Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
({0})
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich. Ich freue mich über die ausgesprochen gute Laune, mit der Sie offenkundig zur Plenarsitzung erschienen sind,
({1})
und will sie gleich mit einer Serie von Glückwünschen
festigen.
Die Kollegin Angelika Graf feiert heute ihren 65.
und die Kollegin Carola Stauche ihren 60. Geburtstag.
Beiden möchte ich im Namen des ganzen Hauses herzlich gratulieren.
({2})
Es geht noch weiter: Bereits am 29. April bzw. am
4. Mai feierten die Kolleginnen Dr. Barbara Hendricks
und Bärbel Höhn ihren 60. Geburtstag. Auch ihnen
möchte ich auf diesem Wege noch einmal unsere guten
Wünsche übermitteln.
({3})
Der Kollege Paul Friedhoff hat mit Wirkung vom
2. Mai 2012 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Für ihn ist der Kollege Manfred
Todtenhausen nachgerückt. Im Namen des Hauses begrüße ich den neuen Kollegen und wünsche ihm einen
guten Einstieg in unsere Arbeit und gute Zusammenarbeit.
({4})
Wir müssen vor Eintritt in die Tagesordnung eine
Wahl durchführen, die hoffentlich nicht hochumstritten
sein wird. Der Kollege Dr. Martin Neumann hat sein
Schriftführeramt niedergelegt. Als neuen Schriftführer
schlägt die Fraktion der FDP den Kollegen Jörg von
Polheim vor. Können Sie sich damit anfreunden? - Ist
jemand dagegen? - Dann stelle ich die einstimmige
Wahl des Kollegen von Polheim zum Schriftführer fest.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Gute Prognosen bestätigt: Mehr Wachstum
und mehr Beschäftigung in Deutschland
({5})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 36
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kleegras-Verwendung in Biogasanlagen stärken
- Drucksache 17/9322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland fördern - Für eine nationale Alphabetisierungsdekade
- Drucksache 17/9564 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nanotechnologie - Chancen nutzen und Risiken minimieren
- Drucksache 17/9569 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 37
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zu
schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen
KOM({10}) 866 endg.; Ratsdok. 18509/11
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes
- Drucksachen 17/8673 Nr. A.13, 17/9447 ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Kitaausbau statt Betreuungsgeld
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zur geplanten Einberufung
einer Regierungskonferenz und zum geplanten
Beschluss der Regierungskonferenz über die
Zustimmung zum Protokoll zu den Anliegen
der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/9568 ZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch
Wettbewerbsfähigkeit
Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem wird der Tagesordnungspunkt 18 b bis d
abgesetzt.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste
aufmerksam:
Der am 26. April 2012 ({11}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Haushaltsausschuss ({12}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begleitung der Reform der Bundeswehr ({13})
- Drucksache 17/9340 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({14})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum G-8-Gipfel am 18./19. Mai 2012 in Camp
David und zum NATO-Gipfel am 20./21. Mai
2012 in Chicago
Hierzu liegt uns ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch darüber gibt es offensichtlich Einvernehmen. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({15})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In den nächsten Wochen
werden die Vereinigten Staaten von Amerika Gastgeber
zweier wichtiger internationaler Konferenzen sein. Zuerst treffen sich die G-8-Staaten in Camp David. Anschließend findet die Jahrestagung der NATO in Chicago
statt.
Im Mittelpunkt des G-8-Treffens werden - das ist bei
allen G-8-Treffen so - Themen der Weltwirtschaft stehen. Dabei wird natürlich auch die wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Raum eine ganz wesentliche Rolle
spielen. Wir, die europäischen Teilnehmer, werden natürlich über die Anstrengungen zur Bekämpfung der
Staatsschuldenkrise in der Euro-Zone berichten. Dabei
werden wir sowohl über die nächsten Schritte zur Konsolidierung der Haushalte sprechen als auch über die
Maßnahmen zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung, die wir auf dem EU-Rat der Staats- und Regierungschefs im Dezember, im Januar und im März auf
den Weg gebracht haben bzw. im Juni auf den Weg bringen werden.
Der Abbau der Verschuldung und die Stärkung von
Wachstum und Beschäftigung sind die beiden Säulen der
Strategie, mit der die europäischen Staats- und Regierungschefs, die europäischen Institutionen und der Internationale Währungsfonds die Staatsschuldenkrise in Europa überwinden. Um es an dieser Stelle noch einmal
ganz unmissverständlich zu sagen - auch gerade in Richtung der Opposition -: Wachstum durch Strukturreformen, das ist sinnvoll, das ist wichtig, das ist notwendig,
Wachstum auf Pump, das würde uns wieder an den Anfang der Krise zurückwerfen. Deshalb dürfen wir genau
das nicht machen, und wir werden es auch nicht machen.
({0})
Ich werde also, wie schon viele Male zuvor, auch in
Camp David wieder deutlich machen: Die Überwindung
der Staatsschuldenkrise in Europa kann und wird nicht
über Nacht erfolgen, auch nicht mit dem - sosehr wir
uns das wünschen - alles befreienden Paukenschlag.
Ebenso wenig gibt es den einen Königsweg oder das
eine vermeintliche Wundermittel. Es wurde schon über
so vieles diskutiert, von Euro-Bonds bis zur Hebelwirkung. All diese Mittel kamen und gingen, wirkten erst
wie Wunderwaffen und sind dann doch wieder als nicht
tragfähige Lösungen erkannt worden. Tragfähig ist und
bleibt allein eines: zu akzeptieren, dass die Überwindung
der Krise ein langer, anstrengender Prozess ist, der nur
erfolgreich sein wird, wenn wir bei den Ursachen der
Krise ansetzen. Das sind sowohl die horrende Verschuldung als auch die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit einiger Euro-Staaten.
({1})
Das heißt, wir müssen gemeinsam Verschuldung abbauen und Wettbewerbsfähigkeit stärken. Das sind keine
Gegensätze, sondern das gehört zusammen. Das gilt im
Übrigen nicht nur für Europa, sondern für nahezu alle
Industriestaaten. Gemeinsam müssen wir im Kreis der
Industriestaaten - dafür ist die G 8 genau das richtige
Format - stärker denn je daran arbeiten, von der hohen
Verschuldung herunterzukommen. Damit legen wir den
Grundstein für ein stabiles und dauerhaftes, also nachhaltiges, Wachstum.
Für ein so verstandenes Wachstum der Weltwirtschaft
sind freier Handel und offene Weltmärkte ganz wesentliche Faktoren. Ich trete daher auf den anstehenden Gipfeln, sowohl auf dem G-8-Gipfel in diesem Monat als
auch auf dem G-20-Gipfel im Juni in Mexiko, dafür ein,
dass wir unser gemeinsames Bekenntnis zum freien
Handel bekräftigen. Die G 20 haben sich dazu verpflichtet, keine neuen Handelshemmnisse zu errichten und bestehende abzubauen. Allerdings muss man sagen, dass
die letzten OECD-Berichte genau zu diesem Thema das
Gegenteil gezeigt haben. Deshalb spreche ich auch darüber. Es gibt immer wieder Versuche, Handelshemmnisse zu errichten. Genau dies hemmt Wachstum. Die
zuständigen internationalen Organisationen haben deshalb immer wieder gesagt, dass wir die Fragen des freien
Handels ernst nehmen müssen, dass wir effektive Kontroll- und Korrekturmechanismen brauchen. Genau das
werde ich auf dem G-8-Gipfel ansprechen.
Außerdem werden wir in Camp David an die sogenannte Deauville-Partnerschaft anknüpfen, die wir beim
Gipfel in Frankreich im letzten Jahr mit den Staaten in
Nordafrika begründet haben. Seitdem ist diese Deauville-Partnerschaft erweitert worden, einmal um das
Land Libyen, aber vor allen Dingen auch um neue Instrumente. Ein wichtiger Baustein ist die Mandatserweiterung der Europäischen Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung. Der Deutsche Bundestag hat mit seiner
Entscheidung am 29. März 2012 dazu beigetragen, dass
wir hier einen Erfolg vermelden können. Ich hoffe, dass
auch der Bundesrat morgen dem Ratifizierungsgesetz
zustimmen wird.
Ebenso wünsche ich mir, dass auf der anstehenden
Jahrestagung der Europäischen Bank für Wiederaufbau
und Entwicklung am 18. und 19. Mai möglichst viele
weitere Staaten ebenfalls die Ratifizierung erklären, damit die Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ihre
Tätigkeit in den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainerstaaten so rasch wie möglich aufnehmen kann.
Meine Damen und Herren, die wirtschaftlichen Herausforderungen werden ohne Zweifel im Mittelpunkt
des G-8-Treffens stehen. Dennoch dürfen wir andere
Herausforderungen wie den Klimawandel und dessen
Kernthemen nicht aus den Augen verlieren. Deshalb
werden wir auch darüber in Camp David beraten.
Wir müssen deutlich mehr Anstrengungen unternehmen als bisher vereinbart, um die CO2-Emissionen nachhaltig so zu reduzieren, dass das 2-Grad-Ziel erreicht
werden kann. Die Bundesregierung hält gemeinsam mit
der ganzen Europäischen Union an dem Ziel fest, ein
neues und verbindliches UN-Klimaschutzabkommen zu
vereinbaren. Wir wissen - das ist auch im Kreis der G-8Staaten ganz offensichtlich -: Der Weg dorthin ist mühsam, aber er liegt in unser aller Interesse. Deshalb ist er
unumgänglich.
({2})
Auch in der Energiepolitik stehen wir vor großen Herausforderungen. Die G-8-Staaten haben sich verpflichtet, eine Politik für eine saubere, sichere und bezahlbare
Energie zu machen. Aber wir wissen natürlich, dass der
Energiemix in den einzelnen Mitgliedstaaten der G 8
sehr unterschiedlich ist. Dennoch - trotz dieser sehr unterschiedlichen Herangehensweise in der Energiepolitik - wollen wir über die Auswirkungen eines veränderten Energiemixes auf die Infrastruktur sprechen. Das
heißt: Wie können wir einen fairen Marktzugang im
Gassektor erreichen? Wie kann Energieförderung auf
Basis von Transparenz und gemeinsamen Standards erfolgen? Wie können wir die Sicherheit der Energiepro21046
duktion gewährleisten, und das ganz besonders mit Blick
auf die Offshoregewinnung von Öl und Gas? Das werden die Themen sein, über die wir sprechen.
Es geht natürlich auch um den Einsatz erneuerbarer
Energien und die Erhöhung der Energieeffizienz. Ich
glaube, wir sind uns einig: Die Bundesregierung ist Vorreiter dieser Entwicklung, weil wir die erneuerbaren
Energien zu einem wichtigen Bestandteil unserer Energieversorgung ausbauen. Ich glaube deshalb, wir können
diese Diskussionen auf dem G-8-Gipfel mit gutem
Selbstbewusstsein bewältigen.
({3})
Meine Damen und Herren, 7 Milliarden Menschen leben inzwischen auf der Erde. Sie alle wollen Zugang zu
Energie, sie wollen Teilhabe am Wohlstand, und sie wollen vor allen Dingen Wasser und Nahrung. Deshalb ist es
in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen, dass gerade
die USA für Camp David eine sogenannte neue Allianz
planen, und zwar mit sechs Staaten aus der SubsaharaRegion Afrikas, um die Ernährungssicherung in Afrika
weiter auszubauen.
({4})
- Hochverehrte Frau Künast, Sie haben sicherlich schon
mitbekommen, dass ich über die Tagesordnung des
Gastgebers Vereinigte Staaten von Amerika spreche. Das
ist für Sie vielleicht schwer auszuhalten; aber das ist hier
meine Aufgabe. Deshalb komme ich dieser Aufgabe
nach.
({5})
Die Vereinigten Staaten von Amerika wollen sich richtigerweise mit der Ernährungssicherung in der SubsaharaRegion beschäftigen. Dass Sie das nicht besonders interessiert, kann ja sein. Aber wir werden uns dafür interessieren.
({6})
2012 läuft das dritte und letzte Jahr der Initiative von
L‘Aquila aus. In diesem Rahmen haben die G-8-Staaten
und viele weitere Staaten 22 Milliarden US-Dollar für
den Kampf gegen den Hunger eingesetzt. Allein mit dem
deutschen Beitrag von 2,1 Milliarden Euro wurde eine
Menge erreicht. Doch wir haben im letzten Jahr gesehen
- die Hungerkatastrophe am Horn von Afrika hat es uns
noch einmal gezeigt -: Unser Engagement darf auf gar
keinen Fall nachlassen. Das wird es auch nicht. Deshalb
ist das ehrgeizige Ziel der neuen Allianz zur Ernährungssicherung, binnen zehn Jahren 50 Millionen Afrikaner
aus der Armut zu befreien. Das wollen die G 8 in erster
Linie durch bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen erreichen.
({7})
Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir nicht immer mit
Nahrungsmitteln, die woanders angebaut wurden, helfen, sondern dass wir wirklich Hilfe zur Selbsthilfe geben, und zwar auf Basis privater, sich rentierender Investitionen. Deshalb teile ich dieses Ziel absolut.
({8})
Es geht darum, Kleinbauern Zugang zu Geld und
Märkten zu verschaffen,
({9})
Technologien für besseren Anbau und bessere Lagerung
zur Verfügung zu stellen und die Risiken besser zu beherrschen. Ich glaube, die Entwicklungspolitik von
Minister Niebel bietet eine gute Gelegenheit, hier über
unsere Erfolge zu berichten.
({10})
Die intensiven Bemühungen zur Ernährungssicherung
müssen jedenfalls über 2012 hinaus fortgesetzt werden.
Meine Damen und Herren, Staatsverschuldung abbauen, Wettbewerbsfähigkeit stärken, Wachstum und
Beschäftigung schaffen, den Hunger auf der Welt bekämpfen und das Klima schützen, das alles sind Themen, die zeigen, was Globalisierung im 21. Jahrhundert
bedeutet. Kein Land der Welt kann die großen Herausforderungen unserer Zeit tatsächlich erfolgreich alleine
bewältigen - auch die außen- und sicherheitspolitischen
Herausforderungen nicht.
So ist es nur folgerichtig, dass unmittelbar im Anschluss an den G-8-Gipfel der NATO-Gipfel in Chicago
stattfindet, auf dem ebenfalls einmal mehr deutlich werden wird, in welch veränderter Form gegenüber der Zeit
des Kalten Krieges die außen- und sicherheitspolitischen
Aufgaben unserer Zeit die Allianz und darüber hinaus
die Staaten der Welt fordern.
Wir sollten den Ausgangspunkt nie vergessen: In den
vergangenen 63 Jahren stand keine Organisation so klar
und so zuverlässig für Frieden und Freiheit wie die
Nordatlantische Allianz. Gerade wir Deutschen - das
möchte ich hier heute noch einmal erwähnen - haben der
NATO und der Solidarität unserer Verbündeten ganz besonders viel zu verdanken.
({11})
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des
Kalten Krieges in den 90er-Jahren öffnete die NATO
ihre Türen für neue Mitglieder und Partner im Osten,
und sie beendete den Krieg auf dem Balkan.
Erstmals seit dem Washingtoner NATO-Gipfel von
1999 sind die USA jetzt wieder Gastgeber eines NATOGipfels. Der Bundesverteidigungsminister, der Bundesaußenminister und ich werden gemeinsam dort sein.
({12})
Eine zentrale Botschaft unseres Treffens in Chicago ist
für mich die Bekräftigung der transatlantischen Verbindung zwischen Europa und Nordamerika auf der Grundlage gemeinsamer Werte und Interessen - und das in
Zeiten völlig neuer Bedrohungen.
Die Welt verändert sich, und zwar immer schneller.
Sie wird komplexer, und Europäer und Amerikaner blicken heute stärker als früher zum Beispiel auf Asien und
die aufstrebenden Schwellenländer. Aber ich sage: Dennoch oder vielleicht gerade deswegen sind wir, die Europäer und die Amerikaner, unverändert aufeinander angewiesen. Dies gilt vorneweg für die Stabilisierung
Afghanistans, damit von dort keine terroristische Gefahr
mehr für die Welt ausgeht.
({13})
Wir werden eine Bilanz des bisherigen ISAF-Engagements ziehen und weitere wichtige Schritte für ein stabiles und sicheres Afghanistan beschließen. Immer wieder
mussten wir Rückschläge auf dem Weg dorthin verkraften; das steht völlig außer Zweifel. Doch ebenso steht
außer Zweifel, dass in Afghanistan bereits wichtige
Ziele erreicht worden sind: Das Land ist heute kein
Rückzugsraum für al-Qaida mehr, die Taliban sind geschwächt, die Zahl der Anschläge geht seit Monaten
kontinuierlich zurück, die Zahl der afghanischen Sicherheitskräfte ist in den letzten Jahren durch verstärkte Ausbildungsmaßnahmen der internationalen Gemeinschaft
kontinuierlich gestiegen und wird in diesem Jahr die geplanten 352 000 erreichen.
Aber nicht nur die Quantität der Sicherheitskräfte
wurde erhöht, auch ihre Qualität hat sich deutlich verbessert. So hat die rasche und professionelle Reaktion
der afghanischen Sicherheitskräfte auf die jüngsten Anschläge in Kabul und anderen Städten im vergangenen
Monat gezeigt, dass die laufenden Ausbildungsanstrengungen durchaus Früchte tragen. Die afghanischen
Sicherheitskräfte sind zunehmend in der Lage, selbst für
die Sicherheit im eigenen Land zu sorgen. Das heißt, die
Rolle der internationalen Truppen in Afghanistan verschiebt sich immer mehr von der Operationsführung hin
zu Unterstützung und Beistand. Das ist genau das, was
die internationale Gemeinschaft mit der graduellen
Übergabe der Sicherheitsverantwortung im gesamten
Land an die afghanische Regierung bis 2014 erreichen
will.
Die internationale Rolle schwindet in dem Maße, in
dem die Afghanen Verantwortung übernehmen können
und wollen. Heute lebt bereits mehr als die Hälfte der
Afghanen in Gebieten, für die die afghanischen Sicherheitskräfte die Verantwortung tragen. Die gute Nachricht
lautet also: Der Prozess der Übergabe in Verantwortung,
den wir auf dem NATO-Gipfel 2010 in Lissabon beschlossen haben, kommt voran, und zwar so, wie wir uns
das vorgenommen haben.
In Chicago wird es nun konkret darum gehen, den in
Lissabon beschlossenen Fahrplan bis Ende 2014 zu bekräftigen. Die Bundesregierung steht zu dem oft genannten Motto: zusammen hinein, zusammen heraus.
({14})
Dazu gehört im Übrigen auch, dass sich Afghanistan
über 2014 hinaus auf die internationale Staatengemeinschaft verlassen kann. Die internationale AfghanistanKonferenz in Bonn im Dezember 2011 hat das ausdrücklich bestätigt.
Konkret heißt das: Wir unterstützen Afghanistan auch
nach dem Ende von ISAF ab 2015 substanziell, auch
wenn der künftige NATO-Auftrag ein grundlegend anderer sein wird als der bisherige. Kern des neuen Auftrags
werden die Ausbildung, die Unterstützung und die Beratung der afghanischen Sicherheitskräfte sein, sowohl
beim Militär als auch bei der Polizei. Gleichzeitig erwarten wir von Afghanistan, dass es seine Regierungsführung verbessert, den Wahlprozess reformiert und vor
allen Dingen die Korruption bekämpft.
Afghanistan braucht für die Zeit nach 2014 jedoch
nicht nur eine sicherheitspolitische, sondern auch eine
wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Perspektive.
Wir wollen dazu schon beim G-8-Gipfel in Camp David
an die Afghanistan-Konferenz in Bonn im letzten
Dezember anknüpfen und für die nächste AfghanistanKonferenz in Tokio ein Signal aussenden; denn die Mitgliedstaaten der G 8 tragen derzeit knapp 80 Prozent der
zivilen Hilfe für Afghanistan. Deshalb haben wir hier
weiterhin eine sehr große Verantwortung.
Die Bundesregierung wird sich mit einem substanziellen Beitrag auch an dieser Aufgabe beteiligen, erwartet allerdings auch ihrerseits von ihren Partnern, dass sie
dies ebenfalls tun, bis die Afghanen auch die finanzielle
Verantwortung, nach und nach aufsteigend, übernehmen
können. Hier sind allerdings nicht nur die NATO-Staaten
gefragt, sondern auch die internationale Staatengemeinschaft insgesamt; denn die ganze Welt hat ein Interesse
an Stabilität in dieser Region und daran, dass Afghanistan nie wieder Rückzugsraum für Terroristen werden
kann.
({15})
Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht über Afghanistan sprechen, ohne an alle deutschen Landsleute
zu denken, die dort ihren Beitrag leisten. Ich danke unseren Soldatinnen und Soldaten genauso wie den zivilen
Helferinnen und Helfern. Ihr Einsatz ist von großer Bedeutung, und er verdient unser aller Respekt.
({16})
Meine Damen und Herren, ein zweites wichtiges
Thema in Chicago werden die militärischen Fähigkeiten
sein, die wir brauchen, um den sicherheitspolitischen
Herausforderungen von heute und morgen zu begegnen.
Gerade in Zeiten knapper Kassen müssen wir Synergien
und Gemeinsamkeiten durch noch engere Zusammenarbeit nutzen. In Lissabon 2010 - Sie erinnern sich haben wir deshalb das neue Strategische Konzept
beschlossen und das Bündnis damit auf das aktuelle
Sicherheitsumfeld und die Herausforderungen des
21. Jahrhunderts ausgerichtet. Dafür brauchen wir die
geeigneten militärischen Fähigkeiten, die jetzt stufenweise entwickelt werden müssen.
In diesem Zusammenhang wurde das Schlagwort
„Smart Defense“ geprägt. Dabei geht es um die richtige
Prioritätensetzung, eine enge Abstimmung der nationalen Verteidigungsplanungen und die gemeinsame Entwicklung, Beschaffung und Nutzung wichtiger militärischer Fähigkeiten. Dazu einige konkrete Beispiele.
Erstes Beispiel: die NATO-Raketenabwehr. In Lissabon haben wir 2010 dazu einen Grundsatzbeschluss gefasst, um uns vor neuen Bedrohungen, wie der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und der Existenz
weitreichender Trägersysteme in einigen Ländern, zum
Beispiel im Iran, zu schützen. In Chicago können wir
jetzt feststellen, dass die sogenannte Anfangsbefähigung
der NATO-Raketenabwehr erreicht ist. Für den weiteren
Ausbau des Systems hat Deutschland als nationalen Beitrag mobile Patriot-Luftabwehrsysteme angeboten.
Beim Gipfel in Lissabon 2010 hat das Bündnis Russland die Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr angeboten. Mit dieser Zusammenarbeit wollen wir ein qualitativ neues Kapitel im Verhältnis zu Russland
aufschlagen.
Zum ersten Mal würden die NATO und Russland
echte gemeinsame Verteidigungsanstrengungen unternehmen. Die Diskussionen sind zum Teil noch sehr kontrovers. Aber Deutschland hat ein elementares Interesse
daran, sie zu einem Erfolg zu führen. Es bestehen unterschiedliche Vorstellungen, wie eine Zusammenarbeit bei
der Raketenabwehr konkret in die Praxis umgesetzt werden kann. Aber wir werden unsere ernsthaften Bemühungen um eine Kooperation mit Russland fortsetzen.
Das Angebot steht weiterhin. Die von Deutschland im
März ausgerichtete gemeinsame computergestützte Raketenabwehrübung mit NATO-Nationen und Russland
hat unser Engagement einmal mehr unterstrichen.
Ein zweites Beispiel neuer militärischer Fähigkeiten
im Sinne von Smart Defense ist das NATO-Projekt zur
Bodenraumüberwachung, Alliance Ground Surveillance.
({17})
Deutschland wird die hierfür benötigten unbemannten
Flugzeuge bereitstellen. So ist unser Plan. Ich weiß um
die Diskussionen im Haushaltsausschuss.
({18})
Dadurch erhalten wir neue Aufklärungsmöglichkeiten
und erhöhen so die Sicherheit unserer Soldaten in ihren
Einsätzen.
Ein drittes Beispiel: In Chicago plant die NATO die
Verstetigung des sogenannten Air Policing, also die
Überwachung des Luftraums, im Baltikum. Die Bundeswehr hat diese Aufgabe im Baltikum schon mehrfach
übernommen. Unsere baltischen Alliierten können somit
ihre Ressourcen für andere Fähigkeiten einsetzen, die
das Bündnis braucht, anstatt zusätzlich eigene Luftstreitkräfte aufzubauen.
Meine Damen und Herren, bei der Umsetzung des
neuen Strategischen Konzepts insgesamt wird es immer
öfter nicht mehr nur um nationale Beiträge gehen, sondern auch um die gemeinsame Bereitstellung von Fähigkeiten in der Allianz. Dies geht mit der Erwartung unserer alliierten Partner einher, dass solche Fähigkeiten im
Falle eines Einsatzes auch sicher und verlässlich zur
Verfügung stehen müssen.
Ich muss im Deutschen Bundestag auf diese Erwartung hinweisen. Deshalb werden wir uns im Deutschen
Bundestag perspektivisch damit beschäftigen müssen.
Denn wie wir die Erwartungen auch an deutsche Beiträge zu gemeinsam bereitgestellten NATO-Fähigkeiten
für den Fall eines Einsatzes mit den Bestimmungen des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes in Einklang bringen
können, das müssen wir im Parlament noch intensiv diskutieren. Diese Diskussion kommt mit Sicherheit auf
uns zu.
In Lissabon haben wir darüber hinaus beschlossen,
die Mischung der militärischen Fähigkeiten des Bündnisses - konventionell, nuklear und Raketenabwehr einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen. Dieser Prozess kam nicht zuletzt auch auf deutsche Initiative, insbesondere des Bundesaußenministers, zustande
und ist bisher einmalig in seiner Art. Dabei spielen der
kooperative Sicherheitsansatz und die Themen Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung eine
große Rolle.
Ich will noch einmal daran erinnern, dass die NATO
sich mit diesen Themen, Abrüstung zum Beispiel, bislang so noch nicht befasst hat. Deshalb ist es gut, dass
ich berichten kann, dass wir hier auf gutem Wege zu einem überzeugenden Gipfelergebnis sind. Es zeichnen
sich substanzielle Aussagen zum Thema Abrüstung ab
sowie auch im Bereich gegenseitiger Transparenzmaßnahmen gegenüber Russland bei substrategischen
Nuklearwaffen.
Dies führt zum dritten Hauptthema, das neben Afghanistan und den militärischen Fähigkeiten in Chicago beraten wird. Das ist die Zusammenarbeit der NATO mit
ihren Partnern außerhalb der NATO.
Deutschland setzt sich traditionell ganz besonders für
diese Zusammenarbeit ein. Sie entspricht unserem Verständnis von moderner, kooperativer Sicherheit, das gerade auch im neuen Strategischen Konzept der NATO
verankert ist. Deshalb begrüße ich sehr, dass in Chicago
insgesamt 60 Staaten und Organisationen teilnehmen
werden, unter anderem auch die Europäische Union, die
aus unserer Sicht natürlich einen der wichtigsten strategischen Partner der Allianz darstellt. Denn für die
Bundesregierung gehören eine starke transatlantische Sicherheitsgemeinschaft und eine europäische Sicherheitspolitik untrennbar zusammen.
Die Bedeutung unserer Partner wird auch bei den einzelnen Operationen ganz offensichtlich. So sind in Afghanistan heute gemeinsam mit den Alliierten der NATO
mehr als 20 Partnerstaaten als Truppensteller für ISAF
engagiert. Aber auch an anderen NATO-geführten Operationen sind Partnerstaaten substanziell beteiligt. Ich erinnere nur an das aktuelle Beispiel KFOR, wo erneut das
gemeinsame deutsch-österreichische Reservebataillon in
den Kosovo entsandt wurde, um während der serbischen
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen die Sicherheit
insbesondere im Norden des Kosovo zu gewährleisten.
Meine Damen und Herren, halten wir für einen Moment inne. Vor zwei Tagen war der 8. Mai. Vor 67 Jahren
endete am 8. Mai 1945 die furchtbarste Katastrophe, die
in der Geschichte der Menschheit von Deutschland über
Europa und die Welt gebracht wurde. Heute leben wir in
Deutschland und in der Europäischen Union in Frieden
und Freiheit, leider nicht in ganz Europa; denn in der
Ukraine und in Weißrussland leiden Menschen immer
noch unter Diktatur und Repression.
({19})
Niemals dürfen wir vergessen - und sind die Aufgaben
unserer Zeit auch noch so groß und mag manche parteipolitische Auseinandersetzung auch noch so anstrengend
sein -, welchen Schatz wir in der Europäischen Union
und der transatlantischen Gemeinschaft seit nunmehr
67 Jahren hüten müssen: den Schatz von Frieden und
Freiheit, von Demokratie und Menschenrechten, von
Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde.
({20})
Mich hat deshalb auch das Bild berührt, als der bisherige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy und
sein Nachfolger François Hollande vor zwei Tagen, am
8. Mai, gemeinsam des Endes des Zweiten Weltkrieges
in Paris gedacht haben. In ihrem gemeinsamen Gedenken
- übrigens auch in dem Besuch unseres Bundespräsidenten am vergangenen Samstag in den Niederlanden - wird
uns allen der immerwährende Auftrag aller Staaten
Europas und der Welt vor Augen geführt: der Auftrag für
Frieden und Freiheit.
Der G-8-Gipfel in Camp David und der NATO-Gipfel in Chicago, der politischen Heimat des amerikanischen Präsidenten Barack Obama, einer Stadt, die für
Offenheit, Dynamik und das Zusammentreffen ganz
verschiedener Kulturen steht, diese beiden Gipfel werden demonstrieren, wie eng die Welt wirtschaftlich und
sozial verflochten ist. Sie werden demonstrieren, wie
eng gerade das Band zwischen unseren nordatlantischen
Alliierten und Europa ist, wie erfolgreich dieses Bündnis durch ein weltumspannendes Netz aus Partnerschaften für Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenwürde heute und in Zukunft eintritt. Diese Werte sind
jede Anstrengung und jeden Einsatz wert.
Herzlichen Dank.
({21})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Frank-Walter Steinmeier für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Merkel, es ist wahr: Eskalationen im ganzen Nahen
und Mittleren Osten - Syrien, Iran, Afghanistan -, unklare Lage in Ägypten, wiederaufflammende Diskussionen über die Raketenabwehr, neue Verblockungen im
russisch-amerikanischen Verhältnis, anhaltende Krise in
Europa, Erosion der Demokratien in Teilen Europas,
erneut ungebremste Blasenbildung auf den Finanzmärkten, das alles sind wahrhaftig größte Herausforderungen
für G 8, NATO und später auch für G 20. Wahrhaft
wichtige Gipfel in angespannten Zeiten! Aber wenig
davon war in Ihrer Regierungserklärung tatsächlich zu
bemerken. Da gab es nur ganz viel Routine.
({0})
Worauf wir warten, sind Initiativen und Taten von
deutscher Seite. Wo sind die Beiträge der Bundesregierung zu den Gipfeln, die vor uns liegen?
({1})
Frau Merkel, Ihr neuer Partner auf der anderen Seite des
Rheins hat vor kurzem gesagt: „Zeit“, sagt François
Hollande, „ist die wichtigste Ressource der Politik.“
Man kann Zeit nutzen und etwas für die Menschen und
sein Land tun, oder man kann Zeit vertändeln und vertun. Frau Merkel, die Regierung unter Ihrer Führung hat
die letzten drei Jahre vertändelt und vertan. Drei Jahre
Schwarz-Gelb, das waren verlorene Jahre für Deutschland. Nichts spricht dafür, dass sich das in den nächsten
Monaten ändert.
({2})
Frankreich hat den Wechsel gewählt. Die letzten zehn
Landtagswahlen signalisieren Ihnen doch allesamt: Das
Spiel geht zu Ende. Und Sie, Frau Merkel, wissen das
ganz genau.
({3})
Man kann den Menschen auf Dauer nicht etwas vormachen. In dieser Koalition - Sie wissen das alle miteinander - herrschte Stillstand von Anfang an. Sie verwalten Ihren täglichen Dauerstreit, den Sie untereinander
haben. Sie bringen nicht wirklich etwas nach vorne.
({4})
Das merken die Menschen. Energiewende, Herr Röttgen,
Herr Rösler - ein einziges Desaster. Das ist in diesen
Tagen in den Zeitungen nachzulesen.
({5})
Europäische Krise - kein Ende in Sicht. Das Betreuungsgeld - eine Reise ins bildungspolitische Absurdistan.
({6})
In der Außenpolitik haben Sie den Aufbruch in der
arabischen Welt schlicht verschlafen. Wie es in Afghanistan wirklich weitergehen soll, haben wir jedenfalls
heute von Ihnen nicht erfahren. Überall in der Welt würden Initiativen aus Deutschland gebraucht, aber aus dieser Regierung kommt nichts. Diese Regierung kreist
24 Stunden am Tag um sich selbst und versucht, sich bis
zum Wahltermin zu retten. Das reicht nicht, weil überall
in Europa die Warnblinklampen leuchten.
({7})
Deshalb wird langsam auch dem Letzten klar: Sie in dieser Bundesregierung haben die letzten drei Jahre von
nichts anderem als der Substanz gelebt, von Entscheidungen, die andere getroffen haben, von Kämpfen, die
andere ausgefochten haben. Die Stärke, die dieses Land
hat, hat nichts mit dieser Regierung zu tun.
({8})
Sie alle miteinander ernten doch seit drei Jahren das,
was andere vor Ihnen gesät haben. Dieses Land hat auch
schwierige Entscheidungen erlebt und ist durch harte
Konflikte gegangen, ja. Die Folgen sind bis heute spürbar, und nicht jeder hat gute Erinnerungen an diese
Jahre. Aber so schwierig und so anstrengend der Weg
war, er hat uns hier in Deutschland zu einer einmaligen
Situation in Europa geführt. Nur bei uns geht seit Jahren
die Arbeitslosigkeit zurück und sind gleichzeitig die
Auftragsbücher gefüllt. Der Weg über zehn Jahre vom
Schlusslicht der europäischen Wachstumstabelle bis an
die Spitze war ein langer und anstrengender Weg. Jetzt
haben wir einen Vorsprung vor anderen, Gott sei Dank.
({9})
Aber dieser Vorsprung ist doch nicht garantiert, er ist
doch nicht für alle Ewigkeit zementiert. Sie leben davon,
dass andere Antworten auf Fragen des letzten Jahrzehnts
gegeben haben. Aber wo sind Ihre Antworten auf die
Fragen von heute und morgen? Das fragen sich doch die
Menschen.
({10})
Ob Sie es glauben oder nicht: Die Debatte über das
Betreuungsgeld ist doch deshalb so symbolisch
({11})
- das gefällt Ihnen nicht; ich weiß das, aber gerade deshalb sage ich es -, weil sie markiert, was Sie nicht verstehen und nicht verstehen wollen, nämlich auf welche
Schwierigkeiten wir in den nächsten Jahren zulaufen auf dem Arbeitsmarkt, in der Demografie und beim Ausbluten des ländlichen Raums. Nichts und keine Antworten von Ihnen dazu.
({12})
Es reicht einfach nicht, sich über die wirtschaftliche
Lage dieses Landes zu freuen. Politik hat eine Aufgabe,
meine Damen und Herren: für Zukunft zu sorgen. Das
tun Sie gerade nicht. Deshalb sage ich Ihnen: Was ich
dieser Regierung am meisten vorwerfe - das sage ich mit
großem Ernst -, ist, dass sie seit Jahren von der Hand in
den Mund lebt. Statt selbst Politik zu entwerfen, gehen
Sie an die Vorräte, die von Ihren Vorgängerregierungen
angelegt worden sind, und das ist nicht fair, nicht fair in
der Politik und nicht fair gegenüber den Menschen.
({13})
Durchwursteln bis zum Wahltermin - das ist es, was
wir erleben. Aber das ist keine Politik. Ich kann Ihnen
versichern: Die Menschen sind inzwischen gelangweilt
von den täglichen Personalnachrichten aus dieser Bundesregierung. Wer heute, wer gegen wen? Dieses Land
braucht eine Befreiung aus der politischen Lethargie,
braucht Ziele, braucht Gestaltungswillen und braucht
vor allen Dingen einmal wieder ordentliches Handwerk
in dieser Regierung.
({14})
Deshalb brauchen wir eine Regierung, die in Deutschland wieder etwas bewegen will, und hinter ihr ein
Bündnis von Menschen, für die Politik mehr ist als bloßer Machterhalt. Meine Damen und Herren, was
Deutschland braucht, das ist nicht Schwarz-Gelb,
Deutschland braucht wieder eine Koalition für Aufbruch
und Veränderung. Dafür stehen Sozialdemokraten und
Grüne - nicht zum ersten Mal in diesem Land.
({15})
Auf dem G-8-Gipfel, auf dem NATO-Gipfel und später auch auf dem G-20-Gipfel geht es doch für Sie und
für uns miteinander um eine wirklich ganz große Frage:
Welche Rolle werden wir in dieser veränderten Welt in
Zukunft eigentlich noch spielen? Sind wir als Europäer
da miteinander weiterhin eine gestaltende Kraft? Setzen
wir unsere Werte in der sich in rasanter Veränderung
befindenden Welt durch? Oder driften wir ab; werden
wir weniger bedeutsam?
Ich sehe jedenfalls vier große Baustellen auf uns
zukommen, über die wir sprechen müssen, nicht nur
hier, sondern auch - mit deutschen Vorschlägen - auf
den Gipfeln. Es sind vier Baustellen, die über unsere
Zukunft entscheiden werden: Erstens.
({16})
Wie sieht es mit der Gestaltung der europäischen Wachstumspolitik aus? Haben wir den Mut, uns zu einer europäischen Industriepolitik zu verständigen? Zweitens.
Wie sieht eine erfolgreiche Energiewende aus, in der
Deutschland den Vorreiter macht? Drittens. Wie sieht
eine Regulierung der Finanzmärkte aus, die diesen
Namen verdient? Und schließlich viertens - lassen Sie
uns das nicht vergessen. Wie sieht eine Befestigung der
Demokratie aus, die in Europa leider notwendig geworden ist? Um diese vier Grundfragen wird es gehen.
({17})
Erste Baustelle: europäische Wachstumspolitik. Wir
Sozialdemokraten fragen: Wo kommt das Wachstum
her? Wir haben Ihnen dazu Vorschläge gemacht. Über
diese Vorschläge diskutieren wir. Überall in Europa wird
man zu Debatten und Diskussionen über die Vorschläge
eingeladen, nur die deutsche Bundesregierung ist seit
Tagen und Wochen auf Tauchstation. Deshalb noch einmal zur Versicherung: Frau Merkel, nicht wir brauchen
Sie, sondern Sie brauchen uns, die Opposition. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass die entsprechenden
Verträge von deutscher Seite aus ratifiziert werden.
({18})
Ich möchte zur Klarstellung noch einmal eines anfügen: Wir streiten in diesem Land nicht über die Notwendigkeit von Konsolidierung,
({19})
jedenfalls nicht zwischen Regierung und SPD-Opposition. Ich wehre mich aber dagegen - das können Sie
auch mitnehmen -, dass Sie in Ihren öffentlichen Ratschlägen unsere eigenen Erfahrungen in Deutschland
ignorieren. Wir sind nicht nur deshalb wieder ins vordere
Feld der Wachstumstabelle gekommen, weil wir in der
Vergangenheit, weil wir in den zehn Jahren, die hinter
uns liegen, einfach fantasielos gespart haben. Das ist
falsch. Sondern wir haben einen vernünftigen Mix aus
Einsparungen, Strukturreformen und Erhalt des Wachstums in Deutschland gepflegt. Das hat uns in die
Erfolgskurve gebracht. Das verraten Sie durch Ihre
öffentlichen Ratschläge selbst.
({20})
Deshalb - ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht ist es so, dass Deutschland und Europa aus der gegenwärtigen Krise nur herauskommen werden, wenn wir
wirklich den Mut haben, auf Wachstumsimpulse zu setzen. Dafür brauchen wir Vorschläge, wie wir sie Ihnen
gemacht haben, und dafür müssen Sie auch den Mut
haben, sich zu einem Instrument zu bekennen, das Sie in
der Vergangenheit verweigert haben, nämlich zur
Umsatzsteuer auf Anlagegeschäfte auf den Finanzmärkten. Das muss kommen, meine Damen und Herren.
({21})
Es genügt auch nicht, wie auf dem letzten und vorletzten europäischen Gipfel, etwas über Jugendarbeitslosigkeit zu sagen, sondern wir brauchen ein wirklich
entschlossenes Programm zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit in Europa.
({22})
Ich unterstelle, dass Sie dazu im Grunde genommen
keine andere Auffassung haben als wir. 50 Prozent oder
auch 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit sind nicht nur
eine Schande für Europa, sondern das untergräbt auch
die Autorität der europäischen Integration. Das dürfen
wir alle miteinander nicht zulassen, meine Damen und
Herren.
({23})
Zweite Baustelle: Klimaschutz und Energiewende.
Meine Damen und Herren, ich will hier nicht lange über
die Krise in der deutschen Solarindustrie reden;
({24})
sie kennen Sie selbst und haben Sie selbst zum Teil mit
angerichtet. Ich will auch nicht lange über den drohenden Stopp beim Ausbau der Windenergie reden, insbesondere was Offshoreanlagen in der Nordsee angeht,
weil Sie mit den Anbindungen nicht vorankommen. Ich
will auch nicht darüber reden, dass in dieser Energiewende nach wie vor nicht klar ist, wie Investitionen in
die Gasverstromung zustande kommen sollen, die Sie
beim Ausbau der erneuerbaren Energien ja dringend
brauchen. Wenn wir unsere Energiewende in den Sand
setzen - das wird passieren, wenn Röttgen und Rösler so
weitermachen wie bisher -,
({25})
dann werden sich unsere Konkurrenten in ganz Europa
ins Fäustchen lachen. Ich sage Ihnen: Auch hier ist
Deutschland drauf und dran, den Vorsprung zu verspielen, den es sich erarbeitet hatte. Das dürfen wir nicht
zulassen.
({26})
Dritte Baustelle: Regulierung der Finanzmärkte. Wir
haben in diesem Saal schon darüber gestritten, ich weiß
nicht, wie viele Male. Ich erwähne es hier deshalb, weil
ich dringend erwartet hätte, Frau Merkel, dass Sie in
Ihrer Regierungserklärung wenigstens ein paar Sätze
dazu sagen, mit welchen Initiativen und mit welchen
Vorschlägen die deutsche Bundesregierung zum G-8Gipfel und demnächst zum G-20-Gipfel fährt. Warum
sich der Finanzminister hier nach wie vor vornehm
zurückhält, verstehe ich nicht. Hier sollten wir Deutschen der Treiber sein und nicht hinter anderen zurückhängen, auch nicht hinter den Amerikanern.
({27})
Vierte Baustelle - vielleicht etwas unerwartet -: die
Demokratie, ein Kernanliegen, das uns alle miteinander
eint. Frau Merkel, die Sätze, die Sie zur Ukraine und zu
Weißrussland gesagt haben, unterstreiche ich. Aber wir
haben mittlerweile, wenn wir über Demokratie reden,
auch Anlass, nach Europa, in Länder der Europäischen
Union zu schauen. Wir müssen vor allen Dingen dafür
sorgen, dass wir in dieser Frage weltweit nicht unsere
Glaubwürdigkeit verlieren.
({28})
Es reicht nicht - das ist jedenfalls meine Auffassung -,
wenn wir jetzt mit Blick auf das dramatische Wahlergebnis in Griechenland, insbesondere für die radikalen und
antieuropäischen Kräfte, Tränen vergießen. Ich sage das
auch deshalb, weil wir uns ein Ereignis in Erinnerung
rufen müssen, an dem wir Mitverantwortung tragen. Ich
erinnere an den G-20-Gipfel in Cannes, auf dem Frau
Merkel und Nicolas Sarkozy den mutigen griechischen
Ministerpräsidenten in den Senkel gestellt haben, ihn
wie einen Schuljungen abgekanzelt haben,
({29})
weil er auf die Idee gekommen ist, sich sehr frühzeitig
- bevor die eigene Bevölkerung an den Opfern, die sie
zu bringen hat, verzweifelt - Legitimation über ein Referendum zu besorgen.
({30})
Wir waren in dieser Frage damals auseinander; ich
weiß das. Ich erwähne es hier, weil es vielleicht jetzt,
nach Besichtigung der Wahlergebnisse, die jetzt eingetreten sind und sich nach einer neuen Neuwahl in Griechenland vermutlich wiederholen werden, angemessen
ist, noch einmal darüber nachzudenken, ob es wirklich
richtig und verantwortbar war, den Versuch eines früheren griechischen Ministerpräsidenten, sich Legitimation
für einen schwierigen Kurs über ein Referendum zu
besorgen, durch eine deutsch-französische Initiative zu
stoppen.
({31})
Ich halte das nach wie vor für falsch. Ich finde, es spiegelt sich auch in den Ergebnissen wider.
({32})
Meine Damen und Herren, Angst ist ein schlechter
Ratgeber. Das sollten wir bei allen Fragen, die uns im
Augenblick in Europa beschäftigen, immer mit bedenken. Es muss uns gelingen, die Völker Europas auf den
Weg der Integration mitzunehmen, so schwer das ist;
sonst wird dieses Europa keine Zukunft haben. Als Elitenprojekt wird es auf Dauer nicht gelingen; das wissen
wir doch alle miteinander. Ich habe gesagt: Wachstum,
Energie, Regulierung der Finanzmärkte und Befestigung
der Demokratie, das sind die vier Baustellen, an denen
sich die Zukunft Europas entscheidet. Es sind vier Baustellen, an denen wir mit eigener Gestaltungskraft, mit
eigenen Vorschlägen, mit eigenen Bausteinen mitbauen
müssen, vier Baustellen, bei denen ich finde, dass dieser
Regierung jedenfalls die Kraft, die Ideen und die Mehrheiten fehlen. Deshalb, Frau Merkel - Sie lesen es heute
Morgen in vielen Tageszeitungen -, wird es einsam um
Sie.
({33})
Drei Tage noch bis zur Landtagswahl in NordrheinWestfalen, 255 Tage bis zur Landtagswahl in Niedersachsen, höchstens 500 Tage bis zur Bundestagswahl auch in Deutschland stehen die Signale auf Veränderung,
meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
({34})
Das Wort erhält nun der Kollege Rainer Brüderle für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf den
Gipfeln in Camp David und Chicago werden Wegmarken für die nächsten Jahre gesetzt. Die westliche Welt
muss und wird Zielstrebigkeit demonstrieren, die westliche Welt muss und wird Einigkeit demonstrieren, und
die westliche Welt muss und wird Handlungsfähigkeit
und Kooperationswillen demonstrieren.
Beim G-8-Gipfel wird es zwei neue Teilnehmer
geben; besser gesagt: einen wirklich neuen Teilnehmer,
den neuen französischen Präsidenten, und eigentlich
einen altbekannten Wiederteilnehmer, der sich aber diesmal durch seinen Vorgänger und früheren Nachfolger
vertreten lässt. Beide sind wichtige Partner für Deutschland.
Wirtschaftlich haben wir eine enge Zusammenarbeit
mit Russland. Russland gehört zur G 8. Sicherheitspolitisch wird eine enge Einbindung Russlands ebenfalls in
Aussicht genommen; Stichwort „Raketenabwehrsystem“. Hier müssen substanzielle Signale kommen. Nur
dann kann auch der NATO-Gipfel ein Erfolg werden.
Der Westen und Russland haben die Chance auf einen
neuen partnerschaftlichen Anfang. Deutschland, an der
Spitze die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister, hat traditionell eine besondere Funktion bei der Verständigungspolitik mit Russland. Nur durch Gespräche
miteinander kann man Veränderungen in Russland erreichen.
Die Sicherheitspolitik mit den Planungen für den
Afghanistan-Abzug, der Neuausrichtung der militärischen Zusammenarbeit im Bündnis und der von
Deutschland betriebenen Abrüstungsinitiative ist die
eine Seite; die weltwirtschaftliche Entwicklung ist die
andere Seite. Beides ist aktive Friedenspolitik.
Die Augen werden auf Europa gerichtet sein. Die
Wahlausgänge in Frankreich und Griechenland sind
weltweit registriert worden. Europa muss stabil und
handlungsfähig bleiben. Ich bin überzeugt: Frankreich
wird auch unter dem neuen Präsidenten eine verantwortliche Währungspolitik mittragen.
Allen verantwortlichen Kräften in Europa ist klar:
Ohne eine mutige Entschuldungspolitik bekommen wir
die Lage nicht in den Griff.
({0})
Schuldenabbau ist die Bedingung für gutes, stabiles
Geld, für eine seriöse langfristige Wirtschaftspolitik.
Schuldenabbau ist die Bedingung für die Zukunft des
Euro.
Meine Damen und Herren, entscheidend ist Vertrauen - Vertrauen der Finanzmärkte in die europäische
Entwicklung und Vertrauen der Menschen in Europa
darauf, dass wir eine stabile Entwicklung voranbringen.
Ohne Vertrauen keine Investitionen, ohne Investitionen
keine Arbeitskräfte! So herum funktioniert es! Deshalb
ist Vertrauen-Schaffen zentrale Aufgabe einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik in Europa.
({1})
Der Fiskalpakt ist die Garantie dafür. Er ist verhandelt. Die Sozialdemokraten müssen eine Abwägung vornehmen, ob sie Wahltaktik verfolgen oder ob sie sich
staatspolitisch verantwortlich für die Entwicklung in
Europa entscheiden. Darum geht es.
({2})
Der neue französische Präsident wird vertragstreu
sein. Er hat registriert: Deutschland ist wirtschaftlich
deshalb so sehr erfolgreich, weil wir einen klaren marktwirtschaftlichen Kurs haben. Deutschland ist erfolgreich
durch Flexibilität, harte Arbeit und erfolgreiche Sozialpartnerschaft. Wer aber meint, mit Arbeitszeitverkürzung, mit vielen Stellen beim Staat, mit Frührente
erfolgreich sein zu können, der sollte nach Griechenland
schauen. Dort kann er studieren, wie sich diese Fehleinschätzung bitter rächt.
({3})
- Hören Sie doch auf, Sie mit Ihrer SED-Vergangenheit.
({4})
Übrigens: Ich wäre mit der Forderung nach einem
Marshallplan sehr vorsichtig. Das, was Sie machen, ist
Schlagwortökonomie. Der Marshallplan war mit einer
Währungsreform verbunden. Wer plump und geschichtsvergessen einen Marshallplan fordert, läuft Gefahr, eine
Währungsreform im Blick zu haben. Das gilt es unter
allen Umständen zu vermeiden. Die Deutschen haben
zweimal ihr Geld verloren. Wir hatten zwei Währungsreformen. Deshalb kämpft eine bürgerliche Regierung
mit vollem Einsatz für stabiles Geld und lässt eine Entwicklung zur Währungsreform nicht zu.
({5})
Alle reden jetzt von Wachstum, sogar die Grünen. Sie
haben 30 Jahre lang erzählt: Wachstum ist schlecht.
Doch im April hat Frau Künast erklärt: Seit dem Club of
Rome kennen wir alle die Grenze des Wachstums. - Vor
zwei Jahren erklärte sie im Spiegel, welche Teile der
Wirtschaft radikal schrumpfen müssen und welche Teile
radikal wachsen müssen: die Autoindustrie, die Chemieindustrie und die Maschinenbauindustrie wollte sie
umbauen. Es ist schon ein starkes Stück: Die wachstumsfeindlichste Partei Deutschlands, die wachstumsfeindlichste Partei Europas fordert Wachstumsprogramme. Das ist eine tolle Entwicklung, die Sie
vollzogen haben.
({6})
Bis gestern wollten Sie Stagnation und Schrumpfung
der Wirtschaft. Sie haben das mit einer Verbesserung der
Lebensqualität verkauft. Auf einmal merken Sie: Wachstum schafft Beschäftigung.
({7})
Wachstum schafft Wohlstand. Wachstum garantiert sozialen Frieden. Also: Willkommen im Klub der Realität,
bei der Realität des Wachstums. Sie haben lange
gebraucht. Aber immerhin: Sie haben es gemerkt.
({8})
Nur: Bei Ihrer Reaktionsgeschwindigkeit, was das
Wachstum betrifft, würden wir noch heute Dampfloks
herstellen. Aber das ist nicht der Weg in die Zukunft der
deutschen Industrie.
Bei der SPD will ein Zwitscherkönig Kanzlerkandidat
werden. Beim Kollegen Gabriel gibt es einen Strategiewechsel im Twitterformat: Kuscheln oder Klassenkampf.
({9})
Nichts ist entschieden bei den Sozialdemokraten. Das
Problem ist: Wo Gabriel kämpfen müsste, kuschelt er.
Die Ablehnung des Antipirateneinsatzes in Somalia
zeigt das. Die SPD macht sich mal wieder vom Acker.
Das ist wieder Wahlkampftaktik. Das ist keine staatspolitische Verantwortung. Herr Steinmeier hätte am
liebsten zugestimmt. Er hat dann für Enthaltung
gekämpft, für seine Überzeugung, und hat in der SPDFraktion mal wieder verloren.
({10})
Wo Gabriel kuscheln müsste, macht er vermeintlich
Klassenkampf, beispielsweise beim Abbau der kalten
Progression.
({11})
Die SPD blockiert dies im Bundesrat. Sie verweigern
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Steuergerechtigkeit.
({12})
Es geht darum, ein Stück Steuererhöhung abzubauen und
zu verhindern. Sie sollten einmal vor den Werkstoren in
Bochum und Köln den Mitarbeitern von Ford und anderen Unternehmen erklären, dass sie von den kräftigen
Lohnerhöhungen - darüber freuen wir uns - relativ wenig übrigbehalten, weil Sie ein Stück Steuergerechtigkeit
verweigern. Das ist die sozialdemokratische Politik. Das
muss man draußen laut und deutlich sagen.
({13})
So sieht die sozialdemokratische Welt aus: hohe Steuern, hohe Schulden, null Wachstum. Ihre Politik, wenn
Sie sie so betreiben, führt zur Griechenlandisierung
Deutschlands. Das werden wir nicht zulassen.
({14})
Die rot-grüne Koalition hieß: sieben Jahre lang Stagnation, Horrorzahlen bei der Arbeitslosigkeit.
