versuchen, einen mühsamen, einen schwierigen, aber gleichwohl erfolgversprechenden Weg zu gehen, der insgesamt vier Elemente beinhaltet: erstens
faire Chancen für die Staaten, die in Schwierigkeiten
sind, zweitens die Absicherung unserer Verflechtungen
innerhalb der Europäischen Union, damit das Finanzsystem nicht zusammenbricht, drittens die Stärkung der
rechtlichen Verbindlichkeit im Hinblick auf solide Haushaltspolitik und viertens die Zähmung der ungehemmten
Finanzmärkte.
Ich möchte auf den dritten Punkt, nämlich die Frage,
wie wir Haushaltsdisziplin innerhalb der Europäischen
Union verwirklichen wollen, näher eingehen. Da finde
ich die Haltung der Opposition, offen gesagt, etwas ambivalent. Sie hat uns monatelang vorgehalten: Das, was
die deutsche Regierung in Europa will, ist undurchsetzbar; das ist wieder das typisch deutsche „Wir wissen alles besser, und wir machen alles besser“. - Dann ist es zu
einem Fiskalpakt gekommen, der in seinem Umfang, sowohl was die Zahl der teilnehmenden Staaten als auch
seine Elemente angeht, beachtlich ist und deutlich weiter
geht als das, was viele erwartet haben. Jetzt heißt es
plötzlich: Das ist alles viel zu streng. Das ist alles viel zu
sehr auf Austerität ausgerichtet. - Also: Sie müssen sich
schon entscheiden, ob Sie einen stabilen Euro mit soliden Staatsfinanzen wollen oder ob Sie weiterhin auf
Pump scheinbaren Wohlstand finanzieren wollen. Ich
persönlich bin der Meinung, die Bundesregierung hat an
diesem Punkt alles richtig gemacht, und sie verdient unsere volle Unterstützung, wenn es in den nächsten Wochen und Monaten in diesem Hause darum geht, die entsprechenden Entscheidungen zu treffen.
({2})
Ein Blick auf die Hilfen für Griechenland. Es ist nicht
an uns im Deutschen Bundestag, dem griechischen Volk
Ratschläge zu geben, die Wahl zu kommentieren und zu
analysieren und dabei Kritik am Wählervotum zu äußern.
({3})
Ich finde, die Bürgerinnen und Bürger in Griechenland
und auch die verantwortlichen Politiker wissen sehr genau, dass das, was die alte Regierung und das alte Parlament verabschiedet und vereinbart haben, natürlich über
den Wahltag hinaus Bestand haben muss, wenn man in
einem Staatenbund wie der Europäischen Union erfolgreich zusammenarbeiten will. Ich glaube, die Anzeichen,
die gestern aus Griechenland zu vernehmen waren, dass
es vielleicht doch die Perspektive für eine Parlamentsmehrheit gibt, die möglicherweise eine Regierung trägt,
die den Kurs fortführt, ohne dass man den Weg über
Neuwahlen gehen muss, sind ein gutes Signal. Ich würde
mir wünschen, dass wir schnell zu Ergebnissen kommen.
({4})
Das - notwendige - Sparen ist so zu gestalten, dass
die Menschen in den betroffenen Ländern dies akzeptieren und mittragen können. Ich glaube, in einem Land
wie Griechenland sollte man damit anfangen, dass nicht
zuerst der kleine Mann auf der Straße, sondern vielleicht
zunächst einmal der höhere Beamte ein Opfer für die Sanierung des Haushaltes zu erbringen hat. Man sollte vielleicht auch einmal darüber nachdenken, wie es gelingen
kann, den großen Anteil der Schattenwirtschaft in das reguläre Bruttosozialprodukt zu überführen und damit einer Besteuerung zu unterziehen. So kann man sparen,
ohne dass man irgendjemandem etwas wegnehmen
muss, was er dringend braucht und was ihm zusteht.
Ich glaube, dass Wachstumspolitik nicht im Widerspruch zu einer erfolgreichen und nachhaltigen sozialen
Politik steht. Auf diesem Weg werden wir gut vorankommen. Ich glaube im Übrigen auch, dass wir im Rahmen der weiteren Strukturierung des Finanzrahmens der
Europäischen Union, den wir in den nächsten sieben
Jahren vorsehen, genau diese Impulse setzen müssen.
Die Europäische Union hat sich auf den letzten zwei
großen Gipfeln ganz zentral mit den Quellen des Wachstums, der Stimulierung des Wachstums und der Schaffung eines sozialen Raums beschäftigt. Es gibt überhaupt keinen Grund, dahinter zurückzubleiben. Ich sehe
Europa trotz allem auf einem guten Weg. Ich denke, dass
wir mit dem eingeschlagenen Kurs der kleinen Schritte
und der Konsolidierung der europäischen Finanzen den
richtigen Weg beschritten haben. Ich würde mir schon
wünschen, dass wir das aus der Alltagspolemik der Politik heraushalten, damit Europa in der Öffentlichkeit eben
nicht nur negativ wahrgenommen wird.
Herzlichen Dank.
({5})
Nun erhält die Kollegin Kerstin Griese für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir
fehlt aufseiten der Regierungsfraktionen in dieser Debatte ein wenig die Begeisterung für die europäische
Idee.
({0})
Ich glaube, wir werden die Zustimmung für Europa und
auch für die schwierigen Schritte, die wir jetzt zu tun haben, nur dann wieder bekommen, wenn die Menschen
auch davon überzeugt sind, dass wir die Krise meistern
können. Diese Überzeugung fehlt bei Ihnen anscheinend.
({1})
Es ist ja auch interessant, dass Umweltminister
Röttgen versucht hat, die NRW-Wahl am Sonntag zu einer Abstimmung über den Europakurs der Kanzlerin
Merkel zu machen.
({2})
Bevor er da deutlich zurückgepfiffen wurde, hat er tatsächlich gedacht, dass er damit seine bescheidenen Zustimmungswerte steigern könnte. Welch ein Irrtum; denn
die Menschen wissen, dass Sparen alleine kein zukunftsfähiges Konzept ist, sondern dass Sparen und Wachstum
zusammengehören. Hannelore Kraft hat mit ihrer vorbeugenden Politik überzeugend gezeigt, dass Sparen und
Investitionen in die Zukunft, in Bildung und in Kinder
zusammengehören und zwei Seiten derselben Medaille
sind.
({3})
Deshalb ist es uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten so wichtig, dass beides zusammengehört:
Sparen und die Entwicklung von Wachstum, ein gemeinsamer Binnenmarkt und gemeinsame soziale Standards
in Europa, soziale Gerechtigkeit und Innovation, die gemeinsame Währung, der Euro, und offene Grenzen und
Freizügigkeit. Europa ist nämlich mehr als die Krise,
Europa bedeutet auch Jugendaustausch, Studentenaustausch, kulturelle Vielfalt und eine starke Zivilgesellschaft.
({4})
Unser ehemaliger Bundespräsident Johannes Rau hat
2003, in einem Jahr, in dem es um die Erweiterung der
Europäischen Union um zehn Staaten ging und in dem es
deshalb durchaus heftige Debatten gab, einmal gesagt
- ich zitiere ihn -:
Dauerhafte Fortschritte bei der Einigung unseres
Kontinents können wir nur erreichen, wenn die
europäische Idee in den Herzen und Köpfen der
Menschen verankert wird, wenn die Einigung von
den Menschen bejaht und getragen wird. Diese Zustimmung ist möglich, aber sie fällt nicht vom Himmel. Wer in Politik und Gesellschaft Verantwortung
trägt, muss dafür werben.
Auch heute geht es darum, mit Herz und Verstand dafür
zu werben. Ich habe aber das Gefühl, dass wir heute vonseiten der Regierung viele Abgesänge und Trauerreden
gehört haben.
Es geht nicht, für Europa zu werben, wenn man immer nur zögert und zaudert, wenn man zuerst auf die
„faulen Griechen“ schimpft und jegliche Hilfen ausschließt, um sie später dann doch zu gewähren - übrigens zu spät; dadurch wurde es noch teurer -, und wenn
man zuerst nachhaltige Rettungsschirme ausschließt, sie
später dann aber doch einführen will. Es geht jetzt darum, dass wir in dieser Krise entschlossen und zielgerichtet für Europa werben. Dazu gehört, dass wir neben
der Wirtschafts- und Währungsunion eben auch eine Sozialunion brauchen.
({5})
Unser Ziel ist das soziale Europa. Uns macht große
Sorgen, dass sich eine soziale Schieflage entwickelt. Die
wachsende soziale Ungleichheit in Europa gefährdet die
europäische Einigung und die Identifikation der Menschen mit Europa.
Die deutsche Bundesregierung zeigt leider keinerlei
Ehrgeiz, mehr Integration und Teilhabe für die Menschen im eigenen Land zu erreichen. Sie engagiert sich
nicht bei der Bekämpfung von Armut, sie hat die Langzeitarbeitslosen aufgegeben,
({6})
sie weigert sich, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, und sie will ein unsinniges Betreuungsgeld einführen, statt in den Kitaausbau zu investieren. Ich könnte
das ewig weiter fortsetzen.
({7})
Diese Bundesregierung zeigt leider auch kein Engagement, soziale Verwerfungen in den Ländern Europas, die jetzt unsere Hilfe brauchen, zu verhindern. Man
muss sich allein die Situationen in Spanien und Griechenland, wo die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos
ist, vorstellen, um zu wissen, was das mit den Menschen
dort macht. Das ist ein dramatischer Zustand.
({8})
Der Mindestlohn ist gesenkt worden, und es sind gerade
auch die gut ausgebildeten Menschen, die dort arbeitslos
sind.
Hier zeigt es sich, dass wir dringend mehr tun müssen, um Hoffnung für diese junge Generation zu schaffen. Deshalb brauchen wir mehr Wachstum, einen besseren und zielgerichteteren Einsatz der europäischen
Mittel und ein konkretes Programm zur Bekämpfung der
Jugendarbeitslosigkeit.
Für mehr Wachstum und Zusammenhalt in Europa
gibt es Beispiele. Wir brauchen Haushaltskonsolidierung, klare Sparziele und dazu ein Wachstumspaket. Wir
haben das in Deutschland schon einmal gezeigt, als sozialdemokratische Minister mit den Konjunkturpaketen
dafür gesorgt haben, dass Kommunen gestärkt wurden,
dass Arbeit geschaffen wurde und dass mit der Kurzarbeit Jobs erhalten wurden - gerade bei uns in Nordrhein-Westfalen.
({9})
Deshalb reicht es heute nicht, immer nur die guten
Daten und Zahlen zu loben, sondern man darf auch noch
einmal sagen, wer dafür gesorgt hat. Das waren nämlich
sozialdemokratische Minister und ihre Konzepte.
({10})
Um die Identifikation mit Europa zu erhalten, müssen
wir dringend die Verursacher der Krise an den Kosten
beteiligen. Dazu gehört eine Steuer auf Finanzgeschäfte,
dazu gehört eine effektivere Kontrolle der Banken, dazu
gehört ein gesetzlicher Mindestlohn auch für Deutschland, damit nicht immer nur die kleinen Leute zur Kasse
gebeten werden.
({11})
Europa ist ein Europa der offenen Grenzen. Für viele
Menschen sind die gemeinsame Währung und die Reisefreiheit die beiden Dinge, durch die Europa ganz praktisch erfahrbar ist. Deshalb sage ich ganz deutlich: Es
dient der europäischen Einigung nicht, wenn der Bundesinnenminister zusammen mit seinem abgewählten
französischen Kollegen über die Wiedereinführung von
Kontrollen an den innereuropäischen Grenzen nachKerstin Griese
denkt. Wir wollen ein offenes Europa und keine neuen
Schlagbäume.
({12})
Wir wollen eine andere Flüchtlingspolitik; denn auch
die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass keine
Menschen mehr im Mittelmeer ertrinken und dass sich
die Lage in den griechischen Flüchtlingslagern verbessert. Auch das gehört zu einem sozialen Europa.
({13})
Ein letzter Gedanke. Damit auch die arbeitslosen jungen Menschen in Griechenland, Spanien und Portugal
eine Zukunftsperspektive erhalten, ist es sehr wichtig, etwas für sie zu tun; denn anderenfalls werden sie Europa
infrage stellen, was eine Gefahr für unsere Demokratie
sein wird. Sie werden nämlich fragen, ob Demokratie
und soziale Marktwirtschaft die richtigen Antworten
sind. Wir haben am vergangenen Sonntag gesehen, dass
Rechtsextreme ins griechische Parlament eingezogen
sind. Das sollte uns zu denken geben. Deshalb ist unser
Einsatz für ein soziales Europa ein Einsatz für ein demokratisches Europa der Zukunft.
Vielen Dank.
({14})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Detlef Seif für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Griese, wenn das keine Wahlkampfrede war!
({0})
Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, angesichts der
Beschäftigungszahlen und der Arbeitslosenquote sowie
der Einnahmen des Staates halte ich es für ein bisschen
anmaßend, wenn Sie dieser erfolgreichen Bundesregierung vorwerfen, dass sie nichts täte. Wir sollten uns
nicht gegenseitig vorwerfen, dass uns die Begeisterung
für Europa fehlt. Wir alle sind begeistert. Wir haben nur
andere Lösungsansätze und Konzepte. Das sollten wir
respektieren.
({1})
Im März 2012 wurde der Fiskalpakt von den EU-Ländern bis auf Großbritannien und Tschechien angenommen. Er muss jetzt noch umgesetzt werden. Ich widerspreche ausdrücklich unserem Kollegen Jürgen Trittin,
der erklärt hat, dass dieser Fiskalpakt kein Meilenstein
sei.
({2})
Juristen wissen: In diesen Fiskalpakt wird die verbindliche Verpflichtung aufgenommen, eine Schuldenbremse
verfassungsrechtlich zu implementieren.
({3})
Der Fiskalpakt beinhaltet Kontrollmechanismen, die automatisch dazu führen, dass eine Verletzung der Kriterien des Maastrichter Vertrages durch die Mitgliedstaaten Konsequenzen hat. Das ist ein Meilenstein, weil in
den vergangenen Jahren Verletzungen nicht verfolgt
wurden.
({4})
Herr Dr. Schmidt, natürlich gehören ESM und Fiskalpakt zusammen. Wer als Mitgliedstaat nicht bereit und in
der Lage ist, haushaltspolitisch seinen Laden in Ordnung
zu bringen, der kann nicht erwarten, im Falle einer wirtschaftlichen Schieflage von der europäischen Solidarität
zu profitieren. Beides gehört zusammen.
({5})
Die Erklärungen des neuen französischen Präsidenten
François Hollande haben hier viele Gedanken beflügelt,
dass etwa über den Fiskalpakt neu verhandelt und ein
Wachstums- und Beschäftigungspakt eingesetzt werden
müsse. Der Kollege Jürgen Trittin sagt sogar: Wir müssen die Idee eines Schuldentilgungspaktes, den der Sachverständigenrat empfohlen hat, aufgreifen.
({6})
Die Kanzlerin hat nachvollziehbar erklärt, dass ein
Schuldentilgungspakt in der Praxis nicht umsetzbar ist.
({7})
- Die Mitglieder des Sachverständigenrates haben Ahnung von Wirtschaft, aber ich bezweifle, dass Sie mehr
Kenntnisse über Probleme bei der Implementierung politischer Institutionen haben als wir, die wir in der Politik
praktisch unterwegs sind.
({8})
Einige haben in Anlehnung an Hollandes Äußerungen
die Forderung erhoben, dass zunächst die Finanztransaktionsteuer eingeführt werden soll. Ich persönlich bin
kein Freund dieser Steuer, aber meine Fraktion und auch
die Kanzlerin setzen sich seit letztem Jahr mit Nachdruck dafür ein.
({9})
Wie Sie wissen, wurde der letzte Versuch, das EUweit zu implementieren, von neun Ländern gestartet.
Dieser Versuch ist am Widerstand von zwei Ländern gescheitert. Auch der Versuch, das in der Euro-Zone umzusetzen, ist ebenfalls gescheitert.
({10})
Man kann über alles diskutieren, Herr Heil. Auch Ihren Ansatz eines Investitions- und Aufbaufonds halte ich
für diskussionswürdig. Aber wir sind nicht in einem
Universitätsseminar, in dem wir viel Zeit haben, sondern
wir sind in der europäischen Praxis, und die Zeit drängt.
({11})
Ein großer deutscher Politiker und großer Europäer,
Willy Brandt, hat gesagt:
Mit den Europaverhandlungen ist es wie mit dem
Liebesspiel der Elefanten: Alles spielt sich auf hoher Ebene ab, wirbelt viel Staub auf - und es dauert
sehr lange, bis etwas dabei herauskommt.
Meine Damen und Herren, die Europapolitik der letzten zwei Jahre hat diesen Spruch widerlegt angesichts
der Geschwindigkeit von Entscheidungen und der Qualität in der Bearbeitung. Qualität erreicht man nicht, wenn
man sozusagen aus der Hüfte schießt; man muss natürlich den Sachverhalt prüfen.
({12})
Wir stehen vor schwierigen Situationen und neuen
Herausforderungen. Auch Sie wussten vor einem Jahr
nicht, wie die weitere Entwicklung vonstattengeht. Es
wurde jeweils angemessen, flexibel und vernünftig reagiert.
({13})
Ich halte es geradezu für unerträglich, wenn Herr
Steinmeier sagt, dass diese Regierung und die Kanzlerin
einen Stillstand herbeigeführt haben.
({14})
Es ist ein Verdienst der Bundeskanzlerin und des Finanzministers, dass die Verhandlungen auf europäischer
Ebene in dieser Qualität und mit dieser Zügigkeit umgesetzt wurden.
({15})
Die Kanzlerin wird europaweit für ihre tolle Arbeit respektiert. Sie aber machen das Ganze mies.
({16})
Man darf den Bogen auch nicht überspannen, unabhängig von den Signalen, die an die Märkte gesendet
werden. Wenn wir jetzt den Fiskalpakt noch einmal öffnen, dann werden alle Länder auf die Idee kommen, ihrerseits weitere Änderungen zu wünschen. Dann kommen wir zu gar nichts mehr. Deshalb appelliere ich an
Sie, mit Nachdruck an der Sache zu arbeiten, aber den
Fiskalpakt in der beschlossenen, das heißt in der vertraglich vereinbarten Form umzusetzen.
Wenn es in einem Kommentar der Welt heißt, dass die
Sozialdemokraten Hochverrat begehen könnten, wenn
sie den Fiskalpakt blockieren,
({17})
dann halte ich diese Formulierung für sehr überspitzt
und auch nicht für angemessen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Ja.
Bitte schön.
Lieber Herr Kollege, für Ihren letzten Halbsatz
möchte ich Ihnen jetzt schon einmal danken, vorausgesetzt, dass nicht noch ein Aber kommt.
({0})
Denn der Versuch auch von konservativen Journalisten,
politische Wettbewerber im Deutschen Bundestag, hier
die Sozialdemokraten, als vaterlandslose Gesellen oder
Volksverräter zu bezeichnen, hat eine unselige Tradition
in Deutschland.
Ich will Ihnen für den weiteren Verlauf Ihrer Rede
mitgeben, dass ich mich gestern an den Herausgeber der
Welt, Herrn Schmid, gewendet habe, der sich für diesen
Kommentar einer Mitarbeiterin dankenswerterweise entschuldigt hat.
Meine Bitte ist, dass Sie mithelfen, dass dies auch in
Ihrer Fraktion nicht weitergeht. Denn ein paar Kollegen
in Ihrer Fraktion haben gestern den gleichen Unsinn erzählt. Ich könnte deren Namen nennen. Das vergiftet die
politische Kultur. Bei allem legitimen Meinungsstreit
über die Zukunft Europas sollten wir so etwas nicht machen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mithülfen, dass
diese Vergiftung aufhört. Denn an der einen oder anderen Stelle brauchen wir auch Zusammenarbeit.
({1})
Herr Heil, ich verstehe das als ein Angebot von Ihrer
Seite, zur Sacharbeit zurückzukehren. Wenn Sie mir genau zugehört hätten, wüssten Sie: Auch ich halte diese
Äußerung in der Welt für maßlos überzogen. Die Wahl
der Begrifflichkeit ist für mich nicht vertretbar.
({0})
Sie sind keine Hochverräter, und es ist auch kein Landesverrat.
Aber man muss sich schon Gedanken machen: Handeln wir im Sinne von Europa und Deutschland, wenn
wir jetzt diesen Fiskalpakt mit weiteren Voraussetzungen
belegen, das Verfahren verzögern, ohne zu wissen, wie
es endet? In diesem Sinne muss ich Ihnen sagen: Das ist
kein Handeln für Europa, sondern gegen Europa.
({1})
Aber noch einmal zur Klarstellung: Die Formulierung,
die gewählt wurde, ist eindeutig überspitzt.
({2})
Neben der Einhaltung der Haushaltsdisziplin sind natürlich Wachstumsimpulse erforderlich. Aber hier unterscheiden wir uns. Wir brauchen keine staatlichen Subventionen und keine Förderprogramme. Vielmehr muss
das Wachstum aus Angebot und Nachfrage entstehen. Es
muss ein unternehmensfreundliches Klima geschaffen
werden.
In Griechenland hat es nicht an billigem Geld gemangelt. Seit der Euro eingeführt wurde, waren die Zinsen
noch nie so niedrig. Aber es ist nicht genutzt worden,
weil die Strukturen für unternehmerische Entscheidungen und Investitionen nicht vorhanden waren. Tatsächlich hat man das Geld in den Konsum gesteckt. Weitestgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit, hat die vom
Deutschen Horst Reichenbach geleitete Taskforce „Griechenland“ vieles erreicht. Kohäsionsmittel sollen natürlich zügig eingesetzt werden, um Wachstumsimpulse zu
schaffen. 181 Großprojekte wurden in Angriff genommen. Finanzunterstützung für kleine und mittlere Unternehmen wurde bewilligt und technische Hilfestellung
geleistet.
Aber gerade Griechenland ist ein Beispiel dafür, dass
die Strukturen in den vergangenen Jahren nicht stimmten. Die Bekämpfung der Bürokratie muss zu einer Verwaltungsvereinfachung führen. Wirtschafts- und Unternehmensförderung waren teilweise nur mit Bakschisch
möglich. Die Korruption muss bekämpft werden. Eine
gleichmäßige Steuererhebung und ein gleichmäßiger
Steuereinzug waren nicht gegeben. Ich könnte in diesem
Zusammenhang noch ellenlange Ausführungen machen.
Man ist dabei, die genannten Probleme zu lösen. Das ist
der richtige Ansatz.
Wir müssen unsere griechischen Freunde und die anderen betroffenen Partnerländer nachhaltig und spürbar
unterstützen. Wenn wir mittelfristig keine Änderungen
herbeiführen - ich nenne als Stichwort nur die fatale Jugendarbeitslosigkeit -, dann droht nicht nur eine Staatsschuldenkrise, sondern auch eine Identitäts- und Demokratiekrise. Europa ist zu wichtig, als dass wir eine
derartige Entwicklung tolerieren dürfen.
Trotz aller Unterschiede - Herr Heil, obwohl Sie auf
die gebotene Fairness in der Diskussion verwiesen haben, reden Sie immer dazwischen und waren in Ihrem
Redebeitrag nicht immer fair - sollten wir sehen: Im Ergebnis arbeiten wir an der Erreichung desselben Ziels.
Europa ist für uns alle eine Herzensangelegenheit, um
die wir uns mit Begeisterung kümmern. Bleiben wir
dran! Fassen wir mutige Beschlüsse, und lassen wir uns
nicht von Wahlkämpfen in unseren Reden und in unserem Handeln beeinflussen!
Vielen Dank.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da sich das als Vorurteil so zäh hält, will ich darauf hinweisen, dass nach
§ 27 unserer Geschäftsordnung nicht nur Zwischenfragen, sondern auch Zwischenbemerkungen möglich sind.
({0})
Damit das endlich alle lernen: Beides ist erlaubt.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/9595. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von vier
Fraktionen gegen die Stimmen der Linken abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 32 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Soziales Mietrecht erhalten und klimagerecht
verbessern
- Drucksache 17/9559 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Groß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Soziale Wohnraumförderung durch Bund und
Länder bis 2019 fortführen
- Drucksache 17/9425 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Ingo
Egloff für die SPD-Fraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eine Debatte über die Frage des sozialen Mietrechts in diesem Hause zu führen, ist meines Erachtens
überfällig.
({0})
Untersuchungen des Pestel-Instituts im Auftrag der
Kampagne „Impulse für den Wohnungsbau“ haben ergeben, dass sich der Anteil der Haushalte mit einem Einkommen von weniger als 1 500 Euro im Monat von
knapp 39 Prozent im Jahr 2002 auf 44 Prozent im Jahr
2010 erhöht hat. Das heißt aber auch, dass in den unteren
Einkommensschichten der Anteil am Haushaltseinkommen, der für Miete und Nebenkosten ausgegeben wird,
deutlich angestiegen ist, und das, obwohl die betreffenden Bevölkerungsschichten auf Wohnraumgröße verzichtet und kleinere Wohnungen in Anspruch genommen
haben.
Wir haben insbesondere in den wachsenden Ballungszentren wie Hamburg, Berlin, Köln, München, Stuttgart
und Frankfurt - um nur einige zu nennen - ein erhebliches Problem, auf das reagiert werden muss. Man muss
auch deswegen reagieren, weil in diesen Städten gleichzeitig ein Verdrängungswettbewerb im innerstädtischen
Raum festzustellen ist. Dieser, auch mit dem Begriff
Gentrifizierung bezeichnet, führt dazu, dass die angestammte Bevölkerung aus ihrem Wohnviertel vertrieben
wird, weil die Mietkosten so stark explodieren. In der
Folge werden auch kleine Handwerksbetriebe und Einzelhändler verdrängt.
Wenn in attraktiven Stadtteilen bei jeder Neuvermietung ohne Rücksicht auf die soziale Situation unbegrenzte Mieterhöhungen vorgenommen werden können,
steigt natürlich auch die ortsübliche Vergleichsmiete. Es
wird eine Spirale in Gang gesetzt, die das Mietniveau in
Höhen treibt, die wir nicht haben wollen, weil das einfach sozial unverträglich ist.
({1})
Diese Entwicklung in den Städten ist nicht gut, weil
sie zur Spaltung der Städte und letztlich zur Spaltung der
Gesellschaft führt. Hier die guten, attraktiven Stadtteile,
dort die unattraktiven, auf die in aller Regel dann auch
noch alle anderen Probleme der Städte abgeladen werden. Das verträgt eine Gesellschaft auf Dauer nicht.
({2})
Deshalb haben wir in unserem Antrag den Punkt der
Begrenzung der Mieterhöhung aufgenommen: 15 Prozent in vier Jahren statt wie bisher 20 Prozent in drei
Jahren. Bei Wiedervermietung wird die Erhöhung auf
maximal 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete beschränkt. Gleichzeitig soll der Referenzzeitraum
der zu berücksichtigenden Mieten auf zehn Jahre erhöht
werden und unter Einbeziehung der Bestandsmieten das
Mietniveau ermittelt werden. Das führt dazu, dass Mieterhöhungen, wie wir sie bisher feststellen können und
die zu der sozialen Unverträglichkeit in den Stadtteilen
geführt haben, nicht mehr in dem Maße stattfinden können.
({3})
Davon lesen wir im Referentenentwurf der Bundesregierung leider nichts. Unabhängig davon, dass wir immer noch auf den für Mai versprochenen Gesetzentwurf
warten, haben Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition, diese soziale Frage völlig ausgeblendet. Wer
aber die Augen davor verschließt, dass wir hier ein soziales Problem allererster Ordnung haben, das gewaltigen Sprengstoff in den Städten birgt, der handelt fahrlässig.
({4})
Ich jedenfalls möchte keine Entwicklung wie in Paris
erleben. Dort wurden systematisch Arbeiter, Angestellte
und kleine Gewerbetreibende aus der Stadt gedrängt.
Die sozialen Probleme kann man sich in der Banlieue
anschauen. Das haben wir alles im Fernsehen gesehen.
So etwas darf es in Deutschland nicht geben. Deswegen
müssen wir handeln.
({5})
Kommen wir nun zum Referentenentwurf, der überall
herumgeistert, inzwischen vielfach kommentiert wurde
und hier im Plenum schon zu vier Debatten geführt hat,
der aber bisher nicht in einen Gesetzentwurf mündete.
Niemand in diesem Hause bestreitet die Notwendigkeit
der energetischen Gebäudesanierung angesichts von
85 Prozent nicht saniertem Altbaubestand. Aber auch
hier gilt: Wir dürfen die soziale Dimension nicht aus den
Augen verlieren. Es darf am Ende nicht sein, dass die am
schlechtesten Verdienenden in den am schlechtesten isolierten Häusern mit den höchsten Energiekosten sitzen.
({6})
Deshalb ist eine Reduzierung der bei der Modernisierung umzulegenden Beträge von 11 auf 9 Prozent moderat, aber auch zielführend. Wer hier wie die Wohnungswirtschaft den Untergang des christlichen Abendlandes
beschwört, den Teufel an die Wand malt und das Ende
jeglicher energetischer Sanierung voraussagt, verursacht
Panik, die mit der Realität nichts zu tun hat.
({7})
Schauen Sie sich doch die Realität an!
({8})
Wenn der Gebäudeeigentümer eine Sanierung angeht,
dann macht er das einmal, und zwar richtig. Das wissen
wir aus den Gesprächen mit den Experten und den Wohnungsunternehmen. Dann werden nicht nur die Fassade
und die Fenster saniert, sondern dann werden in der Regel auch die Sanitäreinrichtungen saniert und Umbauten
zur Barrierefreiheit - Stichwort demografische Entwicklung - durchgeführt. Deshalb ist es gerechtfertigt, die
Umlage zu strecken; denn die Kosten werden durch die
energetische Gebäudesanierung noch mehr in die Höhe
getrieben als durch die bisher erforderliche Sanierung.
Deswegen müssen wir an dieser Stelle handeln.
({9})
Weil es so ist, dass energetische Gebäudesanierung,
Modernisierung und Instandhaltung zusammenfallen, ist
die Differenzierung bei der Mietminderung Unsinn. Das
eröffnet höchstens neue Spielwiesen für Rechtsanwälte
und ist in der Praxis schwer handhabbar. Im Übrigen ist
das auch unserem auf Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung beruhenden Vertragsrecht wesensfremd.
Wenn die vertragsgemäße Leistung von einer Seite nicht
erbracht wird, ist nicht einzusehen, dass die andere Seite
voll zahlen soll.
({10})
Dass nicht rückzahlbare Zuschüsse aus der Umlage herauszurechnen sind, versteht sich meines Erachtens von
selbst; denn niemand soll doppelt kassieren.
({11})
- Die Mietminderung hat doch nichts mit den geringeren
Heizkosten zu tun, Herr Kollege. Über diese Frage sollten Sie noch einmal nachdenken.
({12})
Zwar sieht der Regierungsentwurf richtigerweise
beim Contracting Kostenneutralität für die Mieter aufgrund einer vergleichenden Betrachtung vor, da aber
Contracting-Unternehmen mittelfristig Gewinn machen
wollen, müssen Sicherungen für die Zukunft eingezogen
werden, zumal die vorgeschlagene Regelung nur für die
Umstellung der Bestandsverträge und nicht für die Folgeverträge gilt.
Meine Damen und Herren, nun soll so nebenbei auch
das vermeintliche Problem der Mietnomaden gelöst werden. Festzustellen ist, dass es sich um eine verschwindend geringe Zahl an Fällen handelt, obwohl die Boulevardpresse immer wieder gern darüber berichtet - am
liebsten die BILD-Zeitung, wenn wieder irgendwelche
adeligen Personen aufgefallen sind, wie wir das in Hamburg öfter feststellen können. Es sind jedoch Einzelfälle,
und es handelt sich nicht um ein Phänomen, das die
Wohnungsbaugesellschaften groß beeinträchtigt. Wenn
Sie mit den Wohnungsbaugesellschaften reden, werden
Sie feststellen, dass diese sagen, sie zögen über ihre Mieter Auskünfte ein, sie wüssten, an wen sie vermieten.
Hier wird versucht, mit dem vermeintlichen Problem des
Mietnomadentums Dinge in das Mietrecht hineinzubringen, die nicht gerechtfertigt sind.
Die Kündigung wegen Nichtzahlung der Mietkaution
ohne vorherige Abmahnung ist meines Erachtens weder
dogmatisch vertretbar noch geboten. Hier kann aufgrund
des § 543 Abs. 1 BGB gekündigt werden. Einer solchen
Regelung, wie sie hier vorgesehen ist, bedarf es nicht.
({13})
Ein Räumungstitel wegen Mietverzuges im Wege einer einstweiligen Verfügung, ohne dass im Hauptsacheverfahren geprüft wurde, ob eine etwaige Mietkürzung
vertretbar ist, ist eine Einschränkung der Mieterrechte,
die überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Deshalb lehnen wir
das auch ab.
