Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/11/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Heute gibt es bedauerlicherweise keine Geburtstage zu erwähnen, sodass wir gleich in die Tagesordnung eintreten können und müssen. Das muss aber der guten Laune nicht im Wege stehen. Ich rufe unseren Zusatzpunkt 6 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit Ich weise darauf hin, dass es hierzu einen Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke gibt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das ist offensichtlich einvernehmlich und damit so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Europa ist in einer Prägephase. Das Bild Europas in der Welt wird jetzt nachhaltig geprägt. Das Bild Europas bei den Bürgerinnen und Bürgern in Europa wird jetzt nachhaltig geprägt, aber auch das Bild Deutschlands in Europa wird jetzt für viele Jahre nachhaltig geprägt. Wir haben es mit einer Staatsschuldenkrise zu tun. Die Schuldenstände einzelner Euro-Staaten sind zu hoch. Die Finanzmärkte haben infrage gestellt, ob diese Schuldenberge jemals wieder abgetragen werden können. Aus der Staatsschuldenkrise ist somit eine Vertrauenskrise geworden. Um Vertrauen zurückzugewinnen, müssen wir überzeugend darlegen, dass der Euro-Raum künftig ein Ort dauerhafter finanzieller Stabilität sein wird. Dazu haben wir die richtigen Weichen gestellt. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt bekommt neue Autorität. Verstöße gegen den Stabilitätspakt werden in Zukunft früh und wirkungsvoll sanktioniert. Die Bundesregierung aus dem Jahre 2004 hat den Stabilitätspakt aufgeweicht. Diese Bundesregierung wird die Fehler von damals nicht wiederholen. ({0}) Wir wollen raus aus der Schuldenpolitik hier bei uns in Deutschland, auch in den Bundesländern, ({1}) in Europa, weil wir der Überzeugung sind, dass das Anwerfen von Notenpressen, das Drucken von Geld keine Antwort sein kann. Das führt zur Geldentwertung. Das führte zur Inflation. Die Stabilität unseres Geldes ist ein Kernanliegen der Bundesregierung. Es ist auch eine soziale Herausforderung. Denn unter Inflation leiden die Ärmsten am allermeisten. ({2}) Mit dem Fiskalpakt verpflichten sich die Regierungen in ganz Europa, nationale Schuldenbremsen einzuführen. Der Fiskalpakt trägt die Unterschrift von 25 Staatsund Regierungschefs. Drei Mitgliedstaaten haben den Fiskalpakt bereits ratifiziert, nämlich Portugal, Slowenien und auch Griechenland. Irland führt am 31. Mai ein Referendum zum Fiskalpakt durch. In anderen Mitgliedstaaten ist das parlamentarische Verfahren eingeleitet. Ich will es noch einmal mit großer Deutlichkeit sagen: Der Fiskalpakt ist beschlossen, und er gilt. ({3}) Das Ende der Schuldenpolitik in Europa ist vereinbart. Dabei bleibt es. Vereinbarungen zwischen Staaten werden durch Wahlen nicht ungültig. Deutschland hat für diesen Kurs unermüdlich geworben und hart verhandelt: der Finanzminister, ich selbst als Außenminister, aber vor allem an der Spitze die Bundeskanzlerin. In Europa und international setzt sich Deutschland für ein Ende der Politik des Schuldenmachens ein. Es untergräbt die Glaubwürdigkeit unseres Landes, wenn einzelne Bundesländer in Deutschland ihre Schuldenpolitik trotzdem weiter fortsetzen wollen. ({4}) Die Ursache der Krise waren zu hohe Staatsschulden. Die Folge waren verantwortungslose Spekulationen. Gegen beides brauchen wir neue Regeln. Zu den richtigen Lehren aus der Krise gehört auch die bessere Regulierung der Finanzmärkte. Die Bundesregierung hat ungedeckte Leerverkäufe bereits im Mai 2010 dauerhaft verboten. Wir sorgen für einen stabileren Bankensektor. Wir haben strengere Eigenkapitalvorschriften eingeführt. Mit der Bankenabgabe haben wir Risiko und Haftung wieder zusammengebracht. Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, die erste Säule unserer Politik ist der Fiskalpakt für weniger Schulden; die zweite Säule unserer Politik ist Wachstum durch mehr Wettbewerbsfähigkeit. Zu einer wachstumsorientierten Politik muss diese Bundesregierung niemand überreden. Wachstum ist ein Kernanliegen der christlich-liberalen Koalition. ({5}) Ohne Schuldenabbau kein Vertrauen. Ohne Vertrauen keine Investitionen. Ohne Investitionen kein Wachstum. Ohne Wachstum keine Arbeitsplätze. Ohne Arbeitsplätze keine neuen Staatseinnahmen. Haushaltsdisziplin und Wachstum sind deshalb zwei Seiten derselben Medaille. ({6}) Die Bundesregierung hat sich seit Beginn der Staatsschuldenkrise neben der notwendigen Haushaltskonsolidierung konsequent für mehr Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit in Europa eingesetzt. Bereits vor zwei Jahren wurde die neue Strategie für Beschäftigung und Wachstum „Europa 2020“ beschlossen. Seither haben sich alle - alle! - Europäischen Räte wie auch zahlreiche Allgemeine Räte und Fachräte mit den Themen Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung befasst, übrigens immer wieder auch auf deutsch-französische Initiative. ({7}) Auch der letzte Europäische Rat im März dieses Jahres betonte die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung wie auch die Notwendigkeit der Förderung von Wachstum, von Wettbewerbsfähigkeit und natürlich auch von Beschäftigung. Wie schon beim informellen Sonderrat am 23. Mai - die Bundeskanzlerin hat gestern in ihrer Regierungserklärung darauf hingewiesen - steht auch beim Europäischen Rat im Juni das Thema Wachstum erneut auf der Tagesordnung. Manche haben uns in den letzten Monaten und in den letzten beiden Jahren empfohlen, wir hätten von Anfang an einen anderen Weg einschlagen sollen, der im Wesentlichen in folgender Weise zusammengefasst ist: Von Anfang an hätte Deutschland, hätte die Bundesregierung einen großen Batzen Geld ins Schaufenster legen sollen zur Stabilisierung und zur Abschreckung der Spekulation der Finanzmärkte. - Hätten wir als Bundesregierung zu Beginn der Krise gleich den von der Opposition geforderten Blankoscheck der Solidarität ausgestellt: Wir hätten in den Verhandlungen keine einzige der Gegenleistungen für Stabilität durchsetzen können. ({8}) Es war richtig, dass Leistung und Gegenleistung von uns stets zusammen gesehen wurden. Wachstum kann man nicht mit Schulden kaufen. Wettbewerbsfähigkeit ist der Schlüssel für mehr Wachstum. Wettbewerbsfähigkeit erlangt man durch Strukturreformen; darauf weist der Wirtschaftsminister zu Recht hin. ({9}) Gut zehn Jahre ist es her, da galt Deutschland als der kranke Mann Europas. Heute ist Deutschland wieder die Wachstumslokomotive in Europa. ({10}) Heute ist Deutschland wieder global wettbewerbsfähig. Die Arbeitslosigkeit sinkt; vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa. Das ist der Lohn der Mühe unserer Bürgerinnen und Bürger. Das ist das Ergebnis von verantwortungsvollem Handeln der Tarifparteien. Es ist auch das Ergebnis der neuen politischen Rahmenbedingungen durch die christlich-liberale Koalition. ({11}) Ich füge ausdrücklich hinzu: Auch die Agenda 2010 hat die Grundlagen dafür gelegt, dass wir heute so gut dastehen. Deswegen ist es gänzlich unverständlich, dass Sie sich davon wieder abseilen wollen. ({12}) Wir wissen um den schweren Weg, den viele Menschen in Europa derzeit gehen müssen. Dafür empfinden wir großen Respekt und höchste Anerkennung. Die Menschen, die derzeit in vielen Ländern Europas in einer sehr schwierigen Lage sind, können persönlich nichts dafür, dass Reformen in ihren Ländern in den letzten Jahren unterlassen worden sind. Deswegen rate ich uns allen, nicht mit Hochnäsigkeit auf die Lage in diesen Ländern zu reagieren, sondern Verständnis dafür zu haben, was diese Menschen durchmachen. Diesen Rat richte ich nicht nur an eine Seite, sondern an alle, die darüber diskutieren. Gerade weil wir derzeit wirtschaftlich so stark sind, müssen wir in den europäischen Diskussionen eine besondere Sensibilität zeigen. ({13}) Angesichts einer zum Teil stark schrumpfenden Wirtschaft, angesichts hoher Arbeitslosigkeit, angesichts einer vor allem erschreckend hohen Jugendarbeitslosigkeit sind die jetzt angepackten Reformen die einzige nachhaltige Chance. Nur so können wir die wirtschaftliche und soziale Lage in den jeweiligen Mitgliedstaaten und überall in Europa zum Guten wenden. Ein Wort zu Griechenland: Wir stehen zu unseren Hilfszusagen. Das bedeutet aber auch, dass die vereinbarten Reformen in Griechenland umgesetzt werden. Wir wollen die Euro-Zone zusammenhalten. Die Zukunft Griechenlands in der Euro-Zone liegt nun in den Händen Griechenlands. Wir wollen und werden Griechenland helfen. Griechenland muss sich aber auch helfen lassen wollen. Wenn der verbindlich vereinbarte Reformweg verlassen werden sollte, dann ist die Auszahlung weiterer Hilfstranchen nicht mehr möglich. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Solidarität funktioniert nicht ohne Solidität. Was vereinbart ist, muss gelten. ({14}) Das ist die Haltung der Bundesregierung, meine Damen und Herren Abgeordnete. Das ist die Haltung unserer europäischen Partner. Das ist übrigens auch die Haltung des Präsidenten der Europäischen Kommission, und das ist die Haltung des Präsidenten des Europäischen Parlaments. Für neues Wachstum liegt die Verantwortung zuerst und vor allem bei den Mitgliedstaaten. Durch nationale Strukturreformen müssen die Mitgliedstaaten die Wettbewerbsfähigkeit wieder herstellen, die für neues Wachstum zwingend ist. Hierzu gehört es beispielsweise, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen. Dazu zählt, die Arbeitsmärkte gerade für junge Menschen stärker zu öffnen und Schwarzarbeit abzubauen. ({15}) Dazu bedarf es eines klaren Bekenntnisses zur Förderung von Bildung, Wissenschaft und Forschung. Auch auf europäischer Ebene wollen wir noch stärker auf Wachstum setzen. Ein europäischer Wachstumspakt muss folgende sechs Punkte beinhalten: Erstens. Die Europäische Union darf nicht mehr ausgeben als bisher. Sie muss aber ihre Mittel besser einsetzen als bisher. ({16}) Geld ist durchaus vorhanden. Der Zukunftshaushalt der Europäischen Union für die Jahre 2014 bis 2020 sieht ein Volumen von über 1 Billion Euro vor. Aus diesem Haushaltsplan muss der politische Anspruch der Europäischen Union ablesbar sein, Zukunft zu gestalten und nicht nur Vergangenheit zu verwalten. Wir brauchen bei der Verwendung dieser Mittel ein neues Denken. Es darf nicht mehr darum gehen, einfach möglichst viel Geld für die eigenen nationalen Steckenpferde zurückzuholen. Das führt am Ende zu Fehlentwicklungen wie europäisch geförderte Wellnessoasen in Romantikhotels. Wir alle kennen solche Beispiele, übrigens auch aus unserem eigenen Land. Strukturmittel, die die Europäische Union ausgibt, müssen zu mehr Wachstum und zu mehr Wettbewerbsfähigkeit in Europa beitragen. Das sind wir nicht nur denen schuldig, die auf unsere Solidarität angewiesen sind, sondern das schulden wir allen europäischen Steuerzahlern. Die Bundesregierung hat in die laufenden Haushaltsverhandlungen in Brüssel einen Aktionsplan zum Better Spending eingebracht. Gleichzeitig wollen wir, dass die Ausgaben stärker überwacht und an messbare Kriterien geknüpft werden. Mit dem Geld der europäischen Steuerzahler wollen wir gute Ergebnisse befördern statt Förderquoten zu erfüllen. ({17}) Zweitens. Aus den Struktur- und Kohäsionsfonds der laufenden Haushaltsperiode stehen noch knapp 80 Milliarden Euro zur Verfügung, die bis heute noch keinen konkreten Projekten zugeordnet sind. Wir wollen, dass die Europäische Kommission diese Mittel nutzt und gemeinsam mit den Mitgliedstaaten jetzt schneller und wirkungsvoller in neues Wachstum durch bessere Wettbewerbsfähigkeit investiert. Drittens. Weil der Bankensektor unter der Last fauler Kredite leidet, klagen viele Unternehmen in Europa über eine Kreditklemme. Mit der Europäischen Investitionsbank verfügen wir über ein Instrument, das wir stärker und gezielter nutzen sollten. Wir wollen den Zugang gerade kleinerer und mittelständischer Unternehmen zu Krediten verbessern und die Expertise der Europäischen Investitionsbank besser nutzen. ({18}) Viertens. Europas Straßen und Schienen, unsere Energie- und Telekommunikationsnetze gehören zu den großen Trümpfen der europäischen Wirtschaft. Sie zu erhalten und zu verbessern, eröffnet neue Wachstumsperspektiven. Für den grenzüberschreitenden Ausbau der europäischen Infrastruktur muss mehr privates Kapital mobilisiert werden. Wir müssen hier auch innovative Wege im Bereich Public-Private-Partnership ausloten. Fünftens. Schon einmal wurden in den 80er- und 90er-Jahren durch die Verwirklichung der sogenannten vier Freiheiten im europäischen Binnenmarkt enorme Wachstumskräfte freigesetzt. Heute bietet die Ausdehnung des Binnenmarktes auf neue Felder erneut große Chancen. Das gilt für die digitalisierte Wirtschaft und den Internethandel. Das betrifft den Energiesektor, wo mehr Wettbewerb zu niedrigeren Preisen und größerer Versorgungssicherheit für die Verbraucher führen wird, und das zielt auf die Stärkung von kleinen und mittleren Unternehmen durch den Abbau von Bürokratie, durch besseren Zugang zu Risikokapital und eine Modernisierung des europäischen Vergaberechts. Sechstens. Wir wollen den Freihandel stärken. Drei Viertel der Weltwirtschaft liegt außerhalb der Europäischen Union. Mehr als 80 Prozent des weltweiten Wachstums werden mittlerweile außerhalb der Europäischen Union erwirtschaftet, vor allem in Asien sowie in Nordund Südamerika. Solange ein Abschluss der Doha-Runde für ein weltweites Freihandelssystem nicht erreichbar ist, muss die Europäische Union daran arbeiten, weitere Freihandelsabkommen mit den alten und neuen Kraftzentren der Welt abzuschließen. Die Verhandlungen mit Kanada und Indien wollen wir zügig zum Abschluss bringen. Mit Singapur und Malaysia sind die Verhandlungen auf gutem Wege. Auf dem EU-Asien-Außenministertreffen vor wenigen Tagen hat sich gezeigt, dass in der gesamten Region großes Interesse an Abkommen mit der Europäischen Union besteht. Die Vorgespräche für die Aufnahme von Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und Japan stehen kurz vor ihrem Abschluss. Gegenüber Partnern wie den Golfstaaten und Brasilien werben wir dafür, den Verhandlungen neue Impulse zu geben. Mit den USA gibt es Vorgespräche und bereits erhebliche Vorarbeiten. Wir sind bereit zu einem umfassenden Abkommen mit unseren engsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten von Amerika. Diese sechs Punkte für mehr Wachstum in Europa zeigen, dass man Wachstum schaffen kann, ohne neue Schulden zu machen. ({19}) Der Kurs der Bundesregierung bei der Bewältigung der Krise ist klar. ({20}) Wir sind der Überzeugung: Europa ist nicht das Problem, sondern es ist Teil der Lösung des Problems. Es reicht nicht, aus der Krise nur finanz- und wirtschaftspolitische Konsequenzen zu ziehen, so wichtig die natürlich sind. Wir müssen strukturelle Antworten geben. Die Europäische Union muss handlungsfähiger und effizienter werden. Auch das ist eine Lehre aus der Krise. Wir haben eine Zukunftsgruppe ins Leben gerufen, ({21}) in der wir institutionelle Verbesserungen diskutieren, die auch unterhalb von Vertragsänderungen umgesetzt werden können. Wir werden alle europäischen Mitgliedsländer und natürlich auch die europäischen Institutionen, insbesondere das Europäische Parlament und die Europäische Kommission, in diese Diskussion einbeziehen. Mit dem Präsidenten des Europäischen Parlamentes habe ich dazu in dieser Woche hier in Berlin Gespräche geführt. ({22}) Die große historische Frage ist, ob die Fliehkräfte, die in der Krise auf Europa wirken, größer sind als die politische Kraft des Zusammenhalts. Es gibt Renationalisierungstendenzen, die mich besorgen. Die Reisefreiheit gehört für mich zu den kostbarsten europäischen Errungenschaften. Sie zu bewahren und zu verteidigen ist ein Kernanliegen der Bundesregierung. Wer anfängt, Europa stückweise aufzugeben, der wird es am Ende ganz verlieren. ({23}) Die Welt verändert sich, und die Architektur der Welt verändert sich, weil die Gewichte sich verschieben. Deutschland ist in Europa relativ groß, in der Welt ist Deutschland relativ klein. Wir brauchen unsere europäischen Partner. Gefragt ist der ökonomische, politische und kulturelle Selbstbehauptungswille von uns Europäern. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Deshalb schweigen wir nicht, wenn in unmittelbarer Nachbarschaft auf unserem europäischen Kontinent gemeinsame Werte verletzt werden. Wir stehen an der Seite der Unterdrückten in Weißrussland, übrigens auch dann, wenn dies nicht jeden Tag Gegenstand medialer Betrachtung ist. Das ist Europa, und das, was in Weißrussland stattfindet, ist eine Schande für Europa. ({24}) Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind Grundpfeiler unserer europäischen Werteordnung. Ohne sie, ohne Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, kann es keine weitere Annäherung an die Europäische Union geben. Das gilt auch für die Ukraine. Es gibt ein europäisches Lebensmodell, auf das wir stolz sein können. Dazu gehört, dass Freiheit und Sicherheit in Balance gehalten werden, dass der Einzelne etwas zählt und nicht nur das Kollektiv, dass wir nicht nur materielle, sondern auch postmaterielle Werte schätzen, nämlich individuelle Freiheit, soziale Sicherheit, ({25}) Freiheit von Angst, kulturelle Vielfalt und eine lebenswerte Umwelt. In der Globalisierung müssen wir dieses Lebensmodell gemeinsam verteidigen. Wir wollen, dass sich Europa als Kulturgemeinschaft behauptet. Die deutsch-französische Freundschaft ist für den Erfolg Europas unverzichtbar. Wir gratulieren dem neu gewählten französischen Präsidenten François Hollande. ({26}) Wir werden bewährt und eng mit der neuen französischen Regierung zusammenarbeiten und gemeinsam mit unseren europäischen Partnern die Lösung der Probleme anpacken. Ich denke - das hat der Beifall gezeigt -, wir gratulieren alle gemeinsam dem neu gewählten, dem demokratisch gewählten französischen Präsidenten. ({27}) Ich bin gespannt auf das Folgende. Wir danken dem scheidenden Präsidenten Frankreichs, Nicolas Sarkozy, für die freundschaftliche Zusammenarbeit der letzten Jahre. Erlauben Sie mir, dass ich in diesen Dank auch Außenminister Alain Juppé und die anderen Kabinettskollegen einschließe. ({28}) - An dieser Stelle, Genossen, fehlt der Beifall. ({29}) Ich will es Ihnen ganz offen sagen: Ich finde, dass die deutsch-französische Freundschaft von nationalen parteipolitischen Präferenzen völlig unabhängig ist. ({30}) Wir kämpfen für Europa - mit Pragmatismus und Weitsicht, mit Verstand und Herz. Unser Auftrag ist das, was bereits in der Präambel des Grundgesetzes festgelegt wurde. An diese Präambel des Grundgesetzes, die uns alle verpflichtet, möchte ich erinnern: „… in einem vereinten Europa“ - so heißt es dort - „dem Frieden der Welt zu dienen“. Europa ist die Antwort auf das dunkelste Kapitel unserer Geschichte. Europa ist eine Antwort des Friedens auf Jahrhunderte der Kriege. Noch mehr aber ist Europa unsere Zukunft. Europa ist unser Schicksal, und Europa ist auch unsere Leidenschaft. Deshalb arbeiten wir alle gemeinsam dafür, dass Europa diese Bewährungsprobe besteht. Wir wissen, was wir an Europa haben. Deshalb wollen wir, dass Europa diese Lage meistert. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({31})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Westerwelle! Als Sie vor einigen Tagen für heute eine Regierungserklärung zum Thema „Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit“ angemeldet haben, hatte ich gewisse Hoffnungen. Ich wollte eigentlich sagen: Willkommen in einer Debatte über Europa, an der Sie zwei, drei Jahre nicht teilgenommen haben. Herzlich willkommen in einer Debatte über Wachstum, zu der Sie in den letzten Wochen und Monaten nichts beigetragen haben. - Und jetzt höre ich 26 Minuten lang nichts anderes als heiße Luft und Stanzen. Der Verdruss über Europa hat auch mit dieser Art von Reden zu tun, die Sie hier liefern. ({0}) Es war kein einziger neuer Gedanke und kein konkreter Vorschlag zu hören, sondern lediglich das Mantra von Guido Westerwelle zwei Tage vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl. Das ist der Grund für Ihre Regierungserklärung. Das ist aber keine Regierungserklärung von Guido Westerwelle. Das hätte eine Regierungserklärung der Bundesregierung sein sollen, die in diesem Punkt sträflich versagt. ({1}) Lassen Sie uns einmal Klartext reden, Herr Westerwelle, über das, was Sie in den letzten zwei, drei Jahren unterlassen haben: Ihr Zögern und Zaudern, auch die Feigheit der Bundeskanzlerin, den Menschen die Wahrheit über das Ausmaß der Krise zu sagen, und die Unfähigkeit, Wachstumsinitiativen auf den Weg zu bringen, sowie der Glaube daran, dass man allein mit Hilfskrediten und kurzfristigen fiskalischen Auflagen Europa aus der Krise führen kann - dieser Weg ist es, der Europa im Moment noch tiefer in die Krise führt, anstatt Europa herauszuführen. ({2}) Wenn Sie uns nicht glauben, Herr Westerwelle, dann hören Sie wenigstens auf das, was Ihnen inzwischen die ganze Welt ins Stammbuch schreibt. Hören Sie auf Christine Lagarde, die Chefin des IWF. Hören Sie auf Bill Clinton, der sich zu diesem Thema geäußert hat. Hören Sie auf den Nobelpreisträger für Ökonomie, Paul Krugman, der Ihnen das ins Stammbuch geschrieben hat. Ja, Strukturreformen sind notwendig. Das ist gar keine Frage. Davon haben wir übrigens ein bisschen mehr Ahnung als diese Regierung; das will ich klar sagen. ({3}) Ich sage Ihnen einmal etwas, Herr Brüderle: Dampfplauderreden, wie Sie sie hier halten, kann jeder. Wir hingegen haben uns darangemacht, schwierige und mutige Entscheidungen zu treffen, und das hat Deutschland gedient. Das waren wir und nicht Sie. ({4}) Jetzt will ich Ihnen etwas zu dem Popanz sagen, den Sie hier aufbauen: Es ist doch überhaupt gar keine Frage, dass Länder, die Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeit haben, auch langfristig wirkende Strukturreformen brauchen. Das bezweifelt niemand. Es ist auch keine Frage, dass Europa Haushaltsdisziplin braucht. Die Staaten müssen unabhängiger werden von den Launen der Hubertus Heil ({5}) Finanzmärkte und ihrer Finanzierung. Ganz klar ist aber auch: Ohne Wachstumsperspektiven und wirtschaftliche Dynamik gelingt es nicht, die Haushalte zu konsolidieren, und Wachstum braucht Investitionen, Herr Westerwelle. Das ist in dieser Situation wichtig, aber das haben Sie nicht begriffen. ({6}) - Private und öffentliche Investitionen; das sage ich Ihnen. - Das haben Sie nicht begriffen. Private Investitionen fallen nicht vom Himmel, zumal nicht in dieser Situation. Dafür braucht man mutige Politik und mutige Initiativen. Ich will Ihnen dazu gleich ein paar Vorschläge machen. ({7}) Niemand bezweifelt - das sage ich noch einmal -, dass wir von der Staatsverschuldung in Europa heruntermüssen. Aber schon die Krisenanalyse, die Sie hier zimmern, stimmt so nicht. ({8}) Ja, es gab Staaten, die fiskalisch weit über ihre Verhältnisse gelebt haben. Das ist Politikversagen. Aber es gab auch Staaten wie Irland und Spanien, wo es kein Politikversagen oder Haushaltsversagen gab, das zu einem Defizit führte. In Irland ist eine Finanzblase geplatzt, in Spanien eine Immobilienblase. Dann musste der Staat ins Obligo gehen und Banken retten. Das ist der Grund, warum diese Länder im Defizit sind. Dort hat nicht Politik versagt, sondern die Finanzkrise hat diese Länder in Schieflage gebracht. Das verschweigen Sie, weil es nicht in Ihr Weltbild passt. ({9}) Vor Jahren haben Sie uns Irland noch als leuchtendes Beispiel genannt. Der keltische Tiger, die Zukunft der tollen Finanzmarktdienstleistungen, der Abschied von der Industrie - das war jahrelang das Mantra von Guido Westerwelle in diesem Parlament. Wohin das führt, können wir gerade in Irland beobachten. ({10}) Darüber müssen wir einmal reden. Herr Westerwelle, wir haben Ihre fünf oder sechs Punkte mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, ({11}) und wir haben festgestellt, dass Sie im Rahmen dessen, was man sich mit Copy and Paste an Überschriften aus europäischen Papieren ziehen kann, einen großartigen Redenschreiber haben. ({12}) Lassen Sie uns jetzt über fünf konkrete Vorschläge reden. Ich willen wissen, wie sich diese Bundesregierung dazu verhält. Erstens. Um öffentliche und private Investitionen zu bündeln, um Investitionsimpulse für Wachstum in Europa zu generieren, schlagen wir Ihnen die Gründung eines Investitions- und Aufbaufonds vor, gespeist aus den Mitteln der europäischen Strukturhilfen - die da sind -, aus einer Umsteuerung bei der Strukturförderung im Agrarsektor, die in den Krisenländern zum Teil vollkommen falsch geleitet war - warum Sie dazu keinen Satz sagen, weiß ich nicht -, und dem Aufkommen einer Finanztransaktionsteuer; das Wort fehlt bei Ihnen. ({13}) Wir wollen nicht neue Schulden machen. Wir brauchen die Besteuerung der Finanzmärkte, um Wachstumsimpulse zu bekommen. Herr Westerwelle, da sind Sie der Bremser in Europa. Dass Frau Merkel hilflos in Europa herumstrauchelt und sagt: „Privat bin auch ich irgendwie für eine Finanztransaktionsteuer, aber ich schaffe es nicht einmal, das in meiner eigenen Koalition durchzusetzen“, das zeigt, dass das Chaos von SchwarzGelb zum Problem für Europa geworden ist. ({14}) Also: Sind Sie für einen solchen Investitions- und Aufbaufonds, ja oder nein? Zweitens. Sind Sie für die Beteiligung des Finanzsektors? Sagen Sie doch einmal einen Satz dazu, was diese Bundesregierung auf dem nächsten europäischen Gipfel in Sachen Finanztransaktionsteuer auf den Weg bringen will. Die Chance ist jetzt nach der Wahl in Frankreich noch größer. Es gibt immer mehr Verbündete. Die Einzigen, die es nicht begriffen haben, sind die Menschen, die der FDP angehören. Drittens. Sie haben erfreulicherweise - vielleicht hat Herr Hoyer, der neue Chef der Europäischen Investitionsbank, Ihrem Redenschreiber das zugearbeitet - die Europäische Investitionsbank als ein wesentliches Instrument genannt, um private und öffentliche Investitionen zu mobilisieren - vollkommen d'accord -, aber Sie haben keine Idee, wie Sie die Europäische Investitionsbank als Instrument in dieser Situation stärken können, um öffentliche und private Investitionen miteinander zu verbinden. Herr Westerwelle, sind Sie bereit, den Menschen in Deutschland offen zu sagen, dass das nicht geht, wenn man nicht die Möglichkeiten der Europäischen Investitionsbank, zum Beispiel durch die Erhöhung des Stammkapitals der Mitgliedstaaten, ausbaut? Viertens. Sie haben sehr nebelig davon gesprochen, dass man auch innovative Möglichkeiten der Public-PriHubertus Heil ({15}) vate-Partnerships zur Finanzierung von Infrastruktur nutzen soll. Was meinen Sie eigentlich damit? Meinen Sie das Instrument der Projektanleihen? Das ist ein gutes Instrument. Meinen Sie die Möglichkeit, dass wir öffentliches und privates Kapital in die Netze investieren, in die Telekommunikationsnetze, in Energienetze und in Verkehrswege? Dann sagen Sie das. Aber Sie haben doch Projektbonds schon fast wieder ausgeschlossen. Sie sagen den Menschen nicht, dass wir das brauchen, um diese Investitionen in diesem Land tatsächlich zu hebeln. ({16}) Nein, Sie sind jemand, der morgen schon wieder fressen muss, was er gestern ausgeschlossen hat. Ich sage ihnen - fünftens - auch: Mich hat richtig enttäuscht, ({17}) dass Sie neben den Weihrauchreden über Europa mit den gestanzten Formeln, die in Europa keiner mehr hören kann und die das Vertrauen untergraben, nicht einen Satz zur Jugendarbeitslosigkeit in den Defizitländern gesagt haben. Sie sprechen von Herz und Leidenschaft. Ihnen fehlt aber jegliche Empathie mit den jungen Menschen im Süden Europas, die keine Perspektive haben. ({18}) Ihnen fehlt jede Idee für ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das wir fordern. Wenn in Spanien jeder dritte junge Mensch arbeitslos ist, wenn die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland bei fast 50 Prozent liegt, dann kann man nicht dabei zugucken, dass eine ganze verlorene Generation perspektivlos ist. ({19}) Dann brauchen wir auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen. Dass Sie dazu konkrete Vorschläge machen, hätten wir erwartet. ({20}) Unter Strukturreformen, Herr Westerwelle, verstehen Sie höchstens die Deregulierung des Taxigewerbes in Griechenland. Das hat mit wirtschaftspolitischem Sachverstand nichts zu tun. Ich sage Ihnen: Der fehlende Mut dieser Regierung, der fehlende Mut von Angela Merkel und Guido Westerwelle, ({21}) hat Europa schon Schaden zugefügt. ({22}) Die Realität wird aber in diesem Sommer über Sie hinweggehen. Dessen bin ich mir sicher. Herzlichen Dank. ({23})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gunther Krichbaum erhält nun das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Heil, ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. ({0}) Eines ist sicher: Mit Ihnen hätten wir den Weg aus der Krise nicht geschafft, und mit Ihnen würden wir den Weg aus der Krise nicht schaffen. ({1}) Vor zwei Tagen jährte sich die Schuman-Erklärung. Robert Schuman, damaliger französischer Außenminister, unterbreitete Deutschland einen revolutionären Vorschlag: Nach einem entsetzlichen Krieg, von Deutschland verursacht, sollten Kohle und Stahl für die Zukunft unter eine gemeinsame Verantwortung gestellt werden, Rohstoffe, die leider auch für die Rüstungsindustrie maßgeblich waren und die deswegen auch mit die Ursache für viele Kriege waren. Dies war die Geburtsstunde der europäischen Integration. Sozusagen im Zeitraffer dargestellt: Es folgten 1957 mit den Römischen Verträgen die Gründung der Europäischen Gemeinschaft und mit dem Vertrag von Maastricht 1992 die Gründung der Europäischen Union. Aus den Jahrzehnten der Zusammenarbeit erwuchsen Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Wohlstand und auch sozialer Fortschritt, wie Sie, Herr Außenminister Westerwelle, es vorhin richtig benannt haben. Der Wechsel von EG zu EU bedeutete sicherlich mehr als nur den Austausch eines Buchstabens. Mit der Verwirklichung einer Union war auch der Anspruch verbunden, Probleme in Zukunft politisch lösen zu wollen. Dies war ein politischer Anspruch. So ist es auch jetzt ein politischer Anspruch, auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren und diese Krise bewältigen zu wollen. Ich glaube, an dieser Stelle dürfen wir die Ursachen dieser Krise nicht ausblenden. Die Ursachen lagen darin, dass viele Staaten auf der Welt über ihre Verhältnisse gelebt haben ({2}) und dass die Ausgaben weit über den Einnahmen lagen. Die Pleite einer Bank namens Lehman Brothers veränderte, ausgehend von den Vereinigten Staaten von Amerika, die Welt und auch Europa. Das, was lange Zeit als ein Axiom galt, dass nämlich europäische Staaten ihren Rückzahlungsverpflichtungen nachkommen können, geriet plötzlich in Zweifel. Mit den Zweifeln schwand das Vertrauen. Mit dem schwindenden Vertrauen stiegen die Zinsen. Wir müssen genau dort ansetzen, wo die Ursachen dieser Krise liegen: bei einer überbordenden Verschuldungspolitik. Der erste Schritt ist, dass die Haushalte innerhalb der Europäischen Union konsolidiert werden und die Staaten ihrerseits Strukturreformen durchführen müssen, weil wir sonst gar keine Möglichkeit haben, mit Hilfe anzusetzen. ({3}) Sie haben es richtigerweise gesagt, Herr Außenminister: Erst einmal müssen sich die betreffenden Staaten selbst helfen. Da wir oftmals allgemein von Strukturreformen sprechen, sei dies an nur zwei Beispielen etwas konkretisiert. Beispiel Nummer eins: Spanien. Ja, es ist richtig: Die Jugendarbeitslosigkeit ist hier viel zu hoch. Ich muss Ihnen aber sagen, dass gerade auf dem spanischen Arbeitsmarkt abstrus hohe Abfindungsregelungen existieren, die mittelständische und kleine Betriebe davon abhalten - auch bei Auftragslagen, die das eigentlich rechtfertigen würden -, Mitarbeiter einzustellen. Genau daran liegt es, dass der Arbeitsmarkt mit der Auftragslage der Firmen nicht zusammengebracht werden kann. Beispiel Nummer zwei: Griechenland. Die Außenstände des griechischen Staates bei den Steuerforderungen liegen bei einer Größenordnung von 60 Milliarden Euro. Das ist deutlich mehr, als wir im ersten Griechenland-Paket allein an möglichen Privatisierungserlösen angesetzt haben. Das heißt, es geht hier gar nicht darum, nur entsprechende Gesetzeslagen zu schaffen - sie existieren dort bereits -, sondern darum, Gesetze zu vollziehen. Allein an diesen Beispielen wird deutlich, wo wir ansetzen müssen. Ich möchte auch den Blick auf die bisherige Politik der Europäischen Kommission und der Europäische Union lenken: Gerade in diesen Tagen kann man schon etwas irritiert sein, wenn versucht wird, den Eindruck zu erwecken, als würden Wettbewerbspolitik und Wachstumspolitik etwas ganz Neues für die Europäische Kommission und die Europäische Union bedeuten. Seit wir ab 1957 die Strukturfonds und später auch die Kohäsionsfonds haben, ist es eine der Maximen der Europäischen Union, Wachstum und Beschäftigung in der Europäischen Union zu fördern. Last, but not least dokumentiert sich das in der Agenda 2020, einer Wachstumsagenda, und auch in den Beschlüssen des letzten Europäischen Rates, die Sie, Herr Außenminister, vorhin noch einmal dargestellt haben. Deswegen möchte ich mir hier weitere Ausführungen dazu sparen. ({4}) Eines ist aber sicher: Genau diese Dinge, die jetzt oftmals lautstark gefordert werden - auch von einem Nachbarland -, gibt es längst, und sie werden jetzt mit Sicherheit auch konkretisiert werden. Wenn wir über Europa, den politischen Anspruch und die Krise sprechen, dann dürfen wir auch nicht das vergessen, was uns Europa in der Vergangenheit gebracht hat, nämlich Errungenschaften, um die wir weltweit beneidet werden. Ich habe sie vorhin schon genannt: Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. All das ist alles andere als selbstverständlich. Diese Werte und Errungenschaften zu bewahren, muss eine Vision sein, die wir erfüllen müssen - erst recht vor dem Hintergrund, dass wir in Europa immer weniger werden. Heute repräsentieren wir Europäer nur noch einen Bruchteil der Weltbevölkerung. Am Ende dieses Jahrhunderts werden wir nur noch 4 Prozent sein. Die deutsche Bevölkerung hat schon heute nur noch einen Anteil von 1 Prozent an der Weltbevölkerung. Das bedeutet im Zeitalter der Globalisierung, dass wir nüchtern auf die Realitäten schauen müssen. Wir sind dazu verurteilt - in Anführungszeichen -, zusammenzuarbeiten und zusammenzuwirken. Die Herausforderungen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise sind unglaublich hoch. Dazu kommen noch: der Klimawandel, die Gewährleistung von Sicherheit - allein mit Blick auf den Iran wird hier manches deutlich -, aber auch eine Industriepolitik, die uns unabhängig macht, auch von Märkten in der Welt. Hierzu kann ich Ihnen auch zwei Beispiele nennen: Hätten wir Airbus nicht, dann gäbe es in der Welt nur Boeing; hätten wir Galileo nicht, gäbe es auf der Welt nur GPS. - Daneben geht es um die Sicherheit der Rohstoffversorgung, die Sicherheit der Energieversorgung und auch um die Bewahrung unserer sozialen Standards. Deswegen müssen wir alles darauf richten, auch diese Werte zu bewahren. Eine Vision muss aber auch dem afrikanischen Kontinent gelten. Die Bekämpfung des Hungers und die Schaffung von Lebensperspektiven verlangen geradezu nach einer europäischen Entwicklungspolitik. Der arabische Frühling droht in einigen Ländern schon heute zu einem demokratischen Herbst zu werden. Es kann uns als Europäischer Union nicht egal sein, was dort vor Europas Haustüre passiert. Wir müssen deswegen bereit sein, auch unsere Märkte zu öffnen, dort produzierte Ware nach Europa hereinzulassen, auch wenn das mehr Wettbewerb und Konkurrenz für hiesige Länder und hiesige Unternehmen bedeutet. Wenn wir das nicht schaffen, wird der Migrationsdruck - das ist bisher nur die Spitze des Eisberges -, der gegenwärtig in Europa zu spüren ist, weiter zunehmen. Herr Außenminister, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auch die Verhältnisse in Belarus und der Ukraine angesprochen haben. Gerade dort sind die Wahrung von Menschenrechten und die Schaffung von demokratischer Teilhabe leider noch nicht verwirklicht. Bei dieser Gelegenheit möchte ich insbesondere den vielen NGOs und auch unseren politischen Stiftungen danken, die gerade hier eine hervorragende Arbeit leisten. Das ist eine Investition in die Demokratie. Deswegen sollte gerade auch, lieber Norbert Barthle, was die Haushaltsverhandlungen angeht, die Arbeit der Stiftungen eine ganz besondere Berücksichtigung finden. ({5}) Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir werden die Herausforderungen, von denen ich eben gesprochen habe, nur gemeinsam bewältigen können. Eines fällt auf: Wir werden von außen als wesentlich stärker wahrgenommen als von uns selbst. Deswegen können wir es ruhig einmal wagen, den Blick nach außen zu richten. Die USA sind ein Land, das mit einer Staatsverschuldung von 15 Billionen Dollar kämpft. Auf der anderen Seite haben wir China, das freien Zugang zum Markt in den USA bekommt, aber im Gegenzug die amerikanischen Bonds kauft und damit den Markt finanziert. In China darf die Duldsamkeit der Menschen nicht mit Stabilität verwechselt werden; die Ereignisse von 1989 haben darauf ein Schlaglicht geworfen. Deswegen: Auch diese Länder und Regionen haben ihre Probleme; mit ihnen möchte ich nicht unbedingt tauschen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Ursache der Krise lag mit Sicherheit in einem Zuwenig an Europa. Die Lösung kann also nur darin liegen, dass wir mehr Europa wagen. Wenn wir das beherzigen, ist mir persönlich um die Zukunft unseres Kontinents nicht bange. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sahra Wagenknecht ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Sahra Wagenknecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004183, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon verblüffend, wie schnell sich die Rhetorik ändert: Gestern ging es immer nur ums Sparen, jetzt ist plötzlich Wachstum das neue Zauberwort. Aber wenn man genauer hinhört, dann merkt man - das ist natürlich das Problem -, dass diese ganze Wachstumsrhetorik genauso verlogen ist wie vorher die Sparrhetorik. Darauf möchte ich jetzt näher eingehen. Es wurde und wird in Europa überhaupt nicht gespart, sondern der Bevölkerung in Europa werden unter dem Vorwand der Schuldenbremse brachiale Kürzungsprogramme diktiert. Gleichzeitig werden unverändert Milliarden Euro dafür verpulvert, um Banken, Hedgefonds und Spekulanten von ihrer Verantwortung und von ihren Verlusten freizukaufen. Das läuft doch gerade. Der nächste große Bankenrettungsschirm ESM wird in Kürze den Bundestag passieren. Wer tatsächlich diese unglaubliche öffentliche Schuldenspirale stoppen möchte, der müsste etwas dafür tun, dass genau dieser Wahnsinn ein Ende hat. Aber das ist leider noch nicht einmal von SPD und Grünen zu erwarten. ({0}) Er müsste sich auch dafür einsetzen, beispielsweise den Wettbewerb der Steuersysteme in Europa zu beenden. Nichts davon ist mit dem Fiskalpakt vorgesehen. Die Länder sollen die demokratische Souveränität verlieren, dass sie über ihre Ausgabenpolitik selbst demokratisch entscheiden können. Aber es ist nicht geplant, etwa in Europa höhere und vor allem einheitliche Konzernsteuern oder beispielsweise eine europaweite Millionärssteuer für sehr Reiche einzuführen, die von der Staatsverschuldung mit einem Zuwachs ihres Vermögens wesentlich profitiert haben. Nichts davon ist vorgesehen. Das zeigt sehr deutlich: Es geht hier überhaupt nicht ums Sparen. Es geht auch gar nicht um die Schulden, die übrigens munter weiter wachsen, allen Konsolidierungsund Kürzungsorgien zum Trotz, ({1}) sondern es geht in Europa um die Zerschlagung des europäischen Sozialstaats und die Außerkraftsetzung der Demokratie. ({2}) Darauf läuft Ihre Politik hinaus, und damit fahren Sie Europa im Eiltempo gegen die Wand. Das müssen wir ändern. ({3}) Welche Art Wachstum mit dieser Art von Politik erreicht werden kann, kann man besonders krass in Griechenland besichtigen: ein beispielloses Wachstum der Arbeitslosigkeit - die Jugendarbeitslosigkeit wurde schon erwähnt -, ein sagenhaftes Wachstum der Armut und der Obdachlosigkeit und ein erschreckendes Wachstum der Selbstmordraten. Die griechische Wirtschaftsleistung dagegen ist allein in den letzten zwei Jahren um 11 Prozent geschrumpft, und die privaten Investitionen sind sogar um 50 Prozent eingebrochen. Ist das Ihr Modell für Europa, eine verzweifelte Bevölkerung auf der einen Seite, der Löhne, Renten, Gesundheitsleistungen und Bildung gnadenlos weggekürzt werden, und eine reiche Oberschicht auf der anderen Seite, deren Vermögen allen Krisen zum Trotz nach wie vor kräftig weiterwächst? Ich finde, es ist gut, dass sich die Menschen in Europa gegen dieses Modell immer stärker zur Wehr setzen. ({4}) Man muss es immer wieder deutlich sagen: Ein öffentlicher Haushalt hat nicht nur eine Ausgaben-, sondern auch eine Einnahmeseite. Man muss nicht Renten kürzen und Schulen und Straßen verrotten lassen, damit die Schulden nicht aus dem Ruder laufen. Man könnte ja auch die Reichen mal wieder etwas heftiger besteuern, nachdem sie jahrelang immer nur entlastet wurden. ({5}) Diese Entlastungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Steuerpolitik in Deutschland, von Rot-Grün bis Schwarz-Gelb. Hätten wir in der Bundesrepublik heute noch die Steuergesetze der Ära Helmut Kohl mit dem höheren Spitzensteuersatz und einer deutlich höheren Unternehmensbesteuerung, dann hätten Bund, Länder und Gemeinden immerhin 75 Milliarden Euro mehr Einnahmen im Jahr. Allein ein Land wie Nordrhein-Westfalen hätte 7,5 Milliarden Euro im Jahr mehr zur Verfügung. ({6}) Das heißt, bei gleichen Ausgaben gäbe es heute gar kein Defizit; man würde vielmehr einen Überschuss von 4,5 Milliarden Euro erzielen, die man für ein Sozialticket und eine bessere Ausstattung der Kommunen verwenden könnte. Das wäre alles möglich gewesen. ({7}) Die tollen Strukturreformen, die Sie jetzt den anderen Euro-Ländern als Wachstumsbringer andienen, sind zum Teil in Deutschland Realität - das ist wahr -: die Agenda 2010, die Deregulierung des Arbeitsmarktes, Hartz IV und die Zerschlagung der gesetzlichen Rente. Was ist dabei herausgekommen? Herausgekommen ist seit dem Jahr 2000 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von 1 Prozent. Das ist weniger als in Frankreich und viel weniger als in früheren Jahren der alten Bundesrepublik. Herausgekommen sind Wirtschaftsaufschwünge, die regelmäßig an der Mehrheit der Menschen vorbeigehen. Herausgekommen sind Aufschwünge der Profite, der Leiharbeit und Werkverträge. Herausgekommen ist eine Situation, in der immer mehr Menschen nicht mehr von ihrer Arbeit leben können, geschweige denn, dass sie noch irgendeine Aussicht auf eine auskömmliche Rente haben. Das ist die wahre Bilanz der Agenda 2010. Es ist peinlich, Herr Heil, dass die SPD noch heute darauf stolz ist, dass sie die Grundlage dafür gelegt hat. ({8}) Nun sollen dieser Generalangriff auf den Wohlstand der großen Mehrheit und die miserable Lohnentwicklung, die wir infolgedessen in Deutschland seit Jahren haben und die inzwischen auch Herrn Schäuble aufgefallen ist, offensichtlich als Erfolgsmodell auf ganz Europa übertragen werden. Dazu kann ich nur sagen: Gute Nacht, Europa! Wer tatsächlich aus dem entstandenen Desaster Konsequenzen ziehen möchte, der müsste als Allererstes den ESM und auch den Fiskalpakt da hinwerfen, wo sie hingehören: in den Reißwolf. ({9}) Wenn die SPD einen Rest von sozialem Verantwortungsgefühl hätte, dann würden Sie sich nicht immer nur heldenhaft zur Grundsatzkritik aufplustern und am Ende doch immer wieder Merkels Katastrophenkurs brav die Stimme geben. Dann würden Sie diese Art von Politik nämlich stoppen müssen. Aber Sie haben eben diese soziale Verantwortung nicht. ({10}) Das ist bedauerlich. ({11}) Eine Politik, die wild entschlossen scheint, demokratische Rechte immer dann außer Kraft zu setzen, wenn die Interessen der Finanzlobby und der Finanzbranche berührt sind, werden sich die Menschen in Europa auf Dauer nicht mehr gefallen lassen. Das ist das Ergebnis, und das zeigen die Wahlen in Griechenland und Frankreich schon deutlich. Es wird noch mehr geben. Auch in Deutschland werden die Menschen beginnen, sich zu wehren, selbst wenn jetzt wie in Frankfurt versucht wird, solche Proteste schlicht zu verbieten. Das wird nicht gelingen; das sage ich Ihnen. Europa braucht Gegenwehr. Denn Europa braucht eine andere Wirtschafts- und Finanzordnung. Dafür kämpft die Linke. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile nun dem Kollegen Joachim Spatz für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Wagenknecht, wir tagen zwar hier im Reichstag. Trotzdem finde ich es nicht angemessen, dass Sie hier Reden von 1902 halten und uns alte Rezepte vorstellen. Wir alle müssten aufgrund der Schuldenkrise erkannt haben, dass Schulden unfrei machen. Sie vergessen immer, dass alles, was Sie einfordern, irgendjemand finanzieren muss. Wir haben doch bemerkt: Die Dritten, die das finanzieren, tun das zu immer schlechteren Konditionen und engen die Spielräume der Zukunft immer weiter ein. Darum kommen Sie nicht herum. Deswegen gibt es zum Konsolidierungskurs überhaupt keine echte Alternative. ({0}) Wenn Sie einen Schritt von der Weltkarte zurücktreten, werden Sie sehen, dass Europa in eine viel dynamischer gewordene Welt eingebettet ist. Das macht - das ist unumgänglich - mehr Europa notwendig und nicht weniger Europa. Wir sind - Kollege Krichbaum hat das schon erwähnt - in vielen Politikbereichen, nicht nur im ökonomischen Bereich - denken Sie nur an das Thema Sicherheit und die neue Schwerpunktsetzung der USAmerikaner -, dazu verurteilt, mehr Europa zu wagen, um in dieser neuen Welt bestehen zu können. Natürlich müssen wir uns im Ideenwettbewerb an den Besten orientieren. Cicero hat einmal gesagt, dass man auf Dauer die Schwachen nicht stärken kann, indem man die Starken schwächt. ({1}) Das bedeutet zweierlei: Erstens. Es gab schon damals Umverteilungspolitiker. Zweitens. Umverteilung war schon damals falsch. Deshalb haben wir uns in Deutschland - angefangenen mit der Agenda 2010 - dem neuen Denken und den Reformen gestellt. Das Traurige ist - um noch ein historisches Beispiel zu nennen -, dass Sie die Namen derjenigen, die das damals gemacht haben, aus den Geschichtsbüchern tilgen und von den Stelen meißeln wollen, weil Sie nicht wahrhaben wollen, dass dieser Politikansatz richtig ist. Der ganze Kontinent übt sich im Paradigmenwechsel, weg vom süßen Gift der Verschuldung, hin zu neuer Solidität. Deshalb ist der Dreiklang, den wir anbieten, nämlich für Solidarität in Form des ESM zu sorgen, Solidität in Form des Fiskalpaktes einzufordern und Wachstum durch eine effizientere Ausgabenpolitik - auch aufseiten der Europäischen Union - zu stimulieren, die richtige Antwort auf die Herausforderungen der Zeit. ({2}) Selbstverständlich sind die Hilfen nur ein Angebot. Jede Nation muss sich entscheiden, ob sie den Weg mitgeht, die Griechen genauso wie die Portugiesen und die Iren. Gerade die Iren und die Portugiesen sind mit diesem Kurs gut gefahren und auf einem richtigen Weg. In Portugal wurde sogar eine Regierung abgewählt, die die entsprechenden Vereinbarungen unterzeichnet hat, und durch eine Regierung ersetzt, die noch ehrgeizigere Ansprüche hat. So reif kann ein Volk sein. Aber wir können von außen nur Angebote machen. Umgesetzt werden muss es durch die betreffenden Länder. Was das Wachstum betrifft, stehen wir vor Herausforderungen in Europa. Hier können wir gemeinsam gestalten. Modernisierungen und Investitionen sind dringend notwendig. Das hat auch die Europäische Kommission schon festgestellt. Wir alle werden im Zuge der Beratungen über den Finanzrahmen des EU-Haushalts für den Zeitraum von 2014 bis 2020 die Gelegenheit bekommen, die neuen Schwerpunktsetzungen zu beachten. Ich bin gespannt, wie mutig all jene, die das heute einfordern, sein werden, wenn die Mitgliedstaaten, der Rat, das Europäische Parlament und die Kommission neue Schwerpunkte setzen, und das - so viel wollen wir zahlen - bei einem begrenzten Volumen von 1,0 Prozent des EU-BIP. Ich bin gespannt, ob wir den Mut aufbringen, auch nur einen Bruchteil dessen zu leisten, was wir den Reformstaaten, die unseren Schutzschirm genießen wollen, im Moment abverlangen. Ich bin gespannt, ob wir alle miteinander das hinbekommen. Meine Worte richten sich an alle, auch an den Kollegen Heil. Ich bin gespannt, ob er dazu steht. Er fragt, wo die Finanzierungsinstrumente seien. Er ist nicht mehr hier, aber bitte richten Sie ihm das aus. ({3}) Die Antwort darauf ist mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages zu dem Antrag der Koalition im Dezember zum mehrjährigen Finanzrahmen gegeben worden. Wir haben die Finanzierungsmittel ganz genau aufgezählt und dargelegt, wie die Rolle der öffentlichen Finanzierung dabei zu bewerten ist. Wenn er sich mehr um Inhalte kümmern würde, anstatt oberflächliche Wahlkampfreden zu halten, wäre ihm das vielleicht nicht entgangen. Wir alle wissen - das ist nicht die übliche Sonntagsrhetorik -, dass Europa die Basis unseres Zusammenlebens ist. Das gilt für viele Politikbereiche. Wir sind, im besten Sinne des Wortes, dazu verurteilt, zusammenzuhalten. ({4}) Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger Europa. Wir brauchen es in der Form, in der wir es in 50 Jahren aufgebaut haben. Dabei müssen alle mitwirken und ihre jeweilige Verantwortung wahrnehmen. Ich kann nur all jene warnen, die mit dem Gedanken liebäugeln, bei der Europapolitik parteitaktische Erwägungen anzustellen, was gestern an der einen oder anderen Stelle zu befürchten war. Am Ende wiegt das Gemeinwohl Europas und Deutschlands mehr als parteitaktische Erwägungen. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Frithjof Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, lassen Sie mich mit einer Gemeinsamkeit anfangen; viel mehr werden es leider nicht. Die europäische Einigung ist ein gemeinsames Projekt. Wir verteidigen es gemeinsam, wir müssen gemeinsam daran weiterbauen, und ich glaube, dass wir da zentrale Ziele teilen. Aber was Sie in den letzten zweieinhalb Jahren praktisch gemacht haben, verdient wirklich Kritik. ({0}) Es gab ein Muster der Krisenreaktion der Bundesregierung: Ob Hilfe für Griechenland oder Aufbau des ESFS und dann des ESM - Sie haben erst gezögert, dann Nein gesagt. Dann haben Sie zwar gehandelt, aber immer zu spät und immer zu wenig. Das war schlecht für Europa und schlecht für Deutschlands Ansehen. ({1}) Zwei Schwächen Ihrer Politik sind zentral. Der erste Fehler ist schon sprichwörtlich in Europa geworden. Man nennt ihn die „Methode Merkel“. Das ist - oder besser: war - die Etablierung eines Direktoriums im Europäischen Rat gemeinsam mit Herrn Sarkozy. Ja, die deutsch-französische Kooperation ist zentral; aber sie darf eine Gründungsidee Europas nicht aushebeln, ({2}) nämlich die eines zentralen Interessenausgleichs zwischen den kleinen und den großen Staaten, zwischen den nördlichen und den südlichen Staaten und zwischen Ostund Westeuropa. Hier haben Sie die Balance eindeutig verloren. Das wird in weiten Teilen Europas als Anmaßung verstanden. ({3}) Der zweite Kardinalfehler ist Ihr Konzept, nur zu sparen, ohne auch zu investieren. Das ist Ihre einäugige Stabilitätspolitik. So verschärfen Sie die Krise, so fördern Sie die Rezession in weiten Teilen Europas. Meine Fraktion hat trotzdem den Rettungspaketen für Griechenland und den Planungen zum ESM aus europäischer Solidarität zugestimmt, damit Geld an Krisenländer fließen kann, das sie dringend brauchen, weil sonst die Situation noch dramatischer geworden wäre. ({4}) Das ist uns aber wegen der sozialen Schieflage dieser Rettungspakete ausdrücklich nicht leichtgefallen. Wir haben in den Debatten hier immer deutlich vor den politischen Folgen gewarnt. Die Wahl in Griechenland zeigt, wohin eine Politik führt, die rücksichtslos die sozialen Belange ignoriert, Investitionen zur Stimulierung der Konjunktur unmöglich macht und den Menschen so die Hoffnung nimmt. ({5}) Das Scheitern von Präsident Sarkozy in Frankreich hingegen gibt Hoffnung. Gegen jeden politischen Stil hat die deutsche Kanzlerin für Sarkozy in Frankreich Wahlwerbung betrieben. Damit ist seine Abwahl auch eine Niederlage für Frau Merkel. ({6}) Das ist gut so. Das Direktorium Merkozy wurde halbiert, und das ist ein Anfang. Jetzt muss es mit Kurskorrekturen an der einäugigen Stabilitätspolitik weitergehen. ({7}) Der Fiskalpakt ist ein Torso und eine befristete Hilfskonstruktion. Er muss - so steht es darin - in maximal fünf Jahren in Europarecht überführt werden. Allerdings habe ich hier von Ihnen keinerlei Vorschläge gehört, wie Sie das machen wollen. Sie unterschlagen immer, dass das verbindlich ist. ({8}) Außerdem muss der Fiskalpakt mit einem Investitionsprogramm verbunden werden, um dem Ungleichgewicht in der Gemeinschaft zu entgegnen. Darüber will Frankreich verhandeln, und dafür haben wir bis Ende des Jahres Zeit. ({9}) Es gibt kein objektives Junktim zwischen diesem Pakt und der Ratifizierung des ESM. Das ist eine innenpolitisch motivierte Konstruktion von Ihnen. ({10}) Den ESM können wir sofort ratifizieren; dafür hätten Sie unsere Stimmen. Warum tun wir es also nicht? Hören Sie endlich mit der falschen Verknüpfung auf, dass beides nur zusammen ginge. Das ist falsch. ({11}) Wir brauchen vor allem ein europäisches Programm für die Entwicklung einer nachhaltigen Struktur mit einem Schwerpunkt auf erneuerbare Energien, wenn wir aus der Krise kommen wollen. Lassen Sie mich zur Begründung nur eine Zahl nennen: Für circa zwei Drittel der Leistungsbilanzdefizite in Spanien und Frankreich ist der Ölpreisanstieg verantwortlich. Das sind die Zahlen von Eurostat. Deshalb ist es gut, wenn François Hollande Vorschläge zur Finanzierung solcher Investitionen macht wie die Ausweitung der Programme der Europäischen Investitionsbank und eine Erhöhung des Stammkapitals. Das brauchen wir. ({12}) Es ist falsch, wenn Deutschland hier bremst; es ist falsch, wenn die FDP da bremst. Sie sollten dabei helfen, die Banken und Märkte endlich zur Finanzierung der Kosten der Krise heranzuziehen, aber Sie weigern sich. Eine Finanztransaktionsteuer ist notwendig, damit Europa profitiert. Das haben Sie nicht verstanden. ({13}) Stattdessen macht der Bundesumweltminister im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen polemische Stimmung gegen den neuen französischen Präsidenten. Herr Röttgen schürt antieuropäische Affekte, um Stimmen von rechts zu bekommen, und zündelt an der deutschfranzösischen Freundschaft. Dass Sie das in Ihren Reihen dulden, ist ein völliges europapolitisches Versagen. Da nützen auch alle schönen Worte des Außenministers gar nichts. Danke für die Aufmerksamkeit. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Thomas Silberhorn erhält nun das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wachstum ist kein Selbstzweck. Ziel der Krisenbewältigung muss sein, dass die Staaten der Euro-Zone ihre Kreditwürdigkeit wiedergewinnen und damit auch ihre politische Handlungsfähigkeit wiederherstellen. Das ist die Zielsetzung unserer Strategie zur Krisenbewältigung, und dazu kann man in der Tat Wachstum gebrauchen. Aber vor allem müssen diese Staaten wettbewerbsfähig werden. Um das zu erreichen, führt an einer Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und auch an Strukturreformen in Wirtschaft und Verwaltung kein Weg vorbei. ({0}) Mehr einnehmen als ausgeben wäre der richtige Weg; aber mehr ausgeben als einnehmen, das funktioniert nirgendwo auf der Welt, auch nicht außerhalb der EuroZone. ({1}) Wir sehen in Griechenland, dass der Konsum der Gesellschaft größer ist als die Wirtschaftsleistung. Da bliebe theoretisch nichts mehr übrig für Investitionen der öffentlichen Hand oder für Zins- und Tilgungsleistungen. Deswegen müssen wir in einem Land wie Griechenland darauf achten, dass wieder Spielraum entsteht. Die Griechen müssen nolens volens billiger werden; sie müssen abwerten. Sie können nicht mehr konsumieren, als sie überhaupt erwirtschaften. Wenn man die Abwertung in der Euro-Zone vornimmt, dann führt natürlich auch kein Weg daran vorbei, dass Löhne und soziale Leistungen gekürzt werden. Aber auch außerhalb der Euro-Zone ist es unabdingbar, dass die Staaten ausgeglichene Haushalte anstreben. Wir brauchen nachhaltige Solidität im Interesse künftiger Generationen, und deswegen ist die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen der erste und wichtigste Schritt in der Krisenbewältigung. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die strukturellen Reformen, die wir in Wirtschaft und Verwaltung brauchen, sind ein kostenloses Wachstumsprogramm. Das können alle tun, ohne neue Schulden zu machen. Es gibt genügend Handlungsspielräume und Ansätze, um die Verwaltung in überschuldeten Staaten effizienter zu gestalten, um die Arbeitsmärkte flexibler zu machen, um Anreize für Investitionen und für Innovationen zu setzen, im Mittelstand wie in der Industrie. Wir brauchen natürlich europaweit auch ein gemeinsames Verständnis dafür, dass wir unsere sozialen Sicherungssysteme generationenfest machen müssen; denn wir haben die Situation, dass die Bevölkerungen in Europa kleiner werden. Ohne Sparen und ohne Reformen gibt es keinen stabilen Euro. ({3}) Nun sagt der Kollege Heil, Wachstum brauche Investitionen. Dem stimme ich durchaus zu. Aber wir brauchen private Investitionen. ({4}) Wir müssen privates Kapital akquirieren. Das Problem, das wir in Griechenland und in anderen verschuldeten Staaten der Euro-Zone sehen, ist doch, dass eine Kapitalflucht aus diesen Ländern stattfindet. Das ist ein Beleg dafür, dass ein Vertrauensverlust eingetreten ist. Die Investoren packen nicht an; sie warten ab. Deswegen müssen wir die Frage beantworten, was wir tun können, ({5}) um dafür zu sorgen, dass privates Kapital wieder investiert wird. Man muss die Rahmenbedingungen für die privaten Haushalte und für die Unternehmen stärken, ({6}) um Konsum und Investitionen anzureizen. Aber dazu bedarf es vor allem der Reformbereitschaft der Regierungen. Sie müssen unter Beweis stellen, dass sie sich ernsthaft und zielstrebig den Realitäten stellen. Sonst brauchen wir über Wachstumsprogramme nicht zu reden. Wachstum braucht sicher Investitionen, aber Wachstum braucht keine neuen Schulden. Wer jetzt auf neue Ausgabenprogramme setzt, der nährt geradezu neue Zweifel am Reformwillen der Regierungen. Das wäre ein fatales Signal im Sinne von Weiter-so. Ich kann verstehen, dass in manchen verschuldeten Staaten die Bevölkerung durchaus erwartet, im Wesentlichen so weitermachen zu können wie bisher. Aber ich glaube, dass es in der politischen Verantwortung liegt, den Menschen zu sagen, dass das nicht gehen wird. Wir müssen uns verändern. Ein Weiter-so kann nicht zum Erfolg führen. Deswegen darf man nicht mit neuen Schuldenprogrammen falsche Anreize setzen. Das würde die Probleme nur verschärfen. ({7}) Es gibt keine einfachen Lösungen. Ohne Sparen und ohne Reformen geht es nicht. Wachstum ist dann vorhanden, wenn die Einnahmen des Staates steigen, und nicht, wenn die Schulden steigen. Deswegen ist es so wichtig, dass der Fiskalvertrag umgesetzt wird, dass wir uns selbst disziplinieren durch die Schuldenbremse, die wir im deutschen Grundgesetz bereits haben und die wir in ganz Europa einführen wollen. Ich darf aus bayerischer Sicht hinzufügen: Es kann gelingen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Wir haben in Bayern jetzt im siebten Jahr in Folge keine neuen Schulden im Haushalt. ({8}) Wir haben uns ganz konkret das Ziel gesetzt, auch die alten Schulden vollständig abzubauen. Das zeigt: Wir müssen die richtigen politischen Ziele setzen und uns auf den Weg machen. Die politische Reformbereitschaft erfordert auch ein klares politisches Bekenntnis zum Sparen und zu Reformen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die aktuelle Krise ist sicherlich zum einen Anlass, eine Standortbestimmung vorzunehmen - wo stehen wir gerade? -, zum anderen, eine strategische Debatte darüber zu führen, wohin uns das Ganze führt. Ich möchte an dieser Stelle ein bisschen Wasser in den Wein gießen, der unter der Chiffre „Mehr Europa“ ausgegossen wird. ({9}) „Mehr Europa“ ist offenkundig eine etwas elitäre Antwort einer Diskussion, die nur unter politischen Eliten und Akademikern geführt wird, bei der es darum geht, die Integration zu beschleunigen. Ist es nicht so, dass die Bevölkerung eine ganz andere Debatte führt, dass wir einen Vertrauensverlust zu beklagen haben, ({10}) dass die politische Akzeptanz der europäischen Integration schwindet? Glauben Sie wirklich, dass man die Kluft zwischen politischen Eliten und der Bevölkerung dadurch überwinden kann, dass man eindimensional auf „Mehr Europa“ setzt? ({11}) Müssten wir nicht die Frage „Wie kann man diese Kluft überwinden?“ beantworten. ({12}) Ich glaube, dass viele in der Bevölkerung zumindest den Eindruck gewinnen, dass Europa schon mit den vorhandenen Aufgaben nicht ganz zurechtkommt. ({13}) Deswegen wird zu Recht die Frage gestellt: Kann man das bewältigen, indem man darüber diskutiert, neue Aufgaben auf Europa zu übertragen? ({14}) Wir müssen zunächst einmal die vorhandenen Aufgaben erfolgreich bewältigen. Angesichts dessen sollte man diese Debatte nicht paralysieren, indem man über neue Aufgaben für Europa nachdenkt. ({15}) Diese Eindimensionalität beklage ich. Was wir brauchen, ist nicht der eindimensionale Weg „Mehr Europa“, sondern eine dreidimensionale Lösung. Diese Lösung beinhaltet erstens, dass wir die vorhandenen Aufgaben erfolgreich bewältigen und unsere internen Mängel abstellen. Dazu gehört in der Tat ein bisschen mehr Europa; denn die internen Mängel zeigen, dass wir mit dem Rahmen der Währungsunion so nicht zurechtkommen und nachjustieren müssen. Diese Lösung beinhaltet zweitens, dass wir die Frage stellen, wie wir Europa in der Welt starkmachen können. Europa stark nach außen zu präsentieren, das ist eine wichtige Aufgabe. Diese Lösung beinhaltet drittens, dass wir schlanker nach innen werden. Europa muss stark nach außen, aber schlank nach innen sein. Wir müssen insofern die Europäische Union umbauen und sie nicht nach innen weiter ausbauen. Wir müssen auch darüber nachdenken, welche Kompetenzen man auf die nationale Ebene zurückverlagern kann. Das sollte aber nicht in der Form geschehen, in der es die Europäische Zentralbank tut, indem sie die Geldpolitik renationalisiert. ({16}) Ich rede nicht über Renationalisierung. Ich will nur vermeiden, dass es eine einseitige Zentralisierung in Europa gibt. Was wir brauchen, ist eine ausgewogene Balance zwischen der europäischen Ebene einerseits und den Mitgliedstaaten und den Regionen andererseits. Das ist kein nationales, das ist vielmehr ein gemeinsames europäisches Interesse; denn nur die Ausgewogenheit, die Balance, garantiert, dass wir den eingetretenen Vertrauensverlust überwinden und neues Vertrauen in die europäische Integration begründen können. Europas Reichtum besteht in dieser Vielfalt, die unsere Mitgliedstaaten und Regionen zum Ausdruck bringen. Wir sind in Europa über die Jahrhunderte deswegen so erfolgreich gewesen, weil wir nicht in großen Reichen organisiert waren, wo niemand der Knute der Lehnsherren entkommen konnte. Der Reichtum Europas ist vielmehr deshalb entstanden, weil wir so kleine Gebilde hatten, dass diejenigen, die mit ihren Lehnsherren nicht zurechtkamen, woandershin gehen konnten. ({17}) Das war eine Ursache für Aufklärung, für freiheitliche Gesellschaftsformen, die sich in Europa entwickelt haben. Freiheit und Vielfalt sind also der Reichtum Europas. Die europäische Integration wird dann erfolgreich voranschreiten, wenn wir weiter auf Freiheit und Wettbewerbsfähigkeit setzen. Vielen Dank. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Roth ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welches Bild haben viele, leider zu viele Bürgerinnen und Bürger derzeit von Europa? Dieses Bild ist ziemlich jämmerlich. Dieses Bild ist ziemlich deprimierend. Zu sehen sind demonstrierende Jugendliche auf den Plätzen der europäischen Hauptstädte, brennende Europaflaggen, Nazisymbole, feilschende Staats- und Regierungschefs, die in Nachtsitzungen zusammenkommen und dann ihre mühselig erzielten Kompromisse schlechtgelaunt und übernächtigt den Medienvertretern zu verkaufen versuchen. Ich frage Sie, Herr Außenminister, und ich frage die Bundesregierung: Was tun Sie konkret, um den Bürgerinnen und Bürgern ein anderes, ein hoffnungsvolleres Bild von Europa entgegenzuhalten? Spätestens nach dieser Rede von Ihnen, Herr Außenminister, ist deutlich geworden: Sie tun nichts. Sie tun rein gar nichts. ({0}) Sie haben zwar vor wenigen Wochen eine Kommunikationsstrategie angekündigt, aber die ist nicht die Tinte wert, mit der sie geschrieben wurde. Das alles ist eine Ansammlung von Allgemeinplätzen und trifft auch nicht das Problem in seinem Kern, nämlich: Wie können wir die Bürgerinnen und Bürger wieder davon überzeugen, dass Europa eben nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung ist? Dazu habe ich außer dem allgemeinen plattitüdenhaften Vortragen von Dingen, die wir schon längst irgendwo gelesen und gehört haben, nichts Neues vermerken können. Da kann man nur sagen: Gut, dass Sie nicht mehr Europaminister der Bundesrepublik Deutschland sind! ({1}) Das Auswärtige Amt hat als Europaministerium ausgedient. Wir erleben einen dramatischen Niedergang des Auswärtigen Amts als zentrales Steuerungsministerium, wenn es um Europaangelegenheiten geht. Dafür trägt nicht allein der Lissabon-Vertrag Verantwortung - die Position des Regierungschefs, der Kanzlerin, die Position des Kanzleramts wurde gestärkt; Frau Merkel ist seitens der Bundesregierung weitgehend die alleinige Gipfelstürmerin -, sondern das liegt auch an Ihnen persönlich. Sie haben viel zu lange geschwiegen, Sie waren viel zu lange der Herr Westerwelle und nicht der Bundesaußenminister. Sie laden jetzt einmal ein paar Außenminister ein - aber auch nur einige -, reflektieren, trinken zusammen eine Tasse Kaffee und meinen, damit würden wir Europa voranbringen. Das alles ist nur Symbolpolitik, viel heiße Luft, wenig Substanz. Das ist auch heute in Ihrer Rede zum Ausdruck gekommen. ({2}) Auch da, wo das Auswärtige Amt noch über europapolitische Kompetenzen verfügt, nämlich wenn es darum geht, konkret dazu beizutragen, dass Europa mit einer Stimme spricht, haben Sie versagt. Ich erinnere nur an das Libyen-Desaster, wo Sie sich mit Ihrer Enthaltung dagegen gesperrt haben, dass die Europäische Union in einem der zentralen Felder der Außen- und Sicherheitspolitik mit einer Stimme zu sprechen vermag. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, welches Bild vermitteln wir als Europäer im Ausland? Da müssen wir einmal Amerikaner fragen. Da müssen wir einmal andere fragen. Wir bekommen überall dieselbe Antwort: Ihr Europäer bekommt die Probleme nicht in den Griff. Frau Merkel klopft bei Madame Lagarde an. Sie bittet darum, dass der Internationale Währungsfonds die Mittel aufstockt. Was ist eigentlich aus dem Vorschlag der Sozialdemokratie geworden, den Bundesfinanzminister Schäuble dankenswerterweise aufgegriffen hat, einen eigenen europäischen Währungsfonds zu schaffen? So könnten wir selber einen Beitrag dazu leisten, aus der Krise zu kommen. So bräuchten wir nicht ständig immer nur die internationale Solidarität einzufordern, sondern könnten sagen: Wir haben ein europäisches Problem, und dieses europäische Problem wollen wir auch gemeinsam lösen. - Da kommt von Ihnen gar nichts. ({4}) Genauso desaströs sieht das Bild bei der Krisenbeschreibung aus. Wir haben viel zu lange den Eindruck erweckt, wir hätten es in erster Linie mit einer Staatsschuldenkrise zu tun. Das hat mich jetzt etwas optimistisch gestimmt, weil ich den Eindruck hatte, Sie hätten verstanden, dass es nicht allein darum geht. Wir haben doch eine politische Krise. Wir haben eine institutionelle Krise. Alle wissen doch: Der Geburtsfehler von Maastricht wird durch all das, was Sie jetzt auf den Weg zu bringen versuchen, nicht geheilt. Eine gemeinsame Währung funktioniert eben nicht ohne koordinierte Wirtschaftspolitik, ohne abgestimmte Sozial-, Steuer- und Beschäftigungspolitik. ({5}) Sie aber reden ständig nur von Haushaltskonsolidierung und Schuldenabbau. Diesen Weg sind wir bereit mitzugehen, aber nur, wenn Sie Ihren wohlfeilen Worten zu mehr Wachstum und Beschäftigung dann auch Taten folgen lassen. Wir sind ja dankbar, dass Sie langsam auf die Linie der SPD einzuschwenken versuchen, ({6}) indem Sie sagen: Wir brauchen auch Wachstum und Beschäftigung. - Das ist schon einmal anerkennenswert. Wir sind jetzt gespannt, was Sie gemeinsam mit François Hollande und den anderen Staats- und Regierungschefs hinbekommen. Wir fordern eine Wirtschaftskoordination, die demokratischen und sozialen Ansprüchen gerecht wird. Sie haben ein Europa der Hinterzimmer und der Regierungen geschaffen. Wir wollen ein Europa der Parlamente, ein Europa der demokratischen Strukturen und ein Europa der Solidarität. An diesem Europa haben Sie sich Michael Roth ({7}) versündigt, meine sehr verehrten Damen und Herren der Bundesregierung. ({8}) Es ist eben auch beim Kollegen Silberhorn deutlich geworden, dass bei vielen die Alarmglocken schrillen, wenn es um die vermeintliche Abgabe nationaler Souveränität geht. Ich lade uns alle dazu ein, etwas weniger ideologisch an diese Frage heranzugehen. Wir mögen zwar rechtlich Kompetenzen abgeben; aber politisch gewinnen wir doch Handlungsspielräume zurück, die wir als Nationalstaaten in einer globalisierten Welt schon lange nicht mehr haben. Wir können den Bürgerinnen und Bürgern doch nicht vorgaukeln, dass es allein nationalstaatlich geht. Es geht nur gemeinsam in Europa. ({9}) Wir sagen: Es geht nur gemeinsam, solidarisch und demokratisch in Europa. Hier benötigen Sie noch Nachhilfe, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Fraktionen der Koalition. ({10}) Wir müssen endlich die Wettbewerbslogik in Europa überwinden. Ihr neoliberaler Dreisatz, Herr Bundesaußenminister, Steuersenkungen, Deregulierung, Sozialabbau würden automatisch zur Lösung führen, ist ein Irrweg. Ich dachte eigentlich, dass wir da gemeinsam weitergekommen sind. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern wieder Sicherheit vermitteln. Wir müssen deutlich machen: Lohndumping muss verhindert werden. Wir brauchen auch in Deutschland nicht nur höhere Löhne, worum die Gewerkschaften erfolgreich kämpfen, sondern auch Mindestlöhne. ({11}) Wir müssen das Steuerdumping verhindern. Wir müssen Sozialdumping verhindern. Wie können wir Europa in der Mitte der Gesellschaft verankern, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Angst und Sorgen haben? ({12}) Insofern: Europa muss mit dem Herzen gestaltet werden. Es stimmt mich schon sehr nachdenklich, wenn dies ausschließlich verdienstvolle alte Männer in diesen Tagen in Kommentaren eindrucksvoll zum Ausdruck bringen. Es werden eben Herr Genscher, Herr von Weizsäcker, Helmut Schmidt oder Jürgen Habermas gefragt. ({13}) - Zum Glück werden Sie nicht gefragt, Herr Genscher - Entschuldigung! - Herr Westerwelle. ({14}) - Da haben Sie völlig recht. ({15}) Ich würde mich darüber freuen, wenn irgendwann einmal ein Bundesaußenminister wieder in diesen Reigen eintreten und positiv, hoffnungsvoll, konstruktiv, mit Verve und Empathie über Europa sprechen würde. Sie gehören bislang dezidiert nicht dazu. Vielen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Oliver Luksic für die FDP-Fraktion. ({0})