({15})
Unter Rot-Grün gab es 5 Millionen Arbeitslose. Ein Ergebnis Ihrer rot-grünen Politik war, dass Deutschland
der kranke Mann Europas war. Bei Rot-Grün gab es
Nullrunden bei den Renten.
({16})
Bei Rot-Grün sind die Reallöhne gesunken. Rot-Grün
hat den Stabilitätspakt zerrissen und Griechenland in die
Euro-Zone aufgenommen. Das ist Ihre Bilanz. Das hat
Schwarz-Gelb geändert in Deutschland.
({17})
Wir machen das anders. Wir achten und fördern den
Mittelstand. BAföG hoch, Kindergeld hoch - so sieht erfolgreiche Politik aus. Deutschland wächst trotz der
Krise. Schwarz-Gelb hat für Rekordbeschäftigung gesorgt: 41 Millionen Beschäftigte - das gab es in
Deutschland noch nie. Jugendarbeitslosigkeit nimmt ab,
Langzeitarbeitslosigkeit nimmt ab. Wir verzeichnen
Rekorde bei den Studienanfängern. Reallöhne steigen,
Renten steigen, Beiträge sinken. Wer hat es gemacht?
Diese Regierung!
({18})
Meine Damen und Herren, es liegt im Interesse
Deutschlands, dass G 8 und NATO im Zuge der Weltentwicklung nicht zu Relikten werden. Deshalb ist das Verhältnis zu Russland zu intensivieren. Die Schuldenkrise
muss in den Griff bekommen werden. Es gilt, die NATO
zu modernisieren. Ich halte es für ein wichtiges Ziel,
vielleicht auch Fernziel, eine europäische Armee zu
schaffen, eingebettet in die NATO. Das wird nicht einfach sein, aber wir müssen diesen Weg in Europa gemeinsam gehen.
Es geht um die gemeinsame Zukunft in Europa und
um unsere Handlungsfähigkeit. Nicht was gestern war,
ist entscheidend, sondern das, was wir morgen zusammen sein wollen. Das ist von Bedeutung. Daran arbeitet
die Regierung erfolgreich und selbstbewusst.
({19})
Das ist Ihnen peinlich, weil Sie so schlechte Rezepte haben. Aber: Schämen ist die erste Stufe zur Verbesserung.
Vielen Dank.
({20})
Wolfgang Gehrcke ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Genau.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ja, der Brüderle hat was, das ist immer eine Mischung
zwischen Karneval, Angriff und seiner Art, von oben
herab zu reden. Herr Brüderle, um Ihnen zu antworten:
Ich möchte gerne meiner Fraktion und den Menschen in
diesem Lande empfehlen, doch ein Stück weit von Griechenland zu lernen.
({1})
- Von Griechenland zu lernen.
({2})
Der griechische Widerstand gegen eine Politik, die das
Land kaputtmacht, ist vorbildlich und, wie ich finde,
auch demokratisch.
({3})
Wenn die Linke in Griechenland nicht agieren würde,
hätten wir längst andere Zustände in diesem Land.
Herr Kauder meinte ja, Europa müsse deutsch lernen.
Ich würde empfehlen, dass Europa ein Stück weit Griechisch und vor allem Französisch lernen sollte, damit
man eine andere Politik auch in Europa durchsetzen
kann.
({4})
Hierzu wollen wir sehr gerne beitragen.
Verehrte Frau Bundeskanzlerin, manchmal gibt es ein
Zusammentreffen, das zufällig erscheint, das aber doch
einen tiefen inneren Zusammenhang hat. Sie haben
über Camp David geredet, wo weiter über die globale
Aufteilung der Welt verhandelt wird, wo es um Zukunftsressourcen und -märkte geht. Sie haben über den
NATO-Gipfel geredet, auf dem das Ganze militärisch
abgesichert werden soll. Sie haben schon recht: Beides
geht zusammen. Ich finde auch - das ist das Einzige,
was ich an Ihrer Rede teile -: Es geht um die Zukunft der
Welt.
In dem Zusammenhang empfehle ich Ihnen ein anderes Dokument. Dieser Tage ist der Text zum 40-jährigen
Jubiläum des Berichtes Grenzen des Wachstums des
Club of Rome erschienen. Ich empfehle, dass alle Teilnehmer von Camp David und vom NATO-Gipfel den
aktuellen Bericht des Club of Rome als Pflichtlektüre in
ihrem Gepäck haben sollten.
({5})
Dann erkennen Sie die wirklichen Probleme der Welt.
Der Club of Rome warnt: Wenn nicht anders produziert,
anders konsumiert und anders verteilt wird, geht die
Welt und damit die Gattung Menschheit ihrem Ende entgegen. Das heißt, es muss einen energischen Kurswechsel, einen grundsätzlichen Politikwechsel geben. Hierzu
schlägt der Club of Rome sechs Ziele vor:
Erstens gesellschaftliche Werte für eine nachhaltige
und gerechte Gesellschaft.
({6})
Zweitens. Die Volkswirtschaften der Welt müssen die
Märkte in einer fairen und transparenten Art und Weise
handhaben.
Drittens eine gerechtere Verteilung von Einkommen
- darüber sollten die FDP und die CDU/CSU einmal
nachdenken ({7})
zwischen den Ländern und zwischen den Menschen.
Viertens einen garantierten Zugang zu sinnvoller Arbeit. Das heißt, dass das Recht auf Arbeit endlich auch in
die deutsche Verfassung aufgenommen werden muss
und umgesetzt werden muss.
({8})
Fünftens. Ökologie muss verbindliche Grenze für alle
Formen menschlicher Tätigkeit werden.
Sechstens die weltweite Etablierung von geeigneten
Regierungssystemen, nämlich von Demokratie.
Ich finde, das sind die eigentlichen Aufgaben, über
die debattiert werden muss. Das bedeutet, dass wir weltweit Regulierung statt Deregulierung brauchen. Wir
müssen weltweit die Privatisierung stoppen, wenn wir
die Welt retten wollen. Um nichts anderes geht es, liebe
Kolleginnen und Kollegen!
({9})
Unter diesen Bedingungen muss man auch Ressourcen bündeln. Es ist doch nicht auszuhalten, dass die
NATO 2010 1,1 Billionen Dollar in Rüstung investiert
hat, obwohl man dieses Geld in die Bekämpfung von
Hunger und Armut in der Welt investieren müsste.
({10})
Es ist doch nicht akzeptabel, dass Deutschland bislang
zwischen 12 und 22 Milliarden Euro für den Krieg in
Afghanistan ausgegeben hat.
Wir wollen - daraus mache ich überhaupt kein Hehl ein neues Denken. Das, was die Kanzlerin vorgetragen
hat, war alte Politik und altes Denken, und ziemlich
langweilig dazu.
({11})
Für uns ist die NATO als Militärbündnis eine Hinterlassenschaft des Kalten Krieges. Natürlich möchte die
Linke, dass die NATO aufgelöst wird und im Rahmen einer Reform der Vereinten Nationen durch Formen der
kollektiven Sicherheit ersetzt wird. Es wäre vernünftige
Politik, eine solche Debatte einmal anzustoßen.
({12})
Wir wollen eine andere Philosophie, nämlich eine
Philosophie der globalen Gerechtigkeit, des Völkerrechtes, der Demokratie und der Abrüstung, wie sie der Club
of Rome vorschlägt. Wir sind an der Seite des Club of
Rome. Die Regierung steht auf der anderen Seite. Das ist
auch nichts Neues.
Ich will gleich dazusagen: Zwischen den friedenspolitischen Vorstellungen der Linken und der NATO-Strategie der Bundesregierung gibt es nichts Verbindendes. Ich
sehe dort keine Brücke, sondern klare Widersprüche.
Beides ist unvereinbar - auch von unserer Seite aus. Das
möchte ich betonen. Eigentlich bin ich darauf auch stolz.
({13})
Schauen wir uns einmal den Krieg in Afghanistan an.
Wir sind im elften Jahr dieses Krieges. Er ist politisch
gescheitert. Er ist militärisch gescheitert. Er war moralisch schändlich, weil er nicht den Menschen geholfen
hat, sondern bisher über 30 000 Menschen in Afghanistan das Leben geraubt hat. Was unter dem Signal „Menschenrechte“ angefangen worden ist, hat das Leben von
Menschen vernichtet. Das ist der größte Vorwurf, den
man gegen diesen Krieg erheben muss.
({14})
Bislang haben alle Bundesregierungen diesen Krieg
betrieben. Ich bin froh, dass jetzt endlich über einen
Abzug diskutiert wird, möchte aber, dass auch wirklich
abgezogen wird und nicht nur so getan wird, als ob man
abzieht, und dann doch Truppen in Afghanistan hinterlassen werden.
Ich füge hinzu: Stellen Sie auf dem NATO-Gipfel in
Chicago eindeutig klar, dass Deutschland sich nicht an
einem neuen Krieg im Nahen Osten, an einem Krieg gegen den Iran, beteiligen wird.
({15})
Wenn beides, Krieg in Afghanistan und Krieg im Iran,
zusammengeht, bedeutet das die Vernichtung der Welt.
Das kann man doch nicht einfach so akzeptieren. Hier
muss ein klares Wort gesprochen werden.
Zum Schluss mache ich Ihnen einen Vorschlag. Ich
möchte gern, dass im September dieses Jahres zum dritten Jahrestag von Kunduz, dieses Menetekels, der letzte
deutsche Soldat Afghanistan verlassen hat. Machen Sie
das am besten zusammen mit der französischen Armee;
denn die Ankündigung des neuen französischen Präsi21056
denten, 2012 alle Soldaten Frankreichs aus Afghanistan
abzuziehen, war doch auch ein Signal.
({16})
Es wäre eine gute deutsch-französische Aktion, im September dieses Jahres alle deutschen und alle französischen Soldaten aus Afghanistan abzuziehen. Das wäre
einmal ein Stück weit neue und europäische Politik.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Der G-8-Gipfel und der NATO-Gipfel finden in einer
Zeit statt, in der es tatsächlich darauf ankommt, mit richtigen Instrumenten zu führen und den Menschen Perspektive zu geben.
Lieber Herr Kollege Steinmeier, genau dieses war aus
Ihrer Rede nicht zu spüren. Vielmehr haben Sie heute
eine Rede gehalten, die - bis hin zum Betreuungsgeld geprägt war von der Niederlage, die Sie am Dienstagnachmittag in Ihrer Fraktion erlitten haben.
({0})
Wir lesen es in allen Zeitungen: Das Ergebnis der
Wahl in Schleswig-Holstein zeigt, dass man den Mund
sehr voll genommen hat; denn man wollte auf Platz eins
sein und ist auf Platz zwei gelandet. Die Linken in Ihrer
Fraktion sagen nun: Wir brauchen mehr Profil, und
dieses Mehr an Profil muss umgesetzt werden ohne
Rücksicht darauf, ob es in unserem nationalen und auch
europäischen Interesse ist. Sie haben heute eine Rede gehalten, die gar nicht zu Ihren eigentlichen Positionen
passt.
({1})
Dazu, dass Sie, Herr Kollege Steinmeier, heute in
Ihrer Rede hier behauptet haben: „Wir, die Sozialdemokraten, sind zusammen mit den Grünen eine kraftvolle
Alternative“, kann ich nur sagen - ich weiß, wie schwer
es manchmal ist, eine Fraktion zu führen -: Sich hier
hinzustellen und von einer kraftvollen Alternative zu
sprechen, wenn man nicht einmal bei einem so wichtigen Thema wie Atalanta, das Sie selber als Außenminister verhandelt haben, die Mehrheit in der eigenen Truppe
zusammenbekommt, das ist nicht kraftvoll, es ist nur
schwächlich. So einfach muss man das formulieren.
({2})
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren,
können wir nur froh und dankbar sein, dass diese Regierung jetzt in Amerika die wichtigen Fragen verhandelt.
In diesem Zusammenhang stelle ich fest, Herr Kollege
Steinmeier: Nicht alles, was in der Zeitung steht, stimmt.
Diese Bundesregierung bzw. diese Bundeskanzlerin sind
nicht einsam. Sie hat vielmehr rund 330 Followers aus
dieser Regierungskoalition fest und treu hinter sich.
({3})
Deswegen werden wir dort auch die notwendigen Entscheidungen treffen.
({4})
- Frau Künast, Sie haben Ihre Entscheidungen noch vor
sich. Seien Sie einmal ganz vorsichtig. Es ist noch nicht
entschieden, welche Mehrheiten bei Ihnen zustande
kommen. Also immer langsam.
Beim G-8-Gipfel geht es - wie immer bei diesen Gipfeln - auch um weltwirtschaftliche Fragen. Natürlich
spielt dabei die Entwicklung in Europa - die Bundeskanzlerin hat es gesagt - eine bedeutende Rolle; denn die
Entwicklung in Europa hat Einfluss auf die Weltwirtschaft.
({5})
Natürlich lesen wir mit großem Interesse, welche Positionen dort formuliert werden. Es wird da ausdrücklich
betont, dass wir beides brauchen, Haushaltskonsolidierung und Wachstum, und dass dies die beiden Seiten ein
und derselben Medaille sind.
Nun hat man den Eindruck, als ob Sozialdemokraten
und Grüne das Thema Wachstum ganz neu entdeckt
hätten.
({6})
- Herr Oppermann, ich kann nur sagen: Lesen bildet und
Lesen hilft, wenn man das Richtige liest. Ich empfehle
Ihnen: Lesen Sie die Dokumente aus Europa. Schon in
Lissabon wurde eine Wachstumsstrategie vereinbart.
({7})
Davon ist ein Teil umgesetzt worden, vieles bei uns in
Deutschland. Es wurde weiterhin formuliert, dass
Wachstum vor allem durch Strukturreformen erreicht
werden kann.
Nun ist völlig unbestritten, dass ein Teil der notwendigen Strukturreformen unter der Regierung Gerhard
Schröder vorangetrieben wurde, an der Herr Steinmeier
nicht ganz unbeteiligt war. Herr Oppermann, das Problem ist nur: Sie trauen sich gar nicht mehr, sich dazu zu
bekennen.
({8})
Am liebsten würden Sie dieses Kapitel aus Ihrer Geschichte streichen.
({9})
Weil Sie sich nicht mehr zu den notwendigen Reformen
bekennen wollen, wollen Sie jetzt in Europa einen anderen Weg einschlagen.
Ich habe noch sehr gut in Erinnerung, wie Sie, Herr
Steinmeier, aber auch Herr Steinbrück, als Sie in der
Großen Koalition unter der Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel Regierungsverantwortung mitgetragen haben, gute und richtige Sätze gesagt haben. Damals
unter der Führung der Union haben Sie gute und richtige
Sätze gesagt. So einfach ist das.
({10})
Ich erinnere mich beispielsweise an ein Interview, das
mit dem damaligen Finanzminister Steinbrück im August 2008 geführt wurde. Darin hat er gesagt: Konjunkturprogramme bringen überhaupt nichts. Sie verbrennen
nur Geld. Nachdem das Geld verbrannt ist, ist alles noch
viel schlimmer als vorher.
({11})
Wie kann man angesichts dessen heute, wo man in der
Opposition sitzt, sagen: „Wir brauchen Konjunkturprogramme“? Ich kann Ihnen nur sagen: Was wir überhaupt
nicht brauchen, sind schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme. Genau die haben nämlich zu der Situation geführt, die wir heute in Europa bekämpfen.
({12})
Herr Steinmeier, Sie hatten in einem Interview gesagt:
Euro-Bonds bringen gar nichts. Sie können nur am Ende
einer Entwicklung stehen, wenn wir eine weitgehende
Harmonisierung haben. - Heute hören sich die Dinge
ganz anders an, weil man sozialdemokratisches Profil
zeigen will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Sozialdemokraten wirklich meinen, dass Wachstum ausschließlich durch kredit- und schuldenfinanzierte Programme erreicht werden kann. Das kann ich mir nicht
vorstellen.
({13})
Wir brauchen vielmehr Strukturreformen. Und begonnene Strukturreformen müssen weitergeführt werden.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: In Spanien und in
Frankreich war die Jugendarbeitslosigkeit auch in Zeiten
hoch, in denen die wirtschaftliche Lage anders als heute
war. Wenn Sie die Leute in Frankreich und Spanien fragen, womit das zusammenhängt, dann werden Ihnen
mehrere Punkte genannt.
Es ist aber doch bemerkenswert, dass man in Frankreich versucht, bei jungen Leuten die Mindestlohnvereinbarung zu unterlaufen, weil die jungen Leute sonst
keine Beschäftigungsmöglichkeiten haben. Da muss
doch einmal an Strukturreformen gedacht werden.
Es ist doch bemerkenswert, dass der wesentliche
Grund dafür, dass bei uns mehr junge Leute ausgebildet
und in Arbeit sind, im dualen Ausbildungssystem liegt.
Die Spanier wären gut beraten, wenn sie Hilfen der EU,
auch finanzielle Hilfen, annehmen würden, um ein System der dualen Ausbildung aufzubauen. Da wäre das
Geld gut investiert.
({14})
Sie können noch so viel Geld in Strukturen hineingeben - wenn die Strukturen nicht zukunftsfest sind, wird
sich nichts ändern. Deswegen ist der Weg, den diese
Bundesregierung einschlägt, richtig: Wir wollen durch
Strukturreformen zu mehr Wachstum kommen.
({15})
Ich rate den Sozialdemokraten dringend, sich an die Zeiten zu erinnern, in denen sie Strukturreformen mutig angegangen sind. Das hat nämlich unserem Land genützt.
Es ist auch von großer Bedeutung, dass wir in den
nächsten Wochen unseren Beitrag dazu leisten, dass es in
Europa mit ESM und Fiskalpakt vorangeht. Wir haben
Ihnen gesagt, dass wir mit Ihnen sprechen werden. Das
habe ich im Übrigen angekündigt. Immer wieder haben
wir ja in wichtigen Fragen gemeinsame Positionen finden können. Das werden wir auch in diesem Fall versuchen.
Eines geht aber beim besten Willen nicht, Herr
Steinmeier. Es geht nicht, dass Sie hier Forderungen aufstellen, obwohl Sie genau wissen, dass es gar nicht in
unserer Macht liegt, diese Forderungen zu erfüllen. In
der Euro-Zone gibt es leider Gottes keine Mehrheit - wir
brauchen eine einstimmige Entscheidung - für eine Finanztransaktionsteuer. Das wissen Sie ganz genau. Deswegen ist es Quatsch, sich hier hinzustellen und zu sagen: Wir brauchen eine Finanztransaktionsteuer.
({16})
Das wird in der EU-Zone nicht gehen. Wolfgang
Schäuble hat mehrfach betont, dass er sie gerne hätte. Es
geht aber nicht.
Ich rate Ihnen deshalb dringend, einen Satz zu berücksichtigen, der eigentlich bekannt ist - zumindest in
meiner Fraktion kennen ihn alle, aber Sie müssen ihn
vielleicht noch lernen -: Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit und nicht mit dem, was man
gerne hätte. Das müssen Sie einsehen. Wir haben gesagt
- darüber besteht Einigkeit in unserer Koalition -: Wir
wollen eine Regelung, durch die Derivate besteuert werden und der Computerhandel verlangsamt wird, also
eine Regelung, die nahe an das herankommt, was Finanztransaktionsteuer ist. Auf dieser Basis können wir
doch zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen.
Natürlich können wir auch darüber reden, wie wir die
in der EU schon vorhandenen Möglichkeiten, Strukturen
und Instrumente einsetzen können, um bessere Wachstumsperspektiven in Europa zu bekommen. All das können wir machen. Eines ist aber klar: Wir müssen ESM
und Fiskalpakt beieinander behalten und miteinander abstimmen.
({17})
- Herr Trittin, ich habe fast erwartet, dass Sie so reagieren. Sie können das ja gleich erläutern. - Ich kann Ihnen
sagen: Es liegt nicht in unserem Interesse, nicht im nationalen und auch nicht im europäischen, den ESM zu
verabschieden und dann den Fiskalpakt weichzuspülen.
Das werden wir auf gar keinen Fall mitmachen. Beides
gehört zusammen, und beides muss zusammen verabschiedet werden.
({18})
Sie müssen sich gut überlegen, welche Verantwortung
Sie haben und wie Sie mit dieser Verantwortung umgehen. Wenn es um Europa geht, dann darf man keine parteipolitischen Spielchen machen; das muss ich ausdrücklich betonen.
({19})
Wir werden mit Ihnen Gespräche führen; das ist keine
Frage. Wir wissen, dass wir eine Zweidrittelmehrheit
brauchen. Ich rate Ihnen aber auch, sich Ihrer Verantwortung bewusst zu sein.
({20})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war
mal wieder eine Regierungserklärung, Frau Bundeskanzlerin, in der Sie vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen sind. Als Sie geendet hatten, da wusste man
kaum noch, was Sie gesagt haben.
({0})
- Das habe ich, und auch das Manuskript liegt mir vor.
Wir reden hier ja über den G-8-Gipfel und über den
NATO-Gipfel. Was ist eigentlich Ihre Antwort auf den
Umstand, wie sich der Abzug in Afghanistan vollzieht?
Haben wir eine Antwort darauf bekommen, wie
Deutschland reagiert, nachdem Australien erklärt hat,
vorzeitig abzuziehen? Nein.
Haben wir eine Antwort darauf bekommen, was passiert und wie Deutschland reagiert, wenn François
Hollande in Chicago ankündigt - das wird er tun -, die
französischen Soldaten vorzeitig abzuziehen? Keine
Antwort in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin.
Diese Form von Nichtbeantwortung der auf dem
Tisch liegenden Fragen setzt sich fort. Wann werden wie
viele deutsche Soldatinnen und Soldaten abgezogen?
Sollen, wie der Verteidigungsminister andeutet, nach
2014 noch Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan
sein, ja oder nein? Auf all das sind Sie die Antworten
schuldig geblieben. Stattdessen kommt der Spruch: Wir
gehen zusammen rein, und wir gehen zusammen raus.
Nein, Sie gehen nicht zusammen raus. Die Schweden
sind weg, die Niederländer sind weg, die Australier gehen, die Franzosen gehen, und am Ende läuft es nach
dem Motto: Die Letzten machen das Licht aus. Sind das
die Deutschen, oder wie soll ich das verstehen, Frau
Bundeskanzlerin?
({1})
Wir haben in Europa zurzeit eine sehr spannende Situation. Heute gilt Merkel’s Law.
({2})
Merkel’s Law lässt sich mit zwei Grundsätzen beschreiben. Der erste ist: Sie können in Griechenland der letzte
Sektierer von ganz links oder von ganz rechts sein, Sie
müssen nur sagen, dass Sie gegen Merkels Politik sind,
und schon werden Sie gewählt. Das andere Axiom dieses Gesetzes ist - das ist das Schlimmste, das einem
Wahlkämpfer passieren kann -: Wenn Sie von Frau
Merkel unterstützt werden, dann werden Sie abgewählt
bzw. nicht gewählt.
({3})
Dieses Schicksal teilt Jost de Jager mit Nicolas Sarkozy.
Norbert Röttgen hat das noch vor sich.
({4})
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Es war nicht die
CDU-Parteivorsitzende, es war die Bundeskanzlerin der
Bundesrepublik Deutschland, die einem französischen
Präsidentschaftskandidaten ein Gespräch verweigert hat.
({5})
Diese einseitige Parteinahme der Bundeskanzlerin im
französischen Wahlkampf war ein Schlag gegen die
deutsch-französische Freundschaft.
({6})
Ich füge hinzu: Es war ein guter Tag für Europa, als
Sarkozy abgewählt worden ist,
({7})
weil das Modell der sozialen Arroganz dabei ist, den Zusammenhalt in Europa zu gefährden.
({8})
Ein Europa, in dem die Hälfte der Jugendlichen arbeitslos ist, hat keine gemeinsame Zukunft.
({9})
Dieses Modell ist in Frankreich abgewählt worden, und
Sie sind mit abgewählt worden, Frau Bundeskanzlerin.
({10})
Brüderle und Kauder erzählen uns in ihren Märchenstunden immer, in Deutschland würde das alles anders
gehen, man sei gegen schuldenfinanzierte Kreditprogramme, und es gebe eine spezielle deutsche Stabilitätskultur.
({11})
Ich frage Sie: Welche Stabilitätskultur eigentlich? Sie sagen immer, die rot-grüne Regierung habe die Stabilitätskriterien aufgeweicht.
({12})
Schauen Sie sich mal die Zahlen an. Unter Bundeskanzlerin Merkel hatten wir am Anfang der letzten Legislaturperiode eine Staatsverschuldungsquote von 68 Prozent.
({13})
Wo sind wir heute? Wir sind heute bei 81,2 Prozent, und
wir werden im nächsten Jahr bei 84 Prozent sein. Meine
Damen und Herren, unter der Kanzlerschaft von Frau
Merkel sind die deutschen Staatsschulden um rund ein
Viertel angestiegen. Aber Sie predigen dem Rest Europas Stabilität. Das kann ja wohl nicht wahr sein!
({14})
Ihr Gegenargument lautet, es habe eine Krise gegeben, und man habe etwas dagegen tun müssen. Herr
Kauder stellt sich nun aber hier hin und sagt: Wir können
doch nicht solche Strohfeuer produzieren. Nein, da war
kein Strohfeuer. Deutschland ist nur besser durch die
Krise gekommen. - Das ist richtig.
({15})
Aber was passiert jetzt, in einer Situation, in der keine
Krise mehr herrscht, in der es zu einem Wirtschaftsaufschwung kommt? Letztes Jahr hat Deutschland 17 Milliarden Euro Staatsschulden gemacht. Was für einen
Haushalt verabschiedet Schwarz-Gelb? Sie verabschieden einen Haushalt, in dem Sie sich selber die Erlaubnis
geben, die Staatsschulden auf 34 Milliarden Euro zu erhöhen. Also: In der Hochkonjunktur verdoppeln Sie die
Schulden in Deutschland. Das nennen Sie Stabilitätskultur? Es ist absurd, was Sie hier praktizieren.
({16})
Herr Röttgen wandert bzw. irrlichtert - anders kann
man das nicht nennen - durch Nordrhein-Westfalen,
nach dem Motto, es gehe auch dort um Stabilität. Ich rate
Ihnen: Gucken Sie sich mal die Zahlen an. In der Hochkonjunktur verdoppelt Schwarz-Gelb die Bundesschulden. Innerhalb von 20 Monaten hat eine rot-grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen das Defizit
von 6 Milliarden Euro auf 3 Milliarden Euro halbiert.
Das nenne ich Stabilitätskultur, aber nicht Ihre Politik,
meine Damen und Herren!
({17})
Sie haben eine falsche wirtschafts- und finanzpolitische Strategie. Das sagt Ihnen jeder. Das sagt Ihnen die
US-Regierung, das sagt Ihnen die OECD, das sagt Ihnen
die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union, und das sagt Ihnen der Internationale Währungsfonds.
({18})
Der Einzige bei Ihnen, der das mittlerweile begriffen hat,
ist Wolfgang Schäuble. Er sagt: Jawohl, wir müssen etwas gegen die Ungleichgewichte tun. Wir müssen die
Nachfrage im Lande, die Binnennachfrage, stärken. Das
geht nur mit höheren Löhnen. - Ich sage nur: Lieber
Herr Schäuble, willkommen im Klub! Aber erklären Sie
das bitte mal Ihrer eigenen Regierung, Ihrer eigenen Koalition! Zugleich sollten Sie aufhören, Pappkameraden
aufzubauen. Das tun Sie, indem Sie sagen, man dürfe
nur in zusätzliche wirtschaftliche Entwicklung investieren.
Herr Brüderle, wenn Sie sich mit den Grünen auseinandersetzen, hätte ich Ihnen zu einem anderen Beispiel geraten.
({19})
Uns wurde früher ja immer vorgeworfen, Deindustrialisierung zu betreiben.
({20})
Wenn Sie wissen wollen, wie Deindustrialisierung geht,
dann empfehle ich Ihnen einen Besuch in Frankfurt/
Oder. Dort haben Sie mit Ihrer Politik gerade den einzigen industriellen Großbetrieb, nämlich First Solar, gegen
die Wand gefahren.
({21})
Wer zeigt also, wie Deindustrialisierung geht? Der Mann
heißt Brüderle, meine Damen und Herren.
Nein, wir brauchen Investitionen. Die kann man übrigens durch Einnahmen finanzieren, zum Beispiel durch
eine Finanztransaktionsteuer. Lieber Herr Kauder, Sie
sagen, man solle nichts fordern, wenn man dadurch von
anderen abhängig wird. Wir sind nicht von anderen abhängig, wenn es darum geht, nicht nur die Neuverschuldung zu bremsen, sondern auch die Altschulden abzubauen. Lassen Sie uns einen Altschuldentilgungsfonds
einrichten, wie ihn Ihr eigener Sachverständigenrat vorgeschlagen hat. Das können wir tun!
Wir sind auch nicht von anderen abhängig, wenn es
darum geht, dass sich die Bundesländer zu den gleichen
Konditionen verschulden können sollen wie der Bund.
({22})
Lassen Sie uns Deutschland-Bonds einführen!
Das alles sind Maßnahmen, die mit dazu beitragen
würden, aus dem Fiskalpakt eine vernünftige und runde
Sache zu machen. Hier sollten Sie sich endlich bewegen,
sonst bekommen Sie das nicht durchs Haus.
({23})
Eine letzte Bemerkung zum Klimaschutz: Frau
Merkel, dass Sie das Wort überhaupt in den Mund
genommen haben! Wer wird Ihnen beim Thema Klimaschutz eigentlich noch zuhören, da Sie doch erklärt
haben, dass Sie zu der wichtigsten Umweltkonferenz in
den letzten zwei Jahrzehnten nicht fahren wollen?
({24})
- Das ist typisch Westerwelle: „In den letzten 100 Jahren“. Sie haben von internationaler Politik und von internationaler Klimapolitik noch gar nichts begriffen. Auch
nach drei Jahren sind Sie noch im Zustand eines Klippschülers.
({25})
Sie hätten in Rio auch ein Problem gehabt. Was hätten
Sie da eigentlich sagen können? Deutschland hat sich
aus der Rolle des Vorreiters verabschiedet und ist zum
Bremser im Klimaschutz geworden.
Zu Ihrem schönen Beispiel von den Kleinbauern,
denen Sie sich jetzt zuwenden wollen: Der erste Schritt,
um Kleinbauern im Süden zu helfen, ist ganz einfach:
Schaffen Sie die Agrarexportsubventionen ab! Beenden
Sie den Skandal, dass der Handel mit Hühnerteilen bei
uns subventioniert wird, um Landwirte in Afrika kaputtzumachen!
({26})
Da wir über Klimapolitik reden: Warum blockieren
Sie ein 30-Prozent-Ziel in der Europäischen Union?
Warum verhindern Sie ein verbindliches CO2-Energieeffizienzziel innerhalb der Europäischen Union?
Zu all dem hätten Sie heute hier eine Regierungserklärung abgeben können. Der einzige Satz, mit dem sich
Ihre Regierungserklärung zusammenfassen lässt, ist aber
ein anderer: Ich habe fertig!
({27})
Das Wort erhält nun der Kollege Jörg van Essen für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dieser durchsichtigen Wahlkampfrede des Cheflobbyisten
der deutschen Solarindustrie bin ich wirklich sprachlos,
({0})
auch deshalb, weil ich Nordrhein-Westfale bin und mich
noch sehr gut daran erinnere, wie der Landesverfassungsgerichtshof der nordrhein-westfälischen rot-grünen
Regierung bescheinigt hat, dass sie einen verfassungswidrigen Haushalt verabschiedet hat. Daran ist immer
wieder zu erinnern.
({1})
Ich denke, dass wir gut daran tun, hier einige kurze
sachliche Bemerkungen zu machen. Als Sicherheitspolitiker, der ich bin, mache ich das gerne zum NATOGipfel.
Auch und gerade vor dem Hintergrund der aktuellen
Spannungen und drohenden Konflikte an der Grenze
eines unserer NATO-Partnerländer bekennen wir uns zur
NATO als dem Anker unserer militärischen Sicherheit.
Dass das Ziel der Stärkung der NATO und der Ruf nach
mehr Europa keinen Widerspruch darstellen, liegt für
mich auf der Hand. Vielmehr trägt ein starker europäischer Beitrag in der NATO zur Stärkung der NATO und
damit zu unserer Sicherheit und Handlungsfähigkeit insgesamt bei.
Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich,
dass sich der Wille der Petersberger Konferenz in den
konkreten Vereinbarungen und Planungen mit und für
Afghanistan wiederfindet und ein wichtiger Teil des
Gipfels in Chicago ist. Auch Dank der Initiative der
Bundesregierung und speziell unseres Außenministers
hat die internationale Gemeinschaft einen gemeinsamen
Plan entwickelt und das Primat des Politischen und den
vernetzten Ansatz mit Leben erfüllt. Chicago wird den
nächsten Baustein zur Weiterentwicklung dieses Plans
liefern.
Als langjähriger Kommandeur in der Bundeswehr
weiß ich, wie komplex eine Abzugsoperation ist. Kurzfristig gehört dazu, dass der Abzug der ISAF-Truppen
kontrolliert und koordiniert erfolgen kann und der Übergang in die Phase ab 2015 sauber geplant und gestaltet
werden muss. Dafür haben wir noch eine Menge Arbeit
zu erledigen. Die Vereinbarung „together in, together
out“ ist hier schon Gegenstand der Debatte gewesen. Ich
lege Wert darauf, dass sie auch weiterhin in der gesamten NATO Gültigkeit haben muss.
({2})
Mittelfristig müssen die Anstrengungen zur Schaffung eines stabilen ökonomischen und gesellschaftlichen
Umfeldes konsequent weiterverfolgt und weiter verstärkt werden. Hier sind wir bereits im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit des BMZ und der Projekte
des Auswärtigen Amtes sehr erfolgreich.
Im Kern muss von Chicago für Afghanistan das Signal ausgehen, dass die ISAF-Staaten mit einer Stimme
sprechen. Leider hat es dazu in den letzten Monaten
durchaus unterschiedlich auslegbare Äußerungen gegeben. Mir ist auch wichtig, dass die NATO ihr nukleares
Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv überprüfen wird. Dass sich die Allianz dieser wichtigen Frage
stellt, ist ein wichtiges Verdienst unseres Außenministers, der sich im Einklang mit US-Präsident Obama immer wieder für das langfristige Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt eingesetzt hat.
({3})
Dafür gibt es Chancen, gerade im substrategischen und
im taktischen Bereich.
Meine letzten Bemerkungen sollen sich auf Missile
Defense beziehen. Ich freue mich sehr, dass wir uns als
Deutschland sehr dafür einsetzen, Russland dabei einzubeziehen. So etwas kann immer nur mit und nie gegen
Russland gehen.
({4})
Es hat sich gezeigt, dass die gemeinsamen Übungen ein
wichtiger Schritt der Vertrauensbildung gewesen sind.
Hier müssen wir vorankommen; denn es ist ein wichtiges Ziel, Russland miteinzubeziehen. Ich hoffe, dass es
in Chicago auch dafür ein Signal geben kann.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Rolf Mützenich
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will in den wenigen Minuten meiner Rede auf nur ein
Thema eingehen, von dem ich glaube, dass es in den
nächsten Jahren die Konfliktformation in Europa beherrschen und wahrscheinlich auch zu neuen Spannungen
führen wird. Es geht um die Raketenabwehr, die zwar
unter dem NATO-Dach entwickelt wird, aber eigentlich
ein nationales Vorhaben der USA ist.
Ich will, Herr van Essen, die Bemerkung machen, dass
es grundsätzlich erst einmal unwahrscheinlich ist, dass
ein Rüstungsvorhaben allein zur Kooperation führt. Im
Gegenteil: Rüstungsvorhaben führen in der Regel - das
ist die Erfahrung aus dem Kalten Krieg - zu Unsicherheit und können das Sicherheitsdilemma zwischen Staaten verstärken.
({0})
Deswegen ist es Aufgabe der Bundeskanzlerin und der
gesamten Bundesregierung, Russland eben nicht nur einzuladen, sondern auch die Bedrohungswahrnehmung
Russlands, gerade auch in den Institutionen der NATO,
zu erklären und darauf entsprechend zu reagieren.
({1})
Ich finde, hier haben Sie in den letzten Monaten und
Jahren zu wenig getan. Im Gegenteil: Sie haben erstens
die Sichtweise Russlands nicht eingebracht, die nach
meinem Dafürhalten von zweierlei geprägt ist: Die
Sowjetunion hat während des Kalten Krieges die Erfahrung mit „Star Wars“ und der theoretischen Fähigkeit
eines Erstschlages gemacht. Das befördert die Unsicherheit im russischen Sicherheitsapparat. Hinzu kommt
nach dem Ende des Kalten Kriegs die Erfahrung: Die
NATO ist an die Grenze Russlands herangerückt und hat
in diesem Gebiet ihre Raketenabwehr stationiert. All das
befördert Unsicherheit. Diese Unsicherheit haben Sie
innerhalb der NATO nicht ausreichend thematisiert.
({2})
Damit sind Sie nicht genügend auf die russischen Fragen
eingegangen. Das ist ein großes Versäumnis, das man
der Bundeskanzlerin wird vorhalten müssen.
({3})
Ich hoffe, dass Sie zumindest mit einer gewissen Empathie für Russland nach Chicago fahren und den Mitgliedsländern der NATO diese Unsicherheit Russlands
auf dem NATO-Gipfel deutlich machen.
Dabei geht es ganz konkret um die Frage: Wird es uns
gelingen, den Unsicherheitsfaktor Raketenabwehr durch
eine rechtsverbindliche Begrenzung einzuhegen? Ich
fordere die Bundesregierung dazu auf, diese Frage mutig
anzugehen. Das haben Sie in der Vergangenheit nicht
getan, insbesondere dann nicht, als der damalige russische Präsident Medwedew einen Vorschlag über ein
neues europäisches Sicherheitskonzept eingebracht hat.
Sehr reflexartig hat man innerhalb der NATO-Staaten,
aber auch der Bundesregierung darauf reagiert, und man
hat sogar Vokabeln der Lächerlichkeit eingebracht.
Nicht geschafft haben Sie, eine alte Tradition deutscher Bundesregierungen fortzusetzen, nämlich sowohl
die Bedenken aufzunehmen als auch sozusagen Brücken
zu bauen. Das verlange ich von einer deutschen Bundesregierung gegenüber der russischen Regierung. Das
haben Sie aber nicht bzw. zu wenig getan.
({4})
Das zweite Beispiel ist der Georgien-Konflikt.
Damals haben wir einen wirklich schweren Konflikt in
Europa erlebt. Worum ging es? Wir haben sofort die Instanz suspendiert, die eigentlich zur Konfliktbearbeitung
in der Lage gewesen wäre, nämlich den NATO-Russland-Rat, und es war schwer, wieder an die guten Erfahrungen anzuknüpfen.
({5})
Drittens lässt sich die Bundeskanzlerin - das muss
man ihr vorwerfen - in den USA, auch im Kongress,
gerne feiern und hält wohlfeile Reden, aber sie geht
nicht auf die Bedingungen ein, unter denen möglicherweise ein solcher Konflikt auch eingehegt werden kann.
Insbesondere überzeugt sie nach meinem Dafürhalten
den amerikanischen Kongress nicht davon, dass wir Verträge brauchen, um dieses Sicherheitsdilemma entscheidend zu bearbeiten.
({6})
Ich meine, Sie müssen nach Chicago reisen, um ein
neues Wettrüsten und auch letztlich neue Kriegsführungsstrategien zu verhindern.
({7})
Das ist die Aufgabe der Bundesregierung in Chicago.
Dazu haben Sie leider heute nichts gesagt.
Der Bundesaußenminister, der in seinem Wahlkampf
gerne über Abrüstung philosophiert hat, hat nach drei
Jahren nichts vorzuweisen, was flankierend in diesen
Prozess eingebracht werden kann. Er reist gerne, aber
das reicht für einen Außenminister nicht aus.
({8})
Er muss Themen besetzen, und das wäre ein wichtiges
Thema gewesen. Leider hat er in diesen Zusammenhängen versagt.
Ich finde es schade, dass die Bundesregierung so nach
Chicago gehen muss. Sie bringt nichts voran. Sie schafft
eher Unsicherheiten. Das steht nicht in der Tradition
ehemaliger Bundesregierungen.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch in diesem Jahr ist im Vorfeld des NATO-Gipfels
das Zusammentreffen der Staats- und Regierungschefs
als überlebenswichtig für die Allianz bezeichnet worden.
Indes zeigen die Themen des Gipfels: Das Bündnis widmet sich seinem Tagesgeschäft, unserer Sicherheit. Um
diese zu gewährleisten, hat die Allianz keinen Deut ihrer
Relevanz eingebüßt.
({0})
Das zeigen die Themen auf der Agenda deutlich. Die
in Chicago geplante Verabschiedung des strategischen
Plans für Afghanistan für die Zeit nach dem Abzug der
internationalen Kampftruppen 2014 zeigt: Die Allianz
bleibt der Zukunft Afghanistans verpflichtet.
Auch die G 8 werden sich auf ihrem Gipfel in Camp
David mit Afghanistan beschäftigen, und zwar mit der
wirtschaftlichen Unterstützung des Landes nach dem
Rückzug der internationalen Truppen, die bisher einen
unverhältnismäßig großen Anteil am wirtschaftlichen
Wachstum Afghanistans haben.
Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten: Als
2002 der Einsatz in Afghanistan unter der damaligen rotgrünen Bundesregierung mit Unterstützung der CDU/
CSU mandatiert wurde, haben wir zu hohe Erwartungen
gehabt. Der Strategiewechsel der christlich-liberalen
Bundesregierung Anfang 2010 hat die entscheidende
Wende zur Übergabe der Verantwortung in afghanische
Hände gebracht und eine konkrete Abzugsperspektive
für unsere Soldatinnen und Soldaten eröffnet.
Es ist vieles erreicht worden, etwa das vordringliche
Ziel des NATO-Einsatzes, al-Qaida als international von
Afghanistan aus agierende Terrororganisation auszuschalten. 2001 war undenkbar, was sich mit Blick auf die
Infrastruktur Afghanistans, die medizinische Versorgung
vieler afghanischer Bürger, das Schulwesen und die
Rolle von Frauen positiv entwickelt hat.
Die NATO wird 2014 ihren ISAF-Einsatz in seiner
bisherigen Form beendet haben. Es ist jetzt entscheidend, dass alle Bündnispartner sich weiter den Zielen
des letzten NATO-Gipfels 2010 verpflichtet fühlen, bis
dahin eine nachhaltige und verantwortungsvolle Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen zu
gewährleisten. Auch wenn Frankreich bis Ende des Jahres seine Kampftruppen aus Afghanistan abziehen sollte:
Für uns gilt der NATO-Zeitplan; denn dieser Zeitplan für
eine Sicherheitsübergabe in Verantwortung ist ein Zeitplan, der auf unsere eigenen Sicherheitsinteressen abgestimmt ist. Das ist kein stures Festhalten an Terminen,
sondern eine Frage der Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit gegenüber dem afghanischen Volk, gegenüber
den afghanischen Streitkräften und nicht zuletzt gegenüber den Bündnispartnern. Das gilt auch für Frankreich.
François Hollande muss sich fragen, ob er mit seiner ersten wichtigen sicherheitspolitischen Entscheidung ein
Signal mangelnder Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit
gegenüber den Bündnispartnern aussenden will.
2014 werden keine internationalen, also auch keine
deutschen Kampftruppen mehr in Afghanistan im Einsatz sein. Diese Rückführung ist eine große logistische,
militärische und auch außenpolitische Herausforderung.
Unser Abzug muss sicher, geordnet und nachhaltig sein.
Damit unsere Soldatinnen und Soldaten wohlbehalten
nach Hause zurückkehren können, könnten wir für den
logistischen Teil des Abzuges einen gesonderten militärischen Schutz brauchen.
Im vergangenen Jahr sind Afghanistan und seine
internationalen Partner auf der Bonner AfghanistanKonferenz gegenseitige Verpflichtungen für eine zivile
Transformationsdekade nach 2014 eingegangen. Dann
wird es auch darum gehen, die afghanischen Sicherheitskräfte weiter auszubilden, zu befähigen und sie weiter zu
unterstützen. Für diese Ausbildungsaufgaben und für die
Sicherheit der eingesetzten deutschen Ausbilder wird die
Bundeswehr weiter, aber in einem deutlich reduzierten
Umfang vor Ort präsent bleiben.
({1})
Denn die weitere Stabilisierung und Entwicklung Afghanistans liegen in unserem Sicherheitsinteresse.
Damit das Bündnis auch in Zukunft für unsere Sicherheit sorgen kann, müssen angesichts knapper Kassen zur
Sicherung unserer militärischen Handlungsfähigkeit das
Instrument des „Pooling and Sharing“ sowie die sogenannte Smart Defense der NATO stärker und ambitionierter genutzt werden. Beides darf aber nicht bloß als
Möglichkeit zur Kosteneinsparung oder als Ersatz für
nachhaltig finanzierte Streitkräfte angesehen werden.
Vielmehr sollte dadurch der benötigte Auf-, Um- und
Ausbau der militärischen Fähigkeiten der Allianz ermöglicht werden. Wir begrüßen deshalb das Bestreben
im Bündnis, durch eine transatlantische Lastenteilung
Fähigkeiten zu sichern bzw. Fähigkeitslücken zu schließen. Es wird allerdings kein Weg daran vorbeiführen,
noch deutlicher als bisher mutige gemeinsame Vorstellungen zu entwickeln, welches militärische Potenzial
dafür unter bezahlbaren Bedingungen zur Verfügung
stehen soll, welche Fähigkeiten wir mit anderen teilen
wollen, wo wir Fähigkeiten übernational mit anderen
einbringen wollen und auf welche Fähigkeiten wir aus
Kostengründen bzw. deshalb, weil andere sie verlässlich
und günstiger bereitstellen, verzichten wollen.
Die Bereitschaft, sich an diesen Ansätzen zu beteiligen, erfordert nicht nur den politischen Willen zur Integration militärischer Fähigkeiten, sondern auch die Bereitschaft zur Aufgabe von Souveränität über den Einsatz militärischer Mittel. Dessen müssen wir uns auch
als Bundestag bewusst sein, wenn wir Smart Defense
bzw. „Pooling and Sharing“ zu einem echten Erfolg führen wollen; denn die Furcht vor einem nationalen Souveränitätsverlust und ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Partner waren bisher Hindernisse für
eine solche vertiefte Kooperation. Unsere Partner werden zu Recht fragen, ob Deutschland im entscheidenden
Moment auch bereit ist, die deutschen Streitkräfte zur
Verfügung zu stellen, auf die sich unsere Partner in einem solchen Konzept der Aufgabenteilung stützen.
Smart Defense bzw. „Pooling and Sharing“ setzen also
viel Vertrauen in die Verlässlichkeit der Partner voraus,
das schrittweise geschaffen werden muss. Daran muss
noch intensiv gearbeitet werden.
Ein zentrales Projekt transatlantischer Lastenteilung
ist die auf dem Lissabonner Gipfel beschlossene Raketenabwehr. In Chicago kann das Bündnis die Anfangsbefähigung dieses Abwehrschildes feststellen. Warum
brauchen wir eine Raketenabwehr? Ich glaube, den
Menschen wird immer deutlicher bewusst, welche
Bedrohung sich durch Atomwaffen in den Händen von
Risikostaaten wie Iran aufbaut. Die iranische Bedrohung
ist kein Popanz, der künstlich aufgebauscht wird. Das
haben die Überprüfungen und die Berichte der IAEO,
die immer besorgter ausfielen, seit fast zehn Jahren
gezeigt.
({2})
Wenn aber der Iran die Bombe hat - das ist trotz aller
Verhandlungsbemühungen und Sanktionen früher oder
später zu befürchten -, dann kann es im Nahen und Mittleren Osten einen beispiellosen nuklearen Aufrüstungsprozess geben. Deswegen ist es richtig, dass die NATO
konkret an der Möglichkeit eines Schutzes gegen unberechenbare, nuklear bewaffnete Staaten arbeitet.
({3})
Richtig ist aber auch, dass dennoch die weltweiten
nuklearen Arsenale weiter reduziert werden können.
Deshalb muss der Abrüstungsprozess weitergehen. Allerdings bleibt auch richtig, dass die NATO so lange zur
nuklearen Abschreckung in der Lage sein muss, wie es
Atomwaffen gibt.
Die NATO bemüht sich geduldig und intensiv um einen gemeinsamen Kooperationsrahmen mit Russland
beim Aufbau der Raketenabwehr. Leider haben wir erst
letzte Woche wieder öffentliche Drohungen von russischer Seite gehört. Dabei weiß Moskau ganz genau, dass
sich das System nicht gegen Russland richtet, und wir
wissen sehr genau, welche Sorgen sich Russland vor einem nuklear bewaffneten Iran macht. Deshalb macht es
Sinn, dass wir Russland immer wieder eine Zusammenarbeit bei einer gemeinsamen Raketenabwehr gegen gemeinsame Bedrohungen anbieten.
Frau Bundeskanzlerin, in all diesen Fragen haben Sie
die volle Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion.
({4})
- Und der FDP-Fraktion. Sehr gerne werden wir das der
Frau Bundeskanzlerin mitgeben, Herr van Essen. - Wir
wünschen Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, gutes Gelingen
in Chicago.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
NATO-Gipfel in Chicago steht unter dem schicken
Motto: NATO delivers. Übersetzt: Die NATO liefert.
Um was es geht, hat die Bundeskanzlerin in ihrer Rede
nachdrücklich deutlich gemacht. Sie hat viel über den
Ausbau der militärischen Fähigkeiten geredet. Also: Um
Aufrüstung geht es in Chicago, nicht um Abrüstung. Das
ist doch gar nichts. Die NATO ist am Zuge, wenn man
sagt, man müsse liefern. Die Allianz gibt sage und
schreibe über 1 000 Milliarden Dollar für Rüstung aus.
Das sind zwei Drittel der weltweiten Militärausgaben.
Ja, die NATO muss liefern, und zwar eine echte Abrüstung. Auch einseitige Schritte sind durchaus erlaubt.
({0})
Über das Thema Abkommen zum Abbau konventioneller Streitkräfte redet niemand mehr. Aber nuklear und
konventionell ist doch nicht zu trennen. Die NATO hat
in der Zeit der Blockkonfrontation die Existenz ihrer
Atomwaffen mit der Überlegenheit der Sowjetunion im
konventionellen Bereich, also bei Panzern etc., begründet. Heute begründet Russland sein Riesenarsenal an
taktischen Atomwaffen mit dem Vorsprung der NATO
bei den konventionellen Streitkräften. So kann man den
Schwarzen Peter endlos hin- und herschieben, und nichts
bewegt sich. Damit muss endlich Schluss sein.
({1})
Fangen Sie endlich an - das ist unser Appell an
NATO und Bundesregierung -, zu liefern, und zwar Vorschläge über einen neuen KSE-Vertrag und eine Verringerung der Waffensysteme und Truppen um 30 Prozent!
Das würde mehr Sicherheit bringen, und das würde die
öffentlichen Haushalte entlasten. Beginnen Sie endlich
ernsthafte Verhandlungen über die taktischen Atomwaffen mit dem Ziel, diese Waffen endgültig abzuschaffen!
({2})
Mit der Beendigung der nuklearen Teilhabe Deutschlands, also auch mit dem Abzug der US-amerikanischen
Atombomben aus Büchel, kann sofort begonnen werden.
Das sollten Sie in Chicago deutlich machen.
({3})
Dazu nur eines: Ob die B-61-Bomben überhaupt noch
hier sind, wissen wir gegenwärtig nicht. Vielleicht verschwinden sie auch erst demnächst, um dann modernisiert, mit mehr Zerstörungspotenzial, zurückzukommen.
Aber wenn es mit Global Zero, also der Vision der atomwaffenfreien Welt, ernst gemeint ist, dann brauchen wir
doch kein Upgrade dieser Waffen, sondern dann brauchen wir Abolition, Verschrottung. Das ist es, was angesagt ist.
({4})
Davon wird in Chicago leider nicht die Rede sein.
Die NATO ist - das ist auch in dieser Debatte deutlich
geworden - ein militärisches Perpetuum mobile, was in
der Frage der Abrüstung nichts anderes heißt, als dass
man da vage, zögerlich und unverbindlich ist. Beim Aufrüsten ist man konkret, verbindlich und sehr praktisch.
Das zeigt das Beispiel der Raketenabwehr. Darüber wird
in Chicago auch geredet und beschlossen werden.
Noch vor zwei Jahren hatte diese Bundesregierung
Bedenken und wollte erst sorgfältig prüfen. Jetzt sind
Sie mittenmang dabei. Hauptquartier der Raketenabwehr
in Ramstein? No problem. Deutsche Beteiligung am Raketenabwehrsystem? Warum nicht solche Abfangraketen
auf Fregatten der deutschen Marine stationieren? Russland, das sich durch das Gesamtsystem extrem bedroht
fühlt? So what. Das kriegen wir schon hin.
Interessant ist auch da wieder, dass es die NATO früherer Tage war, die gegenüber der Sowjetunion gesagt
hat, Absichten seien nicht entscheidend, die könnten sich
ändern. Entscheidend seien militärische Fähigkeiten.
Heute ist es die russische Regierung, die sagt: Die
Absichtserklärung der NATO „Wir wollen niemanden
bedrohen“ genügt uns nicht. Das wird man doch wohl
verstehen können.
({5})
Der Verteidigungsminister sagt zudem, man benötige
dieses kostspielige Rüstungsprojekt, weil wir es mit einer Welt voller aufstrebender Mächte zu tun hätten, die
sich wahrscheinlich auch moderne Raketen zulegten.
Gegen diese Bedrohung müsse man sich wappnen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, das ist nichts anderes als die
Einladung zu neuen globalen Aufrüstungsrunden, zu einem Wettlauf zwischen Offensiv- und Defensivwaffen;
und das ist wahrlich nicht das, was die Welt braucht.