({14})
Hier wird versucht, über die Lösung eines Problems, das
nicht besteht, Mieterrechte in einer Art und Weise einzuschränken, die nicht gerechtfertigt und nicht zielgerichtet ist. Deshalb kann das im Gesetzentwurf unseres Erachtens so nicht stehen bleiben.
({15})
Insgesamt ist festzustellen: Sie von der Koalition
springen mit Ihrem Entwurf zu kurz, Sie blenden die soziale Dimension aus. Sie haben keine Lösung für Fragen
der sozialen Verdrängungsmechanismen in den Ballungszentren. Sie übersehen die soziale Dimension der
Kostenbelastung bei der energetischen Gebäudesanierung, und Sie regeln Probleme, die keine sind, und dann
auch noch so, dass die Mieter benachteiligt werden.
Wenn Sie wirklich bestehende Probleme nicht angehen wollen, dann lassen Sie den Referentenentwurf da,
wo er ist, im Ministerium. Da ist er ganz unten in einer
Schublade gut aufgehoben, und da sollte er dann auch
bleiben.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Herr Jan-Marco Luczak von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Egloff, Sie haben in Ihren Beitrag mit der Bemerkung eingeführt, die Debatte sei überfällig.
({0})
Ja, damit haben Sie ein Stück weit recht. Wenn man sich
einmal die zeitlichen Abläufe genau anschaut, stellt man
fest, dass genau vor einem Jahr, am 11. Mai 2011, das
Justizministerium den ersten Referentenentwurf für das
Mietrechtsänderungsgesetz vorgelegt hat. Seitdem ist
dieser Entwurf bekannt, und seitdem wird er diskutiert.
Auch wenn er noch einmal in Teilbereichen überarbeitet
worden ist, ist er in seinem Kern und in seiner Ausrichtung gleich geblieben.
Sie haben sage und schreibe ein ganzes Jahr gebraucht, um sich hierüber Ihre Meinung zu bilden. Dann
musste es offensichtlich auch noch sehr schnell gehen;
denn bis gestern Mittag war Ihr Antrag nicht einmal online verfügbar. Da fragt man sich schon: Wie kommt es
eigentlich dazu? Die Antwort kann ich Ihnen geben, sie
ist nämlich ganz einfach: Am Sonntag haben wir Wahlen
in Nordrhein-Westfalen.
({1})
Würde es Ihnen tatsächlich um ein soziales und klimaschützendes Mietrecht gehen, wäre jeder andere Zeitpunkt glaubwürdiger gewesen. Aber heute, zwei Tage
vor der Wahl, kann ich nur sagen: Herzlich willkommen
im Wahlkampf!
({2})
Natürlich werden Sie diesen Vorwurf ganz vehement
zurückweisen; das ist klar. Aber schauen Sie sich doch
nur einmal die Wortwahl an, die Sie in Ihrem Antrag
verwenden. Da sprechen Sie von einer „Explosion der
Mieten“ und davon, dass hier ein „Angriff“ der Bundesregierung auf das bestehende Mietrecht stattfinde.
({3})
Wer solch eine Wortwahl in seinem Antrag wählt, der
muss sich nicht wundern, wenn ihm vorgeworfen wird,
dass es ihm nicht um Sachpolitik geht, sondern einfach
nur um Wahlkampfgetöse. Damit diskreditieren Sie sich
selbst, meine Damen und Herren von der SPD.
({4})
Man kann es aber auch an anderer Stelle sehen, dass
es Ihnen hier um Wahlkampf und nicht um die Sache
selbst geht.
({5})
Sie beschäftigen sich mit dem Referentenentwurf im Detail überhaupt nicht. Zum Beispiel ist im Referentenentwurf vorgesehen, dass der Mieter bei einer energetischen
Sanierung in den ersten drei Monaten einer Maßnahme
die Miete nicht mindern können soll. Einerseits wollen
wir so vermehrt Anreize für energetische Modernisierung schaffen. Diese brauchen wir bei einer Sanierungsquote von 1 Prozent auch; sie muss steigen. Wir haben
uns auf der anderen Seite ganz bewusst gegen übermäßige Belastungen für die Mieter entschieden. Deswegen
haben wir auch gesagt: Einen vollständigen und zeitlich
unbegrenzten Ausschluss des Minderungsrechts wird es
mit uns nicht geben; denn das ist für die Mieter nicht zumutbar, und das vertragliche Gleichgewicht - Sie haben
es angesprochen, Herr Kollege - wäre dann in der Tat
gestört. Deswegen haben wir eine insgesamt sehr ausgewogene Regelung beim Minderungsrecht geschaffen.
({6})
Jetzt fragt sich nur: Was machen Sie daraus? Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass Mieter im Winter
mehrere Monate ohne Heizung sein könnten, ohne das
Recht auf Minderung zu haben, oder dass mehrere Maßnahmen aufeinanderfolgen und sich der Minderungsausschluss auf bis zu neun Monate verlängern könnte. Wenn
dem so wäre, dann wäre das in der Tat problematisch.
Nur, leider hat das mit unserem Gesetzentwurf und mit
der Realität überhaupt nichts zu tun.
({7})
Denn wenn im Winter die Heizung ausfällt, dann geht es
nicht mehr um die Minderung der Tauglichkeit einer
Wohnung, sondern dann ist die Gebrauchstauglichkeit
einer Wohnung komplett aufgehoben. Eine unbeheizte
Wohnung ist im Winter schlechterdings nicht nutzbar,
und dann muss der Mieter selbstverständlich auch keine
Miete zahlen. Deswegen geht Ihr Argument an dieser
Stelle von vornherein ins Leere.
Was nun Ihre Befürchtung angeht, es könne hier zu
Kettenminderungsausschlüssen kommen, wenn sozusagen eine Modernisierungsmaßnahme auf die andere
folgt, muss ich mich schon ein bisschen wundern, Herr
Egloff. Sie haben gerade gesagt: Wenn ein Vermieter so
etwas macht, dann macht er es richtig. - Ja, da haben Sie
recht.
({8})
Selbstverständlich wird er seine Modernisierungsmaßnahmen koordinieren. Es macht ja auch keinen Sinn, erst
die Fassade zu dämmen und später dann die Fenster zu
erneuern. Nein, er wird alles zusammen modernisieren;
daran hat er auch ein wirtschaftliches Eigeninteresse.
Bevor Sie so etwas schreiben, sollten Sie vielleicht mit
uns darüber diskutieren. Da sollte man sich doch ein
bisschen besser informieren.
({9})
Mit einem Wort: Ich finde, was Sie in Ihrem Antrag
schreiben, ist einfach falsch. Sie versuchen allein, den
Mietern Angst zu machen, um sich daraus Vorteile für
die Wahl am Sonntag zu verschaffen.
({10})
Ich finde das unredlich, meine Damen und Herren von
der SPD.
Aber Sie schreiben nicht nur Falsches in Ihrem Antrag, sondern Sie offenbaren auch - diesen Eindruck
habe ich -, dass der wirtschaftliche Sachverstand, den
man eigentlich erwarten sollte, an der einen oder anderen Stelle fehlt. Sie wollen - Sie haben das ausgeführt die Umlagefähigkeit der Kosten einer energetischen Modernisierung von derzeit 11 auf 9 Prozent reduzieren.
Zur Wahrheit gehört aber, dass die 11 Prozent, die wir
derzeit haben, vielerorts am Markt überhaupt nicht realiDr. Jan-Marco Luczak
sierbar sind. Das mag in Berlin, München oder anderen
begehrten Innenstadtlagen der Fall sein. In weiten Teilen
der neuen Bundesländer zum Beispiel sind Vermieter
hingegen froh, wenn sie ihre Wohnungen überhaupt vermieten können. Da ist an eine Erhöhung der Miete überhaupt nicht zu denken, auch nicht nach einer energetischen Sanierung.
({11})
Insofern ist das falsch, was Sie schreiben.
Aber was hätte es zur Folge, wenn man Ihrem Antrag
folgen würde? Wirtschaftlich stehen hinter der Errichtung und der Bewirtschaftung von Mietwohnraum erhebliche Investitionen und ein dauerhafter finanzieller
Aufwand. Wenn Sie nun die Anreize für Vermieter senken, Modernisierungen vorzunehmen, weil sie die Kosten nur mehr eingeschränkt umlegen können, werden
diese nicht mehr oder jedenfalls weniger investieren.
Das aber gefährdet das, was wir brauchen, nämlich den
Erhalt eines qualitativ hochwertigen Wohnungsbestandes, der energetisch saniert ist. Deswegen ist das ein
völlig falscher Ansatz. Wir brauchen mehr Anreize für
energetische Modernisierungen und nicht zusätzliche
Stolpersteine, die wir den Vermietern in den Weg legen.
({12})
Außerdem - auch das gehört zur Wahrheit - ist es in
der Regel so, dass ein Mieter unmittelbar davon profitiert, wenn eine energetische Modernisierungsmaßnahme vorgenommen wird, weil dadurch seine Betriebskosten sinken. Er hat also auch etwas von dieser
Modernisierung.
Meine Damen und Herren, noch ein Wort zum Klimaschutz. Auch das Contracting - Sie haben es angesprochen -, die gewerbliche Wärmelieferung, kann dazu in
der Tat einen wichtigen Beitrag leisten. Wir haben in unserem Referentenentwurf vorgesehen, einen einheitlichen Rahmen für die Umlagefähigkeit zu schaffen, der
auch auf die Bestandsverträge Anwendung finden kann.
Dafür haben wir zwei wesentliche Voraussetzungen genannt: Auf der einen Seite muss eine Effizienzsteigerung
dabei herauskommen, und auf der anderen Seite muss
die Contracting-Lösung für den Mieter kostenneutral
sein. Denn - das stand für uns von vornherein fest - Gewinne der Wärmelieferanten auf Kosten der Mieter darf
es an dieser Stelle nicht geben. Das ist für uns ganz klar.
Sie fordern in Ihrem Antrag eine Steigerung der Energieeffizienz und Wärmemietenneutralität. Das ist in unserem Gesetzentwurf schon längst enthalten.
({13})
Da fragt man sich doch, ob Sie unseren Entwurf nicht
gelesen haben oder ob es sich, wie schon erwähnt, nur
um Wahlkampfgetöse handelt.
({14})
Lassen Sie mich noch etwas zu den Mietnomaden
sagen. Ich wundere mich, dass Sie in Ihrem Antrag
schreiben, dieses Phänomen spiele für die professionelle
Wohnungswirtschaft im Kern keine Rolle; die Vertragsmanagementsysteme seien einfach zu gut. Ich weiß
nicht, ob es Ihnen entgangen ist: 60 Prozent der Mietwohnungen, die in unserem Land angeboten werden,
werden nicht etwa von professionellen Wohnungsvermietern angeboten, sondern von privaten Kleinvermietern. Für diese spielt der Schutz vor Mietnomaden eine
erhebliche Rolle. Wenn man einen Mietnomaden nämlich einmal in seiner Wohnung hat, dann hat man ganz
schnell Schäden von 20 000 Euro, und das ist für einen
privaten Kleinvermieter existenzbedrohend.
({15})
Für uns war ganz klar: Wir wollen einen besseren und
wir wollen einen schnelleren Schutz gegen Mietnomaden. Schließlich kann es nicht sein, dass es einzelne kriminelle Mieter in der Hand haben, ihren Rauswurf um
bis zu zwei Jahre zu verzögern. Das kommt mit uns nicht
infrage; das machen wir nicht mit.
({16})
In diesem Zusammenhang spielt die Frage der Kaution eine wichtige Rolle. Wir wollen es dem Vermieter
ermöglichen, schon relativ früh zu identifizieren, ob er
es möglicherweise mit einem Mietnomaden zu tun hat.
Es ist in der Tat so: Wenn man seine Kaution nicht rechtzeitig zahlt, dann kann das ein Indiz dafür sein, dass man
es mit einem kriminellen Mieter zu tun hat. Dem Vermieter soll die Möglichkeit gegeben sein, sich von einem
solchen Mieter sehr schnell zu trennen.
Da sagen Sie: Das braucht man alles nicht. - Wahr ist:
Das ist tatsächlich schon geltendes Recht. Man hat schon
bisher die Möglichkeit, fristlos zu kündigen. Das ist in
der Rechtsprechung ganz eindeutig.
({17})
Wir stellen das also nur klar.
Ich möchte noch etwas zur Hinterlegungsanordnung
sagen. Sie haben gesagt, man dürfe den Räumungsschutz
für Mieter nicht über Gebühr verkürzen. Da haben Sie
völlig recht. Wir haben mit der Hinterlegungsanordnung
- sie wird vielleicht noch ein bisschen umgestaltet - ein
kluges Instrument geschaffen. Nur wenn die Zahlungsklage des Vermieters eine hohe Aussicht auf Erfolg hat
und eine umfassende Interessenabwägung ergeben hat,
dass ein solches Vorgehen richtig ist, dann kann das Gericht eine Hinterlegungsanordnung erlassen.
({18})
Nur dann, wenn der Mieter dieser Hinterlegungsanordnung nicht nachkommt, wenn er also dokumentiert, dass
es ihm ganz offensichtlich darauf ankommt, die Miete
nicht zu zahlen, ermöglichen wir einen schnellen
Rechtsschutz im Wege einer einstweiligen Verfügung.
Ich glaube, das ist richtig. Wir dürfen die Vermieter hier
nicht alleinlassen, also nicht schutzlos lassen.
({19})
Letzter Punkt; meine Zeit ist abgelaufen.
Ja.
Die christlich-liberale Koalition hat anders als die
SPD hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sehr ausgewogen ist.
({0})
Wir befördern die energetische Modernisierung, um dem
gesamtgesellschaftlichen Ziel des Klimaschutzes Rechnung zu tragen. Wir berücksichtigen dabei die Interessen
der Mieter, aber auch die der Vermieter.
Herr Kollege.
Es ist also insgesamt ein ausgewogener Gesetzentwurf. Wir machen genau das Gegenteil von dem, was
Sie machen, nämlich einseitig die Vermieter benachteiligen. Meine Damen und Herren, wir werden Ihrem Antrag selbstverständlich nicht zustimmen können.
({0})
Das Wort hat nun Heidrun Bluhm für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Luczak, Sie haben hier eben sehr aufgeregt einen
Gesetzentwurf verteidigt, den es gar nicht gibt.
({0})
Es ist in der Tat so, dass wir an dieser Stelle über einen Referentenentwurf diskutieren. Sie verteidigen etwas, was zunächst auf der Referentenebene zweimal
verändert worden ist. Für Mai wurde die Vorlage dieses
Gesetzentwurfs angekündigt. Jetzt ist Mitte Mai. Wir haben nur noch eine Sitzungswoche im Mai. Noch liegt
dieser Gesetzentwurf nicht vor. Ich frage mich also:
Bleiben Sie worttreu? Werden Sie im Mai liefern? Können wir dann die Rede, die Sie eben hier sehr eindrucksvoll gehalten haben, als Statement für Ihren Gesetzentwurf werten, oder können wir das nicht?
({1})
Der SPD Wahlkampfgetöse vorzuwerfen, das kann
man machen; gar keine Frage. Man steht vor einer entscheidenden Landtagswahl. Das gilt aber für alle. Insofern ist es legitim, endlich über das Thema Mieten und
über das Thema Wohnen hier in diesem Hause zu reden.
Auf der anderen Seite möchte ich darauf hinweisen, dass
wir dieses Thema hier vor einigen Wochen behandelt haben. Eine kleine Kritik an die SPD: Wir sind im Bundesrat initiativ geworden und haben dort einen Gesetzesantrag eingebracht, dem auch Sie nicht abgeneigt sind. Es
hat also schon einmal die Chance bestanden.
({2})
- Ja, aber nur halbwegs, nicht wahr?
({3})
- Gut.
Worum geht es eigentlich? Was sind die dringendsten
Herausforderungen der Wohnungspolitik heute? Wir tragen gemeinsam Verantwortung dafür, dass ausreichend
energetisch modernisierter, altersgerechter und barrierefreier Wohnraum überall zur Verfügung steht. Die Bauwirtschaft braucht auch eine gewisse Sicherheit, wenn
sie sich auf diese Herausforderung einstellen soll.
Wir sind gemeinsam für die Rahmenbedingungen
verantwortlich, insbesondere dafür, dass alle Vermieter
die Ziele auch erreichen können, die wir als Gesellschaft
ihnen mit dem Mietrecht aufgeben und die sich durch die
Herausforderungen für die Wohnungswirtschaft stellen.
Sie brauchen also eine Verlässlichkeit, was Fördermittel
betrifft.
Wir müssen gemeinsam erreichen, dass alle Bürger
ihre Wohnkosten auch bezahlen können. Das ist die zutiefst sozialpolitische Verantwortung, die wir in diesem
Hause tragen.
({4})
Wir müssen gemeinsam nach Lösungen suchen, dass
die Nettokaltmiete durch die Modernisierungsumlage
nicht stärker steigt, als bei den Nebenkosten eingespart
wird. Das ist ebenfalls die Verantwortung, die wir den
Mieterinnen und Mietern gegenüber haben, wenn wir
den vorgenannten Punkt ernst nehmen.
Wir müssen gemeinsam gewährleisten, dass Wohnen
ein Grundrecht für alle Menschen wird. Ich sage mit Absicht nicht „bleibt“, sondern sage „wird“. Wenn wir uns
ansehen, wie sich die Wohnungslosenzahl entwickelt
- wir haben in der vergangenen Sitzungswoche ein Expertengespräch dazu gehabt -, müssen wir davon ausgehen, dass diese Zahl noch weiter steigen wird. Für uns
als Linke ist Wohnen ein Grundrecht, das wir für alle sichern müssen.
({5})
Vor diesem Hintergrund, der sicher Konsens wenigstens der Oppositionsfraktionen in diesem Hause ist,
werde ich den Antrag der SPD „Soziales Mietrecht erhalten und klimagerecht verbessern“ bewerten.
Was Sie dort fordern, klingt beim ersten Hinhören
nicht schlecht.
({6})
Wir sind uns einig, dass wir ein soziales Mietrecht brauchen und dass die Klimaziele im Wohnbereich durchgesetzt werden müssen. Aber das, meine Damen und Herren von der SPD, werden Sie mit diesem Antrag nicht
erreichen. Warum greifen Sie nicht einfach die Bundesratsinitiative auf, die wir Ihnen vor Wochen hier vorgelegt haben?
({7})
Den Entwurf hatte die SPD in Berlin gemeinsam mit der
Linken im Bundesrat auf den Weg gebracht. Diesen Entwurf hat meine Fraktion vor Wochen hier vorgelegt; Sie
hätten nur mitstimmen müssen. Warum jetzt also dieser
Antrag, der in seinem politischen Anspruch und - das
muss man leider sagen - in seiner handwerklichen Qualität weit hinter dem zurückbleibt, was Ihre Berliner Genossen schon vor zwei Jahren aufgeschrieben haben?
Ein erstes Beispiel: die Mietsteigerung. Egal ob
20 Prozent in drei Jahren oder, wie Sie vorschlagen,
15 Prozent in vier Jahren - beides ist unsozial. Solche
Preisexplosionen haben mit der realen wirtschaftlichen
Entwicklung auf dem Mietmarkt überhaupt nichts zu
tun. Sie sind auch von der tatsächlichen Einkommensentwicklung bei den Mieterinnen und Mietern völlig abgekoppelt und sprengen daher die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von immer mehr Mieterhaushalten; das
Realeinkommen ist in den vergangenen Jahren gesunken, und die Mieten steigen.
Das hat auch ursächlich nichts mit energetischen Sanierungsmaßnahmen zu tun; das ist ein reiner Marktmechanismus. Solche Steigerungen lassen sich nur dort
durchsetzen, wo Wohnraum knapp ist - das ist hier
schon gesagt worden; an anderer Stelle eben nicht -, und
zwar unabhängig davon, ob eine Wohnung energetisch
gebaut oder saniert ist.
Eingeführt wurde die Regelung zu den Mietsteigerungen damals, um Miettreiberei zu verhindern. Heute wird
sie zur Miettreiberei benutzt, ohne Gegenleistung durch
den Vermieter, dort nämlich, wo der Markt es hergibt.
({8})
Ein zweites Beispiel: die Wohnkosten insgesamt. Sie
steigen auch dort rasant, wo die Kaltmieten aufgrund ungenügender Nachfrage stabil oder auch rückläufig sind,
und zwar durch explodierende Energie- und Wasserpreise, durch steigende Gebühren und Abgaben, mit denen Kommunen, die klamme Kassen haben, versuchen,
ihre Haushalte zu stabilisieren. Ein Beispiel ist die
Grundsteuererhöhung, die voll auf die Nebenkosten der
Mieterinnen und Mieter durchschlägt.
Ein weiteres Beispiel: energetische Sanierung. Klar,
sie ist zwingend notwendig. Das ist nicht nur eine Frage
des Klimaschutzes, sondern das ist angesichts der rasant
steigenden Wohnkosten auch eine zutiefst soziale Frage.
Da schlagen Sie in Ihrem Antrag vor - ich zitiere -,
… eine Regelung vorzulegen, durch die den Kommunen in geeigneter Form ein Interventionsrecht
gegen Maßnahmen zur Wohnwertsteigerung eingeräumt wird, um prekäre Mietsituationen in bestimmten Wohnbereichen zu vermeiden.
Wollen Sie Wohnsiedlungen schaffen, in denen das
Prekariat in unsanierten, energiefressenden Wohnungen,
dafür aber zu niedrigen Kaltmieten wohnen muss, weil
sich die Menschen nichts anderes leisten können oder
die Arge nichts anderes finanziert?
Das Problem ist also nicht in erster Linie die luxuriöse Wohnwertsteigerung, sondern schlicht - jetzt zitiere ich einmal eine andere Stelle aus Ihrem Antrag -:
Die Verbesserung des Klimaschutzes als nationale
Aufgabe darf nicht allein auf die betroffenen Mieter
abgewälzt werden.
Klar, da haben Sie recht. Leider sind Sie in Ihrem Antrag nicht konsequent und suchen nach scheinbaren
Kompromissen, um die Modernisierungskosten etwas
gerechter zu verteilen.
Dazu schlagen Sie zum Beispiel eine Reduzierung der
Umlage sämtlicher Kosten für Modernisierungsmaßnahmen von 11 auf 9 Prozent vor. Aber weder die 11 noch die
9 Prozent sind wirtschaftlich irgendwie gerechtfertigt.
Wenn man die tatsächlichen Kosten der für die energetische Modernisierung notwendigen Maßnahmen zugrunde
legt und den Amortisationszeitraum der Investitionsmaßnahme dagegenstellt, würde - das fordern wir - auch eine
5-prozentige Umlage ausreichen.
({9})
Der Mieterbund fordert sogar die Abschaffung dieser
Umlage, und das nicht zu Unrecht. Denn erstens bleibt
die höhere Miete auch nach Ablauf der Abschreibungsfrist erhalten, und zweitens wäre eine Rücknahme der
Mietsteigerung nach einem zwangsläufig sehr langen
Zeitraum nicht kontrolliert durchsetzbar. Eine solche
Forderung klingt nett, aber sie ist weltfremd.
Was aber bleibt, ist die Wirkung auf den Mietspiegel,
weil von der Modernisierungsumlage die Nettokaltmieten betroffen sind und damit eine Mietsteigerung im
Mietspiegel festgeschrieben wird.
Schließlich fordern Sie mit Ihrem Antrag,
nicht rückzahlbare Förderungen zur energetischen
Modernisierung aus der Umlagefähigkeit herauszunehmen.
Das unterstützen wir ausdrücklich, das ist selbstverständlich. Warum sollten Mieterinnen und Mieter noch
einmal bezahlen, was sie zuvor als Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler an den Staat abgegeben haben? Denn
der hätte sonst die Möglichkeit, Fördermittel zur Verfügung zu stellen, nicht gehabt.
Summa summarum: Dass die Politik angesichts steigender Mieten und Wohnkosten drohenden schwerwiegenden sozialen Verwerfungen vorbeugen muss, steht
für mich außer Zweifel. Ebenso unzweifelhaft ist, dass
der weltweite Klimawandel uns zwingt, die Energiewende auch im Gebäudebereich voranzutreiben. Für beides ist der Erhalt eines sozialen Mietrechts zwar nicht
unbedingt der Schlüssel. Er ist aber notwendig, weil weder die sozialen noch die klimatischen Probleme in der
Gesellschaft mit sozialem Unfrieden und der Vertiefung
sozialer Gegensätze zu lösen sind.
Das aber - darin stimmt die Linke mit der Intention
dieses Antrags überein - würde mit der Verabschiedung
des Referentenentwurfs zum Mietrechtsänderungsgesetz passieren, der immer noch nicht das Licht der Welt
erblickt hat. Er ist nichts anderes als die Verschiebung
der Lasten allein auf die Schultern der Mieterinnen
und Mieter. Er sollte - hier stimme ich Ihnen zu, Herr
Egloff - tatsächlich dort bleiben, wo er ist: in den Schubladen der Referenten.
({10})
Was den Erhalt des sozialen Mietrechts und seiner klimagerechten Verbesserung angeht, unterbreite ich einen
Kompromissvorschlag: Lassen Sie uns doch zu dem Entwurf des Gesetzes zur Sicherung bezahlbarer Mieten und
zur Begrenzung von Energiekosten und Energieverbrauch zurückkommen, der immer noch im Bundesrat
schmort. Im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung - Sie haben es gerade gesagt - ist er zumindest
nicht abgelehnt worden, sondern es wurde sich der
Stimme enthalten. Im Rechtsausschuss haben Sie ihm
sogar zugestimmt.
Wenn ich die Signale aus der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen richtig interpretiere, könnten sich auch diese
Kolleginnen und Kollegen eher damit anfreunden. Das
wäre doch einmal etwas. Das wäre ein Kompromiss.
Jetzt noch ein letzter Satz zu dem zweiten von Ihnen
eingebrachten Antrag „Soziale Wohnraumförderung
durch Bund und Länder bis 2019 fortführen“: Ja, das
kann man machen.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Sebastian Körber von der FDPFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zwei Anträge, die wir vorliegen haben, sind mit
sehr heißer Nadel gestrickt. Es sollte in diesen Anträgen
noch einmal mit den Ängsten der Mieterinnen und Mieter, vielleicht sogar in Nordrhein-Westfalen - ich will
hier nichts unterstellen -, gespielt werden und ein bisschen Wahlkampf gemacht werden.
Ihr Antrag lautet: „Soziales Mietrecht erhalten und
klimagerecht verbessern“. Das ist gut so. Die Koalition
wird Ihnen dazu entsprechende Anträge vorlegen.
({0})
Wir sind hier auf einem sehr guten Weg.
Wenn Sie von einem sozialen Mietrecht sprechen, so
verschweigen Sie dezent, dass auch wir wollen, dass die
Menschen in vernünftigen Wohnungen möglichst energieeffizient und barrierearm leben können. Wir zahlen in
diesem Land Wohngeld. Das dürfen Sie nicht einfach
verschweigen.
({1})
Als Sofortmaßnahme - damit wir bessere Gebäude in
Deutschland haben - wäre es gar nicht so schlecht, wenn
in Nordrhein-Westfalen die Oberblockiererin Hannelore
Kraft abgewählt werden würde; denn sie verhindert die
Zustimmung des Bundesrates.
({2})
Wir werden nicht müde, dies Ihnen immer wieder zu sagen.
({3})
Sie verhindern doch auf diese Weise, dass in diesem
Land endlich Steueranreize für energetische Gebäudesanierungen möglich werden.
({4})
Ich kann Ihnen dazu noch etwas sagen: 75 Prozent der
Wohnungen in Nordrhein-Westfalen gehören nicht den
großen Wohnungsbaugesellschaften, sondern sind im
Besitz von kleinen, privaten Vermietern. Diese Gruppe
lassen Sie vollkommen aus.
Voller Stolz erklären Sie, warum Sie den energetischen Abschreibungsmöglichkeiten im Bundesrat nicht
zustimmen. Dabei gehen Sie in Nordrhein-Westfalen sogar noch weiter: Dort wurde ein eigenes Förderprogramm aufgelegt, für das 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Hierzu muss man feststellen: Die
KfW Bank hat Anfang dieses Jahres das aus Eigenmitteln betriebene Programm „Wohnraum Modernisieren“
eingestellt. Denn der Bund hat aufgrund seiner ambitionierten Klimaschutzziele höhere Förderstandards als die
KfW Bank festgelegt. Was machen Sie von der SPD und
von den Grünen in Nordrhein-Westfalen? Sie führen ein
neues Programm ein, mit dem Sie nur Mitnahmeeffekte
fördern; denn das Programm fördert nicht die hohen
Energieeffizienzstandards. Es ist wirklich ein Skandal,
was Sie mit den Steuermitteln in Nordrhein-Westfalen
anstellen.
({5})
Ich möchte der Justizministerin und Herrn Staatssekretär Stadler ausdrücklich für das danken, was im Mietrecht auf den Weg gebracht werden soll; denn diese Programme enthalten unbestritten einen hinreichenden
Mieterschutz
({6})
Dies steht im Gegensatz zu Ihren Programmen von der
SPD, Herr Pronold. Sie können gleich ausführen, wie
Sie sich dazu verhalten.
Sie produzieren ständig Zerrbilder in Bezug auf den
sogenannten bösen Miethai. Wir hätten allerdings überhaupt kein ausgeglichenes Wohnungsangebot in diesem
Land, wenn es nicht die vielen kleinen Vermieterinnen
und Vermieter gäbe. Allein 61 Prozent der Wohnungen
- das sind fast 14,5 Millionen - werden von nichtprofessionellen Vermietern gestellt. Ich finde es unsäglich,
wenn Sie sagen, Mietnomaden seien gar kein Problem.
Ich hätte von jemandem, der einmal wirtschaftspolitischer Sprecher in Hamburg war, etwas mehr Sachverstand erwartet; das muss ich an dieser Stelle klar sagen.
Mietnomadentum kann für einen Vermieter ein existenzielles Problem bedeuten, wenn er beispielsweise ein
Zweifamilienhaus besitzt und eine Wohnung vermietet.
Solche Konstellationen sind für viele Menschen in diesem Lande ein Beitrag zur Altersvorsorge, auch in Nordrhein-Westfalen, nicht nur in Hamburg.
({7})
- Sie haben einen Ballon aufgeblasen. Ich kann es Ihnen
gerne an Fakten aufzeigen.
({8})
Sie widersprechen sich sogar in Ihren Anträgen. Auf
der einen Seite wollen Sie die derzeitige Umlagefähigkeit bei den Sanierungskosten von 11 Prozent auf 9 Prozent absenken. Auf der anderen Seite fordern Sie in Ihrem zweiten Antrag bezüglich der Wohnraumförderung
mehr barrierefreie und energieeffiziente Wohnungen.
Dann können Sie doch nicht gleichzeitig die Anreize herunterfahren. Das ist in Ihren Anträgen doch ein Widerspruch in sich.
({9})
Ihnen geht es nur darum, schnell etwas mit der heißen
Nadel zu stricken und ein bisschen Wahlkampf zu betreiben. Dabei spielen Sie mit den Ängsten der Menschen.
({10})
- Das können Sie gleich alles erzählen, Herr Pronold.
Hören Sie noch kurz zu; dann können Sie vielleicht noch
etwas lernen.
Zur Heizkostenersparnis. Es geht nicht um die Nettokaltmiete, sondern es geht darum, dass die Heizkosten
reduziert werden. Die energetische Sanierung eines Gebäudes kann in einzelnen Schritten umgesetzt werden:
Da werden die Fenster oder die Heizungsanlage ausgewechselt, eine Gebäudedämmung wird angebracht, das
Dach wird neu isoliert. Dann reduzieren sich die Heizkosten. Wer profitiert davon?
({11})
Ist es der private Vermieter? Es sind die Mieter, die an
dieser Stelle profitieren; denn bei denen reduzieren sich
die Nebenkosten. Unterhalten Sie sich doch einmal mit
einem Mieter; ich glaube, Sie haben davon keine Ahnung.
({12})
Ich möchte Ihnen zu Ihrem anderen Antrag auch noch
etwas aufzeigen: Im Rahmen der Föderalismusreform
haben wir eine neue Regelung getroffen; darüber verhandeln derzeit der Bund und die Länder. Es wird geprüft, wie man ein Gesamtpaket schnüren kann, um die
Bindung hinsichtlich der Ausgleichszahlungen fortzuführen, die nur bis 2014 läuft. Insofern kann ich Ihnen an
dieser Stelle zustimmen. Es gilt, die Aufgabenerfüllung
bis 2019 oder darüber hinaus sicherzustellen. Ich bin zuversichtlich, dass das gelingen wird.