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Roth, in Ihrer Rede haben wir außer alten Rezepten, die mit neuen Schulden finanziert werden, wenig gehört. Sie kritisieren immer, dass das Thema Europa auf unserer Seite einen so geringen Stellenwert habe. Von Ihren drei Kanzlerkandidaten ist bei dieser Debatte niemand anwesend. Ich wäre insofern also etwas zurückhaltend. Vergangenen Sonntag wurde in zwei Ländern Europas gewählt: in Frankreich und in Griechenland. Es wurde auch bei uns in einem Bundesland gewählt. Die Berichterstattungen und die Diskussion in unserem Land zeigen: In einem zusammenwachsenden Europa haben Wahlen in Frankreich und Griechenland vielleicht mehr Bedeutung für unser Land als die Wahl in einem unserer Bundesländer. Ich glaube, wir erleben gerade einen Paradigmenwechsel in Europa. Die Stabilisierung des Euro wird eben nicht nur im Deutschen Bundestag oder in Brüssel entschieden, sondern vor allem in den einzelnen Mitgliedstaaten; denn dort ist der Kern der Staatsschuldenkrise. Es ist wichtig, dass wir auch diese Wahlergebnisse diskutieren; denn es ist in hohem Maße bedenklich, wenn in Frankreich und Griechenland mit antieuropäischen Parolen Wahlkampf geführt wird und in beiden Ländern die extremen Parteien gewinnen. In Griechenland ziehen sogar Faschisten ins Parlament ein. Das ist nicht gut für die Demokratie, und das ist nicht gut für Europa. ({0}) Im französischen Wahlkampf haben die Zentrumspartei von Bayrou und die Grünen für Europa geworben. Leider müssen wir feststellen, dass die Europakritiker von links und rechts im ersten Wahlgang mehr Stimmen als Hollande und Sarkozy zusammen bekommen haben, die übrigens beide auch nicht gerade mit proeuropäischen Ideen im Wahlkampf geworben haben. Hollande hat den Fiskalpakt infrage gestellt. Sarkozy hat viel vom starken Frankreich und wenig vom starken Europa gesprochen und das Schengen-Abkommen infrage gestellt, die Reisefreiheit. ({1}) Aber klar ist: Der deutsch-französische Motor wird trotz einiger Misstöne im Wahlkampf weiterlaufen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass über Parteigrenzen hinweg gut zusammengearbeitet wird, ob es Giscard d’Estaing und Schmidt waren, Kohl und Mitterrand oder Schröder und Chirac. Das ist im Interesse beider Länder dringend notwendig und unabdingbar für den Erfolg Europas. Die deutsch-französische Freundschaft ist Staatsräson in Deutschland und in Frankreich, und das ist auch gut so. ({2}) Helmut Kohl sagte einmal: „Ich weiß nicht, was der französische Staatspräsident denkt, aber ich denke dasselbe.“ Dieser Satz ist heute vielleicht nicht mehr wahr. Auch das müssen wir ansprechen und diskutieren. Gerade wenn es um den Euro geht, gibt es konzeptionell große Unterschiede. Wir stehen vor einer großen europapolitischen Herausforderung. Wenn Herr Hollande - wie auch Herr Sarkozy Wachstum auf Pump finanzieren will, eine andere EZB als die Koalition und eine Aufweichung der Stabilitätsregeln will, muss darüber nachgedacht werden. In der griechischen Innenpolitik berufen sich die Parteien auf die Gedanken des neuen Präsidenten und wollen die Schuldenrückzahlungen kippen. Das hilft den Griechen nicht weiter, und es ist nicht verhandelbar. Ich hoffe, dass der neue französische Präsident diesen Fehler korrigiert. Sie haben eben gesagt, man dürfe die Politik kritisieren; das haben Sie bei Sarkozy gemacht. Der Wahlsieg von François Hollande basiert auf Versprechungen, die so nicht einzuhalten sind: Senkung der Mehrwertsteuer, Renteneintrittsalter mit 60, Einfrieren der Benzinpreise. Er lehnt die Schuldenbremse ab - ich hoffe, dass sich die SPD hierzu einmal positioniert - und will sie nicht in die nationale Verfassung übernehmen. Ich halte das für einen Fehler. Ich hoffe, dass er nicht den gleichen Fehler macht wie François Mitterrand in den 80er-Jahren, der nach zwei Jahren völlig verfehlter Schuldenpolitik erst im Jahr 1983 die Wende geschafft hat. Diese unbequeme Botschaft müssen wir mit unseren französischen Freunden diskutieren. Frankreich muss Partner bleiben, wenn es darum geht, wieder eine Stabilitätskultur in Europa zu etablieren. Alleine schaffen wir das nicht. Dazu brauchen wir unsere französischen Freunde. Wir stehen jetzt vor einer zentralen europapolitischen Herausforderung. ({3}) Nicht nur die Wahlen in Frankreich zeigen deutlich, welchen Einfluss die Politik anderer Länder mittlerweile auf Europa, den Euro und damit auch auf uns hat, wenn mühsam ausgehandelte Verträge wieder aufgeschnürt werden. Auch in Griechenland wurde am Sonntag gewählt. Dort gestaltet sich die Regierungsbildung leider äußerst schwierig. Die einstigen Volksparteien wurden abgestraft; beide haben das Land an die Wand gefahren und damit die Krise der Währungsunion mit ausgelöst. In Griechenland steht für Europa viel auf dem Spiel. Wir müssen uns angesichts des instabilen politischen Systems Sorgen machen; denn dadurch wird das wackelige Wirtschaftssystem nicht gerade stabilisiert. Das eigentliche Problem besteht darin, dass viele Griechen bei der Stimmabgabe gedacht haben, die harten Sparauflagen könnten nachverhandelt werden. Das fordern jetzt auch alle Parteien. Dabei muss Griechenland in jedem Fall sparen, weil das strukturelle Defizit schon ohne Zinszahlungen riesengroß ist. Die Zeit drängt. Ich glaube, es ist gut und richtig, dass sowohl die Europäische Kommission als auch die deutsche Bundesregierung klar gesagt haben, dass Verträge eingehalten werden müssen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Vertragstreue ist ein zentraler europäischer Wert; immerhin leben wir in Europa in einer Gemeinschaft des Rechts. Das Kernproblem liegt darin, dass 80 Prozent der griechischen Bevölkerung, also eine große Mehrheit, den Euro wollen, aber keine Parteien wählen, die diesen Kurs unterstützen. Wir haben großes Interesse daran, dass Griechenland auf europäischem Kurs bleibt. Es muss klarer gesagt werden, was die Konsequenzen einer unkontrollierten Staatspleite in Griechenland wären. Ich bin der festen Überzeugung, dass die neue griechische Regierung sowie das griechische Volk eine Grundsatzentscheidung treffen müssen, denn ein Ja zum Euro, aber ein Nein zu den verabredeten Auflagen passen nicht zusammen. Diese Frage muss in Griechenland klar beantwortet werden. Die Krise des Euro ist im Kern eine Staatsschuldenkrise. Da hilft die vulgäre Kapitalismuskritik nur wenig weiter. Die Staaten müssen sich unabhängiger von den Finanzmärkten machen, indem sie weniger Schulden haben. Neben dem Sparkurs brauchen wir eine nachhaltige Wachstumspolitik, das ist völlig klar. Das Ganze muss aber auf finanzpolitischer Solidität aufbauen, denn weder der Euro noch der Markt zerstören die Fundamente in Europa. Vielmehr ist es das süße Gift der Schulden. Es muss uns gelingen, den Euro zu stabilisieren; denn sonst wird in allen Ländern Europas nicht nur der Euro, sondern auch das europäische Projekt infrage gestellt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege.

Oliver Luksic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004102, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. - Deswegen ist es wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, dass Sie in Bezug auf den ESM und den Fiskalpakt nicht wieder den gleichen Fehler machen wie 2010, als Sie sich wegen der NRW-Wahl beim ersten Griechenlandpaket aus der Verantwortung gestohlen haben. Machen Sie jetzt in Bezug auf den ESM und den Fiskalpakt nicht den gleichen Fehler! Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt der Kollege Hunko das Wort. ({0})

Andrej Hunko (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004060, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Titel dieser Debatte heute lautet: „Europas Weg aus der Krise“. Nach der Regierungserklärung, Herr Westerwelle, die ich eben gehört habe, muss ich sagen, der Titel sollte heißen: „Europas Weg immer tiefer in die Krise“; denn das ist die Konsequenz Ihres Programms, das Sie vorgestellt haben. Herr Westerwelle, Sie sind in Ihrem Beitrag gar nicht auf die Signale eingegangen, die am Wochenende aus Griechenland und aus Frankreich gekommen sind. Die Signale bedeuten, dass Ihre Politik gescheitert ist, dass die Politik nicht nur sozial ungerecht ist, dass sie nicht nur ökonomisch irrsinnig ist, sondern dass sie in Europa politisch nicht mehr durchsetzbar ist. Das ist die Botschaft der Wahlen in Griechenland und in Frankreich. ({0}) Nicht nur die Menschen in vielen europäischen Ländern lehnen diese Art der Krisenbewältigung ab. Es gibt auch von Tag zu Tag mehr Ökonomen, die sich kritisch zu der Krisenbewältigung äußern, die Sie auch heute vorgestellt haben. Ich könnte viele zitieren. Herr Heil hat vorhin Paul Krugman erwähnt. Ihn will ich zitieren. Es lohnt sich wirklich, genau hinzuhören, was der Wirtschaftsnobelpreisträger von 2008 sagt: Europas große Täuschung besteht in dem Glauben, dass die Krise durch unverantwortliche Haushaltsführung zustande kam. Weiter heißt es: Doch viele europäische Verantwortliche, allen voran deutsche Politiker, die Führung der Europäischen Zentralbank und die Meinungsführer in der Finanzwelt, wiederholen gebetsmühlenartig die große Täuschung und lassen sich auch von handfesten Gegenbeweisen nicht erschüttern. Sie kleiden das Problem gern in ein moralisches Gewand: Die betroffenen Länder haben gesündigt, und nun müssten sie büßen - ein ganz schlechter Ansatz zur Lösung der eigentlichen Probleme des Kontinents. ({1}) Was meint er zum Beispiel mit handfesten Beweisen? Nehmen wir die Staatsverschuldung. Die Staatsverschuldung in der Euro-Zone ist vom Jahr 2000 bis Mitte 2008 im Durchschnitt tendenziell rückläufig gewesen, von etwa 72 Prozent auf etwa 67 Prozent. ({2}) Das sind alles Zahlen, die man offiziell bei der EZB einsehen kann. Erst Mitte 2008 ist die Staatsverschuldung deutlich auf über 80 Prozent angestiegen. Was war die Ursache? Unverantwortliche Haushaltsführung durch Sozialausgaben oder durch Leben über die Verhältnisse? Nein, die Bankenrettungspakete sind für den Anstieg verantwortlich und nicht etwa unverantwortliche Sozialausgaben. Die zentralen Projekte dieser Bundesregierung sind der Fiskalpakt und der ESM, die jetzt ratifiziert werden sollen. Damit wird eine falsche Grundannahme in einen Pakt gegossen, der Ewigkeitscharakter haben soll und die Krise unnötig verschärfen wird. Der Fiskalpakt bedeutet in der Konsequenz genau die gleiche Politik, die jetzt Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern auferlegt wird. Deswegen sagen wir Nein zum Fiskalpakt, deswegen sagen wir Nein zum ESM. ({3}) Es stehen noch Kollegen von SPD und Grünen auf der Rednerliste. Mich würde schon interessieren: Werden Sie dem Fiskalpakt am Ende zustimmen - dazu braucht man in Deutschland eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat -, oder werden Sie ihn ablehnen? Wir plädieren für die Ablehnung. ({4}) Ich beende meine Reden hier im Bundestag meistens mit dem Satz: Europa wird sozial sein, oder es wird nichts sein. Das ist natürlich weiterhin richtig. Ich will aber heute angesichts der dramatischen Situation in Griechenland folgendermaßen enden: Ανατροπή στην Ελλάδα, μήνημα στην Ευρωπη, για μια Ευρωπη τον λαών και όχι των τραπεζιτών! Die Veränderungen am Wochenende in Griechenland sind ein Signal für Europa, für ein Europa der Menschen, der Völker und nicht der Banken und Konzerne. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Sarrazin erhält nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte am Anfang meiner Rede kurz auf die Einführungsvorlesung von Herrn Westerwelle eingehen. Herr Westerwelle - er sitzt gar nicht auf der Regierungsbank, sondern spricht mit Herrn Ramsauer -, Sie sind als einen der sechs Punkte auf die Connecting Europe Facility eingegangen. Ich glaube, dass man ein grundsätzliches Problem Ihrer Europapolitik benennen kann: Als die Kommission im letzten Herbst Vorschläge zu Projektbonds gemacht hat, ist aus Ihren Reihen viel über Herrn Barroso geschimpft worden, weil Sie das mit Euro-Bonds verwechselt haben. ({0}) Und jetzt stellen Sie hier Ihr Aktionsprogramm vor. - Mögen Sie mir noch zuhören? - Dieses Aktionsprogramm besteht - das ist auch bei anderen Dingen der Fall - aus einem Vorschlag, den die Kommission schon im März vorgelegt hat. Abschreiben und Abkupfern reicht nicht für die Europapolitik Deutschlands! ({1}) Das andere ist - das muss man in dieser Debatte und nach dieser Vorlesung sagen -

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie haben die Lage richtig wahrgenommen. Der Kollege Spatz möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Darf er das?