({6})
Zum Schluss zur Bedrohung durch den Iran, die ja
noch nicht real, aber auch nicht auszuschließen ist. Auch
hier gilt: Statt fatalistisch hinzunehmen, dass es immer
mehr Atommächte gibt, sollten jetzt die Anstrengungen
im Nahen Osten für einen Nahen Osten ohne Massenvernichtungswaffen vorangebracht werden. Wenn das gelingt, brauchen wir keine neuen Abfangraketen. Das
wäre eine Friedenspolitik, die den Namen verdient. Davon kann leider auf dem NATO-Gipfel keine Rede sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Dagmar Wöhrl ist die nächste Rednerin für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
G-8-Gipfel liegt vor uns. Das ist kein unwichtiger
Gipfel, auch wenn man sagen kann, dass die G 8 nicht
mehr der Vorreiter bei der Lösung transnationaler Probleme sind, wie sie es einmal waren. Sie sind aber ein
großer Impulsgeber.
Auch diesmal stehen große globale Herausforderungen auf der Tagesordnung, die alle mit einem entwicklungspolitischen Aspekt verbunden sind. Wenn man sich
Afghanistan anschaut - darüber haben wir heute in der
Debatte auch schon gesprochen -, stellt man fest, dass
eine Entwicklung ohne Sicherheit und ohne Stabilität
nicht möglich ist. Man sieht aber auch, dass das umgekehrt ebenso gilt.
Es ist wichtig, dass wir uns nicht nur über Strategien
der Finanzierung der Sicherheitskräfte unterhalten, sondern auch darüber, wie wir den zivilen und den wirtschaftlichen Aufbau des Landes nach 2014 hinbekommen können. Deshalb ist es wichtig, dass Auswärtiges
Amt und BMZ hier zu einem gemeinsamen Konzept
kommen.
Nehmen wir das Thema „Zukunft der nordafrikanischen Länder“: Wenn wir wollen, dass die Blüten des
Arabischen Frühlings, in die wir alle hier so große Hoffnungen gesetzt haben, zukünftig zu erntereifen Früchten
heranreifen, dann müssen wir dafür sorgen, dass der
Aufbau der Infrastrukturen und der Ökonomie vorankommt. Nur wenn es einen wirtschaftlichen Aufbau gibt,
werden wir Perspektiven für eine freiheitliche Entwicklung schaffen können. Egal ob es Ägypten, Tunesien
oder Libyen ist: Es ist wichtig, dass wir zu mehr Investitionen in diesen Ländern kommen. Nur so schaffen wir
es, die hohe Jugendarbeitslosigkeit in diesen Ländern zu
bekämpfen. Deshalb bin ich froh, dass sich die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in diesem
Bereich zukünftig stärker engagieren wird.
Klar ist: Ohne wirtschaftliches Wachstum werden wir
nicht zur Demokratisierung kommen. Wir hatten diese
Woche eine hochrangige Delegation aus Myanmar zu
Gast. Sie hat mit vielen Kollegen und einigen Ministern
Gespräche geführt. Dabei hat der Speaker des Parlaments etwas sehr Richtiges gesagt: Das Volk kann ich
auf dem Weg zur Demokratie nur mitnehmen, wenn ich
ihm Perspektiven für Wachstum und Wohlstand eröffne.
Das ist der richtige Weg.
Was mich besonders freut, ist, dass auf dem nächsten
G-8-Gipfel Afrika wieder eine zentrale Rolle spielt.
Afrikanische Regierungschefs haben das erste Mal an einem solchen Gipfel im Jahr 2000 beim G-8-Gipfel in
Okinawa teilgenommen. Auch dieses Jahr sind afrikanische Regierungschefs eingeladen - mehr als vorher -,
unter anderem die Regierungschefs von Ghana, Tansania
und Äthiopien. Das Bild Afrikas hat sich gewandelt. Inzwischen bezeichnet man Afrika auch als „Chancenkontinent“. Der IWF sprach 2011 von 5,2 Prozent Wachstum in Afrika. Dieses Jahr sollen es 6 Prozent Wachstum
sein. Von manchen afrikanischen Ländern sagt man, es
seien heute Löwen, die in die Fußstapfen der asiatischen
Tiger treten werden.
Wenn man die Zeitungen aufschlägt, sieht man aber
auch ein anderes Gesicht Afrikas. Immer öfter kommt es
zu Dürren und Hungerkatastrophen. 1 Milliarde Menschen hungert, und es werden nicht weniger. Es gibt ein
immenses Bevölkerungswachstum. Die Bevölkerung
wächst insgesamt jedes Jahr um so viele Einwohner, wie
Deutschland hat - fast 80 Millionen.
Entsprechend sind die Herausforderungen, die wir haben: Nahrungsmittelproduktion, genügend Wasser und
Energie; dazu kommen viele weitere Dinge. Die Menschen in Afrika wollen natürlich ernährt werden, und sie
wollen eine ausreichende gesundheitliche Versorgung
haben. In der Sahelzone droht rund 13 Millionen Menschen eine Hungerkatastrophe. Das ist nicht die einzige
Katastrophe, die droht. Burkina Faso, Mauretanien,
Mali, Niger, Senegal, Tschad, Kamerun; überall dort gibt
es Dürren, den Ausfall von Ernten. Allein in Mali sind es
90 Prozent. In Niger gibt es 1 Million unterernährte Kinder. Fast überall dort herrscht eine extreme Wasserknappheit, Tendenz steigend. Außerdem steigen die
Nahrungsmittelpreise. Ich wiederhole: Wir stehen vor
großen Herausforderungen. Alles das muss auf dem
G-8-Gipfel angesprochen werden.
Ich will jetzt nicht auf die Nahrungsmittelspekulationen eingehen; das ist ein Thema für sich. Ich glaube, unser Haus muss sich mit diesem Thema noch ganz intensiv beschäftigen. Es geht nicht an, dass allein an der
Chicagoer Börse 350 Millionen Tonnen Weizen - das ist
mehr als die Hälfte der gesamten Weizenproduktion der
Welt - virtuell gehandelt werden.
Hierbei geht es um wichtige Themen, um Themen,
die man nicht unter den Tisch kehren kann.
({0})
Es ist gut, dass sich die G 8 damit beschäftigt. Wir müssen nämlich aus dem Krisenmanagement herauskommen. Wir müssen zukünftig viel mehr Prävention betreiben.
Eigentlich bräuchten wir ein L’Aquila II. Im Rahmen
von L’Aquila I wurden 3 Milliarden US-Dollar, 2,1 Milliarden Euro, zugesagt. Ich bin froh, dass man sagen
kann, dass das auf den Weg gebracht worden ist. Alle
Zusagen befinden sich in der Umsetzung. Über die
Hälfte des zugesagten Geldes ist inzwischen ausgezahlt
worden. Das heißt, wir stehen zu unseren Verpflichtungen. Wir geben nicht irgendwelche Zusagen, sondern wir
erfüllen sie auch; wir überfüllen sie sogar. Mittlerweile
zahlen wir in diesem Bereich sogar über 3 Milliarden
Dollar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht immer
nur um mehr Geld; um Geld geht es immer. Wer die Arbeit der Bundesregierung aufmerksam verfolgt, wird erkennen, dass der Aspekt der ländlichen Entwicklung, des
Schutzes der Kleinbauern auch bei uns in der Entwicklungszusammenarbeit eine immer größere Rolle spielt.
Hier sind in letzter Zeit drei große Anträge dazu gestellt
worden.
Wichtig für unsere Debatte ist aber ein anderer
Nexus: der zwischen Ernährungssicherung, Wasser und
Energie. Angesichts dessen brauchen wir eine Wende
hin zu einer „Green Economy“. Wir müssen schauen,
dass wir den Klimawandel in den Griff bekommen; denn
nur so können wir auch globalen Lebensmittelkrisen zukünftig vorbeugen.
Wir wissen natürlich auch, dass Vorbeugen nicht alles
ist. Wir müssen Strategien und Techniken entwickeln,
um uns mit den Folgen des Klimawandels auseinanderzusetzen. Dieses Thema kommt mir immer noch ein
bisschen zu kurz. Was passiert, wenn man es nicht
schafft? Wie gehen wir mit den Folgen des laufenden
Klimawandels zukünftig um?
Ich glaube, wir sind uns alle einig im Hinblick auf das
Thema Energie, Stichwort „Entscheidung zwischen
Tank und Teller“: Für uns ist die Ernährungssicherung
ein Menschenrecht.
({1})
Ich habe die Hoffnung, dass die G 8 kurz vor „Rio+20“
die Chance nutzt, entscheidende Impulse für eine nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung zu setzen.
„Rio+20“ kann ein Riesenerfolg werden. Aber dazu
sind zwei Punkte wichtig: Wir brauchen einen gemeinsamen Fahrplan, und wir brauchen endlich eine Institution,
eine Einrichtung, die Normen setzt, die die Umsetzung
kontrolliert und die dann, wenn die Umsetzung nicht so
stattfindet, wie es in den Normen vorgegeben ist, dafür
sorgt, dass es auch zu Sanktionen kommt. Hier hat G 8
eine Aufgabe und muss auch in dem Zusammenhang ihr
ganzes Gewicht in die Waagschale werfen. Wenn sie das
tut, dann ist mir nicht bange.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dagmar Wöhrl. - Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU: unser Kollege Dr. Reinhard Brandl. Bitte schön, Kollege Brandl.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In acht Tagen treffen sich in Camp David die Staats- und
Regierungschefs der führenden acht Industrienationen,
({0})
und in zehn Tagen treffen sich in Chicago die Verbündeten in der Transatlantischen Allianz. Diese Treffen finden mitten in einer Phase des Umbruchs statt: Frankreich
hat erst seit wenigen Tagen einen neuen Präsidenten,
({1})
in Russland hat Putin gerade wieder das Präsidentenamt
übernommen, und Amerika befindet sich mitten im
Wahlkampf. Man darf deswegen die Erwartungen an die
Gipfel nicht zu hoch ansetzen. Das werden schlicht Arbeitsgipfel werden. Aber dass der NATO-Gipfel in Chicago, das heißt in der Heimatstadt des Präsidenten, stattfindet, lässt mich persönlich hoffen, dass Obama die
Gelegenheit nutzen wird, wieder ein starkes transatlantisches Signal zu setzen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das wäre ein schönes Signal in einer Zeit, in der
man manchmal den Eindruck hat, dass in Amerika vor
allem der pazifische Raum Bedeutung hat, während der
transatlantische Raum an Bedeutung zu verlieren
scheint.
Für eine Annäherung an Russland, insbesondere bei
der Raketenabwehr, ist die Zeit vermutlich noch nicht
reif. Es wäre aber wichtig, dass die Spannungen, die seit
dem wirklich historischen Gipfel in Lissabon wieder neu
entstanden sind, so schnell wie möglich abgebaut werden. Deutschland leistet hier im Bereich der Vertrauensbildung einen ganz wichtigen Beitrag. Wir haben es
heute schon von der Bundeskanzlerin gehört: Vor wenigen Wochen fand in Ottobrunn bei München eine Übung
des NATO-Russland-Rats zu einer gemeinsamen Raketenabwehr statt. NATO-Vertreter und Russen haben dort
geübt, wie man ballistische Raketen gemeinsam koordiniert abwehren kann. Eine kleine Übung, ein kleiner
Schritt, aber, meine Damen und Herren, dieser kleine
Schritt macht mir große Hoffnung, dass man auch außerhalb von Übungen zueinanderfinden kann.
Ein zentrales Thema auf beiden Gipfeln wird das weitere Vorgehen in Afghanistan sein. Zum ersten Mal wird
in einem solch großen Rahmen die Zeit nach 2014 konkret in den Blick genommen. 2012 konnten wir als Deutsche erstmals die Zahl unserer Soldaten reduzieren: von
5 350 auf 4 900. Wir übergeben auch immer mehr Gebiete in die afghanische Verantwortung. Der schon länger geplante Abzug der Kampftruppen bis Ende 2014
nimmt nun langsam konkrete Formen an.
Wichtig ist aber, dass wir jetzt in dieser entscheidenden Phase keinen falschen Ehrgeiz an den Tag legen, den
Abzug nicht überhasten, sondern ihn genauso wie den
gesamten Einsatz bisher mit unseren internationalen
Partnern und dem Land selbst so eng wie möglich abstimmen und koordinieren. „Gemeinsam rein - gemeinsam raus“, das ist unsere deutsche Maxime, die, wie ich
hoffe, auch international Konsens bleibt.
({2})
Aber es geht bei den beiden Gipfeln nicht nur um den
Abzug der Kampftruppen, sondern auch darum, wie wir
in der Zeit danach Afghanistan helfen, wie wir unsere
Verantwortung für Afghanistan wahrnehmen bzw. auch
aufteilen wollen. Ich finde in dem Zusammenhang den
Begriff „Transformationsdekade“, der auf dem Afghanistan-Gipfel in Bonn geprägt worden ist, sehr passend.
Mit dem Begriff „Dekade“ wird ausgedrückt, in welchen
Zeiträumen wir für diese nun anstehende Phase der Unterstützung denken müssen. Wir brauchen diese Zeiträume, um dem Land eine realistische Chance zu geben,
das bisher Erreichte nicht wieder zu verlieren, sondern
auf der Basis weiter aufzubauen.
Aber mit der Veränderung der Aufgabe kommen wir
jetzt an einen Punkt, an dem wir unsere bisherigen Organisationsstrukturen überdenken müssen. Wollen wir zum
Beispiel unser zukünftiges Engagement in Afghanistan
auf einen bilateralen oder multilateralen Rahmen stützen? Soll es für die Aufgaben nach 2014 weiterhin eine
zentrale Organisationsstruktur geben? Oder wollen wir
weiterhin nach dem Regionalprinzip arbeiten oder uns
statt dessen funktional aufteilen? Es gibt in Camp David
und in Chicago viel zu diskutieren. Ich bin davon überzeugt - auch wenn es bereits erste bilaterale Verträge
zwischen Afghanistan einerseits und den USA bzw.
Großbritannien andererseits gibt -, dass die internatioDr. Reinhard Brandl
nale Gemeinschaft, die NATO und insbesondere auch
die EU in Zukunft einen geeigneten und bewährten Organisationsrahmen für die Zeit nach 2014 zur Koordination unseres Engagements bieten. Die Durchsetzung von
Partikularinteressen ausländischer Mächte auf afghanischem Boden - das zeigt uns die afghanische Geschichte hat weder dem Land noch den ausländischen Mächten
Frieden gebracht.
Neben der Frage der Organisation wird auch die Finanzierung unserer zukünftigen Unterstützung während
der Gipfel zumindest andiskutiert werden. Wer trägt welchen Anteil an den zu erwartenden 4,1 Milliarden USDollar pro Jahr? Ich finde es nur fair, dass in einer solchen Situation die Kosten nicht nur bei den bisherigen
Truppenstellern verbleiben, sondern dass sich möglichst
die gesamte internationale Gemeinschaft daran beteiligt;
({3})
denn von Stabilität und Sicherheit in Afghanistan profitiert letztlich die ganze Welt.
Wir sind dabei, ein neues Kapitel in und für Afghanistan aufzuschlagen. Wir haben in dem Land viel erreicht.
Jetzt geht es darum, den Afghanen die Chance zu geben,
auf dieser Basis Stabilität, Wohlstand und Sicherheit in
ihrem Land weiter auszubauen. Meine Befürchtung ist
aber, dass mit den Soldaten auch die Aufmerksamkeit
von Afghanistan abziehen wird. Das wäre fatal. Wir haben für das Land und die Menschen dort Verantwortung
übernommen. Wir müssen zu dieser Verantwortung auch
nach 2014 stehen. Es wird sicher auch eine unserer Aufgaben im Parlament sein, daran immer wieder zu erinnern.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank, Kollege Dr. Brandl. - Mir liegen keine
weiteren Redewünsche vor, sodass ich die Aussprache
schließe.
Wir kommen somit zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9594. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Das ist die Fraktion Die Linke. Gegenprobe! Das sind alle anderen Fraktionen dieses Hauses. Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Keine. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gemeinsam für gute Bildung und Wissenschaft - Grundgesetz für beide Zukunftsfelder
ändern
- Drucksache 17/9565 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Rednerliste liegt uns vor. Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für den Bundesrat Frau Ministerin
Sylvia Löhrmann. Bitte schön, Frau Löhrmann, Sie haben das Wort.
({1})
Sylvia Löhrmann, Ministerin ({2}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir stehen vor großen gesellschafts- und bildungspolitischen Herausforderungen: dem demografischen Wandel, den veränderten familiären und außerfamiliären Lebensformen, der Integration von Kindern
und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte, der
Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen - Stichwort: Inklusion -, dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel und einer zunehmenden
sozialen Spaltung.
Diesen sozialpolitischen Herausforderungen können
und wollen sich unsere Schulen nicht entziehen; sie können diese aber auch nicht alleine meistern. Diese sozialpolitischen Herausforderungen dürfen nicht einfach in
der Schule abgeladen werden, sondern sie müssen
gesamtgesellschaftlich gelöst und finanziert werden.
({3})
Gesamtgesellschaftlich heißt: von Kommunen, von Ländern und auch vom Bund.
Verehrte Frau Kollegin Schavan, mit Ihrem Vorschlag
zur Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes gehen Sie
zwar einen Schritt in die richtige Richtung, aber Sie
springen viel zu kurz.
({4})
Das hat auch die Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des
Bundestags am 19. März dieses Jahres eindrucksvoll
deutlich gemacht.
({5})
- Ich kann mich aber informieren.
({6})
Alle Expertinnen und Experten haben Bestrebungen
begrüßt, das 2006 eingeführte sogenannte Kooperationsverbot wieder zu lockern und mehr Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Es gibt, so Professor Dr. Prenzel bei
Ministerin Sylvia Löhrmann ({7})
dieser Anhörung, keine Hinweise auf positive Effekte
des Kooperationsverbots für die Entwicklung der Qualität von Bildungsangeboten und Bildungsergebnissen in
Deutschland.
({8})
Vielmehr könne mit Blick auf die großen Herausforderungen im Bildungsbereich gesagt werden, dass das
Kooperationsverbot Innovation und gemeinsame
Anstrengungen im Bildungsbereich behindert.
({9})
Wenn wir alle zunehmend erkennen, dass es ein Fehler war, die Abgrenzung von Bund und Ländern unnötig
zu verschärfen und Kooperationen unnötig zu erschweren, dann lassen Sie uns bitte diesen Fehler richtig und
vollständig korrigieren.
({10})
Wenn wir jetzt nur halbherzig vorgehen und uns auf
eine Teillösung beschränken, machen wir die Tür für
eine große Lösung, die auch die Schulen einbezieht, über
Jahre hinweg zu. Und, Frau Schavan, deshalb ist Ihr Vorschlag eben nur vermeintlich ein Schritt in die richtige
Richtung. Vielmehr müssen wir unsere gesamtstaatlichen Anstrengungen verstärken und systematisieren,
um ein leistungsstarkes und sozial gerechtes Bildungssystem zu schaffen.
({11})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus
der Fraktion der FDP?
Sylvia Löhrmann, Ministerin ({0}):
Aber gerne.
Bitte schön.
Frau Ministerin, ich habe mit Interesse gehört, was Sie
in Ihren Ausführungen dargestellt haben. Mich würde in
dem Zusammenhang interessieren, ob die Position, die
Sie als Ministerin von Nordrhein-Westfalen und Vertreterin der dortigen Grünen haben, deckungsgleich ist mit
der Position des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, Herrn Kretschmann, der - nach dem, was ich der
Presse entnommen habe - genau die gleiche Position vertritt wie der rheinland-pfälzische SPD-Ministerpräsident.
Beide Ministerpräsidenten sagen - ich zitiere -: Selbst
dieser kleine Schritt der Öffnung des Art. 91 b ist eine
Art der Bundesbeteiligung, die man nur ablehnen kann. Wie ist Ihre Einschätzung zu dem, was Ihr Kollege Herr
Kretschmann aus Baden-Württemberg dazu sagt?
({0})
Sylvia Löhrmann, Ministerin ({1}):
Wenn es Sie so sehr interessiert, wie gut der Kollege
Kretschmann und ich harmonieren, dann empfehle ich
Ihnen ein Doppelinterview, das heute unter anderem in
der Frankfurter Rundschau und in der Berliner Zeitung
zu lesen ist.
({2})
Außerdem mache ich darauf aufmerksam, dass ein
Kollege Ihrer Fraktion - hier vorne sitzt er -, der bei
einer Veranstaltung des Landes Nordrhein-Westfalen in
unserer Landesvertretung zu Gast war, bei der wir mit
Experten diskutiert und beraten haben, gesagt hat:
Eigentlich wünschte ich mir auch solch eine große
Lösung, aber vielleicht gehen wir erst einmal den ersten
Schritt.
({3})
Also ist es doch aller Mühen wert, systematisch und
grundsätzlich darüber zu diskutieren.
({4})
Wenn ich mir dann noch einen Hinweis erlauben darf:
Auch Herr Lindner zum Beispiel ist dieser Meinung. Er
hat sich auf dem Bundesparteitag nur nicht durchgesetzt,
meine Damen und Herren von der FDP. Das kann bei
dieser Gelegenheit doch auch einmal gesagt werden.
({5})
Im Übrigen bin ich bekannt dafür, dass ich Konsense
nicht weg-, sondern hermoderiere.
({6})
- Wenn ich so schöne Zwischenfragen kriege, nutze ich
solche Gelegenheiten natürlich. Darauf können Sie sich
verlassen.
({7})
- Ich antworte ja. In der Frage, wie wir unser Schulsystem konsensorientiert weiterentwickeln, musste ich
zuerst meine Partei überzeugen; da waren auch nicht alle
dieser Meinung. Dann haben wir das Ganze im Koalitionsvertrag vereinbart. Anschließend haben wir es mit
der CDU hinbekommen. Jetzt haben wir in NordrheinWestfalen einen großen Schulkonsens.
Ministerin Sylvia Löhrmann ({8})
Das bringt mich zu diesem Antrag. Wir sollten wirklich sagen, dass es einen Konvent braucht, um diese
große, ganz zentrale Zukunftsfrage für Deutschland aufzulösen und im Parlament zu entwickeln - mit dem Bundesrat, aber auch mit der Zivilgesellschaft. Dafür werben
wir, damit wir das vernünftig hinkriegen und aufstellen.
Dann ist Herr Kretschmann natürlich dabei.
({9})
Meine Damen und Herren, die Zukunft des Standorts
Deutschland hängt von der gelingenden Zukunft unserer
Kinder und Jugendlichen ab. Damit unsere Kinder und
Jugendlichen tatsächlich eine Zukunft haben - eine
Zukunft, die gelingt; eine Zukunft, in der sie selbstbestimmt ihr Leben gestalten können -, brauchen sie die
bestmögliche Bildung.
Das Fundament für eine gute Bildung wird in frühkindlicher Erziehung und Bildung, in den Kitas und in
den Schulen gelegt. Auf die Kitas kommen Sie im Laufe
des heutigen Tages ja noch zu sprechen.
({10})
Dies wird häufig vergessen, wenn ausschließlich Exzellenz-Universitäten als Maßstab für den Erfolg des Bildungssystems genommen werden. Mehr Spitzenergebnisse auf breiter Front können nur mit einer frühen
Förderung gelingen.
({11})
Unser aller Aufgabe ist es, die Gelingensbedingungen
zu stärken - auch an den Schulen. Dazu gehört nun einmal eine verlässliche finanzielle Unterstützung.
({12})
Den Ländern und Kommunen fällt dies zunehmend
schwerer. Die Rahmenbedingungen sind zwar von Land
zu Land, von Kommune zu Kommune unterschiedlich.
Aber eines stimmt überall: Bildungspolitik ist heute immer auch Sozial-, Integrations- und Wirtschaftspolitik und dem wird unsere bisherige Finanzverfassung nicht
mehr gerecht.
({13})
Auch wenn die Schule zu den Kernkompetenzen der
Länder gehört und der Bund keine schulpolitische Verantwortung trägt und auch keine Schulgesetze machen
soll, trägt er umso mehr eine sozialpolitische Verantwortung. Meine Damen und Herren, vor den Schuleingängen darf kein Stoppschild für soziale Verantwortung des
Bundes stehen.
({14})
Wir wissen doch alle, dass das Kooperationsverbot
für Maßnahmen wie das Bildungs- und Teilhabepaket
faktisch unterlaufen wird. Dieses Paket ist ineffizient,
führt zu mehr Bürokratie und hat sogar zur Folge, dass
private Nachhilfeorganisationen und nicht die Schulen
durch den Staat finanziell gestärkt werden. Ich halte das
für einen Skandal.
({15})
Das beklagen nicht nur die Kommunen; das hat sogar
in ihrer Gänze auch die Kultusministerkonferenz beklagt.
Von Herrn Spaenle bis nach Schleswig-Holstein hin
haben wir gesagt: Es kann nicht sinnvoll sein, dass wir
hier private Institutionen fördern, statt den Staat und die
Schulen zu stärken.
({16})
Meine Damen und Herren, wir müssen das Bildungsund Teilhabepaket so reformieren, dass die Mittel unmittelbar in den Schulen ankommen und die dortigen Förderstrukturen gestärkt werden.
Ich habe mich gefreut, dass sich die Bundeskanzlerin,
als sie an der Kultusministerkonferenz teilnahm, einer
Debatte über die Weiterentwicklung gestellt hat. Wir
haben es sehr begrüßt, dass sie dort gesagt hat: Ja, wir
wollen eine Evaluation machen. - Wir sind alle gespannt,
was die zugesagte Evaluation ergibt.
Meine Damen und Herren, wir stehen alle in der Verantwortung, die UN-Behindertenrechtskonvention auch
in den Schulen umzusetzen. Ich sage deutlich: Es war
vom Bund richtig und notwendig, diese Konvention zu
unterzeichnen. Der Beitritt allein aber reicht nicht aus.
Die Länder und die Kommunen müssen auch in der Lage
versetzt werden, hier aktiv handeln zu können.
Dabei hält sich der Bund zurück - wohl wissend, was
bei der Umsetzung auf die Länder, die Schulen und die
Kommunen zukommt. Hier dürfen sie aber nicht im
Stich gelassen werden.
({17})
Auch hier geht es nicht um schulgesetzliche Fragen, sondern es geht im Wesentlichen um sozialpolitische Fragen, etwa um die Unterstützung von multiprofessionellen Teams. Ich finde es in der Diskussion immer sehr
wichtig, dass wir die schulgesetzlichen Fragen, die Fragen der Schulstruktur und die sozialpolitischen Fragen
von Schule sehr systematisch auseinanderhalten.
Lassen Sie mich ein weiteres konkretes Beispiel nennen: den Ausbau der Ganztagsschule. Es besteht kein
Zweifel darüber, dass der weitere Ausbau von Ganztagsschulen auch aus sozialpolitischen Gründen dringend
geboten ist. Die Umsetzung in vielen Kommunen scheitert oft jedoch daran, dass kein Geld für die notwendigen
Umbauten, zum Beispiel für Mensen, vorhanden ist. Die
Unterstützung des Bundes bei der Finanzierung
erscheint unerlässlich, damit so erfolgreiche Programme
wie das IZBB zur Herstellung der notwendigen Infra21070
Ministerin Sylvia Löhrmann ({18})
struktur für Ganztagsschulen wieder möglich und die
Kommunen finanziell entlastet werden. Hierzu hat zum
Beispiel die Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der
SPD-Bundestagsfraktion unter Leitung von Herrn
Dr. Rossmann einen „Masterplan Ganztagsschule 2020“
vorgelegt. Ich finde, daran kann man anknüpfen.
({19})
Eine Bildungsrepublik baut sich nicht von alleine auf.
Wir müssen ein breites Fundament legen. Deshalb reicht
es nicht aus, dem Bund die Möglichkeit zu eröffnen,
künftig gemeinsam mit den Ländern Einrichtungen der
Wissenschaft und Forschung von überregionaler Bedeutung an Hochschulen zu fördern. Ich schlage Ihnen vor,
meine Damen und Herren, Frau Bundeskanzlerin, Frau
Bundesforschungs- und -bildungsministerin: Laden Sie
zu einem Reformkonvent ein, der Schulen und Hochschulen gleichermaßen in den Blick nimmt und breit
getragene Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes
erarbeitet! Holen Sie die Länder, die Kommunen, die
Wirtschaft und die Sozial- und die Integrationsverbände
dazu, damit es einen breiten zivilgesellschaftlichen Konsens dafür gibt! Es gilt, Misstrauen und Vorurteile abzubauen und den Boden für eine baldige Reform zu bereiten. Wir brauchen kein Stückwerk, vielmehr müssen wir
zu einer gemeinsamen partnerschaftlichen Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden für die gesamte
Bildung kommen. Die Zeit dafür ist jetzt reif.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Vielen Dank, Frau Ministerin. - Nächster Redner in
unserer Aussprache ist von der Fraktion der CDU/CSU
Kollege Michael Kretschmer. Bitte schön, Kollege
Michael Kretschmer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Um die eben vorgetragene Rede besser einordnen zu können: Diese Rede ist drei Tage vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gehalten worden, und
so muss man sie auch verstehen;
({0})
denn ansonsten hätte eine Landesministerin, die hier in
Berlin auftritt, gesagt, dass es zu keiner Zeit in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so viel
Unterstützung vom Bund für Bildung und für Teilhabe
gegeben hat wie heute.
({1})
Zu einer anderen Zeit wäre eine Landesministerin zu der
Erkenntnis gekommen, dass das, was wir gemeinsam,
überfraktionell und überparteilich, in den letzten Jahren
erreicht haben, beispielhaft ist. Jawohl, wir haben die
Bildungsrepublik. Das ist ein gemeinsamer Erfolg, den
man nicht kleinreden sollte.
({2})
Es ist ein trauriger Vorfall, wenn eine Ministerin aus
dem eigentlich stärksten Land, das diese Bundesrepublik
Deutschland hat, aus der Herzkammer der Wirtschaft,
Nordrhein-Westfalen, hier steht und sagt: Wir kriegen
das nicht hin mit der Inklusion; wir kriegen es nicht hin,
Mensen zu bauen,
({3})
und es ist alles ganz schlimm. Was ist in den 40 Jahren
unter SPD-Regierung falsch gelaufen, dass so etwas
möglich ist?
({4})
Wenn jemand aus dem Saarland hier gestanden hätte und
diese Rede gehalten hätte, dann hätte man noch sagen
können: Das ist eben so, das ist alles schwierig. - Aber
das kann man doch nicht von jemandem hören, der aus
Nordrhein-Westfalen kommt. Das ist ein Armutszeugnis.
({5})
Es ist auch ein Armutszeugnis, dass wir nach Monaten der Diskussion über eine Grundgesetzänderung, die
wirklich wichtig ist - diese Debatte ist notwendig; es ist
richtig, dass wir sie führen -, heute vonseiten der Opposition wieder nur einen Antrag, einen Appell an die Bundesregierung vorgelegt bekommen - kein eigenes
Gesetz,
({6})
keine eigene Vorstellung von dem, was man will,
({7})
sondern eine Aufforderung an die Bundesregierung:
Macht eine Grundgesetzänderung! Es gibt genügend
Vorschläge für eine Grundgesetzänderung, auch aus von
SPD und Grünen geführten Ländern.
({8})
Wenn Sie dieses Vorhaben wirklich ernst nehmen würden und wenn Sie den Anspruch gehabt hätten, heute
hier wirklich etwas vorzulegen, dann hätten Sie sich
auch die Mühe machen müssen, einen Konsens zu erzielen. Dann hätten Sie sagen müssen, was Sie wirklich
wollen. Doch dafür hätten Sie sich auch inhaltlich damit
auseinandersetzen müssen. Sie hätten die Sache durchdenken müssen.
({9})
Dann hätten Sie erkannt, was viele schon erkannt haben:
Es gibt weder in der Partei der Grünen noch in der SPD
einen Konsens darüber, ob und gegebenenfalls in welcher Form man die Bildung in eine Grundgesetzänderung einbeziehen sollte. Es gibt derzeit nur einen Konsens darüber, die Kooperationsmöglichkeiten im Bereich
der Wissenschaft zu verbessern. Deswegen ist es richtig,
dass Annette Schavan und die Bundesregierung einen
entsprechenden Vorschlag unterbreitet haben, der Ende
des Monats dem Kabinett vorgelegt wird und über den
wir dann auch miteinander diskutieren werden. Das ist
ein großer Schritt. Ich finde, wir sollten ihn gemeinsam
gehen.
({10})
Die Hochschulrektorenkonferenz hat Ihnen ins
Stammbuch geschrieben: Das ist ein „überzeugender
Vorschlag von Bundesministerin Schavan“.
({11})
Er „ebnet einen gangbaren und zielführenden Weg“.
({12})
Es besteht die große Sorge, dass dieses Vorhaben auf der
Zielgerade noch verhindert werden soll.
({13})
Deswegen fordert die Hochschulrektorenkonferenz Sie
auf, dieses Vorhaben nicht zu verhindern, sondern einen
inhaltlichen Konsens zu ermöglichen und zuzustimmen.
({14})
Hinter diesem Vorschlag steht eine strategische und
inhaltliche Überlegung. Es geht darum, die Hochschulen, das Herz des deutschen Wissenschaftssystems, weiter zu stärken.
({15})
Mit dem Hochschulpakt, dem Pakt für Forschung und
Innovation, haben wir in den letzten Jahren die Hochschulen und Forschungseinrichtungen gestärkt.
({16})
Nicht nur mit finanziellen Mitteln, auch mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz versuchen wir, Kooperationen
zwischen dem Bereich der außeruniversitären Forschung
und länderfinanzierten Hochschulen herbeizuführen.
({17})
Darüber hinaus brauchen wir diese Grundgesetzänderung. Natürlich kann sich die Opposition hinstellen und
sagen: Wir wollen das alles nicht. Man findet immer einen Grund, warum man etwas nicht will.
({18})
Aber ich sage Ihnen ganz klar: Wenn diese Sache scheitert, liegt das an Ihnen, und das bleibt an Ihnen kleben.
({19})
Das wäre aber schade. Jeder, der Wissenschaftspolitik
gerne macht, weiß, dass wir im Alltag damit beschäftigt
sind, in den Schranken der Gesetze Politik zu machen.
Wir überlegen, ob das eine oder das andere geht. Mit
dieser Verfassungsänderung haben wir jetzt die Möglichkeit, neu zu gestalten.
({20})
Wir können uns überlegen: Was wollen wir? Wie soll
das gehen? Welche neuen Ideen kann man entwickeln?
({21})
Das ist doch eine wunderbare Aufgabe. Diese Aufgabe
sollten wir gemeinsam annehmen. Ich finde, dass diesbezüglich alle Fraktionen dieses Hauses gefordert sind und
auch etwas beizutragen haben, selbst die Linke.
({22})
Das setzt allerdings voraus, dass man nicht aufgrund des
Wahlkampfes im Schützengraben sitzen bleibt,
({23})
sondern ernsthaft an diesem Thema mitarbeitet.
Eine Verfassungsänderung ist ein gangbarer Weg. Sie
ist machbar und wäre ein Signal für die internationale
Community. Damit würde einmal mehr deutlich werden:
Deutschland nimmt die Herausforderungen der Zukunft
an. Es investiert in diesem Bereich und möchte auch in
Zukunft das Land der Innovationen sein.
({24})
Deswegen brauchen wir diese Grundgesetzänderung.
({25})
Diese Grundgesetzänderung braucht nicht nur eine
gestaltende, inhaltliche Kraft, sondern auch eine finanzielle Unterlegung. Deswegen hoffe ich, dass diejenigen,
die dieses Land nach der Grundgesetzänderung regieren,
({26})
die Kraft finden, auch in Zukunft in diesem Bereich zu
investieren. Das Schlimme ist, dass es in der Zeit, in der
die SPD für das Wissenschaftsressort verantwortlich
war, ein Hin und Her, ein Hü und Hott, einen Aufwuchs
und eine Abschmelzung gegeben hat. Zu keiner Zeit ist
kontinuierlich so viel in die Wissenschaft investiert worden wie unter der Regierung von Angela Merkel und der
Bundesforschungsministerin Annette Schavan.
({27})
Deswegen ist es richtig, dass wir diese Grundgesetzänderung vornehmen und auch in Zukunft Verantwortung
für dieses Land tragen.
({28})
Wenn ich noch einen Blick auf Nordrhein-Westfalen
werfen darf: Schauen Sie sich einmal an, wie dort derzeit
mit der Wissenschaft umgegangen wird. Um billig
Wahlkampf zu machen und eine Schlagzeile zu bekommen, werden die Hochschulen ihrer finanziellen
Ressourcen beraubt. Das ist das Gegenteil von seriöser
Wissenschaftspolitik.
({29})
Vielen Dank, Kollege Kretschmer. - Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Dagmar Ziegler. Bitte
schön, Frau Kollegin Dagmar Ziegler.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! 7,5 Millionen
funktionale Analphabeten, Menschen, die nur einzelne
Wörter und Sätze lesen und schreiben können, leben in
Deutschland. Sie leben in ständiger Sorge, erkannt zu
werden, und haben miserable Chancen auf Teilhabe und
ein selbstbestimmtes Leben. Dazu kommen 1,5 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss. Schließlich
brechen jedes Jahr 60 000 Jungen und Mädchen die
Schule ohne Abschluss ab. Diesen jungen Menschen muten wir ein Schulsystem zu, das sie nicht bis zum Ende
mitnimmt. Herr Kretschmer, diese Menschen leben in
ganz Deutschland und nicht nur in Nordrhein-Westfalen.
({0})
Diese Zahlen sind sehr erschreckend. Sie belegen,
dass in der sogenannten Bildungsrepublik Deutschland
ordentlich was faul ist. Eine zentrale Ursache für all
diese Defizite
({1})
ist das Kooperationsverbot. Es macht es dem Bund unmöglich, den Ländern ausgerechnet auf dem wichtigen
Feld der Bildung finanziell unter die Arme zu greifen.
Das hat zu einer geradezu aberwitzigen Situation geführt: Der Bund hat Geld und keine Kompetenzen, während die Länder die Kompetenzen, aber nicht ausreichend Geld haben. Ein leistungsfähiges Bildungssystem
kann so einfach nicht funktionieren.
Das Kooperationsverbot muss weg. Deshalb hat
meine Fraktion bereits im Mai letzten Jahres - da war
kein Wahlkampf - und Anfang dieses Jahres einen Vorschlag für eine Verfassungsänderung eingebracht. Bund
und Länder könnten, wenn dieser Vorschlag umgesetzt
wird, ihre Kräfte wieder bündeln, um gemeinsam für
bessere Bildung zu sorgen, und zwar in allen Bildungsbereichen: bei der Grundbildung, in Schulen und in
Hochschulen.
({2})
Ja, Bildung ist der Schlüssel für Teilhabe, für existenzsichernde Erwerbstätigkeit, für Integration und für
Armutsvermeidung - kurz: für ein erfülltes und eigenständiges Leben. Wie sehr der Schuh drückt, zeigt eine
Vielzahl von Initiativen aus Bundesrat und Bundestag.
Uns alle eint die Überzeugung, dass das Kooperationsverbot ein Fehler war, den wir jetzt gemeinsam beheben
müssen. Diese Einsicht und diese Bereitschaft zur Veränderung in allen Parteien und Fraktionen sind eine
große Chance.
In dieser Situation legt auch Bildungsministerin
Schavan einen Vorschlag für eine Grundgesetzänderung
vor. In der vergangenen Woche ist den Fraktionen ein
Referentenentwurf zugeschickt worden. Aber Ihr
Vorschlag, sehr geehrte Frau Ministerin, greift nicht nur
viel zu kurz, sondern stellt auch - das hat uns Herr
Kretschmer gerade sehr deutlich gezeigt - ein vergiftetes
Angebot dar.
({3})
- Tut mir leid, das sagen zu müssen. - Sie wollen mit Ihrem Vorschlag lediglich erreichen, dass der Bund dauerhaft Einrichtungen und Vorhaben der Wissenschaft und
Forschung an Hochschulen finanzieren kann. Einige
wenige ausgewählte Universitäten mögen davon profitieren. Aber schon wenn es darum geht, für die Hunderttausenden von zusätzlichen Studierwilligen mehr Studienplätze zu schaffen, würden wir weiterhin an
verfassungsrechtliche Grenzen stoßen.
({4})
Mit Ihrem Vorschlag bleibt es bei einem „Kooperationsverbot light“, das durch einige kosmetische Änderungen etwas hübscher daherkommt. Die Probleme im
Bildungsbereich werden durch Ihren Vorschlag jedoch
nicht gelöst. Eine Zusammenarbeit von Bund und Ländern, um unsere Schulen auszubauen, mit mehr Personal
zu versorgen und Inklusion zu verwirklichen, ist mit Ihrer Lösung nicht möglich. Eine gemeinsame Aktion von
Bund, Ländern und Kommunen, um die 7,5 Millionen
Analphabeten aus ihrer Ecke zu holen, sie zu schulen
und voll in die Gesellschaft zu integrieren, ist mit diesem
Vorschlag auch nicht möglich.
In Ihrem Entwurf heißt es, dass die Hochschulen für
Deutschland als wissensbasierter Gesellschaft eine
Schlüsselfunktion haben. Das ist richtig. Hochschulen
haben unbestreitbar eine wichtige Funktion. Eine
Schlüsselfunktion, um einem Kind Bildungschancen zu
vermitteln und es zu einem selbstbestimmten und erfüllten Leben zu befähigen, haben sie jedoch nicht; denn
wer es bis zur Hochschule geschafft hat, gehört bereits
zu den Gewinnern in unserem Bildungssystem.
({5})
Die Weichen werden viel früher gestellt: in Kitas und
Schulen. Kein Kind verloren geben, das ist zu Recht das
Ziel der nordrhein-westfälischen Landesregierung unter
Hannelore Kraft, und dafür wird sie am Sonntag wiedergewählt werden.
({6})
Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen und uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten:
({7})
Herkunft darf kein Schicksal sein; das ist das Leitbild unserer Politik. Ali aus Berlin-Neukölln soll die gleichen
Chancen haben, Akademiker zu werden, wie Maximiliane
aus München-Grünwald.
({8})
Deshalb lehnen wir unter anderem das Betreuungsgeld
ab.
({9})
Deshalb werden wir uns mit Ihnen auch nicht auf ein
„Kooperationsverbot light“ einigen können. Das Kooperationsverbot ist grundfalsch. Deutschland kommt nur
voran, wenn wir das Kooperationsverbot ganz abschaffen. Dabei geht es nicht darum, die Kulturhoheit der
Länder auszuhebeln. Die Lösung der Probleme vor Ort
ist richtig. Der Bund muss das aber finanziell unterstützen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer jetzt das
Grundgesetz öffnet, um kleine kosmetische Operationen
am Kooperationsverbot vorzunehmen, wird erleben,
dass sich die Tür für eine wirkungsvolle Beseitigung des
Kooperationsverbots für Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte schließt.
Aber ich will auch etwas Positives zu Ihrem Vorschlag sagen. Indem Sie überhaupt etwas vorlegen,
bekunden Sie Ihre grundsätzliche Bereitschaft, Veränderungen vorzunehmen. Damit sind jetzt alle Positionen
ausgetauscht. Wir wissen voneinander, wo wir stehen.
Wir müssen jetzt gemeinsam ausloten, ob wir einen Weg
für eine bessere Bildungsfinanzierung finden. Eltern,
Schülerinnen und Schüler und Studierende jedenfalls erwarten das von uns. Sie haben die Nase voll vom Zuständigkeitsgerangel; damit sollten wir aufhören. Sie
wollen stattdessen einen guten Kitaplatz, eine personell
gut ausgestattete Ganztagsschule und Zugang zu einem
Studienplatz ihrer Wahl. Das alles geht nur ohne Kooperationsverbot. Lassen Sie uns gemeinsam die Kraft finden, es aus dem Grundgesetz zu streichen. Geben Sie
sich einen Ruck!
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dagmar Ziegler. Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Heiner Kamp. Bitte schön,
Kollege Kamp.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst
ganz herzlich Frau Ministerin Löhrmann begrüßen. Begrüßen möchte ich Sie auf Ihrer Abschiedstournee.
Schön, dass Sie bei uns in Berlin vorbeischauen!
({0})
Sie haben noch wenige Auftritte wie hier im Bundestag,
und dann war es das mit dem Regieren.
({1})
Es ist sehr sympathisch, dass die Grünen ihrer eigenen
Ministerin den Abgang so versüßen. Aber das ist leider
alles nur Show. Um Inhalte dreht sich diese Veranstaltung leider nicht, Frau Löhrmann.
({2})
Hinsichtlich der Rahmensetzung hätten sich die Grünen für ihre scheidende Ministerin aber ruhig ein wenig
stärker ins Zeug legen können. Die inhaltliche Begleitmusik, die Sie für Frau Löhrmanns Abschied aufgelegt
haben, erweist sich als ähnlich unausgereift und wie immer wenig inspiriert wie die Amtszeit derselbigen. Wir
kennen die Backmischung. Die Zutaten sind die gleichen
wie immer: Gemäkel, Gejammer und Schuldzuweisungen, garniert mit einigen unkonkreten Forderungen.
Aber: Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei Ihrem
Antrag um bloße Staffage. Bloß keine konkreten Forderungen, bloß keine originellen Ideen!
({3})
Allein das Thema Kooperationsverbot soll die Ministerin in ein vorteilhaftes Licht rücken. Doch reicht das?
Sicher, Frau Löhrmann hat sich bei denjenigen eingereiht, die in den letzten Monaten die fehlenden Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Bund und Ländern kritisiert haben.
({4})
Aber war sie vorne mit dabei? Hat sie diese Bewegung
als Speerspitze angeführt? Wo war denn die Bundesratsinitiative aus Nordrhein-Westfalen? Wo blieben die
konstruktiven Forderungen? Schleswig-Holstein und
Hamburg haben den Stein doch ins Rollen gebracht. Nun
versuchen die Grünen, abzustauben.
({5})
Speerspitze? Niemals.
({6})
Sie waren eher die Nachhut.
Doch offenbar kommt diese Zurückhaltung nicht von
ungefähr. Man will den Eindruck vom Frieden im grünen Biotop nicht gefährden.
({7})
Doch das wird leider zunehmend schwieriger. Da rennt
der kauzige Ministerpräsident Kretschmann aus BadenWürttemberg in der Weltgeschichte umher und brüstet
sich ernsthaft damit, dass er die gewünschte Zusammenarbeit von Bund und Ländern - jetzt gut zuhören! blockieren will. Er will sie blockieren, Frau Löhrmann.
Er ist ein echter Fundamentalist, um es mit den Worten
der Abgeordneten Sager auszudrücken.
Sehr geehrte Frau Löhrmann, wie wollen Sie denn die
unsinnigen Schranken im Bildungsbereich einreißen,
wenn Sie noch nicht einmal Ihre eigenen Leute hinter
sich vereinen können?
({8})
Frau Löhrmann, wie wollen Sie eine Mehrheit für eine
weitergehende Verfassungsreform auf den Weg bringen,
wenn Ihr eigener Ministerpräsident den Minimalkonsens
durch seine Haltung sprengt?
({9})
Wie halten Sie es mit den Fundamentalisten im eigenen
Lager?
Verstehen Sie mich nicht falsch. Die FDP ist hier keineswegs gleichförmig. Hinsichtlich der Verfassungsreform gibt es durchaus unterschiedliche Haltungen. Das
hat mir, der ich mich schon seit Jahren für eine weitergehende Öffnung ausspreche, schon einigen Kummer bereitet. Ja, ich streite für die Ausweitung auf den Schulbereich. Ja, ich setze mich für mehr Pragmatismus bei der
Bildungsfinanzierung ein. Ja, ich weiß aber auch, dass
man Kompromisse schließen muss. Manchmal ist der
Spatz in der Hand eben besser als die Taube auf dem
Dach. Ich bin glücklich, dass eine Einigung in Sicht ist,
die eine verbesserte Zusammenarbeit im Hochschulbereich vorsieht. Hier sehe ich mich, offensichtlich ganz
im Unterschied zu den Grünen, eins mit den Sprechern
und Zuständigen meiner Partei auf Landesebene.
({10})
Womit hat der grüne Ministerpräsident nun ein Problem? Es geht darum, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen die Zusammenarbeit zu erleichtern und eine nachhaltige Unterstützung durch den
Bund zu ermöglichen. Das ist Herrn Kretschmann zu
viel. Dabei haben wir es im Wissenschaftsbereich mit
Herausforderungen zu tun, die aufgrund der internationalen Dimension einen gesamtstaatlichen Charakter haben. Hier sind nicht nur die Länder, sondern hier ist auch
der Bund als Akteur gefragt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Herr Kollege?
Bitte.
Bitte schön, Herr Kollege.
Wir haben hier festgehalten, dass das Kooperationsverbot Unsinn ist. Wir haben als Grüne auch immer dagegen gekämpft und diesen Quatsch von Anfang an
nicht mitgemacht. Ich frage Sie: Wer hat das denn beschlossen? Wer hat denn damals daran mitgewirkt, dieses Kooperationsverbot einzuführen?
Ich frage Sie auch: Wie ist jetzt eigentlich die Haltung
der FDP? In der Bundestagsfraktion sind Sie knapp für
die Aufhebung des Verbots, auf dem Parteitag waren Sie
knapp dagegen. Was ist jetzt eigentlich die Haltung der
FDP, die diesen Quatsch mit beschlossen hat?
({0})
Lieber Kollege Gehring, wenn Sie genau zugehört
hätten - ich habe es eben gesagt -, dann wüssten Sie:
Wir sind in dieser Frage durchaus gespalten. Das gebe
ich gerne zu.
({0})
Die Fraktion hat einen Beschluss dazu gefasst, die Partei
sieht das anders. Die Vertreter auf Länderseite heißen
diesen Referentenentwurf aber willkommen. Das ist ein
Kompromiss, der die ersten Türen geöffnet hat.
({1})
Zur ersten Frage, die Sie gestellt haben: Die Föderalismusreform 2006 haben wir nicht mitgetragen. Das
war ein Beschluss der Großen Koalition. Wir haben das
damals schon debattiert. Herr Steinmeier hat nun gesagt:
Asche auf mein Haupt. - Von daher sollten wir uns über
diesen Kompromiss freuen und daran arbeiten, dies auszubauen.
({2})
Blockadehaltungen helfen hier überhaupt nicht weiter.
Herr Beck sieht das im Übrigen wie Herr Kretschmann.
Räumen Sie also erst einmal in Ihren eigenen Parteien
auf, und sorgen Sie dafür, dass Sie Mehrheiten bekommen. Dann sehen wir weiter.
({3})
Rechtlich erzwungene „Umgehungsstraßen“, wie wir
sie etwa im Zusammenhang mit der Rettung der Universitätsmedizin in Lübeck nehmen mussten, müssen wir
schließen. Das große Potenzial im Wissenschaftsbereich
müssen wir maximieren. Die derzeit noch viel zu hohen
Transaktionskosten müssen wir minimieren. Dieses Ziel
verfolgen wir mit dem nun vorliegenden Referentenentwurf zur Änderung von Art. 91 b Grundgesetz.
Das Engagement des Bundes im Hochschulbereich ist
derzeit noch beschränkt. Von der verfassungsrechtlich
erlaubten Förderung gemeinschaftlicher Projekte wird
rege Gebrauch gemacht. Die Exzellenzinitiative, der
Hochschulpakt und der Qualitätspakt Lehre sind einerseits Beispiele dafür, wie Bund und Länder erfolgreich
zum guten Gedeihen von Forschung und Wissenschaft
zusammenwirken können. Die inhärente Befristung solcher Maßnahmen aufgrund ihres Projektcharakters stellt
uns jedoch auch vor Herausforderungen und Probleme.
Eine sich fortwährend entwickelnde Wissenschaftslandschaft braucht langfristige Perspektiven. Da sind fünfjährige Projektzyklen mitunter hinderlich.
Mit der von uns vorgeschlagenen Änderung des
Grundgesetzes werden wir mehr Möglichkeiten zur Kooperation haben als vor der missglückten Föderalismusreform 2006. Forschung und Lehre werden von dieser
Änderung profitieren. Der Bildungs- und Wissenschaftsstandort Deutschland wird mit unserer Initiative gestärkt. Wir stellen ihn auf ein langfristig angelegtes, festes Fundament. Spitzenforschung und Spitzenlehre nicht
befristet, sondern dauerhaft gemeinsam fördern, das erreichen wir mit der Änderung von Art. 91 b Grundgesetz.
Unsere Verfassungsinitiative ist pragmatisch, zielorientiert und ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Politik ist stets die Kunst des Möglichen. Für die in Rede
stehende Verfassungsreform zugunsten der Wissenschaft
sehen wir eine klare Mehrheit. Lassen wir Räson walten!
Sorgen wir dafür, dass Fundamentalisten in Deutschland
nichts zu sagen haben, und ziehen wir endlich gemeinsam an einem Strang!
({4})
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin ist für
die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. Rosemarie
Hein. Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Hein.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Verehrte Damen und
Herren! Herr Kamp, nach Ihrer Rede kann ich nur feststellen: Die FDP hat zu diesem wichtigen Thema offensichtlich nichts beizutragen.
({0})
Ich will meine Rede mit einem Zitat von einem Ihnen
sicherlich gut bekannten Vertreter der Öffentlichkeit beginnen, der nicht verdächtig ist, der Linken nach dem
Mund zu reden:
Das bisher bestehende Finanzierungsverbot für den
Bund … wird damit zur Bildungsbremse.
Das schreibt Dr. Gerd Landsberg in der jüngsten Ausgabe des Magazins des Städte- und Gemeindebundes.
Dass die fehlende Zusammenarbeit zwischen Bund
und Ländern der Bildung in der Bundesrepublik
Deutschland insgesamt schadet, pfeifen inzwischen die
Spatzen von den Dächern. Fast alle haben es begriffen,
nur die Bundesregierung und die FDP offensichtlich
nicht.
({1})
Die Bundesregierung legt unverdrossen einen Gesetzentwurf vor, der offensichtlich das Papier nicht wert ist, auf
dem er gedruckt ist. Er ist auch kein Spatz in der Hand.
Vielmehr wird mit diesem Gesetzentwurf die falsche
Prioritätensetzung in der Bundesbildungspolitik fortgesetzt und nicht korrigiert.