Ansonsten finden sich in diesem Antrag lediglich
Lippenbekenntnisse, die zu nichts führen werden. Auch
hier habe ich Ihnen eine Zahl aus dem größten deutschen
Bundesland herausgesucht: Ihr heutiger Antrag ist schon
deshalb bemerkenswert, weil die rot-grüne Landesregierung 2011, gerade erst ins Amt gekommen, direkt die
Wohnraumförderung um 20 Prozent gekürzt hat, obwohl
in Ihrem Wahlprogramm noch eine Festschreibung auf
1 Milliarde Euro stand.
So viel zur Glaubwürdigkeit der Sozialdemokraten.
({13})
Deshalb werden wir die Anträge, die Sie vorgelegt haben, kraftvoll ablehnen.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat nun Daniela Wagner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Situation auf dem deutschen Wohnungsmarkt ist
schnell umrissen - in vielen Punkten sind wir uns relativ
einig -: Auf der einen Seite gibt es Probleme durch zunehmenden Leerstand, auf der anderen Seite gibt es absurde Preisentwicklungen in bestimmten Ballungsräumen, zum Beispiel im Rhein-Main-Gebiet, im Großraum
München, im Großraum Stuttgart und in Teilen Berlins.
Das sind die Probleme, auf die wir im Moment reagieren
müssen. Es gibt zudem eine Zunahme der Zahl von
Haushalten, die sich aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse nicht mehr mit Wohnungen über den freien Wohnungsmarkt versorgen können.
Die entscheidenden Herausforderungen bilden die
Energiewende und der demografische Wandel. Grundsätzlich ist festzuhalten: Die umfassende energetische
Gebäudesanierung ist kein Selbstzweck, sondern sie ist
angesichts der stetig steigenden Energiekosten notwendig, damit das Wohnen bezahlbar bleibt und der Klimawandel aufgehalten werden kann.
({0})
Aber auch für die Eigentümerinnen und Eigentümer sowie Vermieterinnen und Vermieter muss die Bereitstellung von Wohnraum finanzierbar bleiben. Deswegen
müssen die mietrechtlichen Schrauben so gestellt werden, dass die energetische Gebäudesanierung einerseits
befördert wird und auf der anderen Seite die Mieterinnen
und Mieter vor Verdrängungseffekten geschützt werden.
({1})
Dabei darf das Mietrecht nicht isoliert betrachtet werden; denn es ist nicht seine primäre Aufgabe, die energetische Gebäudesanierung voranzutreiben, es darf ihr lediglich nicht im Weg stehen.
Die energetische Gebäudesanierung muss in erster Linie durch entsprechende Förderprogramme und gegebenenfalls durch das Ordnungsrecht sichergestellt werden.
Bei Förderprogrammen liegt die Betonung vor allen
Dingen auf „verlässlich“. Es darf nicht sein, dass es jedes Jahr neue Wasserstandsmeldungen gibt, dass das,
was man im Januar geplant hat, schon im September
Makulatur sein kann, weil es keine Fördermittel mehr
gibt. Verlässlichkeit heißt, dass der Bürger genau weiß,
dass er auch noch in einem Jahr damit rechnen kann,
dass die Zuschüsse zur energetischen Gebäudesanierung
fließen.
({2})
Das Mietrecht ist lediglich dazu da, die unterschiedlichen und auf Mieterseite auch berechtigten Interessen
auszugleichen. Der Antrag der SPD bezieht sich hauptsächlich auf den Referentenentwurf der Bundesregierung vom Oktober 2011, der wie in der Echternacher
Springprozession seltsam vor- und zurückrückt, aber nie
so richtig den Sprung in den Plenarsaal schafft. Vielleicht schaffen Sie es ja noch vor der nächsten Bundestagswahl, wenn nicht, lassen Sie es einfach bleiben.
({3})
Sie lehnen die Aufhebung des Mietminderungsrechts
für drei Monate bei energetischen Sanierungen ab. Das
sehen wir ähnlich, insbesondere auch auf der Grundlage
der rechtspolitischen Unsicherheiten; denn das Recht auf
Mietminderung stellt auf das Vorhandensein von bestimmten Eigenschaften des Wohnraums bei Vertragsabschluss und auf seinen Nutzwert ab und weniger auf die
gute Motivation des Vermieters. Wir meinen, wenn der
Nutzwert gemindert ist - aus welchen Gründen auch immer -, dann ist das Mietminderungsrecht das Instrument
der Wahl, natürlich auch in den ersten drei Monaten.
({4})
Sie wollen, dass den Kommunen ein Interventionsrecht gegen Maßnahmen zur Wohnwertsteigerung eingeräumt wird, um prekäre Mietsituationen zu vermeiden.
Ich nehme stark an, Sie meinen in diesem Zusammenhang Luxussanierungen und Gentrifizierungsprozesse.
Allerdings unterlassen Sie es, die Instrumentarien zu benennen. Wir halten zwei Instrumente zur Begrenzung
von Wieder- und Neuvertragsmieten für notwendig. Wir
wollen im BauGB bei der Ausweisung von Sanierungsund Milieuschutzgebieten wieder Mietobergrenzen nach
§§ 142 und 144 - Sanierungssatzung - und § 172 - Erhaltungssatzung - ermöglichen.
Außerdem wollen wir im BGB die Landesregierungen ermächtigen, in Kommunen oder deren Teilgebieten
Mietobergrenzen einzuführen, wenn in einem bestimmten Quartier ein Wohnraummangel vorherrschend ist. Ich
denke, das sind geeignete Instrumente, um punktuell und
situationsgerecht Abhilfe zu schaffen.
({5})
Sie wollen ebenso wie wir die Modernisierungsumlage nach § 559 BGB von 11 auf 9 Prozent absenken. Sie
schlagen die Prüfung einer zeitlichen Begrenzung vor.
Wir haben uns lange mit der zeitlichen Begrenzung befasst, sind aber zu dem Schluss gekommen, dass das in
der Praxis sehr schwierig zu realisieren ist; denn Sie
müssten die Miete theoretisch irgendwann wieder inflationsbereinigt absenken. Das könnte unter Umständen
sehr kompliziert werden und an der Praxis scheitern. Der
Gedanke ist natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen.
Für uns ist entscheidend, dass die Mieterinnen und
Mieter durch die Modernisierungsumlage eine Entlastung bzw. Wohnwertsteigerung erhalten und dass sie
nicht zu unnötigen Luxusmodernisierungen führt. Deswegen wollen auch wir die Umlagemöglichkeit der
Höhe nach begrenzen. Wir wollen sie darüber hinaus
aber auch auf die energetische Sanierung und den altersgerechten Umbau begrenzen. Das ist aus unserer Sicht
vordringlich. Das muss finanziert werden. Alles andere
kann unterbleiben, weil es sich dabei schlicht und ergreifend um Luxusmodernisierungen handelt, die sich der
Mieter leisten können muss. Solche Modernisierungen
muss der Vermieter nicht vom Mieter erstattet bekommen.
In Ihrem Antrag fehlt uns eine energiepolitische Weichenstellung. Sie haben zum Beispiel nicht gefordert, die
energetische Gebäudebeschaffenheit im Rahmen der
ortsüblichen Vergleichsmiete zu berücksichtigen, also so
etwas wie einen ökologischen Mietspiegel. Das wäre
aber richtig.
({6})
Es ist richtig, Zuschläge für einen hervorragenden Gebäudezustand vorzusehen. Bei einer schlechten energetischen Gebäudebeschaffenheit müssen auch Abschläge
möglich sein oder gegebenenfalls beides in KombinaDaniela Wagner
tion. Das wäre im Rahmen von Mietspiegel und ortsüblicher Vergleichsmiete ein richtiges Instrument, um dem
Ziel näherzukommen. Es gibt inzwischen ein paar
Städte, die einen ökologischen Mietspiegel haben. Das
funktioniert.
Die Kappungsgrenze wollen Sie von 20 auf 15 Prozent absenken. Das sehen wir auch so.
Weiterhin wollen wir den Klimaschutz in die Interessenabwägung nach § 554 BGB aufnehmen.
Zum Thema Contracting. Wenn es mehr als zwei Vertragspartner gibt, ist das nicht ganz unkompliziert. Deswegen sagen wir nur so viel: Die wirtschaftlichen Vorteile, die der Vermieter aus einem Vertrag mit dem
Contractor zieht, sollten auch dem Mieter bzw. der Mieterin zugutekommen.
({7})
Zu Ihren Einlassungen zu Mietnormaden: Das sehen
wir ähnlich. Zu den Einlassungen der Bundesregierung:
Das halten wir für falsch. Wir sind der Meinung, dass
wir nicht den Rechtsschutz aller Mieterinnen und Mieter
wegen einer verschwindend geringen Anzahl von Fällen
einschränken dürfen. Wir sind der Auffassung, dass das
geltende Recht vollkommen ausreicht.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort zur sozialen Wohnraumförderung, zu der Sie auch einen Antrag gestellt haben, sagen. Eingangs ist von anderen Rednern schon betont worden, dass der Anteil derjenigen,
die sich auf dem freien Wohnungsmarkt aufgrund ihres
Einkommens nicht mehr mit Wohnraum versorgen können, ständig wächst. Wir sind der Auffassung, dass es
besorgniserregend wäre, wenn die Entflechtungsmittel
ab 2013 auslaufen sollten und wir dann allein auf die Bemühungen der Länder angewiesen wären. Bis jetzt gibt
es nur in sieben Bundesländern Wohnraumförderungsgesetze. Wir wissen nicht, was aus der Wohnraumförderung wird. Wir wissen aber, dass im Moment jährlich
etwa 100 000 Wohnungen aus der Sozialbindung fallen.
Deswegen muss dringend dafür Sorge getragen werden,
dass die soziale Wohnraumförderung über 2013, am besten über 2019 hinaus verstetigt wird, damit nicht ein
wachsender Anteil der Bevölkerung überhaupt keinen
Wohnraum mehr findet.
Wir halten es für ganz besonders wichtig, dass Anreize geschaffen werden, damit private Eigentümer in ihren Quartieren oder, wie man in Berlin so schön sagt, in
ihren Kiezen sozialgebundenen Wohnraum durch Verkauf von Belegungsrechten an die Stadt oder an den Bezirk zur Verfügung stellen. Es erscheint uns als ganz besonders wichtig, dafür zu sorgen, dass in den schönen
Kiezen nicht nur Oberstudienräte und Bundestagsabgeordnete wohnen und am Stadtrand in den Plattenbausiedlungen - meist in schlecht isolierten Wohnungen - diejenigen, die auf dem Wohnungsmarkt kaum mehr
reüssieren können, die sich sogar schon bei mittleren
Einkommen im Grunde genommen nicht mehr mit adäquatem Wohnraum versorgen können.
Das war der Grund, warum einmal die vereinbarte
Förderung erfunden worden ist. Die Krankenschwester
ist zu reich für den sozialen Wohnungsbau, aber auch
viel zu arm für den freien Wohnungsmarkt. Es ist ganz
wichtig, dass eine soziale Mischung dadurch geschaffen
wird, dass der Rückkauf von Belegungsbindungen attraktiv wird. Dazu brauchen wir den Fortbestand der
Entflechtungsmittel über das Jahr 2019 hinaus.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Gero Storjohann für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Soziales
Mietrecht erhalten und klimagerecht verbessern“ - jawohl. „Soziale Wohnraumförderung durch Bund und
Länder bis 2019 fortführen“ - jawohl. Ich glaube, hier
im Hause besteht eine große Einigkeit.
({0})
Hier wird der Eindruck vermittelt, dass etwas anderes
geplant ist. Mit Ihren Anträgen möchten Sie - vergeblich
- den Eindruck erwecken, dass kein Mietrechtsänderungsgesetz auf dem Weg ist. Über dieses gute Mietrechtsänderungsgesetz wird hier sehr kurzfristig wieder
debattiert werden.
({1})
- Das wird der Präsident im Ältestenrat festlegen.
({2})
Unser gutes soziales Mietrecht werden wir als Koalition weiter verbessern.
({3})
Nach unserer Auffassung bestehen Regelungslücken.
Diese werden wir schließen.
({4})
Der Wohnungs- und Immobilienmarkt in Deutschland
ist stabil. Er war in den letzten Jahren ein stabilisierender
Faktor der deutschen Konjunktur, und das auch in Zeiten
der internationalen Wirtschaftskrise. Mit ihrem Antrag
zur sozialen Wohnraumförderung schrammt die SPDFraktion an den Vorgaben des Grundgesetzes nicht nur
zielgenau vorbei, sondern vermittelt auch noch einen falschen Eindruck.
Die christlich-liberale Koalition
({5})
ist sich ihrer Verantwortung für die soziale Wohnraumförderung in Deutschland sehr wohl bewusst. Bekanntlich ist die Kompetenz für die soziale Wohnraumförderung durch die Föderalismusreform vom Bund auf die
Länder übertragen worden.
({6})
Das, Herr Pronold, haben wir in der Großen Koalition
sogar gemeinsam beschlossen.
({7})
Es wurde vereinbart, dass der Bund den Ländern hierfür
jährlich bis 2013 über 500 Millionen Euro Kompensationsleistungen zahlt.
({8})
Derzeit verhandelt der Bund mit den Ländern über die
Fortzahlung. Ab 2019 sollen die Zahlungen endgültig
enden. Frau Wagner hat hier vorgeschlagen, diese Zahlungen über 2019 hinaus fortzuführen. Ich glaube, wir
sollten uns an das halten, was wir gemeinsam vereinbart
haben. Die CDU/CSU steht zu den Ergebnissen der Föderalismusreform
({9})
und den sie begleitenden Übergangsregelungen. Wir
nehmen aber auch die Unterstützung sozial schwächerer
Haushalte bei der Wohnraumversorgung sehr ernst. Wesentliche Maßnahmen sind hier das Wohngeld und die
Wohnraumförderung; die Verantwortung hierfür liegt
seit der Föderalismusreform allein bei den Ländern.
Es ist Ausdruck des Sozialstaatsprinzips, dass der
Staat den Menschen Unterstützung gewährt, die sich
nicht aus eigener Kraft angemessen mit Wohnraum versorgen können. Wir wollen dafür sorgen, dass würdevolles Wohnen auch in Zukunft möglich ist. Die Gründe,
aus denen Menschen soziale Wohnraumförderung in Anspruch nehmen, sind vielfältig: Das Haushaltseinkommen ist zu niedrig. Kinderreiche Haushalte benötigen
besonders große Wohnungen. Menschen mit Behinderungen sind auf barrierefreie Wohnungen angewiesen.
Diese besonderen Bedürfnisse werden durch den Markt
mitunter noch nicht ausreichend bzw. nicht zu vertretbaren Preisen befriedigt.
Sozial benachteiligte Menschen profitieren besonders von unseren Anstrengungen im Bereich der sozialen
Wohnraumförderung. Ihnen werden auf diese Weise
preiswerte Wohnungen zur Verfügung gestellt. Traditionell hatte der soziale Wohnungsbau das Ziel, Wohnungsmangel zu beheben. Der Fokus hat sich jetzt verständlicherweise verschoben. Die soziale Wohnraumförderung
ist besonders geeignet, unsere Stadtentwicklung wesentlich mitzugestalten, vor allem in den benachteiligten
Stadtvierteln.
Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass
Wohnraum bezahlbar bleibt. Sie setzt sich dafür ein, dass
die energetische Sanierung des Wohnungsbestandes,
auch des sozialen Wohnraumbestandes, erfolgen kann.
Die Bundesregierung hat dafür Planungssicherheit geschaffen. In den nächsten Jahren werden 1,5 Milliarden
Euro für die CO2-Gebäudesanierung zur Verfügung gestellt. Damit das Wohnen bezahlbar bleibt, sind auch
ausgewogene Änderungen des bestehenden Mietrechts
notwendig. In Kürze wird von uns ein Mietrechtsänderungsantrag vorgelegt. Ich gehe fest davon aus, noch im
Mai.
({10})
- Der Mai ist ja immer der schönste Monat. Ich gehe davon aus, in diesem Mai.
({11})
- Sie haben ja sehr deutlich gemacht, Herr Egloff, dass
Sie alle notwendigen Änderungen im Mietrecht ablehnen; das entnehme ich Ihrem vorliegenden Antrag.
Die Koalition verfolgt zwei Ziele. Wir wollen den
Mietbestand sanieren, um unsere Klimaschutzziele zu
erreichen. Hierdurch gelingt es uns, die immer weiter
steigenden Nebenkosten für die Energieversorgung für
die Mieter zu begrenzen. Das ist unverzichtbar; denn
Wohnraum muss bezahlbar bleiben.
({12})
Darüber hinaus soll durch Änderungen im Mietrecht
Mietbetrügern das Handwerk gelegt werden. Ich habe
das hier schon einmal ausgeführt: Mein Vermieter ist
von einem Mietnomaden massiv betroffen, und das, obwohl er sich verhältnismäßig professionell verhält. Das
heißt, er hat jedes Mal Titel für eine Räumung erwirkt,
wenn nicht gezahlt wurde. Jedes Mal gab es ein Untermietverhältnis. Nachdem die Mehrfachuntervermietung
innerhalb der Familie oder innerhalb des Bekanntenkreises nachgewiesen wurde, hat er versucht, den Porsche
aus der Tiefgarage zu bekommen. Auch in der Tiefgarage wurde ein Untervermietungsverhältnis nachgewiesen. Und das alles im schönen Hamburg, Herr Egloff!
Ich bin gerne bereit, mit Ihnen über diesen Fall zu sprechen, damit Sie wenigstens einmal erkennen, dass es hier
ein Problem gibt, das mit der jetzigen Rechtslage nicht
zu lösen ist - oder es liegt an der Richterschaft; ich weiß
es nicht.
({13})
Die Frage ist doch: Will die SPD kriminelle Mieter
zukünftig weiterhin schützen? Wir meinen, dies ist ein
Thema, das wir anpacken müssen.
({14})
Die Fraktion der CDU/CSU wird das nicht tatenlos hinnehmen. Wir bleiben dabei, dass wir hier dringenden
Handlungsbedarf sehen.
Die SPD-Fraktion schreibt sich auch den Umweltschutz auf die Fahnen. Aber wenn es beim Mietrecht
konkret wird, dann ducken Sie sich natürlich weg. Wir
verfolgen das Ziel, den Wärmebedarf im Gebäudebereich bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent zu senken. Dafür
brauchen wir ein Anreizsystem; denn das passiert nicht
von alleine. Investitionshemmende Regelungen im Mietrecht müssen entschärft werden, damit die Vermieter
überhaupt eine energetische Sanierung vornehmen. Wir
streiten ja nur darüber, was letzten Endes hilft. Ich
glaube, wir sollten generell dazu übergehen, solche
Hemmnisse abzubauen.
({15})
- Selbstverständlich. Es gehört ja zur Sozialverträglichkeit, dafür zu sorgen, dass die Nebenkosten im Hinblick
auf den Wärmebedarf geringer werden. Wir sind auf
dem Weg, dies auszutarieren. Aber zu sagen, dass das
nicht passieren soll, ist, glaube ich, keine Lösung. Ich
denke, das wollen Sie im Ergebnis auch nicht. Also: Wir
laden Sie ein, hier auf uns zuzugehen.
({16})
Dazu, dass die Umlage künftig maximal 9 Prozent
statt 11 Prozent betragen soll, ist von meinen Kollegen
schon einiges gesagt worden; das brauche ich nicht zu
wiederholen.
Wir als CDU/CSU möchten, dass das soziale Mietrecht - das ist ein eindeutiges Bekenntnis - erhalten
bleibt. Die Inflationsrate lag in den Jahren 2007 bis 2010
bei 1,6 Prozent. Im gleichen Zeitraum stiegen die Mieten
im Durchschnitt um 1,2 Prozent. Wir wissen, dass die
Situation in Ballungsräumen eine andere ist als im ländlichen Bereich. Insofern, Frau Wagner, sind wir einer
Meinung, dass es einen unterschiedlichen Markt gibt,
mit dem wir unterschiedlich umgehen müssen.
Die SPD-Anträge setzen nicht die richtigen Impulse,
um das Mietrecht zu verbessern und ausgewogene Modernisierungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. Die
CDU/CSU wird weiterhin dafür sorgen, dass eine Balance zwischen Mieterinteressen und Vermieterinteressen besteht und dass es in ganz Deutschland angemessene Wohnverhältnisse gibt. Ihre Anträge werden wir in
den anstehenden Ausschussberatungen wohlwollend
prüfen und dann wahrscheinlich verwerfen.
({17})
Das Wort hat nur Florian Pronold für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist ja gerade von Vorrednern mit den
durchschnittlichen Mieterhöhungen in Deutschland argumentiert worden. Franz Josef Strauß hat einmal gesagt: Der Durchschnitt ist eine gefährliche Sache. Wer
mit dem Hintern auf der heißen Herdplatte sitzt und mit
dem Kopf in der Gefriertruhe steckt, der hat im Durchschnitt eine angenehme Körpertemperatur, aber besonders wohl fühlt er sich nicht.
({0})
So ist es auch mit der durchschnittlichen Mieterhöhung,
die wir erleben.
Ich frage Sie, ob Sie mit Menschen in Berlin und
München nicht reden und ob Sie die Zeitung nicht lesen.
Die Abendzeitung in München titelte gestern zu dieser
Problematik, weil das in München ein ganz existenzielles Problem ist und weil wir in Metropolregionen eine
solche Verknappung von Wohnraum erleben, dass sich
dort auch exorbitante Mietsteigerungen durchsetzen lassen,
({1})
die tatsächlich dazu führen, dass Menschen mit geringem Einkommen ihre Heimat verlieren. Dagegen wollen
wir uns wehren.
({2})
Herr Körber, reden wir doch einmal nicht abstrakt darüber, was eine Modernisierungsumlage von 11 Prozent
oder auch 9 Prozent bedeutet, sondern schauen wir uns
doch einmal ganz konkret an, was das in solchen Ballungsräumen für die Mieterinnen und Mieter heißt. Was
heißt das für die Krankenschwester, für den Polizeibeamten oder für die Verkäuferin, die wir doch nicht alle
50 Kilometer außerhalb der Stadt wohnen haben wollen,
von wo aus sie zu ihrem Arbeitsplatz in der Stadt fahren
müssen, sondern die in der Lage sein sollen, in der Stadt
bleiben zu können?
Nehmen wir einmal an, eine Wohnung wird für
50 000 Euro energetisch saniert. Nach der geltenden
Rechtslage bedeutet das, dass 5 500 Euro im Jahr auf
den Mieter umgelegt werden können. Das wären gut
458 Euro im Monat. Wenn Sie jetzt sagen, dass
50 000 Euro ein bisschen viel sind,
({3})
dann nehmen wir 25 000 Euro pro Wohnung; das ist
auch in Ordnung. Dann sind wir bei 2 750 Euro im Jahr
und immer noch bei fast 230 Euro im Monat.
({4})
Bei einer kleinen Maßnahme, die nur 12 500 Euro kostet, sind wir immer noch bei einem Nettomonatsgehalt,
das ein Mieter im Jahr für diese energetische Sanierung
aufbringen muss.
Ich finde, jetzt muss man gegenrechnen. Welche Einsparung gibt es hier denn? Wir wehren uns doch nicht
dagegen, dass energetisch saniert wird, aber wir wollen,
dass Lasten und Nutzen gerecht verteilt werden.
({5})
Sie schlagen aber keine gerechte Verteilung vor.
Wir sind auch dafür, dass der Staat entsprechend fördert, zum Beispiel über die KfW oder durch andere
Maßnahmen. Wir wollen aber nicht, dass das, was schon
aus Steuergeldern finanziert wird und dem Eigentümer
zugutekommt, teilweise zusätzlich auf den Mieter umgelegt werden kann. Das ist doch nicht gerecht. Davon
muss etwas abgezogen werden können.
({6})
Die nächste Frage ist, in welchem Umfang man das
umlegen kann. Weil die Mieterinnen und Mieter auch
von der energetischen Sanierung profitieren, sind wir ja
dafür, dass hier etwas umgelegt werden kann; das ist
doch überhaupt keine Frage.
({7})
Es muss aber vernünftig sein und den unterschiedlichen
Interessen sozial ausgewogen gerecht werden. Deswegen schlagen wir die Reduzierung der Umlage vor, weil
das ansonsten für einen normalen Menschen in der Innenstadt in einer Metropolregion nicht zu bezahlen ist.
Das ist doch der Grund!
({8})
Sie spotten ja darüber, dass wir hier sagen: Sie schüren die Ängste der Mieter. Wenn ich mir nur diese nackten Zahlen hier anschaue - und das ist auf Vermietermärkten kein unrealistisches Szenario -, dann stellt sich
mir die Frage, ob dort überhaupt noch Menschen wohnen können.
Die Anzahl der Haushalte in Deutschland, die mehr
als 40 Prozent ihres Nettoeinkommens für das Wohnen
ausgeben, hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt.
Das heißt, in Metropolregionen stellt sich eine neue soziale Frage. Hierauf müssen wir eine Antwort geben.
({9})
Zur Frage der gerechten Verteilung von Lasten und
Nutzen gehört übrigens auch: Wie lange ist denn diese
Modernisierungsumlage zu zahlen? Das, was jetzt geltende Rechtslage ist, heißt: Die Kosten können mit bis
zu 11 Prozent auf die Miete umgelegt werden. Das bedeutet, um in dem Beispiel von vorhin zu bleiben - wir
nehmen jetzt den geringsten Betrag -: Jeden Monat werden von dem Mieter 120 Euro an Modernisierungsumlage bezahlt. Nach neun Jahren ist damit die gesamte
Maßnahme finanziert. Aber der Mieter zahlt auch im
zehnten, im elften und zwölften Jahr jeden Monat weiter
die Modernisierungsumlage. Das hat nichts mit einer gerechten Lastenverteilung zu tun.
({10})
Ich verstehe Folgendes nicht: Warum wehren Sie sich
gegen eine gerechte Lastenverteilung?
({11})
- Ja, ich habe kein Problem damit, dass wir ein Modell
entwickeln, mit dem man dafür sorgt, dass Kosten und
Nutzen zwischen Vermieter, Mieter und öffentlicher
Hand aus dem gemeinsamen Interesse heraus, die Zahl
der energetischen Sanierungen zu erhöhen, im Sinne eines vernünftigen Mieterschutzes und der Bezahlbarkeit
des Wohnens vernünftig untereinander aufgeteilt werden. Niemand hat etwas dagegen. Aber Sie verfolgen mit
Ihrem Referentenentwurf beim Mietrecht genau das entgegengesetzte Ziel: Sie wollen die Rechtslage zulasten
der Mieterinnen und Mieter verändern.
Es ist vorhin schon ausgeführt worden: Warum soll
denn, wenn eine Gegenleistung nicht erbracht wird, kein
Recht auf Mietminderung bestehen? Das hat sich in der
ganzen Geschichte des sozialen Mietrechts in Deutschland bewährt. Wenn wir immer vom Idealfall ausgingen,
bräuchten wir keine Gesetze zu machen. Ich glaube, dass
in 90 Prozent der Fälle alles wunderbar funktioniert. Allerdings werden es beim Bau wohl doch nicht 90 Prozent
der Fälle sein. Sie sind Architekt und müssen das wissen.
Aber was ist denn, wenn Mieterinnen und Mieter
- das muss noch nicht einmal unmittelbar der Vermieter
verschulden - auf einmal tatsächlich in einer fast nicht
mehr bewohnbaren Wohnung leben? Was ist, wenn zwei
oder drei Sanierungsmaßnahmen in zeitlich geringem
Abstand aufeinanderfolgen? Verdreifachen sich dann die
Duldungspflichten? Auf diese spannenden Fragen müssen Sie eine Antwort geben.
Bisher haben Sie uns vorgeworfen, dass wir die Anträge so kurzfristig vorgelegt haben, aber selber haben
Sie Ihre Rede damit eingeleitet, dass seit einem Jahr ein
Referentenentwurf vorliegt. Das ist schön. Also eine
Dauer von einem Jahr ist schon sehr ambitioniert. Aber
gerade war es noch nicht sicher, ob der Gesetzentwurf in
diesem Mai oder erst im nächsten Mai vorgelegt wird.
Legen Sie einen Entwurf vor! Aber bei den darin enthaltenen Ansätzen lassen Sie ihn lieber in der Schublade
liegen!
({12})
In den Metropolregionen gibt es eine Zunahme der
sozialen Spaltung aufgrund der Bezahlbarkeit von Wohnen. Deswegen ist auch kritisch auf den Prüfstand zu
stellen, was in der Föderalismuskommission gemeinsam
vereinbart worden ist. Wir reden jetzt darüber: Was passiert in dem Zeitraum 2013 bis 2019?
({13})
- 2013 muss es eine Entscheidung geben. In den Jahren
2014 bis 2019 wird dann aller Wahrscheinlichkeit nach
die Fördersumme immer weiter gekürzt. Wir stellen fest,
dass es in den Metropolregionen zunehmend Probleme
gibt, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deswegen ist
die Frage, wie Bund und Land gemeinsam auf diese Fragestellung reagieren.
Was mich stört, ist, dass derjenige, der eigentlich dafür zuständig ist, ein bisschen Etikettenschwindel betreibt, weil im Titel seines Ministeriums immer noch das
Wort „Bau“ enthalten ist. Ich meine den Verkehrs- und
Bauminister, Peter Ramsauer, der bei dieser Debatte
wieder einmal nicht da ist.
({14})
Immer, wenn es um Fragen des Bauens geht, ist der Herr
Ramsauer ein Totalausfall. Dafür interessiert er sich
nicht. Er ist gegangen, bevor diese Debatte begonnen
hat.
({15})
So war das. Ich finde, es ist ungehörig gegenüber diesem
Hause, dass der zuständige Minister dann, wenn wir über
die Zukunft der sozialen Wohnraumförderung reden,
durch Abwesenheit glänzt.
({16})
Das ist natürlich für die Debatte angesichts dessen, was
er bisher gesagt hat - das gebe ich zu -, nicht schädlich.
Aber trotzdem wäre es nicht schlecht, wenn er da wäre.
Ich finde, wir müssen uns im parlamentarischen Verfahren bemühen, aus vielen guten Anträgen, die es auch
von der Linken und den Grünen gibt, die Ideen zusammenzubringen, die darauf setzen, dass wir in der energetischen Sanierung einen ordentlichen Fortschritt machen, die aber auch auf bezahlbares Wohnen setzen und
die darauf setzen, dass das soziale Mietrecht erhalten
bleibt und dass wir nicht einseitig zulasten der Mieterinnen und Mieter die Gesetzeslage verändern.
Jeder von uns kann doch nachvollziehen, was es bedeutet, wenn ein Vermieter von Mietnomaden in eine
dramatische Situation gebracht worden ist. Es gibt doch
niemanden, der das nicht ernst nimmt. Aber Sie können
nicht, um so einen Einzelfall zu verhindern, alle Mieterinnen und Mieter in Geiselhaft nehmen und Rechtsverschlechterungen für sie hinnehmen. Das geht nicht. Dagegen wehren wir uns.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bluhm?
Gerne.
Herr Kollege Pronold, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie eben eine Einladung an die Linke und die
Grünen ausgesprochen haben, gemeinsam an den vorliegenden Anträgen zu arbeiten, um Mieterschutz und Klimaschutz hinzubekommen? Wenn das so wäre, dann
würden wir uns sehr darüber freuen und unsere Bereitschaft dazu erklären.
({0})
Ich bin ein sehr netter, freundlicher und höflicher
Mensch, und ich habe an das ganze Haus die Einladung
ausgesprochen, gemeinsam an diesem Problem zu arbeiten und die guten Ansätze, die bei Ihnen, den Grünen
und uns vorhanden sind, die ich aber bei Schwarz-Gelb
vermisse, mit einer Mehrheit in diesem Hause zu verabschieden.
({0})
Ich werde aber insbesondere daran arbeiten, dass wir
bald wieder gestaltungsfähig sind und mit anderen
Mehrheiten vernünftige Gesetze machen können.
({1})
Sehr geehrte Damen und Herren, das Thema soziales
Mietrecht und bezahlbares Wohnen wird in den nächsten
Jahren in den Monopolregionen stark an Bedeutung gewinnen. Ich glaube, wir sind gut beraten, uns dieses Themas anzunehmen, und zwar ohne ideologische Scheuklappen genau hinzuschauen und die verschiedenen
Interessen vernünftig abzuwägen, aber auch dafür zu
sorgen, dass das, was in Ihrem Referentenentwurf enthalten ist, nicht zur Realität wird.
Ihr Referentenentwurf sieht vor, dass Mieter zu Melkkühen werden. Das wollen wir nicht. Wir wollen einen
gerechten und sozialen Ausgleich, und wir wollen für
die, die zu einem geringen Einkommen arbeiten, bezahlbares Wohnen in den Metropolregionen sichern.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Herr Kollege Pronold, einmal wollen
Sie, dass die Regierung den Referentenentwurf als Gesetzentwurf vorlegt; einmal wollen Sie, dass er in der
Schublade verbleibt. Was denn nun?
({0})
Aber wie auch immer: Es gibt einen Referentenentwurf, wie Sie wissen. Der normale Gang der Dinge ist,
dass der Referentenentwurf jetzt an Länder und Verbände zur Stellungnahme verschickt wird, und dann
warten wir als Parlament das Verfahren ab.