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Klar.

Joachim Spatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dem Kollegen Heil, der behauptet hat, wir hätten alternativlos abgelehnt, habe ich das auch schon gesagt: Wenn Sie sich ein bisschen intensiver mit den Details befassen würden, zum Beispiel mit den Vorschlägen, die in unserer Stellungnahme zum MFR enthalten sind, die der Bundestag auf Antrag der Koalition beschlossen hat! Darin steht, dass wir eine andere Form von Projektanleihen wollen. Wir wollen keine Projektanleihen, bei denen einfach nur öffentliches Geld ausgegeben wird, ohne dass zusätzliches privates Geld mobilisiert wird. Es mag ja sein, dass Sie das ablehnen. Aber die Behauptung, wir hätten alternativlos abgelehnt, ist schlicht falsch.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Herr Spatz, wenn Sie den Kommissionsentwurf bezüglich Connecting Europe Facility vom März lesen, dann wird Ihnen ganz klar, was die Kommission vorschlägt. Das ist eine Fazilität, die dafür sorgen soll, dass mithilfe öffentlicher Mittel, mit Mitteln aus Strukturfonds aus anderen Bereichen gehebelt und mehr privates Kapital mobilisiert werden kann. Da hat nie jemand etwas anderes vorgeschlagen, auch Herr Barroso damals nicht. ({0}) Das Problem an Ihrer Europapolitik ist, dass Sie nicht in der Lage sind, konstruktive, vorausdenkende Vorschläge zu machen. Sie müssen sich immer hinter den fehlenden Mehrheiten in Ihren Reihen verstecken. ({1}) Das nimmt Stärke. Ihnen fehlt Stärke, um in Europa voranzugehen. ({2}) Eines muss man sagen - die Schuman-Erklärung ist schon genannt worden -: Schuman hat damals geschrieben: Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Wenn wir diesen Satz als Blaupause nehmen und uns das, was Herr Westerwelle gerade gesagt hat, und Ihre Beiträge in dieser Debatte vor Augen führen, dann ist, glaube ich, die Analyse relativ klar. Die große Frage in dieser Krise ist doch, Herr Spatz und Herr Westerwelle, die integrationspolitische Demokratiefrage. Warum kommt von Herrn Westerwelle und aus Ihren Reihe zu dieser großen Frage dieser Krise so wenig, um nicht zu sagen: gar nichts? ({3}) Es ist doch bezeichnend, dass bei diesem Kernpunkt der Europapolitik das Auswärtige Amt gar nicht präsent ist. Ich muss Ihnen noch eines sagen - der Schuman-Plan ist schon genannt worden -: Was war die große Idee von Schuman neben dem, was Herr Krichbaum gewürdigt hat? Es war die Hohe Behörde, die die gemeinsame Montanunion verwaltet. Die Europapolitik dieser Regierung bricht mit dem Erbe von Schuman, weil Frau Merkel in Brügge mit der Unionsmethode zum Angriff auf die Kommission und das Europäische Parlament geblasen hat. ({4}) Sie brechen mit einer großen Tradition, indem Sie reine Regierungspolitik machen und die Gemeinschaftsinstitutionen in dieser Krise schwächen. ({5}) Sie wissen, dass ich über die Geringschätzung der Parlamente im Rahmen dieser Unionsmethode viel zu sagen hätte. Deswegen haben wir in Karlsruhe geklagt. Diesbezüglich haben wir in diesem Haus gemeinsame Anliegen gegenüber der Regierung. Darüber werden wir sprechen. Ich möchte sagen, dass es aus meiner Sicht eine deutsche Aufgabe ist, den Mut, die Verträge zu ändern, zu adressieren. Wir können ganz klar sagen, dass die Analyse in der Erklärung von Laeken, dass die Europäische Union für die Herausforderungen der Globalisierung nicht ausreichend gewappnet ist und dass die nationalen Politiken besser koordiniert werden müssen, noch stimmt. In dem Aktionsprogramm, das Herr Westerwelle hier gerade genannt und vorgestellt hat, fehlt dieser Punkt. Dort fehlt der deutsche Anspruch, dass wir die Vordenker- und Vorreiterrolle in Europa übernehmen müssen, wenn es darum geht, das Mehr an Europa konkret zu machen und über Vertragsänderungen zu reden, und zwar mit einer Methode, die demokratisch und transparent ist, also im Rahmen eines europäischen Konvents und nicht in den Hinterzimmern von Regierungskonferenzen. ({6}) Ich möchte meine letzten Sekunden Redezeit nutzen, um etwas zu Griechenland zu sagen. Wenn ich mir die Presselage ansehe - vieles von dem, was hier heute gesagt wurde, hebt sich positiv davon ab -, habe ich das Gefühl, dass manche in Ihren Reihen noch nicht verstanden haben, für wen sie Stichwortgeber sein können, ob willentlich oder aus Versehen. Ich frage mich manchmal: Für wen machen Sie eigentlich Wahlkampf? Sie erwecken den Eindruck, es wäre möglich, Griechenland aus der europäischen Schicksalsgemeinschaft auszuschließen, es wäre keine politische Wertentscheidung, die Euro-Zone mit 17 Staaten zusammenzuhalten. Alle acht Wochen wird aus den Reihen der Koalition diese politische Wertentscheidung infrage gestellt. Das ist ein Zeichen von politischer Schwäche. Diese politische Schwäche Ihrer Koalition und Ihrer Regierung ist mit ein Grund für die Krise. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Jürgen Hardt ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Hardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Europapolitiker und Außenpolitiker sind hier jetzt, da die Debatte schon etwas fortgeschritten ist, relativ unter uns. Ich freue mich trotzdem, dass der Präsident der Europäischen Investitionsbank auf der Besuchertribüne Platz genommen hat. ({0}) Ich glaube, wir alle setzen große Hoffnungen in die Möglichkeiten und Perspektiven - diese gibt es zum Teil aufgrund der neuen Ausgestaltung des finanziellen Rahmens der Europäischen Union -, die Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, zu schärfen und zu verbessern. Denn offensichtlich haben die Methoden, mit denen wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten versucht haben, Impulse für Wirtschaftswachstum zu setzen, nicht ganz und nicht in allen Ländern den Erfolg gehabt, den wir uns gewünscht haben. Ich möchte in dieser Debatte ganz konkret auf die Rede von Kollegen Roth eingehen - ich sehe ihn leider gerade nicht -, der hier vorhin ein ziemlich düsteres Bild Europas gemalt hat, um dann in den letzten zehn Sekunden seiner Rede die Regierung zu mahnen, sie solle doch nicht alles so negativ malen und so schlecht sehen. Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass wir die Chancen sehen, die vor uns liegen. Wenn wir auf das zurückblicken, was wir in den letzten zwei Jahren in der Europapolitik erlebt haben, sehen wir, dass wir viele Erschütterungen erlebt haben. Wir haben viele Dinge erlebt, die wir uns so nicht vorstellen konnten, aber wir haben natürlich auch erlebt, dass wir in den letzten 24 Monaten ganz gut um die vielen Klippen herumgeschifft sind, die uns im Weg standen. Wir hören immer wieder Ratschläge von außen. Wenn ich mir vorstelle, wir hätten vor 24 Monaten den Ratschlag angenommen, die Griechenland-Illiquidität, die praktische Insolvenz dieses Staates, einfach hinzunehmen und nicht zu helfen, weil man als guter Kaufmann dem schlechten kein gutes Geld hinterherwirft - das war nur einer der Sprüche, die uns gesagt wurden -, dann hätten wir einen enormen Schaden für Europa produziert, der weit über das hinausgeht, was man sich vorstellen kann. Wir hätten selbst im günstigsten Fall auf das Wirtschaftswachstum der letzten zwei Jahre verzichtet, das 100 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden gespült hat. All denjenigen, die uns vorwerfen, dass wir die Rettung des Euro und die Rettung Griechenlands mit zu viel Geld, mit zu viel gutem Willen und mit zu vielen Bürgschaften angehen, sei gesagt: Wenn wir diesen Vorschlag angenommen hätten, wäre die Situation heute schlagartig schlechter, und es wäre für uns mit Sicherheit auch teurer. ({1}) Ein möglicher Weg wäre damals gewesen, den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen und das Auseinanderbrechen der Euro-Zone hinzunehmen. Diesen haben wir zum Glück nicht eingeschlagen. Es gab einen anderen extremen Vorschlag, über den man auch nachdenken musste. Die Staats- und Regierungschefs hätten am Abend des Ausbruchs der Staatsschuldenkrise sagen können: Wir haften alle gemeinsam für alles. - Das hätte die Märkte möglicherweise sogar beruhigt. Es hätte das Problem der übermäßigen Verschuldung aber nicht gelöst. Deswegen bin ich der Bundesregierung dankbar, dass sie diesen Weg nicht eingeschlagen hat, sondern gesagt hat: Wir versuchen, einen mühsamen, einen schwierigen, aber gleichwohl erfolgversprechenden Weg zu gehen, der insgesamt vier Elemente beinhaltet: erstens faire Chancen für die Staaten, die in Schwierigkeiten sind, zweitens die Absicherung unserer Verflechtungen innerhalb der Europäischen Union, damit das Finanzsystem nicht zusammenbricht, drittens die Stärkung der rechtlichen Verbindlichkeit im Hinblick auf solide Haushaltspolitik und viertens die Zähmung der ungehemmten Finanzmärkte. Ich möchte auf den dritten Punkt, nämlich die Frage, wie wir Haushaltsdisziplin innerhalb der Europäischen Union verwirklichen wollen, näher eingehen. Da finde ich die Haltung der Opposition, offen gesagt, etwas ambivalent. Sie hat uns monatelang vorgehalten: Das, was die deutsche Regierung in Europa will, ist undurchsetzbar; das ist wieder das typisch deutsche „Wir wissen alles besser, und wir machen alles besser“. - Dann ist es zu einem Fiskalpakt gekommen, der in seinem Umfang, sowohl was die Zahl der teilnehmenden Staaten als auch seine Elemente angeht, beachtlich ist und deutlich weiter geht als das, was viele erwartet haben. Jetzt heißt es plötzlich: Das ist alles viel zu streng. Das ist alles viel zu sehr auf Austerität ausgerichtet. - Also: Sie müssen sich schon entscheiden, ob Sie einen stabilen Euro mit soliden Staatsfinanzen wollen oder ob Sie weiterhin auf Pump scheinbaren Wohlstand finanzieren wollen. Ich persönlich bin der Meinung, die Bundesregierung hat an diesem Punkt alles richtig gemacht, und sie verdient unsere volle Unterstützung, wenn es in den nächsten Wochen und Monaten in diesem Hause darum geht, die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. ({2}) Ein Blick auf die Hilfen für Griechenland. Es ist nicht an uns im Deutschen Bundestag, dem griechischen Volk Ratschläge zu geben, die Wahl zu kommentieren und zu analysieren und dabei Kritik am Wählervotum zu äußern. ({3}) Ich finde, die Bürgerinnen und Bürger in Griechenland und auch die verantwortlichen Politiker wissen sehr genau, dass das, was die alte Regierung und das alte Parlament verabschiedet und vereinbart haben, natürlich über den Wahltag hinaus Bestand haben muss, wenn man in einem Staatenbund wie der Europäischen Union erfolgreich zusammenarbeiten will. Ich glaube, die Anzeichen, die gestern aus Griechenland zu vernehmen waren, dass es vielleicht doch die Perspektive für eine Parlamentsmehrheit gibt, die möglicherweise eine Regierung trägt, die den Kurs fortführt, ohne dass man den Weg über Neuwahlen gehen muss, sind ein gutes Signal. Ich würde mir wünschen, dass wir schnell zu Ergebnissen kommen. ({4}) Das - notwendige - Sparen ist so zu gestalten, dass die Menschen in den betroffenen Ländern dies akzeptieren und mittragen können. Ich glaube, in einem Land wie Griechenland sollte man damit anfangen, dass nicht zuerst der kleine Mann auf der Straße, sondern vielleicht zunächst einmal der höhere Beamte ein Opfer für die Sanierung des Haushaltes zu erbringen hat. Man sollte vielleicht auch einmal darüber nachdenken, wie es gelingen kann, den großen Anteil der Schattenwirtschaft in das reguläre Bruttosozialprodukt zu überführen und damit einer Besteuerung zu unterziehen. So kann man sparen, ohne dass man irgendjemandem etwas wegnehmen muss, was er dringend braucht und was ihm zusteht. Ich glaube, dass Wachstumspolitik nicht im Widerspruch zu einer erfolgreichen und nachhaltigen sozialen Politik steht. Auf diesem Weg werden wir gut vorankommen. Ich glaube im Übrigen auch, dass wir im Rahmen der weiteren Strukturierung des Finanzrahmens der Europäischen Union, den wir in den nächsten sieben Jahren vorsehen, genau diese Impulse setzen müssen. Die Europäische Union hat sich auf den letzten zwei großen Gipfeln ganz zentral mit den Quellen des Wachstums, der Stimulierung des Wachstums und der Schaffung eines sozialen Raums beschäftigt. Es gibt überhaupt keinen Grund, dahinter zurückzubleiben. Ich sehe Europa trotz allem auf einem guten Weg. Ich denke, dass wir mit dem eingeschlagenen Kurs der kleinen Schritte und der Konsolidierung der europäischen Finanzen den richtigen Weg beschritten haben. Ich würde mir schon wünschen, dass wir das aus der Alltagspolemik der Politik heraushalten, damit Europa in der Öffentlichkeit eben nicht nur negativ wahrgenommen wird. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält die Kollegin Kerstin Griese für die SPDFraktion das Wort. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir fehlt aufseiten der Regierungsfraktionen in dieser Debatte ein wenig die Begeisterung für die europäische Idee. ({0}) Ich glaube, wir werden die Zustimmung für Europa und auch für die schwierigen Schritte, die wir jetzt zu tun haben, nur dann wieder bekommen, wenn die Menschen auch davon überzeugt sind, dass wir die Krise meistern können. Diese Überzeugung fehlt bei Ihnen anscheinend. ({1}) Es ist ja auch interessant, dass Umweltminister Röttgen versucht hat, die NRW-Wahl am Sonntag zu einer Abstimmung über den Europakurs der Kanzlerin Merkel zu machen. ({2}) Bevor er da deutlich zurückgepfiffen wurde, hat er tatsächlich gedacht, dass er damit seine bescheidenen Zustimmungswerte steigern könnte. Welch ein Irrtum; denn die Menschen wissen, dass Sparen alleine kein zukunftsfähiges Konzept ist, sondern dass Sparen und Wachstum zusammengehören. Hannelore Kraft hat mit ihrer vorbeugenden Politik überzeugend gezeigt, dass Sparen und Investitionen in die Zukunft, in Bildung und in Kinder zusammengehören und zwei Seiten derselben Medaille sind. ({3}) Deshalb ist es uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten so wichtig, dass beides zusammengehört: Sparen und die Entwicklung von Wachstum, ein gemeinsamer Binnenmarkt und gemeinsame soziale Standards in Europa, soziale Gerechtigkeit und Innovation, die gemeinsame Währung, der Euro, und offene Grenzen und Freizügigkeit. Europa ist nämlich mehr als die Krise, Europa bedeutet auch Jugendaustausch, Studentenaustausch, kulturelle Vielfalt und eine starke Zivilgesellschaft. ({4}) Unser ehemaliger Bundespräsident Johannes Rau hat 2003, in einem Jahr, in dem es um die Erweiterung der Europäischen Union um zehn Staaten ging und in dem es deshalb durchaus heftige Debatten gab, einmal gesagt - ich zitiere ihn -: Dauerhafte Fortschritte bei der Einigung unseres Kontinents können wir nur erreichen, wenn die europäische Idee in den Herzen und Köpfen der Menschen verankert wird, wenn die Einigung von den Menschen bejaht und getragen wird. Diese Zustimmung ist möglich, aber sie fällt nicht vom Himmel. Wer in Politik und Gesellschaft Verantwortung trägt, muss dafür werben. Auch heute geht es darum, mit Herz und Verstand dafür zu werben. Ich habe aber das Gefühl, dass wir heute vonseiten der Regierung viele Abgesänge und Trauerreden gehört haben. Es geht nicht, für Europa zu werben, wenn man immer nur zögert und zaudert, wenn man zuerst auf die „faulen Griechen“ schimpft und jegliche Hilfen ausschließt, um sie später dann doch zu gewähren - übrigens zu spät; dadurch wurde es noch teurer -, und wenn man zuerst nachhaltige Rettungsschirme ausschließt, sie später dann aber doch einführen will. Es geht jetzt darum, dass wir in dieser Krise entschlossen und zielgerichtet für Europa werben. Dazu gehört, dass wir neben der Wirtschafts- und Währungsunion eben auch eine Sozialunion brauchen. ({5}) Unser Ziel ist das soziale Europa. Uns macht große Sorgen, dass sich eine soziale Schieflage entwickelt. Die wachsende soziale Ungleichheit in Europa gefährdet die europäische Einigung und die Identifikation der Menschen mit Europa. Die deutsche Bundesregierung zeigt leider keinerlei Ehrgeiz, mehr Integration und Teilhabe für die Menschen im eigenen Land zu erreichen. Sie engagiert sich nicht bei der Bekämpfung von Armut, sie hat die Langzeitarbeitslosen aufgegeben, ({6}) sie weigert sich, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, und sie will ein unsinniges Betreuungsgeld einführen, statt in den Kitaausbau zu investieren. Ich könnte das ewig weiter fortsetzen. ({7}) Diese Bundesregierung zeigt leider auch kein Engagement, soziale Verwerfungen in den Ländern Europas, die jetzt unsere Hilfe brauchen, zu verhindern. Man muss sich allein die Situationen in Spanien und Griechenland, wo die Hälfte der jungen Menschen arbeitslos ist, vorstellen, um zu wissen, was das mit den Menschen dort macht. Das ist ein dramatischer Zustand. ({8}) Der Mindestlohn ist gesenkt worden, und es sind gerade auch die gut ausgebildeten Menschen, die dort arbeitslos sind. Hier zeigt es sich, dass wir dringend mehr tun müssen, um Hoffnung für diese junge Generation zu schaffen. Deshalb brauchen wir mehr Wachstum, einen besseren und zielgerichteteren Einsatz der europäischen Mittel und ein konkretes Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Für mehr Wachstum und Zusammenhalt in Europa gibt es Beispiele. Wir brauchen Haushaltskonsolidierung, klare Sparziele und dazu ein Wachstumspaket. Wir haben das in Deutschland schon einmal gezeigt, als sozialdemokratische Minister mit den Konjunkturpaketen dafür gesorgt haben, dass Kommunen gestärkt wurden, dass Arbeit geschaffen wurde und dass mit der Kurzarbeit Jobs erhalten wurden - gerade bei uns in Nordrhein-Westfalen. ({9}) Deshalb reicht es heute nicht, immer nur die guten Daten und Zahlen zu loben, sondern man darf auch noch einmal sagen, wer dafür gesorgt hat. Das waren nämlich sozialdemokratische Minister und ihre Konzepte. ({10}) Um die Identifikation mit Europa zu erhalten, müssen wir dringend die Verursacher der Krise an den Kosten beteiligen. Dazu gehört eine Steuer auf Finanzgeschäfte, dazu gehört eine effektivere Kontrolle der Banken, dazu gehört ein gesetzlicher Mindestlohn auch für Deutschland, damit nicht immer nur die kleinen Leute zur Kasse gebeten werden. ({11}) Europa ist ein Europa der offenen Grenzen. Für viele Menschen sind die gemeinsame Währung und die Reisefreiheit die beiden Dinge, durch die Europa ganz praktisch erfahrbar ist. Deshalb sage ich ganz deutlich: Es dient der europäischen Einigung nicht, wenn der Bundesinnenminister zusammen mit seinem abgewählten französischen Kollegen über die Wiedereinführung von Kontrollen an den innereuropäischen Grenzen nachKerstin Griese denkt. Wir wollen ein offenes Europa und keine neuen Schlagbäume. ({12}) Wir wollen eine andere Flüchtlingspolitik; denn auch die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass keine Menschen mehr im Mittelmeer ertrinken und dass sich die Lage in den griechischen Flüchtlingslagern verbessert. Auch das gehört zu einem sozialen Europa. ({13}) Ein letzter Gedanke. Damit auch die arbeitslosen jungen Menschen in Griechenland, Spanien und Portugal eine Zukunftsperspektive erhalten, ist es sehr wichtig, etwas für sie zu tun; denn anderenfalls werden sie Europa infrage stellen, was eine Gefahr für unsere Demokratie sein wird. Sie werden nämlich fragen, ob Demokratie und soziale Marktwirtschaft die richtigen Antworten sind. Wir haben am vergangenen Sonntag gesehen, dass Rechtsextreme ins griechische Parlament eingezogen sind. Das sollte uns zu denken geben. Deshalb ist unser Einsatz für ein soziales Europa ein Einsatz für ein demokratisches Europa der Zukunft. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Detlef Seif für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Griese, wenn das keine Wahlkampfrede war! ({0}) Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, angesichts der Beschäftigungszahlen und der Arbeitslosenquote sowie der Einnahmen des Staates halte ich es für ein bisschen anmaßend, wenn Sie dieser erfolgreichen Bundesregierung vorwerfen, dass sie nichts täte. Wir sollten uns nicht gegenseitig vorwerfen, dass uns die Begeisterung für Europa fehlt. Wir alle sind begeistert. Wir haben nur andere Lösungsansätze und Konzepte. Das sollten wir respektieren. ({1}) Im März 2012 wurde der Fiskalpakt von den EU-Ländern bis auf Großbritannien und Tschechien angenommen. Er muss jetzt noch umgesetzt werden. Ich widerspreche ausdrücklich unserem Kollegen Jürgen Trittin, der erklärt hat, dass dieser Fiskalpakt kein Meilenstein sei. ({2}) Juristen wissen: In diesen Fiskalpakt wird die verbindliche Verpflichtung aufgenommen, eine Schuldenbremse verfassungsrechtlich zu implementieren. ({3}) Der Fiskalpakt beinhaltet Kontrollmechanismen, die automatisch dazu führen, dass eine Verletzung der Kriterien des Maastrichter Vertrages durch die Mitgliedstaaten Konsequenzen hat. Das ist ein Meilenstein, weil in den vergangenen Jahren Verletzungen nicht verfolgt wurden. ({4}) Herr Dr. Schmidt, natürlich gehören ESM und Fiskalpakt zusammen. Wer als Mitgliedstaat nicht bereit und in der Lage ist, haushaltspolitisch seinen Laden in Ordnung zu bringen, der kann nicht erwarten, im Falle einer wirtschaftlichen Schieflage von der europäischen Solidarität zu profitieren. Beides gehört zusammen. ({5}) Die Erklärungen des neuen französischen Präsidenten François Hollande haben hier viele Gedanken beflügelt, dass etwa über den Fiskalpakt neu verhandelt und ein Wachstums- und Beschäftigungspakt eingesetzt werden müsse. Der Kollege Jürgen Trittin sagt sogar: Wir müssen die Idee eines Schuldentilgungspaktes, den der Sachverständigenrat empfohlen hat, aufgreifen. ({6}) Die Kanzlerin hat nachvollziehbar erklärt, dass ein Schuldentilgungspakt in der Praxis nicht umsetzbar ist. ({7}) - Die Mitglieder des Sachverständigenrates haben Ahnung von Wirtschaft, aber ich bezweifle, dass Sie mehr Kenntnisse über Probleme bei der Implementierung politischer Institutionen haben als wir, die wir in der Politik praktisch unterwegs sind. ({8}) Einige haben in Anlehnung an Hollandes Äußerungen die Forderung erhoben, dass zunächst die Finanztransaktionsteuer eingeführt werden soll. Ich persönlich bin kein Freund dieser Steuer, aber meine Fraktion und auch die Kanzlerin setzen sich seit letztem Jahr mit Nachdruck dafür ein. ({9}) Wie Sie wissen, wurde der letzte Versuch, das EUweit zu implementieren, von neun Ländern gestartet. Dieser Versuch ist am Widerstand von zwei Ländern gescheitert. Auch der Versuch, das in der Euro-Zone umzusetzen, ist ebenfalls gescheitert. ({10}) Man kann über alles diskutieren, Herr Heil. Auch Ihren Ansatz eines Investitions- und Aufbaufonds halte ich für diskussionswürdig. Aber wir sind nicht in einem Universitätsseminar, in dem wir viel Zeit haben, sondern wir sind in der europäischen Praxis, und die Zeit drängt. ({11}) Ein großer deutscher Politiker und großer Europäer, Willy Brandt, hat gesagt: Mit den Europaverhandlungen ist es wie mit dem Liebesspiel der Elefanten: Alles spielt sich auf hoher Ebene ab, wirbelt viel Staub auf - und es dauert sehr lange, bis etwas dabei herauskommt. Meine Damen und Herren, die Europapolitik der letzten zwei Jahre hat diesen Spruch widerlegt angesichts der Geschwindigkeit von Entscheidungen und der Qualität in der Bearbeitung. Qualität erreicht man nicht, wenn man sozusagen aus der Hüfte schießt; man muss natürlich den Sachverhalt prüfen. ({12}) Wir stehen vor schwierigen Situationen und neuen Herausforderungen. Auch Sie wussten vor einem Jahr nicht, wie die weitere Entwicklung vonstattengeht. Es wurde jeweils angemessen, flexibel und vernünftig reagiert. ({13}) Ich halte es geradezu für unerträglich, wenn Herr Steinmeier sagt, dass diese Regierung und die Kanzlerin einen Stillstand herbeigeführt haben. ({14}) Es ist ein Verdienst der Bundeskanzlerin und des Finanzministers, dass die Verhandlungen auf europäischer Ebene in dieser Qualität und mit dieser Zügigkeit umgesetzt wurden. ({15}) Die Kanzlerin wird europaweit für ihre tolle Arbeit respektiert. Sie aber machen das Ganze mies. ({16}) Man darf den Bogen auch nicht überspannen, unabhängig von den Signalen, die an die Märkte gesendet werden. Wenn wir jetzt den Fiskalpakt noch einmal öffnen, dann werden alle Länder auf die Idee kommen, ihrerseits weitere Änderungen zu wünschen. Dann kommen wir zu gar nichts mehr. Deshalb appelliere ich an Sie, mit Nachdruck an der Sache zu arbeiten, aber den Fiskalpakt in der beschlossenen, das heißt in der vertraglich vereinbarten Form umzusetzen. Wenn es in einem Kommentar der Welt heißt, dass die Sozialdemokraten Hochverrat begehen könnten, wenn sie den Fiskalpakt blockieren, ({17}) dann halte ich diese Formulierung für sehr überspitzt und auch nicht für angemessen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege, für Ihren letzten Halbsatz möchte ich Ihnen jetzt schon einmal danken, vorausgesetzt, dass nicht noch ein Aber kommt. ({0}) Denn der Versuch auch von konservativen Journalisten, politische Wettbewerber im Deutschen Bundestag, hier die Sozialdemokraten, als vaterlandslose Gesellen oder Volksverräter zu bezeichnen, hat eine unselige Tradition in Deutschland. Ich will Ihnen für den weiteren Verlauf Ihrer Rede mitgeben, dass ich mich gestern an den Herausgeber der Welt, Herrn Schmid, gewendet habe, der sich für diesen Kommentar einer Mitarbeiterin dankenswerterweise entschuldigt hat. Meine Bitte ist, dass Sie mithelfen, dass dies auch in Ihrer Fraktion nicht weitergeht. Denn ein paar Kollegen in Ihrer Fraktion haben gestern den gleichen Unsinn erzählt. Ich könnte deren Namen nennen. Das vergiftet die politische Kultur. Bei allem legitimen Meinungsstreit über die Zukunft Europas sollten wir so etwas nicht machen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mithülfen, dass diese Vergiftung aufhört. Denn an der einen oder anderen Stelle brauchen wir auch Zusammenarbeit. ({1})

Detlef Seif (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004152, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Heil, ich verstehe das als ein Angebot von Ihrer Seite, zur Sacharbeit zurückzukehren. Wenn Sie mir genau zugehört hätten, wüssten Sie: Auch ich halte diese Äußerung in der Welt für maßlos überzogen. Die Wahl der Begrifflichkeit ist für mich nicht vertretbar. ({0}) Sie sind keine Hochverräter, und es ist auch kein Landesverrat. Aber man muss sich schon Gedanken machen: Handeln wir im Sinne von Europa und Deutschland, wenn wir jetzt diesen Fiskalpakt mit weiteren Voraussetzungen belegen, das Verfahren verzögern, ohne zu wissen, wie es endet? In diesem Sinne muss ich Ihnen sagen: Das ist kein Handeln für Europa, sondern gegen Europa. ({1}) Aber noch einmal zur Klarstellung: Die Formulierung, die gewählt wurde, ist eindeutig überspitzt. ({2}) Neben der Einhaltung der Haushaltsdisziplin sind natürlich Wachstumsimpulse erforderlich. Aber hier unterscheiden wir uns. Wir brauchen keine staatlichen Subventionen und keine Förderprogramme. Vielmehr muss das Wachstum aus Angebot und Nachfrage entstehen. Es muss ein unternehmensfreundliches Klima geschaffen werden. In Griechenland hat es nicht an billigem Geld gemangelt. Seit der Euro eingeführt wurde, waren die Zinsen noch nie so niedrig. Aber es ist nicht genutzt worden, weil die Strukturen für unternehmerische Entscheidungen und Investitionen nicht vorhanden waren. Tatsächlich hat man das Geld in den Konsum gesteckt. Weitestgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit, hat die vom Deutschen Horst Reichenbach geleitete Taskforce „Griechenland“ vieles erreicht. Kohäsionsmittel sollen natürlich zügig eingesetzt werden, um Wachstumsimpulse zu schaffen. 181 Großprojekte wurden in Angriff genommen. Finanzunterstützung für kleine und mittlere Unternehmen wurde bewilligt und technische Hilfestellung geleistet. Aber gerade Griechenland ist ein Beispiel dafür, dass die Strukturen in den vergangenen Jahren nicht stimmten. Die Bekämpfung der Bürokratie muss zu einer Verwaltungsvereinfachung führen. Wirtschafts- und Unternehmensförderung waren teilweise nur mit Bakschisch möglich. Die Korruption muss bekämpft werden. Eine gleichmäßige Steuererhebung und ein gleichmäßiger Steuereinzug waren nicht gegeben. Ich könnte in diesem Zusammenhang noch ellenlange Ausführungen machen. Man ist dabei, die genannten Probleme zu lösen. Das ist der richtige Ansatz. Wir müssen unsere griechischen Freunde und die anderen betroffenen Partnerländer nachhaltig und spürbar unterstützen. Wenn wir mittelfristig keine Änderungen herbeiführen - ich nenne als Stichwort nur die fatale Jugendarbeitslosigkeit -, dann droht nicht nur eine Staatsschuldenkrise, sondern auch eine Identitäts- und Demokratiekrise. Europa ist zu wichtig, als dass wir eine derartige Entwicklung tolerieren dürfen. Trotz aller Unterschiede - Herr Heil, obwohl Sie auf die gebotene Fairness in der Diskussion verwiesen haben, reden Sie immer dazwischen und waren in Ihrem Redebeitrag nicht immer fair - sollten wir sehen: Im Ergebnis arbeiten wir an der Erreichung desselben Ziels. Europa ist für uns alle eine Herzensangelegenheit, um die wir uns mit Begeisterung kümmern. Bleiben wir dran! Fassen wir mutige Beschlüsse, und lassen wir uns nicht von Wahlkämpfen in unseren Reden und in unserem Handeln beeinflussen! Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, da sich das als Vorurteil so zäh hält, will ich darauf hinweisen, dass nach § 27 unserer Geschäftsordnung nicht nur Zwischenfragen, sondern auch Zwischenbemerkungen möglich sind. ({0}) Damit das endlich alle lernen: Beides ist erlaubt. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9595. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von vier Fraktionen gegen die Stimmen der Linken abgelehnt. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 32 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Soziales Mietrecht erhalten und klimagerecht verbessern - Drucksache 17/9559 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Groß, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Soziale Wohnraumförderung durch Bund und Länder bis 2019 fortführen - Drucksache 17/9425 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({2}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Ingo Egloff für die SPD-Fraktion das Wort. ({4})