({2})
Wir setzen andere Schwerpunkte. Ich will versuchen,
das an einem Beispiel deutlich zu machen. Bei einem
Besuch im Verein Rückenwind e. V. in meinem Wahlkreis in Schönebeck habe ich auf dem Flur Werbetafeln
für ein Angebot zum Nachholen von Schulabschlüssen
entdeckt. Der Verein beteiligt sich am Programm
„Zweite Chance“. Auf den Werbetafeln werden Schulkarrieren beschrieben. Eine junge Frau - nennen wir sie
Silke - hat über dieses Programm ihren Realschulabschluss gemacht und erfolgreich eine Lehre aufgenommen. An der Regelschule war sie gescheitert, sonderpädagogischer Förderbedarf wurde ihr attestiert, und an der
Förderschule hat sie noch nicht einmal den Hauptschulabschluss erreichen können. Mit dem Programm
„Zweite Chance“ hat sie nun sogar den Realschulabschluss machen können und eine Lehre angefangen. Dieses ESF-Programm wird über das Bundesfamilienministerium bundesweit angeboten.
Alles in Ordnung, meinen dann vielleicht genügsame
Geister aus der Koalition, in unserer Gesellschaft habe
doch jeder und jede eine Chance. Aber ich frage Sie:
Warum muss denn erst - Silke ist kein Einzelfall - eine
Schulkarriere erfolglos sein? War dieser Umweg notwendig? Warum konnte Silke nicht im bestehenden
Schulsystem so gefördert werden, dass sie einen entsprechenden Abschluss machen konnte, zu dem sie ja offensichtlich in der Lage ist? Warum kann das Geld nicht direkt dorthin gegeben werden, um individuell stärker zu
fördern?
({3})
Warum läuft das über das Bundesfamilienministerium
oder das Bundessozialministerium? Hat denn das Bundesbildungsministerium diese Aufgabe nicht mehr? Hat
es sie abgegeben? Es scheint so zu sein. Vielleicht ist das
eine Erklärung dafür, dass Frau Schavan heute in der Debatte so spät spricht.
({4})
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Fragen. Warum fehlen mehr als 50 000 voll und gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher für die frühkindliche Erziehung?
Warum können gut ausgestattete Ganztagsschulen nicht
flächendeckend angeboten werden? Warum kann nicht
jede Schule mit Personal für die Schulsozialarbeit versorgt werden? Warum kommen wir bei der Inklusion so
schlecht voran? Da müssen die Bayern einmal nach Bayern schauen.
({5})
Warum haben wir prekäre Beschäftigung in der Weiterbildung? Warum ist die Ausbildung der Lehrerinnen und
Lehrer zu einem fast undurchdringbaren Dschungel geworden? Warum können Kommunen die Schulen, für die
sie zuständig sind, nicht mehr angemessen sanieren und
für die neuen Aufgaben moderner und angemessener
Bildung ordentlich ausstatten? Ich könnte diese Fragen
fast unbegrenzt fortsetzen.
({6})
Die Antwort ist so einfach wie fatal: Einige Bundesländer und die Bundesregierung blockieren die Möglichkeit
einer gemeinsamen Bildungsfinanzierung von Bund,
Ländern und Kommunen. Es müssen hilfsweise über andere Ministerien Reparaturprogramme erfunden werden,
({7})
um wenigstens den schlimmsten Unfug notdürftig und
dann auch noch mit mäßigem Erfolg zu heilen; denn
Silke ist bekanntlich kein Einzelfall, und wir erreichen
nicht alle über diesen Weg.
Inzwischen fordert eine Mehrheit der Bevölkerung
eine größere Zuständigkeit des Bundes in der Bildung.
Da sollten Sie auch einmal hinhören. Sie wollen auch,
dass auf Bundesebene deutlich mehr Geld in die Finanzierung der Bildung fließt. Sie wollen, dass die Rahmenbedingungen für den Bildungszugang überall vergleichbar und gleich gut sind. Das ist ein deutliches Zeichen
dafür, dass sie das bürokratische Chaos ebenso wenig
weiter dulden wollen wie die dauerhafte Unterfinanzierung in der Bildung. Das finden wir auch.
Bildungshürden müssen bundesweit abgebaut werden. Bildung muss insgesamt besser werden. Erreichte
Abschlüsse müssen bundesweit anerkannt werden, und
zwar ohne Wenn und Aber, egal in welchem Bundesland
sie erreicht worden sind. Das ist heute nicht der Fall.
({8})
- Wir haben Bildungsstandards; das wissen Sie. - Daraus ergeben sich die Sorgen vieler Familien, wenn sie
umziehen müssen und für die Kinder ein Schulwechsel
ansteht.
Eine echte Kooperation zwischen Bund, Ländern und
Kommunen in der Bildung nähme den Ländern nichts
von ihrer Gestaltungshoheit. Man müsste nur auf einige
beckmesserische Vorgaben verzichten und unterschiedliche Bildungswege und Abschlüsse ohne Wenn und Aber
anerkennen. Man müsste sich nur dazu bekennen, dass
Bildung eine echte Gemeinschaftsaufgabe ist, die eine
inhaltliche und finanzielle Zusammenarbeit von Bund,
Ländern und Kommunen in Bildungsangelegenheiten erfordert. Dann könnten die Mittel dieser Programme auch
anders eingesetzt werden. Das haben Sie zum Bildungsund Teilhabepaket selbst schon eingestanden.
Ich bin mir nicht sicher, ob ein solcher Konvent hilft.
Ich glaube, wir brauchen dauerhaft eine andere Begleitung dieser Zusammenarbeit, vielleicht über einen neu
anzustrebenden Bundesbildungsrat, der dann auch die
unterschiedlichen gesellschaftlichen Partner mit ins Boot
nimmt.
Ich danke Ihnen.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Hein. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unser Kollege Florian Hahn. Bitte schön,
Kollege Florian Hahn.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Das Für und Wider des Kooperationsverbots wurde bei zahlreichen Gelegenheiten in diesem
Haus beraten. Da eine Änderung des Verbots unsere Verfassung berührt, bedarf das Thema einer differenzierten
Betrachtung. Dabei muss man aus meiner Sicht die Bereiche Bildung und Wissenschaft getrennt bewerten.
Wir sind uns alle einig, dass wir die Ergänzung des
Art. 91 b Grundgesetz benötigen. Der Bund soll nicht
nur Projekte, sondern auch Forschungseinrichtungen unterstützen können. Bei dieser Förderung denken wir
auch nicht nur an einzelne Leuchtturmprojekte, wie es
einige Kritiker immer wieder behaupten, sondern an wesentlich breiter angelegte Maßnahmen.
Der Wissenschaftsrat hat seine grundlegende Stellungnahme zum künftigen Wissenschaftssystem in
Deutschland für die erste Jahreshälfte 2013 angekündigt.
Ich schlage vor, die Beschlüsse nun auch abzuwarten.
Wir sind schließlich nicht nur aufgrund dieser Verfassungsänderung handlungsfähig.
({0})
Im Gegenteil: Ich denke, dass viele Beispiele zeigen,
dass wir schon jetzt Anstrengungen unternehmen, um
den Forschungsorganisationen finanzielle Planungssicherheit zu geben. Ich sage nur: Exzellenzinitiative. Außerdem haben wir im Rahmen des Pakts für Forschung
und Innovation beschlossen, die Haushalte der beteiligten Organisationen in den Jahren 2011 bis 2015 um mindestens 5 Prozent zu steigern.
Der Bereich Bildung bedarf einer eigenen Betrachtung. Der Bildungsföderalismus in Deutschland ist historisch gewachsen und bildet das Fundament der Verfassung unseres Landes. Dies ist auch gut so. Erstens kann
so jedes Bundesland mit seinen Eigenheiten und speziellen regionalen Gegebenheiten individuell handeln, und
zweitens werden so die Vielfalt und der Wettbewerb gefördert. Deshalb haben wir auch vor sechs Jahren im
Rahmen der Föderalismusreform II eine umfassende Gesetzesänderung vorgenommen.
({1})
Die Kompetenzen für den Bildungsbereich liegen nun
eindeutig bei den Ländern. Übrigens geschah dies auf
den Wunsch der Länder hin, die die Bildung als ihre
Kernkompetenz begreifen. Diese Länderkompetenz hat
sich meines Erachtens in der Praxis bewährt. Deutschland braucht kreative Vielfalt im Bildungswesen. Deshalb sollte es Wettbewerb der Länder um die beste Politik geben.
Es ist natürlich richtig, dass auch Probleme im Schulwesen da sind. Es kann beispielsweise nicht sein, dass
ein Schüler, der von Bremen nach Bayern wechselt, den
Leistungsanforderungen oftmals kaum gewachsen ist.
Die uneinheitlichen Standards müssen angeglichen werden. Deshalb machen wir uns in Bayern schon seit Jahren für das sogenannte Südabitur stark.
({2})
Die KMK hat daraufhin beschlossen, dass das Abitur in
allen Bundesländern bis 2016/17 vergleichbarer werden
soll. Die sechs Vorreiterländer - neben Bayern Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein - werden, im Übrigen mitinitiiert von der Wirtschaft, schon in zwei Jahren an den
Start gehen. Das zeigt, dass die Länder auch selbstständig handeln können und jedenfalls Bayern keine Einmischung seitens des Bundes benötigt.
Auch die anderen Herausforderungen können weder
durch die Entscheidungshoheit des Bundes noch durch
seine Gelder gelöst werden. Wie soll das Berliner Bundesministerium in der Lage sein, die Qualität der Lehre
in Tausenden Schulen in der Republik zu sichern? Dies
muss Aufgabe der Länder bleiben. Die können das. Ich
kann mir gut vorstellen, dass ein Geldsegen des Bundes
den klammen Kassen einiger rot-grün geführter Länder
recht käme. So hätte man sich dann klammheimlich einen zweiten Länderfinanzausgleich geschaffen. Ob dies
zu einer besseren Arbeit an den Schulen führen würde,
wage ich zu bezweifeln. Die Diskussion über fehlende
Gelder hat meines Erachtens sowieso keine Substanz.
Verschiedene Beispiele belegen, dass es gar keine finanzielle Frage sein muss, ob ein Land Erfolge im Bildungswesen vorweisen kann oder nicht. So gibt beispielsweise
Sachsen-Anhalt 7 100 Euro pro Schüler aus und Sachsen
nur 6 400 Euro. Trotzdem weist Sachsen deutlich bessere PISA-Ergebnisse auf. Dies zeigt die Absurdität der
Forderung nach mehr Geld. In Wahrheit ist es so, dass
die Geberländer weniger Geld für Bildung ausgeben als
die Transferempfänger und trotzdem erfolgreicher in der
Bildung sind.
Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass
ich es reichlich bizarr finde, dass wir nun über einen solchen Antrag von den Grünen im Bundestag diskutieren,
obwohl jetzt schon klar ist, dass der Antrag noch nicht
einmal in den eigenen Reihen volle Unterstützung findet.
({3})
Schließlich lehnen Rote und Grüne in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die im Antrag erhobenen Forderungen ab. Den Antrag der Grünen, den die Grünen
selbst in den genannten Ländern ablehnen, gilt es daher
auch hier abzulehnen.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist für den Bundesrat
Herr Minister Christoph Matschie. Bitte schön,
Christoph Matschie.
({0})
Christoph Matschie, Minister ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Die Debatte hat bisher sehr deutlich klargemacht: Weder Union noch FDP haben eine Antwort auf
die Herausforderungen des Bildungssystems im 21. Jahrhundert.
({2})
Statt auf die Argumente des Antrags einzugehen, werfen
Sie hier Nebelbomben und bezichtigen die anderen Fraktionen des Wahlkampfs.
({3})
Das reicht nicht aus, wenn man die Probleme des Bildungssystems lösen will. Am Anfang dieser Debatte
muss das klare Eingeständnis stehen: Das weitgehende
Kooperationsverbot in der Zusammenarbeit zwischen
Bund und Ländern in der Bildung ist falsch und muss
korrigiert werden.
({4})
Allen, die etwas von Bildung verstehen, ist heute klar:
Die Bewältigung der wachsenden Zahl der Studierenden,
der Ausbau ganztägiger Angebote an den Schulen und
ein ausreichendes Angebot an Kindergärten, das alles
braucht die dauerhafte und konstruktive Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Kein Bürger versteht, dass
wir uns misstrauisch abgrenzen, statt gemeinsam die
Probleme anzupacken.
({5})
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Bildungspolitik ist keine
Kleingartenanlage, in der jeder seins macht. In der Bildungspolitik bedarf es konstruktiver Zusammenarbeit.
Dazu müssen wir endlich finden.
({6})
Der Antrag der Grünen zeigt genau in die richtige Richtung.
({7})
Der Antrag, der bisher von der Union und der FDP erarbeitet worden ist, wird dem Anliegen und den Herausforderungen überhaupt nicht gerecht. Ich will es deutlich
machen: Das Einzige, was dieser Antrag in Zukunft ermöglicht, ist, dass der Bund die Finanzierung einzelner
Einrichtungen an Hochschulen dauerhaft übernehmen
kann. Alle anderen Bildungsbereiche wie Schulen usw.
bleiben von der Kooperation ausgeschlossen. Aber
selbst die Probleme im Hochschulsystem sind mit dieser
Minimaländerung überhaupt nicht zu lösen. Das ist doch
keine Antwort auf die Herausforderung des Systems.
({8})
Herr Kollege Kamp, Sie haben hier so schön doziert:
Politik ist die Kunst des Möglichen. - Dazu sage ich Ihnen eines: Wenn bei der FDP nicht mehr möglich ist,
dann ist es mit der Kunst nicht weit her.
({9})
Wir brauchen nicht den Minimalkonsens einer zerstrittenen und erschöpften Bundesregierung,
({10})
sondern wir brauchen das ernsthafte Gespräch zwischen
Bund und Ländern, um Lösungen herbeizuführen.
({11})
In diesem Gespräch muss es im Wesentlichen um drei
Fragen gehen. Erstens. Auf welchen Feldern brauchen
wir in Zukunft die Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern? Zweitens. Wie sollen die Spielregeln dafür
aussehen? Drittens. Wie regeln wir die Finanzierung?
Wenn das klar ist, dann können wir entscheiden, wie
eine Grundgesetzänderung genau aussehen muss.
({12})
- Ich kann Ihre Aufregung verstehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, es würde auch mir so gehen, wenn
mir nichts Besseres einfiele als Ihnen. - Die Symbolpolitik von Schwarz-Gelb hilft weder den Studierenden, die
in überfüllten Hörsälen sitzen, noch den Schülern, die
Ganztagsförderung brauchen, oder den Eltern, die händeringend einen Kitaplatz suchen. Das reicht nicht aus.
({13})
Ich will Ihnen noch eines sagen: Selbst dort, wo der
Bund schon ohne Grundgesetzänderung helfen könnte,
klemmt die Säge. Ich will Ihnen das an zwei Beispielen
Minister Christoph Matschie ({14})
deutlich machen. Der Hochschulpakt 2020 ist durchaus
ein erfolgreiches Modell, das gemeinsam von Bund und
Ländern auf den Weg gebracht wurde. Wir haben es mit
diesem Pakt bisher schaffen können, die wachsenden
Studierendenzahlen aufzufangen, aber die geplanten
Finanzmittel sind 2014 ausgeschöpft. Es gibt bisher
keine klare Aussage der Bundesregierung, wie es weitergehen soll. Es wird in Gesprächen angedeutet, das werde
schon geregelt, wie es auch bisher geregelt worden sei.
Ich habe mir einmal angeschaut, was eigentlich im Eckwertebeschluss der Bundesregierung zum Bundeshaushalt 2013 und zum Finanzplan 2012 bis 2016 steht. Darin ist für das nächste Jahr eine Erhöhung des Haushaltes
für Bildung und Forschung vorgesehen
({15})
- auch in Thüringen, ja -, aber 2014 werden die Mittel
wieder reduziert. 2015 und 2016 soll der Haushalt auf
dem niedrigen Niveau bleiben.
({16})
Das ist auch klar. Dann ist die Bundestagswahl vorbei.
Man darf aber nicht nur in Wahlperioden denken, sondern wir brauchen eine stabile Finanzierung auf Dauer.
Darum muss es gehen, und dafür brauchen wir die
Grundgesetzänderung.
({17})
Frau Kollegin Schavan, Sie werden noch hier reden.
Sie haben heute die Möglichkeit, für die Bundesregierung klarzumachen, dass der Hochschulpakt 2020 bis
2020 ausfinanziert wird und alle benötigten Mittel dafür
bereitstehen.
({18})
Ich will Ihnen ein zweites Beispiel sagen: Hochschulbau. Dafür hat der Bund den Ländern bisher Kompensationsmittel gezahlt, und zwar knapp 700 Millionen Euro
im Jahr. Bis zum nächsten Jahr läuft diese Vereinbarung
noch. Danach will der Bund diese Mittel, die die Länder
für den Hochschulbau dringend brauchen, bis 2019 auf
null zurückfahren. So sieht keine tragfähige Hochschulpolitik aus. Gerade in der Situation, wenn die Studierendenzahlen weiter wachsen und die Hochschulen ausgebaut werden müssen, wollen Sie die Mittel des Bundes
für den Hochschulausbau zurückfahren. Das ist doch absurd.
({19})
Bessere Bildung hat immer auch mit finanziellen Ressourcen zu tun. Es reicht nicht aus, die Bildungsrepublik
auszurufen, man muss sie auch finanziell ausstatten.
Hier ist einiges im Bund und in den Ländern passiert.
Aber alle Beteiligten wissen doch auch: Das reicht für
die kommenden Jahre nicht aus.
Eines ist auch klar, die Länder stecken hier in einer
Schraubzwinge: Sie können erstens ihre eigenen Einnahmen nicht beeinflussen. Die Steuerhoheit liegt beim
Bund.
({20})
Zweitens müssen die Länder wachsende Bildungsausgaben bewältigen, wenn sie die Aufgaben, die vor ihnen
liegen, auch wirklich erfüllen wollen. Drittens müssen
die Länder in den nächsten Jahren die Schuldenbremse
des Grundgesetzes einhalten. Und viertens - das betrifft
die ostdeutschen Länder wie Thüringen - kommt noch
dazu, dass die Mittel aus dem Solidarpakt und die europäischen Fördermittel weniger werden.
Das ist die Quadratur des Kreises; das kann nicht aufgehen. Wir müssen das endlich ehrlich angehen und
tragfähige Lösungen, die langfristig wirken, finden.
({21})
Das kann nur eine Grundgesetzänderung sein, die eine
konstruktive Zusammenarbeit in allen Bildungsbereichen ermöglicht und eine ehrliche Antwort auf das
Finanzierungsproblem des Bildungssystems gibt. Frau
Schavan, ich fordere Sie auf: Laden Sie die Länder zu einem Dialog darüber ein. Verhandeln Sie mit uns darüber,
wie die Grundgesetzänderung aussehen soll. Befreien
Sie sich aus dem Klammergriff der FDP. Das wird mit
denen sowieso nichts mehr.
({22})
Suchen Sie mit den Ländern nach echten Lösungen. Dieses Land hat mehr verdient als den Minimalkonsens zwischen Schwarz und Gelb.
({23})
Vielen Dank, Herr Minister Matschie. - Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP Dr. Martin Neumann. - Bitte schön, Kollege
Dr. Martin Neumann.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Matschie, das war schon
abenteuerlich, was Sie hier gerade vorgetragen haben.
Sie haben alle möglichen Dinge über den Bund dargestellt, aber Sie haben kein einziges Wort darüber verloren, was Sie in Thüringen, was Sie in den Ländern tatsächlich machen.
({0})
Dr. Martin Neumann ({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Grünen beehren
uns nun zum dritten Mal in dieser Legislaturperiode mit
einem Antrag zur Verbesserung der Zusammenarbeit in
Bund und Ländern.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Im Anschluss gern.
Okay.
Leider erschließt sich mir die Sinnhaftigkeit dieser
Übung nicht. Die Wiederholung dieses nun schon zum
dritten Mal gestellten Antrags hat noch nicht einmal zu
einer qualitativen Steigerung geführt, sondern strapaziert
eigentlich nur die Geduld des Parlaments.
({0})
Wir beschäftigen uns nun zum dritten Mal innerhalb von
zwei Jahren mit Ihrem Antrag.
Zielsetzung war, das Grundgesetz zu ändern, um dem
Bund mehr Kompetenzen zuzubilligen. So weit, so gut.
Ich möchte hier niemanden mit dem Inhalt der zwei zurückliegenden Anträge quälen, aber ich möchte noch
einmal auf Ihr „Meisterstück“ zurückkommen, das Sie
mit Ihrem dritten Antrag hier denken abzuliefern. Es
geht um die Änderung des Art. 91 b Grundgesetz sowie
die Erschaffung eines neuen Art. 104 Grundgesetz, um
die Kooperation im Bildungs- und Wissenschaftsbereich
zu ermöglichen. Außerdem wünschen Sie sich - Frau
Löhrmann, Sie haben es gesagt - einen Reformkonvent
für Bildung und Wissenschaft. Das war es. Das haben
wir alle schon einmal gehört; das ist nichts Neues.
({1})
Spannend wird es an anderer Stelle. Was geschieht im
Bundesrat? Was machen dort Ihre eigenen Leute? Das
frage ich an der Stelle insbesondere im Hinblick auf die
Zeit nach dem kommenden Sonntag. Bekommen Sie Ihren Ministerpräsidenten Kretschmann tatsächlich in den
Griff? Ist Herr Beck noch lange genug mit dabei, um Ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen?
Kollege Gehring, Sie sprachen bei einer letzten
Runde davon, dass es eine Bundesratsinitiative geben
werde. So, wie ich das bisher vernehmen kann, war das
eine leere Ankündigung.
Ich frage Sie, Frau Löhrmann, und Sie, Herr
Matschie: Wie steht es tatsächlich um Ihre eigenen
Leute? Geht die Rechnung auf, wenn Sie immer ein
Stück mehr fordern, als nach dem offensichtlich möglichen Konsens zwischen Bund und Ländern in diesem
Bereich zu erwarten ist?
({2})
Ist eine solche Strategie tatsächlich klug? Nutzen Sie unserem Land, oder wollen Sie nur einfach billig Schlagzeilen machen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen zwei
Drittel der Stimmen im Bundestag und zwei Drittel der
Stimmen im Bundesrat, um das Grundgesetz zu ändern.
Wir hören aber aus den Ländern - das ist mehrfach gesagt worden -, dass man sich mit Händen und Füßen gegen eine Änderung des Grundgesetzes wehren will. An
dieser Stelle frage ich: Wollen Sie tatsächlich nicht einmal diesen Minimalkonsens unterstützen? Es geht an
dieser Stelle darum, die jetzt geöffnete Tür zu durchschreiten und eine erste Änderung, gerade im Wissenschaftsbereich, zu vollziehen.
Wenn ich mir die Haltung der Oppositionsfraktionen
anschaue, stelle ich fest: Nur die Linke scheint geschlossen zu stehen.
({3})
Dagegen erscheinen die Haltungen von SPD und Grünen
sehr unterschiedlich. Das ist aus meiner Sicht Blockadehaltung, auch gegenüber dem Minimalkonsens, den wir
hier erreichen wollen.
({4})
Wir wollen - das kann ich an dieser Stelle deutlich sagen - die einmalige Gelegenheit nutzen, für den Wissenschaftsbereich ein Ende des Kooperationsverbots zu
vereinbaren. Wir sehen tatsächlich die Möglichkeit für
einen Kompromiss; aber SPD und Grüne wollen anscheinend nichts ändern. Sie wollen diesen aussichtsreichen und meiner Ansicht nach einzig realistischen Weg
nicht mitgehen. Wenn Sie sich weiter so verhalten, liebe
Kolleginnen und Kollegen, ist das nicht nur verantwortungslos, sondern auch eine Versündigung an den kommenden Generationen.
({5})
Pokern Sie nicht so hoch! Die Kompromissbereitschaft
der B-Länder ist begrenzt, und man wird im Zweifel die
Tür wieder schließen. Bis zur nächsten Gelegenheit können wieder Jahre verstreichen. Das sollten wir nicht riskieren.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir müssen uns realistisch auf den kleinsten
gemeinsamen Nenner einigen; leider ist im Moment
nicht mehr drin.
({0})
Dr. Martin Neumann ({1})
Der kleinste gemeinsame Nenner ist aber wirklich schon
sehr viel. Das erkennt man gerade, wenn man sich die
Situation von vor wenigen Monaten vergegenwärtigt.
Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege.
Ändern wir Art. 91 b Grundgesetz, um künftig zumindest dem Wissenschaftsbereich eine Zusammenarbeit zu ermöglichen!
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat unser Kollege
Dr. Ernst Dieter Rossmann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich ergreife das
Wort deshalb, weil eben zu beobachten war, dass Kollege Neumann eine harte Attacke gegen den thüringischen Wissenschaftsminister geritten hat.
({0})
Eine solche Attacke könnte ich verstehen, wenn sie
von der FDP-Opposition im thüringischen Landtag
käme. Was ich aber nicht mehr verstehen kann, ist, dass
die gesamte CDU/CSU dazu applaudiert und dadurch
Frau Lieberknecht - das ist die Ministerpräsidentin von
Thüringen, die ein Kabinett führt; Herr Matschie ist dort
Wissenschaftsminister - angreift.
({1})
Es ist eine Schizophrenie, dass Sie gegen sich selbst applaudieren. Ich verweise auf die gemeinsamen Bemühungen der thüringischen Ministerpräsidentin von der
CDU und der thüringischen Wissenschaftspolitiker von
der SPD, dort Bildung und Wissenschaft voranzubringen. Diese Bemühungen betrachten Sie hier abfällig. Die
Schizophrenie Ihres eigenen Reflexverhaltens sollten Sie
einmal überprüfen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat Dr. Martin Neumann.
Lieber Kollege Rossmann, ich habe mich hier öffentlich zu dem geäußert, was der Kollege Matschie hier
dargestellt hat. Der Bund hat unendlich viele Dinge getan. Mit keinem Wort ist gewürdigt worden, was gerade
von Bundesseite finanziell geleistet worden ist.
({0})
Ich fand es in gewissem Sinne eine Unverschämtheit,
sich hier so darzustellen und das Ganze so zu präsentieren.
({1})
Wir fahren in unserer Rednerliste fort. Als nächste
Rednerin spricht für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. Petra Sitte. Bitte schön, Frau Dr. Sitte.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal führt auch ein Schritt nach vorn in eine Sackgasse.
Das gilt ganz bestimmt für den neuesten Vorschlag der
Bundesregierung zur gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern. Wir reden über Forschung.
Bislang war die Bundesförderung nur bei sogenannten
Vorhaben von überregionaler Bedeutung möglich. Das
will man jetzt ausweiten, und zwar auf Einrichtungen an
Hochschulen. Das heißt, der Bund könnte bis in die
Hochschulen hinein Forschung direkt fördern. Mancher
mag sich fragen: Hm, wieso? Das klingt ja gar nicht
schlecht. Was soll denn daran in eine Sackgasse führen? Ich will es Ihnen gerne erklären.
Wenn sich die Bundesregierung nun schon entschlossen hat, das Grundgesetz - wohlgemerkt: das Grundgesetz - anzufassen, das heißt zu verändern, dann sollte sie
mit ihrem Vorschlag dort ansetzen, wo die Hütte am
meisten brennt.
({0})
Ganz besonders dramatisch ist die Situation - das ist uns
dargestellt worden - nun einmal in den Bereichen Schulund Hochschulbildung. Frau Minister, Ihr Ministerium
trägt den Namen „Bildung und Forschung“. Also sollte
man auch in dieser Breite denken und anfassen.
({1})
Wenn sich die Koalition nun aber auf eine Grundgesetzänderung allein für die Hochschulen konzentriert,
bedeutet das schlicht und ergreifend: Wir verlieren unglaublich viel Zeit, wenn es darum geht, endlich wieder
zu einem Kompromiss im Bereich Bildung zu kommen.
Das können wir uns nicht leisten.
({2})
Wenn Sie schon die Fehler der Föderalismusreform
endlich korrigieren wollen, dann müssen Sie das Dreieck
Bildung/Wissenschaft/Forschung ausbalancieren. Das
kommt mit Ihrem Vorschlag aber noch weiter in Schieflage.
({3})
Sie liefern sozusagen ein Auto mit einer neuen Elektronik aus, das aber untermotorisiert ist. Das ist kein fortschrittlicher Vorschlag.
Ich will noch etwas zu den Herausforderungen im Bereich der Hochschulbildung sagen. Wir haben ständig
steigende Zahlen von Studienanfängern und Studienanfängerinnen. 750 000 sollen es allein bis 2020 sein.
Das freut uns alle. Bislang hat der Hochschulpakt - bei
all seinen Schwächen - durchaus gute Impulse gesetzt;
jetzt aber kommt er mit seiner Konstruktion auch an
Grenzen. Der Bund gibt nämlich Gelder, hat aber keine
Kontrolle darüber, wie viel Mittel die Länder selber dazulegen. Das ist problematisch. Gerade hat Frau Minister
Schavan ihre sächsischen Parteikollegen rüffeln müssen,
weil diese an den Hochschulen sparen und die Bundesgelder vom Hochschulpakt anderweitig ausgeben. Das
ist schon krass. Das kann man nicht tolerieren.
({4})
Ich sehe unsere Aufgabe darin, zu erreichen, dass eine
leistungsfähige Wissenschaft in der gesamten Länderbreite durch eine verbesserte Grundfinanzierung ermöglicht wird. Wir müssen debattieren, wie unsere Wissenschaftslandschaft strukturiert, profiliert und finanziert
werden soll. Dazu gehören auch Qualitätskriterien, die
beispielsweise im Hochschulpakt bislang fehlen bzw.
ausgeblendet waren.
Wir brauchen ein neues, besseres Betreuungsverhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden. Also muss
mehr Personal eingestellt werden. Das muss verlässlich
an den Einrichtungen tätig sein. Moderne Lehre in der
Methode und in wissenschaftlichen Inhalten, das ist die
Zukunftsaufgabe der Hochschulen. Der Pakt für exzellente Lehre, den wir im Bundestag beschlossen haben,
bietet diese Breite aber nicht, sondern er wählt aus. Wir
brauchen diese Breite aber. Das, was die Koalition in der
vergangenen Woche als Personalkonzept vorgeschlagen
hat, wäre auch nur durch eine Grundgesetzänderung
möglich. Also sagen Sie mit Ihren Vorschlägen selber:
Wir brauchen eigentlich mehr. - Sie aber führen dazu an:
Das ist ein Minimalkompromiss. - Für mehr haben Sie
die Stimmen der ganzen Opposition. Also, machen Sie
ruhig mal!
({5})
Nun will ich natürlich nicht ignorieren - das ist auch
der Hintergrund dieses Vorschlags -, dass mit dem Ende
der Exzellenzinitiative auch im Forschungsbereich der
Handlungsdruck wächst. Wohl wahr! Viele ExzellenzSieger an den Hochschulen fragen sich nämlich: Wie
führen wir denn eigentlich die Projekte weiter, die hier
finanziert worden sind? Diese Projekte sind nämlich befristet gewesen, und natürlich wollen die Hochschulen
diese Projekte verstetigen. Deshalb sagen Rektoren natürlich: Prima Vorschlag! Damit kommen wir weiter; das
ist für uns wenigstens erst einmal ein Schritt in die richtige Richtung. - Aber diese Rektoren haben morgen die
Schülerinnen und Schüler von heute an ihren Hochschulen. Deshalb dürfen wir nicht selektiv denken. Wir haben
eine breitere Verantwortung. Wir wollen auch keine Filetierung der Wissenschaftslandschaft.
({6})
Die Änderung des Grundgesetzes darf also nicht Ausgangspunkt der Fortsetzung der Fehler des Wettbewerbsföderalismus werden. Wenn schon im Grundgesetz
„Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ steht, dann
gilt das doch auch für Vorschläge, die darauf Einfluss
haben - grundsätzlich und grundgesetzlich. Bildung und
Forschung gehören mit ihrer Leistungsfähigkeit zu dieser Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Deshalb
wollen wir einen kooperativen Föderalismus.
Wir wollen also an dieser Stelle kein Auseinanderdividieren von Schulbildung, Hochschulbildung, Wissenschaft
und Forschung. - Übrigens: Man kann Wissenschaft und
Forschung ohnehin nicht trennen, weil Wissenschaft
ohne Forschung keine Wissenschaft ist. Aber nun bleiben wir einmal bei diesem Begriffspaar. - Wir wollen,
dass das in einem Guss geklärt wird, in einem Guss geändert wird, und dafür gibt es hier offensichtlich sehr
viel Unterstützung.
Deshalb kann man den Art. 91 b Grundgesetz, wie es
Herr Löwer als Staatsrechtler vorgeschlagen hat, so ändern, dass man den Ländern und dem Bund erlaubt, Forschung und Lehre zu fördern. Dann hat man Forschungsund Bildungsfragen gleichermaßen erfasst. Das ist dann
Politik aus einem Guss.
Danke.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Sitte. - Nächste Rednerin ist für die Bundesregierung Frau Bundesministerin
Dr. Annette Schavan. Bitte schön, Frau Bundesministerin.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der rote Faden in der bisherigen Debatte war: Nie war der Bund so wertvoll wie
heute.
({0})
Das verstehe ich. Darüber freue ich mich auch.
Frau Hein, ich rede deshalb so spät, weil ich finde,
dass es bei solchen Debatten auch wichtig ist, einmal zuzuhören. Man kann nicht immer herausgehen und Wahlkampf machen.
({1})
Den habe ich schon gemacht. Ich war in NRW und habe
dort alles abgeschlossen. Deshalb kann ich in Ruhe auf
den Antrag eingehen. Was steht im Antrag?
Erstens. Bei der Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern nach Art. 91 b Grundgesetz sollen künftig Kooperationen nicht mehr einstimmig im Kreis der Länder,
sondern mit einer Dreiviertelmehrheit möglich sein.
Hierzu sage ich: Das ist mir egal. Die Länder sollen prüfen, ob tatsächlich 16 Länder einer solchen Regelung jemals zustimmen würden. Mein Eindruck bis heute:
Diese findet im Kreis der Länder keine Zustimmung.
({2})
Zweitens. Es wird eine Erweiterung der Zusammenarbeit im Bildungsbereich über die jetzige Formulierung
„Sicherstellung der Leistungsfähigkeit“ vorgeschlagen.
Ich sage ausdrücklich: Auch ich bin der Meinung, dass
es in Zukunft notwendig werden wird, über die reine Sicherstellung hinaus Kooperationen zu ermöglichen.
({3})
Auf der Grundlage von Gesprächen, die ich mit Vertretern der Länder geführt habe, sage ich: Im Kreis der Länder gibt es auch über diesen Punkt keinen Konsens.
({4})
- Darauf komme ich gleich.
Drittens. Der Entwurf des Art. 104 c GG ist aus Sicht
der Länder der einfachste Weg. Ein Landespolitiker hat
mir vor einigen Wochen gesagt: Schiebt Geld rüber, und
haltet euch im Übrigen heraus. - Das ist nicht mein Verständnis von Kooperation.
({5})
Jetzt - das hat Herr Matschie angesprochen - diskutieren wir über die Frage der Fortsetzung der Zweckbindung beim Hochschulbau nach 2013.
({6})
- Genau, 670 Millionen. - Der Bund setzt sich dafür ein,
dass es bei einer Zweckbindung bleibt.
({7})
Die Kanzleichefs der Länder lehnen dies bislang ab.
Deshalb eine herzliche Bitte an die Länder: Sprechen Sie
mit Ihren Kanzleichefs. Das betrifft nicht die Fachminister. Von den Fachministern weiß ich, dass sie das wollen.
Der Bund muss aber mit anderen Stellen in den Ländern
verhandeln. Diese Stellen sagen: Die Zweckbindung
beim Hochschulbau, die ihr wollt - das ist für die Länder
zentral wichtig -, wollen wir nicht. Also: Wenn Sie Ihre
Meinung ändern, können wir in diesem Punkt sofort zu
Streich kommen.
Schließlich der Reformkonvent. Die CDU hat auf ihrem Bundesparteitag im vergangenen Jahr die Einrichtung eines Bildungsrates analog zum Wissenschaftsrat
beschlossen. Dies heißt: Dort sitzen nicht nur Experten,
die uns irgendetwas vorschlagen, sondern - das ist das Besondere und das Erfolgsrezept des Wissenschaftsrates Experten und Vertreter der Politik aus Bund und Ländern
sitzen beieinander. Deshalb haben die Stellungnahmen
des Wissenschaftsrates wesentlich zur Dynamik unseres
Wissenschaftssystems beigetragen. Deshalb sind diese
Stellungnahmen aufgegriffen worden bei gemeinsamen
Initiativen zwischen Bund und Ländern. Eine erste Reaktion aus den Ländern war: Das wollen wir nicht. Das
brauchen wir nicht. Wir können das alleine. Wir brauchen uns mit euch nicht abzustimmen. - Ich sage jetzt
einmal: Ob das Gremium Reformkonvent oder Bildungsrat genannt wird, das ist mir egal. Entscheidend ist
doch, dass wir jetzt das tun, was wir tun können. Wir alle
sind uns einig, dass wir im Zusammenhang mit der
Frage, was darüber hinaus wichtig sein kann, ein Prozedere zwischen Bund und Ländern vereinbaren, um in absehbarer Zeit weitere Weichen stellen zu können.
({8})
Das ist der Vorschlag der Bundesregierung.
Bei dem Beschluss des Koalitionsausschusses, der im
Mai im Kabinett verabschiedet werden soll, handelt es
sich weder um eine Minimallösung noch um einen
Spatz. Was durch diesen Beschluss möglich wird, hat es
in über 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland noch
nicht gegeben. Das meine ich nicht nur im Hinblick auf
die Situation vor der Föderalismusreform; das wissen
Sie. Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
im Wissenschaftsbereich war immer nur auf befristete
Projekte konzentriert und betraf nie die Möglichkeit
einer dauerhaften Zusammenarbeit innerhalb der Hochschulen.
Ich sage Ihnen: Die Exzellenzinitiative ist für die
Hochschulen natürlich ein wichtiges Argument. In meinen Augen muss es hier jedoch weit über die Exzellenzinitiative hinausgehen. Es geht um die Frage, wie das
Herzstück des Wissenschaftssystems - und das sind die
Hochschulen - dauerhaft wettbewerbsfähig bleiben
kann. Das betrifft nicht nur einige wenige Hochschulen,
sondern das betrifft die Hochschulen insgesamt. Es geht
außerdem um die Frage, wie es Bund und Ländern gelingen kann, gemeinsam die Internationalisierung des Wissenschaftssystems voranzubringen.
({9})
Herr Matschie, Sie haben mich aufgefordert, zu sagen, dass das bis 2020 möglich sein soll. Damit habe ich
überhaupt kein Problem; das habe ich im Kreis der
Minister schon einmal gesagt, und man kann es auch
hier zu Protokoll nehmen. Bund und Länder haben im
Jahr 2006 einen Hochschulpakt bis zum Jahr 2020 vereinbart, zu verhandeln in drei Tranchen. Das war ziemlich klug; denn wir sehen, dass sich die Zahlen völlig anders entwickelt haben, als wir ursprünglich dachten. Für
die erste Tranche hatten wir 90 000 Studienplätze ver21084
einbart; es sind 180 000 geworden. Der Bund hat die
180 000 Plätze finanziert. Für die zweite Tranche wurden 275 000 Plätze vereinbart. Dann haben wir mit Blick
auf die Aussetzung der Wehrpflicht diese Zahl auf, so
glaube ich, etwa 330 000 erhöht. Über die dritte Tranche
wird noch zu verhandeln sein. Wir haben jetzt die Zahlen
bis 2015 vorliegen.
Interessant ist aber Folgendes: Im Haushalt des Bundes ist die jeweilige Kofinanzierung auf Euro und Cent
festgelegt. Im Bildungsfinanzbericht, der die Ausgaben
aller Länder enthält, können Sie unschwer erkennen,
dass es Länder gibt, die im Jahr 2011 weniger für ihre
Hochschulen ausgeben als im Jahre 2010. Deshalb soll
mich kein Land ermahnen, Geld zu besorgen. Vielmehr
erwarte ich, dass die Kofinanzierung seitens der Länder
geleistet wird.
({10})
Mir geht es an dieser Stelle gar nicht darum, Länder
vorzuführen. Ich kenne die Struktur eines Landeshaushaltes. Ich kenne die Dramatik hinsichtlich der Haushalte in Ostdeutschland. Ich weiß, was es für die neuen
Länder bedeutet, in den nächsten Jahren weiterhin die
Priorität auf Bildung und Wissenschaft zu setzen und
gleichzeitig den notwendigen Prozess zu unterstützen.
Uns allen liegt dieses Thema am Herzen. Ich will jetzt
gar nicht die Länder abkanzeln. Aber ich sage: Auch der
Bund hat eine Schuldenbremse einzuhalten. Deshalb
wird es nicht funktionieren, dass die Länder immer wieder zum Bund kommen und mehr Geld fordern. Wenn
die Länder die Kofinanzierung nicht nur nicht leisten,
sondern sogar noch weniger Geld ausgeben - das trifft
auf mehrere Länder in ganz unterschiedlichen Teilen
Deutschlands zu -, dann führt das dazu, dass die Situation der Hochschulen immer schwieriger wird, weil wir
von ihnen verlangen, mehr Studierende aufzunehmen.
Gleichzeitig werden aber die Finanzleistungen des Bundes von den Ländern nicht für den Aufbau von Studienplätzen genutzt, sondern es werden damit nur Löcher gestopft, die die Länder aufgerissen haben.
Ich glaube, dass wir in einem sehr konstruktiven
Dialog sind. Die Gelder werden bis 2020 gezahlt. Wir
werden seitens des Bundes alles tun, um die Dynamik
aufzugreifen. Wir sagen also nicht, hier sei Schluss, sondern wir wollen gute Zukunftschancen für junge Leute.
Deshalb finden wir es auch gut, dass es eine solche
Dynamik gibt.
Sie werden aber auch verstehen, dass ich Entscheidungen eines künftigen Deutschen Bundestages nicht
vorgreifen kann. In der nächsten Legislaturperiode wird
dieses Parlament darüber entscheiden, ob die Priorität,
die wir seit 2005 durchhalten - plus 6 Milliarden Euro,
plus 12 Milliarden Euro -, durch eine weitere Steigerung
untermauert werden kann. Das halte ich für wichtig, und
ich werde mich dafür einsetzen. Man kann von einem
Mitglied der Bundesregierung aber nicht erwarten, über
die Haushaltsentscheidungen dieses Parlaments in den
Jahren 2018 und 2019 schon heute Aussagen zu machen.
({11})
Bitte denken Sie an Ihre Redezeit! Sie ist schon abgelaufen.
Ja, Herr Präsident.
Ich will mit der herzlichen Bitte schließen: Lassen Sie
die Wissenschaft jetzt nicht im Stich! Für die Wissenschaft und die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems handelt es sich um einen der wichtigsten Vorschläge überhaupt. So etwas hat es noch nie gegeben;
das ist mit Blick auf die Internationalisierung neu. Es
betrifft die Hochschulen in der Breite. Mit der Exzellenzinitiative hat es nur in Teilen zu tun. Wer behauptet,
die Bundesregierung wolle das nur, weil sie die Exzellenzuniversitäten stützen will, weiß genau, dass das nicht
die Wahrheit ist.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der SPD unser Kollege Dr. Ernst Dieter
Rossmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
wird Sie vielleicht überraschen; aber ich bin der Ministerin ausdrücklich dankbar dafür, dass sie an keiner Stelle
ihrer Rede Parteien angesprochen hat.
Kollege Kretschmer, wenn Sie in dieser Debatte von
den Koalitionsfraktionen auf der einen Seite und von der
Opposition auf der anderen Seite sprechen, verfehlen Sie
den Sinn der Diskussion, die vor einer Grundgesetzänderung erforderlich ist. Man muss jenseits von Parteigrenzen fragen: Was soll das Grundgesetz eigentlich ermöglichen? Wie kann das Grundgesetz so gestaltet werden,
dass es nicht zur Geisel einer bestimmten Parteipolitik
wird, sondern etwas ermöglicht, was durch die Erfordernisse zu begründen ist? Wie wir finden, hat Frau
Löhrmann das exzellent gemacht, indem sie die Erfordernisse und Herausforderungen angesprochen hat, vor
denen wir stehen, wenn wir das große Ziel des Bildungsund Wissenschaftslandes Deutschland erreichen wollen.
Man kann bei einer Grundgesetzänderung aber genauso fragen, ob die bisherigen Regelungen sinnvoll waren oder ob nicht Widersprüche darin enthalten sind.
Denn ist es nicht ein Widerspruch, dass wir zwar mittlerweile einen Konsens gefunden haben, wie wichtig der
Impuls des Bundes war, die deutsche Schullandschaft
über die Einrichtung der Ganztagsschule zu modernisieren, es jetzt aber per Grundgesetz verboten ist, diesen
wichtigen Impuls weiterzuführen. Müssen wir das nicht
vielmehr durch das Grundgesetz ermöglichen?
Ist es nicht auch ein Widerspruch, dass wir seitens des
Bundes viel Geld für Bildung und Forschung mobilisiert
haben und zusätzlich ein ganz großer Batzen im Rahmen
von Konjunkturprogrammen dazugegeben worden ist,
dass diese Unterstützung aber gleichzeitig durch eine
nachgeschobene Änderung des Grundgesetzes abhängig
vom Auftreten von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des
Staates entziehen, sein soll? Kann jemand erklären, weshalb der Bund Bildung mit fördern darf, wenn es in der
Deutschen Bucht einen Tsunami gibt oder die Deutsche
Bank zusammengebrochen ist, aber sonst nicht? Das
kann doch niemand erklären.
({0})
Können wir erklären, weshalb wir in Bezug auf Bildungserfordernisse Unterschiede machen? Menschen,
die zugewandert sind, können bei uns durch den Bund zu
100 Prozent finanzierte Sprachkurse besuchen, während
Menschen, die schon bei uns leben und keine ausreichende sprachliche Grundbildung haben, alleingelassen
werden. Das kann doch niemand erklären. Deshalb gibt
es auch ein Erfordernis, das Grundgesetz so weiterzuentwickeln, dass ganz pragmatisch und plausibel eine gemeinsame Bildungsverantwortung möglich ist.
({1})
Frau Ministerin, Sie haben hier die einzelnen Schritte
beschrieben. Sie haben gesagt, dass wir mit der Bildungsberichterstattung und der Bildungsforschung angefangen haben. Dann haben Sie den Bildungsrat als Komplementärorganisation zum Wissenschaftsrat in die
Debatte gebracht. Dazu muss ich zwei Anmerkungen
machen: Zum einen ist der Bildungsrat nämlich nur dann
relevant, wenn durch das Grundgesetz eine offene Kooperation in allen Bereichen der Bildung ermöglicht
wird. Ansonsten haben Sie den Bildungsrat schon kastriert, bevor er überhaupt das erste Mal getagt hat.
({2})
Zum anderen gehört nach der Bildungsberichterstattung,
der Bildungsforschung und der Schaffung des Bildungsrates auch die Finanzierung mit dazu. Sie darf jetzt nicht
ins Stocken geraten. Hier ergibt sich für den Bund eine
große Chance; denn er ist der Gesetzgeber und kann,
was steuerliche Gerechtigkeit und steuerliche Mobilisierung von Mitteln für Bildung angeht, aktiv werden.
Deshalb werben wir so offen dafür - das war der
Anstoß von Frau Löhrmann von den Grünen und von der
Landesregierung Nordrhein-Westfalen -, dass wir im
Rahmen eines Konvents in einen Dialog treten. Ein
Konvent ist übrigens etwas anderes als der Bildungsrat.
Im Konvent soll die Bedeutung einer Verfassungsänderung mit allen Beteiligten unter Berücksichtigung der
Bedarfslagen und der Möglichkeiten offen diskutieren
werden.
Wir haben Vorschläge von den verschiedenen Parteien und Fraktionen und auch einen Vorschlag der Regierung bekommen, den man aber in der Tat nur als eine
sehr kleine Lösung ansehen kann. Wir alle wissen, dass
wir das Grundgesetz nicht beliebig an Tagesaktualitäten
anpassen dürfen - deshalb ist es das Grundgesetz -; vielmehr soll eine langfristig angelegte Gestaltungmöglichkeit aufgezeigt werden.
({3})
Ich sage ausdrücklich: Wir denken noch in einem zu
engen Rahmen, um wirklich etwas für die Verbesserung
von Bildungsperspektiven und Bildungschancen tun zu
können. Das ist die Botschaft von Frau Löhrmann. Vielleicht ist es auch die Chance dieser Debatte, in der wir
bisher nicht entlang Parteigrenzen miteinander gestritten
haben, mit einem solchen Konvent etwas richtig Gutes
auf den Weg zu bringen.
Die Alternative wäre das, was die Regierungsfraktionen sagen, nämlich: Rien ne va plus - das ist es. Aber
wir sagen: Das ist es noch lange nicht. Wir sind gleichberechtigte Partner. Es gibt kein Oben und kein Unten,
wenn es um das Grundgesetz geht. Es geht darum, innerhalb der Fraktionen und unter den Ländern eine Zweidrittelmehrheit zu organisieren. Dazu braucht es eine offene Debatte, also kein Gouvernantenverhalten, sondern
Kooperationsbereitschaft.
({4})
Wer das Kooperationsverbot ändern will, muss in diesem
Prozess selbst kooperativ sein.
({5})
Frau Schavan, ich hätte mir von Ihnen gewünscht,
dass Sie nicht mit abgeklärter Selbstgewissheit sagen:
Sorry, das ist es. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sagen:
Ich nehme den Punkt auf, der von Frau Löhrmann aus
Nordrhein-Westfalen eingebracht worden ist. Ja, auch ich
möchte einen Konvent, weil ich im Innersten weiß, dass
mehr möglich ist. Daher nutzte ich alle Chancen, mithilfe
eines solchen Konvents zu mehr zu kommen.
Vielleicht gibt es bei anderer Gelegenheit einen Redebeitrag von Ihnen, in dem Sie diese Initiative aufgreifen.
Seien Sie nicht Gouvernante, sondern Wegbereiterin für
eine richtig gute Lösung in Bezug auf die Kooperationsmöglichkeit, die wir für die Bildungsrepublik Deutschland brauchen.
Danke.
({6})
Vielen Dank, Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann.
Nächte Rednerin für die Fraktion der FDP ist Frau Kollegin Sylvia Canel. Bitte schön, Frau Canel.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Auch ich finde es sehr schön, wie sachlich und korrekt Frau Bundesministerin Schavan dieses Thema vorangebracht hat. Ich wundere mich daher umso mehr
über die Emotionalität und die Anschuldigungen von
Herrn Rossmann.
({0})
Ich denke, wir sollten bei dem Stil von Frau Schavan
bleiben, weil es der Stil ist, den die Bürgerinnen und
Bürger von uns erwarten.
Im Grunde genommen streiten wir uns doch nur um
eines: um Kooperation. Dabei ist Kooperation nicht verboten, war nie verboten und wird auch nie verboten sein.
Zwischen den Ländern ist es schon heute möglich, zu
kooperieren, und zwar auch dann, wenn wir keine Gesetze erlassen. Wir streiten doch im Grunde genommen
nur um das Geld,
({1})
das der Bund den Ländern bereitstellen soll, um bildungspolitisch voranzukommen. Ja, ich finde es richtig,
dass wir das machen, und ich kann Ihnen als Lehrerin sagen: Es ist mir tatsächlich völlig egal, woher das Geld
kommt; Hauptsache es kommt bei mir in der Schule an.
({2})
Ich möchte noch ein Aber hinzufügen. Warum haben
wir hier immer dieses Schwarzer-Peter-Spiel zwischen
den Vertretern der Länder und des Bundes? Das haben
wir doch nur, weil Bildungspolitik immer ideologisch
ausgenutzt wird, um Parteiinteressen über andere Interessen zu stellen. Das sehe ich bei den Grünen immer
wieder in Reinkultur.
({3})
Beispiel Hamburg. In Hamburg mussten 300 000 Eltern durch einen Volksentscheid die ideologische Politik
von Schwarz-Grün bremsen. Das ist wirklich unglaublich, aber historisch belegt. Das ist auf grünem Mist
gewachsen.
Frau Löhrmann, die hier sehr viel gelobt wurde, ist
eine Vertreterin der Einheitsschule. Sie will den Einheitslehrer bzw. den Einheitslohn für Lehrer, und wahrscheinlich will sie irgendwann auch noch das Einheitskind. Das kann es nicht sein. Auf dieser Basis
kooperieren wir wahrscheinlich nicht.
({4})
Wir haben auch in Hamburg große Schwierigkeiten,
zu erkennen, dass die SPD einen Schwerpunkt bei der
Bildung setzt. In Hamburg ist für den Rückkauf eines
Teils der Energienetze über eine halbe Milliarde Euro
übrig. Es ist eine knappe halbe Milliarde Euro übrig, um
einen Anteil an einer Reederei zu kaufen. Ich hätte mir
gewünscht, dass wir dieses Geld, insgesamt 1 Milliarde
Euro, in die Bildung stecken. Das tun wir in den Ländern
nicht so konsequent, wie wir das tun sollten.
Liebe Ländervertreter, wir sollten aufwachen und
auch in den Ländern einen Schwerpunkt auf die Bildung
setzen. Das sollten wir wirklich durchhalten und nicht
den Schwarzen Peter immer dem Bund zuschieben. Der
Bund ist mit 12 Milliarden Euro in Vorlage gegangen.
Ich finde, wir sollten die Mittel in der nächsten Legislaturperiode erhöhen, so wie die Bundesministerin es gesagt hat.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Marcus
Weinberg. Bitte schön, Kollege Marcus Weinberg.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde,
die Versachlichung, für die Herr Dr. Rossmann zum
Schluss gesorgt hat, ist für diese Debatte gut und wichtig. Auch wenn wir kontrovers über die Frage diskutieren, welche Instrumente wir wie verändern und einsetzen, müssen wir das, glaube ich, in einem angemessenen
Rahmen machen. Das betone ich, weil ich sehr enttäuscht, sogar entsetzt war, wie Sie, Frau Ziegler und
Herr Matschie, sich hier präsentiert haben.
({0})
Man kann ja über alles diskutieren: über die Frage, an
welchen Stellen im Bildungsbereich weiterhin Defizite
bestehen, oder über die Frage, wie die Finanzströme zu
organisieren sind. Aber, Frau Ziegler, wenn Sie die Bildung in diesem Land zwei Minuten lang schlechtreden,
dann ist das eine Form von Ignoranz, die wir nicht dulden können.