Am 23. Mai wird der Referentenentwurf im Kabinett
beraten und beschlossen. Dann werden wir als Parlament
die Chance haben, den Gesetzentwurf der Regierung zu
beraten, nachdem die Regierung die Stellungnahmen der
Verbände und Länder in den Referentenentwurf eingearbeitet hat.
Das ist der normale Gang der Dinge. Was machen Sie
nun daraus? Mitten in diesem Verfahren, in dem wir zunächst abwarten sollten, was letzten Endes Beratungsgrundlage des Parlaments sein wird, bringen Sie den
vorliegenden Antrag ein, in dem Sie den Referentenentwurf diskutieren. Damit machen Sie sozusagen den Zwischenstand zum Gegenstand der Beratungen, bevor wir
genau wissen, was in dem Gesetzentwurf enthalten sein
wird.
Das wird der Wahl am Sonntag geschuldet sein.
Wahlkampfzeiten haben ihre eigene Logik und Gesetzmäßigkeit.
({1})
Hier blitzt durch jedes Knopfloch durch, dass eigentlich
Wahlkampf betrieben werden soll.
Richten wir aber den Blick auf Ihre Vorstellungen.
Nach Vorstellung der SPD ist das Mietrecht offenbar ein
Mieterrecht bzw. alleiniges Recht des Mieters. Mietrecht
ist aber ein Recht der Vermieter und Mieter. Beide sind
Vertragsparteien, und beide müssen ein ausgewogenes
Recht vorfinden, in dem sie sich wiederfinden können.
({2})
Denn der Vermieter investiert in den Mietwohnraum. Er
finanziert sozusagen vor.
Nun wollen wir erreichen, dass möglichst viele Eigentümer bzw. Vermieter in Deutschland energetisch sanieren. In dieser Hinsicht sind die Vorschläge, die Sie,
meine Damen und Herren von der SPD, unterbreiten,
nichts anderes als Sanierungsverhinderungsprogramme.
Genau das wollen wir nicht haben.
({3})
Sanierungskosten sind nachträgliche Anschaffungskosten und fließen in den Wert des Objekts ein. Sie bestimmen am Ende auch die Miethöhe. Deswegen ist es
vollkommen logisch, dass die Umlage der Modernisierungsinvestitionen, die der Vermieter tätigt, auch nach
Ablauf des Umlagezeitraums den Wert des Objekts und
damit die endgültige Miethöhe mitbestimmt. Wenn der
Eigentümer das Objekt verkaufen würde, hätte die Modernisierung Einfluss auf den Wert und würde damit den
Verkaufspreis bestimmen. Der Käufer würde diesen
Wert ebenfalls in die Miete einfließen lassen. Deswegen
ist es völlig logisch, dass dieser Wert erhalten bleibt.
Die Duldungspflichten des Mieters werden von Ihnen
angegriffen. Das ist nun einmal ein Teil des Anreizprogramms. Wir wollen erreichen, dass der Mieter eine
energetische Sanierung nicht verhindern kann. Wir wollen, dass die Baumaßnahmen zur energetischen Sanierung nicht als Belastungen empfunden werden. Der Vermieter muss die Baumaßnahme als solche erklären und
erklären, dass es sich dabei um eine energetische Sanierungsmaßnahme handelt. Der Mieter hat die Möglichkeit, zu prüfen, ob die Modernisierung tatsächlich der
energetischen Verbesserung des Gebäudes dient
({4})
oder ob es sich um Maßnahmen handelt, die mit einer
energetischen Sanierung, zum Beispiel wenn es um Barrierefreiheit oder die Sanierung des Badezimmers geht,
nichts zu tun haben. Das ist für uns ein Element der sozialen Ausgewogenheit. Der Vermieter soll nicht mogeln
und muss darlegen, dass es sich um eine energetische
Sanierung des Objekts handelt. Daran führt kein Weg
vorbei.
({5})
Wir wollen, dass das Energiesparpotenzial nach ausgewogenen Spielregeln ausgeschöpft wird, die beiden Seiten zugutekommen. Auch der Mieter, der in einem energetisch sanierten Objekt wohnt, hat etwas davon; denn er
spart Heizkosten. Das Erreichen dieses Ziels wollen wir
nicht erschweren.
({6})
Sie haben das Thema Mietminderung schon angesprochen. Wir wollen das Recht auf Mietminderung das könnte ein Verhinderungsgrund bzw. eine Anreizhemmung bei der energetischen Sanierung sein - abschwächen. Deswegen wollen wir bei energetischen Gebäudesanierungen die Möglichkeit, die Miete zu
mindern, für drei Monate nicht zulassen. Aber auch hier
behalten wir die soziale Ausgewogenheit im Blick.
Wenn eine energetische Sanierungsmaßnahme länger als
drei Monate andauert, dann hat der Mieter wieder die
Möglichkeit zur Mietminderung. Wenn beispielsweise
den ganzen Sommer über die Fenster verhängt sind, hat
der Mieter nach drei Monaten das Recht, die Miete zu
mindern. Daran können Sie erkennen, dass wir die Interessen des Mieters sehr wohl im Blick haben.
Die rasant steigenden Mieten sind schon angesprochen worden. Ich bin der Meinung, dass Sie hier ein
Zerrbild gemalt haben. Natürlich gibt es Innenstädte, in
denen die Mieten steigen und sehr hoch sind. Aber nicht
alle Münchner können in Schwabing und nicht alle Berliner in Charlottenburg wohnen. Deswegen gibt es ein
ausgereiftes ÖPNV-System in Ballungsräumen und großen Städten. In meinen Augen spucken Sie nur Wahlkampftöne. Was Sie vorhaben, ist unausgewogen.
({7})
- Das mag in Hamburg so sein. Das gibt es auch in München und Berlin, wie gesagt. Es gibt aber Gegenbeispiele, Gegenden, in denen die Vermieter mit Leerstand,
Mietausfällen und Mietrückgängen zu rechnen haben.
Das Thema Einmietbetrug wurde ebenfalls bereits angesprochen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die SPD
den Einmietbetrug - das ist der Rechtsbegriff für Mietnomadentum - privilegieren will. Auch der Mieterbund
will das nicht wirklich und ist sich darüber im Klaren,
dass Einmietbetrug nicht schützenswert ist. Es ist richtig,
dass wir etwas gegen das Mietnomadentum unternehmen. Der Rechtsweg wird übrigens nicht beschnitten.
Wir haben bei der Nachbesserung sehr genau auf die
Ausgewogenheit geachtet. Es wird nicht nur eine Hinterlegungsanordnung, sondern eine Sicherungsanordnung
getroffen, die vom Gericht bestätigt werden muss. Das
Gericht muss die Erfolgsaussichten prüfen und die Interessen von Mieter und Vermieter gegeneinander abwägen. Es wird eine Beschwerdemöglichkeit geben. Wir
haben hier durchaus filigran gearbeitet und das Wohl der
Mieter im Blick gehabt.
Fazit: Wir wollen ein sozial ausgewogenes Mietrecht
beibehalten, wir wollen aber auch die Anreize für energetische Sanierung erhöhen. Wir behalten also beide Seiten im Blick. Wir wollen keinen Wahlkampf betreiben,
sondern ein sozial ausgewogenes, aber energetisch ambitioniertes Mietrecht schaffen. Das ist unser Anliegen.
Dazu werden Sie noch in diesem Monat einen Gesetzentwurf erhalten.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident, herzlichen Dank. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir debattieren heute über zwei Anträge, die von der SPDFraktion vorgelegt worden sind. Über den Antrag zum
Mietrecht haben wir jetzt sehr lange und ausführlich diskutiert. Deswegen möchte ich dazu nur noch zwei kurze
Bemerkungen machen.
Herr Egloff, Frau Bluhm, Sie haben übereinstimmend
den Antrag des Berliner rot-roten Senats gelobt und gesagt, dass er richtig und wegweisend für den Schutz von
Mieterinnen und Mietern in den Bereichen von Ballungsräumen sei, in denen Gentrifizierung, also die Verdrängung von nicht ganz so reichen Mietern, stattfinde. Ich
habe Ihre Berliner Politik in den letzten Jahren sehr intensiv verfolgt. Herr Kollege Liebich und ich, wir haben
uns schon oft darüber gestritten. Wer erst 5 000 Wohnungen in einem sozialen Brennpunkt geschlossen an
Hedgefonds verkauft, der kann nicht zwei Jahre später
ernsthaft und glaubwürdig hier einen solchen Antrag vorlegen.
({0})
Zwischen Reden und Handeln besteht bei Ihnen einfach
ein riesiger Widerspruch.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebich?
Bitte schön, aber nicht wieder die alte Diskussion,
Herr Liebich.
({0})
Anschließend will auch Kollege Pronold eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Liebe Frau Kollegin Vogelsang, Sie haben es gesagt,
wir haben uns darüber schon häufiger gestritten. Aber da
Sie immer wieder, ohne auf den Zusammenhang hinzuweisen, dieselbe Behauptung erheben, möchte ich die
Möglichkeit einer Zwischenbemerkung nutzen und noch
einmal Folgendes klarstellen: Der Verkauf der Berliner
Wohnungsbaugesellschaft GSW ist vollkommen zu
Recht als ein Fehler zu bezeichnen. Das stimmt. Ich
möchte aber zugleich daran erinnern, dass es eine Koalition von CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gewesen ist, die den damaligen Haushalt der rot-roten Koalition vor das Berliner Verfassungsgericht gezerrt hat,
obwohl in diesem Haushalt bereits massive Einsparungen, die unter heftigen Auseinandersetzungen in der
Stadt durchgesetzt wurden, vorgesehen waren. Sie haben
damals gesagt, dass dieser Senat zu wenig gespart habe.
Sie, die CDU, die FDP und Bündnis 90/Die Grünen,
haben die damalige rot-rote Koalition massiv unter
Druck gesetzt, endlich Privatisierungen vorzunehmen.
Ich sage noch einmal: Die Entscheidung damals war ein
Fehler, aber die CDU sollte nun wirklich nicht so tun, als
wäre sie diejenige Partei, die damals für den staatlichen
Wohnungsbau gekämpft hätte.
({0})
Kollege Pronold, wollen auch Sie Ihre Zwischenfrage
stellen? Dann kann Frau Vogelsang zusammenhängend
antworten.
Ich habe mit großer Überraschung zur Kenntnis genommen, dass Sie kritisieren, dass Wohnungsbaugesellschaften an Heuschrecken verkauft werden. Das ist Ihre
Position. Sprechen Sie da aber auch für Ihre Fraktion?
Heißt das, dass nach Ihrer Ansicht die Position der CDU/
CSU und der FDP, die immer noch für die steuerliche
Förderung von Real Estate Investment Trusts sind und in
dieser Wahlperiode diese Förderung sogar verbessert haben, revidiert werden muss?
Ich möchte zunächst gerne auf die Frage von Herrn
Liebich antworten. Herr Kollege, ich habe nicht den Verkauf der GSW gemeint, sondern ich habe von dem Verkauf von 5 000 Wohneinheiten der STADT UND LAND
Wohnbauten-Gesellschaft gesprochen. Das wissen Sie
ganz genau. Diese sind im Norden von Neukölln gelegen, in einem sehr schwierigen Bereich. Da verhält sich
das eben völlig anders. Sie haben nicht ein einziges Mal
die Position der CDU in dieser Frage zur Kenntnis genommen. Diese hat sich nämlich immer dagegen gewehrt, in so großem Umfang städtischen Wohnungsbaubestand in sozialen Ballungsräumen zu veräußern. Es ist
einfach nicht wahr, was Sie sagen.
({0})
Herr Pronold, wenn Sie ansprechen, dass ich hier eine
Position gegen den Verkauf von großen Wohnungsbaubeständen in sozialen Brennpunkten an sogenannte Heuschrecken eingenommen habe, an diejenige Immobilienwirtschaft, die nur herauszieht, anstatt den Mieter und
den Mieterschutz sowie die langfristige Perspektive im
Blick zu haben, dann haben Sie sicherlich recht.
({1})
- Ich bin mir ganz sicher, dass ich hundertprozentige Rückendeckung meiner Fraktion habe,
({2})
wenn ich mich für vernünftige Belange und einen vernünftigen Schutz von Mieterinnen und Mietern in diesen
Bereichen einsetze.
({3})
Frau Kollegin, es gibt noch den Wunsch nach einer
Zwischenfrage des Kollegen Mücke.
({0})
Bitte schön.
Frau Kollegin, können Sie sich erklären, warum die
Fraktion der SPD so aufgeregt reagiert, wenn es um das
Thema Wohnungsprivatisierung geht?
({0})
Immerhin hat sie doch zu der Zeit, als die rot-grüne
Regierung Verantwortung trug, den Verkauf der Eisenbahnerwohnungen des Bundes mitgetragen, immerhin
120 000 Wohnungen in Ballungsgebieten. Könnte es
sein, dass diese Fraktion deshalb aufgeregt reagiert?
({1})
Herr Kollege, ich nehme bei diversen Vorhaben einfach einen Unterschied zwischen Reden und Handeln
wahr. Das nehme ich wahr bei den Linken, das nehme
ich wahr bei der SPD.
Schauen wir uns einmal den Antrag der SPD zur
Wohnraumförderung an - damit möchte ich zum nächsten Thema in meinem Redebeitrag übergehen ({0})
- Herr Kollege Pronold! - und hier insbesondere die
achte Forderung - das ist übrigens ein Wunsch, den ich
für verfassungswidrig halte -,
({1})
gemäß der die Zweckbindung der Kompensationsmittel
auch nach 2014 beibehalten werden soll. Dass Sie die
Möglichkeit des flexiblen Einsatzes der Gelder durch die
Länder ab 2014, die damals unter Federführung eines Finanzministers der SPD so verhandelt worden ist, nun
verhindern und die Zweckbindung auch für die Zukunft
festschreiben wollen, erklärt sich, glaube ich, dadurch,
dass Sie Angst davor haben, dass Sie dann in NordrheinWestfalen vielleicht nicht mehr an der Regierung sind.
({2})
Deshalb müssen Sie jetzt vielleicht noch einmal Pflöcke
einschlagen. Anders kann ich eine solche Formulierung
in Ihrem Antrag nicht verstehen.
({3})
Ich möchte zwischendurch noch einen Satz zum Antrag zum Mietrecht sagen, den Sie gestellt haben. Ein
sehr netter Kollege hat mir gerade etwas in die Hand gegeben, was ich sehr bedenkenswert finde. Die Bundesvereinigung Spitzenverbände der Immobilienwirtschaft
- sämtliche Spitzenverbände! -, schreiben in einer Presseinformation vom Dienstag zu Ihrem Mietrechtsantrag,
also kurz nach dem Beschluss Ihrer Fraktion Stefanie Vogelsang
({4})
ich zitiere einmal -:
Solche Regelungen würden das Engagement der
Wohnungs- und Immobilienunternehmen, aber auch
der privaten Vermieter, für die energetische Sanierung von Wohnungsbeständen rasch beenden. Diese
Pläne sind mehr als kontraproduktiv, wenn wir die
Klimaschutzziele für den Wohnungsbereich erreichen wollen.
Das kommt nicht von Haus und Grund, sondern von allen Spitzenverbänden der Immobilienwirtschaft.
({5})
- Das hätten Sie ja machen können. - Ich glaube, dass
das eine richtige Position ist, und dass es auch richtig ist,
sich darüber Gedanken zu machen.
({6})
- Ich bedaure richtig, dass ich nicht mit Ihnen zusammen
in einem Ausschuss bin, sonst könnten wir dort vielleicht Ballspiele machen. Aber jetzt lassen Sie mich bitte
meinen Gedanken in Ruhe zu Ende bringen.
Wieder zurück zu Ihrem Antrag zur Wohnraumförderung: Wir - Bund, Länder, Landesregierungen, Landesparlamente, Bundestag und Bundesregierung - haben
uns in den Jahren 2006/07 gemeinsam intensiv darüber
Gedanken gemacht, wie wir die unterschiedlichen Aufgabenstellungen
({7})
- es wäre nett, wenn Sie mir jetzt auch zuhören könnten! - in den Ländern und im Bund so regeln können,
dass sich die Aufgabenbereiche nicht überlappen und
wir uns gegenseitig nicht beharken, wodurch sich Verfahrensabläufe ja verlängern. Deshalb haben wir klare
Zuständigkeiten festgelegt. Wir haben in der Großen Koalition mit breiter Unterstützung der Länder - das ist mit
einer Zweidrittelmehrheit hier in diesem Haus verabschiedet worden - die soziale Wohnraumförderung, da
gerade in diesem Bereich die Situation in der großen
Bundesrepublik so unterschiedlich ist - das heißt, es
macht einen großen Unterschied, ob Wohnungsbauförderung in München, Berlin, Osnabrück, Vechta, Fulda
oder Bad Oeynhausen betrieben wird -, ganz klar in die
Verantwortung der Länder übertragen. Diese Übertragung der Verantwortung sollte aber nicht sofort zu
100 Prozent erfolgen, sondern wir haben beschlossen,
sie zu flankieren. Deswegen haben wir einen Zeitraum
festgelegt, in dem der Bund die Wohnungsbauförderung
weiterhin finanziert: Bis Ende 2013 investiert er knapp
520 Millionen Euro in diesen Bereich. Außerdem haben
wir beschlossen, die Mittel bis 2014 genau zu überprüfen und sie im Jahre 2019 auslaufen zu lassen. Das hat
nun Verfassungsrang. Verfassungsrang hat auch, dass die
Länder in den Jahren 2014 bis 2019 das Recht haben, im
investiven Bereich frei zu entscheiden, wofür sie die
Mittel ausgeben, ob für Verkehrsprojekte, für sozialen
Wohnraum oder für andere Projekte.
Laut Ihrem Antrag wollen Sie diese vernünftige Regelung, nach der man auf die speziellen Erfordernisse
kleinerer Einheiten, zum Beispiel von Regionen, eingehen kann, zurückdrehen. Sie wollen weiter eine breite
Finanzierung, und Sie wollen die Länder weiter an die
Kandare nehmen. Sie deuten damit an, dass wir hier viel
schlauer seien als unsere Kolleginnen und Kollegen in
den Landesparlamenten und dass wir viel besser wüssten, in welchen Bereichen investive Mittel einzusetzen
sind und in welchen nicht.
({8})
Ich glaube, dass das, was wir 2007 gemeinsam beschlossen und mit Zweidrittelmehrheit in unsere Verfassung geschrieben haben, richtig war, nämlich dass in
Zukunft die Bundesländer für die soziale Wohnraumförderung zuständig sind, dass sie eine Kompensation dafür
erhalten, dass diese Kompensation langsam ausläuft und
dass die Länder in den Jahren vor Auslaufen der Kompensationsmittel frei entscheiden können, wofür sie die
Mittel ausgeben.
Das Bundesfinanzministerium verhandelt derzeit mit
den Bundesländern ob der Ausgestaltung. Ab 2014 haben die neuen Verträge und Vereinbarungen zu gelten.
Ich bin sicher, dass es unserem Finanzministerium gelingen wird, mit den Ländern zu einer vernünftigen Einigung zu kommen. Ich glaube, dass der Weg, den wir damals eingeschlagen haben, der richtige ist. Lassen Sie
uns dabei bleiben.
Danke schön.
({9})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Ich bin meiner Kollegin
Stefanie Vogelsang dankbar, dass sie für die Zuschauer
und Zuhörer an den Fernsehbildschirmen und auf der
Tribüne schon deutlich gemacht hat, dass wir hier zwei
Anträge von der SPD vorliegen haben und der Hauptantrag offenbar der ist, der sich mit den Themen Mietrecht
und Sanierung beschäftigt. Der zweite Antrag handelt
bloß davon, woher das Geld kommt, mit dem sozialer
Wohnungsbau gefördert werden soll.
Nun ist hier, wie bei vielen anderen Punkten auch, zu
beobachten, dass die SPD zwar im Rahmen der Föderalismusreform mit uns gemeinsam das Ziel verfolgt hat,
Mischfinanzierungen aufzulösen. Es gibt ja einen guten
Grund, so etwas abzuschaffen. Es kommt nämlich darauf
an, dass politische Ergebnisse auch politisch zuordenbar
sind, dass der Bürger weiß, welche Ebene für was zuständig ist, und dementsprechend seine Wahlentscheidung rational treffen kann. Deshalb wollten wir eine Reform des Grundgesetzes und haben im Zuge dessen
Mischfinanzierungstatbestände abgeschafft.
Jetzt wird das Ganze ernst, auch wenn es eigentlich
noch nicht so furchtbar ernst ist. Es ist vereinbart, dass
das seither gemeinsam Finanzierte zukünftig allein den
Ländern übertragen wird. Sie erhalten die Gesetzgebungskompetenz, aber eben auch die Finanzierungskompetenz. Da man so etwas aber nicht über Nacht machen
kann, ist auch vereinbart worden, dass bis zum Jahre
2013 ein fester Betrag, spartengenau für Hochschulbau,
sozialen Wohnungsbau, ÖPNV usw., an die Länder
gegeben wird, dieser dann überprüft und, als Zwischenstufe bis zur vollständigen Übertragung der Zuständigkeit an die Länder, durch einen Investitionspauschalbetrag abgelöst wird, den die Länder einsetzen können, wie
sie wollen.
Genau auf diesem Weg sind wir. Daher gibt es überhaupt keinen Grund, hektisch und aufgeregt Anträge zu
stellen. Es ist nämlich alles klar: Den Ländern wird Jahr
für Jahr gut eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung gestellt, um diese Aufgabe zu bewältigen, eine Aufgabe,
die sie einvernehmlich mit übernommen haben. Das
Ganze ist ja kein einseitiger Prozess seitens des Bundestages gewesen, sondern es gab ein Einvernehmen zwischen den Bundesländern und dem Zentralstaat Bundesrepublik Deutschland.
Die Gespräche darüber, ob die Höhe des Betrags angemessen ist, werden gegenwärtig geführt. Es spricht auf
jeden Fall einiges dafür, den Umfang dieses Betrags abzuschmelzen; das sage ich zumindest als Haushälter. Die
Finanzierung durch Dritte ist ja oft ein süßes Gift. So gilt
es, diese Finanzierung möglichst schonend abzuschmelzen. Dergleichen war schon immer ein kluges Vorgehen
und daran führt kein Weg vorbei; das haben Sie offenbar
erkannt. Die Länder haben in Zukunft die Verantwortung; sie wollen sie aber nicht tragen. Anders kann ich
mir die Inhalte der Anträge, die Sie hier auf den Tisch legen, nicht erklären.
Die Diskussion ist im Gange. Der Bundesfinanzminister spricht mit den Ländern darüber, wie das Geld
verwendet wird. Wenn man sich die Zahlen anschaut,
dann erkennt man, dass sehr viel dafürspricht, dass das,
was heute gewährt wird, vollkommen ausreichend ist.
Wahrscheinlich ist es im Zweifelsfall sogar etwas zu
hoch. Früher war es so, dass der Bund soziale Wohnungsprojekte gefördert hat und die Länder ihren Anteil
kofinanzieren mussten. Das heißt, sie mussten eine bestimmte Quote erfüllen. Leider müssen wir beobachten,
dass viele Länder das inzwischen nicht mehr tun. Berlin
hat Wohnungsraumdarlehen und anderes abgelöst. Mit
dem eingesparten Geld hat es Kasse gemacht. Seine Verpflichtung, einen Kofinanzierungsanteil zu leisten, hat es
dagegen stillschweigend einschlafen lassen.
Das legt den Eindruck nahe, dass die Dringlichkeit,
diesen Anteil zu erbringen, bei den Ländern - sie sind
nach übereinstimmender Auffassung der Länder wie des
Bundes besser geeignet, diese Verantwortung wahrzunehmen - nicht mehr gesehen wird; sonst würde man
nicht das Geld, das man früher klaglos als Kofinanzierungsmittel eingesetzt hat, plötzlich nicht mehr einsetzen.
Legen Sie also den Antrag, den Sie hier gestellt haben, am besten zur Seite oder ziehen Sie ihn zurück;
denn alles, was Sie begehren, ist auf dem Weg.
({0})
Die Bundesländer, die näher am Geschehen sind, bekommen nun eine Aufgabe übertragen, die früher in
einer undurchschaubaren Mischfinanzierung erledigt
wurde. Das hat etwas mit subsidiärem Staatsaufbau zu
tun. Mehrere Redner anderer Fraktionen haben schon
angesprochen, dass es natürlich klug ist, eine Aufgabe
vor Ort zu lösen und ihre Lösung nicht der zentralen
Ebene aufzuerlegen.
Die Gespräche über Angemessenheit und einen
zweckgemäßen Einsatz der Mittel laufen gegenwärtig
beim BMF. Wir haben Zeit bis 2013, sie zu Ende zu bringen. Es besteht also überhaupt kein Grund, hektisch zu
werden und mit den Hufen zu scharren; vielmehr kann
die Sache in aller Ruhe im Miteinander zwischen der
Bundesebene und den Bundesländern abgearbeitet und
erledigt werden.
Es geht hier schlicht um Geld. Die, die die Zuständigkeit haben, wollen nicht für die Kosten geradestehen; da
soll wieder einmal der Bund herhalten. Das ist in anderen Fällen genauso. Unzuständigerweise haben wir, der
Bund, in den letzten Jahren für die Länder und die Kommunen viel gegeben. Ich erinnere nur an die Betreuung
von unter Dreijährigen. Wir, der Bund, haben hierfür unzuständigerweise 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt,
({1})
und dennoch hören wir ständig: Es müsste noch mehr
geben; das ist zu wenig gewesen. Verantwortung vor Ort
wahrzunehmen, heißt, sich dieser Verantwortung ganz
zu stellen. Wenn man schon Hilfe bekommt, dann muss
man sie auch sinnvoll und zweckmäßig einsetzen.
({2})
- Herr Pronold, Sie haben gerade gesagt, die Menschen
unterschieden nicht zwischen den Ebenen. Wenn es so
wäre, hätten wir uns Dinge wie die Föderalismusreform
natürlich sparen können. Wenn Sie damit überfordert
sind, den Menschen zu erklären, wer wofür zuständig ist,
biete ich Ihnen gerne meine Hilfe an. Ich bringe es einiKlaus-Peter Willsch
germaßen flüssig fertig, die Zusammenhänge darzustellen.
Ich will aber keine billige Polemik produzieren, sondern auf die Absicht, die uns bei der Föderalismusreform
gemeinsam geleitet hat, zu sprechen kommen. Gerade
wegen der Mischtatbestände haben wir gesagt: Um
Wahlentscheidungen rational treffen zu können, müssen
die Menschen erkennen können, welche Politikebene für
welche Politik zuständig ist. Dieser Weg ist nach wie vor
richtig. Deshalb büxen Sie da bitte nicht aus, sondern gehen Sie diesen Weg gemeinsam mit uns weiter, und zwar
in dem Sinne, in dem wir gemeinsam das Grundgesetz
an diesem Punkt geändert haben.
({3})
Ich bin ja durch die haushaltspolitische Zuständigkeit
zu dieser Debatte hier gekommen. Ich muss zugeben:
Ich bin nicht häufig bei wohnungswirtschaftlichen oder
mietrechtlichen Debatten;
({4})
ich bin ja Ökonom und kein Jurist. Ich will nur noch
zwei Appelle loswerden, und zwar an die gesamte Fachpolitikerschaft; das hat auch etwas mit örtlicher Kenntnis
zu tun.
Erstens. Vergessen Sie bei allen mietrechtlichen Regelungen nicht, dass die 60 Prozent an Mietraum, die
privat zur Verfügung gestellt werden, existenziell notwendig sind für unser Land und dass wir einen ordentlichen Ausgleich zwischen Mieter- und Vermieterrechten
hinbekommen müssen, um die Investitionsbereitschaft
nicht zu beeinträchtigen.
({5})
Der zweite Appell betrifft die energetische Sanierung.
Bei mir im Wahlkreis, im Rheingau-Taunus-Kreis, ist es
anders als bei Ihnen in München. Wenn ich durch Hohenstein oder die Dörfer meiner Heimat gehe, kann ich
genau sagen, wie die Oma heißt, die dort in der großen
Hofreite mit 1 000 Quadratmetern wohnt, wie alt sie ist
und wo die Kinder in neuen Wohnungen leben. An die
müssen wir auch denken, wenn wir energetische Sanierungen verpflichtend machen wollen. Es darf nicht sein,
dass die Oma dann aus ihrem Häuschen vertrieben wird,
weil sie sich das nicht mehr leisten kann.
({6})
In dem Sinne ein Appell an die Fachpolitik!
„Präsident“ blinkt mich hier freundlich an; die Zeit ist
auf null.
Zum Schluss also: Wir können für die Anträge nicht
die Hand reichen. Das ist Unfug, wie ich deutlich gemacht habe.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9559 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/9425 soll ebenfalls an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist jedoch strittig. Die
Fraktionen von CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss; die SPD-Fraktion
wünscht Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung.
Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der SPD, also Federführung beim Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP: Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit
dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee
Bär, Markus Grübel, Erwin Rüddel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole
Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Altersbilder positiv fortentwickeln - Potenziale des Alters nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Crone,
Angelika Graf ({1}), Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Potenziale des Alters und des Alterns stärken - Die Teilhabe der älteren Generation
durch bürgerschaftliches Engagement und
Bildung fördern
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland Altersbilder in der Gesellschaft
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksachen 17/8345, 17/2145, 17/3815,
17/9504 21372
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Berichterstattung:
Abgeordnete Markus Grübel
Nicole Bracht-Bendt
Tabea Rößner
Zu dem Bericht zur Lage der älteren Generation liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Markus Grübel für die CDU/CSU das Wort. Bitte schön.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alt macht nicht das Grau der Haare, alt macht nicht
die Zahl der Jahre, alt ist, wer den Humor verliert
und sich für nichts mehr interessiert.
({0})
- Das können Sie nachlesen. - Gotthold Ephraim
Lessing zeichnet hier ein interessantes Bild vom Alter.
Nicht die Äußerlichkeiten sind entscheidend, nicht das
Datum in der Geburtsurkunde ist entscheidend, sondern
die Einstellung, die jemand hat.
({1})
Jeder kennt mit Sicherheit einen 25-Jährigen, der ihm älter vorkommt als ein 75-Jähriger, der vor Tatendrang nur
so sprüht.
Je nachdem, welches Altersbild wir im Kopf haben,
werden wir uns auch verhalten. Gerade für uns in der
Politik, aber auch in der Wirtschaft, in den Medien, in
der Gesellschaft ist es wichtig, richtige Altersbilder zu
haben, um dann richtig entscheiden zu können.
Darum war es gut und richtig, dass sich der Sechste
Altenbericht mit den Altersbildern beschäftigt. Eine der
zentralen Botschaften des Berichts ist: Altersbilder neigen zur Einseitigkeit und zur Vereinfachung und geben
deshalb die Vielfalt des Alters nicht angemessen wieder.
Weder hat das Älterwerden nur allgemein positive Seiten
noch nur negative Seiten. Der Sechste Altenbericht zeigt
ein differenziertes Bild vom Alter. Betont werden die
Gleichzeitigkeit von Potenzialen, die Verletzlichkeit von
Entwicklung, die Endlichkeit von Aktivität und die
Grenzerfahrung. Wenn wir an die Älteren in unseren Familien denken, dann haben wir mit Sicherheit auch diese
verschiedenen Bilder im Kopf.
Der Sechste Altenbericht nimmt Themen des Vierten
Altenberichts - Risiken der Hochaltrigkeit unter Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen - und des Fünften Altenberichts - Potenziale des Alters - auf und setzt
sie zueinander in Bezug. Der Bericht hatte auch zum
Ziel, in der seniorenpolitischen Fachöffentlichkeit, aber
auch darüber hinaus, eine Diskussion und Reflexion
über Altersbilder anzuregen.
Wir beantragen in unserem Koalitionsantrag, bestehende Altersgrenzen in allen Lebensbereichen zu überprüfen, insbesondere eine Flexibilisierung des Eintritts
in den Ruhestand. Altersdiskriminierung ist zu vermeiden.
In unseren Gesetzen haben wir rund 400 Altersgrenzen. Sie sind häufig von einem besonderen Schutzgedanken und von der Annahme der eingeschränkten Leistungsfähigkeit geprägt, und zwar häufig, ohne dass man
es widerlegen kann.
Nach deutschem Recht kann man mit über 70 Jahren
kein Schöffe mehr sein. Bundespräsident kann man aber
in diesem Alter werden. Joachim Gauck hat mit 72 Jahren noch einmal eine große Verantwortung übernommen. Sie, Herr Franz Müntefering, könnten noch einmal
SPD-Vorsitzender werden; aber Schöffe dürften Sie
nicht mehr werden. Konrad Adenauer, der uns allen bekannt ist, hat Deutschland Freiheit und Wohlstand gebracht. Er hat geradezu visionär die Weichen für ein geeintes Europa gestellt und den Grundstein für die
deutsche Einheit gelegt; aber Schöffe hätte er nicht mehr
werden dürfen. Hier wollen wir etwas ändern.