Ingo Egloff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine Debatte über die Frage des sozialen Mietrechts in diesem Hause zu führen, ist meines Erachtens überfällig. ({0}) Untersuchungen des Pestel-Instituts im Auftrag der Kampagne „Impulse für den Wohnungsbau“ haben ergeben, dass sich der Anteil der Haushalte mit einem Einkommen von weniger als 1 500 Euro im Monat von knapp 39 Prozent im Jahr 2002 auf 44 Prozent im Jahr 2010 erhöht hat. Das heißt aber auch, dass in den unteren Einkommensschichten der Anteil am Haushaltseinkommen, der für Miete und Nebenkosten ausgegeben wird, deutlich angestiegen ist, und das, obwohl die betreffenden Bevölkerungsschichten auf Wohnraumgröße verzichtet und kleinere Wohnungen in Anspruch genommen haben. Wir haben insbesondere in den wachsenden Ballungszentren wie Hamburg, Berlin, Köln, München, Stuttgart und Frankfurt - um nur einige zu nennen - ein erhebliches Problem, auf das reagiert werden muss. Man muss auch deswegen reagieren, weil in diesen Städten gleichzeitig ein Verdrängungswettbewerb im innerstädtischen Raum festzustellen ist. Dieser, auch mit dem Begriff Gentrifizierung bezeichnet, führt dazu, dass die angestammte Bevölkerung aus ihrem Wohnviertel vertrieben wird, weil die Mietkosten so stark explodieren. In der Folge werden auch kleine Handwerksbetriebe und Einzelhändler verdrängt. Wenn in attraktiven Stadtteilen bei jeder Neuvermietung ohne Rücksicht auf die soziale Situation unbegrenzte Mieterhöhungen vorgenommen werden können, steigt natürlich auch die ortsübliche Vergleichsmiete. Es wird eine Spirale in Gang gesetzt, die das Mietniveau in Höhen treibt, die wir nicht haben wollen, weil das einfach sozial unverträglich ist. ({1}) Diese Entwicklung in den Städten ist nicht gut, weil sie zur Spaltung der Städte und letztlich zur Spaltung der Gesellschaft führt. Hier die guten, attraktiven Stadtteile, dort die unattraktiven, auf die in aller Regel dann auch noch alle anderen Probleme der Städte abgeladen werden. Das verträgt eine Gesellschaft auf Dauer nicht. ({2}) Deshalb haben wir in unserem Antrag den Punkt der Begrenzung der Mieterhöhung aufgenommen: 15 Prozent in vier Jahren statt wie bisher 20 Prozent in drei Jahren. Bei Wiedervermietung wird die Erhöhung auf maximal 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete beschränkt. Gleichzeitig soll der Referenzzeitraum der zu berücksichtigenden Mieten auf zehn Jahre erhöht werden und unter Einbeziehung der Bestandsmieten das Mietniveau ermittelt werden. Das führt dazu, dass Mieterhöhungen, wie wir sie bisher feststellen können und die zu der sozialen Unverträglichkeit in den Stadtteilen geführt haben, nicht mehr in dem Maße stattfinden können. ({3}) Davon lesen wir im Referentenentwurf der Bundesregierung leider nichts. Unabhängig davon, dass wir immer noch auf den für Mai versprochenen Gesetzentwurf warten, haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, diese soziale Frage völlig ausgeblendet. Wer aber die Augen davor verschließt, dass wir hier ein soziales Problem allererster Ordnung haben, das gewaltigen Sprengstoff in den Städten birgt, der handelt fahrlässig. ({4}) Ich jedenfalls möchte keine Entwicklung wie in Paris erleben. Dort wurden systematisch Arbeiter, Angestellte und kleine Gewerbetreibende aus der Stadt gedrängt. Die sozialen Probleme kann man sich in der Banlieue anschauen. Das haben wir alles im Fernsehen gesehen. So etwas darf es in Deutschland nicht geben. Deswegen müssen wir handeln. ({5}) Kommen wir nun zum Referentenentwurf, der überall herumgeistert, inzwischen vielfach kommentiert wurde und hier im Plenum schon zu vier Debatten geführt hat, der aber bisher nicht in einen Gesetzentwurf mündete. Niemand in diesem Hause bestreitet die Notwendigkeit der energetischen Gebäudesanierung angesichts von 85 Prozent nicht saniertem Altbaubestand. Aber auch hier gilt: Wir dürfen die soziale Dimension nicht aus den Augen verlieren. Es darf am Ende nicht sein, dass die am schlechtesten Verdienenden in den am schlechtesten isolierten Häusern mit den höchsten Energiekosten sitzen. ({6}) Deshalb ist eine Reduzierung der bei der Modernisierung umzulegenden Beträge von 11 auf 9 Prozent moderat, aber auch zielführend. Wer hier wie die Wohnungswirtschaft den Untergang des christlichen Abendlandes beschwört, den Teufel an die Wand malt und das Ende jeglicher energetischer Sanierung voraussagt, verursacht Panik, die mit der Realität nichts zu tun hat. ({7}) Schauen Sie sich doch die Realität an! ({8}) Wenn der Gebäudeeigentümer eine Sanierung angeht, dann macht er das einmal, und zwar richtig. Das wissen wir aus den Gesprächen mit den Experten und den Wohnungsunternehmen. Dann werden nicht nur die Fassade und die Fenster saniert, sondern dann werden in der Regel auch die Sanitäreinrichtungen saniert und Umbauten zur Barrierefreiheit - Stichwort demografische Entwicklung - durchgeführt. Deshalb ist es gerechtfertigt, die Umlage zu strecken; denn die Kosten werden durch die energetische Gebäudesanierung noch mehr in die Höhe getrieben als durch die bisher erforderliche Sanierung. Deswegen müssen wir an dieser Stelle handeln. ({9}) Weil es so ist, dass energetische Gebäudesanierung, Modernisierung und Instandhaltung zusammenfallen, ist die Differenzierung bei der Mietminderung Unsinn. Das eröffnet höchstens neue Spielwiesen für Rechtsanwälte und ist in der Praxis schwer handhabbar. Im Übrigen ist das auch unserem auf Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung beruhenden Vertragsrecht wesensfremd. Wenn die vertragsgemäße Leistung von einer Seite nicht erbracht wird, ist nicht einzusehen, dass die andere Seite voll zahlen soll. ({10}) Dass nicht rückzahlbare Zuschüsse aus der Umlage herauszurechnen sind, versteht sich meines Erachtens von selbst; denn niemand soll doppelt kassieren. ({11}) - Die Mietminderung hat doch nichts mit den geringeren Heizkosten zu tun, Herr Kollege. Über diese Frage sollten Sie noch einmal nachdenken. ({12}) Zwar sieht der Regierungsentwurf richtigerweise beim Contracting Kostenneutralität für die Mieter aufgrund einer vergleichenden Betrachtung vor, da aber Contracting-Unternehmen mittelfristig Gewinn machen wollen, müssen Sicherungen für die Zukunft eingezogen werden, zumal die vorgeschlagene Regelung nur für die Umstellung der Bestandsverträge und nicht für die Folgeverträge gilt. Meine Damen und Herren, nun soll so nebenbei auch das vermeintliche Problem der Mietnomaden gelöst werden. Festzustellen ist, dass es sich um eine verschwindend geringe Zahl an Fällen handelt, obwohl die Boulevardpresse immer wieder gern darüber berichtet - am liebsten die BILD-Zeitung, wenn wieder irgendwelche adeligen Personen aufgefallen sind, wie wir das in Hamburg öfter feststellen können. Es sind jedoch Einzelfälle, und es handelt sich nicht um ein Phänomen, das die Wohnungsbaugesellschaften groß beeinträchtigt. Wenn Sie mit den Wohnungsbaugesellschaften reden, werden Sie feststellen, dass diese sagen, sie zögen über ihre Mieter Auskünfte ein, sie wüssten, an wen sie vermieten. Hier wird versucht, mit dem vermeintlichen Problem des Mietnomadentums Dinge in das Mietrecht hineinzubringen, die nicht gerechtfertigt sind. Die Kündigung wegen Nichtzahlung der Mietkaution ohne vorherige Abmahnung ist meines Erachtens weder dogmatisch vertretbar noch geboten. Hier kann aufgrund des § 543 Abs. 1 BGB gekündigt werden. Einer solchen Regelung, wie sie hier vorgesehen ist, bedarf es nicht. ({13}) Ein Räumungstitel wegen Mietverzuges im Wege einer einstweiligen Verfügung, ohne dass im Hauptsacheverfahren geprüft wurde, ob eine etwaige Mietkürzung vertretbar ist, ist eine Einschränkung der Mieterrechte, die überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Deshalb lehnen wir das auch ab. ({14}) Hier wird versucht, über die Lösung eines Problems, das nicht besteht, Mieterrechte in einer Art und Weise einzuschränken, die nicht gerechtfertigt und nicht zielgerichtet ist. Deshalb kann das im Gesetzentwurf unseres Erachtens so nicht stehen bleiben. ({15}) Insgesamt ist festzustellen: Sie von der Koalition springen mit Ihrem Entwurf zu kurz, Sie blenden die soziale Dimension aus. Sie haben keine Lösung für Fragen der sozialen Verdrängungsmechanismen in den Ballungszentren. Sie übersehen die soziale Dimension der Kostenbelastung bei der energetischen Gebäudesanierung, und Sie regeln Probleme, die keine sind, und dann auch noch so, dass die Mieter benachteiligt werden. Wenn Sie wirklich bestehende Probleme nicht angehen wollen, dann lassen Sie den Referentenentwurf da, wo er ist, im Ministerium. Da ist er ganz unten in einer Schublade gut aufgehoben, und da sollte er dann auch bleiben. Vielen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Herr Jan-Marco Luczak von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Egloff, Sie haben in Ihren Beitrag mit der Bemerkung eingeführt, die Debatte sei überfällig. ({0}) Ja, damit haben Sie ein Stück weit recht. Wenn man sich einmal die zeitlichen Abläufe genau anschaut, stellt man fest, dass genau vor einem Jahr, am 11. Mai 2011, das Justizministerium den ersten Referentenentwurf für das Mietrechtsänderungsgesetz vorgelegt hat. Seitdem ist dieser Entwurf bekannt, und seitdem wird er diskutiert. Auch wenn er noch einmal in Teilbereichen überarbeitet worden ist, ist er in seinem Kern und in seiner Ausrichtung gleich geblieben. Sie haben sage und schreibe ein ganzes Jahr gebraucht, um sich hierüber Ihre Meinung zu bilden. Dann musste es offensichtlich auch noch sehr schnell gehen; denn bis gestern Mittag war Ihr Antrag nicht einmal online verfügbar. Da fragt man sich schon: Wie kommt es eigentlich dazu? Die Antwort kann ich Ihnen geben, sie ist nämlich ganz einfach: Am Sonntag haben wir Wahlen in Nordrhein-Westfalen. ({1}) Würde es Ihnen tatsächlich um ein soziales und klimaschützendes Mietrecht gehen, wäre jeder andere Zeitpunkt glaubwürdiger gewesen. Aber heute, zwei Tage vor der Wahl, kann ich nur sagen: Herzlich willkommen im Wahlkampf! ({2}) Natürlich werden Sie diesen Vorwurf ganz vehement zurückweisen; das ist klar. Aber schauen Sie sich doch nur einmal die Wortwahl an, die Sie in Ihrem Antrag verwenden. Da sprechen Sie von einer „Explosion der Mieten“ und davon, dass hier ein „Angriff“ der Bundesregierung auf das bestehende Mietrecht stattfinde. ({3}) Wer solch eine Wortwahl in seinem Antrag wählt, der muss sich nicht wundern, wenn ihm vorgeworfen wird, dass es ihm nicht um Sachpolitik geht, sondern einfach nur um Wahlkampfgetöse. Damit diskreditieren Sie sich selbst, meine Damen und Herren von der SPD. ({4}) Man kann es aber auch an anderer Stelle sehen, dass es Ihnen hier um Wahlkampf und nicht um die Sache selbst geht. ({5}) Sie beschäftigen sich mit dem Referentenentwurf im Detail überhaupt nicht. Zum Beispiel ist im Referentenentwurf vorgesehen, dass der Mieter bei einer energetischen Sanierung in den ersten drei Monaten einer Maßnahme die Miete nicht mindern können soll. Einerseits wollen wir so vermehrt Anreize für energetische Modernisierung schaffen. Diese brauchen wir bei einer Sanierungsquote von 1 Prozent auch; sie muss steigen. Wir haben uns auf der anderen Seite ganz bewusst gegen übermäßige Belastungen für die Mieter entschieden. Deswegen haben wir auch gesagt: Einen vollständigen und zeitlich unbegrenzten Ausschluss des Minderungsrechts wird es mit uns nicht geben; denn das ist für die Mieter nicht zumutbar, und das vertragliche Gleichgewicht - Sie haben es angesprochen, Herr Kollege - wäre dann in der Tat gestört. Deswegen haben wir eine insgesamt sehr ausgewogene Regelung beim Minderungsrecht geschaffen. ({6}) Jetzt fragt sich nur: Was machen Sie daraus? Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass Mieter im Winter mehrere Monate ohne Heizung sein könnten, ohne das Recht auf Minderung zu haben, oder dass mehrere Maßnahmen aufeinanderfolgen und sich der Minderungsausschluss auf bis zu neun Monate verlängern könnte. Wenn dem so wäre, dann wäre das in der Tat problematisch. Nur, leider hat das mit unserem Gesetzentwurf und mit der Realität überhaupt nichts zu tun. ({7}) Denn wenn im Winter die Heizung ausfällt, dann geht es nicht mehr um die Minderung der Tauglichkeit einer Wohnung, sondern dann ist die Gebrauchstauglichkeit einer Wohnung komplett aufgehoben. Eine unbeheizte Wohnung ist im Winter schlechterdings nicht nutzbar, und dann muss der Mieter selbstverständlich auch keine Miete zahlen. Deswegen geht Ihr Argument an dieser Stelle von vornherein ins Leere. Was nun Ihre Befürchtung angeht, es könne hier zu Kettenminderungsausschlüssen kommen, wenn sozusagen eine Modernisierungsmaßnahme auf die andere folgt, muss ich mich schon ein bisschen wundern, Herr Egloff. Sie haben gerade gesagt: Wenn ein Vermieter so etwas macht, dann macht er es richtig. - Ja, da haben Sie recht. ({8}) Selbstverständlich wird er seine Modernisierungsmaßnahmen koordinieren. Es macht ja auch keinen Sinn, erst die Fassade zu dämmen und später dann die Fenster zu erneuern. Nein, er wird alles zusammen modernisieren; daran hat er auch ein wirtschaftliches Eigeninteresse. Bevor Sie so etwas schreiben, sollten Sie vielleicht mit uns darüber diskutieren. Da sollte man sich doch ein bisschen besser informieren. ({9}) Mit einem Wort: Ich finde, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, ist einfach falsch. Sie versuchen allein, den Mietern Angst zu machen, um sich daraus Vorteile für die Wahl am Sonntag zu verschaffen. ({10}) Ich finde das unredlich, meine Damen und Herren von der SPD. Aber Sie schreiben nicht nur Falsches in Ihrem Antrag, sondern Sie offenbaren auch - diesen Eindruck habe ich -, dass der wirtschaftliche Sachverstand, den man eigentlich erwarten sollte, an der einen oder anderen Stelle fehlt. Sie wollen - Sie haben das ausgeführt die Umlagefähigkeit der Kosten einer energetischen Modernisierung von derzeit 11 auf 9 Prozent reduzieren. Zur Wahrheit gehört aber, dass die 11 Prozent, die wir derzeit haben, vielerorts am Markt überhaupt nicht realiDr. Jan-Marco Luczak sierbar sind. Das mag in Berlin, München oder anderen begehrten Innenstadtlagen der Fall sein. In weiten Teilen der neuen Bundesländer zum Beispiel sind Vermieter hingegen froh, wenn sie ihre Wohnungen überhaupt vermieten können. Da ist an eine Erhöhung der Miete überhaupt nicht zu denken, auch nicht nach einer energetischen Sanierung. ({11}) Insofern ist das falsch, was Sie schreiben. Aber was hätte es zur Folge, wenn man Ihrem Antrag folgen würde? Wirtschaftlich stehen hinter der Errichtung und der Bewirtschaftung von Mietwohnraum erhebliche Investitionen und ein dauerhafter finanzieller Aufwand. Wenn Sie nun die Anreize für Vermieter senken, Modernisierungen vorzunehmen, weil sie die Kosten nur mehr eingeschränkt umlegen können, werden diese nicht mehr oder jedenfalls weniger investieren. Das aber gefährdet das, was wir brauchen, nämlich den Erhalt eines qualitativ hochwertigen Wohnungsbestandes, der energetisch saniert ist. Deswegen ist das ein völlig falscher Ansatz. Wir brauchen mehr Anreize für energetische Modernisierungen und nicht zusätzliche Stolpersteine, die wir den Vermietern in den Weg legen. ({12}) Außerdem - auch das gehört zur Wahrheit - ist es in der Regel so, dass ein Mieter unmittelbar davon profitiert, wenn eine energetische Modernisierungsmaßnahme vorgenommen wird, weil dadurch seine Betriebskosten sinken. Er hat also auch etwas von dieser Modernisierung. Meine Damen und Herren, noch ein Wort zum Klimaschutz. Auch das Contracting - Sie haben es angesprochen -, die gewerbliche Wärmelieferung, kann dazu in der Tat einen wichtigen Beitrag leisten. Wir haben in unserem Referentenentwurf vorgesehen, einen einheitlichen Rahmen für die Umlagefähigkeit zu schaffen, der auch auf die Bestandsverträge Anwendung finden kann. Dafür haben wir zwei wesentliche Voraussetzungen genannt: Auf der einen Seite muss eine Effizienzsteigerung dabei herauskommen, und auf der anderen Seite muss die Contracting-Lösung für den Mieter kostenneutral sein. Denn - das stand für uns von vornherein fest - Gewinne der Wärmelieferanten auf Kosten der Mieter darf es an dieser Stelle nicht geben. Das ist für uns ganz klar. Sie fordern in Ihrem Antrag eine Steigerung der Energieeffizienz und Wärmemietenneutralität. Das ist in unserem Gesetzentwurf schon längst enthalten. ({13}) Da fragt man sich doch, ob Sie unseren Entwurf nicht gelesen haben oder ob es sich, wie schon erwähnt, nur um Wahlkampfgetöse handelt. ({14}) Lassen Sie mich noch etwas zu den Mietnomaden sagen. Ich wundere mich, dass Sie in Ihrem Antrag schreiben, dieses Phänomen spiele für die professionelle Wohnungswirtschaft im Kern keine Rolle; die Vertragsmanagementsysteme seien einfach zu gut. Ich weiß nicht, ob es Ihnen entgangen ist: 60 Prozent der Mietwohnungen, die in unserem Land angeboten werden, werden nicht etwa von professionellen Wohnungsvermietern angeboten, sondern von privaten Kleinvermietern. Für diese spielt der Schutz vor Mietnomaden eine erhebliche Rolle. Wenn man einen Mietnomaden nämlich einmal in seiner Wohnung hat, dann hat man ganz schnell Schäden von 20 000 Euro, und das ist für einen privaten Kleinvermieter existenzbedrohend. ({15}) Für uns war ganz klar: Wir wollen einen besseren und wir wollen einen schnelleren Schutz gegen Mietnomaden. Schließlich kann es nicht sein, dass es einzelne kriminelle Mieter in der Hand haben, ihren Rauswurf um bis zu zwei Jahre zu verzögern. Das kommt mit uns nicht infrage; das machen wir nicht mit. ({16}) In diesem Zusammenhang spielt die Frage der Kaution eine wichtige Rolle. Wir wollen es dem Vermieter ermöglichen, schon relativ früh zu identifizieren, ob er es möglicherweise mit einem Mietnomaden zu tun hat. Es ist in der Tat so: Wenn man seine Kaution nicht rechtzeitig zahlt, dann kann das ein Indiz dafür sein, dass man es mit einem kriminellen Mieter zu tun hat. Dem Vermieter soll die Möglichkeit gegeben sein, sich von einem solchen Mieter sehr schnell zu trennen. Da sagen Sie: Das braucht man alles nicht. - Wahr ist: Das ist tatsächlich schon geltendes Recht. Man hat schon bisher die Möglichkeit, fristlos zu kündigen. Das ist in der Rechtsprechung ganz eindeutig. ({17}) Wir stellen das also nur klar. Ich möchte noch etwas zur Hinterlegungsanordnung sagen. Sie haben gesagt, man dürfe den Räumungsschutz für Mieter nicht über Gebühr verkürzen. Da haben Sie völlig recht. Wir haben mit der Hinterlegungsanordnung - sie wird vielleicht noch ein bisschen umgestaltet - ein kluges Instrument geschaffen. Nur wenn die Zahlungsklage des Vermieters eine hohe Aussicht auf Erfolg hat und eine umfassende Interessenabwägung ergeben hat, dass ein solches Vorgehen richtig ist, dann kann das Gericht eine Hinterlegungsanordnung erlassen. ({18}) Nur dann, wenn der Mieter dieser Hinterlegungsanordnung nicht nachkommt, wenn er also dokumentiert, dass es ihm ganz offensichtlich darauf ankommt, die Miete nicht zu zahlen, ermöglichen wir einen schnellen Rechtsschutz im Wege einer einstweiligen Verfügung. Ich glaube, das ist richtig. Wir dürfen die Vermieter hier nicht alleinlassen, also nicht schutzlos lassen. ({19}) Letzter Punkt; meine Zeit ist abgelaufen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ja.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die christlich-liberale Koalition hat anders als die SPD hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sehr ausgewogen ist. ({0}) Wir befördern die energetische Modernisierung, um dem gesamtgesellschaftlichen Ziel des Klimaschutzes Rechnung zu tragen. Wir berücksichtigen dabei die Interessen der Mieter, aber auch die der Vermieter.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege.

Dr. Jan Marco Luczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004100, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist also insgesamt ein ausgewogener Gesetzentwurf. Wir machen genau das Gegenteil von dem, was Sie machen, nämlich einseitig die Vermieter benachteiligen. Meine Damen und Herren, wir werden Ihrem Antrag selbstverständlich nicht zustimmen können. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heidrun Bluhm für die Fraktion Die Linke.

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Luczak, Sie haben hier eben sehr aufgeregt einen Gesetzentwurf verteidigt, den es gar nicht gibt. ({0}) Es ist in der Tat so, dass wir an dieser Stelle über einen Referentenentwurf diskutieren. Sie verteidigen etwas, was zunächst auf der Referentenebene zweimal verändert worden ist. Für Mai wurde die Vorlage dieses Gesetzentwurfs angekündigt. Jetzt ist Mitte Mai. Wir haben nur noch eine Sitzungswoche im Mai. Noch liegt dieser Gesetzentwurf nicht vor. Ich frage mich also: Bleiben Sie worttreu? Werden Sie im Mai liefern? Können wir dann die Rede, die Sie eben hier sehr eindrucksvoll gehalten haben, als Statement für Ihren Gesetzentwurf werten, oder können wir das nicht? ({1}) Der SPD Wahlkampfgetöse vorzuwerfen, das kann man machen; gar keine Frage. Man steht vor einer entscheidenden Landtagswahl. Das gilt aber für alle. Insofern ist es legitim, endlich über das Thema Mieten und über das Thema Wohnen hier in diesem Hause zu reden. Auf der anderen Seite möchte ich darauf hinweisen, dass wir dieses Thema hier vor einigen Wochen behandelt haben. Eine kleine Kritik an die SPD: Wir sind im Bundesrat initiativ geworden und haben dort einen Gesetzesantrag eingebracht, dem auch Sie nicht abgeneigt sind. Es hat also schon einmal die Chance bestanden. ({2}) - Ja, aber nur halbwegs, nicht wahr? ({3}) - Gut. Worum geht es eigentlich? Was sind die dringendsten Herausforderungen der Wohnungspolitik heute? Wir tragen gemeinsam Verantwortung dafür, dass ausreichend energetisch modernisierter, altersgerechter und barrierefreier Wohnraum überall zur Verfügung steht. Die Bauwirtschaft braucht auch eine gewisse Sicherheit, wenn sie sich auf diese Herausforderung einstellen soll. Wir sind gemeinsam für die Rahmenbedingungen verantwortlich, insbesondere dafür, dass alle Vermieter die Ziele auch erreichen können, die wir als Gesellschaft ihnen mit dem Mietrecht aufgeben und die sich durch die Herausforderungen für die Wohnungswirtschaft stellen. Sie brauchen also eine Verlässlichkeit, was Fördermittel betrifft. Wir müssen gemeinsam erreichen, dass alle Bürger ihre Wohnkosten auch bezahlen können. Das ist die zutiefst sozialpolitische Verantwortung, die wir in diesem Hause tragen. ({4}) Wir müssen gemeinsam nach Lösungen suchen, dass die Nettokaltmiete durch die Modernisierungsumlage nicht stärker steigt, als bei den Nebenkosten eingespart wird. Das ist ebenfalls die Verantwortung, die wir den Mieterinnen und Mietern gegenüber haben, wenn wir den vorgenannten Punkt ernst nehmen. Wir müssen gemeinsam gewährleisten, dass Wohnen ein Grundrecht für alle Menschen wird. Ich sage mit Absicht nicht „bleibt“, sondern sage „wird“. Wenn wir uns ansehen, wie sich die Wohnungslosenzahl entwickelt - wir haben in der vergangenen Sitzungswoche ein Expertengespräch dazu gehabt -, müssen wir davon ausgehen, dass diese Zahl noch weiter steigen wird. Für uns als Linke ist Wohnen ein Grundrecht, das wir für alle sichern müssen. ({5}) Vor diesem Hintergrund, der sicher Konsens wenigstens der Oppositionsfraktionen in diesem Hause ist, werde ich den Antrag der SPD „Soziales Mietrecht erhalten und klimagerecht verbessern“ bewerten. Was Sie dort fordern, klingt beim ersten Hinhören nicht schlecht. ({6}) Wir sind uns einig, dass wir ein soziales Mietrecht brauchen und dass die Klimaziele im Wohnbereich durchgesetzt werden müssen. Aber das, meine Damen und Herren von der SPD, werden Sie mit diesem Antrag nicht erreichen. Warum greifen Sie nicht einfach die Bundesratsinitiative auf, die wir Ihnen vor Wochen hier vorgelegt haben? ({7}) Den Entwurf hatte die SPD in Berlin gemeinsam mit der Linken im Bundesrat auf den Weg gebracht. Diesen Entwurf hat meine Fraktion vor Wochen hier vorgelegt; Sie hätten nur mitstimmen müssen. Warum jetzt also dieser Antrag, der in seinem politischen Anspruch und - das muss man leider sagen - in seiner handwerklichen Qualität weit hinter dem zurückbleibt, was Ihre Berliner Genossen schon vor zwei Jahren aufgeschrieben haben? Ein erstes Beispiel: die Mietsteigerung. Egal ob 20 Prozent in drei Jahren oder, wie Sie vorschlagen, 15 Prozent in vier Jahren - beides ist unsozial. Solche Preisexplosionen haben mit der realen wirtschaftlichen Entwicklung auf dem Mietmarkt überhaupt nichts zu tun. Sie sind auch von der tatsächlichen Einkommensentwicklung bei den Mieterinnen und Mietern völlig abgekoppelt und sprengen daher die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von immer mehr Mieterhaushalten; das Realeinkommen ist in den vergangenen Jahren gesunken, und die Mieten steigen. Das hat auch ursächlich nichts mit energetischen Sanierungsmaßnahmen zu tun; das ist ein reiner Marktmechanismus. Solche Steigerungen lassen sich nur dort durchsetzen, wo Wohnraum knapp ist - das ist hier schon gesagt worden; an anderer Stelle eben nicht -, und zwar unabhängig davon, ob eine Wohnung energetisch gebaut oder saniert ist. Eingeführt wurde die Regelung zu den Mietsteigerungen damals, um Miettreiberei zu verhindern. Heute wird sie zur Miettreiberei benutzt, ohne Gegenleistung durch den Vermieter, dort nämlich, wo der Markt es hergibt. ({8}) Ein zweites Beispiel: die Wohnkosten insgesamt. Sie steigen auch dort rasant, wo die Kaltmieten aufgrund ungenügender Nachfrage stabil oder auch rückläufig sind, und zwar durch explodierende Energie- und Wasserpreise, durch steigende Gebühren und Abgaben, mit denen Kommunen, die klamme Kassen haben, versuchen, ihre Haushalte zu stabilisieren. Ein Beispiel ist die Grundsteuererhöhung, die voll auf die Nebenkosten der Mieterinnen und Mieter durchschlägt. Ein weiteres Beispiel: energetische Sanierung. Klar, sie ist zwingend notwendig. Das ist nicht nur eine Frage des Klimaschutzes, sondern das ist angesichts der rasant steigenden Wohnkosten auch eine zutiefst soziale Frage. Da schlagen Sie in Ihrem Antrag vor - ich zitiere -, … eine Regelung vorzulegen, durch die den Kommunen in geeigneter Form ein Interventionsrecht gegen Maßnahmen zur Wohnwertsteigerung eingeräumt wird, um prekäre Mietsituationen in bestimmten Wohnbereichen zu vermeiden. Wollen Sie Wohnsiedlungen schaffen, in denen das Prekariat in unsanierten, energiefressenden Wohnungen, dafür aber zu niedrigen Kaltmieten wohnen muss, weil sich die Menschen nichts anderes leisten können oder die Arge nichts anderes finanziert? Das Problem ist also nicht in erster Linie die luxuriöse Wohnwertsteigerung, sondern schlicht - jetzt zitiere ich einmal eine andere Stelle aus Ihrem Antrag -: Die Verbesserung des Klimaschutzes als nationale Aufgabe darf nicht allein auf die betroffenen Mieter abgewälzt werden. Klar, da haben Sie recht. Leider sind Sie in Ihrem Antrag nicht konsequent und suchen nach scheinbaren Kompromissen, um die Modernisierungskosten etwas gerechter zu verteilen. Dazu schlagen Sie zum Beispiel eine Reduzierung der Umlage sämtlicher Kosten für Modernisierungsmaßnahmen von 11 auf 9 Prozent vor. Aber weder die 11 noch die 9 Prozent sind wirtschaftlich irgendwie gerechtfertigt. Wenn man die tatsächlichen Kosten der für die energetische Modernisierung notwendigen Maßnahmen zugrunde legt und den Amortisationszeitraum der Investitionsmaßnahme dagegenstellt, würde - das fordern wir - auch eine 5-prozentige Umlage ausreichen. ({9}) Der Mieterbund fordert sogar die Abschaffung dieser Umlage, und das nicht zu Unrecht. Denn erstens bleibt die höhere Miete auch nach Ablauf der Abschreibungsfrist erhalten, und zweitens wäre eine Rücknahme der Mietsteigerung nach einem zwangsläufig sehr langen Zeitraum nicht kontrolliert durchsetzbar. Eine solche Forderung klingt nett, aber sie ist weltfremd. Was aber bleibt, ist die Wirkung auf den Mietspiegel, weil von der Modernisierungsumlage die Nettokaltmieten betroffen sind und damit eine Mietsteigerung im Mietspiegel festgeschrieben wird. Schließlich fordern Sie mit Ihrem Antrag, nicht rückzahlbare Förderungen zur energetischen Modernisierung aus der Umlagefähigkeit herauszunehmen. Das unterstützen wir ausdrücklich, das ist selbstverständlich. Warum sollten Mieterinnen und Mieter noch einmal bezahlen, was sie zuvor als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler an den Staat abgegeben haben? Denn der hätte sonst die Möglichkeit, Fördermittel zur Verfügung zu stellen, nicht gehabt. Summa summarum: Dass die Politik angesichts steigender Mieten und Wohnkosten drohenden schwerwiegenden sozialen Verwerfungen vorbeugen muss, steht für mich außer Zweifel. Ebenso unzweifelhaft ist, dass der weltweite Klimawandel uns zwingt, die Energiewende auch im Gebäudebereich voranzutreiben. Für beides ist der Erhalt eines sozialen Mietrechts zwar nicht unbedingt der Schlüssel. Er ist aber notwendig, weil weder die sozialen noch die klimatischen Probleme in der Gesellschaft mit sozialem Unfrieden und der Vertiefung sozialer Gegensätze zu lösen sind. Das aber - darin stimmt die Linke mit der Intention dieses Antrags überein - würde mit der Verabschiedung des Referentenentwurfs zum Mietrechtsänderungsgesetz passieren, der immer noch nicht das Licht der Welt erblickt hat. Er ist nichts anderes als die Verschiebung der Lasten allein auf die Schultern der Mieterinnen und Mieter. Er sollte - hier stimme ich Ihnen zu, Herr Egloff - tatsächlich dort bleiben, wo er ist: in den Schubladen der Referenten. ({10}) Was den Erhalt des sozialen Mietrechts und seiner klimagerechten Verbesserung angeht, unterbreite ich einen Kompromissvorschlag: Lassen Sie uns doch zu dem Entwurf des Gesetzes zur Sicherung bezahlbarer Mieten und zur Begrenzung von Energiekosten und Energieverbrauch zurückkommen, der immer noch im Bundesrat schmort. Im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung - Sie haben es gerade gesagt - ist er zumindest nicht abgelehnt worden, sondern es wurde sich der Stimme enthalten. Im Rechtsausschuss haben Sie ihm sogar zugestimmt. Wenn ich die Signale aus der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen richtig interpretiere, könnten sich auch diese Kolleginnen und Kollegen eher damit anfreunden. Das wäre doch einmal etwas. Das wäre ein Kompromiss. Jetzt noch ein letzter Satz zu dem zweiten von Ihnen eingebrachten Antrag „Soziale Wohnraumförderung durch Bund und Länder bis 2019 fortführen“: Ja, das kann man machen. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sebastian Körber von der FDPFraktion.

Sebastian Körber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004078, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zwei Anträge, die wir vorliegen haben, sind mit sehr heißer Nadel gestrickt. Es sollte in diesen Anträgen noch einmal mit den Ängsten der Mieterinnen und Mieter, vielleicht sogar in Nordrhein-Westfalen - ich will hier nichts unterstellen -, gespielt werden und ein bisschen Wahlkampf gemacht werden. Ihr Antrag lautet: „Soziales Mietrecht erhalten und klimagerecht verbessern“. Das ist gut so. Die Koalition wird Ihnen dazu entsprechende Anträge vorlegen. ({0}) Wir sind hier auf einem sehr guten Weg. Wenn Sie von einem sozialen Mietrecht sprechen, so verschweigen Sie dezent, dass auch wir wollen, dass die Menschen in vernünftigen Wohnungen möglichst energieeffizient und barrierearm leben können. Wir zahlen in diesem Land Wohngeld. Das dürfen Sie nicht einfach verschweigen. ({1}) Als Sofortmaßnahme - damit wir bessere Gebäude in Deutschland haben - wäre es gar nicht so schlecht, wenn in Nordrhein-Westfalen die Oberblockiererin Hannelore Kraft abgewählt werden würde; denn sie verhindert die Zustimmung des Bundesrates. ({2}) Wir werden nicht müde, dies Ihnen immer wieder zu sagen. ({3}) Sie verhindern doch auf diese Weise, dass in diesem Land endlich Steueranreize für energetische Gebäudesanierungen möglich werden. ({4}) Ich kann Ihnen dazu noch etwas sagen: 75 Prozent der Wohnungen in Nordrhein-Westfalen gehören nicht den großen Wohnungsbaugesellschaften, sondern sind im Besitz von kleinen, privaten Vermietern. Diese Gruppe lassen Sie vollkommen aus. Voller Stolz erklären Sie, warum Sie den energetischen Abschreibungsmöglichkeiten im Bundesrat nicht zustimmen. Dabei gehen Sie in Nordrhein-Westfalen sogar noch weiter: Dort wurde ein eigenes Förderprogramm aufgelegt, für das 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden. Hierzu muss man feststellen: Die KfW Bank hat Anfang dieses Jahres das aus Eigenmitteln betriebene Programm „Wohnraum Modernisieren“ eingestellt. Denn der Bund hat aufgrund seiner ambitionierten Klimaschutzziele höhere Förderstandards als die KfW Bank festgelegt. Was machen Sie von der SPD und von den Grünen in Nordrhein-Westfalen? Sie führen ein neues Programm ein, mit dem Sie nur Mitnahmeeffekte fördern; denn das Programm fördert nicht die hohen Energieeffizienzstandards. Es ist wirklich ein Skandal, was Sie mit den Steuermitteln in Nordrhein-Westfalen anstellen. ({5}) Ich möchte der Justizministerin und Herrn Staatssekretär Stadler ausdrücklich für das danken, was im Mietrecht auf den Weg gebracht werden soll; denn diese Programme enthalten unbestritten einen hinreichenden Mieterschutz ({6}) Dies steht im Gegensatz zu Ihren Programmen von der SPD, Herr Pronold. Sie können gleich ausführen, wie Sie sich dazu verhalten. Sie produzieren ständig Zerrbilder in Bezug auf den sogenannten bösen Miethai. Wir hätten allerdings überhaupt kein ausgeglichenes Wohnungsangebot in diesem Land, wenn es nicht die vielen kleinen Vermieterinnen und Vermieter gäbe. Allein 61 Prozent der Wohnungen - das sind fast 14,5 Millionen - werden von nichtprofessionellen Vermietern gestellt. Ich finde es unsäglich, wenn Sie sagen, Mietnomaden seien gar kein Problem. Ich hätte von jemandem, der einmal wirtschaftspolitischer Sprecher in Hamburg war, etwas mehr Sachverstand erwartet; das muss ich an dieser Stelle klar sagen. Mietnomadentum kann für einen Vermieter ein existenzielles Problem bedeuten, wenn er beispielsweise ein Zweifamilienhaus besitzt und eine Wohnung vermietet. Solche Konstellationen sind für viele Menschen in diesem Lande ein Beitrag zur Altersvorsorge, auch in Nordrhein-Westfalen, nicht nur in Hamburg. ({7}) - Sie haben einen Ballon aufgeblasen. Ich kann es Ihnen gerne an Fakten aufzeigen. ({8}) Sie widersprechen sich sogar in Ihren Anträgen. Auf der einen Seite wollen Sie die derzeitige Umlagefähigkeit bei den Sanierungskosten von 11 Prozent auf 9 Prozent absenken. Auf der anderen Seite fordern Sie in Ihrem zweiten Antrag bezüglich der Wohnraumförderung mehr barrierefreie und energieeffiziente Wohnungen. Dann können Sie doch nicht gleichzeitig die Anreize herunterfahren. Das ist in Ihren Anträgen doch ein Widerspruch in sich. ({9}) Ihnen geht es nur darum, schnell etwas mit der heißen Nadel zu stricken und ein bisschen Wahlkampf zu betreiben. Dabei spielen Sie mit den Ängsten der Menschen. ({10}) - Das können Sie gleich alles erzählen, Herr Pronold. Hören Sie noch kurz zu; dann können Sie vielleicht noch etwas lernen. Zur Heizkostenersparnis. Es geht nicht um die Nettokaltmiete, sondern es geht darum, dass die Heizkosten reduziert werden. Die energetische Sanierung eines Gebäudes kann in einzelnen Schritten umgesetzt werden: Da werden die Fenster oder die Heizungsanlage ausgewechselt, eine Gebäudedämmung wird angebracht, das Dach wird neu isoliert. Dann reduzieren sich die Heizkosten. Wer profitiert davon? ({11}) Ist es der private Vermieter? Es sind die Mieter, die an dieser Stelle profitieren; denn bei denen reduzieren sich die Nebenkosten. Unterhalten Sie sich doch einmal mit einem Mieter; ich glaube, Sie haben davon keine Ahnung. ({12}) Ich möchte Ihnen zu Ihrem anderen Antrag auch noch etwas aufzeigen: Im Rahmen der Föderalismusreform haben wir eine neue Regelung getroffen; darüber verhandeln derzeit der Bund und die Länder. Es wird geprüft, wie man ein Gesamtpaket schnüren kann, um die Bindung hinsichtlich der Ausgleichszahlungen fortzuführen, die nur bis 2014 läuft. Insofern kann ich Ihnen an dieser Stelle zustimmen. Es gilt, die Aufgabenerfüllung bis 2019 oder darüber hinaus sicherzustellen. Ich bin zuversichtlich, dass das gelingen wird. Ansonsten finden sich in diesem Antrag lediglich Lippenbekenntnisse, die zu nichts führen werden. Auch hier habe ich Ihnen eine Zahl aus dem größten deutschen Bundesland herausgesucht: Ihr heutiger Antrag ist schon deshalb bemerkenswert, weil die rot-grüne Landesregierung 2011, gerade erst ins Amt gekommen, direkt die Wohnraumförderung um 20 Prozent gekürzt hat, obwohl in Ihrem Wahlprogramm noch eine Festschreibung auf 1 Milliarde Euro stand. So viel zur Glaubwürdigkeit der Sozialdemokraten. ({13}) Deshalb werden wir die Anträge, die Sie vorgelegt haben, kraftvoll ablehnen. Danke schön. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Daniela Wagner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Daniela Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004184, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Situation auf dem deutschen Wohnungsmarkt ist schnell umrissen - in vielen Punkten sind wir uns relativ einig -: Auf der einen Seite gibt es Probleme durch zunehmenden Leerstand, auf der anderen Seite gibt es absurde Preisentwicklungen in bestimmten Ballungsräumen, zum Beispiel im Rhein-Main-Gebiet, im Großraum München, im Großraum Stuttgart und in Teilen Berlins. Das sind die Probleme, auf die wir im Moment reagieren müssen. Es gibt zudem eine Zunahme der Zahl von Haushalten, die sich aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse nicht mehr mit Wohnungen über den freien Wohnungsmarkt versorgen können. Die entscheidenden Herausforderungen bilden die Energiewende und der demografische Wandel. Grundsätzlich ist festzuhalten: Die umfassende energetische Gebäudesanierung ist kein Selbstzweck, sondern sie ist angesichts der stetig steigenden Energiekosten notwendig, damit das Wohnen bezahlbar bleibt und der Klimawandel aufgehalten werden kann. ({0}) Aber auch für die Eigentümerinnen und Eigentümer sowie Vermieterinnen und Vermieter muss die Bereitstellung von Wohnraum finanzierbar bleiben. Deswegen müssen die mietrechtlichen Schrauben so gestellt werden, dass die energetische Gebäudesanierung einerseits befördert wird und auf der anderen Seite die Mieterinnen und Mieter vor Verdrängungseffekten geschützt werden. ({1}) Dabei darf das Mietrecht nicht isoliert betrachtet werden; denn es ist nicht seine primäre Aufgabe, die energetische Gebäudesanierung voranzutreiben, es darf ihr lediglich nicht im Weg stehen. Die energetische Gebäudesanierung muss in erster Linie durch entsprechende Förderprogramme und gegebenenfalls durch das Ordnungsrecht sichergestellt werden. Bei Förderprogrammen liegt die Betonung vor allen Dingen auf „verlässlich“. Es darf nicht sein, dass es jedes Jahr neue Wasserstandsmeldungen gibt, dass das, was man im Januar geplant hat, schon im September Makulatur sein kann, weil es keine Fördermittel mehr gibt. Verlässlichkeit heißt, dass der Bürger genau weiß, dass er auch noch in einem Jahr damit rechnen kann, dass die Zuschüsse zur energetischen Gebäudesanierung fließen. ({2}) Das Mietrecht ist lediglich dazu da, die unterschiedlichen und auf Mieterseite auch berechtigten Interessen auszugleichen. Der Antrag der SPD bezieht sich hauptsächlich auf den Referentenentwurf der Bundesregierung vom Oktober 2011, der wie in der Echternacher Springprozession seltsam vor- und zurückrückt, aber nie so richtig den Sprung in den Plenarsaal schafft. Vielleicht schaffen Sie es ja noch vor der nächsten Bundestagswahl, wenn nicht, lassen Sie es einfach bleiben. ({3}) Sie lehnen die Aufhebung des Mietminderungsrechts für drei Monate bei energetischen Sanierungen ab. Das sehen wir ähnlich, insbesondere auch auf der Grundlage der rechtspolitischen Unsicherheiten; denn das Recht auf Mietminderung stellt auf das Vorhandensein von bestimmten Eigenschaften des Wohnraums bei Vertragsabschluss und auf seinen Nutzwert ab und weniger auf die gute Motivation des Vermieters. Wir meinen, wenn der Nutzwert gemindert ist - aus welchen Gründen auch immer -, dann ist das Mietminderungsrecht das Instrument der Wahl, natürlich auch in den ersten drei Monaten. ({4}) Sie wollen, dass den Kommunen ein Interventionsrecht gegen Maßnahmen zur Wohnwertsteigerung eingeräumt wird, um prekäre Mietsituationen zu vermeiden. Ich nehme stark an, Sie meinen in diesem Zusammenhang Luxussanierungen und Gentrifizierungsprozesse. Allerdings unterlassen Sie es, die Instrumentarien zu benennen. Wir halten zwei Instrumente zur Begrenzung von Wieder- und Neuvertragsmieten für notwendig. Wir wollen im BauGB bei der Ausweisung von Sanierungsund Milieuschutzgebieten wieder Mietobergrenzen nach §§ 142 und 144 - Sanierungssatzung - und § 172 - Erhaltungssatzung - ermöglichen. Außerdem wollen wir im BGB die Landesregierungen ermächtigen, in Kommunen oder deren Teilgebieten Mietobergrenzen einzuführen, wenn in einem bestimmten Quartier ein Wohnraummangel vorherrschend ist. Ich denke, das sind geeignete Instrumente, um punktuell und situationsgerecht Abhilfe zu schaffen. ({5}) Sie wollen ebenso wie wir die Modernisierungsumlage nach § 559 BGB von 11 auf 9 Prozent absenken. Sie schlagen die Prüfung einer zeitlichen Begrenzung vor. Wir haben uns lange mit der zeitlichen Begrenzung befasst, sind aber zu dem Schluss gekommen, dass das in der Praxis sehr schwierig zu realisieren ist; denn Sie müssten die Miete theoretisch irgendwann wieder inflationsbereinigt absenken. Das könnte unter Umständen sehr kompliziert werden und an der Praxis scheitern. Der Gedanke ist natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen. Für uns ist entscheidend, dass die Mieterinnen und Mieter durch die Modernisierungsumlage eine Entlastung bzw. Wohnwertsteigerung erhalten und dass sie nicht zu unnötigen Luxusmodernisierungen führt. Deswegen wollen auch wir die Umlagemöglichkeit der Höhe nach begrenzen. Wir wollen sie darüber hinaus aber auch auf die energetische Sanierung und den altersgerechten Umbau begrenzen. Das ist aus unserer Sicht vordringlich. Das muss finanziert werden. Alles andere kann unterbleiben, weil es sich dabei schlicht und ergreifend um Luxusmodernisierungen handelt, die sich der Mieter leisten können muss. Solche Modernisierungen muss der Vermieter nicht vom Mieter erstattet bekommen. In Ihrem Antrag fehlt uns eine energiepolitische Weichenstellung. Sie haben zum Beispiel nicht gefordert, die energetische Gebäudebeschaffenheit im Rahmen der ortsüblichen Vergleichsmiete zu berücksichtigen, also so etwas wie einen ökologischen Mietspiegel. Das wäre aber richtig. ({6}) Es ist richtig, Zuschläge für einen hervorragenden Gebäudezustand vorzusehen. Bei einer schlechten energetischen Gebäudebeschaffenheit müssen auch Abschläge möglich sein oder gegebenenfalls beides in KombinaDaniela Wagner tion. Das wäre im Rahmen von Mietspiegel und ortsüblicher Vergleichsmiete ein richtiges Instrument, um dem Ziel näherzukommen. Es gibt inzwischen ein paar Städte, die einen ökologischen Mietspiegel haben. Das funktioniert. Die Kappungsgrenze wollen Sie von 20 auf 15 Prozent absenken. Das sehen wir auch so. Weiterhin wollen wir den Klimaschutz in die Interessenabwägung nach § 554 BGB aufnehmen. Zum Thema Contracting. Wenn es mehr als zwei Vertragspartner gibt, ist das nicht ganz unkompliziert. Deswegen sagen wir nur so viel: Die wirtschaftlichen Vorteile, die der Vermieter aus einem Vertrag mit dem Contractor zieht, sollten auch dem Mieter bzw. der Mieterin zugutekommen. ({7}) Zu Ihren Einlassungen zu Mietnormaden: Das sehen wir ähnlich. Zu den Einlassungen der Bundesregierung: Das halten wir für falsch. Wir sind der Meinung, dass wir nicht den Rechtsschutz aller Mieterinnen und Mieter wegen einer verschwindend geringen Anzahl von Fällen einschränken dürfen. Wir sind der Auffassung, dass das geltende Recht vollkommen ausreicht. Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort zur sozialen Wohnraumförderung, zu der Sie auch einen Antrag gestellt haben, sagen. Eingangs ist von anderen Rednern schon betont worden, dass der Anteil derjenigen, die sich auf dem freien Wohnungsmarkt aufgrund ihres Einkommens nicht mehr mit Wohnraum versorgen können, ständig wächst. Wir sind der Auffassung, dass es besorgniserregend wäre, wenn die Entflechtungsmittel ab 2013 auslaufen sollten und wir dann allein auf die Bemühungen der Länder angewiesen wären. Bis jetzt gibt es nur in sieben Bundesländern Wohnraumförderungsgesetze. Wir wissen nicht, was aus der Wohnraumförderung wird. Wir wissen aber, dass im Moment jährlich etwa 100 000 Wohnungen aus der Sozialbindung fallen. Deswegen muss dringend dafür Sorge getragen werden, dass die soziale Wohnraumförderung über 2013, am besten über 2019 hinaus verstetigt wird, damit nicht ein wachsender Anteil der Bevölkerung überhaupt keinen Wohnraum mehr findet. Wir halten es für ganz besonders wichtig, dass Anreize geschaffen werden, damit private Eigentümer in ihren Quartieren oder, wie man in Berlin so schön sagt, in ihren Kiezen sozialgebundenen Wohnraum durch Verkauf von Belegungsrechten an die Stadt oder an den Bezirk zur Verfügung stellen. Es erscheint uns als ganz besonders wichtig, dafür zu sorgen, dass in den schönen Kiezen nicht nur Oberstudienräte und Bundestagsabgeordnete wohnen und am Stadtrand in den Plattenbausiedlungen - meist in schlecht isolierten Wohnungen - diejenigen, die auf dem Wohnungsmarkt kaum mehr reüssieren können, die sich sogar schon bei mittleren Einkommen im Grunde genommen nicht mehr mit adäquatem Wohnraum versorgen können. Das war der Grund, warum einmal die vereinbarte Förderung erfunden worden ist. Die Krankenschwester ist zu reich für den sozialen Wohnungsbau, aber auch viel zu arm für den freien Wohnungsmarkt. Es ist ganz wichtig, dass eine soziale Mischung dadurch geschaffen wird, dass der Rückkauf von Belegungsbindungen attraktiv wird. Dazu brauchen wir den Fortbestand der Entflechtungsmittel über das Jahr 2019 hinaus. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gero Storjohann für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Gero Storjohann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003643, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Soziales Mietrecht erhalten und klimagerecht verbessern“ - jawohl. „Soziale Wohnraumförderung durch Bund und Länder bis 2019 fortführen“ - jawohl. Ich glaube, hier im Hause besteht eine große Einigkeit. ({0}) Hier wird der Eindruck vermittelt, dass etwas anderes geplant ist. Mit Ihren Anträgen möchten Sie - vergeblich - den Eindruck erwecken, dass kein Mietrechtsänderungsgesetz auf dem Weg ist. Über dieses gute Mietrechtsänderungsgesetz wird hier sehr kurzfristig wieder debattiert werden. ({1}) - Das wird der Präsident im Ältestenrat festlegen. ({2}) Unser gutes soziales Mietrecht werden wir als Koalition weiter verbessern. ({3}) Nach unserer Auffassung bestehen Regelungslücken. Diese werden wir schließen. ({4}) Der Wohnungs- und Immobilienmarkt in Deutschland ist stabil. Er war in den letzten Jahren ein stabilisierender Faktor der deutschen Konjunktur, und das auch in Zeiten der internationalen Wirtschaftskrise. Mit ihrem Antrag zur sozialen Wohnraumförderung schrammt die SPDFraktion an den Vorgaben des Grundgesetzes nicht nur zielgenau vorbei, sondern vermittelt auch noch einen falschen Eindruck. Die christlich-liberale Koalition ({5}) ist sich ihrer Verantwortung für die soziale Wohnraumförderung in Deutschland sehr wohl bewusst. Bekanntlich ist die Kompetenz für die soziale Wohnraumförderung durch die Föderalismusreform vom Bund auf die Länder übertragen worden. ({6}) Das, Herr Pronold, haben wir in der Großen Koalition sogar gemeinsam beschlossen. ({7}) Es wurde vereinbart, dass der Bund den Ländern hierfür jährlich bis 2013 über 500 Millionen Euro Kompensationsleistungen zahlt. ({8}) Derzeit verhandelt der Bund mit den Ländern über die Fortzahlung. Ab 2019 sollen die Zahlungen endgültig enden. Frau Wagner hat hier vorgeschlagen, diese Zahlungen über 2019 hinaus fortzuführen. Ich glaube, wir sollten uns an das halten, was wir gemeinsam vereinbart haben. Die CDU/CSU steht zu den Ergebnissen der Föderalismusreform ({9}) und den sie begleitenden Übergangsregelungen. Wir nehmen aber auch die Unterstützung sozial schwächerer Haushalte bei der Wohnraumversorgung sehr ernst. Wesentliche Maßnahmen sind hier das Wohngeld und die Wohnraumförderung; die Verantwortung hierfür liegt seit der Föderalismusreform allein bei den Ländern. Es ist Ausdruck des Sozialstaatsprinzips, dass der Staat den Menschen Unterstützung gewährt, die sich nicht aus eigener Kraft angemessen mit Wohnraum versorgen können. Wir wollen dafür sorgen, dass würdevolles Wohnen auch in Zukunft möglich ist. Die Gründe, aus denen Menschen soziale Wohnraumförderung in Anspruch nehmen, sind vielfältig: Das Haushaltseinkommen ist zu niedrig. Kinderreiche Haushalte benötigen besonders große Wohnungen. Menschen mit Behinderungen sind auf barrierefreie Wohnungen angewiesen. Diese besonderen Bedürfnisse werden durch den Markt mitunter noch nicht ausreichend bzw. nicht zu vertretbaren Preisen befriedigt. Sozial benachteiligte Menschen profitieren besonders von unseren Anstrengungen im Bereich der sozialen Wohnraumförderung. Ihnen werden auf diese Weise preiswerte Wohnungen zur Verfügung gestellt. Traditionell hatte der soziale Wohnungsbau das Ziel, Wohnungsmangel zu beheben. Der Fokus hat sich jetzt verständlicherweise verschoben. Die soziale Wohnraumförderung ist besonders geeignet, unsere Stadtentwicklung wesentlich mitzugestalten, vor allem in den benachteiligten Stadtvierteln. Die CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, dass Wohnraum bezahlbar bleibt. Sie setzt sich dafür ein, dass die energetische Sanierung des Wohnungsbestandes, auch des sozialen Wohnraumbestandes, erfolgen kann. Die Bundesregierung hat dafür Planungssicherheit geschaffen. In den nächsten Jahren werden 1,5 Milliarden Euro für die CO2-Gebäudesanierung zur Verfügung gestellt. Damit das Wohnen bezahlbar bleibt, sind auch ausgewogene Änderungen des bestehenden Mietrechts notwendig. In Kürze wird von uns ein Mietrechtsänderungsantrag vorgelegt. Ich gehe fest davon aus, noch im Mai. ({10}) - Der Mai ist ja immer der schönste Monat. Ich gehe davon aus, in diesem Mai. ({11}) - Sie haben ja sehr deutlich gemacht, Herr Egloff, dass Sie alle notwendigen Änderungen im Mietrecht ablehnen; das entnehme ich Ihrem vorliegenden Antrag. Die Koalition verfolgt zwei Ziele. Wir wollen den Mietbestand sanieren, um unsere Klimaschutzziele zu erreichen. Hierdurch gelingt es uns, die immer weiter steigenden Nebenkosten für die Energieversorgung für die Mieter zu begrenzen. Das ist unverzichtbar; denn Wohnraum muss bezahlbar bleiben. ({12}) Darüber hinaus soll durch Änderungen im Mietrecht Mietbetrügern das Handwerk gelegt werden. Ich habe das hier schon einmal ausgeführt: Mein Vermieter ist von einem Mietnomaden massiv betroffen, und das, obwohl er sich verhältnismäßig professionell verhält. Das heißt, er hat jedes Mal Titel für eine Räumung erwirkt, wenn nicht gezahlt wurde. Jedes Mal gab es ein Untermietverhältnis. Nachdem die Mehrfachuntervermietung innerhalb der Familie oder innerhalb des Bekanntenkreises nachgewiesen wurde, hat er versucht, den Porsche aus der Tiefgarage zu bekommen. Auch in der Tiefgarage wurde ein Untervermietungsverhältnis nachgewiesen. Und das alles im schönen Hamburg, Herr Egloff! Ich bin gerne bereit, mit Ihnen über diesen Fall zu sprechen, damit Sie wenigstens einmal erkennen, dass es hier ein Problem gibt, das mit der jetzigen Rechtslage nicht zu lösen ist - oder es liegt an der Richterschaft; ich weiß es nicht. ({13}) Die Frage ist doch: Will die SPD kriminelle Mieter zukünftig weiterhin schützen? Wir meinen, dies ist ein Thema, das wir anpacken müssen. ({14}) Die Fraktion der CDU/CSU wird das nicht tatenlos hinnehmen. Wir bleiben dabei, dass wir hier dringenden Handlungsbedarf sehen. Die SPD-Fraktion schreibt sich auch den Umweltschutz auf die Fahnen. Aber wenn es beim Mietrecht konkret wird, dann ducken Sie sich natürlich weg. Wir verfolgen das Ziel, den Wärmebedarf im Gebäudebereich bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent zu senken. Dafür brauchen wir ein Anreizsystem; denn das passiert nicht von alleine. Investitionshemmende Regelungen im Mietrecht müssen entschärft werden, damit die Vermieter überhaupt eine energetische Sanierung vornehmen. Wir streiten ja nur darüber, was letzten Endes hilft. Ich glaube, wir sollten generell dazu übergehen, solche Hemmnisse abzubauen. ({15}) - Selbstverständlich. Es gehört ja zur Sozialverträglichkeit, dafür zu sorgen, dass die Nebenkosten im Hinblick auf den Wärmebedarf geringer werden. Wir sind auf dem Weg, dies auszutarieren. Aber zu sagen, dass das nicht passieren soll, ist, glaube ich, keine Lösung. Ich denke, das wollen Sie im Ergebnis auch nicht. Also: Wir laden Sie ein, hier auf uns zuzugehen. ({16}) Dazu, dass die Umlage künftig maximal 9 Prozent statt 11 Prozent betragen soll, ist von meinen Kollegen schon einiges gesagt worden; das brauche ich nicht zu wiederholen. Wir als CDU/CSU möchten, dass das soziale Mietrecht - das ist ein eindeutiges Bekenntnis - erhalten bleibt. Die Inflationsrate lag in den Jahren 2007 bis 2010 bei 1,6 Prozent. Im gleichen Zeitraum stiegen die Mieten im Durchschnitt um 1,2 Prozent. Wir wissen, dass die Situation in Ballungsräumen eine andere ist als im ländlichen Bereich. Insofern, Frau Wagner, sind wir einer Meinung, dass es einen unterschiedlichen Markt gibt, mit dem wir unterschiedlich umgehen müssen. Die SPD-Anträge setzen nicht die richtigen Impulse, um das Mietrecht zu verbessern und ausgewogene Modernisierungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. Die CDU/CSU wird weiterhin dafür sorgen, dass eine Balance zwischen Mieterinteressen und Vermieterinteressen besteht und dass es in ganz Deutschland angemessene Wohnverhältnisse gibt. Ihre Anträge werden wir in den anstehenden Ausschussberatungen wohlwollend prüfen und dann wahrscheinlich verwerfen. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nur Florian Pronold für die SPD-Fraktion. ({0})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja gerade von Vorrednern mit den durchschnittlichen Mieterhöhungen in Deutschland argumentiert worden. Franz Josef Strauß hat einmal gesagt: Der Durchschnitt ist eine gefährliche Sache. Wer mit dem Hintern auf der heißen Herdplatte sitzt und mit dem Kopf in der Gefriertruhe steckt, der hat im Durchschnitt eine angenehme Körpertemperatur, aber besonders wohl fühlt er sich nicht. ({0}) So ist es auch mit der durchschnittlichen Mieterhöhung, die wir erleben. Ich frage Sie, ob Sie mit Menschen in Berlin und München nicht reden und ob Sie die Zeitung nicht lesen. Die Abendzeitung in München titelte gestern zu dieser Problematik, weil das in München ein ganz existenzielles Problem ist und weil wir in Metropolregionen eine solche Verknappung von Wohnraum erleben, dass sich dort auch exorbitante Mietsteigerungen durchsetzen lassen, ({1}) die tatsächlich dazu führen, dass Menschen mit geringem Einkommen ihre Heimat verlieren. Dagegen wollen wir uns wehren. ({2}) Herr Körber, reden wir doch einmal nicht abstrakt darüber, was eine Modernisierungsumlage von 11 Prozent oder auch 9 Prozent bedeutet, sondern schauen wir uns doch einmal ganz konkret an, was das in solchen Ballungsräumen für die Mieterinnen und Mieter heißt. Was heißt das für die Krankenschwester, für den Polizeibeamten oder für die Verkäuferin, die wir doch nicht alle 50 Kilometer außerhalb der Stadt wohnen haben wollen, von wo aus sie zu ihrem Arbeitsplatz in der Stadt fahren müssen, sondern die in der Lage sein sollen, in der Stadt bleiben zu können? Nehmen wir einmal an, eine Wohnung wird für 50 000 Euro energetisch saniert. Nach der geltenden Rechtslage bedeutet das, dass 5 500 Euro im Jahr auf den Mieter umgelegt werden können. Das wären gut 458 Euro im Monat. Wenn Sie jetzt sagen, dass 50 000 Euro ein bisschen viel sind, ({3}) dann nehmen wir 25 000 Euro pro Wohnung; das ist auch in Ordnung. Dann sind wir bei 2 750 Euro im Jahr und immer noch bei fast 230 Euro im Monat. ({4}) Bei einer kleinen Maßnahme, die nur 12 500 Euro kostet, sind wir immer noch bei einem Nettomonatsgehalt, das ein Mieter im Jahr für diese energetische Sanierung aufbringen muss. Ich finde, jetzt muss man gegenrechnen. Welche Einsparung gibt es hier denn? Wir wehren uns doch nicht dagegen, dass energetisch saniert wird, aber wir wollen, dass Lasten und Nutzen gerecht verteilt werden. ({5}) Sie schlagen aber keine gerechte Verteilung vor. Wir sind auch dafür, dass der Staat entsprechend fördert, zum Beispiel über die KfW oder durch andere Maßnahmen. Wir wollen aber nicht, dass das, was schon aus Steuergeldern finanziert wird und dem Eigentümer zugutekommt, teilweise zusätzlich auf den Mieter umgelegt werden kann. Das ist doch nicht gerecht. Davon muss etwas abgezogen werden können. ({6}) Die nächste Frage ist, in welchem Umfang man das umlegen kann. Weil die Mieterinnen und Mieter auch von der energetischen Sanierung profitieren, sind wir ja dafür, dass hier etwas umgelegt werden kann; das ist doch überhaupt keine Frage. ({7}) Es muss aber vernünftig sein und den unterschiedlichen Interessen sozial ausgewogen gerecht werden. Deswegen schlagen wir die Reduzierung der Umlage vor, weil das ansonsten für einen normalen Menschen in der Innenstadt in einer Metropolregion nicht zu bezahlen ist. Das ist doch der Grund! ({8}) Sie spotten ja darüber, dass wir hier sagen: Sie schüren die Ängste der Mieter. Wenn ich mir nur diese nackten Zahlen hier anschaue - und das ist auf Vermietermärkten kein unrealistisches Szenario -, dann stellt sich mir die Frage, ob dort überhaupt noch Menschen wohnen können. Die Anzahl der Haushalte in Deutschland, die mehr als 40 Prozent ihres Nettoeinkommens für das Wohnen ausgeben, hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Das heißt, in Metropolregionen stellt sich eine neue soziale Frage. Hierauf müssen wir eine Antwort geben. ({9}) Zur Frage der gerechten Verteilung von Lasten und Nutzen gehört übrigens auch: Wie lange ist denn diese Modernisierungsumlage zu zahlen? Das, was jetzt geltende Rechtslage ist, heißt: Die Kosten können mit bis zu 11 Prozent auf die Miete umgelegt werden. Das bedeutet, um in dem Beispiel von vorhin zu bleiben - wir nehmen jetzt den geringsten Betrag -: Jeden Monat werden von dem Mieter 120 Euro an Modernisierungsumlage bezahlt. Nach neun Jahren ist damit die gesamte Maßnahme finanziert. Aber der Mieter zahlt auch im zehnten, im elften und zwölften Jahr jeden Monat weiter die Modernisierungsumlage. Das hat nichts mit einer gerechten Lastenverteilung zu tun. ({10}) Ich verstehe Folgendes nicht: Warum wehren Sie sich gegen eine gerechte Lastenverteilung? ({11}) - Ja, ich habe kein Problem damit, dass wir ein Modell entwickeln, mit dem man dafür sorgt, dass Kosten und Nutzen zwischen Vermieter, Mieter und öffentlicher Hand aus dem gemeinsamen Interesse heraus, die Zahl der energetischen Sanierungen zu erhöhen, im Sinne eines vernünftigen Mieterschutzes und der Bezahlbarkeit des Wohnens vernünftig untereinander aufgeteilt werden. Niemand hat etwas dagegen. Aber Sie verfolgen mit Ihrem Referentenentwurf beim Mietrecht genau das entgegengesetzte Ziel: Sie wollen die Rechtslage zulasten der Mieterinnen und Mieter verändern. Es ist vorhin schon ausgeführt worden: Warum soll denn, wenn eine Gegenleistung nicht erbracht wird, kein Recht auf Mietminderung bestehen? Das hat sich in der ganzen Geschichte des sozialen Mietrechts in Deutschland bewährt. Wenn wir immer vom Idealfall ausgingen, bräuchten wir keine Gesetze zu machen. Ich glaube, dass in 90 Prozent der Fälle alles wunderbar funktioniert. Allerdings werden es beim Bau wohl doch nicht 90 Prozent der Fälle sein. Sie sind Architekt und müssen das wissen. Aber was ist denn, wenn Mieterinnen und Mieter - das muss noch nicht einmal unmittelbar der Vermieter verschulden - auf einmal tatsächlich in einer fast nicht mehr bewohnbaren Wohnung leben? Was ist, wenn zwei oder drei Sanierungsmaßnahmen in zeitlich geringem Abstand aufeinanderfolgen? Verdreifachen sich dann die Duldungspflichten? Auf diese spannenden Fragen müssen Sie eine Antwort geben. Bisher haben Sie uns vorgeworfen, dass wir die Anträge so kurzfristig vorgelegt haben, aber selber haben Sie Ihre Rede damit eingeleitet, dass seit einem Jahr ein Referentenentwurf vorliegt. Das ist schön. Also eine Dauer von einem Jahr ist schon sehr ambitioniert. Aber gerade war es noch nicht sicher, ob der Gesetzentwurf in diesem Mai oder erst im nächsten Mai vorgelegt wird. Legen Sie einen Entwurf vor! Aber bei den darin enthaltenen Ansätzen lassen Sie ihn lieber in der Schublade liegen! ({12}) In den Metropolregionen gibt es eine Zunahme der sozialen Spaltung aufgrund der Bezahlbarkeit von Wohnen. Deswegen ist auch kritisch auf den Prüfstand zu stellen, was in der Föderalismuskommission gemeinsam vereinbart worden ist. Wir reden jetzt darüber: Was passiert in dem Zeitraum 2013 bis 2019? ({13}) - 2013 muss es eine Entscheidung geben. In den Jahren 2014 bis 2019 wird dann aller Wahrscheinlichkeit nach die Fördersumme immer weiter gekürzt. Wir stellen fest, dass es in den Metropolregionen zunehmend Probleme gibt, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deswegen ist die Frage, wie Bund und Land gemeinsam auf diese Fragestellung reagieren. Was mich stört, ist, dass derjenige, der eigentlich dafür zuständig ist, ein bisschen Etikettenschwindel betreibt, weil im Titel seines Ministeriums immer noch das Wort „Bau“ enthalten ist. Ich meine den Verkehrs- und Bauminister, Peter Ramsauer, der bei dieser Debatte wieder einmal nicht da ist. ({14}) Immer, wenn es um Fragen des Bauens geht, ist der Herr Ramsauer ein Totalausfall. Dafür interessiert er sich nicht. Er ist gegangen, bevor diese Debatte begonnen hat. ({15}) So war das. Ich finde, es ist ungehörig gegenüber diesem Hause, dass der zuständige Minister dann, wenn wir über die Zukunft der sozialen Wohnraumförderung reden, durch Abwesenheit glänzt. ({16}) Das ist natürlich für die Debatte angesichts dessen, was er bisher gesagt hat - das gebe ich zu -, nicht schädlich. Aber trotzdem wäre es nicht schlecht, wenn er da wäre. Ich finde, wir müssen uns im parlamentarischen Verfahren bemühen, aus vielen guten Anträgen, die es auch von der Linken und den Grünen gibt, die Ideen zusammenzubringen, die darauf setzen, dass wir in der energetischen Sanierung einen ordentlichen Fortschritt machen, die aber auch auf bezahlbares Wohnen setzen und die darauf setzen, dass das soziale Mietrecht erhalten bleibt und dass wir nicht einseitig zulasten der Mieterinnen und Mieter die Gesetzeslage verändern. Jeder von uns kann doch nachvollziehen, was es bedeutet, wenn ein Vermieter von Mietnomaden in eine dramatische Situation gebracht worden ist. Es gibt doch niemanden, der das nicht ernst nimmt. Aber Sie können nicht, um so einen Einzelfall zu verhindern, alle Mieterinnen und Mieter in Geiselhaft nehmen und Rechtsverschlechterungen für sie hinnehmen. Das geht nicht. Dagegen wehren wir uns.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bluhm?