({1})
Wir haben in den letzten Jahren deutliche Bildungserfolge erzielt. Herr Matschie, Sie müssen endlich einmal etwas deutlicher sagen, dass Sie das anerkennen,
was der Bund hinsichtlich der Finanzierung geleistet hat.
({2})
Allein das Zur-Verfügung-Stellen von 4,7 bis 4,9 Milliarden Euro im Rahmen der zweiten Phase des HochMarcus Weinberg ({3})
schulpakts durch den Bund ist eine Leistung, die man
würdigen sollte.
({4})
Worum geht es? In der Diskussion geht es um zwei
Fragen. Zum einen geht es um die Frage, wie es uns gelingt, die Exzellenzinitiative dauerhaft zu verstetigen,
also darum, Leuchtturmprojekte zu sichern. Das ist nicht
der Maßstab für uns, aber es ist ein Maßstab. Dieses
Land braucht Exzellenzen, es braucht Leuchttürme in
den Bereichen Wissenschaft und Forschung. Zum anderen geht es um die Frage, wie wir im allgemeinen Bildungsbereich - das betrifft den Schulbereich, den Vorschulbereich, aber insbesondere den Hochschulbereich Mittel des Bundes verstetigen können, die Implikationen
auf die Bildung zur Folge haben können.
Ich komme zum ersten Punkt. Ich glaube, die Bundesbildungsministerin hat mit ihrem konkreten Vorschlag
zur Änderung des Art. 91 b des Grundgesetzes einen
völlig richtigen Weg eingeschlagen. Diese Änderung ist
Grundlage dafür, dass eine verfassungsrechtlich effektive Förderung der Wissenschaft dauerhaft gesichert
wird. Nun können Sie sagen, dass Ihnen das zu wenig
ist, dass das nur ein erster Schritt ist. Eine Debatte darüber wird geführt werden. Es ist aber zunächst einmal
wichtig, dass dieser erste Schritt unternommen wird.
Man könnte jetzt sagen, dass wir parteipolitisch argumentieren. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die
Anhörung vom 19. März. Dort hat Professor Marquardt
vom Wissenschaftsrat Folgendes gesagt:
Andere bedeutsame Förderformate und -instrumente lassen sich jedoch nur adäquat ausgestalten,
wenn es Bund und Ländern künftig über eine
Grundgesetzänderung ermöglicht würde, bei der
Förderung von Vorhaben und Einrichtungen der
Wissenschaft und Forschung an Hochschulen zusammenzuwirken. Die Ergänzung des Art. 91 b
Grundgesetz,
- das ist das, was die Ministerin fordert welche hiermit als die wesentliche gestalterische
Maßnahme vorgeschlagen wird, um die beiden
Worte „und Einrichtungen“ ist überschaubar, strukturell überaus wirkungsvoll und auf die Wissenschaft fokussiert.
Darunter können wir einen Haken setzen. Das ist die
richtige Maßnahme. Dem können wir nur zustimmen.
({5})
- Frau Sager, wir haben in dieser Diskussion die Position der Grünen ja schon aufgearbeitet. Ich komme damit zu dem Antrag der Grünen.
Es liegt ein Antrag der Grünen vor, über den wir einmal reden sollten. Es geht darin auch um die „Dreiviertelmehrheit“. Es ist zu bezweifeln, dass das verfassungsrechtlich in Ordnung ist und dass die Länder damit
einverstanden sind.
({6})
Es wurde schon gesagt, dass Herr Kretschmann, den einige in dieser Frage als Fundamentalisten bezeichnen,
und Herr Beck die Dinge etwas anders sehen. Daher ist
die Euphorie über eine Grundgesetzänderung relativ begrenzt. Man reduziert das Ganze auf die einfache Botschaft: Gebt uns Geld, und lasst uns ansonsten in Ruhe!
Das machen wir vonseiten des Bundes nicht mit.
({7})
Wie können wir das, was der Bund in den letzten Jahren in den Paketen und Pakten geleistet hat, verstetigen?
Ich will noch einmal daran erinnern - die Ministerin hat
es angesprochen -, dass wir in der ersten Programmphase mittlerweile rund 185 000 zusätzliche Studienplätze geschaffen haben. Hier sind 2 Milliarden Euro investiert worden. In der zweiten Phase erwarten wir über
345 000 zusätzliche Studienanfänger. Das heißt, der
Bund wird 4,7 bis 4,9 Milliarden Euro in diesen Bereich
richtigerweise investieren. Es gibt in diesem Bereich
eine Reihe von Maßnahmen; ich kann sie nicht alle erwähnen. Ich denke zum Beispiel an den Qualitätspakt
Lehre, an das Programm „Frühe Chancen“ mit 400 Millionen Euro, die der Bund in Kitas für Integration und
Sprachförderung investiert. Die Maßnahmen insgesamt
sind, glaube ich, ein deutliches Signal, dass wir hier richtig liegen.
Jetzt - das ist die Aufgabe - müssen wir uns überlegen, wie wir dies dauerhaft so gestalten, dass jeder in
seinem Verantwortungsbereich die finanziellen Mittel so
einsetzen kann, um einen möglichst hohen Nutzen für
die Bildung der Kinder zu erzielen. Es geht auch darum,
in den Diskussionen mit den Finanzsenatoren oder
Finanzministern für den eigenen Haushalt möglichst viel
zu erreichen. Richtig ist - auch darüber diskutieren
wir -, dass Deutschlands Bildungslandschaft zersplittert
und uneinheitlich ist, dass Standards und Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Die Lösung dieser Probleme steht
auf der Agenda.
Jetzt noch einmal zu dem Ansatz der Grünen hinsichtlich eines neuen Art. 104 c im Grundgesetz. Einen ähnlichen Vorschlag hatte die SPD bereits vor einigen Monaten in einem Antrag vorgelegt. Ich wiederhole noch
einmal: Die Darstellung, dass Kooperation heute nicht
möglich ist, stimmt einfach nicht. Zitat Professor
Marquardt:
Alles in allem haben diese Pakte eine enorme
Schubwirkung entfaltet. Angesichts dieses erfolgreichen gemeinsamen Engagements von Bund und
Ländern bildet der 2005 im Rahmen der Beratungen zur Föderalismusreform geprägte Begriff
des „Kooperationsverbots“ die Regelungen des
Art. 91 b GG nicht präzise ab.
({8})
Marcus Weinberg ({9})
Wir können gerne darüber diskutieren, wie wir Öffnungsklauseln schaffen, aber wir sollten sehr vorsichtig
sein. Ich kann auch Professor Prenzel zitieren, der
- ebenfalls am 19. März - sagte:
Eine Aufhebung des Kooperationsverbots
- wenn wir es einmal so definieren im Bildungsbereich gibt keine Garantie für eine erfolgreiche Bildungspolitik.
({10})
Für eine erfolgreiche Kooperation unersetzlich ist
eine vorausschauende, auf Evidenzen und Expertise
begründete und verantwortungsbewusste Bildungspolitik auf beiden Seiten.
Deswegen wäre die Gründung eines Bildungsrats
- über diesen Vorschlag ist gemeinsam mit den Ländern
zu diskutieren - der richtige Weg. Dass nicht allein nur
finanzielle Mittel zum Erfolg führen, ist, glaube ich,
nachgewiesen. Schauen Sie sich die Zahlen an. SachsenAnhalt gibt pro Jahr im Durchschnitt 7 100 Euro pro
Schüler aus, Sachsen 6 400 Euro. Diese beiden Länder
sind strukturell durchaus vergleichbar. Sachsen liegt in
Vergleichen oben, Sachsen-Anhalt im Mittelfeld. Man
kann, wenn man über eine nationale Bildungsaufgabe
spricht, auch Finnland erwähnen. Finnland ist ein relativ
kleines Land, hat es aber geschafft, in der inhaltlichen
Diskussion voranzukommen.
Die Schuldenbremse - dies wurde schon gesagt - gilt
auch für den Bund und nicht nur für die Länder.
Bevor Sie Ihren neuen Gedanken beginnen, denken
Sie daran, was das Licht vor Ihnen bedeutet.
Gut, meine vielen kreativen Gedanken werden jetzt in
der Schublade bleiben. Ich bitte um Verzeihung.
Ich möchte zum Schluss sagen, dass diese Diskussion
aktuell geführt wird. Ich darf zum Schluss Nietzsche zitieren, der einmal gesagt hat: „Die Bildung wird täglich
geringer, weil die Hast größer wird.“ In der Tat, wenn
man sich die Oppositionsanträge ansieht, erkennt man,
dass in Teilen eine unbegründete Hast dahintersteckt.
Wir sollten auf den Erfolgen aufbauen, die wir in den
letzten Jahren erzielt haben. Dafür stehen wir.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Eberhard
Gienger. Bitte schön, Kollege Eberhard Gienger.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Kulturhoheit ist wesentlicher Bestandteil der Länder
und auch ein Kernstück der Eigenstaatlichkeit im föderalen System. Auch eine teilweise Übertragung der Schulhoheit auf den Bund wird daher auf politischen Widerstand stoßen. In Baden-Württemberg oder auch in
Rheinland-Pfalz - das haben wir schon gehört - sind die
Ministerpräsidenten nicht unbedingt der Meinung, dass
man hieran etwas ändern sollte. Sie haben angekündigt,
am Kooperationsverbot festhalten zu wollen. Ich finde,
das ist gut so. Frau Löhrmann hat es zwar ein bisschen
relativiert, aber Frau Sager hat ja gestern vom Fundamentalisten Kretschmann gesprochen. Wir werden sehen, wie sich das letztlich, wenn es zum Schwur kommt,
auswirken wird.
({0})
Damit wären wir auch schon beim Einstimmigkeitsprinzip, an dem kein Weg vorbeiführt. Das heißt konkret: Für den Abschluss von Vereinbarungen muss das
Einstimmigkeitsprinzip gelten. Eine Dreiviertelmehrheit, wie in Ihrem Antrag gefordert, ist damit ausgeschlossen. Aber wahrscheinlich sind Sie sich der Zustimmung einiger Länder, weil es dort Dissidenten gibt,
nicht ganz sicher, weshalb Sie eine Dreiviertelmehrheit
wollen.
Ich jedenfalls glaube nicht, dass es im Interesse der
Länder wäre, wenn das im Gesetz verankerte Bundesstaatsprinzip durch Verfassungsänderung ausgehöhlt
werden könnte. Was würde von der Eigenstaatlichkeit
übrig bleiben, wenn immer mehr Kompetenzen auf den
Bund übertragen würden, vor allem die Kernkompetenz
der Länder, nämlich die Schulhoheit? Es gäbe zwischen
den Ländern keinen Wettbewerb, und mit Sicherheit
wäre ein Qualitätsverlust die Folge. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass dies im Interesse der Regierungschefs
ist.
({1})
Ich vertrete den Standpunkt, dass es sinnvoll ist, das
Kooperationsverbot im Bereich von Wissenschaft und
Forschung fallen zu lassen; denn Wissenschaft und Forschung sind in der Regel nicht regional bedingt. Ich
meine damit nicht, dass wir zum Beispiel für die Finanzierung der Hochschulbauten allein verantwortlich sein
sollten. Auch hier gab und gibt es die Kooperation, die
besagt, dass bis 2013 rund sieben Zehntel der Bundesmittel im Bereich Hochschulbau ausgegeben werden.
Beim Begriff Hochschulbauten gibt es zugegebenermaßen
Abgrenzungsschwierigkeiten. Viele Hochschulbauten werden sowohl für Lehr- als auch für Forschungszwecke
genutzt. Wir haben vor, ab dem Jahr 2014 pro Jahr
298 Millionen Euro - mit den Komplementärmitteln der
Länder sind es sogar 596 Millionen Euro - in den Hochschulbau zu investieren.
({2})
Doch im Bereich der Schulbildung geht das Aufheben
des Kooperationsverbots zu weit. Allerdings finde ich,
dass der Begriff nicht passt; denn wir kooperieren ja
schon. Wir haben ein ganzes Bündel von Projekten und
Maßnahmen initiiert, die wir im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten unterstützen, da wir unsere Gemeinschaftsaufgabe ernst nehmen und sie gut erfüllen. Zu
nennen sind Qualifizierungsmaßnahmen, Bildungsketten, also frühe Potenzialanalyse, Begabtenförderung,
Aufstiegsfortbildung, BAföG, Weiterbildungsprämien,
Bildungspaket, Hochschulpakt und vieles mehr.
In Baden-Württemberg gibt es die geringste Jugendarbeitslosigkeit in Europa und den niedrigsten Anteil an
Schulabbrechern. Das sind keine selbstverständlichen
Erfolge, sondern sie beruhen auf einer klaren und kontinuierlichen Ausrichtung der Bildungspolitik. Gute Bildungspolitik braucht Eigenverantwortung, Dezentralität
und Subsidiarität. Mehr Geld ist kein sehr aussagekräftiges Argument für bessere Bildung. Dafür braucht das
Kooperationsverbot im schulischen Bereich mit Sicherheit nicht aufgehoben zu werden.
({3})
In meinem Bundesland, in Baden-Württemberg - das
haben wir schon von einigen gehört -, werden zum Beispiel pro Schüler 5 600 Euro pro Jahr ausgegeben, in
Berlin 1 000 Euro mehr. Aber im PISA-Ranking steht
Berlin weit hinter Baden-Württemberg.
({4})
Wenn Finanzhilfe gewährt wird, dann bitte zweckgebunden, so wie es in der Vergangenheit üblich war und noch
heute üblich ist.
Im Übrigen war auch in der Anhörung am 19. März
dieses Jahres zum Thema Kooperationsverbot im schulischen Bereich im Ergebnis kein Mehrwert zu erkennen;
Professor Prenzel von der TU München hat dies sehr
deutlich gemacht. Demzufolge ist eine Abschaffung des
Kooperationsverbotes nicht gerechtfertigt.
({5})
Auch das Argument im Hinblick auf Mobilitätshemmnisse zieht nicht. Denn eine Lösung finden die
Länder durch Absprachen und Vereinbarungen im Rahmen der Kulturministerkonferenz alleine. Dem Bund die
Verantwortung zu übertragen, ergibt deswegen keinen
Sinn.
({6})
Das ist der Grund, weshalb wir Ihren Antrag ablehnen
werden.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Ende
dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9565 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 a bis f sowie den
Zusatzpunkt 2 a bis c auf:
36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 21. Oktober 2010 zur Änderung
des Übereinkommens vom 9. Februar 1994
über die Erhebung von Gebühren für die Be-
nutzung bestimmter Straßen mit schweren
Nutzfahrzeugen
- Drucksache 17/9343 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Klimke, Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Joachim Günther
({0}), Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga
Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Entwicklung durch Wachstum - Der Beitrag
der deutschen Wirtschaft zum Erreichen der
Millenniumsziele
- Drucksache 17/9423 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Klimaziel der EU auf 30 Prozent anheben
- Drucksache 17/9561 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Europäisches Klimaschutzziel für 2020 auf
30 Prozent Treibhausgasminderung erhöhen Überschüssige Emissionsrechte stilllegen
- Drucksache 17/9562 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Eduard Oswald
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Ilja Seifert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Diskriminierungsschutz für chronisch erkrankte Menschen in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufnehmen
- Drucksache 17/9563 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({5}), Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Soziale und ökologische Offenlegungspflichten
für Unternehmen regeln
- Drucksache 17/9567 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({6})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kleegras-Verwendung in Biogasanlagen stärken
- Drucksache 17/9322 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Alphabetisierung und Grundbildung in
Deutschland fördern - Für eine nationale Alphabetisierungsdekade
- Drucksache 17/9564 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dorothea Steiner, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nanotechnologie - Chancen nutzen und Risiken minimieren
- Drucksache 17/9569 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist: Zusatzpunkt 2 a. Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9322 zur
Kleegrasverwendung in Biogasanlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung ist jedoch strittig.
Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Das sind die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, also
Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Das sind die Koalitionsfraktionen und
die Fraktion der Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Der Überweisungsvorschlag ist
angenommen.
Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen:
Tagesordnungspunkt 36 a bis f sowie Zusatzpunkt 2 b
und c. Interfraktionell wird vorgeschlagen, diese Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 a bis h sowie
Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Vizepräsident Eduard Oswald
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 37 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 425 zu Petitionen
- Drucksache 17/9415 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 425 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 426 zu Petitionen
- Drucksache 17/9416 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen.
Die Sammelübersicht 426 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 427 zu Petitionen
- Drucksache 17/9417 Wer stimmt dafür? - Alle Fraktionen des Hauses. Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand.
Die Sammelübersicht 427 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 428 zu Petitionen
- Drucksache 17/9418 Wer stimmt dafür? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und die Sozialdemokraten.
Wer stimmt dagegen? - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Sammelübersicht 428 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 429 zu Petitionen
- Drucksache 17/9419 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die
Sammelübersicht 429 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 430 zu Petitionen
- Drucksache 17/9420 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Die
Sammelübersicht 430 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 431 zu Petitionen
- Drucksache 17/9421 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die
Sammelübersicht 431 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 432 zu Petitionen
- Drucksache 17/9422 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand.
Die Sammelübersicht 432 ist angenommen.
Zusatzpunkt 3:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zu
schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen
KOM({19}) 866 endg.; Ratsdok. 18509/11
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes
- Drucksachen 17/8673 Nr. A.13, 17/9447 Berichterstattung:
Abgeordneter Harald Weinberg
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung
gemäß Art. 23 Abs. 2 des Grundgesetzes anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den
Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Kitaausbau statt Betreuungsgeld
Ich eröffne nun die Aussprache. Als Erste in unserer
Aussprache zur Aktuellen Stunde hat das Wort für die
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Dagmar
Ziegler. - Bitte schön, Frau Kollegin Dagmar Ziegler.
({20})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die CSU droht, ihrer Ministerin
Schröder die Zuständigkeit zu entziehen. Das ist einmal
ein guter Vorschlag von ungewohnter Seite.
({0})
Die Begründung hierfür teile ich aber nicht mehr:
Ministerin Schröder sei bisher einen Gesetzentwurf für
die Einführung eines Betreuungsgeldes schuldig geblieben. Frau Ministerin Schröder, an dieser Stelle haben Sie
unsere volle Unterstützung. Bleiben Sie sich treu: Tun
Sie nichts!
({1})
Denn das Betreuungsgeld will keiner, es nützt niemandem, es verschlingt Milliarden und gräbt dem richtigen
und notwendigen Kitaausbau das Wasser ab.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei geht es wirklich nicht um einen Kulturkampf.
({2})
Es geht auch nicht darum, wer ein besseres Familienbild
hat. Es geht aber sehr wohl darum, dass sich alle Eltern
frei für einen Lebensentwurf entscheiden und ihn dann
auch verwirklichen können. Genau deshalb wollen wir
das Betreuungsgeld verhindern und stattdessen mehr
Mittel in den Kitaausbau stecken; denn die Verwirklichung von elterlichen Lebensentwürfen scheitert eben
nicht an der Möglichkeit, zu Hause zu bleiben, sondern
an fehlenden Kitas und Ganztagsschulen. Genau aus diesem Grund scheitert oft auch die Gewährleistung gleicher Bildungschancen für Kinder.
Es gilt jetzt, durch richtige Weichenstellungen endlich
unseren Verfassungsauftrag zur Sicherung von Gleichheit und Förderung der Gleichstellung umzusetzen. Für
diese Position bekommen wir Unterstützung aus allen
gesellschaftlichen Bereichen. Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler, Verfassungsjuristen, Kinderschutzbund,
Migrantenverbände, Gewerkschaften, Arbeitgeber und
die evangelische Kirche sind sich in diesem Punkt alle
einig: Das Betreuungsgeld ist ein grundverkehrtes Vorhaben.
({3})
Dafür ist eigentlich nur die CSU. Sie glaubt offenbar,
vor dem Landtagswahlkampf im kommenden Jahr noch
einmal ihre konservative Klientel bedienen zu müssen.
Dafür sollen wir hier herhalten und zahlen; denn Bayern
hat bereits ein Landeserziehungsgeld. Hier stellt sich
schon die Frage: Werden Sie denn Ihr Landeserziehungsgeld aufrechterhalten, wenn der Bund ein Betreuungsgeld einführt? Oder wird es nicht vielmehr so sein,
dass Sie Ihre eigene Landesleistung streichen und die
100 Millionen Euro, die das verschlingt, im Landeshaushalt einsparen? Die Antwort liegt hier ganz deutlich auf
der Hand.
Die CSU macht sich für das Betreuungsgeld tatsächlich nur aus ganz egoistischen, eigennützigen Motiven
stark. Aufgepasst: Noch nicht einmal die Mehrheit der
Bayerinnen und Bayern hat sie dabei hinter sich. Eine
Studie der Universität München aus dieser Woche bringt
es an den Tag: Nur 25 Prozent der Männer und 10 Prozent der Frauen in Bayern sind mit ihrer derzeitigen Rollenverteilung einverstanden. Die Mehrheit wünscht sich
mehr Partnerschaftlichkeit und setzt dafür auf flexiblere
Arbeitszeiten und mehr Kinderbetreuungsmöglichkeiten.
({4})
Geldleistungen werden auch in Bayern als nachrangig
betrachtet.
({5})
Aber der Schuh drückt nun einmal beim Kitaausbau.
Die Kommunen rufen um Hilfe, weil sie nicht genügend
Plätze schaffen können. Jeder Euro und jeder Cent, den
Sie für den Unsinn Betreuungsgeld verschleudern wollen,
wären hier bestens investiert. Mit den dafür vorgesehenen
2 Milliarden Euro könnten rund 170 000 Kitaplätze geschaffen werden. Es ist zynisch, dass Ihre Regierung die
Kommunen beim Kitaausbau mit ihren Nöten im Regen
stehen lässt und gleichzeitig mit dem Betreuungsgeld ein
vergiftetes Geschenk macht, das den Verzicht auf einen
Kitaplatz schmackhaft machen soll.
({6})
Mehr ist das leider nicht, Herr Geis.
Das ist der falsche Weg. Das wissen auch viele in den
Reihen von CDU und FDP. Nicht umsonst werden Sie
die Debatte nicht los. Nicht umsonst versuchen Sie vergeblich einen Befreiungsschlag nach dem anderen.
Das Betreuungsgeld ist falsch und wird auch durch
keine weitere Kapriole richtig. Wenn Ministerin
Schröder dann doch ans Arbeiten kommen sollte
({7})
und einen Gesetzentwurf vorlegt, werden wir umgehend
eine Klage in Karlsruhe prüfen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zurzeit gibt es keine
Mehrheit im Bundestag für das Betreuungsgeld.
({9})
Deshalb fordere ich Sie auf: Belassen Sie es bei diesem
klugen und verantwortungsvollen Verhalten. Nutzen wir
doch auch hier einmal die Schwarmintelligenz des Deutschen Bundestages.
Vielen Dank.
({10})
Bundesministerin Kristina Schröder hat jetzt das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt nur einen einzigen Grund für diese Aktuelle
Stunde: Das ist die Wahl in Nordrhein-Westfalen am
kommenden Sonntag.
({0})
Das ist zwar legitim, aber auch durchsichtig und platt.
({1})
Die Ausgestaltung des Betreuungsgeldes entscheidet
sich nämlich nicht in Nordrhein-Westfalen, der Erfolg
des Kitaausbaus aber durchaus.
({2})
Beim Ausbau der Kindertagesstätten spielt auch die eigentliche Musik. In den Kitaausbau gehört unsere gemeinsame Energie, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Was haben Sie von der Opposition in den letzten Wochen gemacht? Sie haben, um Ihren Wahlkampf zu führen, die Eltern in Deutschland unter einen Generalverdacht gestellt,
({4})
was ich als Familienministerin und wir als Union und
Liberale nicht dulden können und nicht dulden werden.
({5})
Ihr Aufhänger ist das Betreuungsgeld, dem Sie selbst
- das gilt zumindest für die SPD - am 26. September
2008 im Deutschen Bundestag zugestimmt haben.
({6})
Die Argumente für und gegen diese Leistung sind zur
Genüge ausgetauscht.
({7})
Es wurde alles gesagt, und zwar von jedem. Leider haben Sie aber in dieser Debatte jegliches Maß verloren,
und Sie haben die Sensibilität für junge Familien verloren.
({8})
Es stimmt: Viele Eltern in Deutschland wollen einen
Krippenplatz, finden aber keinen. Es stimmt aber auch:
Mehr als die Hälfte der Eltern in unserem Land will für
ihre ein- und zweijährigen Kinder gar keinen Krippenplatz.
({9})
Diese Entscheidungen haben Sie, die Opposition, nicht
zu kritisieren, sondern zu respektieren.
({10})
Wir machen Familienpolitik für alle Eltern in
Deutschland.
({11})
Sie diffamieren die Eltern, und Sie beschimpfen Frauen,
die sich selbst um ihre Kleinkinder kümmern wollen, als
Heimchen am Herd und behaupten, dass sie nicht fähig
sind, ihre ein- und zweijährigen Kinder zu erziehen und
ihnen Bildung zu vermitteln.
({12})
Deshalb haben Sie ohne jegliche Sensibilität für junge
Familien den Kampfbegriff der Herdprämie erfunden.
Dass dieser Begriff diskriminierend ist, wissen Sie selber. Zumindest Cem Özdemir war ehrlich genug, das zuzugeben.
({13})
Er hat sich vor kurzem in einem Interview in der Welt
von diesem Kampfbegriff verabschiedet. „Den Begriff
‚Herdprämie‘ benutze ich nicht mehr“, hat er gesagt.
({14})
Das ist die Sensibilität eines jungen Vaters. Ich bin gespannt, ob sich das bei den frischgebackenen Vätern der
SPD auch noch durchsetzt.
({15})
Ich habe es eingangs gesagt: Oberste Priorität hat der
Kitaausbau.
({16})
Denn ohne ein bedarfsgerechtes Angebot an Kinderbetreuung haben Eltern keine Wahl, geschweige denn
Wahlfreiheit.
({17})
Deshalb werde ich auch dem Drängen der Zögerer
und Zauderer nicht nachgeben, die den Rechtsanspruch
gerne aufschieben wollen, wie der Münchener Oberbürgermeister Christian Ude.
({18})
Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ab dem ersten
Geburtstag wird ab 1. August 2013 gelten, genauso wie
wir das mit den Ländern und den Kommunen beim Krippengipfel 2007 vereinbart haben.
({19})
Die Kommunen haben mit unserer Hilfe und mit Unterstützung der Länder die Zahl der U-3-Plätze in den
letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt. Das war in Zeiten knapper Haushaltsmittel ein gewaltiger Kraftakt.
Niemand sollte unterschätzen, was der Bund, was die
Länder und was die Kommunen in der Praxis leisten.
({20})
Jetzt geht es in den Endspurt. Das ist und bleibt eine
Mammutaufgabe. Was den Bund betrifft, kann ich sagen: Der Bund hat seinen Anteil von 4 Milliarden Euro
für den quantitativen und qualitativen Ausbau zur Verfügung gestellt. Er beteiligt sich ab 2014 mit 770 Millionen Euro jährlich an den Kosten des laufenden Betriebs.
Aber darauf ruhen wir uns nicht aus. Natürlich unterstützen wir die Kommunen und Länder auch dort, wo es
hakt. Da gibt es noch Potenzial, zum Beispiel bei der
Kindertagespflege und den Betriebskitas. Das kommende Jahr muss das Jahr des Kitaausbaus werden.
({21})
Denn am 1. August 2013 interessiert es niemanden
mehr, wer von SPD und Grünen hier im Mai 2012 welche Showeinlage abgeliefert hat, sondern dann interessiert nur, dass ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot
in Deutschland zur Verfügung steht.
({22})
Die Eltern vertrauen darauf. Wir sollten gemeinsam alles
tun, um sie in diesem Vertrauen nicht zu enttäuschen.
({23})
Vor diesem Hintergrund kann es sich kein Land leisten, im Energiesparmodus unterwegs zu sein. Da muss
uns folgende Wahrheit aufhorchen lassen: Von den Bundesmitteln für den Kitaausbau ist ein ganzes Drittel noch
immer nicht verbaut.
({24})
Wir reden hier von über 700 Millionen Euro. Bei den
Nachzüglern handelt es sich nicht nur um die ostdeutschen Länder mit geringem Ausbaubedarf - um die mache ich mir noch die wenigsten Sorgen -, sondern vor allen Dingen auch um westdeutsche Länder mit hohem
Ausbaubedarf. Zu den Nachzüglern gehören zum Beispiel Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und
Bremen. Es geht hier nicht darum, diese Länder an den
Pranger zu stellen. Es geht nicht darum, die aktuellen
Landesregierungen dort haftbar zu machen; denn in der
Tat sind die Ausgangslagen, die Entwicklungen und die
Gründe für die Verzögerungen in diesen Ländern unterschiedlich.
({25})
Es geht jetzt aber darum, Verantwortung zu übernehmen.
({26})
Allein in den genannten drei Ländern stehen rund
160 Millionen Euro an Investitionsmitteln bereit, die
noch nicht einmal bewilligt worden sind. Das heißt, in
diesen Ländern existieren bis heute noch nicht einmal
Planungen, aus denen hervorgeht, wie die vorhandenen
Bundesmittel für den Kitaausbau eingesetzt werden sollen.
({27})
Von diesen Mitteln entfallen alleine 75 Millionen Euro
- das kann ich Ihnen jetzt nicht ersparen - auf Nordrhein-Westfalen.
({28})
Das ist der Stand 6. Mai 2012, also von vor vier Tagen.
({29})
Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, nur raten: LenBundesministerin Dr. Kristina Schröder
ken Sie Ihre Energie endlich dahin, wo sie gebraucht
wird!
({30})
Wer bis zum Sommer 2013 Kitaplätze in ausreichender
Zahl fertigstellen will, der muss spätestens jetzt alle verfügbaren Gelder einsetzen.
({31})
Im Kern geht es in unserer heutigen Debatte
({32})
um die Bedürfnisse der Familien, nicht um die Wünsche
der Wirtschaft und auch nicht um die Wünsche der Politik. Die Aufgabe von Familienpolitik ist es nicht, Menschen vorzuschreiben, wie sie leben sollen,
({33})
sondern die Aufgabe von Familienpolitik ist es, Menschen zu ermöglichen,
({34})
so zu leben, wie sie wollen.
({35})
Jetzt hat Diana Golze das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Werte Frau Ministerin, von Mutter zu Mutter:
Niemand in diesem Hause, auch nicht von denjenigen,
die das Betreuungsgeld ablehnen, will irgendjemandem
seinen Erziehungsstil vorschreiben oder die Eltern zu irgendetwas zwingen.
({0})
Niemand hier im Hause spricht zum Beispiel von einer
Kitapflicht, wie es mir unterstellt wurde. Niemand hier
im Hause will an die Wahlfreiheit der Eltern herangehen
und ihnen vorschreiben, ob sie ihre Kinder in die Kita
bringen oder von Oma, Tante oder Nanny betreuen lassen. Ich bitte auch Sie, dies endlich zur Kenntnis zu nehmen.
({1})
Ich glaube, das steht außer Frage. Es wird so oft über die
Wahlfreiheit gesprochen. Natürlich sollen alle Eltern
diese Wahlfreiheit haben. Genau darum geht es doch.
Aber für diese Wahlfreiheit braucht es Voraussetzungen, und diese sind schlicht und ergreifend nicht vorhanden. Wir haben noch nicht die Anzahl von Plätzen, die
nötig ist, damit der vorgesehene Rechtsanspruch wirklich erfüllt werden kann. Selbst wenn wir eine ausreichende Anzahl von Plätzen hätten, dann hätten wir noch
nicht die Qualität, die wir uns wünschen. Uns fehlen Erzieherinnen und Erzieher, wir brauchen kleinere Gruppen, und wir brauchen eine bessere Ausstattung. Wenn
ich mir überlege, was man mit diesen 2 Milliarden Euro,
die Sie für das Betreuungsgeld jährlich einsetzen wollen,
machen könnte!
({2})
Wir könnten über die Gebührenfreiheit der Kitas sprechen, wir könnten so viel mit diesem Geld anfangen, was
deutlich besser wäre als dieses Betreuungsgeld.
({3})
Unser Hauptziel hier im Bundestag muss es sein, den
Rechtsanspruch umzusetzen, den wir alle miteinander
vereinbart haben. Ich glaube aber, es gibt nur einen Teil
hier im Hause, der tatsächlich daran interessiert ist, diesen Rechtsanspruch umzusetzen.
({4})
Denn wo, bitte schön, sind die Initiativen, um dies tatsächlich zu ermöglichen? Wir wissen doch, wie viele
Plätze noch fehlen. Wir wissen doch, wie viele Erzieherinnen und Erzieher noch fehlen. Wo aber sind die Initiativen, um diese Lücke tatsächlich zu schließen?
Noch ein Satz zur Erziehungsleistung. Ihre Begründung für das Betreuungsgeld lautet: Die Erziehungsleistung der Eltern soll gewürdigt werden. Worin besteht der
Unterschied zwischen der Erziehungsleistung derjenigen
Eltern, die ihr Kind durch Oma, Tante oder Nanny betreuen lassen und die das Betreuungsgeld bekommen,
und der Erziehungsleistung derjenigen Eltern, die ihr
Kind in einer Kita von ausgebildeten Pädagoginnen und
Pädagogen betreuen lassen? Ich sehe ihn nicht!
({5})
Ich nehme auch für mich in Anspruch, als Mutter von
zwei Kindern, als Sozialpädagogin mit einer Ausbildung
in diesem Bereich - ({6})
- Welche Probleme Sie haben, brauche ich in diesem
Haus nicht weiter auszuführen.
({7})
Auch ich, Herr Geis, nehme für mich in Anspruch,
meine Kinder zu erziehen, genauso wie jede Mutter, die
sich dafür entscheidet, entweder zu Hause zu bleiben
und ihre Kinder selbst zu erziehen oder die Erziehung
den Schwiegereltern, Oma, Opa, Tante oder Nanny zu
überlassen. Ich mache keine Unterschiede, so wie Sie es
tun.
Ich will es noch einmal sagen: Es ist eine Ungerechtigkeit, den Eltern, die genauso gut ihre Kinder erziehen,
ein Erziehungsgeld obendrauf zu geben, während die anderen Eltern teure Kitagebühren für die Betreuung ihrer
Kinder zahlen müssen. Das ist ungerecht, und das darf
nicht Wirklichkeit werden.
({8})
Frau Haderthauer aus Bayern hat behauptet, das Betreuungsgeld sei deshalb ein Ausgleich, weil die Kitaplätze gebührenfrei wären. Mit dieser - ich will in diesem
Hohen Hause jetzt nicht von Lüge sprechen - Unwahrheit
möchte ich an dieser Stelle aufräumen. Zeigen Sie mir
bitte die Kommunen, die sich dies wirklich leisten können. Zeigen Sie mir die Bundesländer, die pauschal für
alle Kinder unter drei Jahren die Gebührenfreiheit eingeführt haben. Das möchte ich einmal sehen. Zeigen Sie mir
die Kommunen, die sich das erstens leisten können und
zweitens leisten wollen. Wir sind noch lange nicht so
weit. Wir könnten die 2 Milliarden Euro, die Sie für diesen Quatsch ausgeben wollen, viel besser für die Gebührenfreiheit der Kitas gebrauchen.
({9})
- Das ist wirklich nicht mehr auszuhalten, Herr Geis.
Jetzt will die CSU selber einen Gesetzentwurf schreiben, weil ihr das, was die Ministerin macht, nicht schnell
genug geht. Ich möchte Sie bitten: Nutzen Sie den Rest
der Legislaturperiode dazu, sinnvollere Dinge zu machen. Sie haben noch einiges im Koalitionsvertrag stehen. Ich erinnere an den Unterhaltsvorschuss; ich erinnere an die geplanten Verbesserungen beim Elterngeld
und beim Kinderzuschlag. Sie haben so viel zu tun!
({10})
Bitte kümmern Sie sich wirklich darum, und folgen Sie
dem, was die Ministerin eben gefordert hat, nämlich Familienpolitik für alle Familien zu machen und nicht nur
für die Bessersituierten.
Vielen Dank.
({11})
Miriam Gruß hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! So viel Sympathie ich grundsätzlich für die Haltung der SPD bezüglich des Betreuungsgeldes habe, so
wenig Sympathie habe ich für die Aktuelle Stunde in
dieser Sitzungswoche.
({0})
Wir hatten bereits in der letzten Sitzungswoche eine Aktuelle Stunde zum Thema Betreuungsgeld. Wir haben
fast jede Sitzungswoche die Diskussion über das Betreuungsgeld, und es ist langsam langweilig, sich hier in diesem Haus immer wieder über dieselbe Sache zu unterhalten,
({1})
zumal es dazu noch nicht einmal einen Gesetzentwurf
gibt.
({2})
Wir haben noch nicht einmal eine Grundlage, über die
wir reden können. Von daher ist dies alles doch heiße
Luft.
({3})
- Sie verhindern doch keinen Gesetzentwurf, indem Sie
eine Aktuelle Stunde beantragen.
({4})
Es ist doch wirklich naiv, so etwas zu glauben.
({5})
Ganz ehrlich, es langweilt uns, abermals über das
Gleiche zu diskutieren. Schlimmer finde ich es aber,
dass in diesen Diskussionen immer wieder die einen Eltern gegen die anderen Eltern ausgespielt werden.
({6})
Das finde ich nicht in Ordnung, das finde ich nicht gut.
Ich muss allerdings in Richtung der Koalitionspartner
sagen: Es ist auch nicht in Ordnung, zu sagen, dass diejenigen, die ihre Kinder, wenn sie ein oder zwei Jahre alt
sind, in die Kita bringen, Rabeneltern seien. Auch diejenigen, die zu Hause bleiben, sind keine Heimchen am
Herd.
({7})
Sie alle sind Eltern, die ihre Erziehungsaufgabe wahrnehmen, egal ob sie ihr Kind in die Kita oder nicht in die
Kita schicken. Das muss an dieser Stelle auch einmal
deutlich gesagt werden.
({8})
Für das grundsätzlich klassische Familienmodell haben wir bereits das Ehegattensplitting. Mit 56 Milliarden
Euro bezuschussen wir bereits das klassische Familienmodell. Von daher sind die 4 Milliarden Euro, die wir als
Bund für den Kitaausbau zur Verfügung stellen, in diesem Zusammenhang eigentlich eine Marginalie.
Umso schlimmer - jetzt kommen wir zur SPD - ist es,
dass diese Gelder noch nicht einmal abgerufen werden.
Von allen Bundesländern ist NRW das schlechteste
Land, das Land mit der geringsten Betreuungsquote.
({9})
Von daher macht es überhaupt keinen Sinn, dass in dieser Aktuellen Stunde von SPD-Seite im Zuge des Wahlkampfes in NRW versucht wird, etwas anderes darzustellen.
Herr Schulz, Sie haben vorhin einen entsprechenden
Zuruf gemacht: Der Titel dieser Aktuellen Stunde lautet:
„Kitaausbau statt Betreuungsgeld“.
({10})
Das Thema Kitaausbau gehört also sehr wohl zu dieser
Aktuellen Stunde. Die Ministerin ist auch deutlich auf
die Kitaausbauzahlen eingegangen.
({11})
Von den zehn schlechtesten Landkreisen liegen fünf in
NRW; auch das will ich Ihnen noch einmal sagen.
({12})
Ich komme aus Bayern. Wir waren lange nicht gut,
aber jetzt sind wir hervorragend. Nichtsdestotrotz gibt es
auch hier noch viel zu tun. Aber wir in Bayern tun etwas.
Bei diesem Thema sind sehr wohl die Länder gefordert.
Ich kann mich noch an Diskussionen hier im Bundestag
erinnern, als es fraglich war, ob von Bundesseite hierfür
überhaupt Gelder zur Verfügung gestellt werden können,
weil es originäre Aufgabe von Ländern und Kommunen
ist, für den Kitaausbau zu sorgen. Trotzdem haben wir das
gemacht. Wir stehen zu unserem Wort, und wir stehen
dazu, dass wir die dafür nötigen Gelder zur Verfügung gestellt haben, auch für die Erfüllung des Rechtsanspruchs
auf einen Platz ab 2013. Aber die Länder - gerade auch
die rot-grün-regierten Länder, Bremen, NRW, RheinlandPfalz; die Ministerin hat es gesagt - machen eben nicht
ihre Hausaufgaben. Das finde ich traurig.
Ganz grundsätzlich noch zu dieser Debatte - ich habe
das vorhin schon gesagt -: Wir sollten aufhören, die einen Eltern gegen die anderen Eltern auszuspielen.
({13})
Wir müssen uns auch von der Vorstellung verabschieden, dass Eltern, die ihre Kinder in die Kita geben, das
von 8 bis 18 Uhr tun müssen. Das können auch nur ein
paar Stunden sein. Dies ist eine Entlastung für die Eltern,
es ermöglicht eine bessere Vereinbarkeit von Familie
und Beruf. Manche können sich etwas anderes auch gar
nicht leisten.
Alle Modelle sind nötig, und alle Modelle sollen gelebt werden. Wir als Gesetzgeber sollten es wirklich tunlichst vermeiden, die einen gegen die anderen auszuspielen. Sie kennen meine Haltung zum Betreuungsgeld.
Ich sage Ihnen noch etwas: Auf Schuldenbergen können keine Kinder spielen und erst recht nicht lernen. Ich
bin diejenige, die in der FDP-Fraktion darauf achtet, wohin die Gelder fließen und wie sie ausgegeben werden.
Ich glaube, meine Skepsis gegenüber dem Betreuungsgeld ist in diesem Hause hinlänglich bekannt. Von
daher brauchen Sie hier nicht ständig dazwischenzurufen
und herumzuschreien und sollten mich nicht angreifen.
Wir als FDP-Fraktion machen verantwortliche Politik:
Investitionen, da wo es nötig ist, auch in den Ländern,
auch für den Kitaausbau. Beim Rest müssen wir darauf
schauen, wie die Gelder ausgegeben werden. Meine
Skepsis gegenüber dem Betreuungsgeld ist bekannt.
Vielen Dank.
({14})
Katja Dörner hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Das Betreuungsgeld ist eine durch und
durch unsinnige Maßnahme. Es ist letztlich nichts anderes als eine Kitafernhalteprämie und damit eine bildungspolitische Katastrophe für viele Kinder in unserem
Land.
({0})
Es ist eine gleichstellungspolitische Katastrophe, und
gerade die jungen Mütter wissen das auch ganz genau.
Der Spuk Betreuungsgeld muss so schnell wie irgend
möglich beendet werden.
Was macht Ministerin Schröder? Ministerin Schröder
lässt sich von der CSU auf der Nase herumtanzen. Ich
sage ganz klar: Diese Ministerin ist nicht meine Ministerin.
({1})
Die Bundesregierung hat sich jahrelang um die echten
Probleme junger Eltern nicht gekümmert. Den Eltern
brennt auf den Nägeln, ob sie einen Kitaplatz für ihr
Kind finden; das ist doch die Frage der Wahlfreiheit im
echten Leben. Die Kitas haben ellenlange Wartelisten.
Die Eltern laufen sich die Hacken ab, um überhaupt einen Platz zu finden.
({2})
Junge Eltern haben Angst, dass sie in ihren Beruf nicht
zurückkönnen, weil es an Kitaplätzen fehlt. Das - nicht
das Fehlen eines Betreuungsgeldes - sind die Probleme,
die Eltern im echten Leben haben. Die ganze Debatte
über Wahlfreiheit in diesem Zusammenhang ist einfach
nur absurd.
({3})
2013 tritt der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz in
Kraft - endlich tritt er in Kraft. Statt aber alles zu tun,
damit 2013 genügend gute Kitaplätze da sind, zankt sich
Schwarz-Gelb seit Monaten, ja seit Jahren über dieses
unsinnige Betreuungsgeld. Sie sind offensichtlich bereit,
1,2 Milliarden Euro jährlich dafür auszugeben. Das
nenne ich eine krasse Fehlinvestition.
({4})
Da hilft auch kein kleines Sofortprogramm, wie es die
Ministerin jetzt ankündigt. Dafür ist im Haushalt - da
muss man einmal hineinschauen - überhaupt kein Geld
vorgesehen.
({5})
Wir brauchen mehr Geld für den Kitaausbau, auch auf
Bundesebene. Wir brauchen dieses Geld schnell. Unsere
Mitbürgerinnen und Mitbürger wissen das auch ganz genau. Sie wissen ganz genau, dass sich Betreuungsgeld
und Kitaausbau nicht gleichzeitig vernünftig finanzieren
lassen. In einer Emnid-Umfrage haben sich 80 Prozent
unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger ganz klar dafür
ausgesprochen, die Mittel, die für das Betreuungsgeld
vorgesehen sind, in den Kitaausbau zu investieren. So
klug sollte auch die Bundesregierung sein.
({6})
Es reicht eben nicht, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen von der FDP, vom Betreuungsgeld eigentlich nichts
zu halten, diesbezüglich ein bisschen skeptisch zu sein
und sich hinter „Wir sind jetzt vertragstreu“ zu verstecken. In Nordrhein-Westfalen rennt Christian Lindner
herum und schimpft bei jeder Gelegenheit auf das
Betreuungsgeld; aber im Bundestag - hier, wo es darauf
ankommt - hat er in namentlicher Abstimmung dafürgestimmt. In Nordrhein-Westfalen macht er einen Pseudowahlkampf gegen neue Staatsschulden, und hier ist er
offensichtlich bereit, 1,2 Milliarden Euro für diesen
Unsinn auszugeben. Das nenne ich durchsichtig und
scheinheilig.
({7})
Wir sehen in den Bundesländern, wem es ernst ist mit
echter Wahlfreiheit und einem klaren Ja zum Kitaausbau.
({8})
In Nordrhein-Westfalen hat die damalige schwarz-gelbe
Landesregierung von 2005 bis 2010 keinen einzigen
zusätzlichen Cent aus dem Landeshaushalt in den Kitaausbau investiert. Die zusätzlichen Mittel, die von der
Bundesebene gekommen sind - unter anderem über die
Neuverteilung der Umsatzsteuerpunkte -, sind komplett
im Landeshaushalt versackt. Davon ist nichts in den Kitaausbau investiert worden. Das waren fünf komplett verlorene Jahre für den Kitaausbau in Nordrhein-Westfalen.
({9})
Erst Rot-Grün hat eine beispiellose Aufholjagd gestartet. Innerhalb von zwei Jahren wurden in NordrheinWestfalen 50 000 zusätzliche Kitaplätze geschaffen.
Rot-Grün hat den Kommunen 400 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt, damit sie direkt in den
Kitaausbau investieren konnten. Was hat die CDU gemacht? Die CDU hat in den Haushaltsberatungen im
Landtag NRW den entsprechenden Vorlagen nicht zugestimmt, sondern sie dezidiert abgelehnt. Die NRW-CDU
hat ihre kitafeindliche Politik fortgesetzt.
({10})
Und in Baden-Württemberg? In Baden-Württemberg
hat der Kitaausbau unter dem grünen Ministerpräsidenten einen riesigen Schub bekommen. Die Landesregierung stellt jetzt 330 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung. Die Kommunen werden dadurch entlastet, dass die
Betriebskosten der Kitas jetzt zu 68 Prozent übernommen werden. Das ist die richtige Prioritätensetzung.
({11})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, diese Zahlen machen eines ganz klar: Da vorn sitzen die Kolleginnen und
Kollegen, die ganz klar Ja sagen zum Kitaausbau und die
bereit sind, auch mehr dafür zu tun, und hier vorn sitzen
die, die faktisch doch Ja sagen zum Betreuungsgeld.
({12})
Das ist die falsche Prioritätensetzung, und das sollte jeder auch ganz klar wissen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Laut Tagesordnung diskutieren wir über den Ausbau der Kinderbetreuung und das Betreuungsgeld.
({0})
Bei Ihnen liest sich das wie ein sehr klares Entwederoder.
({1})
Das ist der entscheidende Unterschied. Sie zeichnen ein
Bild, das schwarz-weiß ist, das leider nicht so wunderschön bunt ist wie heute die Jacke von Frau Marks.
({2})
Wir haben in den letzten Jahren, im letzten Jahrzehnt
einen breiten gesellschaftlichen Diskurs darüber geführt,
was die Eckpunkte einer modernen Familienpolitik sind,
weil wir alle erkannt haben, dass die Rahmenbedingungen in unserem Land nicht so waren, dass junge
Frauen, junge Eltern Familie und Beruf so vereinbaren
konnten, dass beide berufstätig sein konnten,
({3})
wenn sie es wollten oder wenn sie es mussten. Das haben wir auf den Weg gebracht.
Dazu hat für uns alle gehört, dass wir natürlich erhebliche Anstrengungen unternehmen, um den Ausbau der
Betreuungsplätze voranzutreiben. Auch da ist die Welt
nicht schwarz-weiß. Es gibt Kommunen und Landkreise,
wo der Bedarf gedeckt ist, wo es für jedes Kind den
gewünschten Betreuungsplatz gibt. Nun mag uns das
vielleicht nicht gefallen, dass es in einem föderalen Staat
sehr große Unterschiede in den Regionen, in den Ländern gibt. Aber anhand der Negativbeispiele zu suggerieren, dass das ein in jeder Kommune anzutreffendes
Problem sei, wird der Sache auch nicht gerecht. Das ist
das Erste, was wir feststellen müssen: Es gibt regional
große Unterschiede, sogar zwischen den Kommunen innerhalb eines Landkreises, in der Frage, ob es genug Betreuungsplätze gibt. Sie negieren diese Tatsache, indem
Sie hier ein Schwarz-Weiß-Bild zeichnen, das der Wirklichkeit nicht gerecht wird.
Dann haben wir als Zweites festgestellt, dass wir den
Wunsch junger Paare ernst nehmen müssen, Familie,
Beruf, Betreuung so zu organisieren, dass es der Lebenswirklichkeit gerecht wird, nämlich so, dass hochqualifizierte junge Frauen arbeiten gehen können, dass im
Zweifel - das wird beim Elterngeld deutlich - auch
junge Männer zu Hause bleiben und sich für eine
bestimmte Zeit dieser spannenden und verantwortungsvollen Aufgabe als Vater sehr gern stellen.
Dazu gehört am Ende des Tages auch, dass wir die
Rahmenbedingungen so setzen, dass junge Väter oder
junge Mütter für die ersten drei Lebensjahre des Kindes,
vielleicht sogar für länger, wenn sie es sich materiell
leisten können, entscheiden können: Ich mache das
selbst; ich mache das zu Hause.
({4})
Diese beiden Dinge sollen nebeneinanderstehen.
Sie sagen, dass Sie nichts dagegen haben. Aber die
Stoßrichtung Ihrer Politik, nämlich einseitig darüber zu
reden, dass es nur darum gehen kann, Betreuungsplätze
auszubauen, und dass es nicht darum gehen kann, die
Eltern zu unterstützen, die sagen: „Ich will das aber selber machen“,
({5})
entlarvt die Aussage „Sie können es tun“ als ein Placebo,
als eine leere Worthülse.
({6})
Wenn das anders wäre, dann müssten Sie nämlich fragen: Was tue ich für die jungen Väter, die sagen: „Ich
bleibe zu Hause“? Was tue ich für die jungen Mütter, die
sagen: „Ich bleibe zu Hause“?
({7})
Was tue ich für die Familienverbünde, in denen auch
Onkel, Tanten, Großeltern leben? Das gibt es in
Deutschland noch.
({8})
Das ist für Sie in Ihrer Lebenswirklichkeit vielleicht
fremd, aber das gibt es zuhauf, vor allem im ländlichen
Raum.
({9})
Sie müssten also fragen: Was tun wir für diese Art von
Familienorganisation? Das ist die entscheidende Frage,
die wir uns in diesem Hause stellen müssen.
({10})
Deswegen geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern
wir müssen beides tun:
({11})
Betreuungsplätze bereitstellen und ausbauen und uns
fragen: Was machen wir für Familien, die selber betreuen wollen?
({12})
Hier sind die zentralen Unterschiede. Wir wollen flexible und kluge Betreuungsangebote: von der Krippe
über die Kita, den Hort, die Ganztagsschule bis hin zu
Tagesmüttern. Sie sagen: Wir wollen, dass jedes Kind
nach dem ersten Jahr in die Krippe geht. - Das ist de
facto ein Krippenzwang für alle.
({13})
Wir vertrauen den Eltern und stellen nicht pauschal
die Erziehungskompetenz von Eltern infrage, wie Sie
das tun. Sie tun das immer wieder unterschwellig.
({14})
Wir vertrauen den Eltern. Wir glauben, dass die meisten
Eltern in diesem Land einen ziemlich guten Job machen.
({15})
Dann wägen Sie ab - das ist das Schlimmste, was
man machen kann - zwischen einer professionellen Betreuung in einer Einrichtung und dem, was Eltern zu
Hause leisten.
({16})
- Frau Kollegin, Sie haben es gerade in Ihrer Rede getan.
Ich erinnere Sie an Ihre Frage, die Sie mir gestellt haben.
({17})
Sie haben mich gefragt, welchen Qualifizierungsnachweis ich für diejenigen erbringe, die Betreuungsgeld erhalten. Das sind die Eltern.
({18})
Eltern brauchen keinen TÜV in diesem Land, auch wenn
Sie ihn einführen wollen.
({19})
Es braucht keine Super-Nanny. Wir glauben: Eltern
können das. Eltern und Erzieher sind Partner im Erziehungsprozess. Darum muss es gehen. Sie sind keine
Gegner; das muss man an dieser Stelle sagen. Das ist der
zentrale Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({20})
Wir sagen: Das Kind braucht beides: qualifizierte Erzieherinnen und gute Einrichtungen. Das Kind braucht
auch die Herzenswärme der Eltern. Wenn eines von beiden nicht vorhanden ist, dann haben die Kinder keine
gute Zukunft.
({21})
Sie suggerieren, es allein über Einrichtungen zu erreichen.
({22})
So funktioniert das nicht. So werden die Kinder nicht
glücklich groß in diesem Land.
({23})
Herr Tauber!
Deswegen haben wir an dieser Stelle eine sehr unterschiedliche Auffassung. Das können Sie zur Kenntnis
nehmen. Darüber können Sie sich ärgern. Das ist herrlich und freut uns, damit hier ein Unterschied deutlich
wird.
Herr Tauber!
Frau Präsidentin, ich wollte zum Schluss kommen.