Bestimmte Versicherungen kann man in Deutschland
ab dem 65. Lebensjahr gar nicht oder nur unter unattraktiven Bedingungen abschließen.
Die Altersgrenzen im Recht und in der Rechtspraxis
bedürfen einer grundlegenden Revision. Das gilt auch
für die Sicht des Alters in der Arbeitswelt. „Ich wünsche
mir, dass jene, die es wollen, länger im Beruf bleiben
können“, sagte Bundespräsident Gauck beim Deutschen
Seniorentag. Ich kann dem nur zustimmen. Wer körperlich oder geistig fit ist, soll länger arbeiten können, wenn
er dies will. Der Staat und die Tarifpartner sollten dies
nicht erschweren oder gar verhindern. Eine Umfrage von
Generali zum Thema Lebensarbeitszeit hat ergeben:
54 Prozent der 65- bis 75-Jährigen hätten ihren Beruf
gern länger ausgeübt. Das ist eine interessante Erkenntnis, der wir uns nicht verschließen sollten.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben schon
vielfältige Maßnahmen ergriffen. Ich nenne hier nur einige stichwortartig.
Das Programm „Altersgerecht umbauen“: 62 000
Wohnungen wurden mit dem Konjunkturprogramm I altersgerecht saniert. Dieses Programm wird als Eigenprogramm der KfW in Form eines Darlehens fortgesetzt.
Wir haben das Programm „Freiwilligendienste aller
Generationen“. Wir werden uns in Kürze darüber unterhalten, wie wir das Format dieses erfolgreichen Dienstes
fortsetzen können.
Wir haben das Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhäuser II“: Hier kommen die Generationen zusammen. Die Älteren können zum Beispiel jüngeren Familien helfen. Es gibt aber auch Angebote für demenziell
Erkrankte.
Wir haben den Bundesfreiwilligendienst für alle Altersstufen geöffnet und für die über 27-Jährigen ein gutes Format gefunden.
Viele dieser Punkt werden auch in der neuen Demografiestrategie der Bundesregierung aufgegriffen. Kapitel C trägt die Überschrift: „Selbstbestimmtes Leben im
Alter“. Ziele sind: Selbstbestimmtes Leben, Aktivitäten
im Alter fördern und das Leitbild der sorgenden Gemeinschaft etablieren.
Das Thema sorgende Gemeinschaft oder Caring
Community wurde auch in der Anhörung der Sachverständigen wiederholt genannt. Caring Community
umfasst eine Reihe unterschiedlicher Felder wie die
Stadtplanung, die kommunale Infrastruktur, den Einzelhandel, die medizinische Versorgung, die pflegerische
Versorgung, bürgerschaftliches Engagement, Wohnformen, Nachbarschaftshilfe und vieles mehr. Es ist ein Zukunftsthema der Seniorenpolitik, das sowohl die Rolle
der Altersbilder als auch der Alterspotenziale thematisiert. Wichtig ist mir, die Vielzahl dieser Themen aus einer kommunalen Perspektive zu betrachten. Dort bestehen die Probleme, und dort müssen sie auch gelöst
werden. Ich werbe dafür, dass das Thema der sorgenden
Gemeinschaft, der Caring Community, Thema des Siebten Altenberichts wird und so auf die politische Agenda
kommt.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin am Ende
meiner Redezeit, aber wir sind noch lange nicht am Ende
mit unserer Generationenpolitik. Dieser Herausforderung stellen wir uns. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit
den Erkenntnissen des Sechsten Altenberichts, der Demografiestrategie und der Engagementstrategie der Bundesregierung auch hier ein Stück weiterkommen.
Herzlichen Dank.
({2})
Caren Marks hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer
kennt sie nicht, die versteckten oder offenen Botschaften
im Alltag, die sehr deutlich machen, dass ältere Menschen angeblich zum alten Eisen gehören oder gar ein
Problem darstellen. In der Presse gibt es Überschriften
wie „Unsere Gesellschaft ist überaltert“, „Deutsche Bevölkerung schrumpft und altert dramatisch“ oder „Alterspyramide kippt - Viele Alte, wenig Steuern“. Zum
Glück liest man heutzutage kaum noch in Stellenanzeigen: Suche Mitarbeiter zwischen 25 und 45 Jahren.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat eine
Umfrage veröffentlicht, wonach 42 Prozent der Befragten dem Satz zustimmten: Ab 45 bekommt man heutzutage praktisch keinen Job mehr. 42 Prozent - das ist fast
jeder bzw. jede Zweite. Hier wird deutlich: Ältere Menschen erleben häufig Diskriminierungen.
Deshalb wundere ich mich sehr, dass die schwarzgelbe Bundesregierung in dem neu vorgelegten Demografiebericht nicht ein Wort zum Thema Altersdiskriminierung verliert. Nicht eine Silbe! Das ist wirklich traurig,
aber auch ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung.
({0})
Die Medien, aber auch manche Politikerinnen und
Politiker - ich denke da zum Beispiel an Herrn
Mißfelder - beschwören oft einen Generationenkonflikt,
({1})
indem sie die zunehmende Zahl der älteren Menschen
als demografisches Problem beschreiben. Die Alten versus die Jungen - dieses Bild entspricht aber nicht der
Realität; denn der Zusammenhalt zwischen den Generationen in unserer Gesellschaft ist enorm groß. Jede und
jeder von uns kennt sicherlich zahlreiche Beispiele dafür
im Familien- oder Freundeskreis.
Auch das Bild von älteren Menschen in der Arbeitswelt ist oft verzerrt. Es heißt: Ältere Menschen sind
nicht so stark belastbar. Oder: Jüngere sind leistungsfähiger. Das hört man häufig hinter vorgehaltener Hand. In
manchen Branchen gelten Menschen jenseits der 40 sogar schon als nicht mehr vermittelbar. Das ist wirklich
ein Skandal und darf nicht hingenommen werden; ich
denke, hierüber besteht Einigkeit im Parlament.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Diskriminierung darf nicht sein, erst recht nicht in Zeiten, in denen
Unternehmen einen Fachkräftemangel beklagen. Hier
muss sich ein realistisches, ein differenziertes Altersbild
durchsetzen, bei dem die Potenziale und die Erfahrungen
älterer Menschen im Mittelpunkt stehen. Daher finde ich
die Kampagne der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gegen Altersdiskriminierung enorm wichtig. Bei dieser Kampagne steht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, für das die SPD damals erfolgreich gekämpft hat,
im Vordergrund.
({2})
Allen Unkenrufen vor allem von Union und FDP zum
Trotz: Unsere Gesellschaft braucht eine starke, eine
selbstbewusste Antidiskriminierungspolitik.
({3})
Es ist eben nicht selbstverständlich, dass Arbeitgeber bei
Bewerberinnen und Bewerbern vor allem auf die Qualifikation und nicht aufs Alter schauen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Arbeitgeber gezielt Beschäftigte fortund weiterbilden, dass sie Belastungen am Arbeitsplatz
frühzeitig erkennen und den Gesundheitsschutz stärken.
Es ist auch nicht selbstverständlich, dass Arbeitgeber
den Erfolg von altersgemischten Teams sowie die Erfahrung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als
unschätzbaren Wert anerkennen.
Der Sechste Altenbericht mahnt daher zu Recht eine
neue Kultur des Alters an. Dafür müssen wir alle gemeinsam eintreten. Auch hier sehe ich vor allem die
Bundesregierung in der Verantwortung. Aber ich frage
mich: Wo bleibt das Engagement der schwarz-gelben
Koalition? Wie geht die zuständige Bundesseniorenmi21374
nisterin aktiv gegen Diskriminierung im Alter vor? Wo
kämpft sie Seite an Seite mit der Arbeitsministerin für
eine altersgerechte und faire Arbeitswelt? Wo bleibt
Frau Schröders Engagement für eine umfassende Präventionsstrategie und ein Präventionsgesetz, das die Gesundheitsförderung im Alltag der Menschen stärkt? Weit
und breit nichts in Sicht.
({4})
Es ist sogar noch schlimmer. Als Frau von der Leyen
letztes Jahr im Zuge der Arbeitsmarktpolitik sinnvolle
Maßnahmen für Ältere zusammengestrichen hat, schaute
die Seniorenministerin tatenlos und schweigend zu.
Auch als Kabinettskollege Ramsauer das Programm
„Altersgerecht Umbauen“ zusammenstrich, habe ich von
Ihnen, Frau Schröder, keinen Einspruch gehört. Die Seniorenministerin hat sich wiederholt nicht für die Zielgruppe, die sie eigentlich vertreten sollte, eingesetzt.
„Nicht meine Ministerin“ - das Motto der empörten
Frauen gegen die Gleichstellungspolitik von Frau
Schröder passt gut zu ihrer Seniorenpolitik.
({5})
Wir brauchen eine umfassende Strategie, damit wir
den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und die
Wertschätzung älterer Menschen fördern können. Wir,
die SPD-Bundestagsfraktion, haben dazu Vorschläge erarbeitet, denen Sie sich gerne anschließen können.
Herzlichen Dank.
({6})
Die Kollegin Nicole Bracht-Bendt hat jetzt das Wort
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit im Jahr 1991 unter einer christlich-liberalen Bundesregierung das erste Seniorenministerium in Europa
gegründet wurde, hat sich viel getan - positiv wie negativ. In Deutschland wurde sehr früh erkannt, welche gewaltigen Umwälzungen uns durch den demografischen
Wandel, aber auch durch eine Gesellschaft des längeren
Lebens bevorstehen. Frau Professor Lehr ist in diesem
Zusammenhang viel zu verdanken; denn sie hat die Altenberichte der Bundesregierung ins Leben gerufen und
somit in Deutschland sehr früh eine wissenschaftliche,
aber auch eine gesellschaftliche Diskussion über das Alter und das Altern angestoßen.
Trotz dieser frühen Erkenntnis wurden teilweise verheerende Fehlentscheidungen getroffen. Für den Bereich
der Arbeitswelt möchte ich die Beispiele Frühverrentung
und den falschen Hang zum Jugendzentrismus bei Neueinstellungen hervorheben. Der so wichtige Punkt der
Erfahrung spielte häufig keine Rolle mehr. Das Bild, das
die Gesellschaft vom Alter hat, war teilweise negativ. Einerseits waren Ältere in ihrem jeweiligen Lebensalter
noch nie so fit und leistungsfähig wie heutzutage, andererseits traut die Gesellschaft Älteren häufig gar nichts
mehr zu.
Beim Seniorentag letzte Woche in Hamburg wurde
deutlich, dass der Sechste Altenbericht der Bundesregierung die Gemüter bewegt. Die Thematik Altersbilder
legt den Finger in eine klaffende Wunde der Gesellschaft. „Ja zum Alter“ war der Titel des 10. Deutschen
Seniorentags und der Hamburger Erklärung, die die
Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen,
die BAGSO, und ihre 110 Mitgliedsorganisationen zum
Abschluss verabschiedet haben. 20 000 engagierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich in Hamburg
versammelt und deutlich gezeigt: Wir leben in einer starken Gesellschaft mit starken, engagierten Verbänden. Dafür möchte ich an dieser Stelle deutlich Danke sagen.
({0})
Politik lebt von diesem wichtigen Austausch mit den
Bürgern. Mich hat es persönlich gefreut, dass in vielen
Vorträgen und Diskussionsforen Thesen vertreten wurden, die die Koalition bereits im Antrag „Altersbilder
positiv fortentwickeln - Potenziale des Alters nutzen“
aufgegriffen hat. Das gewählte Motto „Ja zum Alter“
heißt Ja zu einem möglichst gesunden Älterwerden, es
ist aber auch ein entscheidendes Ja zur Akzeptanz des eigenen Alters, und vor allen Dingen ist es ein deutliches
Nein zu allen Formen der Diskriminierung. Damit
schließt sich der Kreis zum Sechsten Altenbericht; denn
durch ihn wird deutlich, dass die dominierenden Altersbilder in zentralen Bereichen der Gesellschaft, etwa in
der Arbeitswelt, in der Bildung, der Wirtschaft, der Politik, beim freiwilligen Engagement oder in der medizinischen und pflegerischen Versorgung, der Vielfalt des Altersbilds häufig nicht gerecht werden. Es gibt eben nicht
die eine Altersform, sondern es gibt viele individuelle
Formen des Alters. Die Diskussion über Altersbilder in
Zeiten des demografischen Wandels muss in den Köpfen
und Herzen der Menschen ankommen. Wir müssen uns
auch selbst fragen: Wie wollen wir im Alter leben und
behandelt werden?
Nun kann man positive Altersbilder nicht verordnen
oder verschreiben. Sie entwickeln sich in den Köpfen
der Menschen, und zwar in einem weitgehend unbewussten Prozess. Je mehr positive Beispiele ich von älteren Menschen sehe, desto mehr ändert sich mein Bild
vom Alter. Es ist ein wichtiger Schritt, alle Altersgrenzen kritisch zu hinterfragen; denn sie prägen unser Altersbild ganz besonders. Ich bin überzeugt: Fast alle können weg.
Wir haben einen Bundespräsidenten - das wurde
schon angesprochen -, der 72 Jahre alt ist, was ich ausgesprochen positiv finde. Bundespräsident darf er werden, nach vielen Gemeindeordnungen aber nicht Bürgermeister - zu alt. Ich meine, das ist völlig absurd.
Der Bundestag hat mit breiter Zustimmung beschlossen - auch die SPD hat zugestimmt -, das Renteneintrittsalter bis zum Jahr 2030 schrittweise auf 67 Jahre zu
erhöhen, was auch für die Mitarbeiter der Berufsfeuerwehren gilt. Als Angehöriger der Freiwilligen FeuerNicole Bracht-Bendt
wehr müssen Sie in einigen Bundesländern mit 65 Jahren ausscheiden. Auch das ist völlig absurd.
Vielleicht ist es ja bereits eine Folge des Altenberichts
und unserer Diskussion darüber, dass ältere Menschen
nicht mehr ausschließlich in Werbespots für Haftpulver
für dritte Zähne zu sehen sind.
Eine gewichtige Rolle für die Entwicklung positiver
und realistischer Altersbilder spielt das Ehrenamt. Der
neue Bundesfreiwilligendienst ist ein hervorragendes
Beispiel, wie bürgerschaftliches Engagement von älteren
Generationen gelebt wird. Gerade die Nachfrage der Älteren übertrifft alle Erwartungen. Bürgerschaftliches Engagement mildert einerseits die Folgen des demografischen Wandels und bietet andererseits Raum für neue
Aktivitäten. Es gilt, älteren Menschen bezogen auf
Selbst- und Mitverantwortung in der Gesellschaft neue
Wege zu ebnen.
Die Koalition will aber nicht nur für die Stärken und
Potenziale des Alters sensibilisieren. Das Alter konfrontiert uns auch mit Grenzen. Dem haben wir uns in der
Koalition angenommen, indem wir die Familienpflegezeit auf den Weg gebracht haben. Auch unser Gesundheitsminister, Daniel Bahr, hat einen ersten großen
Schritt gewagt, indem er Leistungen der Pflegeversicherung endlich auch für Demenzerkrankte zugänglich gemacht hat. Hierauf haben viele Menschen lange gewartet.
Eine alternde Gesellschaft muss sicherstellen, dass
dem Einzelnen in jeder Phase des Lebens eine soziale
Teilhabe möglich ist. Ein selbstbestimmtes Leben muss
auch im Alter oberstes Ziel sein. Das setzt Barrierefreiheit im privaten und öffentlichen Bereich und den verstärkten Einsatz technischer Assistenzsysteme voraus.
Der Ausbau seniorengerechten Wohnraums ist insofern
eine zentrale Zukunftsaufgabe. Aber Barrierefreiheit
darf nicht an der Wohnungstür enden. Hier sind die
Kommunen besonders in der Pflicht.
Das Europäische Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen wird die Koalition nutzen, um die berechtigten Anliegen der älteren Generation voranzubringen. In unserem Antrag skizzieren wir
hierzu einen Weg.
Ganz herzlichen Dank.
({1})
Jetzt spricht Heidrun Dittrich für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Hören Sie auf, über Demografie zu reden.
Das lenkt von den wirklichen Problemen ab. Die Tatsache, dass es mehr ältere Menschen gibt, erzwingt keinen
Sozialabbau, sondern Ihre Regierungspolitik, die Steuersenkungen für die Reichen und Geldgeschenke an die
Großbanken im Euro-Raum vorsieht, erzwingt einen
Abbau des Sozialstaats. Das lehnt die Linke ab.
({0})
Im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung geht
es um Altersbilder. In Wirklichkeit sind diese Altersbilder umkämpft; denn es gibt verschiedene Ältere: arme
und reiche. Der Daimler-Chef Dieter Zetsche erhält
29,6 Millionen Euro als Gesamtrente. Er hat einen Vertrag ausgehandelt, nachdem er bereits mit 60 Jahren in
Rente gehen kann. Ein anderer Topverdiener, der Deutsche-Post-Chef Frank Appel, kann sogar mit 55 Jahren
in Rente gehen. Seine Rentenzusage liegt bei insgesamt
7,2 Millionen Euro. Nachlesen können Sie das in einem
Artikel vom 22. April dieses Jahres auf Spiegel Online.
Warum können die Superreichen mit 55 Jahren in Rente
gehen und die Beschäftigten nicht?
({1})
Dass ein früherer Renteneintritt möglich wäre, zeigt
sich in Frankreich. Der neu gewählte Präsident Hollande
von der sozialistischen Partei erklärte, dass er das Renteneintrittsalter von 62 Jahren wieder auf 60 Jahre senken werde.
({2})
Das fordert auch die Linke in ihrem Parteiprogramm.
Auf dem 10. Deutschen Seniorentag sagte die Seniorenministerin, Frau Schröder: Hurra, wir werden alt!
({3})
Sie nennt als Beispiele für die Vielfalt im Alter den
Großvater im Rollstuhl und die Großmutter auf Rollschuhen. Das sagt leider nichts über die finanzielle Lage
dieser älteren Dame und des älteren Herrn aus.
Der Bundespräsident verkündete am selben Tag am
selben Ort, dass wir für die geschenkten Jahre, die wir
länger leben, dankbar sein dürfen. Ich frage Sie: Wem
gehört die freie Zeit, den Älteren oder der Wirtschaft?
Warum sollen die Beschäftigten dankbar sein? Sie haben
diesen Staat schließlich aufgebaut. Die arbeitende Bevölkerung hat in die gesetzliche Krankenkasse und in die
Rentenversicherung eingezahlt. Dadurch wurde eine
Gesundheitsvorsorge möglich, durch die die Menschen
länger leben können. Leider wird sie seit Jahren verteuert. Ich erinnere an die unsägliche Praxisgebühr von
10 Euro, die gerade Geringverdiener von notwendigen
Arztbesuchen abhält. Die Linke hat vor zwei Wochen im
Bundestag beantragt, die Praxisgebühr abzuschaffen.
Leider wurde das hier mit Mehrheit abgelehnt. Aber das
interessiert Senioren wirklich.
({4})
Der Sechste Altenbericht hat nicht den Auftrag, die
soziale Ungleichheit zwischen Arm und Reich, zwischen
Männern und Frauen zu erforschen. Die Betonung der
Facetten und der Vielfalt verdeckt geradezu die grandiose Spaltung zwischen Arm und Reich. Aber gerade
damit muss sich die Bundesregierung aus meiner Sicht
befassen.
({5})
In Deutschland sind durch Ihre Politik 3,9 Millionen
Frauen in Minijobs; sie können nur unzureichend Rentenanwartschaften erwerben. Sie sind besonders gefährdet. Wer garantiert denn, dass sie einen Partner haben,
der sie mitversorgt? Frauen verdienen im Durchschnitt
23 Prozent weniger als Männer. Dieser Einkommensunterschied steigt in der Rente auf 60 Prozent an.
In einer Studie über die Lebens- und Erwerbsverläufe
von Frauen, geboren zwischen 1955 und 1964, steht,
dass die monatlichen Renten in dieser untersuchten Babyboomer-Generation im Westen bei im Durchschnitt
700 Euro und im Osten bei im Durchschnitt 680 Euro
liegen. Das ist Grundsicherungsniveau. Das ist Hartz IV
im Alter. Die Hälfte der Frauen in Westdeutschland hat
sogar eine gesetzliche Rente von unter 600 Euro. Sie
sind auf jeden Fall auf Sozialleistungen angewiesen.
Deswegen fordert die Linke, dass es Frauen ermöglicht
wird, in tariflich gut bezahlten Berufen ausreichende eigenständige Rentenanwartschaften zu erwerben.
({6})
Dafür brauchen wir vor allem die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Wer keine Kindergärten finanziert,
wer keine Erzieherinnen einstellt, der verweigert den
Frauen die Ernährerinnenrolle, er verweigert ihnen den
Aufbau einer eigenen Rente. Wir brauchen Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro. Weg mit den Minijobs!
({7})
Wir brauchen die Wiederherstellung der Lebensstandardsicherung in der Rente und eine solidarische Mindestrente von mindestens 900 Euro.
({8})
Die soldarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wäre finanzierbar - Sie wissen es -, wenn die
Ackermänner der Welt, die Beamten und die Bundestagsabgeordneten einzahlen würden.
({9})
Das wäre Solidarität und nicht nur Solidarität der Beschäftigten untereinander.
Sie sagen: Die Menschen sollen für die geschenkten
Jahre dankbar sein, sie sollen dankbar dafür sein, dass
sie einen Sozialstaat aufbauen konnten, an dem - ich
erinnere daran - seit der Agenda 2010, seit Rot-Grün
- diese Regierung setzt das fort -, kräftig gesägt wird. Irgendjemand muss den sozialen Zusammenhalt ja organisieren, aber es darf nichts mehr kosten.
Das Ehrenamt wird auf Verlängerung der Altersgrenzen untersucht. Es geht dabei nicht darum, das Leben im
Alter selbstbestimmt zu genießen, sondern darum, in der
sozialen Arbeit eingesetzt zu werden. Der Bundesfreiwilligendienst und der Freiwilligendienst aller Generationen - das unterstützen außer der Linken Sie alle hier
im Bundestag - überschreiten die Altersgrenze und öffnen die Schleusentore zum Arbeiten im Alter, um überhaupt noch Teilhabe erlangen zu können. Wir meinen:
So geht das nicht.
({10})
Dabei geht es nicht um die Potenziale der Älteren, die
man heben sollte. Dabei geht es nicht um die individuelle Entwicklung der Menschen. Vielmehr geht es dabei um Folgendes - so müssen wir hier jedenfalls befürchten -: Wer als Ehrenamtlicher länger arbeiten kann,
der kann es auch als Arbeitnehmer. Das lehnt die Linke
ab. Wir bestehen auf einem gesetzlichen Renteneintrittsalter.
Dass ältere Menschen, vor allem Frauen, schon jetzt
gezwungen sind, zu ihrer Rente dazuzuverdienen, macht
die Sache doch nicht besser. Das ist ein Skandal. Sie
können das nicht schönreden, indem Sie sagen, dass die
Menschen länger arbeiten wollen. Sie müssen länger arbeiten. Von einem neuen Altenbericht erwarte ich, dass
man sich darin realistisch mit der Lage der Menschen
auseinandersetzt, dass darin Vorschläge gemacht werden, wie die Regierung die Lage der armen Frauen im
Alter verbessert, und dass darin auch die Situation von
Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Behinderungen beachtet wird. Denn aus Sicht der Linken haben alle das Recht auf ein abgesichertes Alter in Würde.
({11})
Elisabeth Scharfenberg hat jetzt das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über den Altenbericht bietet uns
eine wunderbare Möglichkeit, um Zwischenbilanz zu
ziehen, Zwischenbilanz darüber, was Schwarz-Gelb seit
2009 im Bereich der Altenpolitik erreicht hat. Diese
Bilanz fällt nicht gerade glänzend aus.
({0})
Bei dieser Bilanz sehen wir, dass die zuständige Familienministerin, Sie, Frau Schröder, ihre Liste der politischen Irrungen und Wirrungen - ich sage nur: Frauenquote, Betreuungsgeld, Familienpflegezeit - durch die
Altenpolitik erweitert. Das alles sind fehlgeschlagene
Politikansätze, einer nach dem anderen.
({1})
Auf dem Deutschen Seniorentag letzte Woche in
Hamburg - er wurde schon mehrmals erwähnt - wurde
deutlich, dass diese Einschätzung von den Älteren in unElisabeth Scharfenberg
serem Land durchaus geteilt wird. Der Redebeitrag von
Ihnen, Frau Schröder, wurde mit Buhrufen quittiert. Das
ist bitter. Ich frage mich: Wer fühlt sich in diesem Land
eigentlich noch von Ihnen vertreten? Frauen, Kinder, Jugendliche, Seniorinnen und Senioren, alte Menschen?
Ich muss sagen: Da wird die Luft immer dünner.
({2})
Es braucht in meinen Augen Format, Ziele und eine Vision, um das Amt der Familienministerin auszufüllen.
Genau das vermisse ich an der Spitze des Familienministeriums.
({3})
Der Antrag „Altersbilder positiv fortentwickeln Potenziale des Alters nutzen“ von CDU/CSU und FDP
spiegelt die altenpolitische Leere ganz klar wider. Der
Antrag verliert sich in Appellen und der Vergabe von
Prüfaufträgen. Das ist alles andere als zielführend.
Wozu, frage ich Sie, benötigen wir noch einen Altenbericht, der doch wirklich in guter Art und Weise die Themen benennt, wenn dann alles wieder und wieder einer
Prüfung unterzogen werden soll? Wir haben in einigen
Bereichen überhaupt kein Wissensdefizit mehr; dieses
Stadium haben wir längst hinter uns gelassen.
({4})
Warum soll denn noch einmal geprüft werden, ob das
KfW-Programm zum altersgerechten Umbau fortgeführt
und weiter mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt ausgestattet werden soll?
({5})
Es muss fortgeführt werden. Das ist eine Frage der politischen Vernunft.
({6})
Das wird von allen Seiten befürwortet.
Die Anhörung in dieser Woche im Verkehrsausschuss
zur barrierefreien Mobilität und zum barrierefreien Wohnen hat den enormen Handlungsbedarf ganz klar aufgezeigt. Alle geladenen Expertinnen und Experten waren
sich einig. Wir meinen, dass wir zudem eine Weiterentwicklung der Fördermöglichkeiten brauchen. Insgesamt
frage ich mich aber ernsthaft, ob der Altenbericht und
die Anhörung bei Ihnen überhaupt ein Umdenken bewirkt haben. Es wurde wiederholt betont, dass wir uns
um die Neuorientierung der Altersbilder kümmern müssen. Aber was ist auf der Internetseite des Gesundheitsministeriums zur Pflege immer noch zu lesen? Da wird
getitelt - ich zitiere -: „Pflegefall - was tun?“
({7})
Sehr geehrte Frau Ministerin, es gibt keinen Pflegefall.
Es gibt nur Menschen, die einen Pflegebedarf haben
oder Unterstützung benötigen. Einen Menschen kann
und darf man nicht auf einen Fall reduzieren. Der Begriff „Pflegefall“ gehört in die Unwortkategorie, genauso wie die Wörter „Alterslast“, „Demografiefalle“
oder was es da sonst noch gibt.
({8})
Das alles zeigt uns aber, dass wir die Erkenntnisse der
Altenberichte konsequenter sichern und umsetzen müssen. Wir fordern, dass zukünftige Altenberichte detaillierte Umsetzungsempfehlungen beinhalten. Es geht
doch nicht, dass wir hochkarätige Expertinnen und Experten zu der Ausarbeitung eines Altenberichtes einberufen. Dann versehen wir das Ergebnis mit einer Drucksachennummer und organisieren vielleicht noch ein paar
flankierende Veranstaltungen. Und dann? Dann verschwindet der Altenbericht in der Schublade.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, nicht die
staubige Schublade, sondern ein Aktionsplan muss das
Ziel eines Altenberichtes sein. Eine Stellungnahme
reicht nicht aus. Für die weitere Bearbeitung der Themen
ist es notwendig, eine Monitoringstelle zu schaffen, zum
Beispiel im Familienministerium. Wir brauchen konkrete Maßnahmen zur Ergebnissicherung. Außerdem ist
die Vernetzung mit den anderen beteiligten Ministerien
überaus wichtig.
Für uns Grüne ist eine Altenpolitik, die nicht in allen
Bereichen verankert ist, wie ein umhertreibendes Schiff
ohne Hafen. Dieses Schiff braucht aber Ankerplätze in
allen wichtigen Politikgewässern: in der Bildungs-, in
der Wirtschafts-, in der Gesundheits-, in der Arbeitsmarktpolitik. Nur so werden wir den Belangen der Älteren wirklich gerecht. Ansonsten wird sich am Altersbild
wirklich nicht viel ändern.
({9})
Eine Altenpolitik, die Hand und Fuß hat, muss alle im
Blick haben. Die fitte 87-jährige Dame, die noch die Jugend im Turnverein trainiert, gehört genauso dazu wie
der alleinlebende ältere Herr, der aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit seine Wohnung überhaupt nicht mehr verlässt. Beide brauchen in ganz unterschiedlicher Art und
Weise unsere Unterstützung.
Weder die Horrorszenarien der Überalterung noch die
überbordende Betonung der Potenziale im Alter werden
der Vielfalt des Alters gerecht. Nur eine aktive Generationenpolitik kann helfen, das Alter wirklich neu zu definieren. Diese Gesellschaft benötigt neue Ideen, Offenheit und eine ehrliche Diskussion über einen
Generationenvertrag.
({10})
Frau Ministerin, ich bin auf Ihre Ausführungen gleich
gespannt.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat Ingrid Fischbach für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau
Präsidentin! Frau Ministerin! Nach den Reden der Opposition kann ich nur sagen: Oh Gott, oh Gott, es muss einem ja grauen, wenn man alt wird.
({0})
Wenn ich jetzt auf die Tribünen schaue und mir die
Gruppen ansehe, die dort oben sitzen, dann sehe ich
strahlende Gesichter. Ich sehe Menschen, die sich
freuen, dass sie ihr Alter genießen können.
({1})
- Sie haben den Altenbericht überhaupt nicht gelesen.
({2})
Ein wichtiger Punkt - ich glaube, das unterscheidet
uns ganz gehörig - ist ein neuer Blick auch auf die fitte
ältere Generation.
({3})
Es gibt nicht nur die Alten, die krank und pflegebedürftig sind und unsere Hilfe brauchen, sondern es gibt Gott
sei Dank auch die fitten älteren Menschen. Wir werden
älter, wir leben gesünder, wir können besser medizinisch
versorgt werden, wir können unser Leben, unser Alter
genießen. Ich finde das total toll. Ich freue mich auf diesen Lebensabschnitt, aber nicht aufgrund Ihrer Ausführungen.
({4})
Ich glaube, deswegen ist es wichtig, dass wir an dieser Stelle deutlich machen, worin sich die Opposition
und die christlich-liberale Regierung unterscheiden.
Wir wollen die Potenziale des Alters wirklich ausschöpfen und Nutzen stiften. Das heißt, ältere Menschen, die sich gut fühlen, die Kompetenz haben, die
Wissen haben, die sich einbringen können, sollen die
Chance haben, das zu tun. Darum müssen sie nicht bitten
und betteln, sondern das ist ihr gutes Recht. Wir können
nur froh sind, auf diese Kompetenz und Erfahrung zurückgreifen zu können.
({5})
Ich habe hier jetzt eine Kollegin der SPD und auch
eine Kollegin der Grünen gehört. Man fragt sich natürlich, was hier geredet wird und was an den Stellen getan
wird, wo man etwas tun könnte.
Ich betrachte jetzt einmal ganz zufällig die Situation
in Nordrhein-Westfalen.
({6})
Sie haben sich sicherlich gedacht, dass ich aus meinem
Bundesland berichten kann.
Sie, Rot-Grün, sind für die Seniorenpolitik in Nordrhein-Westfalen zuständig. Frau Scharfenberg, Sie haben
gesagt, man brauche Ziele und Visionen. Ich habe in den
letzten zwei Jahren vor Ort nachgefragt, welche Ziele
und Visionen die Ministerin hat, die für die Senioren zuständig ist. Darauf wurde mir zuerst die Frage gestellt:
Wer ist denn für uns zuständig?
({7})
Das Ministerium, das wir als Christlich-Liberale geschaffen hatten, nämlich das Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration, haben Sie aufgelöst. Sie haben die Aufgaben auf drei Ministerien
verteilt, damit erst einmal niemand zuständig ist. Sie
schicken die Menschen von rechts nach links, zum Beispiel ins Familienministerium. Schließlich taucht in einem Ministerium das Wort „Alter“ auf. Wissen Sie, in
welchem Zusammenhang? Alter und Pflege!
({8})
Das ist genau das Altersbild, das Sie haben: Alter und
Pflege.