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Pronold, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie eben eine Einladung an die Linke und die Grünen ausgesprochen haben, gemeinsam an den vorliegenden Anträgen zu arbeiten, um Mieterschutz und Klimaschutz hinzubekommen? Wenn das so wäre, dann würden wir uns sehr darüber freuen und unsere Bereitschaft dazu erklären. ({0})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin ein sehr netter, freundlicher und höflicher Mensch, und ich habe an das ganze Haus die Einladung ausgesprochen, gemeinsam an diesem Problem zu arbeiten und die guten Ansätze, die bei Ihnen, den Grünen und uns vorhanden sind, die ich aber bei Schwarz-Gelb vermisse, mit einer Mehrheit in diesem Hause zu verabschieden. ({0}) Ich werde aber insbesondere daran arbeiten, dass wir bald wieder gestaltungsfähig sind und mit anderen Mehrheiten vernünftige Gesetze machen können. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, das Thema soziales Mietrecht und bezahlbares Wohnen wird in den nächsten Jahren in den Monopolregionen stark an Bedeutung gewinnen. Ich glaube, wir sind gut beraten, uns dieses Themas anzunehmen, und zwar ohne ideologische Scheuklappen genau hinzuschauen und die verschiedenen Interessen vernünftig abzuwägen, aber auch dafür zu sorgen, dass das, was in Ihrem Referentenentwurf enthalten ist, nicht zur Realität wird. Ihr Referentenentwurf sieht vor, dass Mieter zu Melkkühen werden. Das wollen wir nicht. Wir wollen einen gerechten und sozialen Ausgleich, und wir wollen für die, die zu einem geringen Einkommen arbeiten, bezahlbares Wohnen in den Metropolregionen sichern. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Fraktion. ({0})

Stephan Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004175, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! Herr Kollege Pronold, einmal wollen Sie, dass die Regierung den Referentenentwurf als Gesetzentwurf vorlegt; einmal wollen Sie, dass er in der Schublade verbleibt. Was denn nun? ({0}) Aber wie auch immer: Es gibt einen Referentenentwurf, wie Sie wissen. Der normale Gang der Dinge ist, dass der Referentenentwurf jetzt an Länder und Verbände zur Stellungnahme verschickt wird, und dann warten wir als Parlament das Verfahren ab. Am 23. Mai wird der Referentenentwurf im Kabinett beraten und beschlossen. Dann werden wir als Parlament die Chance haben, den Gesetzentwurf der Regierung zu beraten, nachdem die Regierung die Stellungnahmen der Verbände und Länder in den Referentenentwurf eingearbeitet hat. Das ist der normale Gang der Dinge. Was machen Sie nun daraus? Mitten in diesem Verfahren, in dem wir zunächst abwarten sollten, was letzten Endes Beratungsgrundlage des Parlaments sein wird, bringen Sie den vorliegenden Antrag ein, in dem Sie den Referentenentwurf diskutieren. Damit machen Sie sozusagen den Zwischenstand zum Gegenstand der Beratungen, bevor wir genau wissen, was in dem Gesetzentwurf enthalten sein wird. Das wird der Wahl am Sonntag geschuldet sein. Wahlkampfzeiten haben ihre eigene Logik und Gesetzmäßigkeit. ({1}) Hier blitzt durch jedes Knopfloch durch, dass eigentlich Wahlkampf betrieben werden soll. Richten wir aber den Blick auf Ihre Vorstellungen. Nach Vorstellung der SPD ist das Mietrecht offenbar ein Mieterrecht bzw. alleiniges Recht des Mieters. Mietrecht ist aber ein Recht der Vermieter und Mieter. Beide sind Vertragsparteien, und beide müssen ein ausgewogenes Recht vorfinden, in dem sie sich wiederfinden können. ({2}) Denn der Vermieter investiert in den Mietwohnraum. Er finanziert sozusagen vor. Nun wollen wir erreichen, dass möglichst viele Eigentümer bzw. Vermieter in Deutschland energetisch sanieren. In dieser Hinsicht sind die Vorschläge, die Sie, meine Damen und Herren von der SPD, unterbreiten, nichts anderes als Sanierungsverhinderungsprogramme. Genau das wollen wir nicht haben. ({3}) Sanierungskosten sind nachträgliche Anschaffungskosten und fließen in den Wert des Objekts ein. Sie bestimmen am Ende auch die Miethöhe. Deswegen ist es vollkommen logisch, dass die Umlage der Modernisierungsinvestitionen, die der Vermieter tätigt, auch nach Ablauf des Umlagezeitraums den Wert des Objekts und damit die endgültige Miethöhe mitbestimmt. Wenn der Eigentümer das Objekt verkaufen würde, hätte die Modernisierung Einfluss auf den Wert und würde damit den Verkaufspreis bestimmen. Der Käufer würde diesen Wert ebenfalls in die Miete einfließen lassen. Deswegen ist es völlig logisch, dass dieser Wert erhalten bleibt. Die Duldungspflichten des Mieters werden von Ihnen angegriffen. Das ist nun einmal ein Teil des Anreizprogramms. Wir wollen erreichen, dass der Mieter eine energetische Sanierung nicht verhindern kann. Wir wollen, dass die Baumaßnahmen zur energetischen Sanierung nicht als Belastungen empfunden werden. Der Vermieter muss die Baumaßnahme als solche erklären und erklären, dass es sich dabei um eine energetische Sanierungsmaßnahme handelt. Der Mieter hat die Möglichkeit, zu prüfen, ob die Modernisierung tatsächlich der energetischen Verbesserung des Gebäudes dient ({4}) oder ob es sich um Maßnahmen handelt, die mit einer energetischen Sanierung, zum Beispiel wenn es um Barrierefreiheit oder die Sanierung des Badezimmers geht, nichts zu tun haben. Das ist für uns ein Element der sozialen Ausgewogenheit. Der Vermieter soll nicht mogeln und muss darlegen, dass es sich um eine energetische Sanierung des Objekts handelt. Daran führt kein Weg vorbei. ({5}) Wir wollen, dass das Energiesparpotenzial nach ausgewogenen Spielregeln ausgeschöpft wird, die beiden Seiten zugutekommen. Auch der Mieter, der in einem energetisch sanierten Objekt wohnt, hat etwas davon; denn er spart Heizkosten. Das Erreichen dieses Ziels wollen wir nicht erschweren. ({6}) Sie haben das Thema Mietminderung schon angesprochen. Wir wollen das Recht auf Mietminderung das könnte ein Verhinderungsgrund bzw. eine Anreizhemmung bei der energetischen Sanierung sein - abschwächen. Deswegen wollen wir bei energetischen Gebäudesanierungen die Möglichkeit, die Miete zu mindern, für drei Monate nicht zulassen. Aber auch hier behalten wir die soziale Ausgewogenheit im Blick. Wenn eine energetische Sanierungsmaßnahme länger als drei Monate andauert, dann hat der Mieter wieder die Möglichkeit zur Mietminderung. Wenn beispielsweise den ganzen Sommer über die Fenster verhängt sind, hat der Mieter nach drei Monaten das Recht, die Miete zu mindern. Daran können Sie erkennen, dass wir die Interessen des Mieters sehr wohl im Blick haben. Die rasant steigenden Mieten sind schon angesprochen worden. Ich bin der Meinung, dass Sie hier ein Zerrbild gemalt haben. Natürlich gibt es Innenstädte, in denen die Mieten steigen und sehr hoch sind. Aber nicht alle Münchner können in Schwabing und nicht alle Berliner in Charlottenburg wohnen. Deswegen gibt es ein ausgereiftes ÖPNV-System in Ballungsräumen und großen Städten. In meinen Augen spucken Sie nur Wahlkampftöne. Was Sie vorhaben, ist unausgewogen. ({7}) - Das mag in Hamburg so sein. Das gibt es auch in München und Berlin, wie gesagt. Es gibt aber Gegenbeispiele, Gegenden, in denen die Vermieter mit Leerstand, Mietausfällen und Mietrückgängen zu rechnen haben. Das Thema Einmietbetrug wurde ebenfalls bereits angesprochen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die SPD den Einmietbetrug - das ist der Rechtsbegriff für Mietnomadentum - privilegieren will. Auch der Mieterbund will das nicht wirklich und ist sich darüber im Klaren, dass Einmietbetrug nicht schützenswert ist. Es ist richtig, dass wir etwas gegen das Mietnomadentum unternehmen. Der Rechtsweg wird übrigens nicht beschnitten. Wir haben bei der Nachbesserung sehr genau auf die Ausgewogenheit geachtet. Es wird nicht nur eine Hinterlegungsanordnung, sondern eine Sicherungsanordnung getroffen, die vom Gericht bestätigt werden muss. Das Gericht muss die Erfolgsaussichten prüfen und die Interessen von Mieter und Vermieter gegeneinander abwägen. Es wird eine Beschwerdemöglichkeit geben. Wir haben hier durchaus filigran gearbeitet und das Wohl der Mieter im Blick gehabt. Fazit: Wir wollen ein sozial ausgewogenes Mietrecht beibehalten, wir wollen aber auch die Anreize für energetische Sanierung erhöhen. Wir behalten also beide Seiten im Blick. Wir wollen keinen Wahlkampf betreiben, sondern ein sozial ausgewogenes, aber energetisch ambitioniertes Mietrecht schaffen. Das ist unser Anliegen. Dazu werden Sie noch in diesem Monat einen Gesetzentwurf erhalten. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stefanie Vogelsang für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, herzlichen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir debattieren heute über zwei Anträge, die von der SPDFraktion vorgelegt worden sind. Über den Antrag zum Mietrecht haben wir jetzt sehr lange und ausführlich diskutiert. Deswegen möchte ich dazu nur noch zwei kurze Bemerkungen machen. Herr Egloff, Frau Bluhm, Sie haben übereinstimmend den Antrag des Berliner rot-roten Senats gelobt und gesagt, dass er richtig und wegweisend für den Schutz von Mieterinnen und Mietern in den Bereichen von Ballungsräumen sei, in denen Gentrifizierung, also die Verdrängung von nicht ganz so reichen Mietern, stattfinde. Ich habe Ihre Berliner Politik in den letzten Jahren sehr intensiv verfolgt. Herr Kollege Liebich und ich, wir haben uns schon oft darüber gestritten. Wer erst 5 000 Wohnungen in einem sozialen Brennpunkt geschlossen an Hedgefonds verkauft, der kann nicht zwei Jahre später ernsthaft und glaubwürdig hier einen solchen Antrag vorlegen. ({0}) Zwischen Reden und Handeln besteht bei Ihnen einfach ein riesiger Widerspruch.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich?

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, aber nicht wieder die alte Diskussion, Herr Liebich. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Anschließend will auch Kollege Pronold eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Frau Kollegin Vogelsang, Sie haben es gesagt, wir haben uns darüber schon häufiger gestritten. Aber da Sie immer wieder, ohne auf den Zusammenhang hinzuweisen, dieselbe Behauptung erheben, möchte ich die Möglichkeit einer Zwischenbemerkung nutzen und noch einmal Folgendes klarstellen: Der Verkauf der Berliner Wohnungsbaugesellschaft GSW ist vollkommen zu Recht als ein Fehler zu bezeichnen. Das stimmt. Ich möchte aber zugleich daran erinnern, dass es eine Koalition von CDU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gewesen ist, die den damaligen Haushalt der rot-roten Koalition vor das Berliner Verfassungsgericht gezerrt hat, obwohl in diesem Haushalt bereits massive Einsparungen, die unter heftigen Auseinandersetzungen in der Stadt durchgesetzt wurden, vorgesehen waren. Sie haben damals gesagt, dass dieser Senat zu wenig gespart habe. Sie, die CDU, die FDP und Bündnis 90/Die Grünen, haben die damalige rot-rote Koalition massiv unter Druck gesetzt, endlich Privatisierungen vorzunehmen. Ich sage noch einmal: Die Entscheidung damals war ein Fehler, aber die CDU sollte nun wirklich nicht so tun, als wäre sie diejenige Partei, die damals für den staatlichen Wohnungsbau gekämpft hätte. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Pronold, wollen auch Sie Ihre Zwischenfrage stellen? Dann kann Frau Vogelsang zusammenhängend antworten.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe mit großer Überraschung zur Kenntnis genommen, dass Sie kritisieren, dass Wohnungsbaugesellschaften an Heuschrecken verkauft werden. Das ist Ihre Position. Sprechen Sie da aber auch für Ihre Fraktion? Heißt das, dass nach Ihrer Ansicht die Position der CDU/ CSU und der FDP, die immer noch für die steuerliche Förderung von Real Estate Investment Trusts sind und in dieser Wahlperiode diese Förderung sogar verbessert haben, revidiert werden muss?

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte zunächst gerne auf die Frage von Herrn Liebich antworten. Herr Kollege, ich habe nicht den Verkauf der GSW gemeint, sondern ich habe von dem Verkauf von 5 000 Wohneinheiten der STADT UND LAND Wohnbauten-Gesellschaft gesprochen. Das wissen Sie ganz genau. Diese sind im Norden von Neukölln gelegen, in einem sehr schwierigen Bereich. Da verhält sich das eben völlig anders. Sie haben nicht ein einziges Mal die Position der CDU in dieser Frage zur Kenntnis genommen. Diese hat sich nämlich immer dagegen gewehrt, in so großem Umfang städtischen Wohnungsbaubestand in sozialen Ballungsräumen zu veräußern. Es ist einfach nicht wahr, was Sie sagen. ({0}) Herr Pronold, wenn Sie ansprechen, dass ich hier eine Position gegen den Verkauf von großen Wohnungsbaubeständen in sozialen Brennpunkten an sogenannte Heuschrecken eingenommen habe, an diejenige Immobilienwirtschaft, die nur herauszieht, anstatt den Mieter und den Mieterschutz sowie die langfristige Perspektive im Blick zu haben, dann haben Sie sicherlich recht. ({1}) - Ich bin mir ganz sicher, dass ich hundertprozentige Rückendeckung meiner Fraktion habe, ({2}) wenn ich mich für vernünftige Belange und einen vernünftigen Schutz von Mieterinnen und Mietern in diesen Bereichen einsetze. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, es gibt noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Mücke. ({0}) Bitte schön.

Jan Mücke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003813, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, können Sie sich erklären, warum die Fraktion der SPD so aufgeregt reagiert, wenn es um das Thema Wohnungsprivatisierung geht? ({0}) Immerhin hat sie doch zu der Zeit, als die rot-grüne Regierung Verantwortung trug, den Verkauf der Eisenbahnerwohnungen des Bundes mitgetragen, immerhin 120 000 Wohnungen in Ballungsgebieten. Könnte es sein, dass diese Fraktion deshalb aufgeregt reagiert? ({1})