Sie wollten zum Schluss gekommen sein.
Hervorragend.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Caren Marks für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Tauber,
ich komme zuerst zu Ihnen: Sie wollen anscheinend
nicht begreifen. Ihre Rede war schlichtweg unverschämt,
Ideologie pur. Gut, dass Sie wieder sitzen.
({0})
Frau Ministerin, auch Sie haben alle Erwartungen erfüllt. Ihre Rede war leidenschafts- und bedeutungslos,
wie immer. Diese Rede gibt mir und den Tausenden
Recht, die den Aufruf „Nicht meine Ministerin!“ mit
großer Leidenschaft und aus voller Überzeugung unterschrieben haben.
({1})
Die schwarz-gelbe Regierungskoalition irrlichtert
- anders kann man es nicht bezeichnen - seit Monaten
über die Frage, wie sie denn das Betreuungsgeld ausgestalten soll. Ursprünglich wurde ein Gesetzentwurf für
Ostern angekündigt. Nun soll er im Sommer vorgelegt
werden. Frau Schröder hat dazu erst gar nichts gesagt.
Das Bundesjustizministerium hat kürzlich verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet. Interessant! Wen wundert es da, dass die CSU, die das unsinnige Betreuungsgeld auf Biegen und Brechen will, allmählich die Nerven
verliert und die Gäule mit ihr durchgehen; allen voran
Seehofer, Haderthauer und Dobrindt?
({2})
- Herr Geis, von Ihnen rede ich erst gar nicht.
({3})
Hier ist sich die Regierungskoalition nach wie vor
nicht einig. 23 Bundestagsabgeordnete der CDU haben
bereits schriftlich angekündigt, gegen das Betreuungsgeld zu stimmen. Mal sehen, wie ernst sie es mit ihrer
Ankündigung meinen.
({4})
Die FDP - auch das haben wir gesagt - ist mit ihrer ablehnenden Haltung im Recht. Sie bekommen die volle
Unterstützung. Die Zwischenrufe waren überwiegend
zustimmende Zwischenrufe. Die FDP ist bei diesem
Thema ein Wackelkandidat. Ich frage die schwarz-gelbe
Regierungskoalition: Wie wollen Sie eigentlich eine
Mehrheit für dieses unsinnige Projekt zustande bekommen?
Der seit Monaten öffentlich ausgetragene Streit über
den familienpolitischen Kurs der schwarz-gelben Koalition macht deutlich, dass wirklich der letzte Rest an Gemeinsamkeiten innerhalb der Union und zwischen der
Union und der FDP aufgebraucht ist.
({5})
Auch am Betreuungsgeld kann man den Zerfall dieser
Koalition ablesen.
({6})
Schwarz-Gelb hat sich mit dem Betreuungsgeld verrannt. Die Finanzierung ist nach wie vor ungeklärt. Mehrere Gutachten äußern verfassungsrechtliche Bedenken,
die noch nicht aus dem Weg geräumt sind.
Es ist Ihnen von Schwarz-Gelb nicht gelungen, die
Mehrheit der Bevölkerung für dieses absurde Projekt zu
gewinnen. Das Ergebnis des aktuellen Deutschlandtrends zeigt, dass gut zwei Drittel der Deutschen das
Betreuungsgeld ablehnen. Recht haben sie!
({7})
Wenn Herr Röttgen jüngst festgestellt hat: „Bedauerlicherweise entscheiden die Wähler“, sage ich Ihnen: Bedauerlicherweise können die Wählerinnen und Wähler
zurzeit über das Betreuungsgeld nicht entscheiden; denn
dann wäre das Projekt endgültig beerdigt, und das wäre
gut.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Studien belegen,
dass das Betreuungsgeld, das statt der Inanspruchnahme
eines Krippenplatzes gezahlt werden soll, bildungs-, integrations- und gleichstellungspolitisch definitiv in die
Sackgasse führt. Auch die Sachverständigenkommission
zum Gleichstellungsbericht hat von einem Betreuungsgeld dringend abgeraten. Frau Ministerin, Sie hatten leider noch nicht einmal den Mumm, diesen Bericht persönlich in Empfang zu nehmen.
Ein breites Bündnis von Fachverbänden, Kinder- und
Jugendorganisationen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände - Herr Hundt, meine Damen und Herren von
Schwarz-Gelb -, die evangelische Kirche - sie alle lehnen das Betreuungsgeld ab
({9})
und fordern stattdessen, mehr in den Ausbau der Kitas
zu investieren. Recht haben sie! Auch aus Brüssel kommen im Übrigen klare Signale: Die Europäische Kommission rügt das Betreuungsgeld als kontraproduktiv
und mahnt den weiteren Ausbau der frühkindlichen Bildung an.
Herr Geis, und viele andere, die nicht begreifen wollen: Holzschnittartig reden Sie, die Befürworter des Betreuungsgeldes, von der Wahlfreiheit als Begründung für
dieses Nonsensprojekt.
({10})
Ich sage Ihnen: Eine echte Wahlfreiheit für Familien gibt
es in Deutschland erst dann, wenn ein bedarfsdeckendes
Angebot an Krippen- und Kitaplätzen zur Verfügung
steht und die Eltern dann die freie Wahl haben.
({11})
Denn darauf warten nach wie vor unzählige Familien.
({12})
An die schwarz-gelbe Regierung und an die Koalition
gerichtet, sage ich: Verzichten Sie endlich auf eines der
absurdesten Projekte aller Zeiten. Investieren Sie stattdessen in den Ausbau von Kitas und Krippenplätzen. Allein mit den circa 2 Milliarden Euro, die dieses unsinnige Betreuungsgeld kosten würde, ließen sich zirka
170 000 Krippenplätze zusätzlich finanzieren.
Schließen Sie endlich die „Baustelle Betreuungsgeld“, die auch in Ihren eigenen Reihen täglich neuen
Ärger bereitet. Zahlreiche Familien warten auf eine moderne Familienpolitik, die diesen Namen auch verdient.
Frau Kollegin.
Die wird es mit Frau Schröder als Familienministerin
allerdings nicht geben.
Herzlichen Dank.
({0})
Die Kollegin Sibylle Laurischk hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Debatte nimmt mittlerweile wirklich groteske Züge an.
({0})
Frau Kollegin Marks, wenn sich hier jemand verrannt
hat,
({1})
dann Sie, das muss ich der SPD attestieren.
({2})
Sie sind wirklich nicht auf einem aktuellen Stand. Wir
diskutieren hier - das jetzt an die Zuhörerinnen und Zuhörer gewandt - über eine Frage, die im Bundestag nicht
mit einem Gesetzentwurf oder einer konkreten Initiative
verbunden ist. Das Ganze ist reiner NRW-Wahlkampf.
({3})
Solche Debatten machen nicht wirklich Spaß. Es
überzeugt niemanden, wenn Sie sich hier Fragen zuwenden, die ganz woanders gelöst werden müssen, nämlich
in den Bundesländern. Bei diesem Thema sind zweifelsohne die Bundesländer gefragt. Daher müssen uns unterschiedliche Entwicklungen in den Bundesländern schon
interessieren. Aber die Bundesregierung - und wir tragen die Bundesregierung in diesem Punkt sehr klar - ist
auf dem Weg des Ausbaus. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Das, was die Frau Ministerin heute dargestellt hat, war da sehr überzeugend.
({4})
Meine Damen und Herren, ich habe mich entschieden. Ich habe Wahlfreiheit ausgeübt - damals, als meine
Kinder klein waren und es noch keine Infrastruktur von
Betreuung gab, als es wirklich noch eine Entscheidung
war und ich auch aus dem Kollegenkreis gefragt wurde:
Haben Sie es eigentlich nötig, zu arbeiten? Ich hatte es
nicht nötig, aber ich wollte es, und zwar aus einem ganz
einfachen Grund. Ich hatte ein Studium hinter mich gebracht und wollte die Kenntnisse, die ich dort erworben
habe, auch praktisch umsetzen und als Anwältin arbeiten. Gleichzeitig habe ich mich für drei Kinder entschieden. Und ich muss sagen: Es war die beste Entscheidung
meines Lebens, diese Kinder zu haben.
({5})
Beides zu verbinden, war die Herausforderung, der
ich mich dann gestellt habe. Insofern arbeite ich als Liberale an diesen Fragen seither auch politisch. Zunächst
einmal habe ich das auf kommunaler Ebene getan. Dort
ist dieses Thema auch weiterhin zu lösen.
In dem Landkreis, aus dem ich stamme, dem Ortenaukreis in Baden-Württemberg, hat sich gerade vor wenigen Wochen der Kreistag entschieden, in die Tagesbetreuung von Kindern noch mehr Geld hineinzugeben,
und zwar für den Ausbau der Tagesbetreuung durch das
Tagesmuttermodell. Damit steht dieses Modell gleichberechtigt neben dem Ausbau von Kinderbetreuung in Institutionen - eine flexible Lösung; eine intelligente Lösung; etwas, was mich überzeugt.
({6})
Es ist nämlich genau dafür gedacht, wirkliche Wahlfreiheit zu ermöglichen. Wir haben flächendeckend überall
dort, wo es notwendig ist, Kindergärten und Krippenplätze.
Übrigens habe ich in meinem Wahlkreis als Erste
- seinerzeit noch als Stadträtin - den Ausbau von Krippenplätzen für Kinder unter einem Jahr gefordert. Der
Gedanke dazu kam aus der Erfahrung mit der §-218-Beratung, dass sich immer wieder Frauen wegen fehlender
Krippenplätze nicht für das Kind entscheiden können.
Deshalb haben wir gesagt: Wir wollen Krippenplätze,
damit sie sich für das Kind entscheiden können.
({7})
Wer aber eine sehr individuelle Lösung befürwortet
und auch benötigt, weil er gleichzeitig den Beruf ausüben will, hat auch die Möglichkeit, mit Tageseltern zu
arbeiten. Das Tagesmuttermodell ist gerade für Frauen,
die beispielsweise in der Pflege arbeiten und am Wochenende in der Pflegeeinrichtung oder im Krankenhaus
Dienst leisten, eine flexible Lösung. Sie haben jetzt in einem ganz erheblichen Ausmaß die Möglichkeit, auf das
Tagesmuttermodell zurückzugreifen. Dabei handelt es
sich um eine sehr individuelle Lösung, bei der ihre Kinder in kleinen Gruppen betreut werden.
Diese Möglichkeiten müssen wir entwickeln und in
den Fokus nehmen. Wir sollten hier keine Geisterdebatten führen, wie es die SPD versucht, sondern uns ganz
konkret den Themen stellen, die anstehen.
({8})
Wenn ich erlebe, wie junge Frauen jetzt ihr Leben organisieren - leider viel zu häufig ohne entsprechende
Unterstützung der Väter -, dann muss ich sagen, dass
wir eben ganz unterschiedliche Lösungen brauchen. Und
da sind wir dran; überhaupt keine Frage.
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zum Thema
„Kita-Ausbau statt Betreuungsgeld“. Ich habe an dieser
Stelle vor wenigen Wochen erstmals darauf hingewiesen, dass ich meine Zweifel habe, ob der Bund überhaupt
für das Betreuungsgeld zuständig ist. Interessant ist, dass
es aus dem mit der CSU verbundenen Land, nämlich aus
Bayern, vorgeschlagen wird. Da muss man sich wirklich
fragen: Will jetzt ein Land eine Zuständigkeit an den
Bund abgeben, oder will es nur Geld vom Bund?
({9})
Das ist eine Frage, die man sicherlich sorgfältig prüfen
muss unter der Überschrift: Ist der Bund überhaupt zuständig?
Ich denke, dass diese Frage in der Bundesregierung sehr
sorgfältig geprüft wird. Deswegen hat sich unsere Bundesjustizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, auch
schon zurückhaltend geäußert. Offensichtlich wird sie
im Familienministerium ebenfalls sorgfältig geprüft.
Frau Kollegin.
Wir sind also mit sorgfältiger, passgenauer Arbeit an
den Themen dran. Krakeel ist dazu aber nicht nötig.
({0})
Der Kollege Willi Brase hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Sie
schimpfen auf die Bundesländer, weil diese angeblich
nicht genügend Geld ausgegeben haben. Darüber darf
man sich eigentlich nicht wundern; denn gleichzeitig
nimmt diese Regierungskoalition den Ländern und den
Kommunen Geld weg, zum Beispiel durch die Hotelsteuer. Das Ganze ist also nicht ganz so einfach, wie Sie
das hier darstellen.
({0})
Ich will etwas zur Kritik an NRW sagen. Es war die
Regierung Rüttgers, die 2008 keine Mittel und 2009 nur
wenig Mittel für den U-3-Ausbau abgerufen hat.
({1})
Die neue Regierung hingegen, die am Sonntag übrigens
bestätigt wird,
({2})
hat massiv aufgerüstet. Sie hat wesentlich mehr Geld
eingestellt. Im Bundesdurchschnitt sind 63 Prozent abgerufen worden, NRW liegt schon jetzt bei 74 Prozent.
Man sieht: Wenn man mit einem Finger auf andere zeigt,
dann zeigen die anderen Finger auf einen zurück.
Mein zweiter Punkt. Die Bundesregierung hat uns einen Bericht zur demografischen Entwicklung vorgelegt.
In diesem Bericht wird sehr deutlich beschrieben, dass
wir zukünftig eigentlich alle für eine positive Fachkräfteentwicklung brauchen: die jungen Frauen, die älteren
Frauen und die Jugendlichen. Wenn das so ist, wir aber,
statt Kitaplätze zu schaffen, Betreuungsgeld ausgeben
und die Frauen damit nicht in den Arbeitsprozess lassen,
dann wird deutlich: Sie haben ein falsches Familienbild.
({3})
Ich frage mich vor allen Dingen: Warum verweisen Sie
auf einen Demografiebericht, der an dieser Stelle völlig
kontraproduktiv ist? Wenn wir dafür sorgen wollen, dass
die jungen Frauen teilhaben können, dann ist es falsch,
das Betreuungsgeld auf den Weg zu bringen.
({4})
Die Ablehnungsfront vom DGB bis hin zu Arbeitgebern ist eindeutig. Alle sagen: Wir brauchen die jungen
Menschen, die als Kinder rechtzeitig in die Kita gekommen sind, damit sie vernünftig gebildet werden, um in
der Schule Erfolg zu haben, und damit wir weniger
Schulabbrecher haben. Das ist ein Grund mehr, Nein zu
sagen.
({5})
Mir ist noch etwas aufgefallen. Es war die CSU, die
als Teil dieser Regierungsfraktion gesagt hat: Wir wollen
das Betreuungsgeld. Seitdem wird gestritten. Es ist eben
schon beschrieben worden, wie viele Abgeordnete aus
der Regierungskoalition dagegen sind, was die Umfragen ergeben. Alles spricht dagegen. Deswegen überlegt
man sich: Wie können wir es schaffen, die 25 Gegnerinnen und Gegner des Betreuungsgeldes in der eigenen
Fraktion auf Linie zu bekommen? Nun gibt es auf einmal den Vorschlag, die Erziehungsleistung von Müttern
älterer Kinder richtigerweise ein bisschen besser zu bewerten. Aus 1,3 Milliarden Euro werden schnell 1,5 Milliarden Euro oder 1,8 Milliarden Euro. Es werden also
zusätzlich 3 Milliarden Euro draufgesattelt, nur damit
man 25 Personen dazu kriegt, Ja zum Betreuungsgeld zu
sagen. Das hat nichts mit solider Haushaltsführung bzw.
Haushaltssanierung zu tun. Das ist unnütz ausgegebenes
Geld.
({6})
Ich will Ihnen sagen, wo man es besser einsetzen
könnte, zum Beispiel für die Kitas, das ist von vielen
Vorrednerinnen und Vorrednern sehr deutlich gesagt
worden. Man kann genauso gut überlegen, zum Beispiel
junge Frauen mit Migrationshintergrund, von denen gerade einmal 30 Prozent eine Ausbildungsstelle haben, zu
unterstützen. Warum geben wir das Geld nicht an der
Stelle aus? Wir wissen doch: Wir wollen sie, wir brauchen sie, sie sollen eine Zukunftschance haben. Geben
Sie hier mehr Geld aus. Das ist wesentlich besser angelegt.
({7})
In dem von Ihnen vorgelegten Demografiebericht ist
die Rede davon, dass es viele junge Menschen im Alter
zwischen 20 und 29 Jahren gibt, die keinen Berufsabschluss haben. Wo ist das Konzept der Bundesregierung?
Wo sind die Vorschläge, wie wir diesen Menschen - die
teilweise in Arbeit sind, teilweise nicht in Arbeit sind,
die das eine oder andere abgebrochen haben - helfen
können, gerade vor dem Hintergrund der von Ihnen eigens entwickelten Fachkräfteinitiative im Zusammenwirken mit Gewerkschaften und Arbeitgebern? Es gibt
keine Vorschläge. Ich sage Ihnen: Nehmen wir das Geld
für einen Qualifizierungsfonds für die Facharbeitsmärkte, auch für den Bereich der personenbezogenen
Dienstleistungen. Das ist allemal besser als dieses unsinnige Betreuungsgeld. Was Sie jetzt machen, dient nur
dazu, die Partikularinteressen der CSU zu befriedigen.
So weit darf es im Bundestag und in der Regierung nicht
kommen.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Norbert Geis hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich weiß nicht, warum wir in kürzester Frist
schon die dritte Aktuelle Stunde zum gleichen Thema
durchführen.
({0})
Wir haben doch nun wirklich genug gestritten. Nun ist es
auch genug! Ich meine, man sollte sich jetzt wirklich
einmal beruhigen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass
Sie daraus einen Kulturkampf, eine Art Glaubenskrieg
machen wollen.
({1})
Aber es bleibt die Hoffnung, dass nach der NRW-Wahl
die Vernunft einkehrt, dass wir dann wieder vernünftig
miteinander reden und Gedanken austauschen können.
({2})
Ich hoffe, dass Sie dann wieder zuhören. Das vermisst
man ja völlig. Sie können überhaupt nicht mehr zuhören.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die CDU/
CSU-Fraktion will beides. Ich sage es noch einmal: Sie
will einen Ausbau der Kita- bzw. der Krippenplätze, und
sie will den Menschen unter die Arme greifen, die ihr
Kind nicht in eine Krippe geben, sondern die Erziehung
des Kleinkindes in den ersten drei Jahren selbst übernehmen wollen. Was ist denn daran so falsch? Die Mehrheit
der Mütter in Deutschland will ihr Kind in den ersten
drei Jahren ja eben nicht in die Krippe geben.
({4})
- Hören Sie doch einmal zu. - Die Ergebnisse der Umfragen sind ganz klar:
({5})
Die überwiegende Mehrheit der 18- bis 39-Jährigen will
das Betreuungsgeld haben, weil sie ihr Kind nicht in die
Krippe geben will.
({6})
Das müssen Sie doch respektieren. Das müssen Sie zumindest einmal zur Kenntnis nehmen. Ich kann doch
über diese Mehrheit nicht einfach hinweggehen. Wir haben uns doch um den Willen der Eltern zu kümmern und
nicht um unsere eigenen ideologischen Vorstellungen.
({7})
So kann es doch nicht gehen. Das ist doch keine Politik.
({8})
Wir wollen den Ausbau der Krippen. Ich spreche von
Krippen, weil es nur um die Kinder von einem bis drei
Jahren geht. Bei denjenigen, die in den Kindergarten gehen, ist das wieder eine ganz andere Frage. Die Eltern
von Kindern zwischen einem und drei Jahren haben die
Möglichkeit, ihr Kind in eine Kindertagesstätte bzw.
eine Krippe zu geben.
({9})
Den Eltern, die das nicht wollen, die ihr Kind nicht in
eine Krippe geben wollen - das ist, ich wiederhole es
noch einmal, die Mehrheit im Land -, wollen wir mit
dem Betreuungsgeld unter die Arme greifen.
({10})
Das kann doch so falsch nicht sein.
({11})
- Hören Sie doch auf, dazwischenzurufen. Hören Sie
einmal zu.
Der Bund stellt 4 Milliarden Euro für den Bau von
Krippen zur Verfügung. Es ist wahr, dass NordrheinWestfalen nicht in ausreichendem Maße Mittel abgerufen hat.
({12})
- Hören Sie jetzt einmal zu. Sie werden gleich wieder
narrisch. - Es ist auch wahr, dass Bayern seinen Anteil
bereits zu 100 Prozent abgerufen hat.
({13})
- Das können Sie nachlesen: Der Anteil, den das Land
selber zu leisten hat, ist ebenfalls bereits zu 100 Prozent
bewilligt. Das ist ein kleiner Unterschied.
({14})
Sie können den Bayern, die richtigerweise das Betreuungsgeld haben wollen, nicht vorwerfen, sie seien gegen
den Ausbau des Krippenangebots. Das ist blank gelogen,
und das wissen Sie auch. Das ist die Unwahrheit.
({15})
Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Neben diesen
4 Milliarden Euro stellt der Bund jährlich 750 Millionen Euro für den Betrieb der Krippen, die Kinder im Alter zwischen einem und drei Jahren betreuen, zur Verfügung. Ein Krippenplatz kostet insgesamt 1 000 Euro pro
Monat. Das ist ein gewaltiger Batzen Geld pro Monat.
Wenn es so ist - und so ist es -, dann kann ich doch nicht
sagen: Die anderen bekommen gar nichts. Diejenigen,
deren Kinder daheim bleiben, bekommen gar nichts.
({16})
Diejenigen, die ihre Kinder daheim erziehen, sollen gar
nichts bekommen? Sie sollen kein Betreuungsgeld bekommen?
({17})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, 150 Euro
im Monat - das gebe ich zu - ist nicht allzu viel. Aber
das ist ein wichtiger Beitrag dazu, dass die Haushaltskasse in einer Familie stimmt. Das dürfen wir nicht übersehen.
({18})
In Skandinavien, wo man auch Betreuungsgeld zahlt,
ist man großzügiger.
({19})
Die Norweger zahlen 400 Euro Betreuungsgeld pro Monat.
({20})
In Frankreich ist man viel großzügiger. Frankreich zahlt,
allerdings einkommensabhängig, monatlich ein Betreuungsgeld in Höhe von 300 bis 750 Euro.
({21})
Was sagen Sie denn dazu? Halten Sie die Franzosen alle
für blöd? Das können Sie doch nicht ernsthaft behaupten.
({22})
Sie zahlen 300 bis 750 Euro pro Monat an Betreuungsgeld.
({23})
Es ist nicht so, dass in Frankreich ausschließlich Kindertagesstätten genutzt werden. Nur 11 bis 15 Prozent der
französischen Eltern bringen ihr Kind in die Krippe.
25 Prozent geben ihr Kind zu einer Tagesmutter. Beim
Rest übernehmen die Eltern, die Großeltern oder andere
Verwandte die Betreuung. So ist die Situation in Frankreich. Dort gibt es eine höhere Geburtenquote als in
Deutschland. Dies erwähne ich, weil dieser Punkt immer
so herausgestellt wird.
So kann die Diskussion nicht weitergehen. Sie müssen sich auch einmal ansehen, was in anderen Ländern
geleistet wird. Ich meine, das wäre Grund genug, umzukehren und vernünftig und in Ruhe über die Sache zu
diskutieren.
Danke schön.
({24})
Die Kollegin Marianne Schieder hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer
außer der CSU will denn dieses Betreuungsgeld überhaupt?
({0})
Marianne Schieder ({1})
Selbst dort, wo man Sympathien dafür hätte vermuten
können, wird der Vorschlag rundum abgelehnt. Ich war
vor ein paar Wochen beim Katholischen Deutschen
Frauenbund in Regensburg eingeladen. Thema Betreuungsgeld: Ablehnung auf ganzer Linie.
({2})
Letzte Woche fand ein Gespräch mit Vertretern des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend in Regensburg
statt. Auch dort herrscht vollkommenes Unverständnis
für das geplante Betreuungsgeld.
Von Talkshow zu Talkshow sehen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, schlechter aus. Ich konnte
den Auftritt von Herrn Kollegen Dobrindt bei Markus
Lanz verfolgen.
({3})
Da haben Sie alt ausgesehen, Herr Generalsekretär.
({4})
Uschi Glas hat Sie nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen.
({5})
Sie kommen herüber wie ein kleiner Bub, dem das Spielzeug abhanden gekommen ist, aber nicht wie ein überzeugend argumentierender Generalsekretär der CSU.
({6})
Noch interessanter - ich weiß nicht, wer es im RBB
verfolgt hat - war diese Woche die Sendung Klipp &
Klar. Dort hat ein CDU-Abgeordneter vergeblich versucht, seinen CSU-Kollegen vom Unsinn des Betreuungsgelds zu überzeugen. Einzig die Vertreterin der Linken unterstützte die Idee der CSU.
({7})
Das sind Koalitionen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({8})
Ich frage noch einmal allen Ernstes: Warum verharrt
die CSU so stur und vollkommen beratungsresistent auf
ihrer Forderung? Man will wohl darüber hinwegtäuschen, dass Bayern beim Ausbau der Kinderbetreuungsangebote Schlusslicht ist. Da hilft auch alles Schönrechnen nichts.
({9})
Der Freistaat hat massive Probleme, das Betreuungsangebot für die unter Dreijährigen so auszubauen, dass es
der Nachfrage gerecht wird. Von der Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben will ich erst gar nicht sprechen.
({10})
- Herr Dobrindt, nehmen Sie die schwarze Brille ab, und
lesen Sie einmal nach.
({11})
Bayern liegt, was sein Ganztagsbetreuungsangebot betrifft, mit 5,9 Prozent neben Niedersachsen am Ende der
Liste.
Im ländlichen Raum geht die Angst um. Dort, wo es
aufgrund der demografischen Entwicklung weniger Kinder gibt, fragen sich die Bürgermeister, die bereits investiert haben, ob sie ihre Krippe aufrechterhalten können.
Dort, wo noch nicht investiert wurde, fragt man sich, ob
das Betreuungsgeld nicht etwa dazu führen wird, dass
man die Krippe gar nicht betreiben kann.
Ich wusste doch, dass Sie wieder mit Ihrer alten und
abgenutzten Geschichte aus München kommen werden.
Sie haben Angst vor Christian Ude. Sie haben Angst,
dass Sie die Landtagswahl verlieren werden.
({12})
Das ist doch der Grund. Es ärgert Sie, dass Sie in München politisch keinen Fuß auf den Boden bringen.
({13})
Es ist nicht wahr - es wird auch nicht wahr, wenn Sie es
jede Woche erneut erzählen -: München ist mit einem
Versorgungsgrad von 36 Prozent im Vergleich zum Wert
aller anderen alten Bundesländer Spitze. Der Durchschnitt liegt im Übrigen bei 15 Prozent.
({14})
- Reden Sie doch nicht so dumm daher, Herr Dobrindt.
({15})
Für das Jahr 2011 hat die Stadt München knapp
430 Millionen Euro zum weiteren Ausbau der Kinderbetreuung in den Haushalt eingestellt.
({16})
Allein für den Krippenausbau hat die Stadt 2010 aus Eigenmitteln, also Einnahmen und Zuschüsse weggerechnet, 69 Millionen Euro ausgegeben. Es kann doch niemand bestreiten, dass das ein großartiges Engagement
Marianne Schieder ({17})
ist. München hat im Gegensatz zu vielen anderen Städten in Deutschland eine außerordentliche Geburtensteigerung zu verzeichnen. Das führt natürlich auch zu einem besonders großen Anstieg der Nachfrage. Natürlich
weiß auch die Stadt München, dass es noch viel zu tun
gibt. Also: Wenn Sie der Stadt München helfen wollen,
({18})
wenn Sie dort jemals wieder einen Fuß auf den Boden
bekommen wollen, dann nehmen Sie das Geld, das Sie
in dieses Betreuungsgeld stecken wollen, und lassen Sie
uns gemeinsam die Betreuungsangebote ausbauen.
Noch etwas: Lesen Sie einmal die Studie, die die
Hanns-Seidel-Stiftung in Auftrag gegeben hat.
({19})
Diese Studie besagt nämlich, dass 80 Prozent der befragten Frauen in Bayern mehr Kindergärten, Kinderhorte
und Tagesmütter fordern,
({20})
dass rund drei Viertel der Befragten einen stärkeren Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren fordern und ebenso viele mehr Teilzeitarbeitsmöglichkeiten
für berufstätige Mütter und Väter fordern. Die Ergebnisse dieser Umfrage sollten Sie zugrunde legen, nicht
die Ergebnisse der von Ihnen selbst in Auftrag gegebenen Emnid-Umfragen. Das sind nämlich dieselben Umfragen wie die, die vom Focus in Auftrag gegeben werden, nur mit anderen Ergebnissen.
({21})
Lesen Sie also die Studien, die Sie selbst bezahlt haben. Wenn Sie die Ergebnisse ordentlich auswerten, werden Sie nicht umhinkommen, festzustellen, dass es in
Bayern noch viel zu tun gibt und dass auch vonseiten des
Landes noch viel mehr getan werden muss, um ein ordentliches Angebot zu schaffen und Wahlfreiheit zu ermöglichen.
Hören Sie auf, Christian Ude zu verunglimpfen!
({22})
Frau Ministerin, sagen Sie nicht noch einmal, dass
Christian Ude irgendwann einmal den Rechtsanspruch
auf einen Kinderkrippenplatz infrage gestellt habe!
({23})
Das habe ich noch nie gehört, und das hat er auch nicht
getan. Bekämpfen Sie ihn politisch, wenn Sie verhindern
wollen, dass er Ministerpräsident wird.
({24})
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({25})
Das Wort hat die Kollegin Ewa Klamt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die SPD hat heute eine Aktuelle Stunde mit dem Titel
„Kitaausbau statt Betreuungsgeld“ auf die Tagesordnung
gesetzt.
({0})
Interessant! Im Jahr 2008 hat die SPD gemeinsam mit
der Union beschlossen
({1})
- ich zitiere -, dass „für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung ({2}) eingeführt werden“
soll.
({3})
Frau Schieder und ihre Vorrednerinnen waren bei diesem
Beschluss dabei. Ich gehörte dem Bundestag damals
nicht an.
({4})
Nachzulesen ist dieser Beschluss übrigens im Sozialgesetzbuch VIII.
Heute, im Jahr 2012, sprechen wir über rund
1 350 000 ein- und zweijährige Kinder und deren Eltern.
All diese Eltern wollen ihren Kindern einen positiven
Start in das Leben ermöglichen. Jede dieser Familien hat
ihren eigenen Lebensentwurf, eine eigene Wertehaltung
und ganz spezifische Bedürfnisse; denn die Einheitsfamilie gibt es nicht.
({5})
Es ist unsere Aufgabe, positive Rahmenbedingungen zu
schaffen.
Das heißt zum einen, für Akzeptanz und Unterstützung für die Mütter und Väter zu sorgen, die nach der
Geburt eines Kindes schnell wieder arbeiten möchten;
denn sie erwarten zu Recht, dass es beim Krippenausbau
vorangeht. Dass der Bund seiner finanziellen Verantwortung beim Ausbau gerecht geworden ist, ist mehrfach
gesagt worden. 4 Milliarden Euro und damit ein Drittel
der Gesamtkosten hat der Bund übernommen.
Eine wichtige Randbemerkung: Das Geld ist immer
noch nicht von allen Ländern abgerufen worden, obwohl
dies ihre originäre Aufgabe ist. Es hakt also keineswegs
an der Unterstützung des Bundes, sondern an der Ausbaugeschwindigkeit in einigen Ländern. Vor diesem
Hintergrund der Bundesregierung vorzuwerfen, sie
würde den Ausbau der Kinderbetreuung nicht ernst nehmen, ist schlichtweg hanebüchen.
({6})
Ich erwarte zum anderen aber ebenso Respekt für die
Entscheidung des Vaters oder der Mutter, welche selbst
ein oder zwei Jahre lang für ihr Kind sorgen wollen. Hier
sagt die SPD: Staatliche finanzielle Unterstützung kann
und darf es ausschließlich für den weiteren Krippenausbau geben, und damit also ausschließlich für die Eltern,
die ihr Kind in eine Krippe geben. - Nun ist an dieser
Stelle die Frage schon berechtigt, warum Eltern, die ihr
Kleinkind selbst betreuen, sowie berufstätige Ehepaare
oder berufstätige Alleinerziehende, welche ihr einjähriges Kind von einer Vertrauensperson betreuen lassen,
auf keinen Fall 100 Euro staatliche Unterstützung erhalten dürfen.
Ich möchte mich in dieser Aktuellen Stunde auch einmal direkt an die Eltern wenden: Haben Sie eigentlich
eine Vorstellung davon, was einige Oppositionskollegen
über Sie denken, die Sie Ihr ein- oder zweijähriges Kind
wahnwitzigerweise nicht in eine Krippe schicken?
({7})
- Das ist alles täglich in der Presse nachzulesen. - Sie
stehen für ein Uraltbild von Familie und Erziehung. Sie
sollen eine Arbeitsmarktfernhalteprämie erhalten. Sie
verweigern Ihrem ein- oder zweijährigen Kind frühkindliche Bildung. - Wenn Sie, liebe Eltern, dann noch
100 Euro Unterstützung vom Staat für diese Zeit bekämen, dann, so wird erklärt, würden Sie eine „Verdummungsprämie“ in Anspruch nehmen, anstatt Ihrem Kind
eine gute Kinderbetreuung - sprich: Krippenbesuch zukommen zu lassen.
({8})
Kurzum: Sie verursachen eine „bildungspolitische Katastrophe“ für Ihr Kind.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ich
wende mich jetzt explizit an Sie:
({10})
Hören Sie auf, mit Ihrer Wortwahl einen Großteil der
Eltern von Ein- und Zweijährigen in unserem Land zu
diskriminieren und schlechtzureden.
({11})
Wenn man nämlich am Ende des Tages alle ideologischen Scheuklappen beiseitelässt,
({12})
könnte die Erkenntnis auch sein: Entscheidend ist eine
gute Betreuungssituation für Kleinstkinder: in guten
Krippen, bei ihren Eltern, bei Großeltern oder bei Tageseltern.
({13})
Und dabei sollten wir Familien umfassend unterstützen.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Ludwig für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich zunächst darüber, dass uns die
SPD heute eine weitere Gelegenheit bietet, über ein neu
zu schaffendes, ausgesprochen sinnvolles familienpolitisches Instrument zu sprechen, nämlich über das Betreuungsgeld. Danke für die Möglichkeit!
({0})
Im Übrigen: Wenn Sie gehofft hatten, beim dritten Mal in
Ihren Reden besser und überzeugender zu werden, dann
darf ich Ihnen rückblickend auf diese Aktuelle Stunde sagen: Das ist bedauerlicherweise nicht gelungen.
({1})
Das Zweite, worüber wir heute dankenswerterweise
auch reden dürfen, ist der Ausbau der Kinderbetreuungsplätze.
({2})
Ich bin sehr froh über die ausgesprochen klaren Worte
unserer Familienministerin,
({3})
die sehr richtig gesagt hat: Der Bund gibt 4 Milliarden
Euro für eine extrem wichtige Aufgabe aus. - Diese Mittel wurden bedauerlicherweise - ich bin hier im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen ohne jede Häme - noch
nicht von allen Bundesländern in der verantwortungsvollen Weise abgerufen, dass sie den Familien und den Kindern auch helfen. Völlig ohne Häme: Ich bedaure dies.
Weil ich nicht mit Fingern auf andere zeigen will
- ich habe heute ja gehört, dass das nicht erwünscht ist -,
schaue ich einmal erfreut nach Bayern. Liebe Frau
Schieder, Sie brauchen keinen Ude-Verteidigungsklub
zu gründen. Der Ude verdirbt uns in Bayern echt den
Schnitt. Das sage ich Ihnen einmal in aller Deutlichkeit.
München ist bei der Kinderbetreuung von unter Dreijährigen bedauerlicherweise grottenmäßig schlecht aufgestellt. Es ist schon klar: Wenn der Haushalt so bescheiden ist, dann kann man die Prioritäten in Richtung
Kinderbetreuung auch nicht ordentlich setzen.
({4})
Im Rest des Freistaates schaffen wir das auf hervorragende Art und Weise. Wer anderes behauptet, lügt wider
besseres Wissen.
({5})
Wir haben in den Gemeinden die Bedarfe abgefragt. Wir
schaffen es, diese Bedarfe zu decken. Bayern hat nämlich im Gegensatz zu anderen Bundesländern für die
Förderung des Krippenausbaus keine Deckelung im
Haushalt. Das heißt: Gemeinde stellt Antrag, Freistaat
zahlt. So einfach läuft das bei uns. Nehmen Sie sich ein
Beispiel daran. Herr Ude hat das mit der Kinderbetreuung immer noch nicht geschafft. Dadurch verdirbt er uns
bedauerlicherweise den Schnitt. Es wird Zeit, dass in
München auch das ein Ende hat.
({6})
Sie können sich überlegen, wie Sie das in Ihren eigenen Bundesländern machen. Wissen Sie, wir haben diesen Streit nicht nötig. Wir machen nämlich beides in
souveräner Art und Weise. Ich will jetzt gar nicht auf die
Argumente eingehen, die dazu in den letzten beiden Aktuellen Stunden schon ständig wiederholt wurden. Dass
Cem Özdemir, Frau Kraft und wie sie alle heißen die
Zwangskita für alle fordern, sei einmal dahingestellt.
({7})
Das müssen Sie mit sich selber ausmachen.
({8})
- Vergessen Sie bitte Ihre gute Kinderstube nicht, falls
Sie eine hatten.
Wir reden von ein- bis zweijährigen Kindern, die vermutlich noch gar nicht in die Kita gehen, sondern dorthin geschoben werden. So klein sind sie also noch. Da
erwarte ich schon so viel Einsicht, dass gesagt wird:
Jawohl, wir sind für die Kita für Kinder von den Eltern,
die sie brauchen oder wollen. Wir schaffen aber zugleich
für die Eltern einen Ausgleich, die das selbst privat in
der von ihnen gewünschten Form organisieren wollen.
Beides ist richtig.
Wir reden hier immerhin von zwei Dritteln aller
Eltern; das möchte ich hier schon einmal klargestellt
haben. Wir reden nicht von einer verschwindend kleinen
Minderheit, die völlig ahnungslos ist und davon nichts
versteht. Wir reden hier von zwei Dritteln der Eltern, die
sagen: Ich kann es mir nicht vorstellen, mein ein- oder
zweijähriges Kind außerhäusig betreuen zu lassen. Ich
mache das selbst, oder das macht die Großmutter oder
die Tante, wie auch immer. - Was spricht dagegen, diesen Eltern 150 Euro im Monat zu geben? Das ist doch
sowieso nicht viel. Auch das möchte ich hier sagen.
Ich will auch nicht darüber reden müssen: Wie verwenden die Eltern das Geld? Wo landet dieses Geld? Es
ist doch beschämend, den Eltern zu unterstellen, sie
könnten nicht mit Geld umgehen und sie würden es nicht
für ihre Kinder einsetzen.
({9})
Ich muss ganz ehrlich sagen: Es mag diese Fälle geben.
Aber diese Fälle ereignen sich wiederum nicht bei der
Mehrheit, sondern nur bei einer Minderheit. Über diese
Fälle werden wir uns im Rahmen anderer Gesetzgebungsverfahren unterhalten müssen, aber nicht beim
Thema Betreuungsgeld.
Lassen Sie die Eltern selber entscheiden, wie sie das
gerne haben möchten. Lassen Sie sie die Betreuungsform in den ersten zwei und drei Jahren der Kinder
selber wählen. Ich glaube, das ist ein richtiger Weg. Nur
damit ist Wahlfreiheit gewährleistet. Wir machen beides:
Wir anerkennen das, was die Eltern selber an Erziehungsleistung erbringen, und wir schaffen für diejenigen, die berufstätig sein wollen oder müssen, die Möglichkeit, ihre Kinder in eine gute und qualitativ
hochwertige staatliche Betreuung zu geben.
({10})
Vielen herzlichen Dank.
({11})
Damit schließe ich die Aussprache. Die Aktuelle
Stunde ist beendet.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ({1}) von 1982 und der Resolutionen
1814 ({2}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({3})
vom 2. Juni 2008, 1838 ({4}) vom 7. Oktober
2008, 1846 ({5}) vom 2. Dezember 2008, 1851
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({6}) vom 16. Dezember 2008, 1897 ({7})
vom 30. November 2009, 1950 ({8}) vom
23. November 2010, 2020 ({9}) vom 22. November 2011 und nachfolgender Resolutionen
des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des
Rates der Europäischen Union ({10}) vom 10.
November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012
- Drucksachen 17/9339, 17/9598 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Jan van Aken
Kerstin Müller ({11})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({12}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/9599 Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Über die Beschlussempfehlung werden wir später
namentlich abstimmen. Zudem liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine Stunde
zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen
Burkhardt Müller-Sönksen für die FDP-Fraktion das
Wort.
({13})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die öffentliche Debatte in den letzten Tagen um
die Fortsetzung des Atalanta-Mandats fokussierte sich
ausschließlich auf die zusätzlichen Wirkungsmöglichkeiten am somalischen Strand. Diese Debatte ist ohne
Frage wichtig, aber wir sollten nicht aus den Augen verlieren, dass es sich hierbei lediglich um die Öffnung einer Zusatzoption handelt. Der Kern der Mission ist und
bleibt die Pirateriebekämpfung auf See und der Schutz
der Schiffe des Welternährungsprogramms.
({0})
Die Mission Atalanta ist ein großer Erfolg. Die Zahl
der erfolgreichen Kaperungen ist weiter gesunken, und
alle Schiffe des Welternährungsprogramms haben unbeschadet die somalischen Häfen erreicht. Unser Dank gilt
hierfür den deutschen Soldaten, die mit ihren internationalen Partnern hervorragende Arbeit geleistet haben.
({1})
Aber - das sage ich hier ganz offen - wir werden das
Problem Piraterie nicht alleine mit militärischen Mitteln
lösen können. Wir setzen daher auf verstärkte Kontrolle
der illegalen Geschäfte und Geldströme in der Region
und den weiteren Aufbau der somalischen Polizei. Wir
stärken die Justiz mit dem Ziel, dass die Somalis immer
stärker auch selbst gegen die Piraterie vorgehen können.
({2})
Für die angekündigte Ablehnung des Mandats durch
die SPD habe ich gerade als Hamburger Abgeordneter
kein Verständnis. Deutschland befindet sich als exportorientierte Nation in einer besonderen maritimen Abhängigkeit. Wenn wir der Piraterie nicht entschieden begegnen, schaden wir der Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft, der deutschen und europäischen, in großem
Maße.
({3})
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel forderte im
März dieses Jahres in seiner Grundsatzrede bei den
Petersberger Gesprächen Folgendes - ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin -:
Törichte Alleingänge … dürfen wir uns in Zukunft
nicht leisten.
… Auch wenn es schwer fällt, müssen wir bereit
sein …, auch im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich Schritt für Schritt Souveränität abzugeben.
Ihr Vorsitzender wirbt für den gemeinsamen europäischen Weg. Sie aber verlangen von uns im Bundestag,
dass wir uns in der Ausgestaltung des Mandats Atalanta
gegenüber unseren europäischen Partnern isolieren.
Diese Doppelzüngigkeit der SPD zeigt ein weiteres Mal,
dass eben nur die schwarz-gelbe Koalition verlässliche
Politik für die maritime Wirtschaft macht.
({4})
Aber die Pirateriebekämpfung ist nicht nur eine Frage
der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen. Wir stehen
auch in der Verantwortung, für den Schutz der Besatzungen Sorge zu tragen. Ich begrüße daher sehr, dass die
Reeder in den letzten Monaten ihre Möglichkeiten genutzt haben, und mit dem Maritimen Koordinator der
Bundesregierung, Hans-Joachim Otto, bringen wir einen
Gesetzentwurf zum Einsatz privater Sicherheitsdienste
auf den Weg. Wir schaffen damit eine klare gesetzliche
Grundlage und ermöglichen den Reedern in noch größerem Maße, selbst für die Sicherheit ihrer Besatzung an
Bord tätig zu werden.
({5})
Die Mission Atalanta ist ein Erfolg. Sie ist ein Erfolg
für die somalische Bevölkerung, die wir nicht mit dem
Problem der Piraterie alleinlassen wollen. Atalanta leistet zudem einen essenziellen Beitrag zur Erhöhung der
Sicherheit der Seehandelswege.
Für diese wichtige Arbeit und die Verlängerung des
Mandats in der zum Beschluss stehenden Ergänzung bitten wir Sie um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gernot Erler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schon in der Debatte vom 26. April bei der ersten Beratung zu diesem Mandat haben wir von der Regierungsseite gehört, es gebe ein großes Interesse daran, den
Konsens über die Mission Atalanta möglichst breit aufrechtzuerhalten. Ich stelle fest: Diese Behauptung ist in
keiner Weise glaubwürdig.
({0})
Auf jeden Fall haben Sie alles getan, um uns eine
Zustimmung zu dem geänderten Mandat unmöglich zu
machen. Ich nenne einige Punkte.
Erstens. Sie haben vor der Vorlage des Mandats unsere früh geäußerten Bedenken einfach weggewischt und
keine Beteiligung der Opposition gesucht.
Zweitens. Sie haben völlig ohne Not das komplette
Atalanta-Mandat, das eigentlich bis Ende dieses Jahres
Gültigkeit hat, mit der entsprechenden Erweiterung neu
zur Abstimmung gestellt. Gleichzeitig spielen Sie die
Bedeutung dieser Erweiterung herunter und sagen, sie
enthalte qualitativ nichts Neues und stelle nur eine kleine
zusätzliche Handlungsoption dar. Wenn das der Fall ist,
wenn es eine Erweiterung von geringster Bedeutung ist,
warum um Gottes willen lassen Sie dann im Bundestag
fünf Monate später schon wieder über das volle Mandat
abstimmen?
({1})
Diese Taktik ist durchschaubar. Das Kalkül ist, dass
zum Beispiel die SPD-Fraktion, die im Dezember 2011
nahezu einstimmig für die Fortsetzung von Atalanta gestimmt hat, jetzt wegen einer solchen Kleinigkeit ihre
Zustimmung wohl nicht versagen werde. Auf diese Kleinigkeit komme ich noch zurück. Aber schon jetzt kann
ich Ihnen versichern: Dieses Kalkül geht nicht auf. Wenn
Sie nur über die Mandatserweiterung hätten abstimmen
lassen, wäre es bei der wünschenswerten breiten Zustimmung zum laufenden Atalanta-Mandat geblieben. Dafür,
dass das jetzt nicht so bleibt, tragen Sie die alleinige Verantwortung.
({2})
Es gibt noch einen dritten Punkt in Sachen Glaubwürdigkeit Ihres Wunsches nach breiter Unterstützung.
Noch bevor wir unsere internen Beratungen abgeschlossen hatten, wurden wir mit der Unterstellung aus Ihren
Reihen konfrontiert, die SPD nehme die nun anstehende
Atalanta-Abstimmung zum Anlass, um sich insgesamt
aus der Verantwortung für internationale Missionen zu
verabschieden, nach dem Motto „erst Atalanta und dann
Afghanistan“, und das aus wahltaktischen Gründen. Nach
all der Arbeit und dem Engagement, das wir in der Vergangenheit gerade in solchen Fällen investiert haben - ich
erinnere an die großen Anstrengungen, die notwendig
waren, um gemeinsam zu einem verbindlichen Fahrplan
für Afghanistan zu kommen, und an die Tatsache, dass
wir uns in der Öffentlichkeit zur Unterstützung der nun
in Rede stehenden Mission bekannt haben, wohl wissend, dass das unpopulär ist -, erfüllen Ihre Unterstellungen den Tatbestand der üblen Nachrede.
({3})
Auf jeden Fall wird keiner behaupten können, das, was
Sie gemacht haben, seien Bemühungen gewesen, den
Konsens in Sachen Piratenbekämpfung vor der somalischen Küste aufrechtzuerhalten.
Jetzt zur Mandatserweiterung. Herr Verteidigungsminister, bei der ersten Lesung haben Sie hier die These
aufgestellt - ich darf das wörtlich zitieren -: „Eine Option mehr ist besser als eine Option weniger. So einfach
ist das.“ Ich teile diese These nicht. Wenn das so einfach
wäre: Warum ringen wir dann eigentlich bei jeder militärischen Mission im Ausland so intensiv um Details, bis
hin zu den Rules of Engagement? Es gibt durchaus Optionen, die man besser nicht hat, und zwar dann nicht,
wenn sie bestimmte Grenzüberschreitungen darstellen
bzw. ermöglichen, die letztlich nicht zu mehr Erfolg,
wohl aber zu mehr Risiko führen, oder wenn sie politische Komplikationen heraufbeschwören, die wir nicht
haben wollen. Deswegen ist es unsere Pflicht, jede zusätzliche Option genau zu prüfen und gegebenenfalls infrage zu stellen.
Warum lehnen wir nun die zusätzliche Option, an
Land befindliche Ausrüstung von Piraten aus der Luft zu
zerstören, ab? Ich will mich hier auf zwei Gründe beschränken. Diese Mandatserweiterung macht sich von
Luftaufklärung abhängig und damit von deren Zuverlässigkeit. Ich frage Sie: Was muss eigentlich noch passieren, um bei Ihnen Zweifel an einer solchen Abhängigkeit
aufkommen zu lassen? Haben Sie verdrängt, wie oft es
in vergleichbaren Situationen zu tragischen und politisch
verheerenden Fehlbeurteilungen gekommen ist? Wie oft
ist das im Kosovo-Krieg der Fall gewesen, der allein aus
der Luft geführt wurde? Wie war das in Afghanistan, wo
manchmal - nicht nur einmal - Hochzeitsgesellschaften,
bei denen Freudenschüsse in die Luft abgegeben wur21112
den, mit Aufständischen verwechselt wurden? Offenbar
haben Sie auch verdrängt, in welch tragische Verstrickung uns der Fall Kunduz gebracht hat, in dem es eine
ähnliche Abhängigkeit von der Luftaufklärung gab.
({4})
Natürlich wissen wir, dass es nicht vorgesehen ist, Personen aus der Luft anzugreifen. Aber wir weigern uns, die
Erfahrungen zu verdrängen. Deswegen werden wir einer
Missionserweiterung mit einer so gefährlichen einseitigen Abhängigkeit von der Luftaufklärung kein grünes
Licht geben.
({5})
Es gibt einen anderen, ebenso wichtigen Punkt. Bisher hat die Bundesregierung den Anschein erweckt, jeder Einsatz von Bodentruppen im Rahmen des AtalantaMandats sei ausgeschlossen. Seit gestern wissen wir
mehr. Kleinlaut musste die Bundesregierung zugeben,
dass unter bestimmten Voraussetzungen einzelne Nationen durchaus Bodentruppen entsenden können, wenn
auch formal nicht im Rahmen der Atalanta-Mission.
Sollte es dabei zu irgendwelchen Komplikationen kommen, glaubt doch keiner, dass dann die deutsche Selbstbeschränkung, das deutsche Caveat, noch hält. Dann
sind wir mittendrin, ob wir wollen oder nicht. Das kann
schon passieren, wenn ein Hubschrauber über Land in
Not gerät, er notlanden und man dann die Besatzung retten muss.
({6})
Aber das bedeutet, dass die Mandatserweiterung genau zu diesen politischen Komplikationen führen kann,
die wir unbedingt vermeiden wollen. Was wir am wenigsten brauchen, ist eine Solidarisierung in Somalia mit
den Piraten. Wir brauchen genau das Gegenteil. Was ist
eigentlich, wenn die in eine solche Auseinandersetzung
Verwickelten Schutz suchen, womöglich noch bei den
Al-Schabab-Milizen?
({7})
Gerade nach dem, was wir gestern über mögliche
Landoperationen anderer Staaten erfahren haben, sagen
wir mit Nachdruck: Diese Mandatserweiterung führt zu
begrenzten zusätzlichen Möglichkeiten bei der Piratenbekämpfung, immer vorausgesetzt, dass die Piraten nicht
lernfähig sind, aber zu entgrenzten Risiken, was unsere
Ziele in Somalia angeht. Um es ganz klar zu sagen: Die
SPD steht weiter voll hinter der bisherigen, laufenden
Atalanta-Mission, aber wir sind nicht bereit, zu einem
solchen unverantwortlichen Schritt unsere Zustimmung
zu geben.
({8})
Wohl aber - und damit möchte ich schließen - sind
wir bereit und warten darauf, mit Ihnen über andere Initiativen zu reden. Wir müssen endlich verhindern, dass
gerade festgesetzte Piraten an Land postwendend wieder
freigelassen werden, weil es immer noch keine internationale Strafverfolgungsmöglichkeit gibt.
({9})
- Ja, aber es geht nicht vorwärts. - Es muss auch gelingen, mehr als bisher dem gar nicht in Somalia ansässigen
Pirateriegeschäft auf die Fersen zu kommen.
({10})
Noch immer reichen die internationalen Bemühungen
nicht aus, Somalia, diesen geschundenen, gescheiterten
Staat, endlich zu befrieden und dort Staatlichkeit und
Ordnung wieder herzustellen.
({11})
Dafür lohnen sich zusätzliche Anstrengungen, und das
sind unsere Vorschläge für sinnvolle zusätzliche Bemühungen.
Vielen Dank.
({12})
Der Kollege Florian Hahn spricht jetzt für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Im November 2008 hat die EU im Rahmen ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
mit Atalanta eine sehr erfolgreiche Operation zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias ins Leben gerufen. Getragen von einem breiten, parteiübergreifenden Konsens, wurde diese gemeinsame Aktion schon
dreimal verlängert bzw. erweitert. Auch heute steht wieder eine weitere Anpassung des Mandats zur Abstimmung, die wir ganz im Sinne unserer bisherigen Politik
befürworten. Mit der Anpassung des deutschen Mandats
für Atalanta wollen wir den Konsens unter den teilnehmenden Staaten stärken und somit ein Signal zum
weiteren Ausbau der Gemeinsamen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik der EU geben. Wir wollen die
Handlungsfähigkeit der Operation sicherstellen und erreichen, dass sich deutsche Streitkräfte auch nach dem Beschluss der europäischen Außenminister vom 23. März
dieses Jahres in vollem Umfang an der Operation Atalanta beteiligen können.