({9})
Jetzt kann man ja fair sein und sagen: Okay, so sind
sie halt. Das wollen sie so sehen, dann sollen sie es auch
so tun. - Was tun Sie hier aber, obwohl Sie doch den
Schwerpunkt auf Alter und Pflege legen? Nichts!
Sie haben über Barrierefreiheit gesprochen. In Nordrhein-Westfalen sind noch keine 3 Prozent der Wohnungen barrierefrei oder barrierearm. Nicht nur die Verbände, die der CDU nahestehen, reklamieren das,
sondern auch die Verbände, die Ihnen sehr nahestehen.
Der Sozialverband Deutschland kommt mittlerweile
nicht mehr zu seinen Ministerien, sondern er sucht sich
andere Minister, bei denen er sich einmal äußern und
seine Sorgen deutlich machen kann.
Genau das ist der Punkt. Wenn Sie sagen: „Pflege im
Alter ist uns wichtig“, dann müssen Sie vorausschauen
und Visionen haben. Sie müssen sagen: Nicht nur die
Wohnungen, die bereits existieren, müssen umgebaut
werden, sondern auch bei den Neubauten muss angesetzt
werden.
({10})
Auch dort müssen Sie für Barrierefreiheit sorgen. Aber
das kommt bei Ihnen nicht vor.
Das, was inhaltlich gut gelaufen ist, haben Sie aufgegeben. Wir haben den Generationentag eingeführt,
Potenziale des Alters; alles haben Sie abgeschafft. Alle
gut laufenden Projekte haben Sie einfach beendet. Sie
beschränken sich auf einen ganz kleinen Bereich, und
dann nach dem Motto „Sprich’ mich bloß nicht an!“ Niemand hat also die Verantwortung. So kann man keine
Politik machen, hier nicht und auch nicht in NordrheinWestfalen.
({11})
Wir haben Ziele. Wir haben Visionen. Wir sagen: Wir
brauchen für alle Gruppen im Alter Antworten. Für die
fitten älteren Menschen zum Beispiel brauchen wir Angebote, zum Beispiel - mein Kollege Grübel hat es gesagt - den Bundesfreiwilligendienst. Ich freue mich,
dass viele ältere Menschen dieses Angebot annehmen.
Hier haben wir die Möglichkeit, für Alt und Jung generationenübergreifend etwas zu tun. Die Älteren können
Erfahrungen einbringen, von denen Jüngere profitieren.
Das ist ein sehr gutes Projekt.
Als wir die Mehrgenerationenhäuser eingeführt haben
- das ist das Gute, wenn man schon länger dabei ist -, haben Sie lamentiert, Sie wollten in Nordrhein-Westfalen
keine Mehrgenerationenhäuser, sondern lieber Familienzentren haben. - Das haben wir in Nordrhein-Westfalen
gemacht. Am Ende der christlich-liberalen Regierung
gab es knapp 2 000 Familienzentren. Wissen Sie, wie
viele unter Ihrer Regierung in Nordrhein-Westfalen hinzugekommen sind? Keine - in zwei Jahren! Das ist es
eben: Sie halten hier Schönwetterreden, aber da, wo Sie
Verantwortung tragen, tun Sie genau das Gegenteil. Da
bitte ich Sie einfach: Hören Sie damit auf!
({12})
- Frau Humme, wir beide bereden das gleich bei einer
Tasse Kaffee. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie sagen
immer das Gleiche.
({13})
Wir wollen etwas für ältere Menschen tun. Wir wollen etwas für die ältere Generation verändern. Wir wollen das Potenzial des Alters nutzen. Wir wollen die Menschen ernst nehmen. Wir wollen für sie Angebote
schaffen. Ich glaube, das ist hier das Richtige. Die alten
Menschen sind eben nicht nur krank oder pflegebedürftig, sondern es gibt auch die, die sich einbringen können.
Es geht darum, diese Potenziale zu schützen und zu stärken.
({14})
Zu der Rede von Frau Dittrich sage ich gar nichts.
({15})
Sie hat für sich gesprochen. Sie war wirklich unter aller
Kritik.
({16})
Uns ist es in der christlich-liberalen Regierung wichtig, dass wir die Potenziale des Alters nutzen, dass wir
den Menschen Perspektiven geben, dass wir deutlich
machen: Ihr werdet geschätzt. Wir brauchen euch. Wir
zusammen werden all das, was euch im Alter belastet,
angehen. - Der Kollege Grübel hat es sehr deutlich gemacht: Vieles ist nicht hinnehmbar und wird geändert
werden müssen. - Das werden wir anpacken. Ich würde
mich freuen, wenn wir mit Ihrer Unterstützung rechnen
könnten; denn dann könnten wir zusammen für die Menschen etwas verändern. Seniorenpolitik - das ist aktive
Zukunftsgestaltung für alle Generationen.
Ich möchte mit einem Wort von Ursula Lehr enden.
Sie hat einmal gesagt:
Es kommt nicht darauf an, wie alt man wird, sondern wie man alt wird.
In diesem Sinne wollen wir das Beste dafür auf den Weg
bringen.
Danke schön.
({17})
Petra Crone hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Etwa 20 000 ältere
Menschen, aktiv, wissbegierig, engagiert, sind in der
letzten Woche in Hamburg auf dem 10. Deutschen Seniorentag gewesen. Da konnte man ein ganz riesiges
Potenzial des Alters erleben, ein äußerst positives Altersbild.
({0})
Es sprühte nur so von Ideen und Tatkraft. Auch gab es
wertvolle Impulse, zum Beispiel beim bürgerschaftlichen Engagement. Doch was machen Sie daraus, Frau
Ministerin? Auf jede Frage antworten Sie mit einem
Hinweis auf den Bundesfreiwilligendienst. In einigen
Fällen mag das hinkommen, aber das ist nicht passgenau.
Ein richtiges Motto lautet: Einmal engagiert, immer
engagiert. Ich fordere Sie auf, Frau Schröder: Sorgen Sie
dafür, dass auch Jugendliche neben der Schule Zeit finden, sich zu engagieren - ohne Gegenleistung. Geben
Sie ihnen eine Chance, sich im Ehrenamt zu üben.
({1})
Der Bundesfreiwilligendienst, Ihr Liebling, ist ein
Vollzeitdienst, den nicht jeder und jede leisten kann.
Frau Ministerin, Sie wollen sich mit dem bürgerschaftlichen Engagement profilieren. Warum behandeln Sie ausgerechnet die Freiwilligendienste aller Generationen so
stiefmütterlich? Warum verhindern Sie nicht, dass Ihre
Regierung die Kommunen immer weiter ausbluten lässt?
Denn sie sind es doch, die passgenaue Angebote fördern.
({2})
Egal ob jung oder älter, ob Schüler, Arbeitnehmer
oder Rentner: Die Freiwilligkeit muss im Mittelpunkt
stehen. Niemand soll das Gefühl haben, sich engagieren
zu müssen. Unsere Aufgabe ist es, Lust darauf zu machen.
Der Deutsche Seniorentag hat aber auch sehr deutlich
gemacht, dass es Themen gibt, die im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung unterrepräsentiert sind und
von Ihnen, Frau Ministerin, mehr oder weniger elegant
umgangen werden.
({3})
Das Thema Altersarmut ist eines der dringendsten
Generationenprobleme. Es betrifft nicht nur die Älteren,
die schon im Ruhestand sind, sondern genauso auch unsere Kinder und Enkel. Die brauchen gute Vorbilder und
das Gefühl, dass Arbeit sich lohnt und mit einer Vollzeitstelle der Lebensunterhalt gedeckt werden kann. Es ist
doch beschämend für unser reiches Land, dass dies nicht
gewährleistet ist.
({4})
Liebe Kollegen und Kolleginnen der Regierungsfraktion, von Ihnen wird dagegen nichts unternommen.
({5})
Das Übel muss doch an der Wurzel gepackt werden. Ist
Ihre Antwort darauf die Einführung des Betreuungsgeldes?
Was wir dringend brauchen, sind flächendeckende
Mindestlöhne,
({6})
eine höhere Beschäftigungsquote vor allen Dingen für
Frauen, mehr Kinderbetreuung in den Regionen und vieles mehr.
({7})
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der Linksfraktion, in Ihrem Antrag sind einige interessante Forderungen enthalten, die wir zum Teil auch unterstützen können. Aber ich vermisse bei Ihnen den konkreten Bezug
zum Sechsten Altenbericht. Ihr Entschließungsantrag
- es ist immerhin ein Entschließungsantrag - ist vielmehr eine Zusammenfassung von seniorenpolitischen
Zielen.
Die generelle Kritik am Altenbericht kann ich nicht
nachvollziehen. Sie sprechen ihm gar die Substanz ab. In
einem ähnlichen Maße, in dem Sie der Bundesregierung
und den Sachverständigen die Ökonomisierung der Altersbilder vorwerfen, zeichnen Sie ein umfassendes negatives Altersbild, geleitet vom sozialen Abstieg. Das ist
genauso falsch.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, zum Schluss
möchte ich den regelrechten Hype um die stets fitten Senioren und Seniorinnen kritisieren. Es ist natürlich schön
und ein tolles Ergebnis, dass wir alle älter werden und
immer länger gesund bleiben. Die Altersbilder insgesamt sollen positiver werden. Aber Achtung: Wir dürfen
sie auch nicht mit Kitsch überlagern. Damit werden nur
Ängste vor Hilfs- und Pflegebedürftigkeit und auch vor
dem Sterben geschürt. Das darf nicht sein.
({8})
Jeder und jede muss wissen, dass wir uns um eine
würdevolle Betreuung, Pflege und auch um Sterbebegleitung kümmern. Dafür hat die SPD-Bundestagsfraktion ein umfassendes Konzept erarbeitet.
Das Thema Demenz hat in Zukunft eine sehr große
Wichtigkeit. Wo bleiben da die Taten der schwarz-gelben Regierung? Reförmchen des Ministers Bahr helfen
nicht weiter.
({9})
Bei all dem ist das Miteinander der Generationen entscheidend, in der Gesellschaft und in der Politik, solidarisch und verantwortungsvoll. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist „Teilhabe“ kein leeres Wort. Sie beinhaltet
zwei Forderungen: das Recht auf Bildung für jedes Alter
und die Förderung von Freiwilligenengagement von und
für alle Generationen.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
Morgen war ich kurz zu Gast bei einer Seniorenorganisation einer Gewerkschaft. Was ich dort mitgenommen
habe, ist die Klage, dass die ältere Generation innerhalb
der Gewerkschaft nicht mehr voll mitwirkungsberechtigt
ist. Es gibt also durchaus Felder im traditionell eher linken politischen Bereich, bei denen man sich überlegen
muss, ob man das richtige Augenmaß hat.
({0})
So viel als Randbemerkung zu dem, was ich an einem
Tag in Berlin im Rahmen meiner Abgeordnetentätigkeit
mitnehme.
Der Sechste Altenbericht ist ein Wegweiser für uns
alle; denn er zeigt auf, dass nicht mehr die Belastungen
des Alters das ausschließliche Thema, das man mit dem
Alter verbindet, sein sollen, sondern dass auch die Chancen einer alternden Gesellschaft begriffen und genutzt
werden müssen. Frau Scharfenberg, ich habe Ihren Redebeitrag sehr genau verfolgt und halte es für völlig verfehlt, nur darauf zu setzen, dass wir in Berlin es schon
regeln werden. Da sind wir in der Bundesrepublik
Deutschland insgesamt, in den verschiedenen Ländern
und Kommunen, schon sehr viel weiter.
({1})
Ich komme aus der Kommunalpolitik. Als ich vor
18 Jahren frischgebackene Stadträtin war, haben wir in
Offenburg ein Seniorenbüro eingerichtet. Das war sozusagen eine Freiwilligenagentur. Damals nannte man das
noch nicht so, aber nichts anderes war es. Es war ein Experiment, damals auch vom Bund gefördert. Es ist ein
Knüller geworden. Mittlerweile gibt es dort eine Selbstorganisation von älteren Menschen, die das soziale Gefüge, den Alltag und das Miteinander der Stadt auf eine
ganz interessante Weise prägen. Auch wenn die Menschen nicht mehr im Berufsleben stehen, sagen sie ganz
klar: Wir spielen eine Rolle. Wir sind wichtig; wir sind
dabei. Wir sind nicht ausgegrenzt. - Das ist für das
Klima in einer Kommune ganz wichtig.
({2})
Ein Beispiel für die konkreten Tätigkeiten der dort lebenden Senioren: Sie arbeiten mit ausländischen Studenten an der Fachhochschule zusammen und bieten ihnen
an, als Wegweiser in der Stadt zu fungieren und Behördengänge zu erledigen. Dadurch haben die Senioren
Kontakt zu Menschen, die aus ganz anderen Lebensverhältnissen stammen. Das ist sehr belebend und hochinteressant.
Eine ähnliche Entwicklung gibt es in der Gemeinde
Eichstetten am Kaiserstuhl. Die hier betriebene engagierte Kommunalpolitik trägt der Situation der Alten vor
Ort Rechnung und sorgt dafür, dass sie sich sowohl in
der Pflege als auch im bürgerschaftlichen Engagement
wiederfinden, mitarbeiten und ein Austausch stattfindet.
Niemand muss den Ort aus Altersgründen oder wegen
Pflegebedürftigkeit verlassen. Jeder kann bleiben.
Damit sind wir bei einem ganz wesentlichen Thema,
das mir in dieser Debatte völlig fehlt. Viele Menschen
leben im Alter alleine. Die Familien ziehen weg. Die
Kinder sind berufsbedingt ganz woanders. Die Familien
sind nicht mehr so eng beieinander. Unter Umständen
bleibt man im Alter allein. Die Angst vor dem Alleinsein
ist ein wichtiges Thema, dem wir uns widmen müssen.
Mir persönlich ist wichtig, neue Wohnformen im Alter
zu entwickeln. Diesem Thema widmet man sich mittlerweile auch im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements. Ich kenne etliche Vereine, die dieses Thema in
den jeweiligen Kommunen vorantreiben wollen. Es geht
nicht allein um Wohngemeinschaften, sondern auch um
ein Miteinander, ein vernetztes Wohnen. Nicht alleine
und vereinzelt zu sein, das ist wichtig, damit wir auch im
Alter den Austausch haben, um fit zu bleiben, uns gegenseitig zu unterstützen, eventuell einer Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, gemeinsames Lernen zu organisieren - denn auch das hält jung - sowie letztendlich ein
Miteinander in positiver Stimmung - ich habe leider viel
zu wenig Zeit, um das weiter auszuführen - zu gestalten
und das Lachen nicht zu verlernen. So bleiben wir jung.
({3})
Die Bundesministerin Dr. Kristina Schröder hat jetzt
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Alter ist vielfältiger und facettenreicher geworden.
Der Sechste Altenbericht, für den ich der Sachverständigenkommission unter dem Vorsitz von Professor
Dr. Andreas Kruse ganz herzlich danke, fordert uns dazu
auf, die Seniorenpolitik auf die Vielfalt des Alters auszurichten. Er stellt dabei die Chancen, die der demografische Wandel bietet, in den Mittelpunkt.
Man muss sich bewusst machen: Wir haben es mit einer historisch neuen Lebensphase zu tun. Jahrtausendelang war das Leben des Menschen im Grunde durch drei
Lebensphasen bestimmt: Da war die Kindheit und die
Jugend als erste Lebensphase, dann kam die Zeit der Berufstätigkeit und des Kümmerns um die Familie, und
dann kam das Alter; aber das war ganz schnell von
Krankheit und Gebrechen geprägt. Als Bismarck die
Rentenversicherung eingeführt hat, lag die Lebensarbeitszeitgrenze bei 70 Jahren, die durchschnittliche
Lebenserwartung lag bei unter 60 Jahren. Die Phase, die
wir das junge Alter nennen, also die Lebensphase zwischen 65 und 85 Jahren, ist etwas Neues, das es in der
Geschichte der Menschheit so noch nicht gab. Die meisten Menschen erreichen glücklicherweise gesundheitlich
relativ fit ein hohes Alter und haben sich viel Erfahrung,
Wissen und Gelassenheit angeeignet, die ein langes Leben schenkt. Das ist ein riesiger Schatz für unsere Gesellschaft. Wir stehen noch am Anfang bei dem Versuch,
diesen Schatz zu heben.
({0})
Deshalb - das unterstreicht der Antrag der Koalitionsfraktionen -: Wir brauchen die Erfahrung und die Tatkraft älterer Menschen in der Familie, in der Arbeitswelt
und im Ehrenamt. Schauen wir einmal in die Familie.
Die meisten Menschen erleben doch, dass der Zusammenhalt in den Familien, insbesondere der Zusammenhalt zwischen den Generationen, riesengroß ist, trotz
Scheidungen und trotz Mobilität. Letzteres gibt es, aber
dennoch: Wenn es darauf ankommt, dann halten in den
meisten Fällen die Generationen zusammen.
({1})
Zum Beispiel spielen die Großeltern eine riesige Rolle
bei der Betreuung der Enkelkinder und damit auch bei
der Vereinbarkeit von Familie und Beruf der mittleren
Generation.
({2})
- Krippen können keine Großeltern ersetzen. Das ist nun
einmal nicht so einfach.
({3})
Deshalb wollen wir den Zusammenhalt in den Familien
durch die Einführung einer Großelternzeit stärken. Wir
wollen auch berufstätigen Großeltern die Möglichkeit
geben, sich um die Betreuung der Enkel zu kümmern.
Umgekehrt: Zwei Drittel der 2,3 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden zu Hause in
ihren Familien gepflegt. Sie werden vom Partner und
den eigenen Kindern gepflegt. Deshalb haben wir mit
der Einführung der Familienpflegezeit zum 1. Januar
2012 die Familie als Verantwortungsgemeinschaft gestärkt.
({4})
Ein weiterer Punkt. Der Bundesfreiwilligendienst ist
ein riesiger Erfolg. Was gab es doch für Katastrophenszenarien und Skepsis? Jetzt stellen wir fest: Fast
20 Prozent der Bufdis, die wir in Deutschland haben,
sind über 50 Jahre alt. Der Schreinermeister im Ruhestand geht in die Kitas und Kindergärten und baut mit
den Kindern Vogelhäuser, die pensionierte Grundschullehrerin kümmert sich um Kinder mit Migrationshintergrund und hilft ihnen bei den Hausaufgaben. Das ist ein
Riesengewinn für unsere Gesellschaft.
({5})
Wir sollten uns aber dessen bewusst sein - da bin ich
bei Ihnen, Frau Crone -, dass es in der Seniorenpolitik
nicht nur um die Generation 60 plus geht; denn die Alten
von morgen sind die Jungen von heute. Deshalb brauchen wir eine vorsorgende Seniorenpolitik, zum Beispiel
auch, wenn es um die Folgen familienbedingter Auszeiten und Teilzeitphasen im Beruf geht. Dafür zahlen im
Rentenalter insbesondere die Frauen. Ihre Alterseinkommen liegen im Moment rund 60 Prozent unter denen der
Männer.
Deswegen heißt vorsorgende Seniorenpolitik auch,
bei den Ursachen dafür anzusetzen, die früher im Leben
liegen.
({6})
Ich mache mir zum Beispiel Sorgen über das Ausufern
von Minijobs.
({7})
Für Studenten und Rentner haben Minijobs ihre Berechtigung, aber für Mütter entwickeln sie sich oft zu einer
Sackgasse, die zu Altersarmut führt. Deshalb halte ich
auch nichts davon, dem Drängen der Arbeitgeber nachzugeben, die nach einer weiteren Flexibilisierung rufen.
Wir müssen hier sehr genau gucken, welche Anreize wir
setzen.
({8})
Auch im Arbeitsrecht gibt es Regelungen, für die
Frauen erst mit schlechteren beruflichen Chancen, dann
mit schlechteren Einkommen und schließlich mit niedrigeren Renten bezahlen. Deshalb brauchen wir zum Beispiel endlich mehr Möglichkeiten, flexibel zwischen
Vollzeit und Teilzeit, insbesondere auch von Teilzeit
wieder in Vollzeit, zu wechseln. Das sind Beispiele für
eine vorsorgende Politik für die Lebensphase Alter.
Beides gehört in der Seniorenpolitik zusammen: eine
Politik, die die Vielfalt des Alters berücksichtigt, und
eine Politik, die die Vielfalt des Älterwerdens berücksichtigt. Da ist es ein bisschen wie mit der gesundheitsbewussten Lebensweise: Man muss früh damit anfangen. Auch daran sollten wir denken, wenn es um
Teilhabechancen für ältere Menschen geht.
({9})
Jetzt hat Sabine Bätzing-Lichtenthäler das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, vielleicht
hätten Sie weniger Bücher und dafür mehr Gesetzentwürfe für eine bessere Politik für ältere Menschen
schreiben sollen.
({0})
Denn zu dem, was uns hier vorliegt, muss man wohl sagen: Fehlanzeige! Auch beim Thema Alter klaffen
Wunsch und Wirklichkeit in der Koalition wieder einmal
auseinander.
So habe ich im schwarz-gelben Koalitionsvertrag zu
diesem Thema drei konkrete Vorhaben für diese Legislaturperiode gefunden, erstens eine breit angelegte Initiative zum Thema „Alter neu denken“. - Okay. Nur, was
haben wir bekommen? Bekommen haben wir das Programm „Altersbilder“, mitnichten eine breite Initiative
und mitnichten neues Denken. Zweitens ist da die Innovationspartnerschaft „Gesundheit im Alter“. Was haben
wir bekommen? Ein „Pflegereförmchen“. Drittens
wurde das Gesetz zur Förderung des bürgerschaftlichen
Engagements angekündigt. Davon ist weit und breit
überhaupt nichts zu sehen.
Dieses Vorgehen erinnert mich an das Motto: Vorwärts, liebe Freunde, wir gehen zurück! - Damit ist
keine gute Politik für ältere Menschen zu schaffen.
({1})
Das einzige, was man findet, sind Plagiate, wie etwa Ihr
Antrag zu den Potenzialen des Alters. Es ist nicht das
erste Mal, dass Sie damit auffallen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns aber
über die Potenziale des Alters und die neuen Altersbilder
sprechen. Lebenserfahrung, Berufserfahrung und erworbene Kompetenzen, das sind die Potenziale älterer MenSabine Bätzing-Lichtenthäler
schen. Potenziale fallen aber niemandem in den Schoß,
Potenziale sind erarbeitet, und man muss sie wecken,
fördern, hegen und pflegen. Gleichzeitig darf man sie
aber auch nicht überstrapazieren. Denn ältere Menschen
wollen zwar weiterhin gebraucht, aber nicht missbraucht
oder aufgebraucht werden.
({2})
Für uns bedeutet das erstens: Bürgerschaftliches Engagement ist und bleibt freiwillig und lässt Kreativitätsund Handlungsspielräume für die Helfer. Zweitens setzt
bürgerschaftliches Engagement eine soziale Absicherung voraus, das heißt gute Renten basierend auf guten
Löhnen, abgesichert durch einen echten Mindestlohn.
({3})
Drittens setzt bürgerschaftliches Engagement Zeit voraus. Das heißt weniger Zeitdruck für Schülerinnen und
Schüler, Berufsanfänger und Eltern sowie kreative Ideen
für Zeitspenden von älteren Menschen.
Viertens hilft bürgerschaftliches Engagement gegen
Einsamkeit. Das heißt, wir dürfen Kranke und ältere
Menschen mit ihren Sorgen und Hoffnungen nicht allein
lassen. Das hilft Helfern und Geholfenen und ist Markenzeichen für eine soziale Gesellschaft. Deswegen
brauchen wir soziale Netzwerke und dürfen diese wie
zum Beispiel das Programm „Soziale Stadt“ nicht kaputtsparen. Aber auch da haben wir keinen Widerspruch
von der zuständigen Ministerin gehört.
({4})
Schließlich fünftens. Bürgerschaftliches Engagement
verdient Respekt und Anerkennung. Da sind wir uns,
glaube ich, hier im Haus alle einig.
Die Organisation von freiwilligem Engagement vor
Ort zur Erschließung der Potenziale ist aber alles andere
als ein Selbstläufer. Dafür müssen wir vor allem die Zugänge organisieren. Gebraucht werden Information, Beratung und Vernetzung. Dafür muss selbstverständlich
auch Geld in die Hand genommen werden. Da es um einen gesamtgesellschaftlichen Gewinn geht, muss auch
klar sein, dass Kommunen, Länder und Bund gemeinsam gefragt sind.
So wie es ein Miteinander in der Politik geben muss,
um die Potenziale des Alters auszuschöpfen, so braucht
es auch ein Miteinander der Generationen, damit sich
diese Potenziale entfalten können.
Gerade älteren Menschen liegt das besonders am Herzen. Ein besseres Miteinander der Generationen könnte
dazu beitragen, Zeitdruck von jüngeren Menschen zu
nehmen und älteren Menschen neue Betätigungsfelder
zu geben. Die Potenziale des Alters kämen hier wunderbar zum Tragen, etwa durch verschiedene Patenschaften
in Schule, Familie oder Wohnumfeld.
Meine Kolleginnen und Kollegen, es kommt nicht darauf an, wie alt wir werden, sondern wie wir alt werden.
Deshalb lassen Sie uns die Potenziale des Alters erschließen. Ihre Vorhaben im Koalitionsvertrag ließen
Hoffnung aufkeimen, in der Realpolitik wurde diese jedoch jäh zerstört.
Meine Damen und Herren, Frau Ministerin, liefern
Sie endlich!
Danke schön.
({5})
Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich darf zunächst meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass die Frauenquote im Präsidium des Bundestages heute in herausragender Weise
erfüllt ist.
({0})
Die jungen Arbeitnehmer können vielleicht schneller
laufen, Frau Marks, aber die alten kennen die Abkürzung. - Herr Müntefering, ich wollte Sie gerade loben,
aber jetzt gehen Sie hinaus. - Ein Beispiel für diese
Weisheit haben wir in den Reihen der SPD mit unserem
ehemaligen Arbeitsminister Franz Müntefering. Franz
Müntefering ist laut Kürschners Volkshandbuch zu Beginn dieses Jahres 72 Jahre alt geworden. Er war schon
deutlich über 65 Jahre, als er in seiner Weisheit erkannt
hat: Von den gewonnenen Lebensjahren müssen wir einen Teil im Arbeitsleben verbringen. - Dass er den Konflikt mit Teilen seiner Partei auf sich genommen hat und
das Arbeiten bis 67 auf den Weg gebracht hat, dafür
wollte ich ihm an dieser Stelle, auch als damaliger Partner in der Großen Koalition, ausdrücklich noch einmal
danken. Es gerät doch schnell in Vergessenheit.
({1})
Frau Kollegin Marks hat ausgeführt: Die Beschäftigungsquote bei den Älteren lässt noch zu wünschen übrig. - Frau Kollegin Marks, Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. Im Jahr 2000 lag die
Beschäftigungsquote bei den 60- bis 65-Jährigen bei
22,2 Prozent. Im Jahr 2010 lag sie bei 44,2 Prozent. Die
Beschäftigungsquote der 60- bis 65-Jährigen hat sich in
diesen zehn Jahren also verdoppelt.
({2})
Das liegt zum einen am Auslaufen der 58er-Regelung; das ist richtig. Bis vor wenigen Jahren gab es diese
- damals sicherlich vernünftige - Regelung, mit der wir
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesagt haben: Mit 58 Jahren brauchen wir dich nicht mehr so nö21384
tig am Arbeitsmarkt. - Wir werden aber in Zukunft die
Potenziale älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch
in den Unternehmen stärker benötigen. Es gibt Expertisen, die genau belegen, dass ein vernünftiger Mix von
Jungen und Alten in einer Belegschaft das betriebswirtschaftliche Ergebnis eines Unternehmens am besten steigern kann, dass dieser Mix die höchste Effizienz bringt.
Darum werden wir in Zukunft unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger im Berufsleben, solange sie fit
sind, brauchen. Daran arbeiten wir, Frau Kollegin
Marks. Es wäre gut gewesen, Sie hätten einmal mit ihren
Arbeitsmarktpolitikern gesprochen. Wir diskutieren über
Prävention.
({3})
- Wir machen schon etwas, liebe Frau Kollegin. Fragen
Sie doch einmal Frau Kramme. Wir haben das Programm „INQA - Initiative Neue Qualität der Arbeit“.
({4})
Das heißt, wir machen uns sehr wohl Mühe, zu erreichen, dass unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger bis
zum Alter von 65 Jahren oder 67 Jahren - und natürlich
darüber hinaus - gesund im Berufsleben stehen. Diese
Aufgabe wird in Zukunft noch wichtiger werden.
({5})
- Die habe ich doch gerade genannt, Herr Kollege
Wunderlich. Sie kommen hierher und fordern mich auf,
die Erwerbstätigenquote zu nennen. Wenn Sie mir zugehört hätten, würden Sie sie kennen.
Jetzt, im Jahr 2012, liegt die Beschäftigtenlücke bereits bei über 1 Million. Das heißt, 1 Million zusätzliche
Arbeitsplätze kann in Deutschland geschaffen werden.
Wir werden in Zukunft auf vier Baustellen tätig sein
müssen: Wir werden die Beschäftigtenquote der Frauen
etwas erhöhen müssen; da stehen wir im internationalen
Vergleich noch nicht allzu gut da. Wir werden aber auch
die Beschäftigtenquote der Älteren in den Unternehmen
erhöhen müssen, und zwar durch Vermittlung von Wertschätzung der Älteren. Wir werden die Beschäftigtenquote der bei uns lebenden Migranten mit Deutschkenntnissen verbessern müssen. Außerdem werden wir
überlegen müssen, wie wir noch Beschäftigtenpotenziale
im Ausland für uns gewinnen können. - Eine dieser vier
Stellschrauben unserer zukünftigen Berufswelt wird aber
die Beschäftigung unserer älteren Mitbürgerinnen und
Mitbürger, sofern sie fit sind, sein.
Noch etwas: Wir sind bei der Beschäftigtenquote der
55- bis 65-Jährigen nicht so schlecht, wie Sie, Frau
Marks, ausgeführt haben. Die Schweden liegen in diesem Bereich mit 70,5 Prozent an der Spitze. Die Beschäftigungsquote in Deutschland liegt bei 57,7 Prozent.
Der EU-Durchschnitt liegt bei 46,3 Prozent. Frankreich
liegt bei 39,7 Prozent. Ich glaube, beschäftigungspolitisch werden wir von den Franzosen nicht viel lernen
können, auch wenn Sie, Frau Dittrich, Gegenteiliges vermitteln wollen.
„Hurra, wir werden älter“, so lautete die Überschrift
des Leitartikels des Hamburger Abendblatts vom 4. Mai,
also vor wenigen Tagen. Dass wir älter werden, ist - ich
habe es bereits ausgeführt - tatsächlich ein Grund zur
Freude. Die gewonnenen Lebensjahre sind ein Geschenk
für die ganze Gesellschaft. Wenn heute, am 11. Mai
2012, ein Kind geboren wird, hat es eine 50-prozentige
Chance, 100 Jahre alt zu werden. Derzeit leben in unserem Land bereits 17 Millionen Menschen, die älter als
65 Jahre sind. Diese Zahl dürfte in den kommenden Jahren steigen. Experten schätzen, dass im Jahr 2020 gut ein
Drittel der 80 Millionen Deutschen zur Generation
65 plus gehören wird. Bis zum Jahr 2040 wird sich die
Zahl der über 80-Jährigen auf mehr als 8 Millionen verdoppeln.
Noch vor 50 Jahren sind viele Menschen bereits vor
dem Eintritt in das Rentenalter gestorben - Frau Ministerin hat in ihrer Rede bereits darauf hingewiesen -; die
durchschnittliche fernere Lebenserwartung eines 65-Jährigen betrug etwa zwei Jahre. Wer heute in Rente geht,
hat oft noch gut 20 Jahre vor sich. Statistisch gesehen ist
die Lebenserwartung zuletzt Jahr für Jahr um drei Monate gestiegen.
Ich glaube, die Potenziale des Alters sollten wir gemeinsam, parteiübergreifend positiv bewerten. Im Übrigen sollten Bufdis keine Zwangsarbeit für Ältere leisten.
Es gibt sehr viele engagierte Senioren - ich kenne welche aus meinem Wahlkreis -, die froh sind, wenn sie sich
in der Gesellschaft einbringen können, die froh sind, vermittelt zu bekommen: Ich werde noch gebraucht. - Sie
arbeiten ehrenamtlich mit.
Frau Ministerin Schröder hat sehr zutreffend darauf
hingewiesen: Viele Großeltern sind froh, dass sie mit
den Enkeln die Zeit verbringen können, die sie, vielleicht bedingt durch eine Berufstätigkeit, für die eigenen
Kinder nicht hatten. Das ist ein Ausdruck von Lebensqualität. Diesen positiven Ansatz fortzuentwickeln ist
des Schweißes aller Edlen und Gerechten wert. Lassen
Sie uns gemeinsam daran arbeiten!