Stefanie Vogelsang (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004180, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich nehme bei diversen Vorhaben einfach einen Unterschied zwischen Reden und Handeln wahr. Das nehme ich wahr bei den Linken, das nehme ich wahr bei der SPD. Schauen wir uns einmal den Antrag der SPD zur Wohnraumförderung an - damit möchte ich zum nächsten Thema in meinem Redebeitrag übergehen ({0}) - Herr Kollege Pronold! - und hier insbesondere die achte Forderung - das ist übrigens ein Wunsch, den ich für verfassungswidrig halte -, ({1}) gemäß der die Zweckbindung der Kompensationsmittel auch nach 2014 beibehalten werden soll. Dass Sie die Möglichkeit des flexiblen Einsatzes der Gelder durch die Länder ab 2014, die damals unter Federführung eines Finanzministers der SPD so verhandelt worden ist, nun verhindern und die Zweckbindung auch für die Zukunft festschreiben wollen, erklärt sich, glaube ich, dadurch, dass Sie Angst davor haben, dass Sie dann in NordrheinWestfalen vielleicht nicht mehr an der Regierung sind. ({2}) Deshalb müssen Sie jetzt vielleicht noch einmal Pflöcke einschlagen. Anders kann ich eine solche Formulierung in Ihrem Antrag nicht verstehen. ({3}) Ich möchte zwischendurch noch einen Satz zum Antrag zum Mietrecht sagen, den Sie gestellt haben. Ein sehr netter Kollege hat mir gerade etwas in die Hand gegeben, was ich sehr bedenkenswert finde. Die Bundesvereinigung Spitzenverbände der Immobilienwirtschaft - sämtliche Spitzenverbände! -, schreiben in einer Presseinformation vom Dienstag zu Ihrem Mietrechtsantrag, also kurz nach dem Beschluss Ihrer Fraktion Stefanie Vogelsang ({4}) ich zitiere einmal -: Solche Regelungen würden das Engagement der Wohnungs- und Immobilienunternehmen, aber auch der privaten Vermieter, für die energetische Sanierung von Wohnungsbeständen rasch beenden. Diese Pläne sind mehr als kontraproduktiv, wenn wir die Klimaschutzziele für den Wohnungsbereich erreichen wollen. Das kommt nicht von Haus und Grund, sondern von allen Spitzenverbänden der Immobilienwirtschaft. ({5}) - Das hätten Sie ja machen können. - Ich glaube, dass das eine richtige Position ist, und dass es auch richtig ist, sich darüber Gedanken zu machen. ({6}) - Ich bedaure richtig, dass ich nicht mit Ihnen zusammen in einem Ausschuss bin, sonst könnten wir dort vielleicht Ballspiele machen. Aber jetzt lassen Sie mich bitte meinen Gedanken in Ruhe zu Ende bringen. Wieder zurück zu Ihrem Antrag zur Wohnraumförderung: Wir - Bund, Länder, Landesregierungen, Landesparlamente, Bundestag und Bundesregierung - haben uns in den Jahren 2006/07 gemeinsam intensiv darüber Gedanken gemacht, wie wir die unterschiedlichen Aufgabenstellungen ({7}) - es wäre nett, wenn Sie mir jetzt auch zuhören könnten! - in den Ländern und im Bund so regeln können, dass sich die Aufgabenbereiche nicht überlappen und wir uns gegenseitig nicht beharken, wodurch sich Verfahrensabläufe ja verlängern. Deshalb haben wir klare Zuständigkeiten festgelegt. Wir haben in der Großen Koalition mit breiter Unterstützung der Länder - das ist mit einer Zweidrittelmehrheit hier in diesem Haus verabschiedet worden - die soziale Wohnraumförderung, da gerade in diesem Bereich die Situation in der großen Bundesrepublik so unterschiedlich ist - das heißt, es macht einen großen Unterschied, ob Wohnungsbauförderung in München, Berlin, Osnabrück, Vechta, Fulda oder Bad Oeynhausen betrieben wird -, ganz klar in die Verantwortung der Länder übertragen. Diese Übertragung der Verantwortung sollte aber nicht sofort zu 100 Prozent erfolgen, sondern wir haben beschlossen, sie zu flankieren. Deswegen haben wir einen Zeitraum festgelegt, in dem der Bund die Wohnungsbauförderung weiterhin finanziert: Bis Ende 2013 investiert er knapp 520 Millionen Euro in diesen Bereich. Außerdem haben wir beschlossen, die Mittel bis 2014 genau zu überprüfen und sie im Jahre 2019 auslaufen zu lassen. Das hat nun Verfassungsrang. Verfassungsrang hat auch, dass die Länder in den Jahren 2014 bis 2019 das Recht haben, im investiven Bereich frei zu entscheiden, wofür sie die Mittel ausgeben, ob für Verkehrsprojekte, für sozialen Wohnraum oder für andere Projekte. Laut Ihrem Antrag wollen Sie diese vernünftige Regelung, nach der man auf die speziellen Erfordernisse kleinerer Einheiten, zum Beispiel von Regionen, eingehen kann, zurückdrehen. Sie wollen weiter eine breite Finanzierung, und Sie wollen die Länder weiter an die Kandare nehmen. Sie deuten damit an, dass wir hier viel schlauer seien als unsere Kolleginnen und Kollegen in den Landesparlamenten und dass wir viel besser wüssten, in welchen Bereichen investive Mittel einzusetzen sind und in welchen nicht. ({8}) Ich glaube, dass das, was wir 2007 gemeinsam beschlossen und mit Zweidrittelmehrheit in unsere Verfassung geschrieben haben, richtig war, nämlich dass in Zukunft die Bundesländer für die soziale Wohnraumförderung zuständig sind, dass sie eine Kompensation dafür erhalten, dass diese Kompensation langsam ausläuft und dass die Länder in den Jahren vor Auslaufen der Kompensationsmittel frei entscheiden können, wofür sie die Mittel ausgeben. Das Bundesfinanzministerium verhandelt derzeit mit den Bundesländern ob der Ausgestaltung. Ab 2014 haben die neuen Verträge und Vereinbarungen zu gelten. Ich bin sicher, dass es unserem Finanzministerium gelingen wird, mit den Ländern zu einer vernünftigen Einigung zu kommen. Ich glaube, dass der Weg, den wir damals eingeschlagen haben, der richtige ist. Lassen Sie uns dabei bleiben. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich Klaus-Peter Willsch für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich bin meiner Kollegin Stefanie Vogelsang dankbar, dass sie für die Zuschauer und Zuhörer an den Fernsehbildschirmen und auf der Tribüne schon deutlich gemacht hat, dass wir hier zwei Anträge von der SPD vorliegen haben und der Hauptantrag offenbar der ist, der sich mit den Themen Mietrecht und Sanierung beschäftigt. Der zweite Antrag handelt bloß davon, woher das Geld kommt, mit dem sozialer Wohnungsbau gefördert werden soll. Nun ist hier, wie bei vielen anderen Punkten auch, zu beobachten, dass die SPD zwar im Rahmen der Föderalismusreform mit uns gemeinsam das Ziel verfolgt hat, Mischfinanzierungen aufzulösen. Es gibt ja einen guten Grund, so etwas abzuschaffen. Es kommt nämlich darauf an, dass politische Ergebnisse auch politisch zuordenbar sind, dass der Bürger weiß, welche Ebene für was zuständig ist, und dementsprechend seine Wahlentscheidung rational treffen kann. Deshalb wollten wir eine Reform des Grundgesetzes und haben im Zuge dessen Mischfinanzierungstatbestände abgeschafft. Jetzt wird das Ganze ernst, auch wenn es eigentlich noch nicht so furchtbar ernst ist. Es ist vereinbart, dass das seither gemeinsam Finanzierte zukünftig allein den Ländern übertragen wird. Sie erhalten die Gesetzgebungskompetenz, aber eben auch die Finanzierungskompetenz. Da man so etwas aber nicht über Nacht machen kann, ist auch vereinbart worden, dass bis zum Jahre 2013 ein fester Betrag, spartengenau für Hochschulbau, sozialen Wohnungsbau, ÖPNV usw., an die Länder gegeben wird, dieser dann überprüft und, als Zwischenstufe bis zur vollständigen Übertragung der Zuständigkeit an die Länder, durch einen Investitionspauschalbetrag abgelöst wird, den die Länder einsetzen können, wie sie wollen. Genau auf diesem Weg sind wir. Daher gibt es überhaupt keinen Grund, hektisch und aufgeregt Anträge zu stellen. Es ist nämlich alles klar: Den Ländern wird Jahr für Jahr gut eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung gestellt, um diese Aufgabe zu bewältigen, eine Aufgabe, die sie einvernehmlich mit übernommen haben. Das Ganze ist ja kein einseitiger Prozess seitens des Bundestages gewesen, sondern es gab ein Einvernehmen zwischen den Bundesländern und dem Zentralstaat Bundesrepublik Deutschland. Die Gespräche darüber, ob die Höhe des Betrags angemessen ist, werden gegenwärtig geführt. Es spricht auf jeden Fall einiges dafür, den Umfang dieses Betrags abzuschmelzen; das sage ich zumindest als Haushälter. Die Finanzierung durch Dritte ist ja oft ein süßes Gift. So gilt es, diese Finanzierung möglichst schonend abzuschmelzen. Dergleichen war schon immer ein kluges Vorgehen und daran führt kein Weg vorbei; das haben Sie offenbar erkannt. Die Länder haben in Zukunft die Verantwortung; sie wollen sie aber nicht tragen. Anders kann ich mir die Inhalte der Anträge, die Sie hier auf den Tisch legen, nicht erklären. Die Diskussion ist im Gange. Der Bundesfinanzminister spricht mit den Ländern darüber, wie das Geld verwendet wird. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann erkennt man, dass sehr viel dafürspricht, dass das, was heute gewährt wird, vollkommen ausreichend ist. Wahrscheinlich ist es im Zweifelsfall sogar etwas zu hoch. Früher war es so, dass der Bund soziale Wohnungsprojekte gefördert hat und die Länder ihren Anteil kofinanzieren mussten. Das heißt, sie mussten eine bestimmte Quote erfüllen. Leider müssen wir beobachten, dass viele Länder das inzwischen nicht mehr tun. Berlin hat Wohnungsraumdarlehen und anderes abgelöst. Mit dem eingesparten Geld hat es Kasse gemacht. Seine Verpflichtung, einen Kofinanzierungsanteil zu leisten, hat es dagegen stillschweigend einschlafen lassen. Das legt den Eindruck nahe, dass die Dringlichkeit, diesen Anteil zu erbringen, bei den Ländern - sie sind nach übereinstimmender Auffassung der Länder wie des Bundes besser geeignet, diese Verantwortung wahrzunehmen - nicht mehr gesehen wird; sonst würde man nicht das Geld, das man früher klaglos als Kofinanzierungsmittel eingesetzt hat, plötzlich nicht mehr einsetzen. Legen Sie also den Antrag, den Sie hier gestellt haben, am besten zur Seite oder ziehen Sie ihn zurück; denn alles, was Sie begehren, ist auf dem Weg. ({0}) Die Bundesländer, die näher am Geschehen sind, bekommen nun eine Aufgabe übertragen, die früher in einer undurchschaubaren Mischfinanzierung erledigt wurde. Das hat etwas mit subsidiärem Staatsaufbau zu tun. Mehrere Redner anderer Fraktionen haben schon angesprochen, dass es natürlich klug ist, eine Aufgabe vor Ort zu lösen und ihre Lösung nicht der zentralen Ebene aufzuerlegen. Die Gespräche über Angemessenheit und einen zweckgemäßen Einsatz der Mittel laufen gegenwärtig beim BMF. Wir haben Zeit bis 2013, sie zu Ende zu bringen. Es besteht also überhaupt kein Grund, hektisch zu werden und mit den Hufen zu scharren; vielmehr kann die Sache in aller Ruhe im Miteinander zwischen der Bundesebene und den Bundesländern abgearbeitet und erledigt werden. Es geht hier schlicht um Geld. Die, die die Zuständigkeit haben, wollen nicht für die Kosten geradestehen; da soll wieder einmal der Bund herhalten. Das ist in anderen Fällen genauso. Unzuständigerweise haben wir, der Bund, in den letzten Jahren für die Länder und die Kommunen viel gegeben. Ich erinnere nur an die Betreuung von unter Dreijährigen. Wir, der Bund, haben hierfür unzuständigerweise 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, ({1}) und dennoch hören wir ständig: Es müsste noch mehr geben; das ist zu wenig gewesen. Verantwortung vor Ort wahrzunehmen, heißt, sich dieser Verantwortung ganz zu stellen. Wenn man schon Hilfe bekommt, dann muss man sie auch sinnvoll und zweckmäßig einsetzen. ({2}) - Herr Pronold, Sie haben gerade gesagt, die Menschen unterschieden nicht zwischen den Ebenen. Wenn es so wäre, hätten wir uns Dinge wie die Föderalismusreform natürlich sparen können. Wenn Sie damit überfordert sind, den Menschen zu erklären, wer wofür zuständig ist, biete ich Ihnen gerne meine Hilfe an. Ich bringe es einiKlaus-Peter Willsch germaßen flüssig fertig, die Zusammenhänge darzustellen. Ich will aber keine billige Polemik produzieren, sondern auf die Absicht, die uns bei der Föderalismusreform gemeinsam geleitet hat, zu sprechen kommen. Gerade wegen der Mischtatbestände haben wir gesagt: Um Wahlentscheidungen rational treffen zu können, müssen die Menschen erkennen können, welche Politikebene für welche Politik zuständig ist. Dieser Weg ist nach wie vor richtig. Deshalb büxen Sie da bitte nicht aus, sondern gehen Sie diesen Weg gemeinsam mit uns weiter, und zwar in dem Sinne, in dem wir gemeinsam das Grundgesetz an diesem Punkt geändert haben. ({3}) Ich bin ja durch die haushaltspolitische Zuständigkeit zu dieser Debatte hier gekommen. Ich muss zugeben: Ich bin nicht häufig bei wohnungswirtschaftlichen oder mietrechtlichen Debatten; ({4}) ich bin ja Ökonom und kein Jurist. Ich will nur noch zwei Appelle loswerden, und zwar an die gesamte Fachpolitikerschaft; das hat auch etwas mit örtlicher Kenntnis zu tun. Erstens. Vergessen Sie bei allen mietrechtlichen Regelungen nicht, dass die 60 Prozent an Mietraum, die privat zur Verfügung gestellt werden, existenziell notwendig sind für unser Land und dass wir einen ordentlichen Ausgleich zwischen Mieter- und Vermieterrechten hinbekommen müssen, um die Investitionsbereitschaft nicht zu beeinträchtigen. ({5}) Der zweite Appell betrifft die energetische Sanierung. Bei mir im Wahlkreis, im Rheingau-Taunus-Kreis, ist es anders als bei Ihnen in München. Wenn ich durch Hohenstein oder die Dörfer meiner Heimat gehe, kann ich genau sagen, wie die Oma heißt, die dort in der großen Hofreite mit 1 000 Quadratmetern wohnt, wie alt sie ist und wo die Kinder in neuen Wohnungen leben. An die müssen wir auch denken, wenn wir energetische Sanierungen verpflichtend machen wollen. Es darf nicht sein, dass die Oma dann aus ihrem Häuschen vertrieben wird, weil sie sich das nicht mehr leisten kann. ({6}) In dem Sinne ein Appell an die Fachpolitik! „Präsident“ blinkt mich hier freundlich an; die Zeit ist auf null. Zum Schluss also: Wir können für die Anträge nicht die Hand reichen. Das ist Unfug, wie ich deutlich gemacht habe. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9559 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Die Vorlage auf Drucksache 17/9425 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss; die SPD-Fraktion wünscht Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der SPD, also Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP: Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Erwin Rüddel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Florian Bernschneider, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Altersbilder positiv fortentwickeln - Potenziale des Alters nutzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Angelika Graf ({1}), Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Potenziale des Alters und des Alterns stärken - Die Teilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftliches Engagement und Bildung fördern - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland Altersbilder in der Gesellschaft und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksachen 17/8345, 17/2145, 17/3815, 17/9504 21372 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Berichterstattung: Abgeordnete Markus Grübel Nicole Bracht-Bendt Tabea Rößner Zu dem Bericht zur Lage der älteren Generation liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Markus Grübel für die CDU/CSU das Wort. Bitte schön. ({2})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alt macht nicht das Grau der Haare, alt macht nicht die Zahl der Jahre, alt ist, wer den Humor verliert und sich für nichts mehr interessiert. ({0}) - Das können Sie nachlesen. - Gotthold Ephraim Lessing zeichnet hier ein interessantes Bild vom Alter. Nicht die Äußerlichkeiten sind entscheidend, nicht das Datum in der Geburtsurkunde ist entscheidend, sondern die Einstellung, die jemand hat. ({1}) Jeder kennt mit Sicherheit einen 25-Jährigen, der ihm älter vorkommt als ein 75-Jähriger, der vor Tatendrang nur so sprüht. Je nachdem, welches Altersbild wir im Kopf haben, werden wir uns auch verhalten. Gerade für uns in der Politik, aber auch in der Wirtschaft, in den Medien, in der Gesellschaft ist es wichtig, richtige Altersbilder zu haben, um dann richtig entscheiden zu können. Darum war es gut und richtig, dass sich der Sechste Altenbericht mit den Altersbildern beschäftigt. Eine der zentralen Botschaften des Berichts ist: Altersbilder neigen zur Einseitigkeit und zur Vereinfachung und geben deshalb die Vielfalt des Alters nicht angemessen wieder. Weder hat das Älterwerden nur allgemein positive Seiten noch nur negative Seiten. Der Sechste Altenbericht zeigt ein differenziertes Bild vom Alter. Betont werden die Gleichzeitigkeit von Potenzialen, die Verletzlichkeit von Entwicklung, die Endlichkeit von Aktivität und die Grenzerfahrung. Wenn wir an die Älteren in unseren Familien denken, dann haben wir mit Sicherheit auch diese verschiedenen Bilder im Kopf. Der Sechste Altenbericht nimmt Themen des Vierten Altenberichts - Risiken der Hochaltrigkeit unter Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen - und des Fünften Altenberichts - Potenziale des Alters - auf und setzt sie zueinander in Bezug. Der Bericht hatte auch zum Ziel, in der seniorenpolitischen Fachöffentlichkeit, aber auch darüber hinaus, eine Diskussion und Reflexion über Altersbilder anzuregen. Wir beantragen in unserem Koalitionsantrag, bestehende Altersgrenzen in allen Lebensbereichen zu überprüfen, insbesondere eine Flexibilisierung des Eintritts in den Ruhestand. Altersdiskriminierung ist zu vermeiden. In unseren Gesetzen haben wir rund 400 Altersgrenzen. Sie sind häufig von einem besonderen Schutzgedanken und von der Annahme der eingeschränkten Leistungsfähigkeit geprägt, und zwar häufig, ohne dass man es widerlegen kann. Nach deutschem Recht kann man mit über 70 Jahren kein Schöffe mehr sein. Bundespräsident kann man aber in diesem Alter werden. Joachim Gauck hat mit 72 Jahren noch einmal eine große Verantwortung übernommen. Sie, Herr Franz Müntefering, könnten noch einmal SPD-Vorsitzender werden; aber Schöffe dürften Sie nicht mehr werden. Konrad Adenauer, der uns allen bekannt ist, hat Deutschland Freiheit und Wohlstand gebracht. Er hat geradezu visionär die Weichen für ein geeintes Europa gestellt und den Grundstein für die deutsche Einheit gelegt; aber Schöffe hätte er nicht mehr werden dürfen. Hier wollen wir etwas ändern. Bestimmte Versicherungen kann man in Deutschland ab dem 65. Lebensjahr gar nicht oder nur unter unattraktiven Bedingungen abschließen. Die Altersgrenzen im Recht und in der Rechtspraxis bedürfen einer grundlegenden Revision. Das gilt auch für die Sicht des Alters in der Arbeitswelt. „Ich wünsche mir, dass jene, die es wollen, länger im Beruf bleiben können“, sagte Bundespräsident Gauck beim Deutschen Seniorentag. Ich kann dem nur zustimmen. Wer körperlich oder geistig fit ist, soll länger arbeiten können, wenn er dies will. Der Staat und die Tarifpartner sollten dies nicht erschweren oder gar verhindern. Eine Umfrage von Generali zum Thema Lebensarbeitszeit hat ergeben: 54 Prozent der 65- bis 75-Jährigen hätten ihren Beruf gern länger ausgeübt. Das ist eine interessante Erkenntnis, der wir uns nicht verschließen sollten. Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben schon vielfältige Maßnahmen ergriffen. Ich nenne hier nur einige stichwortartig. Das Programm „Altersgerecht umbauen“: 62 000 Wohnungen wurden mit dem Konjunkturprogramm I altersgerecht saniert. Dieses Programm wird als Eigenprogramm der KfW in Form eines Darlehens fortgesetzt. Wir haben das Programm „Freiwilligendienste aller Generationen“. Wir werden uns in Kürze darüber unterhalten, wie wir das Format dieses erfolgreichen Dienstes fortsetzen können. Wir haben das Aktionsprogramm „Mehrgenerationenhäuser II“: Hier kommen die Generationen zusammen. Die Älteren können zum Beispiel jüngeren Familien helfen. Es gibt aber auch Angebote für demenziell Erkrankte. Wir haben den Bundesfreiwilligendienst für alle Altersstufen geöffnet und für die über 27-Jährigen ein gutes Format gefunden. Viele dieser Punkt werden auch in der neuen Demografiestrategie der Bundesregierung aufgegriffen. Kapitel C trägt die Überschrift: „Selbstbestimmtes Leben im Alter“. Ziele sind: Selbstbestimmtes Leben, Aktivitäten im Alter fördern und das Leitbild der sorgenden Gemeinschaft etablieren. Das Thema sorgende Gemeinschaft oder Caring Community wurde auch in der Anhörung der Sachverständigen wiederholt genannt. Caring Community umfasst eine Reihe unterschiedlicher Felder wie die Stadtplanung, die kommunale Infrastruktur, den Einzelhandel, die medizinische Versorgung, die pflegerische Versorgung, bürgerschaftliches Engagement, Wohnformen, Nachbarschaftshilfe und vieles mehr. Es ist ein Zukunftsthema der Seniorenpolitik, das sowohl die Rolle der Altersbilder als auch der Alterspotenziale thematisiert. Wichtig ist mir, die Vielzahl dieser Themen aus einer kommunalen Perspektive zu betrachten. Dort bestehen die Probleme, und dort müssen sie auch gelöst werden. Ich werbe dafür, dass das Thema der sorgenden Gemeinschaft, der Caring Community, Thema des Siebten Altenberichts wird und so auf die politische Agenda kommt. Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin am Ende meiner Redezeit, aber wir sind noch lange nicht am Ende mit unserer Generationenpolitik. Dieser Herausforderung stellen wir uns. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit den Erkenntnissen des Sechsten Altenberichts, der Demografiestrategie und der Engagementstrategie der Bundesregierung auch hier ein Stück weiterkommen. Herzlichen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Caren Marks hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer kennt sie nicht, die versteckten oder offenen Botschaften im Alltag, die sehr deutlich machen, dass ältere Menschen angeblich zum alten Eisen gehören oder gar ein Problem darstellen. In der Presse gibt es Überschriften wie „Unsere Gesellschaft ist überaltert“, „Deutsche Bevölkerung schrumpft und altert dramatisch“ oder „Alterspyramide kippt - Viele Alte, wenig Steuern“. Zum Glück liest man heutzutage kaum noch in Stellenanzeigen: Suche Mitarbeiter zwischen 25 und 45 Jahren. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat eine Umfrage veröffentlicht, wonach 42 Prozent der Befragten dem Satz zustimmten: Ab 45 bekommt man heutzutage praktisch keinen Job mehr. 42 Prozent - das ist fast jeder bzw. jede Zweite. Hier wird deutlich: Ältere Menschen erleben häufig Diskriminierungen. Deshalb wundere ich mich sehr, dass die schwarzgelbe Bundesregierung in dem neu vorgelegten Demografiebericht nicht ein Wort zum Thema Altersdiskriminierung verliert. Nicht eine Silbe! Das ist wirklich traurig, aber auch ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung. ({0}) Die Medien, aber auch manche Politikerinnen und Politiker - ich denke da zum Beispiel an Herrn Mißfelder - beschwören oft einen Generationenkonflikt, ({1}) indem sie die zunehmende Zahl der älteren Menschen als demografisches Problem beschreiben. Die Alten versus die Jungen - dieses Bild entspricht aber nicht der Realität; denn der Zusammenhalt zwischen den Generationen in unserer Gesellschaft ist enorm groß. Jede und jeder von uns kennt sicherlich zahlreiche Beispiele dafür im Familien- oder Freundeskreis. Auch das Bild von älteren Menschen in der Arbeitswelt ist oft verzerrt. Es heißt: Ältere Menschen sind nicht so stark belastbar. Oder: Jüngere sind leistungsfähiger. Das hört man häufig hinter vorgehaltener Hand. In manchen Branchen gelten Menschen jenseits der 40 sogar schon als nicht mehr vermittelbar. Das ist wirklich ein Skandal und darf nicht hingenommen werden; ich denke, hierüber besteht Einigkeit im Parlament. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Diskriminierung darf nicht sein, erst recht nicht in Zeiten, in denen Unternehmen einen Fachkräftemangel beklagen. Hier muss sich ein realistisches, ein differenziertes Altersbild durchsetzen, bei dem die Potenziale und die Erfahrungen älterer Menschen im Mittelpunkt stehen. Daher finde ich die Kampagne der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gegen Altersdiskriminierung enorm wichtig. Bei dieser Kampagne steht das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, für das die SPD damals erfolgreich gekämpft hat, im Vordergrund. ({2}) Allen Unkenrufen vor allem von Union und FDP zum Trotz: Unsere Gesellschaft braucht eine starke, eine selbstbewusste Antidiskriminierungspolitik. ({3}) Es ist eben nicht selbstverständlich, dass Arbeitgeber bei Bewerberinnen und Bewerbern vor allem auf die Qualifikation und nicht aufs Alter schauen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Arbeitgeber gezielt Beschäftigte fortund weiterbilden, dass sie Belastungen am Arbeitsplatz frühzeitig erkennen und den Gesundheitsschutz stärken. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass Arbeitgeber den Erfolg von altersgemischten Teams sowie die Erfahrung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als unschätzbaren Wert anerkennen. Der Sechste Altenbericht mahnt daher zu Recht eine neue Kultur des Alters an. Dafür müssen wir alle gemeinsam eintreten. Auch hier sehe ich vor allem die Bundesregierung in der Verantwortung. Aber ich frage mich: Wo bleibt das Engagement der schwarz-gelben Koalition? Wie geht die zuständige Bundesseniorenmi21374 nisterin aktiv gegen Diskriminierung im Alter vor? Wo kämpft sie Seite an Seite mit der Arbeitsministerin für eine altersgerechte und faire Arbeitswelt? Wo bleibt Frau Schröders Engagement für eine umfassende Präventionsstrategie und ein Präventionsgesetz, das die Gesundheitsförderung im Alltag der Menschen stärkt? Weit und breit nichts in Sicht. ({4}) Es ist sogar noch schlimmer. Als Frau von der Leyen letztes Jahr im Zuge der Arbeitsmarktpolitik sinnvolle Maßnahmen für Ältere zusammengestrichen hat, schaute die Seniorenministerin tatenlos und schweigend zu. Auch als Kabinettskollege Ramsauer das Programm „Altersgerecht Umbauen“ zusammenstrich, habe ich von Ihnen, Frau Schröder, keinen Einspruch gehört. Die Seniorenministerin hat sich wiederholt nicht für die Zielgruppe, die sie eigentlich vertreten sollte, eingesetzt. „Nicht meine Ministerin“ - das Motto der empörten Frauen gegen die Gleichstellungspolitik von Frau Schröder passt gut zu ihrer Seniorenpolitik. ({5}) Wir brauchen eine umfassende Strategie, damit wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und die Wertschätzung älterer Menschen fördern können. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, haben dazu Vorschläge erarbeitet, denen Sie sich gerne anschließen können. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Nicole Bracht-Bendt hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit im Jahr 1991 unter einer christlich-liberalen Bundesregierung das erste Seniorenministerium in Europa gegründet wurde, hat sich viel getan - positiv wie negativ. In Deutschland wurde sehr früh erkannt, welche gewaltigen Umwälzungen uns durch den demografischen Wandel, aber auch durch eine Gesellschaft des längeren Lebens bevorstehen. Frau Professor Lehr ist in diesem Zusammenhang viel zu verdanken; denn sie hat die Altenberichte der Bundesregierung ins Leben gerufen und somit in Deutschland sehr früh eine wissenschaftliche, aber auch eine gesellschaftliche Diskussion über das Alter und das Altern angestoßen. Trotz dieser frühen Erkenntnis wurden teilweise verheerende Fehlentscheidungen getroffen. Für den Bereich der Arbeitswelt möchte ich die Beispiele Frühverrentung und den falschen Hang zum Jugendzentrismus bei Neueinstellungen hervorheben. Der so wichtige Punkt der Erfahrung spielte häufig keine Rolle mehr. Das Bild, das die Gesellschaft vom Alter hat, war teilweise negativ. Einerseits waren Ältere in ihrem jeweiligen Lebensalter noch nie so fit und leistungsfähig wie heutzutage, andererseits traut die Gesellschaft Älteren häufig gar nichts mehr zu. Beim Seniorentag letzte Woche in Hamburg wurde deutlich, dass der Sechste Altenbericht der Bundesregierung die Gemüter bewegt. Die Thematik Altersbilder legt den Finger in eine klaffende Wunde der Gesellschaft. „Ja zum Alter“ war der Titel des 10. Deutschen Seniorentags und der Hamburger Erklärung, die die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, die BAGSO, und ihre 110 Mitgliedsorganisationen zum Abschluss verabschiedet haben. 20 000 engagierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben sich in Hamburg versammelt und deutlich gezeigt: Wir leben in einer starken Gesellschaft mit starken, engagierten Verbänden. Dafür möchte ich an dieser Stelle deutlich Danke sagen. ({0}) Politik lebt von diesem wichtigen Austausch mit den Bürgern. Mich hat es persönlich gefreut, dass in vielen Vorträgen und Diskussionsforen Thesen vertreten wurden, die die Koalition bereits im Antrag „Altersbilder positiv fortentwickeln - Potenziale des Alters nutzen“ aufgegriffen hat. Das gewählte Motto „Ja zum Alter“ heißt Ja zu einem möglichst gesunden Älterwerden, es ist aber auch ein entscheidendes Ja zur Akzeptanz des eigenen Alters, und vor allen Dingen ist es ein deutliches Nein zu allen Formen der Diskriminierung. Damit schließt sich der Kreis zum Sechsten Altenbericht; denn durch ihn wird deutlich, dass die dominierenden Altersbilder in zentralen Bereichen der Gesellschaft, etwa in der Arbeitswelt, in der Bildung, der Wirtschaft, der Politik, beim freiwilligen Engagement oder in der medizinischen und pflegerischen Versorgung, der Vielfalt des Altersbilds häufig nicht gerecht werden. Es gibt eben nicht die eine Altersform, sondern es gibt viele individuelle Formen des Alters. Die Diskussion über Altersbilder in Zeiten des demografischen Wandels muss in den Köpfen und Herzen der Menschen ankommen. Wir müssen uns auch selbst fragen: Wie wollen wir im Alter leben und behandelt werden? Nun kann man positive Altersbilder nicht verordnen oder verschreiben. Sie entwickeln sich in den Köpfen der Menschen, und zwar in einem weitgehend unbewussten Prozess. Je mehr positive Beispiele ich von älteren Menschen sehe, desto mehr ändert sich mein Bild vom Alter. Es ist ein wichtiger Schritt, alle Altersgrenzen kritisch zu hinterfragen; denn sie prägen unser Altersbild ganz besonders. Ich bin überzeugt: Fast alle können weg. Wir haben einen Bundespräsidenten - das wurde schon angesprochen -, der 72 Jahre alt ist, was ich ausgesprochen positiv finde. Bundespräsident darf er werden, nach vielen Gemeindeordnungen aber nicht Bürgermeister - zu alt. Ich meine, das ist völlig absurd. Der Bundestag hat mit breiter Zustimmung beschlossen - auch die SPD hat zugestimmt -, das Renteneintrittsalter bis zum Jahr 2030 schrittweise auf 67 Jahre zu erhöhen, was auch für die Mitarbeiter der Berufsfeuerwehren gilt. Als Angehöriger der Freiwilligen FeuerNicole Bracht-Bendt wehr müssen Sie in einigen Bundesländern mit 65 Jahren ausscheiden. Auch das ist völlig absurd. Vielleicht ist es ja bereits eine Folge des Altenberichts und unserer Diskussion darüber, dass ältere Menschen nicht mehr ausschließlich in Werbespots für Haftpulver für dritte Zähne zu sehen sind. Eine gewichtige Rolle für die Entwicklung positiver und realistischer Altersbilder spielt das Ehrenamt. Der neue Bundesfreiwilligendienst ist ein hervorragendes Beispiel, wie bürgerschaftliches Engagement von älteren Generationen gelebt wird. Gerade die Nachfrage der Älteren übertrifft alle Erwartungen. Bürgerschaftliches Engagement mildert einerseits die Folgen des demografischen Wandels und bietet andererseits Raum für neue Aktivitäten. Es gilt, älteren Menschen bezogen auf Selbst- und Mitverantwortung in der Gesellschaft neue Wege zu ebnen. Die Koalition will aber nicht nur für die Stärken und Potenziale des Alters sensibilisieren. Das Alter konfrontiert uns auch mit Grenzen. Dem haben wir uns in der Koalition angenommen, indem wir die Familienpflegezeit auf den Weg gebracht haben. Auch unser Gesundheitsminister, Daniel Bahr, hat einen ersten großen Schritt gewagt, indem er Leistungen der Pflegeversicherung endlich auch für Demenzerkrankte zugänglich gemacht hat. Hierauf haben viele Menschen lange gewartet. Eine alternde Gesellschaft muss sicherstellen, dass dem Einzelnen in jeder Phase des Lebens eine soziale Teilhabe möglich ist. Ein selbstbestimmtes Leben muss auch im Alter oberstes Ziel sein. Das setzt Barrierefreiheit im privaten und öffentlichen Bereich und den verstärkten Einsatz technischer Assistenzsysteme voraus. Der Ausbau seniorengerechten Wohnraums ist insofern eine zentrale Zukunftsaufgabe. Aber Barrierefreiheit darf nicht an der Wohnungstür enden. Hier sind die Kommunen besonders in der Pflicht. Das Europäische Jahr für aktives Altern und Solidarität zwischen den Generationen wird die Koalition nutzen, um die berechtigten Anliegen der älteren Generation voranzubringen. In unserem Antrag skizzieren wir hierzu einen Weg. Ganz herzlichen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Heidrun Dittrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Hören Sie auf, über Demografie zu reden. Das lenkt von den wirklichen Problemen ab. Die Tatsache, dass es mehr ältere Menschen gibt, erzwingt keinen Sozialabbau, sondern Ihre Regierungspolitik, die Steuersenkungen für die Reichen und Geldgeschenke an die Großbanken im Euro-Raum vorsieht, erzwingt einen Abbau des Sozialstaats. Das lehnt die Linke ab. ({0}) Im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung geht es um Altersbilder. In Wirklichkeit sind diese Altersbilder umkämpft; denn es gibt verschiedene Ältere: arme und reiche. Der Daimler-Chef Dieter Zetsche erhält 29,6 Millionen Euro als Gesamtrente. Er hat einen Vertrag ausgehandelt, nachdem er bereits mit 60 Jahren in Rente gehen kann. Ein anderer Topverdiener, der Deutsche-Post-Chef Frank Appel, kann sogar mit 55 Jahren in Rente gehen. Seine Rentenzusage liegt bei insgesamt 7,2 Millionen Euro. Nachlesen können Sie das in einem Artikel vom 22. April dieses Jahres auf Spiegel Online. Warum können die Superreichen mit 55 Jahren in Rente gehen und die Beschäftigten nicht? ({1}) Dass ein früherer Renteneintritt möglich wäre, zeigt sich in Frankreich. Der neu gewählte Präsident Hollande von der sozialistischen Partei erklärte, dass er das Renteneintrittsalter von 62 Jahren wieder auf 60 Jahre senken werde. ({2}) Das fordert auch die Linke in ihrem Parteiprogramm. Auf dem 10. Deutschen Seniorentag sagte die Seniorenministerin, Frau Schröder: Hurra, wir werden alt! ({3}) Sie nennt als Beispiele für die Vielfalt im Alter den Großvater im Rollstuhl und die Großmutter auf Rollschuhen. Das sagt leider nichts über die finanzielle Lage dieser älteren Dame und des älteren Herrn aus. Der Bundespräsident verkündete am selben Tag am selben Ort, dass wir für die geschenkten Jahre, die wir länger leben, dankbar sein dürfen. Ich frage Sie: Wem gehört die freie Zeit, den Älteren oder der Wirtschaft? Warum sollen die Beschäftigten dankbar sein? Sie haben diesen Staat schließlich aufgebaut. Die arbeitende Bevölkerung hat in die gesetzliche Krankenkasse und in die Rentenversicherung eingezahlt. Dadurch wurde eine Gesundheitsvorsorge möglich, durch die die Menschen länger leben können. Leider wird sie seit Jahren verteuert. Ich erinnere an die unsägliche Praxisgebühr von 10 Euro, die gerade Geringverdiener von notwendigen Arztbesuchen abhält. Die Linke hat vor zwei Wochen im Bundestag beantragt, die Praxisgebühr abzuschaffen. Leider wurde das hier mit Mehrheit abgelehnt. Aber das interessiert Senioren wirklich. ({4}) Der Sechste Altenbericht hat nicht den Auftrag, die soziale Ungleichheit zwischen Arm und Reich, zwischen Männern und Frauen zu erforschen. Die Betonung der Facetten und der Vielfalt verdeckt geradezu die grandiose Spaltung zwischen Arm und Reich. Aber gerade damit muss sich die Bundesregierung aus meiner Sicht befassen. ({5}) In Deutschland sind durch Ihre Politik 3,9 Millionen Frauen in Minijobs; sie können nur unzureichend Rentenanwartschaften erwerben. Sie sind besonders gefährdet. Wer garantiert denn, dass sie einen Partner haben, der sie mitversorgt? Frauen verdienen im Durchschnitt 23 Prozent weniger als Männer. Dieser Einkommensunterschied steigt in der Rente auf 60 Prozent an. In einer Studie über die Lebens- und Erwerbsverläufe von Frauen, geboren zwischen 1955 und 1964, steht, dass die monatlichen Renten in dieser untersuchten Babyboomer-Generation im Westen bei im Durchschnitt 700 Euro und im Osten bei im Durchschnitt 680 Euro liegen. Das ist Grundsicherungsniveau. Das ist Hartz IV im Alter. Die Hälfte der Frauen in Westdeutschland hat sogar eine gesetzliche Rente von unter 600 Euro. Sie sind auf jeden Fall auf Sozialleistungen angewiesen. Deswegen fordert die Linke, dass es Frauen ermöglicht wird, in tariflich gut bezahlten Berufen ausreichende eigenständige Rentenanwartschaften zu erwerben. ({6}) Dafür brauchen wir vor allem die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wer keine Kindergärten finanziert, wer keine Erzieherinnen einstellt, der verweigert den Frauen die Ernährerinnenrolle, er verweigert ihnen den Aufbau einer eigenen Rente. Wir brauchen Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro. Weg mit den Minijobs! ({7}) Wir brauchen die Wiederherstellung der Lebensstandardsicherung in der Rente und eine solidarische Mindestrente von mindestens 900 Euro. ({8}) Die soldarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wäre finanzierbar - Sie wissen es -, wenn die Ackermänner der Welt, die Beamten und die Bundestagsabgeordneten einzahlen würden. ({9}) Das wäre Solidarität und nicht nur Solidarität der Beschäftigten untereinander. Sie sagen: Die Menschen sollen für die geschenkten Jahre dankbar sein, sie sollen dankbar dafür sein, dass sie einen Sozialstaat aufbauen konnten, an dem - ich erinnere daran - seit der Agenda 2010, seit Rot-Grün - diese Regierung setzt das fort -, kräftig gesägt wird. Irgendjemand muss den sozialen Zusammenhalt ja organisieren, aber es darf nichts mehr kosten. Das Ehrenamt wird auf Verlängerung der Altersgrenzen untersucht. Es geht dabei nicht darum, das Leben im Alter selbstbestimmt zu genießen, sondern darum, in der sozialen Arbeit eingesetzt zu werden. Der Bundesfreiwilligendienst und der Freiwilligendienst aller Generationen - das unterstützen außer der Linken Sie alle hier im Bundestag - überschreiten die Altersgrenze und öffnen die Schleusentore zum Arbeiten im Alter, um überhaupt noch Teilhabe erlangen zu können. Wir meinen: So geht das nicht. ({10}) Dabei geht es nicht um die Potenziale der Älteren, die man heben sollte. Dabei geht es nicht um die individuelle Entwicklung der Menschen. Vielmehr geht es dabei um Folgendes - so müssen wir hier jedenfalls befürchten -: Wer als Ehrenamtlicher länger arbeiten kann, der kann es auch als Arbeitnehmer. Das lehnt die Linke ab. Wir bestehen auf einem gesetzlichen Renteneintrittsalter. Dass ältere Menschen, vor allem Frauen, schon jetzt gezwungen sind, zu ihrer Rente dazuzuverdienen, macht die Sache doch nicht besser. Das ist ein Skandal. Sie können das nicht schönreden, indem Sie sagen, dass die Menschen länger arbeiten wollen. Sie müssen länger arbeiten. Von einem neuen Altenbericht erwarte ich, dass man sich darin realistisch mit der Lage der Menschen auseinandersetzt, dass darin Vorschläge gemacht werden, wie die Regierung die Lage der armen Frauen im Alter verbessert, und dass darin auch die Situation von Migrantinnen und Migranten und Menschen mit Behinderungen beachtet wird. Denn aus Sicht der Linken haben alle das Recht auf ein abgesichertes Alter in Würde. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Elisabeth Scharfenberg hat jetzt das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über den Altenbericht bietet uns eine wunderbare Möglichkeit, um Zwischenbilanz zu ziehen, Zwischenbilanz darüber, was Schwarz-Gelb seit 2009 im Bereich der Altenpolitik erreicht hat. Diese Bilanz fällt nicht gerade glänzend aus. ({0}) Bei dieser Bilanz sehen wir, dass die zuständige Familienministerin, Sie, Frau Schröder, ihre Liste der politischen Irrungen und Wirrungen - ich sage nur: Frauenquote, Betreuungsgeld, Familienpflegezeit - durch die Altenpolitik erweitert. Das alles sind fehlgeschlagene Politikansätze, einer nach dem anderen. ({1}) Auf dem Deutschen Seniorentag letzte Woche in Hamburg - er wurde schon mehrmals erwähnt - wurde deutlich, dass diese Einschätzung von den Älteren in unElisabeth Scharfenberg serem Land durchaus geteilt wird. Der Redebeitrag von Ihnen, Frau Schröder, wurde mit Buhrufen quittiert. Das ist bitter. Ich frage mich: Wer fühlt sich in diesem Land eigentlich noch von Ihnen vertreten? Frauen, Kinder, Jugendliche, Seniorinnen und Senioren, alte Menschen? Ich muss sagen: Da wird die Luft immer dünner. ({2}) Es braucht in meinen Augen Format, Ziele und eine Vision, um das Amt der Familienministerin auszufüllen. Genau das vermisse ich an der Spitze des Familienministeriums. ({3}) Der Antrag „Altersbilder positiv fortentwickeln Potenziale des Alters nutzen“ von CDU/CSU und FDP spiegelt die altenpolitische Leere ganz klar wider. Der Antrag verliert sich in Appellen und der Vergabe von Prüfaufträgen. Das ist alles andere als zielführend. Wozu, frage ich Sie, benötigen wir noch einen Altenbericht, der doch wirklich in guter Art und Weise die Themen benennt, wenn dann alles wieder und wieder einer Prüfung unterzogen werden soll? Wir haben in einigen Bereichen überhaupt kein Wissensdefizit mehr; dieses Stadium haben wir längst hinter uns gelassen. ({4}) Warum soll denn noch einmal geprüft werden, ob das KfW-Programm zum altersgerechten Umbau fortgeführt und weiter mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt ausgestattet werden soll? ({5}) Es muss fortgeführt werden. Das ist eine Frage der politischen Vernunft. ({6}) Das wird von allen Seiten befürwortet. Die Anhörung in dieser Woche im Verkehrsausschuss zur barrierefreien Mobilität und zum barrierefreien Wohnen hat den enormen Handlungsbedarf ganz klar aufgezeigt. Alle geladenen Expertinnen und Experten waren sich einig. Wir meinen, dass wir zudem eine Weiterentwicklung der Fördermöglichkeiten brauchen. Insgesamt frage ich mich aber ernsthaft, ob der Altenbericht und die Anhörung bei Ihnen überhaupt ein Umdenken bewirkt haben. Es wurde wiederholt betont, dass wir uns um die Neuorientierung der Altersbilder kümmern müssen. Aber was ist auf der Internetseite des Gesundheitsministeriums zur Pflege immer noch zu lesen? Da wird getitelt - ich zitiere -: „Pflegefall - was tun?“ ({7}) Sehr geehrte Frau Ministerin, es gibt keinen Pflegefall. Es gibt nur Menschen, die einen Pflegebedarf haben oder Unterstützung benötigen. Einen Menschen kann und darf man nicht auf einen Fall reduzieren. Der Begriff „Pflegefall“ gehört in die Unwortkategorie, genauso wie die Wörter „Alterslast“, „Demografiefalle“ oder was es da sonst noch gibt. ({8}) Das alles zeigt uns aber, dass wir die Erkenntnisse der Altenberichte konsequenter sichern und umsetzen müssen. Wir fordern, dass zukünftige Altenberichte detaillierte Umsetzungsempfehlungen beinhalten. Es geht doch nicht, dass wir hochkarätige Expertinnen und Experten zu der Ausarbeitung eines Altenberichtes einberufen. Dann versehen wir das Ergebnis mit einer Drucksachennummer und organisieren vielleicht noch ein paar flankierende Veranstaltungen. Und dann? Dann verschwindet der Altenbericht in der Schublade. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, nicht die staubige Schublade, sondern ein Aktionsplan muss das Ziel eines Altenberichtes sein. Eine Stellungnahme reicht nicht aus. Für die weitere Bearbeitung der Themen ist es notwendig, eine Monitoringstelle zu schaffen, zum Beispiel im Familienministerium. Wir brauchen konkrete Maßnahmen zur Ergebnissicherung. Außerdem ist die Vernetzung mit den anderen beteiligten Ministerien überaus wichtig. Für uns Grüne ist eine Altenpolitik, die nicht in allen Bereichen verankert ist, wie ein umhertreibendes Schiff ohne Hafen. Dieses Schiff braucht aber Ankerplätze in allen wichtigen Politikgewässern: in der Bildungs-, in der Wirtschafts-, in der Gesundheits-, in der Arbeitsmarktpolitik. Nur so werden wir den Belangen der Älteren wirklich gerecht. Ansonsten wird sich am Altersbild wirklich nicht viel ändern. ({9}) Eine Altenpolitik, die Hand und Fuß hat, muss alle im Blick haben. Die fitte 87-jährige Dame, die noch die Jugend im Turnverein trainiert, gehört genauso dazu wie der alleinlebende ältere Herr, der aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit seine Wohnung überhaupt nicht mehr verlässt. Beide brauchen in ganz unterschiedlicher Art und Weise unsere Unterstützung. Weder die Horrorszenarien der Überalterung noch die überbordende Betonung der Potenziale im Alter werden der Vielfalt des Alters gerecht. Nur eine aktive Generationenpolitik kann helfen, das Alter wirklich neu zu definieren. Diese Gesellschaft benötigt neue Ideen, Offenheit und eine ehrliche Diskussion über einen Generationenvertrag. ({10}) Frau Ministerin, ich bin auf Ihre Ausführungen gleich gespannt. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Ingrid Fischbach für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Nach den Reden der Opposition kann ich nur sagen: Oh Gott, oh Gott, es muss einem ja grauen, wenn man alt wird. ({0}) Wenn ich jetzt auf die Tribünen schaue und mir die Gruppen ansehe, die dort oben sitzen, dann sehe ich strahlende Gesichter. Ich sehe Menschen, die sich freuen, dass sie ihr Alter genießen können. ({1}) - Sie haben den Altenbericht überhaupt nicht gelesen. ({2}) Ein wichtiger Punkt - ich glaube, das unterscheidet uns ganz gehörig - ist ein neuer Blick auch auf die fitte ältere Generation. ({3}) Es gibt nicht nur die Alten, die krank und pflegebedürftig sind und unsere Hilfe brauchen, sondern es gibt Gott sei Dank auch die fitten älteren Menschen. Wir werden älter, wir leben gesünder, wir können besser medizinisch versorgt werden, wir können unser Leben, unser Alter genießen. Ich finde das total toll. Ich freue mich auf diesen Lebensabschnitt, aber nicht aufgrund Ihrer Ausführungen. ({4}) Ich glaube, deswegen ist es wichtig, dass wir an dieser Stelle deutlich machen, worin sich die Opposition und die christlich-liberale Regierung unterscheiden. Wir wollen die Potenziale des Alters wirklich ausschöpfen und Nutzen stiften. Das heißt, ältere Menschen, die sich gut fühlen, die Kompetenz haben, die Wissen haben, die sich einbringen können, sollen die Chance haben, das zu tun. Darum müssen sie nicht bitten und betteln, sondern das ist ihr gutes Recht. Wir können nur froh sind, auf diese Kompetenz und Erfahrung zurückgreifen zu können. ({5}) Ich habe hier jetzt eine Kollegin der SPD und auch eine Kollegin der Grünen gehört. Man fragt sich natürlich, was hier geredet wird und was an den Stellen getan wird, wo man etwas tun könnte. Ich betrachte jetzt einmal ganz zufällig die Situation in Nordrhein-Westfalen. ({6}) Sie haben sich sicherlich gedacht, dass ich aus meinem Bundesland berichten kann. Sie, Rot-Grün, sind für die Seniorenpolitik in Nordrhein-Westfalen zuständig. Frau Scharfenberg, Sie haben gesagt, man brauche Ziele und Visionen. Ich habe in den letzten zwei Jahren vor Ort nachgefragt, welche Ziele und Visionen die Ministerin hat, die für die Senioren zuständig ist. Darauf wurde mir zuerst die Frage gestellt: Wer ist denn für uns zuständig? ({7}) Das Ministerium, das wir als Christlich-Liberale geschaffen hatten, nämlich das Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration, haben Sie aufgelöst. Sie haben die Aufgaben auf drei Ministerien verteilt, damit erst einmal niemand zuständig ist. Sie schicken die Menschen von rechts nach links, zum Beispiel ins Familienministerium. Schließlich taucht in einem Ministerium das Wort „Alter“ auf. Wissen Sie, in welchem Zusammenhang? Alter und Pflege! ({8}) Das ist genau das Altersbild, das Sie haben: Alter und Pflege. ({9}) Jetzt kann man ja fair sein und sagen: Okay, so sind sie halt. Das wollen sie so sehen, dann sollen sie es auch so tun. - Was tun Sie hier aber, obwohl Sie doch den Schwerpunkt auf Alter und Pflege legen? Nichts! Sie haben über Barrierefreiheit gesprochen. In Nordrhein-Westfalen sind noch keine 3 Prozent der Wohnungen barrierefrei oder barrierearm. Nicht nur die Verbände, die der CDU nahestehen, reklamieren das, sondern auch die Verbände, die Ihnen sehr nahestehen. Der Sozialverband Deutschland kommt mittlerweile nicht mehr zu seinen Ministerien, sondern er sucht sich andere Minister, bei denen er sich einmal äußern und seine Sorgen deutlich machen kann. Genau das ist der Punkt. Wenn Sie sagen: „Pflege im Alter ist uns wichtig“, dann müssen Sie vorausschauen und Visionen haben. Sie müssen sagen: Nicht nur die Wohnungen, die bereits existieren, müssen umgebaut werden, sondern auch bei den Neubauten muss angesetzt werden. ({10}) Auch dort müssen Sie für Barrierefreiheit sorgen. Aber das kommt bei Ihnen nicht vor. Das, was inhaltlich gut gelaufen ist, haben Sie aufgegeben. Wir haben den Generationentag eingeführt, Potenziale des Alters; alles haben Sie abgeschafft. Alle gut laufenden Projekte haben Sie einfach beendet. Sie beschränken sich auf einen ganz kleinen Bereich, und dann nach dem Motto „Sprich’ mich bloß nicht an!“ Niemand hat also die Verantwortung. So kann man keine Politik machen, hier nicht und auch nicht in NordrheinWestfalen. ({11}) Wir haben Ziele. Wir haben Visionen. Wir sagen: Wir brauchen für alle Gruppen im Alter Antworten. Für die fitten älteren Menschen zum Beispiel brauchen wir Angebote, zum Beispiel - mein Kollege Grübel hat es gesagt - den Bundesfreiwilligendienst. Ich freue mich, dass viele ältere Menschen dieses Angebot annehmen. Hier haben wir die Möglichkeit, für Alt und Jung generationenübergreifend etwas zu tun. Die Älteren können Erfahrungen einbringen, von denen Jüngere profitieren. Das ist ein sehr gutes Projekt. Als wir die Mehrgenerationenhäuser eingeführt haben - das ist das Gute, wenn man schon länger dabei ist -, haben Sie lamentiert, Sie wollten in Nordrhein-Westfalen keine Mehrgenerationenhäuser, sondern lieber Familienzentren haben. - Das haben wir in Nordrhein-Westfalen gemacht. Am Ende der christlich-liberalen Regierung gab es knapp 2 000 Familienzentren. Wissen Sie, wie viele unter Ihrer Regierung in Nordrhein-Westfalen hinzugekommen sind? Keine - in zwei Jahren! Das ist es eben: Sie halten hier Schönwetterreden, aber da, wo Sie Verantwortung tragen, tun Sie genau das Gegenteil. Da bitte ich Sie einfach: Hören Sie damit auf! ({12}) - Frau Humme, wir beide bereden das gleich bei einer Tasse Kaffee. Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie sagen immer das Gleiche. ({13}) Wir wollen etwas für ältere Menschen tun. Wir wollen etwas für die ältere Generation verändern. Wir wollen das Potenzial des Alters nutzen. Wir wollen die Menschen ernst nehmen. Wir wollen für sie Angebote schaffen. Ich glaube, das ist hier das Richtige. Die alten Menschen sind eben nicht nur krank oder pflegebedürftig, sondern es gibt auch die, die sich einbringen können. Es geht darum, diese Potenziale zu schützen und zu stärken. ({14}) Zu der Rede von Frau Dittrich sage ich gar nichts. ({15}) Sie hat für sich gesprochen. Sie war wirklich unter aller Kritik. ({16}) Uns ist es in der christlich-liberalen Regierung wichtig, dass wir die Potenziale des Alters nutzen, dass wir den Menschen Perspektiven geben, dass wir deutlich machen: Ihr werdet geschätzt. Wir brauchen euch. Wir zusammen werden all das, was euch im Alter belastet, angehen. - Der Kollege Grübel hat es sehr deutlich gemacht: Vieles ist nicht hinnehmbar und wird geändert werden müssen. - Das werden wir anpacken. Ich würde mich freuen, wenn wir mit Ihrer Unterstützung rechnen könnten; denn dann könnten wir zusammen für die Menschen etwas verändern. Seniorenpolitik - das ist aktive Zukunftsgestaltung für alle Generationen. Ich möchte mit einem Wort von Ursula Lehr enden. Sie hat einmal gesagt: Es kommt nicht darauf an, wie alt man wird, sondern wie man alt wird. In diesem Sinne wollen wir das Beste dafür auf den Weg bringen. Danke schön. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Petra Crone hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Petra Crone (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Etwa 20 000 ältere Menschen, aktiv, wissbegierig, engagiert, sind in der letzten Woche in Hamburg auf dem 10. Deutschen Seniorentag gewesen. Da konnte man ein ganz riesiges Potenzial des Alters erleben, ein äußerst positives Altersbild. ({0}) Es sprühte nur so von Ideen und Tatkraft. Auch gab es wertvolle Impulse, zum Beispiel beim bürgerschaftlichen Engagement. Doch was machen Sie daraus, Frau Ministerin? Auf jede Frage antworten Sie mit einem Hinweis auf den Bundesfreiwilligendienst. In einigen Fällen mag das hinkommen, aber das ist nicht passgenau. Ein richtiges Motto lautet: Einmal engagiert, immer engagiert. Ich fordere Sie auf, Frau Schröder: Sorgen Sie dafür, dass auch Jugendliche neben der Schule Zeit finden, sich zu engagieren - ohne Gegenleistung. Geben Sie ihnen eine Chance, sich im Ehrenamt zu üben. ({1}) Der Bundesfreiwilligendienst, Ihr Liebling, ist ein Vollzeitdienst, den nicht jeder und jede leisten kann. Frau Ministerin, Sie wollen sich mit dem bürgerschaftlichen Engagement profilieren. Warum behandeln Sie ausgerechnet die Freiwilligendienste aller Generationen so stiefmütterlich? Warum verhindern Sie nicht, dass Ihre Regierung die Kommunen immer weiter ausbluten lässt? Denn sie sind es doch, die passgenaue Angebote fördern. ({2}) Egal ob jung oder älter, ob Schüler, Arbeitnehmer oder Rentner: Die Freiwilligkeit muss im Mittelpunkt stehen. Niemand soll das Gefühl haben, sich engagieren zu müssen. Unsere Aufgabe ist es, Lust darauf zu machen. Der Deutsche Seniorentag hat aber auch sehr deutlich gemacht, dass es Themen gibt, die im Sechsten Altenbericht der Bundesregierung unterrepräsentiert sind und von Ihnen, Frau Ministerin, mehr oder weniger elegant umgangen werden. ({3}) Das Thema Altersarmut ist eines der dringendsten Generationenprobleme. Es betrifft nicht nur die Älteren, die schon im Ruhestand sind, sondern genauso auch unsere Kinder und Enkel. Die brauchen gute Vorbilder und das Gefühl, dass Arbeit sich lohnt und mit einer Vollzeitstelle der Lebensunterhalt gedeckt werden kann. Es ist doch beschämend für unser reiches Land, dass dies nicht gewährleistet ist. ({4}) Liebe Kollegen und Kolleginnen der Regierungsfraktion, von Ihnen wird dagegen nichts unternommen. ({5}) Das Übel muss doch an der Wurzel gepackt werden. Ist Ihre Antwort darauf die Einführung des Betreuungsgeldes? Was wir dringend brauchen, sind flächendeckende Mindestlöhne, ({6}) eine höhere Beschäftigungsquote vor allen Dingen für Frauen, mehr Kinderbetreuung in den Regionen und vieles mehr. ({7}) Liebe Kollegen und Kolleginnen von der Linksfraktion, in Ihrem Antrag sind einige interessante Forderungen enthalten, die wir zum Teil auch unterstützen können. Aber ich vermisse bei Ihnen den konkreten Bezug zum Sechsten Altenbericht. Ihr Entschließungsantrag - es ist immerhin ein Entschließungsantrag - ist vielmehr eine Zusammenfassung von seniorenpolitischen Zielen. Die generelle Kritik am Altenbericht kann ich nicht nachvollziehen. Sie sprechen ihm gar die Substanz ab. In einem ähnlichen Maße, in dem Sie der Bundesregierung und den Sachverständigen die Ökonomisierung der Altersbilder vorwerfen, zeichnen Sie ein umfassendes negatives Altersbild, geleitet vom sozialen Abstieg. Das ist genauso falsch. Liebe Kollegen und Kolleginnen, zum Schluss möchte ich den regelrechten Hype um die stets fitten Senioren und Seniorinnen kritisieren. Es ist natürlich schön und ein tolles Ergebnis, dass wir alle älter werden und immer länger gesund bleiben. Die Altersbilder insgesamt sollen positiver werden. Aber Achtung: Wir dürfen sie auch nicht mit Kitsch überlagern. Damit werden nur Ängste vor Hilfs- und Pflegebedürftigkeit und auch vor dem Sterben geschürt. Das darf nicht sein. ({8}) Jeder und jede muss wissen, dass wir uns um eine würdevolle Betreuung, Pflege und auch um Sterbebegleitung kümmern. Dafür hat die SPD-Bundestagsfraktion ein umfassendes Konzept erarbeitet. Das Thema Demenz hat in Zukunft eine sehr große Wichtigkeit. Wo bleiben da die Taten der schwarz-gelben Regierung? Reförmchen des Ministers Bahr helfen nicht weiter. ({9}) Bei all dem ist das Miteinander der Generationen entscheidend, in der Gesellschaft und in der Politik, solidarisch und verantwortungsvoll. Für die SPD-Bundestagsfraktion ist „Teilhabe“ kein leeres Wort. Sie beinhaltet zwei Forderungen: das Recht auf Bildung für jedes Alter und die Förderung von Freiwilligenengagement von und für alle Generationen. Ich danke Ihnen. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute Morgen war ich kurz zu Gast bei einer Seniorenorganisation einer Gewerkschaft. Was ich dort mitgenommen habe, ist die Klage, dass die ältere Generation innerhalb der Gewerkschaft nicht mehr voll mitwirkungsberechtigt ist. Es gibt also durchaus Felder im traditionell eher linken politischen Bereich, bei denen man sich überlegen muss, ob man das richtige Augenmaß hat. ({0}) So viel als Randbemerkung zu dem, was ich an einem Tag in Berlin im Rahmen meiner Abgeordnetentätigkeit mitnehme. Der Sechste Altenbericht ist ein Wegweiser für uns alle; denn er zeigt auf, dass nicht mehr die Belastungen des Alters das ausschließliche Thema, das man mit dem Alter verbindet, sein sollen, sondern dass auch die Chancen einer alternden Gesellschaft begriffen und genutzt werden müssen. Frau Scharfenberg, ich habe Ihren Redebeitrag sehr genau verfolgt und halte es für völlig verfehlt, nur darauf zu setzen, dass wir in Berlin es schon regeln werden. Da sind wir in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt, in den verschiedenen Ländern und Kommunen, schon sehr viel weiter. ({1}) Ich komme aus der Kommunalpolitik. Als ich vor 18 Jahren frischgebackene Stadträtin war, haben wir in Offenburg ein Seniorenbüro eingerichtet. Das war sozusagen eine Freiwilligenagentur. Damals nannte man das noch nicht so, aber nichts anderes war es. Es war ein Experiment, damals auch vom Bund gefördert. Es ist ein Knüller geworden. Mittlerweile gibt es dort eine Selbstorganisation von älteren Menschen, die das soziale Gefüge, den Alltag und das Miteinander der Stadt auf eine ganz interessante Weise prägen. Auch wenn die Menschen nicht mehr im Berufsleben stehen, sagen sie ganz klar: Wir spielen eine Rolle. Wir sind wichtig; wir sind dabei. Wir sind nicht ausgegrenzt. - Das ist für das Klima in einer Kommune ganz wichtig. ({2}) Ein Beispiel für die konkreten Tätigkeiten der dort lebenden Senioren: Sie arbeiten mit ausländischen Studenten an der Fachhochschule zusammen und bieten ihnen an, als Wegweiser in der Stadt zu fungieren und Behördengänge zu erledigen. Dadurch haben die Senioren Kontakt zu Menschen, die aus ganz anderen Lebensverhältnissen stammen. Das ist sehr belebend und hochinteressant. Eine ähnliche Entwicklung gibt es in der Gemeinde Eichstetten am Kaiserstuhl. Die hier betriebene engagierte Kommunalpolitik trägt der Situation der Alten vor Ort Rechnung und sorgt dafür, dass sie sich sowohl in der Pflege als auch im bürgerschaftlichen Engagement wiederfinden, mitarbeiten und ein Austausch stattfindet. Niemand muss den Ort aus Altersgründen oder wegen Pflegebedürftigkeit verlassen. Jeder kann bleiben. Damit sind wir bei einem ganz wesentlichen Thema, das mir in dieser Debatte völlig fehlt. Viele Menschen leben im Alter alleine. Die Familien ziehen weg. Die Kinder sind berufsbedingt ganz woanders. Die Familien sind nicht mehr so eng beieinander. Unter Umständen bleibt man im Alter allein. Die Angst vor dem Alleinsein ist ein wichtiges Thema, dem wir uns widmen müssen. Mir persönlich ist wichtig, neue Wohnformen im Alter zu entwickeln. Diesem Thema widmet man sich mittlerweile auch im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements. Ich kenne etliche Vereine, die dieses Thema in den jeweiligen Kommunen vorantreiben wollen. Es geht nicht allein um Wohngemeinschaften, sondern auch um ein Miteinander, ein vernetztes Wohnen. Nicht alleine und vereinzelt zu sein, das ist wichtig, damit wir auch im Alter den Austausch haben, um fit zu bleiben, uns gegenseitig zu unterstützen, eventuell einer Pflegebedürftigkeit vorzubeugen, gemeinsames Lernen zu organisieren - denn auch das hält jung - sowie letztendlich ein Miteinander in positiver Stimmung - ich habe leider viel zu wenig Zeit, um das weiter auszuführen - zu gestalten und das Lachen nicht zu verlernen. So bleiben wir jung. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Bundesministerin Dr. Kristina Schröder hat jetzt das Wort. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Alter ist vielfältiger und facettenreicher geworden. Der Sechste Altenbericht, für den ich der Sachverständigenkommission unter dem Vorsitz von Professor Dr. Andreas Kruse ganz herzlich danke, fordert uns dazu auf, die Seniorenpolitik auf die Vielfalt des Alters auszurichten. Er stellt dabei die Chancen, die der demografische Wandel bietet, in den Mittelpunkt. Man muss sich bewusst machen: Wir haben es mit einer historisch neuen Lebensphase zu tun. Jahrtausendelang war das Leben des Menschen im Grunde durch drei Lebensphasen bestimmt: Da war die Kindheit und die Jugend als erste Lebensphase, dann kam die Zeit der Berufstätigkeit und des Kümmerns um die Familie, und dann kam das Alter; aber das war ganz schnell von Krankheit und Gebrechen geprägt. Als Bismarck die Rentenversicherung eingeführt hat, lag die Lebensarbeitszeitgrenze bei 70 Jahren, die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei unter 60 Jahren. Die Phase, die wir das junge Alter nennen, also die Lebensphase zwischen 65 und 85 Jahren, ist etwas Neues, das es in der Geschichte der Menschheit so noch nicht gab. Die meisten Menschen erreichen glücklicherweise gesundheitlich relativ fit ein hohes Alter und haben sich viel Erfahrung, Wissen und Gelassenheit angeeignet, die ein langes Leben schenkt. Das ist ein riesiger Schatz für unsere Gesellschaft. Wir stehen noch am Anfang bei dem Versuch, diesen Schatz zu heben. ({0}) Deshalb - das unterstreicht der Antrag der Koalitionsfraktionen -: Wir brauchen die Erfahrung und die Tatkraft älterer Menschen in der Familie, in der Arbeitswelt und im Ehrenamt. Schauen wir einmal in die Familie. Die meisten Menschen erleben doch, dass der Zusammenhalt in den Familien, insbesondere der Zusammenhalt zwischen den Generationen, riesengroß ist, trotz Scheidungen und trotz Mobilität. Letzteres gibt es, aber dennoch: Wenn es darauf ankommt, dann halten in den meisten Fällen die Generationen zusammen. ({1}) Zum Beispiel spielen die Großeltern eine riesige Rolle bei der Betreuung der Enkelkinder und damit auch bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf der mittleren Generation. ({2}) - Krippen können keine Großeltern ersetzen. Das ist nun einmal nicht so einfach. ({3}) Deshalb wollen wir den Zusammenhalt in den Familien durch die Einführung einer Großelternzeit stärken. Wir wollen auch berufstätigen Großeltern die Möglichkeit geben, sich um die Betreuung der Enkel zu kümmern. Umgekehrt: Zwei Drittel der 2,3 Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden zu Hause in ihren Familien gepflegt. Sie werden vom Partner und den eigenen Kindern gepflegt. Deshalb haben wir mit der Einführung der Familienpflegezeit zum 1. Januar 2012 die Familie als Verantwortungsgemeinschaft gestärkt. ({4}) Ein weiterer Punkt. Der Bundesfreiwilligendienst ist ein riesiger Erfolg. Was gab es doch für Katastrophenszenarien und Skepsis? Jetzt stellen wir fest: Fast 20 Prozent der Bufdis, die wir in Deutschland haben, sind über 50 Jahre alt. Der Schreinermeister im Ruhestand geht in die Kitas und Kindergärten und baut mit den Kindern Vogelhäuser, die pensionierte Grundschullehrerin kümmert sich um Kinder mit Migrationshintergrund und hilft ihnen bei den Hausaufgaben. Das ist ein Riesengewinn für unsere Gesellschaft. ({5}) Wir sollten uns aber dessen bewusst sein - da bin ich bei Ihnen, Frau Crone -, dass es in der Seniorenpolitik nicht nur um die Generation 60 plus geht; denn die Alten von morgen sind die Jungen von heute. Deshalb brauchen wir eine vorsorgende Seniorenpolitik, zum Beispiel auch, wenn es um die Folgen familienbedingter Auszeiten und Teilzeitphasen im Beruf geht. Dafür zahlen im Rentenalter insbesondere die Frauen. Ihre Alterseinkommen liegen im Moment rund 60 Prozent unter denen der Männer. Deswegen heißt vorsorgende Seniorenpolitik auch, bei den Ursachen dafür anzusetzen, die früher im Leben liegen. ({6}) Ich mache mir zum Beispiel Sorgen über das Ausufern von Minijobs. ({7}) Für Studenten und Rentner haben Minijobs ihre Berechtigung, aber für Mütter entwickeln sie sich oft zu einer Sackgasse, die zu Altersarmut führt. Deshalb halte ich auch nichts davon, dem Drängen der Arbeitgeber nachzugeben, die nach einer weiteren Flexibilisierung rufen. Wir müssen hier sehr genau gucken, welche Anreize wir setzen. ({8}) Auch im Arbeitsrecht gibt es Regelungen, für die Frauen erst mit schlechteren beruflichen Chancen, dann mit schlechteren Einkommen und schließlich mit niedrigeren Renten bezahlen. Deshalb brauchen wir zum Beispiel endlich mehr Möglichkeiten, flexibel zwischen Vollzeit und Teilzeit, insbesondere auch von Teilzeit wieder in Vollzeit, zu wechseln. Das sind Beispiele für eine vorsorgende Politik für die Lebensphase Alter. Beides gehört in der Seniorenpolitik zusammen: eine Politik, die die Vielfalt des Alters berücksichtigt, und eine Politik, die die Vielfalt des Älterwerdens berücksichtigt. Da ist es ein bisschen wie mit der gesundheitsbewussten Lebensweise: Man muss früh damit anfangen. Auch daran sollten wir denken, wenn es um Teilhabechancen für ältere Menschen geht. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Sabine Bätzing-Lichtenthäler das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, vielleicht hätten Sie weniger Bücher und dafür mehr Gesetzentwürfe für eine bessere Politik für ältere Menschen schreiben sollen. ({0}) Denn zu dem, was uns hier vorliegt, muss man wohl sagen: Fehlanzeige! Auch beim Thema Alter klaffen Wunsch und Wirklichkeit in der Koalition wieder einmal auseinander. So habe ich im schwarz-gelben Koalitionsvertrag zu diesem Thema drei konkrete Vorhaben für diese Legislaturperiode gefunden, erstens eine breit angelegte Initiative zum Thema „Alter neu denken“. - Okay. Nur, was haben wir bekommen? Bekommen haben wir das Programm „Altersbilder“, mitnichten eine breite Initiative und mitnichten neues Denken. Zweitens ist da die Innovationspartnerschaft „Gesundheit im Alter“. Was haben wir bekommen? Ein „Pflegereförmchen“. Drittens wurde das Gesetz zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements angekündigt. Davon ist weit und breit überhaupt nichts zu sehen. Dieses Vorgehen erinnert mich an das Motto: Vorwärts, liebe Freunde, wir gehen zurück! - Damit ist keine gute Politik für ältere Menschen zu schaffen. ({1}) Das einzige, was man findet, sind Plagiate, wie etwa Ihr Antrag zu den Potenzialen des Alters. Es ist nicht das erste Mal, dass Sie damit auffallen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns aber über die Potenziale des Alters und die neuen Altersbilder sprechen. Lebenserfahrung, Berufserfahrung und erworbene Kompetenzen, das sind die Potenziale älterer MenSabine Bätzing-Lichtenthäler schen. Potenziale fallen aber niemandem in den Schoß, Potenziale sind erarbeitet, und man muss sie wecken, fördern, hegen und pflegen. Gleichzeitig darf man sie aber auch nicht überstrapazieren. Denn ältere Menschen wollen zwar weiterhin gebraucht, aber nicht missbraucht oder aufgebraucht werden. ({2}) Für uns bedeutet das erstens: Bürgerschaftliches Engagement ist und bleibt freiwillig und lässt Kreativitätsund Handlungsspielräume für die Helfer. Zweitens setzt bürgerschaftliches Engagement eine soziale Absicherung voraus, das heißt gute Renten basierend auf guten Löhnen, abgesichert durch einen echten Mindestlohn. ({3}) Drittens setzt bürgerschaftliches Engagement Zeit voraus. Das heißt weniger Zeitdruck für Schülerinnen und Schüler, Berufsanfänger und Eltern sowie kreative Ideen für Zeitspenden von älteren Menschen. Viertens hilft bürgerschaftliches Engagement gegen Einsamkeit. Das heißt, wir dürfen Kranke und ältere Menschen mit ihren Sorgen und Hoffnungen nicht allein lassen. Das hilft Helfern und Geholfenen und ist Markenzeichen für eine soziale Gesellschaft. Deswegen brauchen wir soziale Netzwerke und dürfen diese wie zum Beispiel das Programm „Soziale Stadt“ nicht kaputtsparen. Aber auch da haben wir keinen Widerspruch von der zuständigen Ministerin gehört. ({4}) Schließlich fünftens. Bürgerschaftliches Engagement verdient Respekt und Anerkennung. Da sind wir uns, glaube ich, hier im Haus alle einig. Die Organisation von freiwilligem Engagement vor Ort zur Erschließung der Potenziale ist aber alles andere als ein Selbstläufer. Dafür müssen wir vor allem die Zugänge organisieren. Gebraucht werden Information, Beratung und Vernetzung. Dafür muss selbstverständlich auch Geld in die Hand genommen werden. Da es um einen gesamtgesellschaftlichen Gewinn geht, muss auch klar sein, dass Kommunen, Länder und Bund gemeinsam gefragt sind. So wie es ein Miteinander in der Politik geben muss, um die Potenziale des Alters auszuschöpfen, so braucht es auch ein Miteinander der Generationen, damit sich diese Potenziale entfalten können. Gerade älteren Menschen liegt das besonders am Herzen. Ein besseres Miteinander der Generationen könnte dazu beitragen, Zeitdruck von jüngeren Menschen zu nehmen und älteren Menschen neue Betätigungsfelder zu geben. Die Potenziale des Alters kämen hier wunderbar zum Tragen, etwa durch verschiedene Patenschaften in Schule, Familie oder Wohnumfeld. Meine Kolleginnen und Kollegen, es kommt nicht darauf an, wie alt wir werden, sondern wie wir alt werden. Deshalb lassen Sie uns die Potenziale des Alters erschließen. Ihre Vorhaben im Koalitionsvertrag ließen Hoffnung aufkeimen, in der Realpolitik wurde diese jedoch jäh zerstört. Meine Damen und Herren, Frau Ministerin, liefern Sie endlich! Danke schön. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich darf zunächst meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, dass die Frauenquote im Präsidium des Bundestages heute in herausragender Weise erfüllt ist. ({0}) Die jungen Arbeitnehmer können vielleicht schneller laufen, Frau Marks, aber die alten kennen die Abkürzung. - Herr Müntefering, ich wollte Sie gerade loben, aber jetzt gehen Sie hinaus. - Ein Beispiel für diese Weisheit haben wir in den Reihen der SPD mit unserem ehemaligen Arbeitsminister Franz Müntefering. Franz Müntefering ist laut Kürschners Volkshandbuch zu Beginn dieses Jahres 72 Jahre alt geworden. Er war schon deutlich über 65 Jahre, als er in seiner Weisheit erkannt hat: Von den gewonnenen Lebensjahren müssen wir einen Teil im Arbeitsleben verbringen. - Dass er den Konflikt mit Teilen seiner Partei auf sich genommen hat und das Arbeiten bis 67 auf den Weg gebracht hat, dafür wollte ich ihm an dieser Stelle, auch als damaliger Partner in der Großen Koalition, ausdrücklich noch einmal danken. Es gerät doch schnell in Vergessenheit. ({1}) Frau Kollegin Marks hat ausgeführt: Die Beschäftigungsquote bei den Älteren lässt noch zu wünschen übrig. - Frau Kollegin Marks, Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. Im Jahr 2000 lag die Beschäftigungsquote bei den 60- bis 65-Jährigen bei 22,2 Prozent. Im Jahr 2010 lag sie bei 44,2 Prozent. Die Beschäftigungsquote der 60- bis 65-Jährigen hat sich in diesen zehn Jahren also verdoppelt. ({2}) Das liegt zum einen am Auslaufen der 58er-Regelung; das ist richtig. Bis vor wenigen Jahren gab es diese - damals sicherlich vernünftige - Regelung, mit der wir den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesagt haben: Mit 58 Jahren brauchen wir dich nicht mehr so nö21384 tig am Arbeitsmarkt. - Wir werden aber in Zukunft die Potenziale älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch in den Unternehmen stärker benötigen. Es gibt Expertisen, die genau belegen, dass ein vernünftiger Mix von Jungen und Alten in einer Belegschaft das betriebswirtschaftliche Ergebnis eines Unternehmens am besten steigern kann, dass dieser Mix die höchste Effizienz bringt. Darum werden wir in Zukunft unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger im Berufsleben, solange sie fit sind, brauchen. Daran arbeiten wir, Frau Kollegin Marks. Es wäre gut gewesen, Sie hätten einmal mit ihren Arbeitsmarktpolitikern gesprochen. Wir diskutieren über Prävention. ({3}) - Wir machen schon etwas, liebe Frau Kollegin. Fragen Sie doch einmal Frau Kramme. Wir haben das Programm „INQA - Initiative Neue Qualität der Arbeit“. ({4}) Das heißt, wir machen uns sehr wohl Mühe, zu erreichen, dass unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger bis zum Alter von 65 Jahren oder 67 Jahren - und natürlich darüber hinaus - gesund im Berufsleben stehen. Diese Aufgabe wird in Zukunft noch wichtiger werden. ({5}) - Die habe ich doch gerade genannt, Herr Kollege Wunderlich. Sie kommen hierher und fordern mich auf, die Erwerbstätigenquote zu nennen. Wenn Sie mir zugehört hätten, würden Sie sie kennen. Jetzt, im Jahr 2012, liegt die Beschäftigtenlücke bereits bei über 1 Million. Das heißt, 1 Million zusätzliche Arbeitsplätze kann in Deutschland geschaffen werden. Wir werden in Zukunft auf vier Baustellen tätig sein müssen: Wir werden die Beschäftigtenquote der Frauen etwas erhöhen müssen; da stehen wir im internationalen Vergleich noch nicht allzu gut da. Wir werden aber auch die Beschäftigtenquote der Älteren in den Unternehmen erhöhen müssen, und zwar durch Vermittlung von Wertschätzung der Älteren. Wir werden die Beschäftigtenquote der bei uns lebenden Migranten mit Deutschkenntnissen verbessern müssen. Außerdem werden wir überlegen müssen, wie wir noch Beschäftigtenpotenziale im Ausland für uns gewinnen können. - Eine dieser vier Stellschrauben unserer zukünftigen Berufswelt wird aber die Beschäftigung unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, sofern sie fit sind, sein. Noch etwas: Wir sind bei der Beschäftigtenquote der 55- bis 65-Jährigen nicht so schlecht, wie Sie, Frau Marks, ausgeführt haben. Die Schweden liegen in diesem Bereich mit 70,5 Prozent an der Spitze. Die Beschäftigungsquote in Deutschland liegt bei 57,7 Prozent. Der EU-Durchschnitt liegt bei 46,3 Prozent. Frankreich liegt bei 39,7 Prozent. Ich glaube, beschäftigungspolitisch werden wir von den Franzosen nicht viel lernen können, auch wenn Sie, Frau Dittrich, Gegenteiliges vermitteln wollen. „Hurra, wir werden älter“, so lautete die Überschrift des Leitartikels des Hamburger Abendblatts vom 4. Mai, also vor wenigen Tagen. Dass wir älter werden, ist - ich habe es bereits ausgeführt - tatsächlich ein Grund zur Freude. Die gewonnenen Lebensjahre sind ein Geschenk für die ganze Gesellschaft. Wenn heute, am 11. Mai 2012, ein Kind geboren wird, hat es eine 50-prozentige Chance, 100 Jahre alt zu werden. Derzeit leben in unserem Land bereits 17 Millionen Menschen, die älter als 65 Jahre sind. Diese Zahl dürfte in den kommenden Jahren steigen. Experten schätzen, dass im Jahr 2020 gut ein Drittel der 80 Millionen Deutschen zur Generation 65 plus gehören wird. Bis zum Jahr 2040 wird sich die Zahl der über 80-Jährigen auf mehr als 8 Millionen verdoppeln. Noch vor 50 Jahren sind viele Menschen bereits vor dem Eintritt in das Rentenalter gestorben - Frau Ministerin hat in ihrer Rede bereits darauf hingewiesen -; die durchschnittliche fernere Lebenserwartung eines 65-Jährigen betrug etwa zwei Jahre. Wer heute in Rente geht, hat oft noch gut 20 Jahre vor sich. Statistisch gesehen ist die Lebenserwartung zuletzt Jahr für Jahr um drei Monate gestiegen. Ich glaube, die Potenziale des Alters sollten wir gemeinsam, parteiübergreifend positiv bewerten. Im Übrigen sollten Bufdis keine Zwangsarbeit für Ältere leisten. Es gibt sehr viele engagierte Senioren - ich kenne welche aus meinem Wahlkreis -, die froh sind, wenn sie sich in der Gesellschaft einbringen können, die froh sind, vermittelt zu bekommen: Ich werde noch gebraucht. - Sie arbeiten ehrenamtlich mit. Frau Ministerin Schröder hat sehr zutreffend darauf hingewiesen: Viele Großeltern sind froh, dass sie mit den Enkeln die Zeit verbringen können, die sie, vielleicht bedingt durch eine Berufstätigkeit, für die eigenen Kinder nicht hatten. Das ist ein Ausdruck von Lebensqualität. Diesen positiven Ansatz fortzuentwickeln ist des Schweißes aller Edlen und Gerechten wert. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten! Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 17/9504. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des Sechsten Berichts der Bundesregierung zur Lage der älteren Generation auf Drucksache 17/3815 unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/8345 mit dem Titel „Altersbilder positiv fortentwickeln - Potenziale des Alters nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung von CDU/CSU und FDP angenommen. Dagegen waren Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt SPD und Linke. Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2145 mit dem Titel „Potenziale des Alters und des Alterns stärken - Die Teilhabe der älteren Generation durch bürgerschaftliches Engagement und Bildung fördern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Linke hat sich enthalten. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9596. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion abgelehnt; alle übrigen Fraktionen waren dagegen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 34 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik - Drucksachen 17/6915, 17/9551 Berichterstattung: Abgeordnete Nadine Schön ({1}) Nicole Bracht-Bendt Katja Dörner Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Die Kollegin Ewa Klamt hat das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({2})