({0})
Letztlich geht es uns auch darum, dass diese Operation
weiterhin ein Erfolg bleibt; denn Atalanta ist ein Erfolg
für die GSVP und für das Horn von Afrika. Da werden
mir sicherlich auch die Kollegen der SPD und der Grünen zustimmen.
Bislang hat Atalanta mehr als 130 im Auftrag des
Welternährungsprogramms durchgeführte Schiffstransporte sicher an ihre somalischen Zielhäfen geleitet und
damit einen wichtigen Beitrag zur Versorgung der hungerleidenden somalischen Bevölkerung geleistet. Die
Operation konnte dazu beitragen, dass der für die internationale Schifffahrt so wichtige und bedeutende Golf
von Aden durch die Anwesenheit ihrer Marineschiffe erheblich sicherer geworden ist. Wir möchten mit dieser
Mandatsanpassung die Laufzeit von Atalanta bis Mai
2013 verlängern, damit die Operation auch weiterhin so
erfolgreich sein kann.
({1})
Der deutsche Beitrag zu Atalanta war bisher engagiert
und umfangreich. Seit Beginn der Beteiligung an der
Operation stellt Deutschland stets mindestens eine Fregatte oder einen Einsatzgruppenversorger, ein zur Pirateriebekämpfung ausgerichtetes Fähigkeitspaket, in Dschibuti stationiertes Unterstützungspersonal sowie Soldaten
in den Hauptquartieren. Für diesen Einsatz gebührt unser
Dank den deutschen Soldaten, die immer sehr besonnen
ihre Arbeit ausführen. Wir wünschen ihnen weiterhin alles Gute und Gottes Segen!
({2})
Deutschland hat sich durch dieses Engagement in der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der
EU als zuverlässiger Partner erwiesen. Das soll mit uns
auch in Zukunft so bleiben, insbesondere da es sich bei
der anstehenden Anpassung des Atalanta-Mandats nicht
um eine neue Qualität des Mandats handelt. Es geht
nicht darum - wie von der Opposition oft beschrieben
und in wilden Szenarien farbig dargestellt -, die Kämpfe
an Land zu tragen, sondern darum, es gar nicht erst zu
Kämpfen auf See kommen zu lassen.
({3})
Wenn die EU-Operation in Zukunft bis zu einer Tiefe
von maximal 2 Kilometern ins Land hinein gegen logistische Einrichtungen der Piraten am Strand vorgehen
kann, wird die Handlungsfähigkeit der Piraten weiter
eingeschränkt, und es wird verhindert, dass diese vor den
Küsten Somalias gesucht und aufgebracht werden müssen. Somit entspricht es der Logik des Einsatzes, diese
defensive, abschreckende Wirkung der Operation weiter
zu stärken, indem wir ein eindeutiges Signal an die Piraten senden: Wir werden Akte der Piraterie bereits im
Keim ersticken!
Man kann eben nicht - wie die SPD in der letzten Lesung oder auch jetzt gerade angeklungen - Nein zu dieser Anpassung des Mandats und Ja zum Kampf gegen
Piraterie auf See sagen.
({4})
Ein Opt-out, ich nenne es einfach einmal Rosinenpickerei, ist hier nicht möglich. Die Bekämpfung der Piraterie
auf See und der logistischen Einrichtungen der Piraten
an den Stränden sind zwei Seiten derselben Medaille.
Deshalb wird hier auch keine Mandatserweiterung zusätzlich zur Abstimmung gestellt, sondern es wird im
Paket entschieden. Ein Nein zu dieser Ausweitung ist
und bleibt ein Nein zu der gesamten EU-Operation.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, hier geht es um Verantwortung, um Ihre Mitverantwortung gegenüber den deutschen Soldatinnen und Soldaten, unseren Partnern in der EU und letztlich auch
gegenüber der Kontinuität unserer Außenpolitik. Wenn
Sie diese Anpassung nicht mittragen möchten, geht das
auch zulasten unserer Bündnisfähigkeit in der EU. Es ist
nämlich auch ein Wert der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an sich, dass Deutschland ein verlässlicher Bündnispartner ist. Mit einer Ablehnung des Mandats stellen Sie die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit
des deutschen Beitrags nicht nur an der Operation Atalanta, sondern an der gesamten GSVP infrage.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein zu
hoher Preis dafür, dass die SPD mit einer Ablehnung von
Atalanta in Wahrheit Piratenbekämpfung in Deutschland
betreibt.
({5})
Mir ist schon klar, dass Ihre Fraktion langsam nervös
wird, nachdem Sie bei den letzten beiden Landtagswahlen weit weg von den eigenen Erwartungen lagen und
immer hinter der CDU gelandet sind.
Bei der anschließenden Abstimmung sollten aber ausschließlich außenpolitische Erwägungen maßgeblich
sein. Dieses Thema ist zu wichtig, um es dafür zu missbrauchen, der Regierung - wie zitiert - „mal klare
Kante“ zu zeigen. Ich bedaure es deshalb sehr, dass offensichtlich der Fraktionsvorsitzende Steinmeier und der
Parteivorsitzende Gabriel nicht genügend Kraft hatten,
um zumindest eine Enthaltung der SPD zu erwirken. Der
bisherige fraktionsübergreifende Konsens zum AtalantaMandat sollte nicht aus parteitaktischen Überlegungen
zur Disposition stehen.
({6})
Dies sind wir alle den deutschen Soldatinnen und Soldaten schuldig, die im Rahmen von Atalanta ihren Dienst
tun. Daher stimmen wir für die Anpassung des Mandats.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt Christine
Buchholz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundesregierung sagt, Atalanta sei erfolgreich.
({0})
Ich frage: Wenn Atalanta so erfolgreich ist, warum dann
die Ausweitung? Nein, die Ausweitung ist Ergebnis des
Misserfolgs. An Land soll nun das erreicht werden,
wozu der Marineeinsatz auf See nicht fähig ist; aber das
ist ein fataler Trugschluss.
Die Regierung sagt, es gehe nur darum, Boote, die unbewacht am Strand lägen, und Piratenlogistik zu zerstören. Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass die Piraten immer ihre Taktik an neue Bedingungen angepasst
haben. Nichts ist einfacher für die Piraten, als beispielsweise Geiseln in ihren Camps zu platzieren. Und was
dann?
({1})
Herr de Maizière ging so weit, zu sagen - ich zitiere -:
Ob man ein Schiff auf dem Wasser, am Ufer oder
am Strand bekämpft, ist qualitativ das Gleiche …
Herr de Maizière, Sie verwischen hier bewusst die
Grenzen. Sie wissen genau, dass sich das Risiko erhöht,
in einen Krieg an Land hineingezogen zu werden, wenn
man anfängt, Ziele an der Küste zu beschießen.
({2})
Was ist, wenn die 2 Kilometer nicht mehr ausreichen?
Stimmen wir dann das nächste Mal über 20 oder 200 Kilometer ab? Wo ist das Ende?
Herr de Maizière hat in der ersten Lesung die Ausweitung der Atalanta-Mission folgendermaßen begründet:
Es gibt auch ein hohes Risiko von Kollateralschäden beim Wirken auf See.
Entschuldigen Sie, was ist denn das für ein Argument? Herr de Maizière, was Sie „Kollateralschäden“
nennen, das nennen wir und das nennt die Bevölkerung
den Tod von Menschen. Zu Recht war „Kollateralschaden“ das Unwort des Jahres 1999.
({3})
Die Piratenjagd trifft immer wieder jene, die Sie angeblich schützen wollen. Der jüngste uns bekannte Vorfall ist dieser: Am 25. März legt ein jemenitisches
Fischerboot mit zwei toten Fischern an Bord an der
Küste Puntlands im Norden Somalias an. Ein nicht identifiziertes Kriegsschiff im Golf von Aden hatte die
Fischer für Piraten gehalten, zwei von ihnen wurden erschossen, und die übrigen Männer wurden festgesetzt.
Der tragische Tod dieser Fischer ist kein Kollateralschaden, Herr de Maizière; er ist ein Verbrechen.
({4})
Er ist kein Einzelfall. Neben Atalanta finden noch andere Militäroperationen vor dem Horn von Afrika und in
Somalia statt.
Ein Beispiel. Gumbah ist ein kleines Fischerdorf an
der Küste Puntlands. Die Bewohner von Gumbah mussten am Abend des 16. Aprils entsetzt beobachten, wie
ein Kampfhubschrauber unbekannter Herkunft sieben
Raketen auf die Boote lokaler Fischer abschoss, die direkt vor der Küste ihre Netze ausgeworfen hatten. Zwei
Boote wurden getroffen. Der Bürgermeister von Gumbah hat auf Nachfrage von Reportern bestätigt, dass dies
nicht der erste derartige Angriff war. Allein im letzten
Monat kam es zu drei weiteren Hubschrauberangriffen
dieser Art. Solche Vorgänge können von der Mission
Atalanta in Zukunft nicht mehr getrennt werden. Wir
bleiben dabei: Die Ausweitung des Atalanta-Mandats ist
eine Kriegserklärung gegen die Zivilbevölkerung in Somalia.
({5})
An dieser Stelle ein Wort an die Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen. Wir begrüßen es sehr,
dass Sie Ihre Haltung zu der Ausweitung dieses Mandats
geändert haben. Wir denken, dass das Argument, die bisherige Mission sei vorbehaltlos zu unterstützen, nicht logisch ist. Wenn, wie Herr Arnold gesagt hat, die Ausweitung eine Scheinlösung ist, muss man doch sehen, dass
die Eskalation des Einsatzes schon viel früher begann.
Die Piraten haben ihre Taktik angepasst. Das Operationsgebiet wurde ausgeweitet. Der Einsatz wurde robuster gemacht. Wir sagen: Das ganze Atalanta-Mandat
ist von Anfang an nur eine Scheinlösung gewesen.
({6})
Piraterie fällt nicht vom Himmel; sie hat soziale Wurzeln. Kriminelle Strukturen wie die der Piraten können
nur funktionieren, wenn mafiöse Geschäftemacher junge
Leute ohne Perspektive rekrutieren können. Wenn Sie
dies der Linken nicht glauben wollen, dann glauben Sie
es vielleicht Abdulkadir Afweyne, dem Sohn eines der
bekanntesten somalischen Piraten. Er sagte in einem Interview vor drei Monaten: Bevor wir uns an der Piraterie
beteiligten, waren wir Fischer. Unsere Boote wurden von
Schiffen zerstört, die illegal zum Fischfang in unseren
Gewässern waren, und Piraterie war unsere Antwort. Afweyne antwortete auf die Frage, wie Piraterie beendet
werden kann: Zunächst einmal müssen wir wieder
fischen können, ohne von Anti-Piraten-Kräften oder ausländischen illegalen Fischereischiffen eingeschüchtert
zu werden.
({7})
Außerdem sagte er: Wir können helfen, Piraterieaktivitäten zu stoppen, wenn es die Welt interessiert. Wir
sind nun bereit, uns an einen runden Tisch zu setzen, und
wir werden die Piraterie in unserer Region stoppen.
Das Problem ist, dass die Bundesregierung gar nicht
zum Gespräch fähig ist. Auf Anfrage der Linken nach
dem Kenntnisstand zu den lokalen Strukturen in der
Küstenregion antwortete die Bundesregierung jüngst:
Die derzeitigen Zustände in Somalia … lassen die
Erarbeitung detaillierter Kenntnisse … nicht zu.
Sie handeln also frei nach dem Motto: Erst schießen,
dann fragen.
Die Bundesregierung - wie der Rest der beteiligten
europäischen Staaten - bekämpft die Piraterie völlig
blind. Einzig die Zustimmung der korrupten ÜbergangsChristine Buchholz
regierung können Sie als Legitimation für einen Einsatz
über somalischem Gebiet angeben.
Wir sagen: Atalanta ist ungeeignet, die Piraterie zu
stoppen. Aber darum geht es nicht; das hat Herr MüllerSönksen noch einmal deutlich gesagt. Es geht darum, der
Bundesmarine einen Dauereinsatz zu verschaffen, in
dem für 100 Millionen Euro im Jahr geübt wird.
({8})
Atalanta ist nur ein Baustein einer deutschen Außenpolitik, die seit Ende der 90er-Jahre nahezu ununterbrochen
an irgendeinem Krieg in der Welt beteiligt ist.
({9})
Deshalb haben wir zu diesem Mandat immer Nein gesagt, und dabei bleiben wir.
({10})
Jetzt hat der Kollege Frithjof Schmidt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor fünf Jahren hat meine Fraktion mit großer Mehrheit
dem Atalanta-Mandat zugestimmt.
({0})
Wir sind überzeugt, dass das Mandat vom November
richtig ist. Im Auftrag der Vereinten Nationen hilft der
Einsatz der Europäischen Union, die Nahrungsmittelversorgung der somalischen Bevölkerung zu sichern. Er
schützt die Schiffe des Welternährungsprogramms gegen
Piraten. Er hilft bei der Versorgung der Mission der Afrikanischen Union in Somalia. Er schützt den freien Zugang zur hohen See für die zivile Schifffahrt in der
Region. Das alles halten wir für notwendig, und wir unterstützen die deutsche Beteiligung daran.
({1})
Das Mandat zeigt Erfolge, auch wenn ein umfassender Ansatz zur Beseitigung der Ursachen der Piraterie
fehlt. Wir alle wissen, dass eine langfristige Entwicklungsstrategie für Somalia dafür entscheidend ist.
({2})
Seit 2010 ist kein Schiff des Welternährungsprogramms mehr gekapert worden. Die Verantwortlichen
dieses Programms für die Versorgung der Menschen in
Somalia sagen uns klar, dass sie diesen Schutz brauchen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wir hatten bisher dazu einen breiten Konsens. Uns ist ganz unverständlich, warum Sie mit der unnötigen Ausdehnung
des Mandats diesen Konsens infrage stellen.
({3})
Im November haben Sie zu Recht damit geworben, dass
dieser Einsatz erfolgreich ist. Alle Probleme, über die
wir heute reden, gab es damals ganz genauso. Natürlich
wussten alle Bescheid über die Rückzugsräume der Piraten in den Küstengebieten. Die Entscheidung, das Mandat auf einen Einsatz auf See zu begrenzen und nicht
über dem Land zu operieren, ist politisch ganz bewusst
getroffen worden. Es hat Risikoanalysen gegeben, und
die Entscheidung war negativ, mehrfach, zuletzt im November, für ein ganzes Jahr.
Jetzt legen Sie uns nach wenigen Monaten die qualitative Ausdehnung des Mandats auf Luft-Boden-Operationen über dem Land vor: bis zu 2 Kilometer tief ins
Land hinein, auf 3 000 Kilometer Küstenlänge, akkurat
nach Abschnitten eingeteilt. Sie können dabei nicht konkret erklären, warum Sie das jetzt plötzlich tun. Herr
Westerwelle, was ist denn zwischen November und
April am Horn von Afrika Neues passiert, das eine solche qualitative Ausdehnung des Einsatzes notwendig
macht? Nichts!
({4})
Sie führen für diesen einschneidenden Schritt keine einzige stichhaltige Begründung an.
({5})
Stattdessen tun Sie so, als ginge es um eine Kleinigkeit.
Herr de Maizière hat bei der ersten Lesung hier gesagt
- Zitat -:
Es handelt sich um eine kleine Ausweitung, eine
kleine sinnvolle zusätzliche militärische Option …
Eine Kleinigkeit? - Herr Minister, der Einsatz deutscher
Kampftruppen über dem Boden in Somalia ist ein Hochrisikoeinsatz und keine Petitesse, und das wissen Sie
auch ganz genau.
({6})
Weil Sie das wissen, haben Sie ausdrücklich in das Mandat geschrieben, dass für Rettungsaktionen auch Truppen am Boden eingesetzt werden können.
({7})
Sie müssen einräumen, dass das Mandat des Europäischen Rates den Ausschluss von Bodeneinsätzen für alle
anderen Partner nicht vorsieht. Sie kennen das Risiko.
Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie auf, die neue Qualität des Einsatzes kleinzureden.
Erstmalig wird die Kriegführung an Land erlaubt.
Dort sollen unsere Soldaten Boote, Waffenlager und
Treibstofftanks mit Hubschraubern angreifen. Dabei sollen sie aber darauf achten, dass keine Menschen in der
Nähe sind; als würden die Piraten nicht Tarnung und
Schutz in Siedlungen suchen. Im Mandat wird natürlich
gefordert, alles zu tun, um zivile Opfer zu vermeiden;
leider wird dieses selbstverständliche Ziel bei schwierigen Einsätzen manchmal nicht erreicht. Das ist eine bittere Erfahrung aus Einsätzen der NATO und aus über einem Jahrzehnt Auslandseinsätze der Bundeswehr. Diese
Erfahrung haben wir gerade bei Angriffen aus der Luft,
um die es bei der Mandatserweiterung ausdrücklich
geht, gemacht. Es sind zivile Opfer zu befürchten und
damit in den Augen der somalischen Bevölkerung die
Delegitimierung einer legitimen Mission. Das gilt auch
für die Akzeptanz in Europa. Sie verlieren die Zustimmung der Zivilgesellschaft. „Brot für die Welt“ und der
Evangelische Entwicklungsdienst haben sich klar gegen
die Mandatsausweitung ausgesprochen. Im Fall eines
Absturzes oder Abschusses eines Hubschraubers kann es
schnell zur Eskalation von Kämpfen am Boden kommen. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie mit diesen Luftoperationen die Piraterie essenziell an der Wurzel treffen und beseitigen.
Die Mandatsveränderungen sind riskant, und ihre Absicht ist leicht durch die Piraten zu durchkreuzen. Entweder verlegen die Piraten ihre Infrastruktur in bebaute
Gebiete oder weiter als 2 Kilometer ins Inland. Dann
werden Sie wieder hier stehen und ganz schnell eine Debatte um eine erneute Ausweitung des Einsatzgebietes
führen.
Ich kann hier für meine Fraktion erklären: Wir werden einer solchen falschen und riskanten Ausweitung
des Einsatzes nicht zustimmen. Die große Mehrheit von
uns wird sich enthalten. Wir halten das im November beschlossene Mandat für richtig und ausreichend und lehnen die vorgeschlagenen Erweiterungen ab. Daher können wir nicht mit Ja stimmen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, abschließend möchte ich Ihnen sagen: Wir wissen, dass
viele von Ihnen - auch die Bundesregierung - der von
Frankreich und Großbritannien betriebenen Ausdehnung
des Mandates lange sehr skeptisch gegenübergestanden
haben. Sie haben sich mit Ihren Bedenken und Einwänden in Brüssel aber nicht durchsetzen können. Das ist
das politische Problem. Ich sage Ihnen: Wir werden Ihnen nicht dabei helfen, diese europäische Fehlentscheidung wider besseres Wissen zu legitimieren.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Guido
Westerwelle.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Noch immer befinden sich 7 Schiffe und rund 210 Seeleute in der Gewalt
von Piraten. Sie fürchten um ihr Leben. Sie sind mit dem
Tode bedroht. Noch immer bedrohen Piraten die freie
Seefahrt und die Hilfslieferungen für Somalia, die für
Millionen hungernder Menschen überlebenswichtig
sind. Noch immer verdienen Kriminelle mit Kaperungen
und mit Geiselnahmen Millionen. Vor dem Hintergrund
dieser Lage betrachtet es die deutsche Bundesregierung
nicht nur als ihr Recht, sondern auch als ihre menschliche Verpflichtung, Piraterie robust und beherzt zu bekämpfen und unsere eigenen deutschen Seeleute zu
schützen.
({0})
Das, was Sie an Bedenken vorgetragen haben, ist vor
allem unter dem Gesichtspunkt, dass Atalanta eine EUgeführte Mission ist, besonders bemerkenswert. Sie
wurde übrigens im Jahr 2008 beschlossen. Der damalige
Bundesaußenminister, Frank-Walter Steinmeier, hat das
erste Atalanta-Mandat in den Deutschen Bundestag eingebracht. Herr Erler, wenn Herr Steinmeier Ihre Rede
hätte hören müssen, dann wäre er hinausgegangen, um
sich zu schämen.
({1})
Denn mit Verlaub gesagt: Jeder weiß doch, wie Sie in
der Fraktion miteinander gerungen haben. Herr
Steinmeier ist nicht hier, weil er mit dieser neuen Entscheidung Ihrer Fraktion ja gar nicht einverstanden ist.
Das wissen wir.
({2})
Darüber ist offenkundig auch in der Presse berichtet
worden.
Sie sagen, das sei nicht das Vorzeichen eines außenpolitischen Strategiewechsels der SPD. Wir hoffen das
sehr. Die Zeit wird es zeigen. Ich glaube, Ihre heutige
Entscheidung hat mehr mit Wahlkämpfen zu tun als mit
der Interessenwahrnehmung deutscher Außenpolitik.
({3})
Die Zeit wird es zeigen.
Herr Kollege, Sie haben gefragt: Was hat sich seit
dem letzten Mandat bis heute verändert? Das ist eine berechtigte Frage. Inzwischen gibt es einen Beschluss der
Europäischen Union,
({4})
und zwar einen Beschluss von 27 Mitgliedstaaten, abgestimmt mit der somalischen Übergangsregierung, unterstützt von den Resolutionen der Vereinten Nationen. Das
hat sich geändert.
({5})
Ich erinnere mich noch an eine Debatte, in der Sie mir
und der Bundesregierung mangelnde Bündnistreue vorgeworfen haben, nämlich als wir entschieden haben,
nicht mit Soldaten nach Libyen zu gehen. Dass Sie sich
heute aus der europäischen Politik abseilen, bedeutet nur
eines: Erinnern Sie uns niemals wieder an Bündnistreue,
meine Damen und Herren von der Opposition,
({6})
niemals wieder!
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Arnold?
Nein.
({0})
- Wenn Ihr Seelenheil davon abhängt, ändere ich meine
Meinung. Herr Arnold, bitte sehr.
Herr Außenminister, mein Seelenheil hängt in der Tat
nicht davon ab.
Dann brauchen Sie ja nicht zu fragen.
({0})
Ich möchte der Klarheit halber fragen und um der
korrekten Information willen, die mir sehr wichtig ist.
Deshalb bedanke ich mich, dass Sie diese Frage zulassen.
Es ist bemerkenswert, dass Sie in den letzten Minuten
die internationale Solidarität in den Mittelpunkt Ihrer
Rede gestellt haben. Können Sie sich noch daran erinnern, dass diese internationale Solidarität eben nicht eingehalten wurde - und zwar exakt von Ihrer Partei mit Ihnen als Fraktionsvorsitzendem -, als es um die
Entscheidung zum Libanon ging, dass Sie das abgelehnt
haben?
({0})
Können Sie sich daran erinnern, dass Sie in Ihrer
neuen Funktion als Außenminister die wichtige internationale Solidarität ebenfalls nicht beachtet haben, als es
im Falle von Libyen darum ging, bei den Vereinten Nationen mit einem richtigen und ethisch gebotenen Ja zu
antworten? Und können Sie sich als Letztes daran erinnern, dass unser Nein zu Ihrem heutigen Mandat nicht
dazu führt, dass nichts da ist? Vielmehr führt unser Nein
dazu, dass das bisherige Mandat Atalanta, wie im Dezember beschlossen, weiter gilt. Das Mandat gilt, wenn
man heute mit Nein stimmt.
({1})
Das ist allerdings eine Argumentationslinie, die Sie
mehr zur Beruhigung Ihrer eigenen Fraktion vortragen,
weil nämlich die Hälfte davon in dieser Frage auf der anderen Seite steht.
({0})
Darauf brauche ich nicht einzugehen.
Aber ich will auf einen Punkt eingehen, bei dem Sie
recht haben. Ich erinnere mich noch sehr genau daran,
dass ich als Fraktionsvorsitzender seinerzeit das
UNIFIL-Mandat, bei dem es um einen Einsatz vor der
Küste des Libanon ging, abgelehnt habe. Ich erinnere
mich auch noch an die Rede, die ich dazu gehalten habe,
weil es eine für mich sehr schwierige Rede war. Es ging
nämlich um die Frage, ob wir dort, in der Nähe zu Israel,
mit deutschen Soldaten präsent sein sollten, und was es
bedeuten würde, wenn wir als Deutsche beispielsweise
in eine Kampfhandlung hineingezogen werden könnten.
Es gibt einen Unterschied zwischen uns: Wir haben es
abgelehnt. Die damalige Regierung hat es beschlossen,
der damalige Deutsche Bundestag hat mit großer Mehrheit zugestimmt. Wir waren in der Minderheit. Als wir
dann in die Regierungsverantwortung gewählt wurden,
war es für meine Fraktion und auch für mich als Außenminister völlig selbstverständlich, dass die internationalen Verpflichtungen, die von der Vorgängerregierung
eingegangen worden sind, von uns verantwortungsvoll
erfüllt und fortgesetzt werden. Nichts anderes erwarte
ich von Ihnen, als dass die internationalen Verpflichtungen, die Sie selbst 2008 eingegangen sind, für Sie auch
heute noch gelten. Nichts anderes erwarten wir von Ihnen.
({1})
Meine Damen und Herren, die Einsatzkräfte dürfen
dabei eben nicht am Boden eingesetzt werden. Kein
deutscher, kein europäischer Atalanta-Soldat wird somalischen Boden betreten. Dass etwaige Rettungsaktionen
davon unberührt sind, ist eine Selbstverständlichkeit.
Was für einen Popanz bauen Sie hier vor der Öffentlichkeit auf? Es ist doch wohl das Selbstverständlichste
- das Gebot der Nothilfe gilt bei jedem Mandat -, dass
wir, wenn unsere Soldaten oder Soldaten unserer Verbündeten in Not geraten - etwa weil sie abgeschossen
worden sind oder notlanden müssen -, sie herausholen
werden. Das machen wir immer so! Das machen wir
überall!
({2})
Und das erwarten wir auch von unseren Verbündeten,
wenn unsere deutschen Soldaten gefährdet sind. Das hat
mit diesem Mandat überhaupt nichts zu tun.
Natürlich behauptet niemand, meine sehr geehrten
Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen der Opposition, dass wir jetzt einen Königsweg gefunden haben
und dass damit die Piraterie so bekämpft ist, dass alles
vorbei ist. Wir wissen - darauf komme ich gleich noch -,
dass dafür viel mehr notwendig ist.
Aber eines muss man unseren Soldaten doch einmal
sagen: Dass sie die Piraterie - deren Waffen und Logistik - zwar auf See bekämpfen dürfen - da dürfen Terror
und Gewalt unschädlich gemacht werden -, sobald die
Piraten aber mit ihren Waffen den Strand betreten haben,
dabei zusehen müssen und nichts machen dürfen, das ist
absolut unvernünftig. Es ist richtig, den Piraten den Einsatz von Waffen und Gewalt so weit es geht zu erschweren.
({3})
Darum geht es. Und das tun wir mit der entsprechenden
Mandatierung.
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, dieses Mal vom Kollegen Ströbele?
({0})
Herr Kollege Ströbele, ich freue mich natürlich auch
auf Ihre Zwischenfrage. - Bitte sehr.
Herr Außenminister, Sie haben diese Frage selbst angeregt, indem Sie das Beispiel gebracht haben, dass Rettungsaktionen notwendig und richtig sind, wenn ein
Bundeswehrhubschrauber abgeschossen wird oder notlanden muss und Bundeswehrsoldaten sich infolgedessen im Uferstreifen befinden oder wenn das Alliierten
passiert.
Denken Sie auch an den Fall, dass Alliierte mit Truppen in den Küstenstreifen gehen? Ich meine den Fall,
dass sie dort selbst einen Kampfauftrag ausführen
({0})
und versuchen, den Streifen zu erobern und Leute - beispielsweise Al-Schabab-Milizen - zu vertreiben. Wird
die Bundeswehr auch dann eingreifen, wenn Verbündete
in diesem Fall in eine kritische Situation geraten?
({1})
Sie wissen, dass andere Nationen die von Ihnen genannte Einschränkung auf reine Aktionen zur Rettung
von Personen, die unverschuldet in Not geraten sind,
nicht haben. Ist Ihnen bekannt, dass inzwischen gerade
die Al-Schabab-Milizen Piraterie an der Küste Somalias
als Geldquelle entdeckt haben und dort in nicht unerheblicher Größenordnung agieren? Wird die Bundeswehr,
wenn sie mit Hubschraubern direkt darüber ist, dann beidrehen und zurückfliegen, weil sie sagt: „Das ist nicht
unsere Aufgabe“?
({2})
Wird die Bundeswehr - das ist der letzte Teil der
Frage - auch dann nicht eingreifen, wenn die Milizen
beispielweise ein Tanklager in dem Küstenstreifen haben
und sich Männer, Frauen und Kinder in der Nähe befinden? Werden die Hubschrauber der Bundesmarine dann
abdrehen und zum Schiff zurückkehren?
Können Sie mir diese Fragen beantworten? Denn ich
befürchte, dass wir durch den Einsatz der Bundeswehr
an Land bald hier in Deutschland Bilder von sogenannten Kollateralschäden an Menschen, die an der Küste
Somalias durch die Bundeswehr verursacht werden, bekommen werden.
({3})
Zunächst einmal ein herzlicher persönlicher Appell
an Herrn Kollegen Trittin als anwesenden Vorsitzenden
der Bundestagsfraktion der Grünen: Bitte erleichtern Sie
uns allen doch die Debatten, indem Sie Herrn Ströbele
ab und zu mal Redezeit geben, damit er nicht immer Reden in Frageform einbringen muss!
({0})
Herr Kollege Ströbele, ich muss Ihnen ehrlich sagen:
Diese Invasionsgedanken, die Sie hier in Frageform kleiden, sind so was von absurd.
({1})
Sie unterstellen hier allen Ernstes unseren Verbündeten,
die die Piraterie bekämpfen wollen, invasionsähnliche
Gedanken. Dass man das von der Linkspartei hört, ist
schwer genug; dass man das auch noch von Ihnen hören
muss, ist, offen gestanden, nichts anderes als ein Ausdruck einer völligen Verirrung in der Betrachtung unseres Bündnisses.
({2})
Das hat mit der Realität überhaupt nichts mehr zu tun.
({3})
- Auf diesen Punkt komme ich gleich zu sprechen.
Ich will Ihnen noch etwas sagen - ich habe oft mit Ihnen auch im Auswärtigen Ausschuss darüber gesprochen; wir können das hier gerne wiederholen; wir haben
oft darüber in diesem Deutschen Bundestag gestritten
und uns auseinandergesetzt -: Einen Soupçon, den Sie in
dieser Debatte immer wieder einbringen, kann ich nicht
nachvollziehen - so als wäre die Piraterie zunächst einmal das Ergebnis von armen Menschen, denen die Fischereigründe genommen würden,
({4})
und als müssten die Menschen gewissermaßen aus Notwehr zu Piraten werden. Ich muss Ihnen ehrlich sagen:
Das ist eine völlige Verkennung dieser riesigen organisierten Kriminalität. Diese Romantisierung von Piraterie
zulasten unserer Handelswege, mit der Bedrohung unserer Landsleute und der Gefährdung unserer Seewege, ist
nur noch naiv bis absurd, Herr Kollege.
({5})
Was den Operationsplan angeht: Sie sind doch Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Sie waren doch im
Ausschuss dabei. Staatsminister Link hat Ihnen doch alles ausführlich erläutert. Es ist doch vorgetragen worden.
Der Punkt ist: Sie wissen ganz genau, dass der Deutsche
Bundestag öffentlich tagt und dass es hier um militärische Überlegungen geht. Die EU-Definition von
„Strand“ - worauf Sie anspielen - ist im Operationsplan
festgelegt. Sie als Abgeordneter können diesen Operationsplan jederzeit einsehen und lesen. Dann wüssten
Sie, dass das alles nicht stimmt. Was Sie wollen, ist, dass
ich die Geheimschutzpflicht verletze, das tue ich aber
nicht. Wir sind in einem Bündnis, und ich halte mich an
die Regeln, die wir gemeinsam im Bündnis verabredet
haben, auch wenn das für Sie Klamauk ist.
({6})
Ich will auf einen weiteren Punkt eingehen, der von
großer Bedeutung ist. Atalanta ist in eine umfassende
Politik zur Unterstützung Somalias eingebettet. Wir lindern mit unserer humanitären Hilfe das Leid von Millionen von Menschen. Wir fördern den Verfassungsprozess
und den Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in Somalia.
Wir unterstützen die Schaffung eines sicheren Umfeldes
durch die Beteiligung an der EU-Trainingsmission Somalia und durch die Ausbildung afrikanischer Polizisten
als Trainer und Berater für die somalische Polizei. Wir
helfen mit erheblichen Finanzmitteln der Mission der
Afrikanischen Union in Somalia. Wir beteiligen uns an
den Anstrengungen der EU und unserer afrikanischen
Partner, regionale Küstenwachen aufzubauen. Außerdem
wenden wir uns verstärkt der Unterbindung der Finanzströme der Piraterie zu. Wir haben eine internationale
Arbeitsgruppe eingesetzt, die zur Aufdeckung der aus
Piraterie resultierenden Finanzströme beitragen soll. Ich
füge hinzu, weil es nicht im Mittelpunkt der Debatten
steht: Wenn wir Piraterie bekämpfen wollen, dann müssen wir zum einen gegen Gewalt vorgehen, aber wir
müssen auch die Ursachen bekämpfen, sprich: die Finanzströme der Lösegelder versiegen lassen.
({7})
Wir tun sehr viel mehr, als einfach unsere Streitkräfte
einzusetzen. Darauf sind wir stolz, auch auf das, was unsere Soldatinnen und Soldaten tun.
Es geht hier um eine Mission zur Sicherung von Lebensmitteltransporten. Es ist wichtig, dass diese Mission
fortgesetzt wird. Ich bedauere von Herzen, dass Sie aus
vorgeschobenen innenpolitischen Gründen bei der Pirateriebekämpfung nicht mehr mitmachen.
({8})
Ich hoffe, das ist nicht das Vorzeichen eines Richtungswechsels in der Außenpolitik der Opposition. Ich hoffe,
dass Sie wieder zur Vernunft zurückkehren werden. Die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen sind jedenfalls der Überzeugung, dass wir bei der Piraterie
nicht zusehen dürfen. Wir sind die wichtigste und größte
Handelsnation in Europa. Deswegen wäre es unverantwortlich, wenn wir den Schutz unserer Seeleute und der
Handelswege ausgerechnet allen anderen überlassen
würden, aber selber nicht mehr mitmachen wollten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Aus der Fraktion der Grünen ist mir ein Geschäftsordnungsantrag signalisiert worden. Bitte schön, Sie haben
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank. - Der
Minister hat es gerade angesprochen: zusätzliche Redezeit für die Fraktion der Grünen. Diese beantrage ich
hiermit. Ich berufe mich auf § 44 Abs. 2 der Geschäftsordnung:
Erhält während der Aussprache ein Mitglied der
Bundesregierung, des Bundesrates oder einer ihrer
Beauftragten zu dem Verhandlungsgegenstand das
Wort, so haben die Fraktionen, deren Redezeit zu
diesem Tagesordnungspunkt bereits ausgeschöpft
ist, das Recht, noch einmal ein Viertel ihrer Redezeit in Anspruch zu nehmen.
({0})
Ich bitte, darüber zu entscheiden. - Vielen Dank.
Bitte schön, Kollege Kaster.
Herr Präsident! Die Regelung des § 44 der Geschäftsordnung findet in dieser Form hier keine Anwendung.
Den Fall hatten wir schon des Öfteren. Es handelt sich
um Redezeiten, die im Rahmen der Kontingente der
Fraktionen vergeben worden sind.
({0})
Es spielt auch eine Rolle, dass eine andere Oppositionsfraktion anschließend noch das Wort erhält. Ein Fall, in
dem § 44 Abs. 2 der Geschäftsordnung zur Anwendung
kommen könnte, liegt hier nicht vor.
({1})
Hier liegt lediglich der Fall vor, dass man, wenn man argumentativ in die Defensive kommt, als letztes Mittel
versucht, einen Geschäftsordnungsantrag zu stellen. Von
daher ist er abzulehnen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der mir bekannten Auslegung des § 44 Abs. 2 der Geschäftsordnung gilt das, was dort steht, in dem Fall, dass ein
Mitglied der Bundesregierung etc. zusätzlich zu der vereinbarten Redezeit das Wort ergreift
({0})
und nicht innerhalb des Redekontingents.
({1})
- Es gilt die bisherige Auslegung, die, soweit ich weiß,
durch unseren Geschäftsordnungsausschuss noch einmal
bestätigt worden ist.
({2})
Deswegen fühle ich mich genötigt, mich genau daran zu
halten, und empfehle - damit es weiter friedlich zugeht -, dass aus Ihrer Fraktion eine Kurzintervention angemeldet wird. Dann kann die Debatte auf dieser Ebene
fortgesetzt werden.
Jetzt erteile ich dem Kollegen Gehrcke das Wort zu
einer Kurzintervention.
({3})
Kolleginnen und Kollegen, den Ausruf „Oje!“ kann
ich verstehen. Mir geht es jetzt um Aufklärung und um
die Logik, Herr Außenminister. Wenn es geht, hätte ich
gerne zusätzliche Auskünfte zu drei Aussagen, die Sie
getätigt haben.
Punkt eins. Auf die Frage, welche Veränderungen
dazu geführt haben, dass das Mandat jetzt erweitert werden soll - ich will mich nicht dahinter verstecken; ich
hätte sowieso dagegen gestimmt -, haben Sie geantwortet: die Bündnisverpflichtungen und die Bündnisverabredungen. Sie nannten kein weiteres Argument. Das
heißt, Sie haben ein Argument eingeführt - ich finde
Bündnisverpflichtungen nicht unwichtig -, das überhaupt nichts mit der Bekämpfung von Piraterie oder mit
Somalia zu tun hat, sondern das sich auf ein ganz anderes Feld bezieht. Daraus schlussfolgere ich, dass sich bei
der Pirateriebekämpfung offensichtlich nichts verändert
hat. Das sollten Sie dann hier auch so erklären. Das zur
Klärung der Logik.
Zweitens. Ich möchte gerne verstehen - das würde
meinem Gemüt guttun -, warum der SPD vorgeworfen
wird - das ist eigentlich nicht mein Problem -, dass sie
aus Wahlkampfgründen dagegen stimmt. Darf ich daraus
schlussfolgern, dass man heutzutage mit der Verweigerung der Zustimmung zu Militäraktionen mehr Wählerinnen- und Wählerstimmen gewinnt als mit der Zustimmung zu Militäraktionen? Wenn das so sein sollte,
würde ich das aus meiner Sicht außerordentlich begrüßen. Dazu müssten Sie sich einmal erklären.
Der dritte Punkt ist ein bisschen komplizierter. Welche Aussagen hat die Regierung getätigt, aber bisher hier
nicht erklärt? Ich finde, die Abgeordneten haben ein
Recht, zu wissen, was der Hintergrund ist. Auf die
Frage, ob das erweiterte Mandat möglicherweise zu Einsätzen auf dem Land führt, wurde die korrekte Antwort
gegeben: Wenn eine Nation Fähigkeiten zu Landoperationen hat, zum Beispiel Spezialtruppen besitzt, und sich
zu einem solchen Einsatz entschließt, dann muss diese
Nation für den Zeitraum, in dem diese Truppen eingesetzt werden, aus Atalanta ausscheiden; ansonsten bleiben aber alle Verpflichtungen bestehen. - Das heißt, dass
Sie unterstellen und damit rechnen, dass sich Partner
möglicherweise für Landoperationen entscheiden. Und
in diesem Fall blieben die Hilfsaktionen im Rahmen des
Mandats weiterhin bestehen. Das heißt, man muss wissen, dass man, wenn man der Erweiterung des Mandats
zustimmt, für die Möglichkeit von Operationen auf dem
Land stimmt. Offensichtlich planen einige Teilnehmer
an der Atalanta-Operation solche Aktionen. Das hätte
ich gerne von Ihnen bestätigt. Ist das die korrekte Wiedergabe?
({0})
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile
ich Kollegin Kerstin Müller.
Herr Außenminister, Sie haben hier starke Geschütze
aufgefahren - von wegen Bündnissolidarität - und ein
bisschen populistisch Wahlkampf gemacht. Ich finde,
eine Partei, die bei Libyen und Libanon mit Bündnissolidarität gar nichts am Hut hatte, die dieses Argument
quasi einsetzt, wenn es gerade passt, sollte das hier nicht
in den Mund nehmen.
({0})
Weil Sie das am Ende ziemlich verdreht haben,
möchte ich für meine Fraktion noch einmal sehr klar
festhalten, was wir hier deutlich gemacht haben: Das ist
ein vernünftiger und sinnvoller Einsatz, dem wir mit
ganz großer Mehrheit in all den letzten Jahren zugestimmt haben. Wir unterstützen, dass die Schiffe des
World Food Programme geschützt werden. Wir unterstützen, dass es diese Absicherung auf See gibt. Wir sind
der Meinung, dass es sich um einen quasi polizeilichen
Einsatz handelt, der Erfolge zeigt. Er muss aber durch
eine Gesamt-Somalia-Strategie unterstützt werden. Das
haben wir hier deutlich gemacht. Das möchte ich für
meine Fraktion festhalten.
Die Fragen, die Kollege Schmidt gestellt hat, nämlich
was eigentlich von November bis heute passiert ist und
welche andere Sicherheitsanalyse es gibt, haben Sie
Kerstin Müller ({1})
nicht beantwortet; denn es gibt keine andere Sicherheitsanalyse mit Blick auf das Horn von Afrika.
({2})
Das hier ist eine ziemlich verlogene Debatte; das sage
ich mit Blick auf die Kolleginnen und Kollegen aus dem
Auswärtigen Ausschuss. Wir haben die Debatte dort gemeinsam geführt. Es gab auch seitens Ihrer Fraktion,
Herr Außenminister, seitens der FDP, und seitens der
CDU/CSU, große Vorbehalte.
({3})
- Ich habe daneben gesessen. - Es gab von Mitgliedern
der Koalitionsfraktionen die ausdrückliche Bitte an die
Bundesregierung, dass man von dieser Ausweitung des
Einsatzes absieht, weil sie ein Eskalationspotenzial birgt,
weil sie die Gefahr birgt, in einen Landkrieg hineingezogen zu werden. Heute wollen Sie von diesen Argumenten nichts mehr wissen, weil die Bundesregierung
dem Druck der Niederländer, der Briten und anderer
nachgegeben hat. Aber Sie teilen eigentlich unsere
Argumentation.
({4})
Letzter Satz. Ich finde es sehr bedauerlich, dass es Ihnen sozusagen egal ist, dass wir von dem Grundsatz,
dass Mandate von breiten Mehrheiten hier im Parlament
getragen werden - ich werbe seit Jahren dafür -,
Abstand nehmen. Sie sind dafür verantwortlich, dass Sie
jetzt keine breite Mehrheit mehr für das Atalanta-Mandat haben. Sie sind dafür verantwortlich, wenn aus einer
vernünftigen Mission eine Abenteuermission wird. Das
wollen wir hier mit unserem Abstimmungsverhalten
deutlich machen.
({5})
Kollege Westerwelle, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Ich will nicht auf alles eingehen, was gesagt worden
ist; das würde den Rahmen sprengen. Herr Kollege
Gehrcke, auf einen Punkt, den Sie angesprochen haben,
möchte ich hinweisen. Ich habe gesagt, dass alle anderen
Staaten in Europa dies gemeinsam erörtert haben und zu
dem Ergebnis gekommen sind, dass es sinnvoll ist. Ich
habe auch ausdrücklich erklärt - ich wiederhole das hier
noch einmal -: Ich bin der Überzeugung, die Bundesregierung ist der Überzeugung, dass der Einsatz der
Sache nach sinnvoll ist, und zwar aus folgendem Grund:
Bisher konnten Piraten am Strand, unmittelbar an der
Wasserlinie, Logistiklager mit Waffen aufbauen und
durften dort nicht von Atalanta bekämpft werden. Erst in
dem Augenblick, in dem sie das erste Mal auf dem Wasser waren, durfte man die Waffen vernichten. Damit hat
man es den Piraten leichter gemacht; das ist ja nicht
sinnvoll. Wir sind der Überzeugung, dass es richtig ist,
dass jetzt diese Logistiklager mit Waffen der Piraten am
Strand zerstört werden können. Das liegt in der Logik
des bisherigen Mandats.
({0})
Damit das ganz klar gesagt ist: Eine fachlich-sachliche
Erörterung hat uns zu dieser Überzeugung gebracht.
Das Zweite ist: In allen Regierungen in Europa sitzen
Damen und Herren der unterschiedlichsten politischen
Färbungen. Es sitzen dort solche aus den verschiedenen
Parteienfamilien. Alle sind der Überzeugung, dass es
sinnvoll ist, dass wir die Piraterie mit zivilen Mitteln
bekämpfen, aber auch, dass wir die Bekämpfung der aggressiven Piraterie zum Schutz unserer Boote, zum
Schutz unserer Menschen und zum Schutz der Hungernden in Somalia ausweiten müssen. Auffällig ist, dass alle
anderen, auch Angehörige Ihrer Parteifamilie, diese
Überzeugung fachlich und sachlich teilen, dass Sie aber
neuerdings, vor dem Hintergrund bevorstehender Wahlen, Ihre Position geändert haben. Darauf weise ich hin,
und dabei bleibe ich.
({1})
Frau Kollegin Müller, das, was Sie sagten, ist einfach
unzutreffend; hier nehme ich den Herrn Kollegen
de Maizière und das Verteidigungsministerium in
Schutz. Es ist unzutreffend, zu behaupten, es sei nicht
das Gespräch gesucht worden. Es sind genügend Kolleginnen und Kollegen aus den Ausschüssen anwesend,
die bestätigen können: Der Verteidigungsminister und
ich als Außenminister haben von Anfang an bzw. sehr
frühzeitig immer wieder das Gespräch mit Ihren Obleuten gesucht. Leute von Ihnen haben gesagt: Mal gucken,
ob wir das zu Hause überhaupt durchbekommen. - Die
haben gewusst, was für ein tiefer Riss durch die Opposition geht. Es ist schade, dass Sie sich gegen die Interessen unseres Landes und für die Interessen Ihrer Partei
entschieden haben. Das werde ich immer wiederholen.
({2})
Das Wort hat nun Stefan Rebmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit dem bisherigen AtalantaMandat haben wir das Ziel verfolgt, sicherzustellen, dass
die dringend benötigten Hilfslieferungen für die
Menschen in Somalia tatsächlich dort ankommen, wo sie
ankommen sollen. Wir als Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten stehen nach wie vor zu diesem Ziel.
Daran hat sich auch nach unserer Fraktionssitzung nichts
geändert.
({0})
Herr Westerwelle, ich muss Ihnen schon sagen: Es ist
eine Charaktereigenschaft von Ihnen, uns zu unterstellen, wir würden dies aus wahlkampftaktischen Gründen
tun.
({1})
Mit Blick auf die Wählerwanderungen in SchleswigHolstein müssten eher Sie Wahlkampf gegen die Piraten
machen als wir.
({2})
Das, was Sie sagen, ist eine bodenlose Unterstellung.
({3})
Lassen Sie uns sachlich werden.
({4})
Dieses Thema ist nämlich viel zu wichtig, als dass Ihr
Außenminister und Ihr Parteikollege den Wahlkampf in
dieses Hohe Haus tragen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung setzt mit der geplanten Erweiterung dieses
Mandats genau die Ziele, die wir verfolgt haben, aufs
Spiel. Wir laufen mit der Erweiterung Gefahr, die Bevölkerung in diesen Konflikt hineinzuziehen. Wir nehmen
möglicherweise auch in Kauf, dass die Zivilbevölkerung, Kinder oder die Geiseln, die sich in der Hand der
somalischen Seeräuber und Piraten befinden, als Schutzschild missbraucht werden. Wir setzen auch die Arbeit
der wenigen verbliebenen NGOs aufs Spiel.
({5})
Der Evangelische Entwicklungsdienst und „Brot für
die Welt“ haben in einem gemeinsamen Schreiben sehr
deutlich auf genau diese Gefahren hingewiesen. Sie
schreiben unter anderem - ich zitiere auszugsweise -:
Die Ausweitung des Mandats … an Land
birgt … vorhersehbare Risiken: … Es erhöht die
Gefahr, dass die … Kriegführung der somalischen
Milizen sich auf die Nachbarländer ausweitet und
so ein Regionalkonflikt entsteht, der weitere Gewaltakteure hervorbringen kann.
Wenn wir ernsthaft daran interessiert sind, die Piraterie
in Somalia langfristig zu beseitigen, dann müssen wir
das Grundübel in der Region anpacken. Wir müssen den
Piraten die Geschäftsgrundlage entziehen.
({6})
Genau das erreichen wir aber nicht, wenn wir versuchen, ihre Infrastruktur am Strand zu bekämpfen, sodass
die Piraten ihre Infrastruktur dann hinter die 2-Kilometer-Zone verlegen, sondern wir müssen den Menschen in
Somalia die Möglichkeit geben, ihre Familien zu ernähren und ihren Lebensunterhalt anders zu verdienen als
durch Piraterie.
({7})
Hervorgegangen ist die Piraterie in Somalia auch
- nicht nur, aber auch -, weil ausländische Fischereiflotten und EU-Fischfangflotten in großem Stil illegalen
Fischfang vor Somalias Küsten betrieben haben. Als
Reaktion darauf haben die Fischer versucht, ihre
Fischgründe durch die Erhebung illegaler Zölle zu schützen. Das war ein einträgliches Geschäft.
({8})
Dies haben auch die Warlords sehr schnell registriert. Sie
wurden auf den Plan gerufen und haben sich dieses Geschäft angeeignet. Damit das klar ist: Ich will damit die
Gräueltaten, das Kapern und die grausamen Gewaltexzesse, zu denen es bei den Geiselnahmen durch die Piraten zum Teil gekommen ist, in keiner Weise schönreden
oder rechtfertigen; aber wir müssen schon sehen, was für
die heutige Situation in Somalia mitverantwortlich ist.
({9})
Die Piraterie konnte sich auch deshalb so lukrativ entwickeln, weil die Regierung in Somalia nicht fähig ist,
ihr Hoheitsgebiet zu überwachen und dem Treiben Einhalt zu gebieten. Seit acht Jahren existiert dort eine
Übergangsregierung mit korrupten Clanstrukturen, die
mitnichten die Akzeptanz der Gesamtbevölkerung hat.
Es herrschen Bürgerkrieg, massive Armut und Hungersnot. In einem Land, in dem das Pro-Kopf-Einkommen
unter 1 US-Dollar am Tag liegt, in dem ein Drittel aller
Kinder unter fünf Jahren mangelernährt und untergewichtig ist, in dem sich Frauen nicht frei bewegen können und in dem Kinder als Kindersoldaten missbraucht
werden, wundert es nicht, dass Menschen auch den Weg
in die Kriminalität gehen, um überhaupt über die Runden zu kommen.
Genau an diesen Punkten müssen wir ansetzen. Wir
müssen diesen Strukturen dauerhaft den Nährboden entziehen. Dass das nicht einfach ist, wissen wir alle; aber
es führt kein Weg daran vorbei.
({10})
Ohne einen Demokratisierungs- und Friedensbildungsprozess, ohne eine Verbesserung der Nahrungsmittel-,
Gesundheits- und Lebenssituation der Menschen und
ohne ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit werden wir
das Problem nicht in den Griff bekommen.
Ja, wir brauchen die Operation Atalanta, aber in der
bisherigen Form. Das Mandat wird bis zum Jahresende
weiterlaufen, falls wir den Antrag ablehnen sollten. Wir
sollten die Zeit bis zum Jahresende nutzen; denn wir
brauchen eine politische Lösung. Die Ausweitung der
Operation Atalanta in der Form, wie wir sie heute beraten, erschwert eine politische Lösung. Deshalb werden
wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
nicht mit Ja stimmen können.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Ingo Gädechens für die CDU/CSUFraktion.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe in
meinen Reden zur Verlängerung des Mandats für die
Operation Atalanta immer wieder betont, wie wichtig es
ist, dass gerade auch unsere Soldatinnen und Soldaten
erkennen, was es bedeutet, wenn wir in diesem Hohen
Haus von einer Parlamentsarmee reden. Es bedeutet
nämlich, dass sich die Abgeordneten - so wie in der Vergangenheit geschehen - sehr intensiv mit dem jeweiligen
Mandat auseinandersetzen.
Ich will gar nicht sagen, dass es sich die Linken leicht
machen. Sie haben es ja tatsächlich leicht; denn sie
lehnen nicht nur die Bundeswehr, sondern grundsätzlich
jedes Mandat ab in dem festen Glauben, dass die Hilfsgüter des Welternährungsprogrammes buchstäblich unbeschadet vom Himmel fallen und genau dort landen,
wo die Menschen tiefste Not und Hunger leiden.
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen haben intensiv über dieses Mandat diskutiert - sehr
intensiv sogar, weil es diesmal nicht nur um die Verlängerung, sondern um eine Ausweitung geht. Durch die
unterschiedlichen Betrachtungswinkel gerade von Rot
und Grün habe ich den Eindruck, dass wir nicht mehr
über die bisherigen Erfolge und die Leistungen, die unsere Soldaten in diesem schwierigen Mandat erbracht
haben, diskutieren, sondern über virtuelle Risiken bis hin
zu der Frage, wer wem hilft, sollte womöglich ein Hubschrauber abstürzen. Ich bin dem Außenminister, aber
auch dem Verteidigungsminister, der gestern unmissverständlich klargestellt hat, wie wir in solch besonderen
Fällen Hilfeleistungen erbringen wollen - insbesondere
gegenüber unseren Verbündeten -, sehr dankbar.
Meine Damen und Herren, die Operation Atalanta ist
ein Erfolg. Sie ist nicht nur erfolgreich bei der Unterstützung der AMISOM, sondern auch bei der Bekämpfung
der Piraterie.
({1})
Zurzeit findet vor Ort eine wirksame Synchronisation
zwischen den verschiedenen Nationen auf operativer
und taktischer Ebene statt. Ein gemeinsames Auftragsverständnis und ein guter Informationsaustausch gerade
auch mit unabhängig agierenden Streitkräften in einer
hochkomplexen maritimen Lage erweisen sich mehr und
mehr als Schlüssel zum Erfolg. Die Maßnahmen der
Reeder an Bord der Handelsschiffe, Abschreckung und
Bekämpfung, haben zu einem erkennbaren Rückgang
der erfolgreichen Piratenüberfälle geführt.