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/9504. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des Sechsten Berichts der
Bundesregierung zur Lage der älteren Generation auf
Drucksache 17/3815 unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8345 mit
dem Titel „Altersbilder positiv fortentwickeln - Potenziale des Alters nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung
von CDU/CSU und FDP angenommen. Dagegen waren
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
SPD und Linke. Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2145 mit dem Titel
„Potenziale des Alters und des Alterns stärken - Die
Teilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftliches
Engagement und Bildung fördern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen
gestimmt. Die Linke hat sich enthalten.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9596. Wer
stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion abgelehnt; alle übrigen Fraktionen waren dagegen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Diana
Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik
- Drucksachen 17/6915, 17/9551 Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön ({1})
Nicole Bracht-Bendt
Katja Dörner
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Die Kollegin Ewa Klamt hat das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir diskutieren heute über den Antrag der Linken mit dem Titel „Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik“.
({0})
Ein schöner Titel, aber bei genauerem Hinschauen stellt
man fest, dass der Antrag im Wesentlichen eine bunte
Vielfalt an „Wünsch dir was“-Punkten, schillernden
Ideen und abstrusen Vorwürfen ist.
({1})
So wirft die Linke der Bundesregierung vor, den Ausbau der Kinderbetreuung nicht ernst zu nehmen.
({2})
Wir haben bereits gestern in der Aktuellen Stunde darüber diskutiert. Auch durch Wiederholung wird Ihre
Behauptung nicht wahrer. Der Bund ist seiner Verantwortung beim Ausbau vollumfänglich gerecht geworden.
({3})
Beim Krippengipfel 2007 haben sich Bund, Länder
und Kommunen an einen Tisch gesetzt und gemeinsam
Ausbaukosten von 12 Milliarden Euro veranschlagt.
Jede Ebene hat dabei zugesagt, jeweils ein Drittel der
Kosten zu übernehmen.
({4})
Die zugesagten 4 Milliarden Euro hat der Bund ebenso
bereitgestellt, wie wir zu den Betriebskostenzuschüssen
von 770 Millionen Euro jährlich ab 2014 stehen. Egal
wie oft Sie die Forderung wiederholen, der Bund solle
weitere Krippenplätze bauen: Zuständig sind hierfür die
Länder und Kommunen. Für die Finanzausstattung der
Kommunen sind wiederum die Länder zuständig.
({5})
Ergänzt wird die Finanzierung des Ausbaus der Krippenplätze durch das Aktionsprogramm Kindertagespflege. Mit diesem werden der Platzausbau in der Kindertagespflege und die Weiterbildung von Tageseltern
mit 29 Millionen Euro unterstützt. Über das Programm
konnte beispielsweise der Anteil der Tagespflegepersonen ohne Qualifikationskurs immerhin auf 14 Prozent
gesenkt werden. Mit der Qualifizierungsinitiative für
Deutschland haben wir seit 2008 zusätzlich 80 000 Erzieherinnen und Erzieher sowie Tagesmütter und Tagesväter weitergebildet.
({6})
Die „Offensive Frühe Chancen“ ergänzt unsere Familienpolitik im Bereich der Sprachförderung von Kindern.
Hier werden bis 2014 rund 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um in etwa 4 000 Kitas in Deutschland
auf Kinder mit besonderem Sprachförderbedarf einzugehen. Das bedeutet für jede Kita vier Jahre lang
25 000 Euro für eine Fachkraft. Ich selbst habe mehrere
Schwerpunktkitas in meinem Wahlkreis. Die Erzieherinnen vor Ort sind voll des Lobes und der Anerkennung
für diese Leistung des Bundes, die direkt den Kindern
zugutekommt, die sie brauchen.
Interessant ist auch der Vorwurf der Linken, dass die
Bundesregierung an alten Rollenbildern festhalte. Da
kann ich nur sagen: Im Gegensatz zu Ihnen respektieren
wir individuelle Lebensentwürfe und Wertevorstellun21386
gen von Familien und orientieren uns an den vielen spezifischen Bedürfnissen.
({7})
Dementsprechend verstehe ich unter einer modernen Familienpolitik, dass wir die vielfältigen und auch sehr unterschiedlichen Bedürfnisse von Familien in Deutschland anerkennen und entsprechend praktikable Lösungen
für Familien umsetzen. Im Gegensatz zu Ihnen sprechen
wir nicht nur für einen Teil der Familien; wir setzen uns
für alle ein.
({8})
Herr Wunderlich, wenn Sie zugehört hätten, dann
wüssten Sie, dass wir uns entgegen Ihrem Zuruf, den die
Zuhörer wahrscheinlich nicht gehört haben, nicht nur für
die Wohlhabenden einsetzen. Es ist klar: Wenn wir gerade für Kinder mit Migrationshintergrund 400 Millionen Euro investieren, damit in Kitas entsprechende
Fachkräfte eingesetzt werden können, dann ist das eine
ganz andere Gruppe als eine wohlhabende. Das wissen
Sie genau.
Unstrittig ist, dass die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf eine gesellschaftliche Herausforderung ist. Ursula
von der Leyen
({9})
hat 2005 diese vernachlässigte Aufgabe erstmalig zu ihrem Schwerpunktthema gemacht. Dazu gehören der
Ausbau der Kinderbetreuung und der Rechtsanspruch
auf einen Kitaplatz ab 2013 als wohl wichtigste Bestandteile der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({10})
Hier dürfte sogar die SPD klatschen; denn Sie haben es
in der Großen Koalition mit beschlossen.
({11})
- Es kann sein, dass in NRW nichts passiert ist. Auf
Bundesseite ist alles in die Wege geleitet worden.
({12})
Familienfreundlichkeit von Unternehmen gehört
ebenso dazu. Unsere Gespräche mit Arbeitgebern haben
unter anderem zu der Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“ geführt. Die Gewinner des Wettbewerbs
„Erfolgsfaktor Familie“ sind ein guter Beweis dafür,
dass auch in der Wirtschaft das Bewusstsein für die
nötige Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf wächst. Dahinter steht die Erkenntnis, dass
Unternehmen nur gewinnen können, wenn sie die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter ernst nehmen und Familienverantwortung als wertvolle Bereicherung von Kompetenzen betrachten. Das wird gerade im Zuge des
Fachkräftemangels in den nächsten Jahren immer wichtiger. Familienfreundlichkeit ist ein entscheidender
Standortfaktor.
Was sich Familien wünschen und wo große Schwierigkeiten auftreten, zeigt sich im Achten Familienbericht, den Ministerin Kristina Schröder diese Woche im
Ausschuss vorgestellt hat. Zeit wird dabei als eine der
wertvollsten Ressourcen von Familien anerkannt. Um
diese Zeitsouveränität für Familien zu schaffen, sollen
verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten geprüft werden, zum Beispiel die Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen, die ausgeweitete Übertragbarkeit von Elternzeitansprüchen oder auch die Großelternzeit. Ebenso
wichtig war uns, dass Frauen nach einer Babypause in
den Beruf zurückkehren können. Das vom Familienministerium entwickelte Programm „Perspektive Wiedereinstieg“ ist dabei so erfolgreich, dass es sogar in den Instrumentenbaukasten der Bundesagentur für Arbeit
aufgenommen wurde. Vielen Dank, Frau Ministerin!
({13})
Ihr Vorschlag, sehr geehrte Kollegen der Linken, lautet hingegen, den Kündigungsschutz für Eltern bis zum
vollendeten sechsten Lebensjahr des Kindes auszuweiten. Das ist schlichtweg kontraproduktiv.
Für uns ist entscheidend, junge Familien finanziell zu
unterstützen, und das haben wir entsprechend verstetigt
und ausgeweitet. Das von uns eingeführte Elterngeld
kann als voller Erfolg verbucht werden. 98 Prozent aller
Eltern nehmen diese Unterstützung des Staates in Anspruch. Damit haben wir für Eltern nach der Geburt eines Kindes einen Schonraum geschaffen und konnten
gleichzeitig - darüber freue ich mich ganz besonders junge Väter motivieren, mehr Verantwortung bei der Erziehung ihres Kindes zu übernehmen.
({14})
Es ist interessant, dass bereits jeder vierte Vater seiner
Partnerin bei der Betreuung des gemeinsamen Kindes
zur Seite steht. Gleichzeitig werden insbesondere Frauen
motiviert, nach einer intensiven Kinderzeit wieder Anschluss an das Berufsleben zu finden.
({15})
Auch Ihr Vorschlag zur Ausweitung des Elterngeldes auf
24 Monate für Alleinerziehende ist hier nicht zielführend, weil dadurch der Wiedereinstieg zusätzlich erschwert wird.
Zur finanziellen Unterstützung von Familien gehört
neben dem Elterngeld in den ersten 12 bis 14 Monaten
auch das Kindergeld. Bereits zu Beginn dieser Legislaturperiode hat diese Koalition daher die Kinderfreibeträge auf 7 008 Euro erhöht und das Kindergeld um
20 Euro angehoben. Allein dadurch hat eine vierköpfige
Familie im Jahr 480 Euro mehr zum Leben.
Da aus unserer Sicht zur Familienpolitik auch eine eigenständige Jugendpolitik gehört, ist Familienministerin Kristina Schröder hier vorangegangen und hat das
neue Politikfeld etabliert. Jugendliche in Deutschland
sind in der großen Mehrheit engagierte und verantwortungsbewusste junge Menschen. Das kann man auch am
Erfolg des Bundesfreiwilligendienstes ablesen.
({16})
10 Prozent aller Jugendlichen eines Jahrgangs beteiligen
sich deutschlandweit an den Freiwilligendiensten. Nur
zur Erinnerung: Von der Opposition wurde dieses Konzept noch im letzten Jahr als Rohrkrepierer bezeichnet.
Ich kann also festhalten: Man kann alles schlechtreden;
wir machen es gut.
({17})
Immerhin können wir einen Punkt Ihres Antrags voll
und ganz unterschreiben: Familie ist dort, wo Verantwortung füreinander übernommen wird. - Genau deshalb haben wir neben all den anderen bereits genannten
Punkten mit der Familienpflegezeit erstmals die Möglichkeit geschaffen, Verantwortung in der Familie und
Verantwortung im Beruf zu kombinieren.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Antrag der
Linken manch wünschenswerten Aspekt enthält; aber
- und dieses Aber ist entscheidend - es fehlt wie immer
eine Gegenfinanzierung Ihrer Vorschläge. Wir als christlich-liberale Koalition werden auch in Zukunft Politik
für Familie machen und die nötigen Maßnahmen ergreifen, Maßnahmen, die die Familien im Zusammenleben
unterstützen, die den Familien bei der Bewältigung ihres
Alltags helfen und die die individuellen Lebensentwürfe
von Familien respektieren und anerkennen.
Ich danke Ihnen.
({18})
Jetzt hat Christel Humme das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Klamt, man kann sich die Welt auch schönmalen. Das haben Sie gerade getan.
({0})
Ich glaube, noch nie gab es eine Regierung, die über Familienpolitik so zerstritten war wie die jetzige Regierung. Noch nie hat es eine Regierung gegeben, Frau
Schröder, die nach der Halbzeit in der Familienpolitik
eine Minusbilanz aufzuweisen hatte. Sie haben wunderschöne Programme aufgelegt und Appelle formuliert,
aber keine einzige Entscheidung getroffen, die für eine
moderne, nachhaltige Familienpolitik gestanden hätte.
({1})
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
ist der Ansatz immer klar gewesen: Moderne, nachhaltige Familienpolitik ist ohne moderne nachhaltige
Gleichstellungspolitik nicht möglich. Das gilt natürlich
auch umgekehrt: Eine moderne Gleichstellungspolitik ist
ohne eine moderne Familienpolitik genauso wenig möglich. - Erinnern wir uns an die gestrige Debatte zum Betreuungsgeld. Es steht weder für eine moderne Familienpolitik noch für eine moderne Gleichstellungspolitik,
({2})
wenn Sie das Betreuungsgeld einführen wollen. Ich
hoffe, das Betreuungsgeld kommt nicht, wie von Frau
Haderthauer und der CSU angekündigt, vor der Sommerpause.
Die CSU-Sozialministerin Haderthauer beklagt, es
gebe in der CDU keine echten Familienpolitikerinnen
mehr. Recht hat sie. Recht hat sie jedoch nicht, wenn sie
mit dieser Aussage den verstaubten ideologischen
Kampf der 50er-Jahre wiederbeleben will. Das ist ein
ideologischer Kampf, den wir alle hier im Parlament
- davon bin ich überzeugt - schon längst überwunden
glaubten. Recht hat sie vor allen Dingen nicht, wenn sie
behauptet, das Betreuungsgeld fördere Wahlfreiheit. Das
ist ein Irrtum, dem offensichtlich viele von Ihnen unterliegen, leider auch die Ministerin.
Warum? Liebe Frau Klamt, Sie haben gerade gesagt,
dass Sie alle Familien gleichermaßen wertschätzen.
Schauen wir uns doch einmal an, was der Bund tatsächlich für die Familien ausgibt. Er gibt jährlich mehr als
130 Milliarden Euro aus, 72 Milliarden Euro davon gehen an Familien mit einem traditionellen Familienbild,
in denen der Vater der Ernährer ist und die Frau in der
Regel zu Hause bleibt.
({3})
25 Milliarden Euro geben Bund, Länder und Kommunen
für die Betreuungsinfrastruktur aus. Ist das für Sie eine
gleichwertige Wertschätzung der beiden Lebensformen?
Ist es für Sie Wahlfreiheit, wenn wir auf der einen Seite
72 Milliarden Euro und auf der anderen Seite nur
25 Milliarden Euro ausgeben, obwohl wir alle wissen,
dass Familien mit Kindern Schlange stehen, um einen
Betreuungsplatz zu bekommen? Wo ist da die Balance?
Wo ist da die Wahlfreiheit?
Frau Ministerin Schröder, Sie haben uns gestern in
der Debatte vorgeworfen, wir seien nicht sensibel für die
Bedürfnisse junger Familien,
({4})
schließlich wollten 50 Prozent der Eltern gar keinen
Krippenplatz. Ich kann die Zahlen nicht nachprüfen; ich
weiß nicht, wo Sie die herhaben.
({5})
Aber selbst wenn das stimmen sollte: Was machen Sie
denn mit den anderen 50 Prozent, die einen Krippenplatz
haben wollen? In den westlichen Ländern haben wir eine
20-prozentige Bedarfsdeckung. Es fehlen also immer
noch 30 Prozent, für die wir die 2 Milliarden Euro, die
Sie für das Betreuungsgeld vorgesehen haben, unbedingt
brauchen.
({6})
Frau Schröder, ich muss leider feststellen: Sie sind
eine Familienministerin, die ein bisschen sehr weit von
der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen junger
Menschen entfernt ist.
({7})
Hinzu kommt die Zerstrittenheit in Bezug auf das Betreuungsgeld. Ich befürchte, dass dies eine vertane
Chance für die jungen Menschen ist.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
sind drei Aspekte wichtig, wenn wir über unsere Ziele in
der Familienpolitik sprechen:
({8})
Wir brauchen Geld, Infrastruktur und Zeit, um uns nah
an der Lebenswirklichkeit junger Familien zu orientieren.
Lassen Sie mich als Beispiel meine Familie anführen.
Frau Schröder, ich habe Töchter in Ihrem Alter. Sie sind
27 und 30 Jahre alt. Sie sind also in einem Alter, in dem
die Entscheidung ansteht, ob man eine Familie gründen
möchte. Meine Töchter gehören wie Sie zu der Generation von Frauen, die eine Ausbildung bzw. ein Studium
absolviert haben und den erlernten Beruf auch ausüben
wollen. Wer möchte ihnen das verwehren? Sie möchten
natürlich ein existenzsicherndes Einkommen, weil sie
wissen, dass sonst unter Umständen Altersarmut droht.
Meine Töchter gehören zu den 80 Prozent der jungen
Frauen, über die Jutta Allmendinger im Zuge einer Studie aus dem Jahr 2008 einmal gesagt hat: Diese Frauen
wollen Kinder, Karriere und einen Mann, aber keinen
Versorger. - Ich möchte hinzufügen: Sie haben ihr Buch
nicht für Frauen wie meine Töchter geschrieben. Zumindest stelle ich fest, dass sich meine Töchter von Ihrem
Buch nicht angesprochen gefühlt haben.
Es liegt doch auf der Hand: Junge Frauen wie meine
Töchter brauchen einen guten Betreuungsplatz für ihre
Kinder, um ihren Beruf weiter ausüben und so ihr Familieneinkommen sichern zu können. Was sollen die mit
dem Betreuungsgeld anfangen? Überhaupt nichts. Hier
wird deutlich, wie weit Sie sich mit Ihrer Politik von
dem entfernt haben, was sich die jungen Menschen wünschen. Im Moment bieten Sie auf Bundesebene keine
einzige Lösung an, wie den jungen Frauen in irgendeiner
Weise Unterstützung gewährt werden kann.
Ein Wort zu Ihnen, Frau Klamt. Sie vertun sich: Wir
haben damals bei den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag die Einführung des Elterngeldes und der Elternzeit durchgesetzt,
({9})
und darüber sind wir froh; denn mittlerweile beteiligen
sich 25 Prozent der Väter an der Familienarbeit, was
aber auch heißt, dass sich 75 Prozent der Väter nicht beteiligen. Wir waren immer für mehr Partnerschaftlichkeit
in der Elternzeit.
Frau Schröder, auch Sie wollten es anfangs ermöglichen, die Elternzeit partnerschaftlich aufzuteilen, und
zwar nicht für 7 Monate, wie es jetzt der Fall ist, sondern
für 14 Monate. Leider sind Sie vor dem Finanzminister
eingeknickt. Sie haben sich nicht durchsetzen können.
Es reicht auch nicht aus, zu appellieren, dass die Möglichkeit, von Teilzeit auf Vollzeit zu gehen, verbessert
werden sollte. Wir sind der Meinung, dass wir dafür eine
gesetzliche Lösung brauchen. Ich denke, Sie sollten sich
einmal mit der ehemaligen Familienministerin Frau von
der Leyen zusammensetzen. Sie sollten mit ihr sprechen
und gemeinsam einen Entwurf eines neuen, besseren
Teilzeit- und Befristungsgesetzes auf den Tisch legen,
das Familien hilft. Es muss möglich sein, befristet teilzeitbeschäftigt zu sein mit dem Recht, später wieder
Vollzeit zu arbeiten. Ich denke, das sind konkrete Lösungen, und darum geht es doch eigentlich.
({10})
Der Arbeitsmarkt tut natürlich sein Übriges. Ich
denke an meine Töchter. Sie haben einen Arbeitsmarkt
vor sich, auf dem es Teilzeitfallen, Praktika, befristete
Arbeitsverträge und Minijobs gibt. Und wir wundern
uns, dass die Familiengründung immer weiter hinausgeschoben wird? Ich denke, auch an dieser Stelle brauchen
wir gesetzliche Regelungen, auch ein Entgeltgleichheitsgesetz, damit Männern und Frauen gleicher Lohn für
gleiche Arbeit gezahlt wird. Die Rahmenbedingungen
auf dem Arbeitsmarkt müssen für Familien stimmen.
Die Linken haben einen Antrag vorgelegt, in dem vieles von dem, was ich gerade genannt habe, aufgegriffen
wird. Wir stimmen dem Antrag trotzdem nicht zu.
Manchmal fordert man vielleicht zu viel des Guten. Ich
möchte nur zwei Beispiele nennen: Sie möchten den
Kündigungsschutz bis zum sechsten Lebensjahr des Kindes ausweiten - das hört sich super an -, und Sie möchten, dass die Alleinerziehenden 24 Monate lang Elterngeld beziehen; auch das hört sich super an. Beides ist
aber eine Falle. Die eine Falle ist, dass Frauen aufgrund
des Kündigungsschutzes keine Anstellung finden. Die
andere Falle ist: Wenn man zu lange aus dem Beruf heraus ist, findet man den Anschluss nicht mehr.
Von daher sagen wir: Gute Bildung und Betreuung,
gute Arbeit, Zeit für Familien, und zwar für Frauen und
Männer - das ist die richtige Politik, das ist moderne Familienpolitik und gleichzeitig moderne Gleichstellungspolitik.
Danke schön.
({11})
Jetzt hat Miriam Gruß das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Wunderlich, Sie haben im Familienausschuss über den Antrag gesagt, das sei ein bunter Strauß
an Forderungen der Familien-, Frauen-, Gesundheitsund Pflegepolitik. Ich muss Ihnen leider attestieren: Der
Strauß ist nicht bunt, sondern rot und vor allem teuer.
({0})
Ich will nur einige Punkte aus diesem „Wünsch dir
was“-Katalog nennen - sie sind schon angesprochen
worden -: gebührenfreie Ganztagsbetreuung, Elterngeld
für Alleinerziehende auf 24 Monate ausweiten, Kindergeld auf 200 bis 300 Euro erhöhen und natürlich ein
Mindestlohn in Höhe von mindestens 10 Euro pro
Stunde. Ja, ich gebe zu, dass man in der Opposition den
Vorteil hat, dass man nicht alles mit spitzem Bleistift
rechnen muss. Das, was Sie verlangen, geht aber in den
zweistelligen Milliardenbereich, und das hat nichts mit
seriöser Familienpolitik zu tun;
({1})
denn seriöse Familienpolitik bedeutet auch, darauf zu
achten, welche Schulden wir den nächsten Generationen
hinterlassen. Die Realisierung Ihrer Forderungen hätte
einen Schuldenaufbau zur Folge. Ich glaube, dass Ihren
Haushaltspolitikern die Schamesröte ins Gesicht gestiegen ist, als sie diesen Antrag im Haushaltsausschuss verteidigen mussten. Sie haben damit jede Glaubwürdigkeit
verloren. Sie sollten kein einziges Mal mehr über den
Abbau der Neuverschuldung sprechen.
({2})
Jetzt kommt mein Lieblingssatz: Auf Schuldenbergen
können Kinder nicht spielen und erst recht nicht lernen.
({3})
Dieser Satz stimmt. Das, was Sie fordern, würde zu einem höheren Schuldenberg führen. Wir hingegen machen uns an den Abbau der Neuverschuldung. Wir investieren klug und gerecht.
Wir haben investiert. Wir haben das Kindergeld und
die Kinderfreibeträge erhöht. Wir geben 4 Milliarden Euro
für den Ausbau der Betreuungsplätze aus. Wir haben ein
Kinderschutzgesetz, Strukturen für Familienhebammen
und das Netzwerk Frühe Hilfen geschaffen. Wir haben
die Familienpflegezeit eingeführt. Wir schaffen mit dem
Frauenhilfetelefon eine Infrastruktur zum Schutz von
Frauen. Wir haben in den Haushalt Mittel zur Verbesserung von Kinderwunschbehandlungen eingestellt. Wir
gestalten den Elterngeldvollzug unbürokratischer. Wir
tun dies alles mit Vernunft und Augenmaß, aber auch mit
Blick auf den Haushalt.
Die Bundesrepublik ist kein Li-La-Launeland und der
Haushalt kein „Wünsch dir was“-Fonds. Mit Realpolitik
hat Ihr Antrag nichts zu tun. Deswegen wird er von uns
klar abgelehnt.
({4})
Jörn Wunderlich hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hier wurde herausgehoben, was diese Koalition gemacht
hat, zum Beispiel die Erhöhung des Kindergeldes. Das
ist ja schön. Aber was hat eine Familie im Hartz-IV-Bezug von der Erhöhung des Kindergeldes? Nichts, weil es
voll angerechnet wird.
({0})
Was hat eine Alleinerziehende, die Unterhaltsvorschuss
bezieht, von der Kindergelderhöhung? Nichts, weil der
Unterhalt voll gegengerechnet wird. - So viel zur Wertschätzung aller Familien.
Ich habe vier Minuten Redezeit. Wie soll man in vier
Minuten eine Neuausrichtung der Familienpolitik darstellen?
({1})
Ich will mich auf wenige Punkte beschränken. Ich wäre
schon froh, wenn die Regierung nur einen - ich wiederhole: nur einen - der von uns beantragten Punkte aufgreifen würde. Hauptsache, sie fängt überhaupt einmal
an.
({2})
Zu Punkt 1 unserer Forderungen: einem gesetzlichen
Mindestlohn und Arbeitsbedingungen, welche familienfreundlich gestaltet sind. Ich nenne ein Beispiel - es ist
hier angesprochen worden -: Man kann in einem Betrieb
Pflegezeit beantragen, wenn zum Beispiel ein Elternteil
pflegebedürftig wird. Einen Rechtsanspruch auf diese
Pflegezeit - vergleichbar mit der Elternzeit - gibt es aber
nicht. Hier soll - so ist es am Mittwoch gesagt worden abgewartet werden, wie sich die Inanspruchnahme von
Pflegezeit auf freiwilliger Basis entwickelt.
Wir brauchen ein individuelles Recht auf Teilzeitarbeit mit Rückkehr in die Vollzeit.
({3})
Auch der besondere Kündigungsschutz bis zur Einschulung des Kindes oder bis zur Vollendung des sechsten
Lebensjahres des Kindes - in diesem Alter werden die
meisten Kinder eingeschult -, der hier kritisiert wird, ist
erforderlich. Das heißt ja nicht, dass diesen Eltern nicht
gekündigt werden kann. Es wird übrigens immer nur von
Müttern gesprochen; Väter sind auch Elternteile.
({4})
Ihnen kann gekündigt werden, aber es müssen besondere
Gründe vorliegen. Die Arbeitszeit ist insgesamt so zu
gestalten, dass Väter und Mütter die Möglichkeit haben,
neben der Elternschaft auch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Darüber hinaus brauchen wir eine Infrastruktur
für Familien, Kinder und Jugendliche. Wir brauchen zunächst eine bedarfsgerechte, qualitativ hochwertige Kinderganztagsbetreuung.
({5})
Das Elterngeld ist auszubauen, sowohl hinsichtlich
der Partnermonate als auch hinsichtlich der Teilzeitarbeitsmöglichkeiten. Dazu wird sich in Kürze hier im
Haus Gelegenheit ergeben. Mal sehen, ob die Koalition
dann ihrem eigenen Koalitionsvertrag und dem einhelligen Sachverstand aller Sachverständigen folgen wird.
Ganz wichtig: Der Unterhaltsvorschuss ist auszubauen. Ich habe es gerade schon gesagt. Die maximale
Bezugsdauer von 6 Jahren ist mit nichts zu begründen,
und auch die Altersobergrenze von 12 Jahren nicht. Es
waren einmal 14 Jahre als Obergrenze geplant; dies ist
von der Koalition wieder zurückgenommen worden. Erklären Sie einmal einer alleinerziehenden Mutter oder einem alleinerziehenden Vater, bei denen der Unterhalt
ausfällt, warum das Amt ab dem 13. Lebensjahr des Kindes keinen Unterhaltsvorschuss mehr zahlt. Braucht ein
Kind ab 13 Jahren kein Essen, keine Schulbücher, keine
Kleidung und keine Teilhabe? Das erklären Sie einmal
den Menschen, die täglich damit zu tun haben.
Das Totschlagargument der gelb-schwarzen Koalition, das immer genannt wird, lautet: Wünsch dir was,
wer soll das alles bezahlen? Ich werde es Ihnen sagen.
Bei Einführung eines Mindestlohns von 10 Euro pro
Stunde - dies wird im Antrag erwähnt - würde sich nach
Berechnungen des Prognos-Instituts durch höhere Sozialversicherungsbeiträge, höhere Steuereinnahmen und
geringere Sozialausgaben ein fiskalischer Gesamteffekt
von 12,7 Milliarden Euro ergeben. 12,7 Milliarden Euro
plus! Dieses Geld verschleudert die Regierung allein
durch ihr Nichtstun. Für den Kitaausbau sollte der Bund
nach unserer Überzeugung 4 Milliarden Euro zusätzlich
in die Hand nehmen. Bleiben 8,7 Milliarden Euro übrig.
Die Rücknahme der Kürzung des Elterngelds würde
600 Millionen Euro kosten. Bleiben etwa 8,1 Milliarden
Euro übrig. Für den Kinderzuschlag sind 3,2 Milliarden
und für die Aufstockung des Mindestelterngelds 2,3 Milliarden Euro notwendig. Bleiben unter dem Strich rund
2,5 Milliarden Euro übrig.
Wenn die Regierung dann noch die geplanten 2 Milliarden Euro für dieses unsinnige Betreuungsgeld dazupackt, sind die Forderungen in unserem Antrag, die als
nicht bezahlbar bezeichnet werden, allesamt problemlos
zu erfüllen.
({6})
Aber man muss es auch wollen. Die Linke will es, aber
die Gelb-Schwarzen werden heute wieder unter Beweis
stellen, dass sie es nicht wollen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit an diesem
Freitagnachmittag.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Familienpolitik der schwarz-gelben
Bundesregierung ist leider völlig auf der falschen Spur.
Wodurch zeichnet sich die Familienpolitik von Union
und FDP aus? Knatsch und Zank, etwas anderes bekommt man eigentlich gar nicht mit. Das Betreuungsgeld ist nur ein Beispiel. Heute habe ich in der Zeitung
gelesen, dass die CSU Familienministerin Schröder ein
Ultimatum stellt, um einen Gesetzentwurf vorzulegen.
({0})
Da muss ich doch sagen: Das ist wahre Liebe unter Geschwisterparteien. So stelle ich mir nun wirklich keine
harmonische Familienpolitik vor. Trotz dieser ganzen
Streitereien sind in der Haushaltsplanung 1,2 Milliarden
Euro für das Betreuungsgeld vorgesehen. Diese 1,2 Milliarden Euro könnten wir in der Familienpolitik wirklich
sehr viel besser einsetzen.
({1})
Wir hatten am Montag eine Anhörung im Familienausschuss. Diese Anhörung hat sich mit der Weiterentwicklung des Elterngelds befasst. Alle anwesenden Expertinnen und Experten waren sich durch die Bank, egal
wer sie eingeladen hatte, völlig einig, dass wir das
Teilelterngeld ausbauen sollten.
({2})
Die jetzige Regelung hat nämlich den großen Nachteil,
dass die Eltern, die sich die Kindererziehung partnerschaftlich teilen, benachteiligt und diskriminiert werden.
Das können wir alle eigentlich nicht wollen. Alle Expertinnen und Experten waren sich auch einig: Die Partnermonate beim Elterngeld müssen ausgebaut werden.
Auch das finden wir eigentlich alle richtig. Beide Vorschläge sind auch im Koalitionsvertrag so vorgesehen.
Für diese Vorschläge gab es sogar schon einen ausgearbeiteten Gesetzentwurf. Nur: Dieser Gesetzentwurf ist
wieder eingesackt worden. Was war der Grund? Der
Grund war: Es ist kein Geld für diese sinnvollen Maßnahmen da.
({3})
Eine andere wichtige Maßnahme - sie ist hier schon
genannt worden - ist der Unterhaltsvorschuss. Auch
zum Unterhaltsvorschuss finden wir im Koalitionsvertrag einen guten Vorschlag, nämlich den, die Altersgrenze zu verschieben. Die Altersgrenze zu verschieben,
wäre absolut sinnvoll und würde gerade Alleinerziehenden und ihren Kindern in einer wirklich schwierigen Lebenssituation tatsächlich helfen. Auch dazu lag schon
ein Gesetzentwurf vor. Auch dieser Gesetzentwurf
wurde einfach wieder einkassiert. Warum? Weil für
diese Maßnahme angeblich kein Geld da ist. Es ist absolut absurd, dass diese Regierung die wenigen sinnvollen
Maßnahmen, die sie im Koalitionsvertrag vorgesehen
hat, mit der Begründung, es sei kein Geld dafür da, auf
Eis gelegt hat, gleichzeitig aber für eine absurde Maßnahme wie das Betreuungsgeld 1,2 Milliarden Euro ausgeben will.
({4})
Ich finde, da kann man sich nur an den Kopf fassen.
({5})
Ich möchte einen Punkt aus dem Antrag der Linken
aufgreifen, und zwar die Orientierung an einem wirklich
modernen Familienbild. Familie ist nämlich längst nicht
mehr da, wo es einen Trauschein gibt, sondern Familie
ist da, wo Kinder sind und wo Menschen füreinander
Verantwortung übernehmen.
({6})
Leider ist dies in der deutschen Familienpolitik und gerade im Familienrecht überhaupt noch nicht umgesetzt.
Wann handelt die Bundesregierung beispielsweise beim
Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche und eingetragene Lebenspartnerschaften?
({7})
Wann handelt sie endlich bei der steuerlichen Benachteiligung von Alleinerziehenden, von nicht miteinander
verheirateten Eltern und von Patchworkfamilien?
({8})
Beim Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete
Paare warten wir seit zwei Jahren auf einen Gesetzentwurf. Es wurde aber immer noch nichts vorgelegt. Auch
hier gibt es keinerlei Aktivitäten dieser Bundesregierung. Was tut die Bundesregierung beispielsweise zur
Absicherung von Regenbogenfamilien?
({9})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, all das sind rhetorische Fragen. Die Antwort darauf lautet: Sie tut nichts.