Ewa Klamt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004203, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute über den Antrag der Linken mit dem Titel „Für eine moderne und zukunftsweisende Familienpolitik“. ({0}) Ein schöner Titel, aber bei genauerem Hinschauen stellt man fest, dass der Antrag im Wesentlichen eine bunte Vielfalt an „Wünsch dir was“-Punkten, schillernden Ideen und abstrusen Vorwürfen ist. ({1}) So wirft die Linke der Bundesregierung vor, den Ausbau der Kinderbetreuung nicht ernst zu nehmen. ({2}) Wir haben bereits gestern in der Aktuellen Stunde darüber diskutiert. Auch durch Wiederholung wird Ihre Behauptung nicht wahrer. Der Bund ist seiner Verantwortung beim Ausbau vollumfänglich gerecht geworden. ({3}) Beim Krippengipfel 2007 haben sich Bund, Länder und Kommunen an einen Tisch gesetzt und gemeinsam Ausbaukosten von 12 Milliarden Euro veranschlagt. Jede Ebene hat dabei zugesagt, jeweils ein Drittel der Kosten zu übernehmen. ({4}) Die zugesagten 4 Milliarden Euro hat der Bund ebenso bereitgestellt, wie wir zu den Betriebskostenzuschüssen von 770 Millionen Euro jährlich ab 2014 stehen. Egal wie oft Sie die Forderung wiederholen, der Bund solle weitere Krippenplätze bauen: Zuständig sind hierfür die Länder und Kommunen. Für die Finanzausstattung der Kommunen sind wiederum die Länder zuständig. ({5}) Ergänzt wird die Finanzierung des Ausbaus der Krippenplätze durch das Aktionsprogramm Kindertagespflege. Mit diesem werden der Platzausbau in der Kindertagespflege und die Weiterbildung von Tageseltern mit 29 Millionen Euro unterstützt. Über das Programm konnte beispielsweise der Anteil der Tagespflegepersonen ohne Qualifikationskurs immerhin auf 14 Prozent gesenkt werden. Mit der Qualifizierungsinitiative für Deutschland haben wir seit 2008 zusätzlich 80 000 Erzieherinnen und Erzieher sowie Tagesmütter und Tagesväter weitergebildet. ({6}) Die „Offensive Frühe Chancen“ ergänzt unsere Familienpolitik im Bereich der Sprachförderung von Kindern. Hier werden bis 2014 rund 400 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um in etwa 4 000 Kitas in Deutschland auf Kinder mit besonderem Sprachförderbedarf einzugehen. Das bedeutet für jede Kita vier Jahre lang 25 000 Euro für eine Fachkraft. Ich selbst habe mehrere Schwerpunktkitas in meinem Wahlkreis. Die Erzieherinnen vor Ort sind voll des Lobes und der Anerkennung für diese Leistung des Bundes, die direkt den Kindern zugutekommt, die sie brauchen. Interessant ist auch der Vorwurf der Linken, dass die Bundesregierung an alten Rollenbildern festhalte. Da kann ich nur sagen: Im Gegensatz zu Ihnen respektieren wir individuelle Lebensentwürfe und Wertevorstellun21386 gen von Familien und orientieren uns an den vielen spezifischen Bedürfnissen. ({7}) Dementsprechend verstehe ich unter einer modernen Familienpolitik, dass wir die vielfältigen und auch sehr unterschiedlichen Bedürfnisse von Familien in Deutschland anerkennen und entsprechend praktikable Lösungen für Familien umsetzen. Im Gegensatz zu Ihnen sprechen wir nicht nur für einen Teil der Familien; wir setzen uns für alle ein. ({8}) Herr Wunderlich, wenn Sie zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass wir uns entgegen Ihrem Zuruf, den die Zuhörer wahrscheinlich nicht gehört haben, nicht nur für die Wohlhabenden einsetzen. Es ist klar: Wenn wir gerade für Kinder mit Migrationshintergrund 400 Millionen Euro investieren, damit in Kitas entsprechende Fachkräfte eingesetzt werden können, dann ist das eine ganz andere Gruppe als eine wohlhabende. Das wissen Sie genau. Unstrittig ist, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine gesellschaftliche Herausforderung ist. Ursula von der Leyen ({9}) hat 2005 diese vernachlässigte Aufgabe erstmalig zu ihrem Schwerpunktthema gemacht. Dazu gehören der Ausbau der Kinderbetreuung und der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab 2013 als wohl wichtigste Bestandteile der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. ({10}) Hier dürfte sogar die SPD klatschen; denn Sie haben es in der Großen Koalition mit beschlossen. ({11}) - Es kann sein, dass in NRW nichts passiert ist. Auf Bundesseite ist alles in die Wege geleitet worden. ({12}) Familienfreundlichkeit von Unternehmen gehört ebenso dazu. Unsere Gespräche mit Arbeitgebern haben unter anderem zu der Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“ geführt. Die Gewinner des Wettbewerbs „Erfolgsfaktor Familie“ sind ein guter Beweis dafür, dass auch in der Wirtschaft das Bewusstsein für die nötige Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf wächst. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Unternehmen nur gewinnen können, wenn sie die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter ernst nehmen und Familienverantwortung als wertvolle Bereicherung von Kompetenzen betrachten. Das wird gerade im Zuge des Fachkräftemangels in den nächsten Jahren immer wichtiger. Familienfreundlichkeit ist ein entscheidender Standortfaktor. Was sich Familien wünschen und wo große Schwierigkeiten auftreten, zeigt sich im Achten Familienbericht, den Ministerin Kristina Schröder diese Woche im Ausschuss vorgestellt hat. Zeit wird dabei als eine der wertvollsten Ressourcen von Familien anerkannt. Um diese Zeitsouveränität für Familien zu schaffen, sollen verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten geprüft werden, zum Beispiel die Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen, die ausgeweitete Übertragbarkeit von Elternzeitansprüchen oder auch die Großelternzeit. Ebenso wichtig war uns, dass Frauen nach einer Babypause in den Beruf zurückkehren können. Das vom Familienministerium entwickelte Programm „Perspektive Wiedereinstieg“ ist dabei so erfolgreich, dass es sogar in den Instrumentenbaukasten der Bundesagentur für Arbeit aufgenommen wurde. Vielen Dank, Frau Ministerin! ({13}) Ihr Vorschlag, sehr geehrte Kollegen der Linken, lautet hingegen, den Kündigungsschutz für Eltern bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr des Kindes auszuweiten. Das ist schlichtweg kontraproduktiv. Für uns ist entscheidend, junge Familien finanziell zu unterstützen, und das haben wir entsprechend verstetigt und ausgeweitet. Das von uns eingeführte Elterngeld kann als voller Erfolg verbucht werden. 98 Prozent aller Eltern nehmen diese Unterstützung des Staates in Anspruch. Damit haben wir für Eltern nach der Geburt eines Kindes einen Schonraum geschaffen und konnten gleichzeitig - darüber freue ich mich ganz besonders junge Väter motivieren, mehr Verantwortung bei der Erziehung ihres Kindes zu übernehmen. ({14}) Es ist interessant, dass bereits jeder vierte Vater seiner Partnerin bei der Betreuung des gemeinsamen Kindes zur Seite steht. Gleichzeitig werden insbesondere Frauen motiviert, nach einer intensiven Kinderzeit wieder Anschluss an das Berufsleben zu finden. ({15}) Auch Ihr Vorschlag zur Ausweitung des Elterngeldes auf 24 Monate für Alleinerziehende ist hier nicht zielführend, weil dadurch der Wiedereinstieg zusätzlich erschwert wird. Zur finanziellen Unterstützung von Familien gehört neben dem Elterngeld in den ersten 12 bis 14 Monaten auch das Kindergeld. Bereits zu Beginn dieser Legislaturperiode hat diese Koalition daher die Kinderfreibeträge auf 7 008 Euro erhöht und das Kindergeld um 20 Euro angehoben. Allein dadurch hat eine vierköpfige Familie im Jahr 480 Euro mehr zum Leben. Da aus unserer Sicht zur Familienpolitik auch eine eigenständige Jugendpolitik gehört, ist Familienministerin Kristina Schröder hier vorangegangen und hat das neue Politikfeld etabliert. Jugendliche in Deutschland sind in der großen Mehrheit engagierte und verantwortungsbewusste junge Menschen. Das kann man auch am Erfolg des Bundesfreiwilligendienstes ablesen. ({16}) 10 Prozent aller Jugendlichen eines Jahrgangs beteiligen sich deutschlandweit an den Freiwilligendiensten. Nur zur Erinnerung: Von der Opposition wurde dieses Konzept noch im letzten Jahr als Rohrkrepierer bezeichnet. Ich kann also festhalten: Man kann alles schlechtreden; wir machen es gut. ({17}) Immerhin können wir einen Punkt Ihres Antrags voll und ganz unterschreiben: Familie ist dort, wo Verantwortung füreinander übernommen wird. - Genau deshalb haben wir neben all den anderen bereits genannten Punkten mit der Familienpflegezeit erstmals die Möglichkeit geschaffen, Verantwortung in der Familie und Verantwortung im Beruf zu kombinieren. Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Antrag der Linken manch wünschenswerten Aspekt enthält; aber - und dieses Aber ist entscheidend - es fehlt wie immer eine Gegenfinanzierung Ihrer Vorschläge. Wir als christlich-liberale Koalition werden auch in Zukunft Politik für Familie machen und die nötigen Maßnahmen ergreifen, Maßnahmen, die die Familien im Zusammenleben unterstützen, die den Familien bei der Bewältigung ihres Alltags helfen und die die individuellen Lebensentwürfe von Familien respektieren und anerkennen. Ich danke Ihnen. ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Christel Humme das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Klamt, man kann sich die Welt auch schönmalen. Das haben Sie gerade getan. ({0}) Ich glaube, noch nie gab es eine Regierung, die über Familienpolitik so zerstritten war wie die jetzige Regierung. Noch nie hat es eine Regierung gegeben, Frau Schröder, die nach der Halbzeit in der Familienpolitik eine Minusbilanz aufzuweisen hatte. Sie haben wunderschöne Programme aufgelegt und Appelle formuliert, aber keine einzige Entscheidung getroffen, die für eine moderne, nachhaltige Familienpolitik gestanden hätte. ({1}) Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist der Ansatz immer klar gewesen: Moderne, nachhaltige Familienpolitik ist ohne moderne nachhaltige Gleichstellungspolitik nicht möglich. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Eine moderne Gleichstellungspolitik ist ohne eine moderne Familienpolitik genauso wenig möglich. - Erinnern wir uns an die gestrige Debatte zum Betreuungsgeld. Es steht weder für eine moderne Familienpolitik noch für eine moderne Gleichstellungspolitik, ({2}) wenn Sie das Betreuungsgeld einführen wollen. Ich hoffe, das Betreuungsgeld kommt nicht, wie von Frau Haderthauer und der CSU angekündigt, vor der Sommerpause. Die CSU-Sozialministerin Haderthauer beklagt, es gebe in der CDU keine echten Familienpolitikerinnen mehr. Recht hat sie. Recht hat sie jedoch nicht, wenn sie mit dieser Aussage den verstaubten ideologischen Kampf der 50er-Jahre wiederbeleben will. Das ist ein ideologischer Kampf, den wir alle hier im Parlament - davon bin ich überzeugt - schon längst überwunden glaubten. Recht hat sie vor allen Dingen nicht, wenn sie behauptet, das Betreuungsgeld fördere Wahlfreiheit. Das ist ein Irrtum, dem offensichtlich viele von Ihnen unterliegen, leider auch die Ministerin. Warum? Liebe Frau Klamt, Sie haben gerade gesagt, dass Sie alle Familien gleichermaßen wertschätzen. Schauen wir uns doch einmal an, was der Bund tatsächlich für die Familien ausgibt. Er gibt jährlich mehr als 130 Milliarden Euro aus, 72 Milliarden Euro davon gehen an Familien mit einem traditionellen Familienbild, in denen der Vater der Ernährer ist und die Frau in der Regel zu Hause bleibt. ({3}) 25 Milliarden Euro geben Bund, Länder und Kommunen für die Betreuungsinfrastruktur aus. Ist das für Sie eine gleichwertige Wertschätzung der beiden Lebensformen? Ist es für Sie Wahlfreiheit, wenn wir auf der einen Seite 72 Milliarden Euro und auf der anderen Seite nur 25 Milliarden Euro ausgeben, obwohl wir alle wissen, dass Familien mit Kindern Schlange stehen, um einen Betreuungsplatz zu bekommen? Wo ist da die Balance? Wo ist da die Wahlfreiheit? Frau Ministerin Schröder, Sie haben uns gestern in der Debatte vorgeworfen, wir seien nicht sensibel für die Bedürfnisse junger Familien, ({4}) schließlich wollten 50 Prozent der Eltern gar keinen Krippenplatz. Ich kann die Zahlen nicht nachprüfen; ich weiß nicht, wo Sie die herhaben. ({5}) Aber selbst wenn das stimmen sollte: Was machen Sie denn mit den anderen 50 Prozent, die einen Krippenplatz haben wollen? In den westlichen Ländern haben wir eine 20-prozentige Bedarfsdeckung. Es fehlen also immer noch 30 Prozent, für die wir die 2 Milliarden Euro, die Sie für das Betreuungsgeld vorgesehen haben, unbedingt brauchen. ({6}) Frau Schröder, ich muss leider feststellen: Sie sind eine Familienministerin, die ein bisschen sehr weit von der Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen junger Menschen entfernt ist. ({7}) Hinzu kommt die Zerstrittenheit in Bezug auf das Betreuungsgeld. Ich befürchte, dass dies eine vertane Chance für die jungen Menschen ist. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind drei Aspekte wichtig, wenn wir über unsere Ziele in der Familienpolitik sprechen: ({8}) Wir brauchen Geld, Infrastruktur und Zeit, um uns nah an der Lebenswirklichkeit junger Familien zu orientieren. Lassen Sie mich als Beispiel meine Familie anführen. Frau Schröder, ich habe Töchter in Ihrem Alter. Sie sind 27 und 30 Jahre alt. Sie sind also in einem Alter, in dem die Entscheidung ansteht, ob man eine Familie gründen möchte. Meine Töchter gehören wie Sie zu der Generation von Frauen, die eine Ausbildung bzw. ein Studium absolviert haben und den erlernten Beruf auch ausüben wollen. Wer möchte ihnen das verwehren? Sie möchten natürlich ein existenzsicherndes Einkommen, weil sie wissen, dass sonst unter Umständen Altersarmut droht. Meine Töchter gehören zu den 80 Prozent der jungen Frauen, über die Jutta Allmendinger im Zuge einer Studie aus dem Jahr 2008 einmal gesagt hat: Diese Frauen wollen Kinder, Karriere und einen Mann, aber keinen Versorger. - Ich möchte hinzufügen: Sie haben ihr Buch nicht für Frauen wie meine Töchter geschrieben. Zumindest stelle ich fest, dass sich meine Töchter von Ihrem Buch nicht angesprochen gefühlt haben. Es liegt doch auf der Hand: Junge Frauen wie meine Töchter brauchen einen guten Betreuungsplatz für ihre Kinder, um ihren Beruf weiter ausüben und so ihr Familieneinkommen sichern zu können. Was sollen die mit dem Betreuungsgeld anfangen? Überhaupt nichts. Hier wird deutlich, wie weit Sie sich mit Ihrer Politik von dem entfernt haben, was sich die jungen Menschen wünschen. Im Moment bieten Sie auf Bundesebene keine einzige Lösung an, wie den jungen Frauen in irgendeiner Weise Unterstützung gewährt werden kann. Ein Wort zu Ihnen, Frau Klamt. Sie vertun sich: Wir haben damals bei den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag die Einführung des Elterngeldes und der Elternzeit durchgesetzt, ({9}) und darüber sind wir froh; denn mittlerweile beteiligen sich 25 Prozent der Väter an der Familienarbeit, was aber auch heißt, dass sich 75 Prozent der Väter nicht beteiligen. Wir waren immer für mehr Partnerschaftlichkeit in der Elternzeit. Frau Schröder, auch Sie wollten es anfangs ermöglichen, die Elternzeit partnerschaftlich aufzuteilen, und zwar nicht für 7 Monate, wie es jetzt der Fall ist, sondern für 14 Monate. Leider sind Sie vor dem Finanzminister eingeknickt. Sie haben sich nicht durchsetzen können. Es reicht auch nicht aus, zu appellieren, dass die Möglichkeit, von Teilzeit auf Vollzeit zu gehen, verbessert werden sollte. Wir sind der Meinung, dass wir dafür eine gesetzliche Lösung brauchen. Ich denke, Sie sollten sich einmal mit der ehemaligen Familienministerin Frau von der Leyen zusammensetzen. Sie sollten mit ihr sprechen und gemeinsam einen Entwurf eines neuen, besseren Teilzeit- und Befristungsgesetzes auf den Tisch legen, das Familien hilft. Es muss möglich sein, befristet teilzeitbeschäftigt zu sein mit dem Recht, später wieder Vollzeit zu arbeiten. Ich denke, das sind konkrete Lösungen, und darum geht es doch eigentlich. ({10}) Der Arbeitsmarkt tut natürlich sein Übriges. Ich denke an meine Töchter. Sie haben einen Arbeitsmarkt vor sich, auf dem es Teilzeitfallen, Praktika, befristete Arbeitsverträge und Minijobs gibt. Und wir wundern uns, dass die Familiengründung immer weiter hinausgeschoben wird? Ich denke, auch an dieser Stelle brauchen wir gesetzliche Regelungen, auch ein Entgeltgleichheitsgesetz, damit Männern und Frauen gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird. Die Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt müssen für Familien stimmen. Die Linken haben einen Antrag vorgelegt, in dem vieles von dem, was ich gerade genannt habe, aufgegriffen wird. Wir stimmen dem Antrag trotzdem nicht zu. Manchmal fordert man vielleicht zu viel des Guten. Ich möchte nur zwei Beispiele nennen: Sie möchten den Kündigungsschutz bis zum sechsten Lebensjahr des Kindes ausweiten - das hört sich super an -, und Sie möchten, dass die Alleinerziehenden 24 Monate lang Elterngeld beziehen; auch das hört sich super an. Beides ist aber eine Falle. Die eine Falle ist, dass Frauen aufgrund des Kündigungsschutzes keine Anstellung finden. Die andere Falle ist: Wenn man zu lange aus dem Beruf heraus ist, findet man den Anschluss nicht mehr. Von daher sagen wir: Gute Bildung und Betreuung, gute Arbeit, Zeit für Familien, und zwar für Frauen und Männer - das ist die richtige Politik, das ist moderne Familienpolitik und gleichzeitig moderne Gleichstellungspolitik. Danke schön. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Miriam Gruß das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Wunderlich, Sie haben im Familienausschuss über den Antrag gesagt, das sei ein bunter Strauß an Forderungen der Familien-, Frauen-, Gesundheitsund Pflegepolitik. Ich muss Ihnen leider attestieren: Der Strauß ist nicht bunt, sondern rot und vor allem teuer. ({0}) Ich will nur einige Punkte aus diesem „Wünsch dir was“-Katalog nennen - sie sind schon angesprochen worden -: gebührenfreie Ganztagsbetreuung, Elterngeld für Alleinerziehende auf 24 Monate ausweiten, Kindergeld auf 200 bis 300 Euro erhöhen und natürlich ein Mindestlohn in Höhe von mindestens 10 Euro pro Stunde. Ja, ich gebe zu, dass man in der Opposition den Vorteil hat, dass man nicht alles mit spitzem Bleistift rechnen muss. Das, was Sie verlangen, geht aber in den zweistelligen Milliardenbereich, und das hat nichts mit seriöser Familienpolitik zu tun; ({1}) denn seriöse Familienpolitik bedeutet auch, darauf zu achten, welche Schulden wir den nächsten Generationen hinterlassen. Die Realisierung Ihrer Forderungen hätte einen Schuldenaufbau zur Folge. Ich glaube, dass Ihren Haushaltspolitikern die Schamesröte ins Gesicht gestiegen ist, als sie diesen Antrag im Haushaltsausschuss verteidigen mussten. Sie haben damit jede Glaubwürdigkeit verloren. Sie sollten kein einziges Mal mehr über den Abbau der Neuverschuldung sprechen. ({2}) Jetzt kommt mein Lieblingssatz: Auf Schuldenbergen können Kinder nicht spielen und erst recht nicht lernen. ({3}) Dieser Satz stimmt. Das, was Sie fordern, würde zu einem höheren Schuldenberg führen. Wir hingegen machen uns an den Abbau der Neuverschuldung. Wir investieren klug und gerecht. Wir haben investiert. Wir haben das Kindergeld und die Kinderfreibeträge erhöht. Wir geben 4 Milliarden Euro für den Ausbau der Betreuungsplätze aus. Wir haben ein Kinderschutzgesetz, Strukturen für Familienhebammen und das Netzwerk Frühe Hilfen geschaffen. Wir haben die Familienpflegezeit eingeführt. Wir schaffen mit dem Frauenhilfetelefon eine Infrastruktur zum Schutz von Frauen. Wir haben in den Haushalt Mittel zur Verbesserung von Kinderwunschbehandlungen eingestellt. Wir gestalten den Elterngeldvollzug unbürokratischer. Wir tun dies alles mit Vernunft und Augenmaß, aber auch mit Blick auf den Haushalt. Die Bundesrepublik ist kein Li-La-Launeland und der Haushalt kein „Wünsch dir was“-Fonds. Mit Realpolitik hat Ihr Antrag nichts zu tun. Deswegen wird er von uns klar abgelehnt. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jörn Wunderlich hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hier wurde herausgehoben, was diese Koalition gemacht hat, zum Beispiel die Erhöhung des Kindergeldes. Das ist ja schön. Aber was hat eine Familie im Hartz-IV-Bezug von der Erhöhung des Kindergeldes? Nichts, weil es voll angerechnet wird. ({0}) Was hat eine Alleinerziehende, die Unterhaltsvorschuss bezieht, von der Kindergelderhöhung? Nichts, weil der Unterhalt voll gegengerechnet wird. - So viel zur Wertschätzung aller Familien. Ich habe vier Minuten Redezeit. Wie soll man in vier Minuten eine Neuausrichtung der Familienpolitik darstellen? ({1}) Ich will mich auf wenige Punkte beschränken. Ich wäre schon froh, wenn die Regierung nur einen - ich wiederhole: nur einen - der von uns beantragten Punkte aufgreifen würde. Hauptsache, sie fängt überhaupt einmal an. ({2}) Zu Punkt 1 unserer Forderungen: einem gesetzlichen Mindestlohn und Arbeitsbedingungen, welche familienfreundlich gestaltet sind. Ich nenne ein Beispiel - es ist hier angesprochen worden -: Man kann in einem Betrieb Pflegezeit beantragen, wenn zum Beispiel ein Elternteil pflegebedürftig wird. Einen Rechtsanspruch auf diese Pflegezeit - vergleichbar mit der Elternzeit - gibt es aber nicht. Hier soll - so ist es am Mittwoch gesagt worden abgewartet werden, wie sich die Inanspruchnahme von Pflegezeit auf freiwilliger Basis entwickelt. Wir brauchen ein individuelles Recht auf Teilzeitarbeit mit Rückkehr in die Vollzeit. ({3}) Auch der besondere Kündigungsschutz bis zur Einschulung des Kindes oder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres des Kindes - in diesem Alter werden die meisten Kinder eingeschult -, der hier kritisiert wird, ist erforderlich. Das heißt ja nicht, dass diesen Eltern nicht gekündigt werden kann. Es wird übrigens immer nur von Müttern gesprochen; Väter sind auch Elternteile. ({4}) Ihnen kann gekündigt werden, aber es müssen besondere Gründe vorliegen. Die Arbeitszeit ist insgesamt so zu gestalten, dass Väter und Mütter die Möglichkeit haben, neben der Elternschaft auch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Darüber hinaus brauchen wir eine Infrastruktur für Familien, Kinder und Jugendliche. Wir brauchen zunächst eine bedarfsgerechte, qualitativ hochwertige Kinderganztagsbetreuung. ({5}) Das Elterngeld ist auszubauen, sowohl hinsichtlich der Partnermonate als auch hinsichtlich der Teilzeitarbeitsmöglichkeiten. Dazu wird sich in Kürze hier im Haus Gelegenheit ergeben. Mal sehen, ob die Koalition dann ihrem eigenen Koalitionsvertrag und dem einhelligen Sachverstand aller Sachverständigen folgen wird. Ganz wichtig: Der Unterhaltsvorschuss ist auszubauen. Ich habe es gerade schon gesagt. Die maximale Bezugsdauer von 6 Jahren ist mit nichts zu begründen, und auch die Altersobergrenze von 12 Jahren nicht. Es waren einmal 14 Jahre als Obergrenze geplant; dies ist von der Koalition wieder zurückgenommen worden. Erklären Sie einmal einer alleinerziehenden Mutter oder einem alleinerziehenden Vater, bei denen der Unterhalt ausfällt, warum das Amt ab dem 13. Lebensjahr des Kindes keinen Unterhaltsvorschuss mehr zahlt. Braucht ein Kind ab 13 Jahren kein Essen, keine Schulbücher, keine Kleidung und keine Teilhabe? Das erklären Sie einmal den Menschen, die täglich damit zu tun haben. Das Totschlagargument der gelb-schwarzen Koalition, das immer genannt wird, lautet: Wünsch dir was, wer soll das alles bezahlen? Ich werde es Ihnen sagen. Bei Einführung eines Mindestlohns von 10 Euro pro Stunde - dies wird im Antrag erwähnt - würde sich nach Berechnungen des Prognos-Instituts durch höhere Sozialversicherungsbeiträge, höhere Steuereinnahmen und geringere Sozialausgaben ein fiskalischer Gesamteffekt von 12,7 Milliarden Euro ergeben. 12,7 Milliarden Euro plus! Dieses Geld verschleudert die Regierung allein durch ihr Nichtstun. Für den Kitaausbau sollte der Bund nach unserer Überzeugung 4 Milliarden Euro zusätzlich in die Hand nehmen. Bleiben 8,7 Milliarden Euro übrig. Die Rücknahme der Kürzung des Elterngelds würde 600 Millionen Euro kosten. Bleiben etwa 8,1 Milliarden Euro übrig. Für den Kinderzuschlag sind 3,2 Milliarden und für die Aufstockung des Mindestelterngelds 2,3 Milliarden Euro notwendig. Bleiben unter dem Strich rund 2,5 Milliarden Euro übrig. Wenn die Regierung dann noch die geplanten 2 Milliarden Euro für dieses unsinnige Betreuungsgeld dazupackt, sind die Forderungen in unserem Antrag, die als nicht bezahlbar bezeichnet werden, allesamt problemlos zu erfüllen. ({6}) Aber man muss es auch wollen. Die Linke will es, aber die Gelb-Schwarzen werden heute wieder unter Beweis stellen, dass sie es nicht wollen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit an diesem Freitagnachmittag. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Familienpolitik der schwarz-gelben Bundesregierung ist leider völlig auf der falschen Spur. Wodurch zeichnet sich die Familienpolitik von Union und FDP aus? Knatsch und Zank, etwas anderes bekommt man eigentlich gar nicht mit. Das Betreuungsgeld ist nur ein Beispiel. Heute habe ich in der Zeitung gelesen, dass die CSU Familienministerin Schröder ein Ultimatum stellt, um einen Gesetzentwurf vorzulegen. ({0}) Da muss ich doch sagen: Das ist wahre Liebe unter Geschwisterparteien. So stelle ich mir nun wirklich keine harmonische Familienpolitik vor. Trotz dieser ganzen Streitereien sind in der Haushaltsplanung 1,2 Milliarden Euro für das Betreuungsgeld vorgesehen. Diese 1,2 Milliarden Euro könnten wir in der Familienpolitik wirklich sehr viel besser einsetzen. ({1}) Wir hatten am Montag eine Anhörung im Familienausschuss. Diese Anhörung hat sich mit der Weiterentwicklung des Elterngelds befasst. Alle anwesenden Expertinnen und Experten waren sich durch die Bank, egal wer sie eingeladen hatte, völlig einig, dass wir das Teilelterngeld ausbauen sollten. ({2}) Die jetzige Regelung hat nämlich den großen Nachteil, dass die Eltern, die sich die Kindererziehung partnerschaftlich teilen, benachteiligt und diskriminiert werden. Das können wir alle eigentlich nicht wollen. Alle Expertinnen und Experten waren sich auch einig: Die Partnermonate beim Elterngeld müssen ausgebaut werden. Auch das finden wir eigentlich alle richtig. Beide Vorschläge sind auch im Koalitionsvertrag so vorgesehen. Für diese Vorschläge gab es sogar schon einen ausgearbeiteten Gesetzentwurf. Nur: Dieser Gesetzentwurf ist wieder eingesackt worden. Was war der Grund? Der Grund war: Es ist kein Geld für diese sinnvollen Maßnahmen da. ({3}) Eine andere wichtige Maßnahme - sie ist hier schon genannt worden - ist der Unterhaltsvorschuss. Auch zum Unterhaltsvorschuss finden wir im Koalitionsvertrag einen guten Vorschlag, nämlich den, die Altersgrenze zu verschieben. Die Altersgrenze zu verschieben, wäre absolut sinnvoll und würde gerade Alleinerziehenden und ihren Kindern in einer wirklich schwierigen Lebenssituation tatsächlich helfen. Auch dazu lag schon ein Gesetzentwurf vor. Auch dieser Gesetzentwurf wurde einfach wieder einkassiert. Warum? Weil für diese Maßnahme angeblich kein Geld da ist. Es ist absolut absurd, dass diese Regierung die wenigen sinnvollen Maßnahmen, die sie im Koalitionsvertrag vorgesehen hat, mit der Begründung, es sei kein Geld dafür da, auf Eis gelegt hat, gleichzeitig aber für eine absurde Maßnahme wie das Betreuungsgeld 1,2 Milliarden Euro ausgeben will. ({4}) Ich finde, da kann man sich nur an den Kopf fassen. ({5}) Ich möchte einen Punkt aus dem Antrag der Linken aufgreifen, und zwar die Orientierung an einem wirklich modernen Familienbild. Familie ist nämlich längst nicht mehr da, wo es einen Trauschein gibt, sondern Familie ist da, wo Kinder sind und wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. ({6}) Leider ist dies in der deutschen Familienpolitik und gerade im Familienrecht überhaupt noch nicht umgesetzt. Wann handelt die Bundesregierung beispielsweise beim Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche und eingetragene Lebenspartnerschaften? ({7}) Wann handelt sie endlich bei der steuerlichen Benachteiligung von Alleinerziehenden, von nicht miteinander verheirateten Eltern und von Patchworkfamilien? ({8}) Beim Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Paare warten wir seit zwei Jahren auf einen Gesetzentwurf. Es wurde aber immer noch nichts vorgelegt. Auch hier gibt es keinerlei Aktivitäten dieser Bundesregierung. Was tut die Bundesregierung beispielsweise zur Absicherung von Regenbogenfamilien? ({9}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, all das sind rhetorische Fragen. Die Antwort darauf lautet: Sie tut nichts. ({10}) Die schwarz-gelbe Familienpolitik bleibt leider ein mutloses Schmalspurprogramm. Soll denn von dieser Legislaturperiode nur das Betreuungsgeld übrig bleiben? Das können wir alle nun wirklich nicht wollen. ({11}) Daher auch von meiner Seite der dringende Appell an die Bundesregierung: Setzen Sie endlich die richtigen Prioritäten, und wenden Sie sich den relevanten Fragen zu! Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für eine moderne und zukunfts- weisende Familienpolitik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9551, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa- che 17/6915 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a und b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe - Drucksache 17/9390 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Doris Barnett, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Anpassung des deutschen Bergrechts - Drucksache 17/9560 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vizepräsidentin Petra Pau Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Oliver Krischer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Gesetzentwurf, den wir hier heute einbringen, soll einen Anachronismus im deutschen Bergrecht beseitigen. Im Bergrecht gibt es die Vorschrift, dass jemand, der einen Rohstoff fördert, eine Förderabgabe in Höhe von 10 Prozent des Marktwertes an das jeweilige Bundesland zahlen muss. Das ist auch völlig richtig so, weil hier jemand ein Allgemeingut, einen Bodenschatz, in Anspruch nimmt, der der Gesellschaft gehört. Dafür soll dann auch gezahlt werden. Das Bergrecht sieht auch vor, dass die Länder mehr als 10 Prozent erheben können. Die Praxis sieht aber leider völlig anders aus. Wenn man sich einmal anschaut, wo in Deutschland überhaupt eine Förderabgabe erhoben wird, dann ist das Ergebnis ernüchternd. Außer bei der Erdgasförderung gibt es nämlich faktisch keine Erhebung einer Förderabgabe. Es kann nicht sein, dass wir von Ländern in Schwarzafrika, Südamerika oder sonst wo auf der Welt verlangen, dass die Staaten von der Rohstoffgewinnung profitieren, während in Deutschland nicht einmal eine Förderabgabe gezahlt wird. ({0}) Besonders frappierend ist das bei der Braunkohle. Die Braunkohle ist wertmäßig der wichtigste Rohstoff, der in Deutschland gefördert wird. Es geht dort um große Mengen, große Volumina in zwei großen Revieren, nämlich im Rheinland und in Ostdeutschland. Auch hier wird keine Förderabgabe erhoben. Der Grund ist: Hier gibt es alte Rechte, die in Kaisers Zeiten oder irgendwann später verliehen worden sind, und im Bundesberggesetz gibt es einen Ausnahmeparagrafen, der die Erhebung der Förderabgabe bei solchen alten Rechten ausdrücklich freistellt. Das gehört abgeschafft; ({1}) denn man kann keinem Menschen erklären, dass ganze Landschaften devastiert werden und dass Unternehmen wie Vattenfall und RWE mit dem Braunkohlenbergbau und der Verstromung Milliardengewinne machen, während sie auf der anderen Seite keinen Euro und keinen Cent Förderabgabe dafür zahlen. ({2}) Es ist auch völlig richtig, dass die Länder in Zukunft eine solche Einnahme haben müssen; denn durch den Bergbau entstehen Ewigkeitskosten und Folgekosten, die teilweise immense Höhen erreichen. Wir kennen das aus dem Steinkohlenbergbau: Das komplette Ruhrgebiet muss auf ewig leergepumpt werden, weil das Ganze sonst durch die ganzen Bergsenkungen „absaufen“ würde. Ähnliches wird im Rheinland durch den Braunkohlenbergbau auf uns zukommen, und wir kennen solche Schäden bereits in Ostdeutschland. Hier entstehen am Ende Folgekosten für die öffentliche Hand, wenn die Unternehmen nicht mehr greifbar sind. Es ist auch bei Konzernen wie RWE und Vattenfall nicht auf Jahrzehnte hinaus sicher, dass sie zahlen können. Deshalb ist es völlig richtig, dass die Länder entsprechende Einnahmen haben, um gerade auch diese Folgekosten in Zukunft abdecken zu können. Deswegen ist die Förderabgabe richtig. ({3}) Es wird immer gesagt - ich vermute, das wird gleich in der Debatte auch noch kommen -, das sei verfassungsrechtlich gar nicht machbar. Wir haben das vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages prüfen lassen. Er sagt klipp und klar: Selbstverständlich kann man das Bundesberggesetz ändern, damit man trotz dieser alten Rechte eine Förderabgabe erheben kann; denn es geht ja nicht um einen Entzug der Rechte, sondern nur um eine Heranziehung zur Zahlung einer Abgabe. Das alles ist für die Unternehmen nach wie vor wirtschaftlich machbar; denn sie machen mit diesen Rechten ja Milliardengewinne. Deshalb ist das auch verfassungsrechtlich völlig problemlos möglich. Das sagt nicht nur der Wissenschaftliche Dienst, sondern das sagen auch viele anerkannte Rechtsanwaltskanzleien und entsprechende Beratungsbüros. ({4}) Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu, weil das den vom Bergbau betroffenen Ländern - in Ostdeutschland, Nordrhein-Westfalen, aber auch anderen - die Möglichkeit eröffnet, eine solche Förderabgabe zu erheben. Es geht nämlich darum, dass die Länder solche Einnahmen haben. Das wollen wir ermöglichen. Wir wollen das nicht erzwingen, sondern wir wollen das den Ländern überlassen, damit dort die Einnahmen gewonnen werden, weil sie die Folgekosten am Ende bezahlen müssen. ({5}) Zum Schluss noch ganz kurz zum SPD-Antrag. Sie haben auch einen Antrag zum Bergrecht eingebracht. Es ist gut, dass sich die SPD mit diesem Thema auseinandersetzt. Das war nicht immer so. Es finden sich dort durchaus auch kritische Bemerkungen zum Thema Bergbau. Wer die SPD gerade aus Nordrhein-Westfalen kennt, der weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Um es aber einmal ganz offen zu sagen: Lieber Rolf Hempelmann, das, was im Beschlussteil kommt, ist dünn wie Pergamentpapier. Das ist eine Ansammlung von Prüfaufträgen. Hier müsst ihr noch weiterarbeiten. Der Koalitionsvertrag in Nordrhein-Westfalen ist hier schon weiter. Ich nenne zum Beispiel die Beweislastumkehr bei Bergschäden durch den Abbau von Braunkohle im Tagebau. Das haben wir schon gemeinsam in Nordrhein-Westfalen vereinbart. Aber ihr schreibt dazu einen windelweichen Prüfauftrag in euren Antrag. Das ist zu wenig, aber immerhin ist es besser als das, was die Koalition bei diesem Thema macht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Krischer, Sie hatten einen Schlusssatz angekündigt.

Oliver Krischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004081, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, herzlichen Dank. - Ich beende mich. Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Andreas Lämmel. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zum Glück sind am Sonntag die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, dann wird auch hier wieder die Bühne sein, um vernünftige Debatten führen zu können. Wenn man die Plenarsitzungen von gestern und heute verfolgt, stellt man fest, dass fast kein einziges Thema dabei gewesen ist, bei dem nicht der Wahlkampf hervorlugte und Rot-Grün versuchte, Themen zu lancieren. Zum Bergrecht sind in diesem Jahr schon mehrere Anträge gestellt worden. Es gibt Anträge aus der Fraktion der Grünen. Die SPD hat einen nachgereicht. Die Linke hat ebenfalls einen Antrag eingereicht. Jetzt kommt der Gesetzentwurf der Grünen dazu. ({0}) Dazu muss man zwei kurze, grundsätzliche Anmerkungen machen. In der ersten Anmerkung geht es um die Frage der Rohstoffe. Deutschland ist sehr stark von Rohstoffimporten abhängig. Das hat sich in den letzten Jahren - das wissen Sie alle - nicht wirklich verbessert. Im Gegenteil: Die Bedingungen auf den internationalen Rohstoffmärkten zur Versorgung der deutschen Wirtschaft sind eher schwieriger geworden. Daraus ist dann die umfassende Rohstoffstrategie der Bundesregierung entstanden. Die CDU/CSU-Fraktion hat nun schon ihren dritten Rohstoffkongress veranstaltet, und wir werden auch einen vierten Kongress folgen lassen, um genau diese Themen weiter zu diskutieren. ({1}) Ein wesentlicher Bestandteil dieser Rohstoffstrategie ist die Diversifizierung von Rohstoffbezugsquellen; denn wenn man mehrere Bezugsquellen hat, kann man die Abhängigkeiten reduzieren und damit die Versorgungssicherheit erhöhen. Diversifizierung bedeutet natürlich auch die Nutzung einheimischer Rohstoffe. Ich möchte es hier noch einmal ganz klar und laut sagen: Deutschland ist kein rohstoffarmes Land. Aber man muss natürlich an die Rohstoffe herankommen. Genau darum geht es. Wir wollen den Rohstoffimport weiter verringern. Rohstoffimporte bedeuten schließlich, dass Vermögensund Kapitalleistungen aus Deutschland ins Ausland verschoben werden, was aus der jährlichen Öl- oder Gasrechnung Deutschlands klar hervorgeht. Laut Gesetzentwurf der Grünen werden in Deutschland Rohstoffe im Wert von 17,7 Milliarden Euro produziert. Das wäre also der Betrag, den man dann noch zusätzlich ins Ausland transferieren müsste, würde man den Bergbau in Deutschland einstellen. ({2}) - Dazu komme ich noch. Bleiben Sie ganz ruhig. - Neben den ökonomischen Aspekten spielen auch ökologische und soziale Aspekte sowie der Arbeitsschutz eine Rolle. Gerade die Fraktion der Grünen, die zukünftig den Bergbau in Deutschland verhindern will, macht sich überhaupt keine Gedanken, wie der Bergbau in anderen Ländern betrieben wird. Es kann nicht unser Anspruch sein, das Problem des Bergbaus einfach in andere Länder zu verschieben. ({3}) Die zweite grundsätzliche Bemerkung betrifft die Energiewende. Große Teile des Hauses haben im letzten Jahr diese Energiewende beschlossen. Es geht nun darum, acht grundlastfähige Kernkraftwerke vom Netz zu nehmen. Das heißt natürlich, dass bis 2022, bis zum vollständigen Umstieg auf die regenerativen Energien, fossile Energieträger in Deutschland eine wesentlich größere Rolle spielen werden. Das bedeutet: Neben den Importen von Gas und Öl sind die heimischen Energieträger Braunkohle und Steinkohle unverzichtbar. ({4}) Schauen wir uns einmal den Gesetzentwurf der Grünen an, der heute in erster Lesung beraten wird. Erst einmal ein großes Kompliment an die Fraktion der Grünen: Ich glaube, das ist der kürzeste Gesetzentwurf, den ich jemals in die Finger bekommen habe. ({5}) Von daher ist er erst einmal sehr gut. Beim genaueren Hinschauen kann man aber sagen: Der Gesetzentwurf müsste eigentlich unter dem Titel „Bergbau in Deutschland abschaffen“ stehen. Genau das wollen wir nicht. ({6}) Es geht um die Förderabgabe. Sie haben das kurz beschrieben. Nach dem Bundesberggesetz ist eine Förderabgabe von 10 Prozent des Marktwertes - also nicht auf den Gewinn, sondern auf den Umsatz - zu zahlen. Die Regelung der Freistellung von der Förderabgabe wollen Sie nun abschaffen. Nun könnte man vermuten, dass Sie sozusagen Chancengleichheit unter den Rohstoffförderunternehmen herstellen wollen, wie Sie es auch behaupten. Ein Blick in den Gesetzentwurf zeigt aber, dass es nur um eines geht, nämlich darum, die Kohleförderung in Deutschland völlig unmöglich zu machen. Das ist die Zielrichtung Ihres Gesetzentwurfs. Das kann man auch in der Begründung genau nachlesen. Sie können nicht erwarten, dass wir dem zustimmen werden. Denn die anderen Rohstoffe wie Kiese, Sande oder Salze, die in Deutschland weiterhin gefördert werden, werden nicht erwähnt. Es geht ausschließlich um das Thema Kohle. Was die juristische Betrachtung angeht - ich bin kein Jurist, sondern Ingenieur; es gibt aber verschiedene wissenschaftliche Dienste -, ({7}) lohnt sich ein Blick in die Gesetzesbegründung zum alten Bergbaugesetz aus der achten Wahlperiode des Deutschen Bundestages. Zur Begründung des § 151 heißt es darin: Das Bergwerkseigentum alten Rechts muß als unbefristetes Recht aufrechterhalten bleiben … Entsprechendes gilt für § 30, da die Erhebung einer Förderabgabe nur für Bergwerkseigentum in Betracht kommen kann, das erst aufgrund dieses Gesetzes verliehen wird. Die Begründung des damaligen Gesetzes zielt genau in die Richtung, dass die alten Bergbaurechte erhalten bleiben müssen. Sie gehen auch auf die Situation in den neuen Bundesländern ein. Sie haben sie aber nur halb dargestellt. Das tut mir leid. Ich lade Sie gerne ein, dort hinzufahren. Wir können auch gerne die Bilder danebenlegen, die sich 1990 dem Betrachter darstellten und zeigen, wie in einer Gesellschaft Bergbau betrieben wurde, die nichts von dem ordentlichen Bergrecht hatte. Dort ging es nicht darum, dass ein Bergbaubetrieb auch dafür zuständig ist, die Landschaft wiederherzustellen und einer neuen Nutzung zu übergeben. In den neuen Ländern ist die Rechtslage wiederum anders - auch das haben Sie nicht dargestellt -; denn in den neuen Ländern wurde mit der Privatisierung der Bergbauunternehmen schon ein Bergbauzins eingeführt. ({8}) Man hat sozusagen die Fördersummen berechnet, die in den Gruben zur Verfügung stehen. Die Unternehmen zahlen jetzt im Prinzip mit den Zinsen die Fördermenge ab. Meine Damen und Herren, wenn Sie einen solchen Gesetzentwurf auf den Weg bringen, dann müssen Sie zumindest die Realität ordentlich abbilden ({9}) und die Begründung so schreiben, dass nicht jeder Halbblinde merkt, dass es nur darum geht, der Braunkohle endlich den Garaus zu machen, was Sie vorher in Ihrer Regierungszeit leider nicht geschafft haben. Die SPD hat schon einer einheitlichen Erhebung einer Förderabgabe eine Abfuhr erteilt. Das können Sie in den Ressourceneffizienzprogrammen nachlesen, denen die SPD auch zugestimmt hat. Dafür sind wir auch sehr dankbar. Insofern stehen Sie mit Ihrem Ansinnen jetzt ziemlich alleine da. Zusammenfassend muss man beim Thema Bergbau auf zwei Punkte achten. Erstens müssen die Bergbauunternehmen bei allen neuen Vorhaben oder Erweiterungen auf die Belange der Bevölkerung und der Gemeinden vor Ort intensiver eingehen. Das ist sicherlich keine Frage. Man kann auch darüber nachdenken, wie man das besser gestalten kann. Zweitens - das ist der wichtige Punkt - muss aber Bergbau in Deutschland weiterhin möglich sein. Dafür stehen wir. Deswegen freue ich mich auf die Beratungen Ihres Gesetzentwurfs im Ausschuss. ({10}) Ganz ehrlich: Große Chancen räume ich dem Vorhaben nicht ein. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Lämmel, man kann Eulen nach Athen oder Kohlen nach Newcastle tragen. Aber Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass niemand einen Antrag gestellt hat, den Bergbau in Deutschland abzuschaffen oder Rahmenbedingungen zu schaffen, die dafür sorgen, dass es keinen erfolgreichen Bergbau in Deutschland mehr geben kann. ({0}) Es gibt einen Gesetzentwurf der Grünen, der sich mit der Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe befasst, unseren Antrag und einen Antrag der Linken. Nach meinem Dafürhalten wird nirgends die tiefere Absicht verfolgt, den Bergbau in Deutschland abzuschaffen. Zur Förderabgabe vorweg: Am 23. Mai wird es eine Anhörung geben. Es ist legitim, dieses Thema dann zur Debatte zu stellen. Dann werden wir hinterher mit Sicherheit klüger sein als zuvor und uns dazu unsere Meinung bilden. Das Gleiche gilt, lieber Oliver Krischer, auch für die Frage der Beweislastumkehr. Warum sollten wir uns schon heute festlegen, wenn wir wissen, dass wir in einer Anhörung Experten dazu hören können? Deswegen gibt es einen Prüfauftrag. Die Prüfung beginnt mit der Anhörung. Der Auslöser dieser Debatte über das Bergrecht und die entsprechenden Vorschläge der Opposition ist das Thema unkonventionelles Erdgas. Wir befassen uns seit längerem intensiv mit dieser Thematik. Wer sich an die gestrige Debatte über das unkonventionelle Erdgas, das Fracking, erinnert, kann nur staunen. Ganz offensichtlich gibt es auch in der Bundesregierung und in den sie tragenden Fraktionen Überlegungen, das Bergrecht zu ändern; denn nichts anderes bedeutet es, wenn der Umweltminister gestern im Plenum und der Wirtschaftsminister über die Medien uns mitteilen, dass man jedenfalls auf der Basis der geltenden bergrechtlichen Bestimmungen nicht in der Lage sei, dem Fracking grünes Licht zu erteilen, sondern dass man dazu neue Erkenntnisse, Umweltverträglichkeitsprüfungen - dieses Wort ist gestern gefallen - und vieles andere mehr brauche. Mit anderen Worten: Schon in der gestrigen Debatte ist also deutlich geworden - wenn wir den Minister einmal ernst nehmen -, dass wir eine Novelle zum Bergrecht unbedingt brauchen. Die entscheidende Frage lautet, wie ernst wir ihn nehmen können. Er hat sich gestern zum Retter der Enterbten gemacht und verdeutlicht, wie sehr es ihm ein Anliegen ist, die Ängste der Bevölkerung aufzunehmen. Vor zwei Jahren haben wir davon nichts bemerkt, als es um die Zukunft der Kernenergie in Deutschland ging. Aber es ist schön, dass Lernprozesse auch in der Bundesregierung stattfinden. Hoffen wir nur, dass sie den nächsten Sonntag, den 13. Mai, überleben; denn wie wir wissen, war das Umdenken bei der Kernenergie genauso einem Wahltermin geschuldet wie nun das Umdenken beim Fracking. ({1}) Warum ist eine Novelle zum Bergrecht notwendig? Wenn man sich anschaut, wann das Bergrecht entstanden ist und zuletzt novelliert wurde, wird klar, dass die Notwendigkeit besteht, dieses Recht weiterzuentwickeln. Es geht übrigens nicht darum, dieses Recht abzuschaffen. In den letzten Tagen habe ich eine entsprechende Forderung vernommen, mit der Begründung des Auslaufens des Steinkohlenbergbaus. Das kann keine Lösung sein. Selbst wenn das Bergrecht nur für den Steinkohlenbereich gelten würde, wären mit der letzten Förderung die bergrechtlichen Zuständigkeiten noch nicht erloschen; denn dann geht es um die sogenannten Ewigkeitslasten. Auch das muss bergrechtlich sauber organisiert sein. Es gibt viele Gründe - einige sind bei Ihnen, Herrn Lämmel, gerade angeklungen -, warum das Bergrecht weiterentwickelt werden muss. Sie haben deutlich gemacht, in welchem Umfang und in welchen Bereichen Bergbau in Deutschland stattfindet. Dabei geht es um Kiese, Sande und energetische Rohstoffe wie Braunkohle, Steinkohle und Erdgas, aber auch um viele andere Rohstoffe. Natürlich wollen wir die Bergbauförderung aufrechterhalten. Das heißt, das Ganze muss bergrechtlich flankiert sein. Aber das geltende Bergrecht ist in Zeiten entstanden, in denen es in der Bevölkerung nicht ein solches Bewusstsein für Umweltschutz und insbesondere für Trinkwasserschutz gab, wie das heute der Fall ist. Die Gesellschaft hat sich einfach weiter verändert. Schon aus diesem Grunde muss das Bergrecht deutlich angepasst werden. ({2}) Wir stellen das gerade - ich habe das Beispiel am Anfang genannt - im Zusammenhang mit dem unkonventionellen Erdgasfracking fest. Man sollte nicht populistisch versuchen, dieses Thema kurz vor einem Wahltermin zu behandeln. Wir haben das Problem seit mehr als einem Jahr in Anträgen hier im Deutschen Bundestag thematisiert. Beim Erdgasfracking sind sehr sensible umwelt- und wasserrechtliche Belange betroffen. Deshalb organisiert sich die Bevölkerung vor Ort und leistet Widerstand schon gegen Probebohrungen. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Das ist nicht in jedem Fall Alarmismus. Man kann möglicherweise Befürchtungen entkräften, aber klar ist, dass es die berechtigte Erwartung gibt, dass im Bergrecht Vorkehrungen getroffen werden, um drängende Fragen der Bevölkerung beantworten zu können: Was passiert mit unserer unmittelbaren Umwelt? Was passiert mit unserem Trinkwasser? Welche Vorkehrungen werden getroffen, damit wir nicht unnötig belastet werden? Das ist der Kern unseres Antrags. Wir wollen eine Modernisierung und eine Anpassung des Bergrechts. Ich denke, dass wir im Zusammenhang mit der Anhörung Gelegenheit haben, das Thema zu vertiefen. Ich hoffe, dass es dann eine konstruktive Beteiligung auch der Koalitionsfraktionen gibt. Gerade wenn Ihnen der Bergbau in Deutschland wichtig ist, sollten Sie mitarbeiten und dafür sorgen, dass wir ein Bergrecht bekommen, das in unsere Zeit passt. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Manfred Todtenhausen für die FDP-Fraktion. ({0})

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der sichere Zugang zu Rohstoffen ist für die deutsche Wirtschaft die Voraussetzung für industrielle Wertschöpfung und damit für Beschäftigung, Wachstum und Innovationen. ({0}) In den zurückliegenden Jahren hat sich für die deutschen Unternehmen die Sicherung der Rohstoffversorgung zu einer Herausforderung entwickelt. Maßgeblichen Anteil daran hat der weltweit stark gestiegene Bedarf an Rohstoffen, der zu teilweise drastischen Preisanstiegen und bedrohlichen Verknappungen geführt hat. Zudem ist gerade in Deutschland zunehmend eine künstliche Verknappung und dauerhafte Entziehung von Rohstofflagerstätten durch konkurrierende Nutzung und Überplanung zu verzeichnen. In der Konsequenz nimmt die Importabhängigkeit weiter zu. Bereits heute sind wir in vielen Bereichen auf die Einfuhr von Rohstoffen angewiesen, sei es bei der Versorgung der Metall- und Elektroindustrie, bei der Deckung des Bedarfs an fossilen Energieträgern oder bei der Entwicklung von neuen Technologien. ({1}) Damit sind erhebliche Teile der deutschen Wirtschaft der Ergiebigkeit globaler Lagerstätten sowie der gesellschaftlichen und politischen Stabilität in den jeweiligen Förderregionen ausgesetzt. Parallel dazu haben sich die Bedingungen an den Weltmärkten für Rohstoffe spürbar verschlechtert. Folglich hat die Nutzung heimischer Ressourcen auch eine Ausgleichsfunktion gegenüber globalen Entwicklungen. Die Aufgabe der Politik ist es, durch zweckmäßige Rahmenbedingungen den Zugang zu Rohstoffen zu gewährleisten und stetig zu verbessern. Dies müssen wir an dieser Stelle nochmals deutlich betonen. ({2}) Den ordnungspolitischen Rahmen für die Rohstoffgewinnung in Deutschland setzt seit mehr als 30 Jahren das Bundesberggesetz. Teile des Bergrechts gehen gar auf das 12. Jahrhundert zurück. Hätte es damals schon die Grünen gegeben, dann wären wir wahrscheinlich gesellschaftlich nicht ganz so weit wie heute. Wir wären vielleicht noch im Mittelalter. ({3}) Das Bundesberggesetz schafft Planungs- und Rechtssicherheit. Es ermöglicht so hohe Investitionen zur Verbesserung der Versorgungssicherheit und trägt maßgeblich zum Erhalt der Wertschöpfungskette im Inland bei. Gleichzeitig bildet es aber auch die Grundlage zur Vorsorge im Hinblick auf Gefahren und zur Wahrung der Rechte Dritter. Vor diesem Hintergrund erfolgten in der Vergangenheit Anpassungen des Bundesberggesetzes nur mit Augenmaß und unter Einbeziehung hoher fachlicher Kompetenz. Das soll auch in Zukunft so bleiben. ({4}) Was aber will die Opposition mit den uns vorliegenden Initiativen erreichen? Schaut man in den Gesetzentwurf der Grünen, wird schnell klar, worum es eigentlich geht. Der anhaltende Mangel an Wettbewerbsfähigkeit grüner Energiespielwiesen soll nun künstlich behoben werden. ({5}) Durch eine erzwungene Verteuerung konkurrierender Formen der Stromerzeugung hofft man, dem ungebremsten Anstieg der EEG-Umlage begegnen zu können. ({6}) Diese Zielsetzung ist nicht neu und war daher vonseiten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auch nicht anders zu erwarten. ({7}) Die Lasten hieraus müssten wiederum die Stromkunden in unserem Land tragen. Die Strompreise würden steigen. So folgt nach der Insolvenz von Aluminiumhütten wohl bald der Ruin der Baustoffindustrie. ({8}) Dass die Grünen marktwirtschaftlichen Prozessen eher wenig abgewinnen können, konnten wir in der Vergangenheit bereits häufiger vernehmen. Mit dem eingebrachten Gesetzentwurf wird jetzt aber sogar das Grundgesetz infrage gestellt. Eine nachträgliche Änderung vertraglich gesicherten Bergwerkeigentums wäre ein Verstoß gegen das Eigentumsrecht gemäß Art. 14 GG. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Todtenhausen, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Höhn?

Manfred Todtenhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004222, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. Verzeihen Sie mir. ({0}) Selbst wenn man eine Enteignung - was im konkreten Fall abwegig ist - in Betracht ziehen würde, dann wäre diese mit entsprechenden Entschädigungszahlungen verbunden. Zur Verdeutlichung: Nach dem Willen der Grünen soll dem Eigentümer eines Bergwerks durch die Förderabgabe Kapital entzogen werden, um es ihm hinterher als Entschädigung zurückzugeben. Das wäre dann das ungeheuer erfolgreiche Prinzip: linke Tasche, rechte Tasche. ({1}) Aber auch dieses Politikverständnis kennt man von der Opposition. Im Vergleich dazu muss man dem Antrag der SPD zumindest mehr Sachlichkeit zubilligen. In ihm sind verManfred Todtenhausen nünftige Punkte enthalten, über die wir sicher noch diskutieren werden. Dennoch geht der Antrag in zahlreichen Punkten über eventuelle Erfordernisse weit hinaus. Vor möglichen Änderungen gesetzlicher Bestimmungen sollte immer der Grundsatz stehen, Auslegungsspielräume bestehender Vorschriften zu nutzen. Die aufgezeigten Konfliktfelder könnten durch eine konstruktive Regionalplanung gelöst werden, beispielsweise im Zuge eines Planfeststellungsverfahrens oder einer vorgeschalteten Raumordnungsplanung. Ich möchte noch einmal klarstellen: Bei bergbaulichen Planungen und Entscheidungen sind sowieso überwiegend Landesbehörden gefordert. Selbstverständlich werden auch in Zukunft veränderte Bedingungen zu Anpassungen am deutschen Bergrecht führen, aber selbstverständlich sachdienlich und besonnen. Forderungen, die darauf abzielen, Bergbauaktivitäten zu unterbinden oder zumindest stark zu verzögern, lehnen wir entschieden ab. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Todtenhausen, das war Ihre erste Rede im Hohen Haus. Zur Erklärung für die Zuhörerinnen und Zuhörer: Das heißt nicht, dass der Kollege Todtenhausen seit 2009 schweigend hier im Plenum gesessen hat, sondern er ist erst am 2. Mai dieses Jahres in den Deutschen Bundestag nachgerückt. Wir gratulieren Ihnen recht herzlich zu dieser ersten Rede und wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere Tätigkeit! ({0}) Das Wort hat die Kollegin Sabine Stüber für die Fraktion Die Linke. ({1})

Sabine Stüber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004171, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen ein modernes Bergrecht, das zwei Funktionen erfüllen muss: Zum einen muss es der notwendigen Rohstoffgewinnung Rechnung tragen und dabei die Besonderheiten des Bergbaus berücksichtigen. Zum anderen muss es, und das viel stärker als bisher, den Interessen von Betroffenen und der Umwelt gerecht werden. ({0}) Zurzeit räumt das Bergrecht dem Abbau von Bodenschätzen einen besonderen Vorrang vor allen anderen Interessen ein. Das ist bei dem heutigen Wissen um die Endlichkeit der fossilen Ressourcen nicht mehr zeitgemäß. ({1}) Nun hat auch die SPD einen Antrag zur Novelle des Bergrechts vorgelegt. Er ist allerdings in der Analyse und in den Forderungen sehr allgemein gehalten. Dass es konkreter geht, zeigen entsprechende Anträge der Grünen und der Linken. Der SPD-Antrag geht zwar in die richtige Richtung, aber unverständlich bleibt, warum die Sozialdemokraten vor „weiteren Investitionshindernissen“ warnen. Das heißt im Klartext: vor verbesserten Beteiligungs- und Klagerechten für die Umweltverbände. Zu diesen Hemmnissen sagen wir Nein. ({2}) Entweder ein Bergbauvorhaben erfüllt die gesetzlichen Anforderungen, oder es erfüllt sie eben nicht. Dann muss es im Zweifelsfall gestoppt oder verbessert werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben hier schon zweimal die Bergrechtsnovelle debattiert. Deshalb möchte ich jetzt nur noch auf die Förderabgabe eingehen. Es ist ein Unding, dass Energiekonzerne mit der Braunkohle seit Jahren enorme Profite einfahren, aber keinen Cent Förderabgabe an den Staat zahlen. ({3}) Beim Abbau werden ganze Dörfer umgesiedelt, zum Beispiel bei mir in Brandenburg, wo Tausende Menschen ihre Heimat verloren haben. Und RWE oder Vattenfall machen fette Gewinne, ohne mit nur einem Cent für die Verwüstung von Natur und Landschaft aufzukommen. ({4}) - Bitte hören Sie mir zu. - Kommunale Stromversorger oder Wasserwerke hingegen müssen schon für die Nutzung öffentlicher Wege Konzessionsabgaben an die Gemeinden zahlen. Deshalb muss eine Förderabgabe für die Konzerne auch für die alten Bergrechte gelten, über die unmittelbaren Pflichten zur Entschädigung und Wiederherstellung hinaus. Die Grünen wollen in ihrem Antrag Ausnahmeregelungen streichen. Das unterstützen wir. ({5}) In unserem Antrag fordern wir eine vergleichbare Regelung. Wir meinen darüber hinaus, dass die Länder keine Möglichkeit mehr haben sollten, selbstständig den bundeseinheitlichen Satz abzusenken. Herr Krischer hat es schon gesagt: Er beträgt gegenwärtig 10 Prozent des Marktwertes der Rohstoffe. Im Übrigen wären - angesichts der Gewinne - auch 15 Prozent vertretbar. Es wird oft behauptet, dass laut Einigungsvertrag in Ostdeutschland keine Förderabgaben erhoben werden dürfen. Das gehört allerdings in das Reich der Legenden. Die rot-grüne Bundesregierung hatte vielmehr darauf verzichtet, und zwar im Zusammenhang mit der Übernahme der Braunkohlenunternehmen VEAG und Laubag durch Vattenfall in Brandenburg. Im Handelsblatt war jedenfalls im März 2001 zu lesen, dass der damalige Bundeswirtschaftsminister Müller Vattenfall den Verzicht auf den Förderzins in jährlich zweistelliger Millionenhöhe angeboten habe. Bis dato musste die Laubag für den Braunkohleabbau zahlen. Es gab also schon einmal eine Förderabgabe, zumindest in der Lausitz.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Stüber, ich bin ein geduldiger Mensch. Aber achten Sie jetzt bitte auf mein Signal.

Sabine Stüber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004171, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Diese sollten wir schleunigst wieder einführen, und das nicht nur im Osten. Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/9390 und 17/9560 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 23. Mai 2012, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, soweit das möglich ist.