({10})
Die schwarz-gelbe Familienpolitik bleibt leider ein mutloses Schmalspurprogramm. Soll denn von dieser Legislaturperiode nur das Betreuungsgeld übrig bleiben? Das
können wir alle nun wirklich nicht wollen.
({11})
Daher auch von meiner Seite der dringende Appell an
die Bundesregierung: Setzen Sie endlich die richtigen
Prioritäten, und wenden Sie sich den relevanten Fragen
zu!
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Für eine moderne und zukunfts-
weisende Familienpolitik“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9551,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/6915 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a und b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Oliver
Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe
- Drucksache 17/9390 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Doris Barnett, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Anpassung des deutschen Bergrechts
- Drucksache 17/9560 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unser Gesetzentwurf, den wir hier heute einbringen, soll
einen Anachronismus im deutschen Bergrecht beseitigen. Im Bergrecht gibt es die Vorschrift, dass jemand,
der einen Rohstoff fördert, eine Förderabgabe in Höhe
von 10 Prozent des Marktwertes an das jeweilige Bundesland zahlen muss. Das ist auch völlig richtig so, weil
hier jemand ein Allgemeingut, einen Bodenschatz, in
Anspruch nimmt, der der Gesellschaft gehört. Dafür soll
dann auch gezahlt werden. Das Bergrecht sieht auch vor,
dass die Länder mehr als 10 Prozent erheben können.
Die Praxis sieht aber leider völlig anders aus. Wenn
man sich einmal anschaut, wo in Deutschland überhaupt
eine Förderabgabe erhoben wird, dann ist das Ergebnis
ernüchternd. Außer bei der Erdgasförderung gibt es
nämlich faktisch keine Erhebung einer Förderabgabe. Es
kann nicht sein, dass wir von Ländern in Schwarzafrika,
Südamerika oder sonst wo auf der Welt verlangen, dass
die Staaten von der Rohstoffgewinnung profitieren, während in Deutschland nicht einmal eine Förderabgabe gezahlt wird.
({0})
Besonders frappierend ist das bei der Braunkohle. Die
Braunkohle ist wertmäßig der wichtigste Rohstoff, der in
Deutschland gefördert wird. Es geht dort um große Mengen, große Volumina in zwei großen Revieren, nämlich
im Rheinland und in Ostdeutschland. Auch hier wird
keine Förderabgabe erhoben. Der Grund ist: Hier gibt es
alte Rechte, die in Kaisers Zeiten oder irgendwann später verliehen worden sind, und im Bundesberggesetz gibt
es einen Ausnahmeparagrafen, der die Erhebung der
Förderabgabe bei solchen alten Rechten ausdrücklich
freistellt. Das gehört abgeschafft;
({1})
denn man kann keinem Menschen erklären, dass ganze
Landschaften devastiert werden und dass Unternehmen
wie Vattenfall und RWE mit dem Braunkohlenbergbau
und der Verstromung Milliardengewinne machen, während sie auf der anderen Seite keinen Euro und keinen
Cent Förderabgabe dafür zahlen.
({2})
Es ist auch völlig richtig, dass die Länder in Zukunft
eine solche Einnahme haben müssen; denn durch den
Bergbau entstehen Ewigkeitskosten und Folgekosten,
die teilweise immense Höhen erreichen. Wir kennen das
aus dem Steinkohlenbergbau: Das komplette Ruhrgebiet
muss auf ewig leergepumpt werden, weil das Ganze
sonst durch die ganzen Bergsenkungen „absaufen“
würde. Ähnliches wird im Rheinland durch den Braunkohlenbergbau auf uns zukommen, und wir kennen solche Schäden bereits in Ostdeutschland.
Hier entstehen am Ende Folgekosten für die öffentliche Hand, wenn die Unternehmen nicht mehr greifbar
sind. Es ist auch bei Konzernen wie RWE und Vattenfall
nicht auf Jahrzehnte hinaus sicher, dass sie zahlen können. Deshalb ist es völlig richtig, dass die Länder entsprechende Einnahmen haben, um gerade auch diese
Folgekosten in Zukunft abdecken zu können. Deswegen
ist die Förderabgabe richtig.
({3})
Es wird immer gesagt - ich vermute, das wird gleich
in der Debatte auch noch kommen -, das sei verfassungsrechtlich gar nicht machbar. Wir haben das vom
Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages prüfen lassen. Er sagt klipp und klar: Selbstverständlich kann man
das Bundesberggesetz ändern, damit man trotz dieser alten Rechte eine Förderabgabe erheben kann; denn es
geht ja nicht um einen Entzug der Rechte, sondern nur
um eine Heranziehung zur Zahlung einer Abgabe. Das
alles ist für die Unternehmen nach wie vor wirtschaftlich
machbar; denn sie machen mit diesen Rechten ja Milliardengewinne. Deshalb ist das auch verfassungsrechtlich
völlig problemlos möglich. Das sagt nicht nur der Wissenschaftliche Dienst, sondern das sagen auch viele anerkannte Rechtsanwaltskanzleien und entsprechende Beratungsbüros.
({4})
Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antrag
zu, weil das den vom Bergbau betroffenen Ländern - in
Ostdeutschland, Nordrhein-Westfalen, aber auch anderen - die Möglichkeit eröffnet, eine solche Förderabgabe
zu erheben. Es geht nämlich darum, dass die Länder solche Einnahmen haben. Das wollen wir ermöglichen. Wir
wollen das nicht erzwingen, sondern wir wollen das den
Ländern überlassen, damit dort die Einnahmen gewonnen werden, weil sie die Folgekosten am Ende bezahlen
müssen.
({5})
Zum Schluss noch ganz kurz zum SPD-Antrag. Sie
haben auch einen Antrag zum Bergrecht eingebracht. Es
ist gut, dass sich die SPD mit diesem Thema auseinandersetzt. Das war nicht immer so. Es finden sich dort
durchaus auch kritische Bemerkungen zum Thema Bergbau. Wer die SPD gerade aus Nordrhein-Westfalen
kennt, der weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Um
es aber einmal ganz offen zu sagen: Lieber Rolf
Hempelmann, das, was im Beschlussteil kommt, ist
dünn wie Pergamentpapier. Das ist eine Ansammlung
von Prüfaufträgen. Hier müsst ihr noch weiterarbeiten.
Der Koalitionsvertrag in Nordrhein-Westfalen ist hier
schon weiter. Ich nenne zum Beispiel die Beweislastumkehr bei Bergschäden durch den Abbau von Braunkohle
im Tagebau. Das haben wir schon gemeinsam in Nordrhein-Westfalen vereinbart. Aber ihr schreibt dazu einen
windelweichen Prüfauftrag in euren Antrag. Das ist zu
wenig, aber immerhin ist es besser als das, was die Koalition bei diesem Thema macht.
Kollege Krischer, Sie hatten einen Schlusssatz angekündigt.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank. - Ich beende
mich.
Danke.
({0})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Andreas Lämmel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zum Glück sind am Sonntag die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, dann wird auch hier wieder
die Bühne sein, um vernünftige Debatten führen zu können. Wenn man die Plenarsitzungen von gestern und
heute verfolgt, stellt man fest, dass fast kein einziges
Thema dabei gewesen ist, bei dem nicht der Wahlkampf
hervorlugte und Rot-Grün versuchte, Themen zu lancieren.
Zum Bergrecht sind in diesem Jahr schon mehrere
Anträge gestellt worden. Es gibt Anträge aus der Fraktion der Grünen. Die SPD hat einen nachgereicht. Die
Linke hat ebenfalls einen Antrag eingereicht. Jetzt
kommt der Gesetzentwurf der Grünen dazu.
({0})
Dazu muss man zwei kurze, grundsätzliche Anmerkungen machen. In der ersten Anmerkung geht es um die
Frage der Rohstoffe. Deutschland ist sehr stark von Rohstoffimporten abhängig. Das hat sich in den letzten Jahren - das wissen Sie alle - nicht wirklich verbessert. Im
Gegenteil: Die Bedingungen auf den internationalen
Rohstoffmärkten zur Versorgung der deutschen Wirtschaft sind eher schwieriger geworden. Daraus ist dann
die umfassende Rohstoffstrategie der Bundesregierung
entstanden. Die CDU/CSU-Fraktion hat nun schon ihren
dritten Rohstoffkongress veranstaltet, und wir werden
auch einen vierten Kongress folgen lassen, um genau
diese Themen weiter zu diskutieren.
({1})
Ein wesentlicher Bestandteil dieser Rohstoffstrategie
ist die Diversifizierung von Rohstoffbezugsquellen;
denn wenn man mehrere Bezugsquellen hat, kann man
die Abhängigkeiten reduzieren und damit die Versorgungssicherheit erhöhen. Diversifizierung bedeutet natürlich auch die Nutzung einheimischer Rohstoffe. Ich
möchte es hier noch einmal ganz klar und laut sagen:
Deutschland ist kein rohstoffarmes Land. Aber man
muss natürlich an die Rohstoffe herankommen. Genau
darum geht es.
Wir wollen den Rohstoffimport weiter verringern.
Rohstoffimporte bedeuten schließlich, dass Vermögensund Kapitalleistungen aus Deutschland ins Ausland verschoben werden, was aus der jährlichen Öl- oder Gasrechnung Deutschlands klar hervorgeht. Laut Gesetzentwurf der Grünen werden in Deutschland Rohstoffe im
Wert von 17,7 Milliarden Euro produziert. Das wäre also
der Betrag, den man dann noch zusätzlich ins Ausland
transferieren müsste, würde man den Bergbau in
Deutschland einstellen.
({2})
- Dazu komme ich noch. Bleiben Sie ganz ruhig. - Neben den ökonomischen Aspekten spielen auch ökologische und soziale Aspekte sowie der Arbeitsschutz eine
Rolle. Gerade die Fraktion der Grünen, die zukünftig
den Bergbau in Deutschland verhindern will, macht sich
überhaupt keine Gedanken, wie der Bergbau in anderen
Ländern betrieben wird. Es kann nicht unser Anspruch
sein, das Problem des Bergbaus einfach in andere Länder zu verschieben.
({3})
Die zweite grundsätzliche Bemerkung betrifft die
Energiewende. Große Teile des Hauses haben im letzten
Jahr diese Energiewende beschlossen. Es geht nun darum, acht grundlastfähige Kernkraftwerke vom Netz zu
nehmen. Das heißt natürlich, dass bis 2022, bis zum
vollständigen Umstieg auf die regenerativen Energien,
fossile Energieträger in Deutschland eine wesentlich
größere Rolle spielen werden. Das bedeutet: Neben den
Importen von Gas und Öl sind die heimischen Energieträger Braunkohle und Steinkohle unverzichtbar.
({4})
Schauen wir uns einmal den Gesetzentwurf der Grünen an, der heute in erster Lesung beraten wird. Erst einmal ein großes Kompliment an die Fraktion der Grünen:
Ich glaube, das ist der kürzeste Gesetzentwurf, den ich
jemals in die Finger bekommen habe.
({5})
Von daher ist er erst einmal sehr gut. Beim genaueren
Hinschauen kann man aber sagen: Der Gesetzentwurf
müsste eigentlich unter dem Titel „Bergbau in Deutschland abschaffen“ stehen. Genau das wollen wir nicht.
({6})
Es geht um die Förderabgabe. Sie haben das kurz beschrieben. Nach dem Bundesberggesetz ist eine Förderabgabe von 10 Prozent des Marktwertes - also nicht auf
den Gewinn, sondern auf den Umsatz - zu zahlen. Die
Regelung der Freistellung von der Förderabgabe wollen
Sie nun abschaffen.
Nun könnte man vermuten, dass Sie sozusagen Chancengleichheit unter den Rohstoffförderunternehmen herstellen wollen, wie Sie es auch behaupten. Ein Blick in
den Gesetzentwurf zeigt aber, dass es nur um eines geht,
nämlich darum, die Kohleförderung in Deutschland völlig unmöglich zu machen. Das ist die Zielrichtung Ihres
Gesetzentwurfs. Das kann man auch in der Begründung
genau nachlesen.
Sie können nicht erwarten, dass wir dem zustimmen
werden. Denn die anderen Rohstoffe wie Kiese, Sande
oder Salze, die in Deutschland weiterhin gefördert werden, werden nicht erwähnt. Es geht ausschließlich um
das Thema Kohle.
Was die juristische Betrachtung angeht - ich bin kein
Jurist, sondern Ingenieur; es gibt aber verschiedene wissenschaftliche Dienste -,
({7})
lohnt sich ein Blick in die Gesetzesbegründung zum alten Bergbaugesetz aus der achten Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Zur Begründung des § 151 heißt es
darin:
Das Bergwerkseigentum alten Rechts muß als unbefristetes Recht aufrechterhalten bleiben … Entsprechendes gilt für § 30, da die Erhebung einer
Förderabgabe nur für Bergwerkseigentum in Betracht kommen kann, das erst aufgrund dieses Gesetzes verliehen wird.
Die Begründung des damaligen Gesetzes zielt genau in
die Richtung, dass die alten Bergbaurechte erhalten bleiben müssen.
Sie gehen auch auf die Situation in den neuen Bundesländern ein. Sie haben sie aber nur halb dargestellt.
Das tut mir leid. Ich lade Sie gerne ein, dort hinzufahren.
Wir können auch gerne die Bilder danebenlegen, die sich
1990 dem Betrachter darstellten und zeigen, wie in einer
Gesellschaft Bergbau betrieben wurde, die nichts von
dem ordentlichen Bergrecht hatte. Dort ging es nicht darum, dass ein Bergbaubetrieb auch dafür zuständig ist,
die Landschaft wiederherzustellen und einer neuen Nutzung zu übergeben.
In den neuen Ländern ist die Rechtslage wiederum
anders - auch das haben Sie nicht dargestellt -; denn in
den neuen Ländern wurde mit der Privatisierung der
Bergbauunternehmen schon ein Bergbauzins eingeführt.
({8})
Man hat sozusagen die Fördersummen berechnet, die in
den Gruben zur Verfügung stehen. Die Unternehmen
zahlen jetzt im Prinzip mit den Zinsen die Fördermenge
ab.
Meine Damen und Herren, wenn Sie einen solchen
Gesetzentwurf auf den Weg bringen, dann müssen Sie
zumindest die Realität ordentlich abbilden
({9})
und die Begründung so schreiben, dass nicht jeder Halbblinde merkt, dass es nur darum geht, der Braunkohle
endlich den Garaus zu machen, was Sie vorher in Ihrer
Regierungszeit leider nicht geschafft haben.
Die SPD hat schon einer einheitlichen Erhebung einer
Förderabgabe eine Abfuhr erteilt. Das können Sie in den
Ressourceneffizienzprogrammen nachlesen, denen die
SPD auch zugestimmt hat. Dafür sind wir auch sehr
dankbar. Insofern stehen Sie mit Ihrem Ansinnen jetzt
ziemlich alleine da.
Zusammenfassend muss man beim Thema Bergbau
auf zwei Punkte achten. Erstens müssen die Bergbauunternehmen bei allen neuen Vorhaben oder Erweiterungen auf die Belange der Bevölkerung und der Gemeinden vor Ort intensiver eingehen. Das ist sicherlich keine
Frage. Man kann auch darüber nachdenken, wie man das
besser gestalten kann.
Zweitens - das ist der wichtige Punkt - muss aber
Bergbau in Deutschland weiterhin möglich sein. Dafür
stehen wir. Deswegen freue ich mich auf die Beratungen
Ihres Gesetzentwurfs im Ausschuss.
({10})
Ganz ehrlich: Große Chancen räume ich dem Vorhaben
nicht ein.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Lämmel, man kann Eulen nach Athen oder
Kohlen nach Newcastle tragen. Aber Sie sollten zur
Kenntnis nehmen, dass niemand einen Antrag gestellt
hat, den Bergbau in Deutschland abzuschaffen oder Rahmenbedingungen zu schaffen, die dafür sorgen, dass es
keinen erfolgreichen Bergbau in Deutschland mehr geben kann.
({0})
Es gibt einen Gesetzentwurf der Grünen, der sich mit der
Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe befasst, unseren Antrag und einen Antrag der Linken. Nach
meinem Dafürhalten wird nirgends die tiefere Absicht
verfolgt, den Bergbau in Deutschland abzuschaffen.
Zur Förderabgabe vorweg: Am 23. Mai wird es eine
Anhörung geben. Es ist legitim, dieses Thema dann zur
Debatte zu stellen. Dann werden wir hinterher mit Sicherheit klüger sein als zuvor und uns dazu unsere Meinung bilden. Das Gleiche gilt, lieber Oliver Krischer,
auch für die Frage der Beweislastumkehr. Warum sollten
wir uns schon heute festlegen, wenn wir wissen, dass wir
in einer Anhörung Experten dazu hören können? Deswegen gibt es einen Prüfauftrag. Die Prüfung beginnt mit
der Anhörung.
Der Auslöser dieser Debatte über das Bergrecht und
die entsprechenden Vorschläge der Opposition ist das
Thema unkonventionelles Erdgas. Wir befassen uns seit
längerem intensiv mit dieser Thematik. Wer sich an die
gestrige Debatte über das unkonventionelle Erdgas, das
Fracking, erinnert, kann nur staunen. Ganz offensichtlich
gibt es auch in der Bundesregierung und in den sie tragenden Fraktionen Überlegungen, das Bergrecht zu
ändern; denn nichts anderes bedeutet es, wenn der Umweltminister gestern im Plenum und der Wirtschaftsminister über die Medien uns mitteilen, dass man jedenfalls auf der Basis der geltenden bergrechtlichen
Bestimmungen nicht in der Lage sei, dem Fracking
grünes Licht zu erteilen, sondern dass man dazu neue Erkenntnisse, Umweltverträglichkeitsprüfungen - dieses
Wort ist gestern gefallen - und vieles andere mehr brauche.
Mit anderen Worten: Schon in der gestrigen Debatte
ist also deutlich geworden - wenn wir den Minister einmal ernst nehmen -, dass wir eine Novelle zum Bergrecht unbedingt brauchen. Die entscheidende Frage lautet, wie ernst wir ihn nehmen können. Er hat sich gestern
zum Retter der Enterbten gemacht und verdeutlicht, wie
sehr es ihm ein Anliegen ist, die Ängste der Bevölkerung
aufzunehmen. Vor zwei Jahren haben wir davon nichts
bemerkt, als es um die Zukunft der Kernenergie in
Deutschland ging. Aber es ist schön, dass Lernprozesse
auch in der Bundesregierung stattfinden. Hoffen wir nur,
dass sie den nächsten Sonntag, den 13. Mai, überleben;
denn wie wir wissen, war das Umdenken bei der Kernenergie genauso einem Wahltermin geschuldet wie nun
das Umdenken beim Fracking.
({1})
Warum ist eine Novelle zum Bergrecht notwendig?
Wenn man sich anschaut, wann das Bergrecht entstanden
ist und zuletzt novelliert wurde, wird klar, dass die Notwendigkeit besteht, dieses Recht weiterzuentwickeln. Es
geht übrigens nicht darum, dieses Recht abzuschaffen. In
den letzten Tagen habe ich eine entsprechende Forderung vernommen, mit der Begründung des Auslaufens
des Steinkohlenbergbaus. Das kann keine Lösung sein.
Selbst wenn das Bergrecht nur für den Steinkohlenbereich gelten würde, wären mit der letzten Förderung die
bergrechtlichen Zuständigkeiten noch nicht erloschen;
denn dann geht es um die sogenannten Ewigkeitslasten.
Auch das muss bergrechtlich sauber organisiert sein.
Es gibt viele Gründe - einige sind bei Ihnen, Herrn
Lämmel, gerade angeklungen -, warum das Bergrecht
weiterentwickelt werden muss. Sie haben deutlich gemacht, in welchem Umfang und in welchen Bereichen
Bergbau in Deutschland stattfindet. Dabei geht es um
Kiese, Sande und energetische Rohstoffe wie Braunkohle, Steinkohle und Erdgas, aber auch um viele andere
Rohstoffe. Natürlich wollen wir die Bergbauförderung
aufrechterhalten. Das heißt, das Ganze muss bergrechtlich flankiert sein. Aber das geltende Bergrecht ist in
Zeiten entstanden, in denen es in der Bevölkerung nicht
ein solches Bewusstsein für Umweltschutz und insbesondere für Trinkwasserschutz gab, wie das heute der
Fall ist. Die Gesellschaft hat sich einfach weiter verändert. Schon aus diesem Grunde muss das Bergrecht deutlich angepasst werden.
({2})
Wir stellen das gerade - ich habe das Beispiel am Anfang genannt - im Zusammenhang mit dem unkonventionellen Erdgasfracking fest. Man sollte nicht populistisch versuchen, dieses Thema kurz vor einem
Wahltermin zu behandeln. Wir haben das Problem seit
mehr als einem Jahr in Anträgen hier im Deutschen Bundestag thematisiert. Beim Erdgasfracking sind sehr sensible umwelt- und wasserrechtliche Belange betroffen.
Deshalb organisiert sich die Bevölkerung vor Ort und
leistet Widerstand schon gegen Probebohrungen. Das
muss man zur Kenntnis nehmen. Das ist nicht in jedem
Fall Alarmismus. Man kann möglicherweise Befürchtungen entkräften, aber klar ist, dass es die berechtigte
Erwartung gibt, dass im Bergrecht Vorkehrungen getroffen werden, um drängende Fragen der Bevölkerung beantworten zu können: Was passiert mit unserer unmittelbaren Umwelt? Was passiert mit unserem Trinkwasser?
Welche Vorkehrungen werden getroffen, damit wir nicht
unnötig belastet werden?
Das ist der Kern unseres Antrags. Wir wollen eine
Modernisierung und eine Anpassung des Bergrechts. Ich
denke, dass wir im Zusammenhang mit der Anhörung
Gelegenheit haben, das Thema zu vertiefen. Ich hoffe,
dass es dann eine konstruktive Beteiligung auch der Koalitionsfraktionen gibt. Gerade wenn Ihnen der Bergbau
in Deutschland wichtig ist, sollten Sie mitarbeiten und
dafür sorgen, dass wir ein Bergrecht bekommen, das in
unsere Zeit passt.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Manfred Todtenhausen für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der sichere Zugang zu Rohstoffen ist für die
deutsche Wirtschaft die Voraussetzung für industrielle
Wertschöpfung und damit für Beschäftigung, Wachstum
und Innovationen.
({0})
In den zurückliegenden Jahren hat sich für die deutschen Unternehmen die Sicherung der Rohstoffversorgung zu einer Herausforderung entwickelt. Maßgeblichen Anteil daran hat der weltweit stark gestiegene
Bedarf an Rohstoffen, der zu teilweise drastischen Preisanstiegen und bedrohlichen Verknappungen geführt hat.
Zudem ist gerade in Deutschland zunehmend eine künstliche Verknappung und dauerhafte Entziehung von Rohstofflagerstätten durch konkurrierende Nutzung und
Überplanung zu verzeichnen.
In der Konsequenz nimmt die Importabhängigkeit
weiter zu. Bereits heute sind wir in vielen Bereichen auf
die Einfuhr von Rohstoffen angewiesen, sei es bei der
Versorgung der Metall- und Elektroindustrie, bei der Deckung des Bedarfs an fossilen Energieträgern oder bei
der Entwicklung von neuen Technologien.
({1})
Damit sind erhebliche Teile der deutschen Wirtschaft der
Ergiebigkeit globaler Lagerstätten sowie der gesellschaftlichen und politischen Stabilität in den jeweiligen
Förderregionen ausgesetzt.
Parallel dazu haben sich die Bedingungen an den
Weltmärkten für Rohstoffe spürbar verschlechtert. Folglich hat die Nutzung heimischer Ressourcen auch eine
Ausgleichsfunktion gegenüber globalen Entwicklungen.
Die Aufgabe der Politik ist es, durch zweckmäßige Rahmenbedingungen den Zugang zu Rohstoffen zu gewährleisten und stetig zu verbessern. Dies müssen wir an dieser Stelle nochmals deutlich betonen.
({2})
Den ordnungspolitischen Rahmen für die Rohstoffgewinnung in Deutschland setzt seit mehr als 30 Jahren das
Bundesberggesetz. Teile des Bergrechts gehen gar auf
das 12. Jahrhundert zurück. Hätte es damals schon die
Grünen gegeben, dann wären wir wahrscheinlich gesellschaftlich nicht ganz so weit wie heute. Wir wären vielleicht noch im Mittelalter.
({3})
Das Bundesberggesetz schafft Planungs- und Rechtssicherheit. Es ermöglicht so hohe Investitionen zur Verbesserung der Versorgungssicherheit und trägt maßgeblich zum Erhalt der Wertschöpfungskette im Inland bei.
Gleichzeitig bildet es aber auch die Grundlage zur Vorsorge im Hinblick auf Gefahren und zur Wahrung der
Rechte Dritter. Vor diesem Hintergrund erfolgten in der
Vergangenheit Anpassungen des Bundesberggesetzes
nur mit Augenmaß und unter Einbeziehung hoher fachlicher Kompetenz. Das soll auch in Zukunft so bleiben.
({4})
Was aber will die Opposition mit den uns vorliegenden Initiativen erreichen? Schaut man in den Gesetzentwurf der Grünen, wird schnell klar, worum es eigentlich
geht. Der anhaltende Mangel an Wettbewerbsfähigkeit
grüner Energiespielwiesen soll nun künstlich behoben
werden.
({5})
Durch eine erzwungene Verteuerung konkurrierender
Formen der Stromerzeugung hofft man, dem ungebremsten Anstieg der EEG-Umlage begegnen zu können.
({6})
Diese Zielsetzung ist nicht neu und war daher vonseiten
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auch nicht anders
zu erwarten.
({7})
Die Lasten hieraus müssten wiederum die Stromkunden
in unserem Land tragen. Die Strompreise würden steigen. So folgt nach der Insolvenz von Aluminiumhütten
wohl bald der Ruin der Baustoffindustrie.
({8})
Dass die Grünen marktwirtschaftlichen Prozessen
eher wenig abgewinnen können, konnten wir in der Vergangenheit bereits häufiger vernehmen. Mit dem eingebrachten Gesetzentwurf wird jetzt aber sogar das Grundgesetz infrage gestellt. Eine nachträgliche Änderung
vertraglich gesicherten Bergwerkeigentums wäre ein
Verstoß gegen das Eigentumsrecht gemäß Art. 14 GG.
({9})
Kollege Todtenhausen, entschuldigen Sie bitte, dass
ich Sie unterbreche. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Höhn?
Nein. Verzeihen Sie mir.
({0})
Selbst wenn man eine Enteignung - was im konkreten
Fall abwegig ist - in Betracht ziehen würde, dann wäre
diese mit entsprechenden Entschädigungszahlungen verbunden.
Zur Verdeutlichung: Nach dem Willen der Grünen
soll dem Eigentümer eines Bergwerks durch die Förderabgabe Kapital entzogen werden, um es ihm hinterher
als Entschädigung zurückzugeben. Das wäre dann das
ungeheuer erfolgreiche Prinzip: linke Tasche, rechte Tasche.
({1})
Aber auch dieses Politikverständnis kennt man von der
Opposition.
Im Vergleich dazu muss man dem Antrag der SPD zumindest mehr Sachlichkeit zubilligen. In ihm sind verManfred Todtenhausen
nünftige Punkte enthalten, über die wir sicher noch diskutieren werden. Dennoch geht der Antrag in
zahlreichen Punkten über eventuelle Erfordernisse weit
hinaus. Vor möglichen Änderungen gesetzlicher Bestimmungen sollte immer der Grundsatz stehen, Auslegungsspielräume bestehender Vorschriften zu nutzen. Die
aufgezeigten Konfliktfelder könnten durch eine konstruktive Regionalplanung gelöst werden, beispielsweise
im Zuge eines Planfeststellungsverfahrens oder einer
vorgeschalteten Raumordnungsplanung.
Ich möchte noch einmal klarstellen: Bei bergbaulichen Planungen und Entscheidungen sind sowieso überwiegend Landesbehörden gefordert. Selbstverständlich
werden auch in Zukunft veränderte Bedingungen zu Anpassungen am deutschen Bergrecht führen, aber selbstverständlich sachdienlich und besonnen. Forderungen,
die darauf abzielen, Bergbauaktivitäten zu unterbinden
oder zumindest stark zu verzögern, lehnen wir entschieden ab.
Herzlichen Dank.
({2})
Kollege Todtenhausen, das war Ihre erste Rede im
Hohen Haus. Zur Erklärung für die Zuhörerinnen und
Zuhörer: Das heißt nicht, dass der Kollege Todtenhausen
seit 2009 schweigend hier im Plenum gesessen hat, sondern er ist erst am 2. Mai dieses Jahres in den Deutschen
Bundestag nachgerückt.
Wir gratulieren Ihnen recht herzlich zu dieser ersten
Rede und wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere
Tätigkeit!
({0})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Stüber für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir brauchen ein modernes Bergrecht, das
zwei Funktionen erfüllen muss: Zum einen muss es der
notwendigen Rohstoffgewinnung Rechnung tragen und
dabei die Besonderheiten des Bergbaus berücksichtigen.
Zum anderen muss es, und das viel stärker als bisher,
den Interessen von Betroffenen und der Umwelt gerecht
werden.
({0})
Zurzeit räumt das Bergrecht dem Abbau von Bodenschätzen einen besonderen Vorrang vor allen anderen Interessen ein. Das ist bei dem heutigen Wissen um die
Endlichkeit der fossilen Ressourcen nicht mehr zeitgemäß.
({1})
Nun hat auch die SPD einen Antrag zur Novelle des
Bergrechts vorgelegt. Er ist allerdings in der Analyse
und in den Forderungen sehr allgemein gehalten. Dass es
konkreter geht, zeigen entsprechende Anträge der Grünen und der Linken. Der SPD-Antrag geht zwar in die
richtige Richtung, aber unverständlich bleibt, warum die
Sozialdemokraten vor „weiteren Investitionshindernissen“ warnen. Das heißt im Klartext: vor verbesserten
Beteiligungs- und Klagerechten für die Umweltverbände. Zu diesen Hemmnissen sagen wir Nein.
({2})
Entweder ein Bergbauvorhaben erfüllt die gesetzlichen
Anforderungen, oder es erfüllt sie eben nicht. Dann muss
es im Zweifelsfall gestoppt oder verbessert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier
schon zweimal die Bergrechtsnovelle debattiert. Deshalb
möchte ich jetzt nur noch auf die Förderabgabe eingehen.
Es ist ein Unding, dass Energiekonzerne mit der
Braunkohle seit Jahren enorme Profite einfahren, aber
keinen Cent Förderabgabe an den Staat zahlen.
({3})
Beim Abbau werden ganze Dörfer umgesiedelt, zum
Beispiel bei mir in Brandenburg, wo Tausende Menschen ihre Heimat verloren haben. Und RWE oder Vattenfall machen fette Gewinne, ohne mit nur einem Cent
für die Verwüstung von Natur und Landschaft aufzukommen.
({4})
- Bitte hören Sie mir zu. - Kommunale Stromversorger
oder Wasserwerke hingegen müssen schon für die Nutzung öffentlicher Wege Konzessionsabgaben an die Gemeinden zahlen. Deshalb muss eine Förderabgabe für
die Konzerne auch für die alten Bergrechte gelten, über
die unmittelbaren Pflichten zur Entschädigung und Wiederherstellung hinaus.
Die Grünen wollen in ihrem Antrag Ausnahmeregelungen streichen. Das unterstützen wir.
({5})
In unserem Antrag fordern wir eine vergleichbare Regelung. Wir meinen darüber hinaus, dass die Länder keine
Möglichkeit mehr haben sollten, selbstständig den bundeseinheitlichen Satz abzusenken. Herr Krischer hat es
schon gesagt: Er beträgt gegenwärtig 10 Prozent des
Marktwertes der Rohstoffe. Im Übrigen wären - angesichts der Gewinne - auch 15 Prozent vertretbar.
Es wird oft behauptet, dass laut Einigungsvertrag in
Ostdeutschland keine Förderabgaben erhoben werden
dürfen. Das gehört allerdings in das Reich der Legenden.
Die rot-grüne Bundesregierung hatte vielmehr darauf
verzichtet, und zwar im Zusammenhang mit der Übernahme der Braunkohlenunternehmen VEAG und Laubag
durch Vattenfall in Brandenburg. Im Handelsblatt war
jedenfalls im März 2001 zu lesen, dass der damalige
Bundeswirtschaftsminister Müller Vattenfall den Verzicht auf den Förderzins in jährlich zweistelliger Millionenhöhe angeboten habe. Bis dato musste die Laubag für
den Braunkohleabbau zahlen. Es gab also schon einmal
eine Förderabgabe, zumindest in der Lausitz.
Kollegin Stüber, ich bin ein geduldiger Mensch. Aber
achten Sie jetzt bitte auf mein Signal.
Diese sollten wir schleunigst wieder einführen, und
das nicht nur im Osten.
Danke.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/9390 und 17/9560 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 23. Mai 2012, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, soweit
das möglich ist.