Nichts ist aber so gut, dass es nicht noch verbessert
werden könnte, in diesem Fall effektiver gestaltet werden könnte. Die Regierungskoalition vertraut nicht nur
auf den militärischen Sach- und Fachverstand der
Einsatzkräfte, der Kommandierenden vor Ort. Die Regierungskoalition setzt auch weiterhin auf eine Zusammenarbeit mit den Bündnispartnern. Der EU-Rat hat
nach der VN-Resolution einen Beschluss gefasst, und
die Übergangsregierung in Somalia hat dem Angebot der
EU zur Unterstützung bei der Bekämpfung der Piraterie
auch im somalischen Küstenbereich ausdrücklich zugestimmt.
({2})
Ich verstehe zwar noch weitestgehend die Welt, aber
nicht mehr die SPD. Kritisch werden von den Sozialdemokraten - auch von Ihnen eben, Herr Dr. Erler Gründe mühsam hochstilisiert und Schreckensszenarien
an die Wand gemalt, die weit weg sind von der Einsatzrealität.
({3})
Ich habe es Herrn Arnold bereits gestern in der Ausschusssitzung gesagt: Das ist ein erkennbares Misstrauen
gegenüber den Kommandierenden vor Ort.
Die SPD folgt nicht einmal mehr den Kollegen
Steinmeier und Gabriel, die sich für eine - wir kennen
das schon - kraftvolle, überzeugende Enthaltung starkgemacht haben. Stattdessen kommen Sie mit Argumenten wie, es gebe unkalkulierbare Risiken
({4})
und ein Hubschrauber könne im Strandbereich beschossen werden.
({5})
Was ist denn das für eine Argumentationslinie? Kann ein
anfliegender Hubschrauber nicht auch von einer seegehenden Dau oder von einem Skiff beschossen werden?
Ist ein militärischer Einsatz nicht immer mit unkalkulierbaren Risiken behaftet?
({6})
Wir von der CDU/CSU sind davon überzeugt, dass
die Soldatinnen und Soldaten im Einsatzgebiet eine Situation nicht nur richtig einschätzen können, sondern
sehr genau abwägen werden, wann und in welcher Form
die Rules of Engagement Anwendung finden. Wir danken unseren Soldatinnen und Soldaten nicht nur in den
sogenannten Sonntagsreden. Die CDU/CSU-Fraktion
vertraut auf die Intelligenz, auf die besonderen Fähigkeiten und auf das besonnene Handeln unserer Männer und
Frauen in den Einsatzgebieten.
({7})
Wir wollen auch weiterhin den Erfolg der Mission
Atalanta. Wir wollen ihn, um brutale Piratenüberfälle
auf zivile Schiffe zu verhindern. Wenn Sie, meine
Damen und Herren der Opposition, das auch wollen,
dann bitte ich Sie herzlich, in sich zu gehen und diesem
Mandat zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von dem
heute zur Diskussion stehenden Mandat, dem AtalantaMandat, geht eine Kernbotschaft aus. Die Kernbotschaft
lautet, die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union
zu stärken und erkannte Lücken zu schließen. Damit
schaffen wir die Voraussetzung dafür, dass die EU in
dem, was sie auszeichnet, noch glaubwürdiger wird;
denn ihre vielen zivilen Fähigkeiten werden militärisch
untermauert. Das ist der Kern des Mandats.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle unserem Außenminister
ausdrücklich dafür danken, dass er herausgestellt hat
- darüber wurde gestern im Auswärtigen Ausschuss
auch sehr ausführlich debattiert -, dass das kein deutscher Alleingang ist. Im Gegenteil: Am 23. März hat die
Europäische Union mit allen 27 Mitgliedstaaten diesen
Willen deutlich gemacht.
({1})
Sie möchte diese Regelung, wie wir sie heute verabschieden. Wir sind aber das einzige Land, das dies auch
noch in einer solchen Breite diskutiert. Das halte ich für
sehr gut. Andere nehmen das als gegeben hin, wir nicht.
Das zeichnet unser Parlament aus. Aber lassen Sie uns
doch als frei gewählte Abgeordnete deutlich sein. Wir
gehen davon aus, dass sich alle an das Mandat halten
und dass andere Operationen, sofern sie stattfinden,
nicht innerhalb dieses Mandats stattfinden. Darum haben
wir gerungen, und das haben wir in diesem Mandat
klargemacht.
Der zweite Punkt ist - das stimmt nicht nur mich, sondern weite Teile unseres Parlaments betrüblich -: Es
geht erstmals in dieser Legislaturperiode ein Signal von
diesem Haus aus, dass nicht mit breiter Mehrheit von
Regierung und Opposition hinter einem Mandat unseres
Landes gestanden wird.
({2})
Das ist zum einen ein Warnsignal an unsere Soldaten im
Auslandseinsatz. Zum anderen ist das ein außenpolitisch
und sicherheitspolitisch verheerendes Signal, sollte sich
das so fortsetzen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
SPD.
({3})
Ich möchte das an einem Beispiel deutlich machen.
Wir haben heute früh über Chicago gesprochen. Unsere
Bundeskanzlerin hat deutlich gemacht, dass wir über nationalstaatliche Souveränität und neue Formen der Abhängigkeit nachdenken müssen, vergleichbar damit, wie
wir das zurzeit in der Wirtschafts- und Finanzpolitik mit
dem Fiskalpakt und dem Stabilitätsmechanismus in ungeheurem Ringen leisten. Wir rücken durch die Finanzkrise in Europa stärker zusammen. Das Gleiche müssen
wir in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
machen.
({4})
Wir wollen als Deutschland ein glaubwürdiger und
verlässlicher Partner sein. Da gibt es kein Beiseitetreten.
Dieses Beiseitetreten fasziniert mich besonders angesichts der Reden, die unlängst Egon Bahr anlässlich
seines 90. Geburtstags gehalten hat - er fordert eine europäische Armee - und die Ihr Vorsitzender Sigmar
Gabriel gehalten hat. Er fordert die Aufnahme einer
europäischen Armee ins Grundgesetz. Das ist zwar alles
richtig; aber Sie fordern einen ICE mit Flügeln, stehen
selber jedoch mit einer Draisine auf einer Dampflokschienenbahn und können den Fortschritt in der Europäischen Union nicht in der Praxis ausgestalten. Das ist
der Fehler. Das ist das Versagen.
({5})
An die Adresse der Grünen, auch wenn Sie sich enthalten: Ihr Antrag enthält einige interessante Punkte, und
zwar zum Wiederaufbau, zu der Finanzierung von Strukturen und zu der Ausbildung von Sicherheitskräften. Das
ist alles richtig. Aber ohne eine weitere militärische Option, nämlich auch die logistischen Grundlagen an Land
zu zerstören, sind all die guten Ratschläge, die Sie geben, geschwächt. Es geht gerade darum, die Werkzeugkiste an Maßnahmen, die die EU hat, zu erweitern und
zu ermöglichen, dass genau die Vorschläge, die Sie machen, besser zu verwirklichen sind, indem wir logistische Sammelpunkte zerschlagen können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten
noch einmal in uns gehen, wenn wir die namentliche Abstimmung durchführen. Sie alle sind frei in Ihrem Mandat. Es darf nicht, wie heute eine Zeitung titelte, der erste
Dominostein fallen. Das ist kein Spiel; es ist etwas
Hochernstes. Ich appelliere an Sie: Beißen Sie sich nicht
an der Strandfrage fest! Verbeißen Sie sich lieber in die
Frage, wie wir Deutschlands Handlungsfähigkeit in der
EU und die europäische Handlungsfähigkeit im weltweiten Wettbewerb stärken können!
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem
Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-
geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der
Piraterie vor der Küste Somalias. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/9598, den Antrag der Bundesregierung auf
Drucksache 17/9339 anzunehmen.
Wir stimmen über die Beschlussfassung namentlich
ab. Hierzu liegen mir mehrere schriftliche Erklärungen
nach § 31 unserer Geschäftsordnung zur Abstimmung
vor.1)
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Jetzt sind alle
Plätze an den Urnen besetzt. Ich eröffne die Abstim-
mung.
Nun die obligatorische Frage: Ist ein Mitglied des
Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgege-
ben hat? - Ich höre keinen Widerspruch. Offenbar haben
alle Anwesenden ihre Stimme abgegeben.
Ich schließe die namentliche Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen
Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/9601. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der
Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Rawert, Dr. Marlies Volkmer, Bärbel
Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Individuelle Gesundheitsleistungen eindämmen
- Drucksache 17/9061 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
Mechthild Rawert für die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Igel sind possierliche Tiere, und eigentlich
hat sie jeder trotz ihrer Stacheln gern. Hier reden wir
aber über ganz andere IGeL. Wir reden über die individuellen Gesundheitsleistungen, über Geschäftemacherei
in ärztlichen Praxen und über einen rasant wachsenden
Markt mit einem Umsatz von mittlerweile mehr als
1,5 Milliarden Euro. Wir reden darüber, dass Patientinnen und Patienten, die krank sind, sich elend fühlen und
deshalb ihren Arzt oder ihre Ärztin aufsuchen, in der
Arztpraxis flugs einen Rollenwechsel erfahren. Sie sind
nicht mehr in erster Linie Patient oder Patientin. Nein,
Sie sind, wie das Bundesgesundheitsministerium sagt,
„mündige Vertragspartner“.
Zu all dem sagen wir als SPD-Bundestagsfraktion
entschieden Nein.
({0})
Denn wir wollen, dass Patientinnen und Patienten auf
ärztliche Ethik vertrauen können. Schon vor über einem
Jahr habe ich hier gestanden und bei der Diskussion des
SPD-Antrags „Für ein modernes Patientenrechtegesetz“
auch eine Eindämmung der mittlerweile über 350 individuellen Gesundheitsleistungen gefordert. Schon damals
habe ich bessere Information, mehr Aufklärung, mehr
Sicherheit und Transparenz gefordert. Schon damals
wollten wir als SPD-Bundestagsfraktion, dass mit der
Abzocke mit den sogenannten Selbstzahlerleistungen
endlich Schluss gemacht wird.
({1})
Was ist seitdem durch das FDP-Bundesgesundheitsministerium veranlasst worden? Ich verrate es Ihnen
gerne: gar nichts. Bundesgesundheitsminister Bahr hat
noch nicht einmal dafür gesorgt, dass zur Verhinderung
dieser Abzocke eine Regelung im Entwurf des Patientenrechtegesetzes steht.
({2})
Hier steht kein einziges Wort dazu. Böse, wer da denkt,
die FDP wolle lieber den Ärzten und Ärztinnen gefallen,
als etwas zum Schutz der Patientinnen und Patienten zu
tun.
({3})
Dieses „Gar nichts“, dieses Fehlen im Patientenrechtegesetz, missfällt sogar Ihnen, werte Kolleginnen und
Kollegen der Union; denn immerhin wollen Sie, dass
schriftliche Verträge zu den Selbstzahlerleistungen abgeschlossen werden und dass die voraussichtlichen Kosten
der medizinisch nicht notwendigen Leistungen ausdrücklich aufgeführt werden. Wenn Sie es also ernst
meinen, dann stimmen Sie heute unserem Antrag zu.
({4})
Ich wollte aber genauer wissen, was es mit diesem
„Gar nichts“ aus dem Bundesgesundheitsministerium
auf sich hat, und habe deshalb schriftliche Anfragen ge-
1) Anlage 2 und 3
2) Seite 21131 D
stellt, zum einen zu dem vom Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin ausgezeichneten Bericht „Individuelle Gesundheitsleistungen“ des DIMDI, übrigens
eine Einrichtung im Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeriums. Das DIMDI kommt zu dem Ergebnis, dass die am meisten verkaufte individuelle Gesundheitsleistung, nämlich die Glaukomuntersuchung,
„keine Evidenz zum patientenrelevanten Nutzen“ aufweist. Mit anderen Worten: erneut Abzocke.
Nun zu einer anderen Leistung. Das interessiert uns
Frauen nun wirklich sehr. Wer von uns hätte nicht Angst
vor bösartigen Erkrankungen am Eierstock. Für das
VUS-Screening, die vaginale Ultraschalluntersuchung,
ist laut DIMDI „ein Schaden zu erkennen“. Nicht nur,
dass das Screening nichts nützt, es bringt sogar einen
Schaden mit sich. Auch die Fachverbände der Gynäkologen und Gynäkologinnen bestätigen, dass diese Methode zur Früherkennung von Eierstockkrebs nicht zu
empfehlen ist, da sie in einem hohen Maß zu Überdiagnosen mit operativen Eingriffen führt. Aber das Gesundheitsministerium sagt: Mit den vielen IGeLn ist eigentlich alles in Ordnung.
Kennen Sie eigentlich die Realität in den Fachpraxen? Mir erzählen Bürgerinnen und Bürger zunehmend öfter, sie würden am Schalter schon mit IGeL-Angeboten überhäuft. Einige sagen sogar, wenn sie nicht
zustimmten, ein IGeL-Angebot anzunehmen, erhielten
sie keinen Termin beim Arzt.
({5})
- Das ist wirklich unglaublich, danke schön. - Das geht
eindeutig zu weit. Es geht zu weit, dass die medizinisch
nicht ausgebildeten Patienten und Patientinnen nun
plötzlich entscheiden sollen, wie sie sich selbst diagnostizieren; es geht zu weit, von ihnen zu erwarten, dass sie
wissen sollen, was medizinisch sinnvoll oder unsinnig
ist. Es geht uns mit dem Antrag darum, Patienten und
Patientinnen, die krank sind, nicht nur vor Abzocke zu
schützen, sondern auch vor Schaden zu bewahren.
({6})
Das WIdO, eine Einrichtung der AOK, hat bestätigt:
Individuelle Gesundheitsleistungen werden vorrangig
denjenigen angeboten, die über 3 000 Euro verdienen.
Sind die Patientinnen und Patienten der gesetzlichen
Krankenversicherungen denn weniger wert? Medizinische Dienstleistungen gehen dann nur noch an Gutverdiener? - Das kann es nicht sein.
Vor dem Hintergrund dessen hat die Bundesärztekammer gesagt: Wir brauchen angemessene Informationsund Transparenzrichtlinien; wir wollen sogar eine
Zweitmeinung einholen lassen. - Liebe Bundesärztekammer, bitte machen Sie doch ernst! Wir brauchen zunehmend mehr den Schutz des Verhältnisses zwischen
Arzt und Patient.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - IGeL, die
zu Unrecht das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit unserer gesetzlichen Krankenkassen erschüttern, brauchen
wir nicht. Ich erwarte mehr Patientenschutz, mehr Patientenrechte. Wertes FDP-Ministerium, kümmern Sie
sich um die Patientinnen und Patienten und weniger um
die Ärztinnen und Ärzte!
({7})
Das Wort hat nun Erwin Rüddel für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Rawert, Sie haben in Ihrer Rede kein Wort öfter gebraucht als das Wort Abzocke. Ich denke, das
drückt Ihr Verhältnis zu den Akteuren im Gesundheitswesen aus. Woran es im Gesundheitswesen nicht mangelt, ist Misstrauen; was wir dagegen mehr brauchen, ist
Vertrauen.
({0})
Das ist der Geist unserer Gesundheitspolitik, und diese
Gesundheitspolitik wird Erfolge zeigen.
Allen Mitgliedern einer gesetzlichen Krankenkasse
stehen in Deutschland grundsätzlich sämtliche Leistungen zu, mit denen ihr Gesundheitszustand erhalten, wiederhergestellt oder verbessert wird. Diese umfassende
Absicherung beinhaltet sowohl eine hochwertige Diagnostik als auch eine hervorragende Behandlung im
Krankheitsfall. Das war in der Vergangenheit so, und das
wird in Zukunft so bleiben. Die Versicherten wissen,
dass sie sich auf unser Gesundheitssystem verlassen
können, das zu Recht als eines der besten weltweit gilt.
Es sichert im Krankheitsfall allen Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht,
Herkunft oder Gesundheitszustand die medizinische Behandlung zu, die notwendig ist.
Für die gegenwärtige hervorragende Verfassung unseres Gesundheitssystems hat die bürgerlich-liberale Koalition in den vergangenen zweieinhalb Jahren allerdings
auch viel getan. Wir haben das System auf ein verlässliches Fundament gestellt und solide durchfinanziert. Wir
haben ein zu erwartendes Defizit von bis zu 11 Milliarden Euro in einen Überschuss verwandelt. Wir haben
eine milliardenschwere Reserve im Gesundheitsfonds,
weshalb die Krankenkassen in absehbarer Zukunft keinerlei Zusatzbeiträge verlangen müssen. Wir haben mit
dem GKV-Finanzierungsgesetz und dem Arzneimittelneuordnungsgesetz erreicht, dass keine höheren Eigenleistungen und keine Abstriche beim Leistungskatalog
erforderlich waren.
({1})
Wir haben die unabhängige Patientenberatung gesetzlich
verankert. Wir haben das Infektionsschutzgesetz zur
Verbesserung der Krankenhaushygiene verabschiedet,
und wir haben mit dem Versorgungsstrukturgesetz die
Grundlage für eine dauerhaft gute, wohnortnahe und fläErwin Rüddel
chendeckende Versorgung der Menschen mit medizinischen Leistungen geschaffen.
Diese erfolgreiche Gesundheitspolitik werden wir mit
einem Gesetz abrunden, das die Rechte der Patientinnen
und Patienten weiter stärkt. Damit stellen wir die Patientinnen und Patienten in das Zentrum unseres Gesundheitswesens, also auf den Platz, der ihnen zusteht. Zugleich werden wir die Patientenrechte übersichtlich
zusammenfassen, und zwar so - das füge ich ausdrücklich hinzu -, dass das notwendige Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient nicht zerstört wird.
({2})
Im Zuge der Beratungen über den Entwurf dieses Patientenrechtegesetzes werden wir uns auch mit den Maßnahmen befassen, die die Kassenärztliche Bundesvereinigung als individuelle Gesundheitsleistungen, also IGeL,
bezeichnet. Dazu zählen unter anderem Impfungen vor
Fernreisen, sportmedizinische Untersuchungen, ärztliche
Berufseingangsuntersuchungen sowie diverse labordiagnostische Wunschleistungen. Es handelt sich also um
Maßnahmen, die aufgrund individueller Bedürfnisse eines Versicherten durchaus sinnvoll sein können, indem
sie den Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung
ergänzen. Möchte ein Patient solche Leistungen in Anspruch nehmen, steht ihm das frei; allerdings muss er
dann deren Kosten selbst tragen.
Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang von dem
Versicherten zu beachten, dass vieles, was als Selbstzahlerleistung angeboten wird, in dem Moment Kassenleistung ist, in dem der Verdacht auf eine Erkrankung gegeben ist. Deshalb muss stets klar sein: Für ärztliche
Leistungen, die in den Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, darf kein Arzt eine privatärztliche Rechnung stellen oder eine Zuzahlung von einem
Versicherten verlangen.
({3})
Im Patientenrechtegesetz werden wir dafür Sorge tragen, dass die Versicherten mit Blick auf individuelle Gesundheitsleistungen umfassend geschützt werden. Dazu
werden wir folgende Bestimmungen in das Gesetz aufnehmen:
Erstens. Aufklärung über Kosten und Nutzen. Der
Arzt ist verpflichtet, ausführlich über die individuelle
Gesundheitsleistung aufzuklären. Diese Beratungsgespräche sind ausschließlich von Ärztinnen und Ärzten
vorzunehmen und nicht an Dritte zu delegieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Vogler von der Linksfraktion?
Ja.
Herr Kollege Rüddel, ich höre aus Ihrem Beitrag heraus, dass das alles relativ harmlose Geschichten seien.
Ich möchte gerne einmal darauf hinweisen, dass Ihre Regierung meines Wissens nichts dagegen unternimmt,
dass beispielsweise privat zu bezahlende IGeL-Leistungen von manchen Ärztinnen und Ärzten zur Voraussetzung für eine Behandlung gemacht werden oder dass
Frauen, während sie auf einem Untersuchungsstuhl eines
Frauenarztes liegen, die von der Kollegin Rawert erwähnten vaginalen Ultraschalluntersuchungen angeboten bekommen. Das sind Situationen, in denen eine
selbstbestimmte Entscheidung der betreffenden Patientinnen überhaupt nicht vorstellbar ist. Was unternimmt
Ihre Regierung ganz konkret dagegen, dass solche Art
von Missbrauch, solche Art von Entwürdigung von Patientinnen allein zur Bereicherung von Ärzten passiert?
Sie haben vorhin von dem Vertrauen gesprochen, das
viele Ärztinnen und Ärzte bei ihren Patientinnen und Patienten völlig zu Recht genießen. Ist es nicht so, dass
dieses Vertrauen allein schon dadurch beschädigt wird,
dass die Patientin oder der Patient nie sicher weiß, ob ihr
oder ihm die Ärztin oder der Arzt etwas empfiehlt, weil
es wirklich sinnvoll, nützlich und gut ist, oder empfiehlt
sie oder er es, weil es Cash bringt, weil man die entsprechende Leistung privat abrechnen kann und weil die
Kasse sie - völlig zu Recht - nicht bezahlen würde.
Frau Vogler, wenn Sie etwas Geduld gehabt hätten
und mich nicht nach dem ersten Punkt von vieren, die
ich hier vortragen wollte - jeder Punkt steht für eine gesetzliche Bestimmung -, unterbrochen hätten, dann hätten Sie ein umfassendes Konzept wahrgenommen.
Ich denke, wir sind mit dem Patientenrechtegesetz auf
dem Weg, die Patientenposition zu stärken, ohne das
Vertrauensverhältnis, das in der Arzt-Patient-Beziehung
ausgesprochen wichtig ist, zu zerstören.
Wenn ich mir vergegenwärtige, wie viele Jahre die
Opposition über die Schaffung eines Patientenrechtegesetzes diskutiert hat, dann muss ich erkennen, dass wir
mit unseren Bemühungen sehr weit sind.
({0})
Dieses Gesetz wird effizient sein und wirken. Es wird
zum Jahreswechsel in Kraft treten und die Position der
Patienten deutlich stärken. Wir sind da, denke ich, auf einem guten Weg; das hat die Opposition bisher nicht zustande gebracht.
({1})
Wir erwarten also Aufklärung über Kosten und Nutzen.
Zweitens erwarten wir die freie Entscheidung des Patienten. Ob der Patient individuelle Leistungen in Anspruch nimmt, ist allein in seine persönliche Entscheidung zu stellen.
Drittens: schriftliche Zustimmung vor Behandlungsbeginn. Das halte ich für ausgesprochen wichtig. Das ist
genau das, was auch die Position des Patienten stärkt.
({2})
Der entsprechende Vertrag muss die Angabe der voraussichtlichen Kosten sowie den ausdrücklichen Hinweis
enthalten, dass die Leistung - jetzt kommt es - medizinisch nicht notwendig ist.
Viertens: obligatorische Rechnungsstellung des Arztes. Das heißt, der Patient erhält bei jeder individuellen
Gesundheitsleistung eine schriftliche Rechnung nach der
amtlichen Gebührenordnung für Ärzte oder Zahnärzte.
Pauschal- oder Erfolgshonorare sind nicht zulässig.
({3})
Weil bestimmte IGeL-Leistungen bei einzelnen Patienten durchaus sinnvoll sind, während sie für andere
eher überflüssig oder schädlich sein können, begrüße ich
im Übrigen ausdrücklich das neue Internetportal IGeLMonitor, das der Medizinische Dienst des Spitzenverbands der Krankenkassen initiiert hat. Dieses gibt den
Versicherten die Möglichkeit, sich im Internet umfassend über die Bewertung diverser IGeL-Leistungen zu
informieren.
Beratungen bieten neben anderen auch die Unabhängige Patientenberatung Deutschland, die Deutsche
Krebshilfe, der Arbeitskreis Frauengesundheit sowie im
zahnärztlichen Bereich die Kammern und Vereinigungen
der Bundesländer an.
Ich darf also zusammenfassend feststellen, dass die
SPD-Fraktion mit dem vorliegenden Antrag offene Türen einrennt.
({4})
Sie können deshalb davon ausgehen, dass Ihr Anliegen
bei uns in guten Händen ist.
Ich will allerdings nicht verschweigen, dass mir der
Wortlaut Ihres Antrags nicht ganz frei zu sein scheint
von Übertreibungen und Überspitzungen. Er erweckt leider wieder den Eindruck, dass Ihnen jegliche Wahlfreiheit der Patienten ein Dorn im Auge ist,
({5})
dass Ihnen jeglicher Wettbewerb in der Versorgung zuwider ist und dass für Sie das einzige Heil in einer staatlichen Einheitsmedizin besteht.
({6})
Meine Damen und Herren, wir wollen den mündigen
und informierten Patienten, der seine Rechte selbstständig wahrnimmt und seinem Arzt auf Augenhöhe begegnet. Das entspricht unserem Leitbild eines souveränen
und mündigen Patienten. Was wir nicht wollen, ist der
Patient, der wie ein Unmündiger behandelt und allseits
vom Staat bevormundet wird.
Seien Sie deshalb versichert: Wir werden im Patientenrechtegesetz dafür sorgen, dass die Versicherten ihre
Entscheidung für oder gegen eine individuelle Gesundheitsleistung ohne Druck und Zwang treffen können.
Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit durch eine
Zwischenfrage der Kollegin Rawert verlängern?
({0})
Gern.
Herr Kollege, eine Frage: Ist Ihnen bekannt, dass zeitgleich mit dem jetzt vom Bundesgesundheitsministerium
vorgelegten Entwurf eines Patientenrechtegesetzes das
Verbraucherschutzministerium eine Untersuchung in
Auftrag gegeben hat, und zwar eine Untersuchung zur
Aufklärung bei den individuellen Gesundheitsleistungen, in der alle kritischen Anmerkungen, die wir machen, die wir vorhin auch benannt haben, noch einmal
wissenschaftlich untersucht werden? Mit anderen Worten: Knatsch in der Regierung!
Ich habe ausdrücklich betont, dass ich mich freue,
dass der MDK eine Auflistung von IGeL-Leistungen
und eine Bewertung vornimmt. Das kann nur dazu dienen, dass der Patient informiert, mündig mit dem Arzt in
Kontakt tritt. Ich denke, alles, was dieses Verhältnis verbessert, was Vertrauen stärkt, den Patienten stärker
macht, kann in unserem Gesundheitssystem nur helfen.
({0})
Wir werden dafür sorgen, dass die Entscheidung über
einen privatrechtlichen Vertrag mit dem Arzt bzw. Zahnarzt auf jeden Fall bei den Patientinnen und Patienten
liegen wird. Und wir werden dafür sorgen, dass die Patientinnen und Patienten vor möglichem Missbrauch und
vor unnötigen und überflüssigen Maßnahmen wirkungsvoll geschützt werden. Wir sind auf einem hervorragenden Weg. Ich hoffe, dass Sie zum Jahreswechsel unserem Entwurf des Patientenrechtegesetzes zustimmen
werden.
({1})
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Rüddel, was
Sie gerade vorgetragen haben, ist zumindest herrschende
Rechtslage bei der Rechtsprechung der Gerichte. Genau
das schreiben Sie in den Entwurf des Patientenrechtegesetzes. Sie schreiben nichts darüber hinaus. - Jetzt zum
eigentlichen Thema.
Mittlerweile ist es Alltag: Der Arzt oder die Ärztin,
oft auch das übrige Praxispersonal, bieten den Patienten
- oder sollte man besser „Kunden“ sagen? - eine zusätzliche Leistung an. Diese sei zwar sinnvoll, wird einem
erläutert, aber die Kasse übernehme die Kosten leider
nicht. Die Patienten können das schwer einschätzen;
denn das Bild vom souveränen und mündigen Kunden,
das Sie immer bemühen, hinkt, nicht nur in der Medizin,
aber dort besonders.
Viele Patientinnen und Patienten ahnen mit ungutem
Gefühl: Die wenigsten dieser individuellen Gesundheitsleistungen, abgekürzt IGeL, sind tatsächlich sinnvoll.
Die meisten sind schlichtweg nutzlos, einige sogar
schädlich. Eines bewirken sie allerdings immer: Sie steigern den Umsatz der Praxis.
Es wundert dann auch nicht, dass es Seminare für
Ärzte und Praxisteams gibt, bei denen das Verkaufen
von Leistungen gelehrt wird. So bietet die Firma
INSTATIK GmbH ein effektives „Know-how aus rhetorischen und verkaufspsychologischen Techniken und
Kniffen“ an. Die Firma bewirbt ihre Trainings ganz offen mit dem Ziel:
Denn durch das Anbieten dieser IGeL-Leistungen
… kann systematisch Zusatz-Umsatz etabliert und
gesteigert werden.
Diese Schulungsfirma verliert kein Wort darüber, ob
der Patient irgendeinen Nutzen von der Sache hat. Das
ist denen auch völlig egal. Es geht einzig und allein um
die Umsatzsteigerung auf dem Gesundheitsbasar. Deswegen lassen sich die Ärzte ein eintägiges Seminar bei
diesem Anbieter immerhin 589 Euro kosten.
({0})
Der Werbeaufwand ist groß, es winkt aber auch ein großer Ertrag: über 1,5 Milliarden Euro werden jedes Jahr
mit IGeL umgesetzt. Das sind gut 21 Euro pro gesetzlich
Versichertem. Das hört sich wenig an, aber pro Kassenarzt sind das durchschnittlich immerhin 11 000 Euro.
Das ist der Durchschnitt, das heißt, es gibt auch einige
Ärzte, die deutlich mehr verdienen. Für diese ist es ein
sehr gutes Geschäftsmodell.
In einer Medizin, die sich zunehmend als Markt versteht, verändert sich das Verhältnis von Arzt zu Patient.
Unter dem Deckmantel des nach wie vor vorhandenen
Vertrauens, das dem ärztlichen Beruf entgegengebracht
wird, wird eine Tauschlogik eingeführt, in der der Arzt
zum Verkäufer und der Patient zum Kunden wird. Das
führt zur Anpreisung von medizinisch nicht notwendigen, womöglich sogar fragwürdigen Waren auf dem Gesundheitsmarkt.
Manche Ärzte scheinen inzwischen zu ahnen, dass
diese Entwicklung problematisch ist. So hat der im November verstorbene ehemalige Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, in seiner letzten Rede
der Ärzteschaft ins Stammbuch geschrieben:
Patienten müssten darauf vertrauen können, dass
medizinische Gründe und nicht das Gewinnstreben
Ärzte motivieren.
({1})
Andreas Köhler von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, ebenfalls unverdächtig, ein Linker zu sein, hat
sich ähnlich geäußert. Er appellierte an die Ärzte, sensibel mit den IGeLeien umzugehen, weil sonst das Vertrauensverhältnis zu den Patienten Schaden nehmen
könnte. Recht haben die beiden. Sie kritisieren damit indirekt eine Gesundheitspolitik, die glaubt, mit der Vermarktung der Medizin deren Probleme lösen zu können.
Das geht nicht.
({2})
- Wir waren es jedenfalls nicht, um es ganz deutlich zu
sagen.
Für die Linke ist klar: Die Kassen müssen alle notwendigen Leistungen übernehmen. Darauf sollen sich
der Patient und die Patientin verlassen können. Damit
entfällt eine Notwendigkeit für mehr IGeLei. Man muss
aber ernsthaft überlegen, zumindest all diejenigen IGeL
zu verbieten, die nachweislich mehr schaden als nützen.
({3})
Nun zum SPD-Antrag. Der SPD-Antrag, der die IGeL
nur etwas regulieren will, geht in die richtige Richtung,
springt aber auch an einigen Stellen etwas zu kurz. So
will die SPD, dass für denselben Patienten nicht am selben Tag sowohl ein IGeL als auch eine normale GKVLeistung erbracht werden dürften, um den Patientinnen
und Patienten Zeit zu geben, über diese Leistung nachzudenken. Der Ansatz ist lobenswert, aber wir fragen
uns: Wie soll das kontrolliert werden?
({4})
Und: Ist es nicht auch ein Problem, wenn Ärzte die Zeit,
für die sie sich verpflichtet haben, Kassenpatienten und
-patientinnen zu behandeln, mit IGeL vergeuden? Wir
finden, ein Arzt sollte sich entscheiden und voneinander
getrennte GKV- und IGeL-Sprechstunden abhalten.
Über viele Forderungen des SPD-Antrags kann man
sich natürlich streiten. Nach Überweisung im Ausschuss
werden wir das gerne produktiv tun. Wir befürchten nur
sehr, dass die Koalition keine dieser Ideen aufgreifen
wird, weil sie weiterhin Medizin als Markt versteht.
Zum Schluss noch ein Tipp an Patientinnen und Patienten sowie eine Anregung für Ärzte - auch Herr
Rüddel hat schon darauf hingewiesen; hier wiederhole
ich ein Stück weit -: Patientinnen und Patienten sollten
kritisch sein, wenn Ihnen ein IGeL angeboten wird. Nehmen Sie sich ausreichend Bedenkzeit; reden Sie mit Ihrer Krankenkasse, mit der Unabhängigen Patientenberatung, oder schauen Sie auf www.igel-monitor.de vorbei.
Dort sind viele Leistungen in verständlicher Sprache bewertet worden. So haben Sie eine unabhängige und kostenfreie zweite Meinung.
Die Anregung an Ärzte: Überlegen Sie einmal, ob Sie
an Ihrer Praxis nicht ein Qualitätssiegel anbringen können, das da heißt: „IGeL-freie Praxis“.
({5})
Ich bin überzeugt, dass viele Patientinnen und Patienten
gerne kommen, wenn sie schon von außen sehen, dass
sie einen Arzt aufsuchen und sich nicht auf einen Gesundheitsbasar begeben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Rawert,
Ihr Antrag und Ihre Rede machen eigentlich eines deutlich: Sie wollen die IGeL abschaffen.
({0})
Dann sagen Sie das doch bitte so deutlich und unterlassen die Vorschläge, mit denen die IGeL so erschwert
würden, dass sie nicht mehr in Anspruch genommen
werden können.
({1})
Ich denke, dass die gesetzliche Krankenversicherung
ihren Versicherten einen umfassenden, guten Schutz bietet. Es gibt aber auch Leistungen, die nur unter bestimmten Bedingungen oder gar nicht von der gesetzlichen
Krankenversicherung übernommen werden, nämlich die
individuellen Gesundheitsleistungen. Diese Leistungen
werden aus bestimmten Gründen nicht von den Krankenkassen bezahlt, zum Beispiel weil, wie bei der Akupunktur, die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode
noch nicht abschließend ermittelt ist oder aufgrund der
individuellen Lebensführung, zum Beispiel einer Impfung vor dem Urlaub. Das alles sind IGeL-Leistungen.
Es geht darum, eine individuelle Abstimmung auf die
Bedürfnisse des Patienten zu ermöglichen und eine gute
Ergänzung zur medizinischen Versorgung zu geben. Wir
möchten dieses Wunsch- und Wahlrecht auch in der Zukunft ermöglichen und möchten nicht, wie Sie es wollen,
eine gesetzlich verordnete Zwangsbedenkpause,
({2})
um auf diesem Wege die Patienten zu einem erneuten
Arztbesuch zu zwingen und dadurch die Leistungen zu
erschweren oder gar zu verhindern.
({3})
Schon jetzt gilt, dass eine persönliche Aufklärung nötig ist, dass eine Einwilligung des Patienten vorliegen
muss und dass sich die Abrechnung an der Gebührenordnung orientieren muss. Ich weiß nicht, wo Sie manchmal
leben. Wenn es tatsächlich so sein sollte, dass Patienten
in der Arztpraxis schon am Tresen mit diesen Angeboten
konfrontiert werden,
({4})
dann haben die Patienten die Möglichkeit, auf dem Absatz kehrtzumachen und die Praxis zu verlassen.
({5})
Die Abstimmung erfolgt mit den Füßen. Wir vertrauen
darauf, dass die Patientinnen und Patienten das sehr
wohl selbst entscheiden können.
({6})
Sie bevormunden die Menschen und trauen ihnen überhaupt nichts zu.
({7})
Auf eines möchte ich besonders hinweisen: Der Deutsche Ärztetag hat einen Verhaltenskodex im Zusammenhang mit dem Erbringen von IGeL verabschiedet.
({8})
Darin steht, wie diese Leistungen verantwortungsvoll
anzubieten sind. Das Patientenrechtegesetz nimmt hierauf Bezug. Sie jedoch wollen doppelte Wege und längere Wartezeiten. Kassenleistungen sollen nicht am gleichen Tag wie IGeL-Leistungen erbracht werden dürfen.
Das ist der falsche Weg. Sie erzwingen damit Mehrfachbesuche und belästigen die Patienten mit einer völlig unangebrachten Regelungswut.
({9})
Frau Rawert, das ist, als würden Sie beispielsweise in
ein Geschäft gehen, um sich eine neue Hose zu kaufen,
und der Verkäufer würde Ihnen sagen: Nein, die kann ich
Ihnen heute nicht verkaufen, dazu müssen Sie morgen
wiederkommen. Das ist einfach nicht lebensnah und völlig an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Rawert?
Nein, die Kollegin Rawert hat schon ausreichend Redezeit gehabt.
({0})
- Das ist richtig. Trotz- und alledem muten Sie den Menschen eine Menge zu, indem Sie meinen, mit einem erneuten Besuch würde sich alles besser regeln lassen.
({1})
Außerdem fordern Sie in Ihrem Antrag zusätzliche
Informationen.
({2})
Die Krankenkassen haben aber sehr unterschiedliche
Leistungen. Deshalb müsste für jede Kasse eine Übersicht ausgehängt werden. Das geht wirklich am Problem
vorbei. Es gibt die schon erwähnte Internetseite
www.igel-monitor.de. Das klappt schon ganz ohne Gesetz.
({3})
Sie fordern Bürokratie in Form von Verträgen und
Berichten. Die dafür erforderliche Zeit wird bei den Patienten fehlen. Sie fordern mehr Bürokratie, womit der
Arzt im Endeffekt weniger Zeit für seinen Patienten haben wird. Das wollen wir auf gar keinen Fall.
({4})
Außerdem ist Ihr Gesetzesentwurf ein Misstrauensvotum.
({5})
Das ist auch durch Ihre Wortwahl eben sehr deutlich geworden. Sie sprechen von „Abzocke“
({6})
und sehen Ärzte allein aus einer Verkaufsperspektive.
Das entlarvt Ihr Denken: Wenn in einem Bereich Geld
verdient wird, dann ist das per se etwas Schlechtes. Das
ist nicht in Ordnung und muss hinterfragt werden. Deswegen schauen Sie, wie man das verhindern kann.
({7})
Es geht schließlich auch um die Therapiefreiheit. Dafür möchte ich hier eine Lanze brechen. Haben Sie sich
einmal überlegt, was Ihr Vorschlag für Menschen bedeutet, die zum Beispiel auf Naturheilverfahren setzen?
({8})
Wollen Sie ihnen diese Möglichkeit verwehren? Denn
auch das sind zum großen Teil IGeL-Leistungen.
({9})
Den Patienten, denen die Schulmedizin, die sicherlich
auch hin und wieder an ihre Grenzen stößt, nicht helfen
kann, verwehren Sie die Möglichkeit, auf alternative
Heilverfahren zu setzen, indem Sie IGeL-Leistungen erschweren wollen.
({10})
Wir teilen Ihr Menschenbild nicht, nach dem der Patient ein wehrloses Opfer ist. Das wird den Menschen
nicht gerecht. Schon Kant hat gefordert: „Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Das geschieht in den allermeisten Fällen auch.
({11})
Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir Vertrauen. Wir sehen, dass das gewährleistet ist, und wir glauben, dass die
bestehenden Regelungen ausreichend sind, um diesen
Bereich entsprechend zu handhaben.
Ihr Vorschlag ist wieder nur ein Versuch, Dinge zu erschweren. Ein Glück, dass es die liberale Gesundheitspolitik gibt!
Vielen Dank.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zwischendurch das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation
Atalanta mitteilen: abgegebene Stimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 305, mit Nein haben gestimmt 206, Enthaltungen 59.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 570;
davon
ja: 305
nein: 206
enthalten: 59
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Siegfried Kauder ({7})
Dr. Stefan Kaufmann
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({15})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({18})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({22})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({23})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Michael Kauch
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({24})
Sibylle Laurischk
Dr. Martin Lindner ({25})
Michael Link ({26})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({27})
Dr. Martin Neumann
({28})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({29})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({30})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({31})
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({32})
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Lothar Binding ({33})
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({34})
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({35})
Hubertus Heil ({36})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({37})
Frank Hofmann ({38})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({39})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({40})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Karin Roth ({41})
Michael Roth ({42})
Marlene Rupprecht
({43})
Anton Schaaf
Bernd Scheelen
({44})
Werner Schieder ({45})
Ulla Schmidt ({46})
Silvia Schmidt ({47})
Carsten Schneider ({48})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({49})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({50})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Frank Schäffler
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({51})
Michael Schlecht
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bettina Herlitzius
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Enthalten
SPD
Elvira Drobinski-Weiß
Michael Groschek
Hans-Ulrich Klose
Petra Merkel ({52})
FDP
Helga Daub
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({53})
Volker Beck ({54})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({55})
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({56})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({57})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Nun hat das Wort Maria Klein-Schmeink von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie schon häufiger haben wir hier eine Diskussion mit zwei ideologischen Lagern. Der einen Seite
wird unterstellt, Staatsmedizin zu befürworten. Auf der
anderen Seite ist der Wettbewerb, die Freiheit und das
Vertrauen in die Ärzteschaft, das System und die Leistungserbringer.
({0})
Beide Seiten lassen eines vermissen, nämlich die
Mitte: den Patienten, Patientenorientierung und Patientenschutz.
In dieser Debatte hat sich wieder gezeigt, dass es sehr
selten gelingt, differenziert auf ein Problem einzugehen.
Wir haben durchaus ein Problem, nämlich dass die
Zahl der IGeL-Leistungen tatsächlich ansteigt. 60 Prozent aller Augenarztpatienten wird eine IGeL-Leistung
angeboten, in der Regel die Glaukomuntersuchung. Das
betrifft regelmäßig ältere Menschen, die sich kaum in
der Lage sehen, dieses Angebot angemessen einzuschätzen. Auch beim Frauenarzt wird 50 Prozent der Patientinnen eine Vaginaluntersuchung mittels Ultraschall als
IGeL-Leistung angeboten. Es werden auch in anderen
Bereichen, zum Beispiel in der Schwangerenvorsorge,
IGeL-Leistungen angeboten, deren Notwendigkeit für
die Betroffenen sehr schwer einzuschätzen ist. Wir haben also ein Informationsproblem.
Wir haben gleichzeitig das Problem, dass sich die
Ärzteschaft deutliche Regeln, einen Verhaltenskodex gegeben hat. Wir wissen aber aus mehreren Untersuchungen - nicht nur vom WIdO, sondern auch von anderen,
von der Ärzteschaft veranlassten Untersuchungen -,
dass diese Verhaltensregeln sehr häufig nicht eingehalten
werden. In knapp 50 Prozent der Fälle erfolgt zum Beispiel keine schriftliche Aufklärung, dabei ist ein schriftlicher Behandlungsvertrag gemäß Bundesmantelvertrag
vorgeschrieben. Solche Zahlen muss man ernst nehmen.
({1})
Ich meine schon, dass es uns allen hier in diesem
Raum gut anstünde, diese Vorgänge ernst zu nehmen.
Sie machen zwei Dinge. Zum einen überfordern Sie den
Patienten, und zum anderen erschüttern Sie das Selbstverständnis des Heilberufes und führen ihn immer näher
heran an das Selbstverständnis eines Gewerbetreibenden. Wir Politiker haben die Sorgfaltspflicht und stehen
in der Verantwortung, diese Scheidelinie sehr klar zu
ziehen und die Ärzteschaft zu unterstützen, diese Abgrenzung sauber zu treffen.
({2})
Als die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen vorlagen, habe ich bei der Bundesregierung angefragt: Was machen Sie denn jetzt mit den Ergebnissen
aus den Umfragen? Die Antwort war: Wir sehen keinen
Handlungsbedarf, es ist Aufgabe der Selbstverwaltung,
tätig zu werden. - Wenn ich die Patientenrechte und den
Patientenschutz wirklich ernst nehme, meinen Sie nicht,
dass es besser wäre, zu sagen: Wir sehen da ein Problem
und überlegen, wie wir mit den Selbstverwaltungspartnern zu Lösungen kommen? Wäre das nicht vielleicht
die angemessene Antwort gewesen? Ich habe die Antwort im November erhalten. Es hieß: kein Handlungsbedarf.
({3})
Wir haben eben gehört, das Ganze hat sehr viel mit
Aufklärung und Information im Rahmen des Behandlungsvertrags zu tun. Es steht jetzt an, entsprechende
Vorschriften im Patientenrechtegesetz zu regeln. Sie haben uns einen Referentenentwurf vorgelegt, der zwischen dem Justizministerium - FDP-geführt -, dem
Gesundheitsministerium - FDP-geführt - und dem Patientenbeauftragten Herrn Zöller abgestimmt wurde. Darin sind Vorschläge enthalten, wie der Behandlungsvertrag gestaltet sein soll.
({4})
Sie haben Vorschläge gemacht, wie mit Information
und Aufklärung im Behandlungsvertrag umgegangen
werden soll. Was steht dort? Es müssen lediglich die
Kosten für die Behandlung vereinbart werden. In der Begründung haben Sie dann ausgeführt, alles Weitere wäre
Aufgabe des Patienten, von dem man schon erwarten
könne, dass er zur Krankenkasse geht und sich erkundigt, ob die Kosten übernommen werden oder nicht. Das
sind nicht wirklich Schutzvorschriften, das sind auch
keine Aufklärungsvorschriften, die Sie für den Behandlungsvertrag vorgesehen haben. Das fällt sogar hinter die
Formulierungen im Bundesmantelvertrag zurück. So
kann die Ausgestaltung des Patientenrechts nicht aussehen.
({5})
Frau Molitor, Sie haben sehr stark darauf abgehoben,
dass Sie sich um das Wunsch- und Wahlrecht kümmern,
aber es geht nicht nur um Wunsch- und Wahlrecht in abstrakter Form, sondern es geht darum, dass ich nur als
informierter Patient tatsächlich die Chance habe, eine
gute Wahl zu treffen, und genau das regeln Sie nämlich
nicht. Dabei ist es unsere Aufgabe als Gesetzgeber, dafür
zu sorgen, dass die Auflagen für Aufklärung, für Information, für den schriftlichen Behandlungsvertrag, für
den Kostenvoranschlag und für die korrekte Rechnungsstellung tatsächlich eingehalten werden.
({6})
Es ist unsere Aufgabe, über Werbearbeit und Aufklärungsarbeit auf die Einhaltung hinzuwirken. Es ist auch
wichtig, Mechanismen vorzusehen, die greifen, wenn
die Vorschriften nicht eingehalten werden. Daran werden
wir Sie messen.
Herr Rüddel, Sie haben eine schöne Liste vorgelegt.
Ich bin gespannt, wie das hinterher im Patientenrechtegesetz tatsächlich stehen wird. Der jetzige Vorschlag jedenfalls enthält alle die Aspekte, die Sie gerade betont
haben, nicht.
Ich gebe gerne zu, dass die SPD ein Stück über das
Ziel hinausgeschossen ist. Alltagsferne und Patientengerechtigkeit werden darin vermischt, was keine gute Sache ist.
({7})
Ich denke, in den Anhörungen werden wir erfahren, wie
adäquatere Vorschläge aussehen können. Ich verstehe
zum Beispiel nicht, warum wir den Vorschlag der Ärzteschaft, eine Positiv- und eine Negativliste der IGeL aufzulegen, nicht aufgreifen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Rudolf Henke für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit keine Zweifel
aufkommen, will ich zunächst sagen: Ich war Delegierter des Deutschen Ärztetages, der die vorhin erwähnten
Beschlüsse im Jahr 2006 gefasst hat. Ich bin auch an den
Vorbereitungen für den kommenden Deutschen Ärztetag
beteiligt. Es wird eine Neuauflage der Beratungsbroschüre geben, die nicht nur von der Bundesärztekammer
und der Kassenärztliche Bundesvereinigung, sondern
auch von der großen Mehrzahl der freien ärztlichen Verbände herausgeben wird. Mir ist kein Verband bekannt,
der davor zurückgeschreckt wäre. Deswegen finde ich es
angemessen, mit etwas mehr Sachlichkeit zu diskutieren
und nicht Worte wie „Abzocke“ zu wählen.
({0})
Damit tun Sie Ihrem Anliegen keinen Gefallen. Vielmehr sorgen Sie geradezu für eine Konfrontation.
({1})
Ich bin dankbar dafür, dass schon andere darauf hingewiesen haben, dass zum Beispiel bezüglich des
schriftlichen Behandlungsvertrags die Rechtslage eindeutig ist. Für den Fall, dass individuelle Gesundheitsleistungen von Vertragsärzten gegenüber gesetzlich
Krankenversicherten erbracht werden, schreibt der Bundesmantelvertrag einen schriftlichen Behandlungsvertrag zwingend vor. In ihm sollen die Leistungen anhand
von Gebührenpositionen der amtlichen Gebührenordnung für Ärzte konkretisiert werden. Außerdem soll der
Steigerungssatz festgelegt werden und der ausdrückliche
Hinweis enthalten sein, dass die Leistungen mangels
Leistungspflicht der GKV privat zu honorieren sind. Ein
solcher Behandlungsvertrag, so jedenfalls die Empfehlung der Ärzteschaft auf dem Deutschen Ärztetag, sollte
auch in den Fällen geschlossen werden, in denen er nicht
zwingend vorgeschrieben ist. Meines Erachtens müssen
Sie das nicht gesetzlich regeln.
({2})
Sie können das zwar gesetzlich regeln, aber die stärkste
Sanktion ist doch die Tatsache, dass ein Kassenarzt, der
sich nicht an diesen schriftlichen Behandlungsvertrag
hält, keinen Vergütungsanspruch hat. Natürlich braucht
der Patient, wenn gegen diese Regeln verstoßen wird,
die Leistung nicht zu bezahlen. Das ist völlig evident
und klar.
({3})
Bei allen Ärztekammern gibt es eine entsprechende
Beratung. Wer sich fragt: „Muss ich diese Leistung bezahlen, ja oder nein?“, kann sich von den Gebührenordnungsabteilungen der Kammern beraten lassen. Jeder
Bürger bekommt dort eine Auskunft.
Ich bin der Meinung, dass noch ein zweiter Mangel in
Ihrem Antrag steckt. Es fehlt eine differenzierte Betrachtung der Frage, was unter IGeL-Leistungen zu verstehen
ist. Sie sprechen immer von Patienten. Wenn es sich um
Patienten handelt, dann erfolgt eine Behandlung im Rahmen der Indikation nach dem System der gesetzlichen
Krankenversicherung oder nach dem System der privaten Krankenversicherung. Notwendig, zweckmäßig, ausreichend und wirtschaftlich - das sind die Regeln in der
gesetzlichen Krankenversicherung. Die Regeln der privaten Krankenversicherung sehen anders aus. Nach diesen Regeln wird behandelt.
Aber hier reden wir doch gar nicht über Leistungen,
die an Kranken erbracht werden. Wir reden nicht über
Patienten, sondern wir reden über Leistungen, die ein
Gesunder für sich interessant findet. Es geht um Freizeit,
Urlaub und Sport.
({4})
- Entschuldigung. Sie können sich die Welt nicht einfach schnitzen. Sie ist nicht so einfach, wie Sie das in Ihrem Antrag transportieren. Nehmen Sie doch einfach
einmal zur Kenntnis, dass es beispielsweise höchst sinnvolle reisemedizinische Beratungen gibt, einschließlich
Impfberatungen und Impfungen. Was hat das mit dem
Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenkassen zu
tun?
({5})
Es gibt Tauglichkeitsuntersuchungen, es gibt sportmedizinische Beratungen und Untersuchungen. Wieso soll jemand, der sich beispielsweise vor der Ausübung einer
Extremsportart über seinen Gesundheitszustand Aufschluss verschaffen will, dies von der Krankenkasse finanziert bekommen?
({6})
Es ist doch normal, dass das eine eigenständige Leistung
außerhalb des Anspruchs an die gesetzliche Krankenkasse ist und deswegen als individuelle Gesundheitsleistung abgerechnet wird.
({7})
Nehmen Sie das Beispiel kosmetische IGeL, also zum
Beispiel Facelifting, Lidkorrektur, Fettabsaugung, Entfernung von Alterswarzen oder Entfernung von Tätowierungen. Das alles sind Leistungen, die mit dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen nichts zu
tun haben und über deren Sinn und Unsinn man lange
streiten kann. Ich bin für die Initiativen, die fordern: Verbietet es, dass man solche Leistungen Personen unter 18
Jahren andrehen darf. Ich teile diese Meinung. Aber ansonsten ist es in unserer heutigen Welt so, dass ein Gesunder das für sich selbst entscheidet.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Klein-Schmeink?
Ja, gerne.
Herr Henke, Sie haben jetzt einige IGeL aufgeführt,
die in den Bereich fallen, der etwa 20 Prozent der gesamten IGeL-Leistungen ausmacht. Wir wissen aber,
dass insbesondere die Früherkennungsmethoden einen
großen Anteil ausmachen. Im Deutschen Ärzteblatt,
Jahrgang 2009, gibt es eine Untersuchung, die zeigt,
dass Augeninnendruckmessungen mit 40,4 Prozent den
höchsten Anteil all der dort genannten IGeL-Leistungen
ausmachen. Wir müssen davon ausgehen, dass es sich in
der Tat zumeist um eine Früherkennungsmethode handelt.
Sie haben sich als Präsident der Ärztekammer Nordrhein ja nicht grundlos um einen Verhaltenskodex bemüht. Sie wissen nämlich, dass es da Probleme gegeben
hat. Kann ich davon ausgehen, dass die Regelungen, die
vorgeschlagen worden sind, zumindest teilweise in das
geplante Patientenrechtegesetz übernommen werden?
Im jetzigen Formulierungsvorschlag werden all diese
Elemente nicht genannt.
Vielen Dank, Frau Klein-Schmeink, für diese Frage. Sie haben Quantitäten genannt. Ich habe dazu keine Erkenntnis. Es gibt noch wesentlich mehr IGeL-Leistungen. Ich denke etwa an Bescheinigungen für den Besuch
eines Sportvereins, Bescheinigungen bei Reiserücktritt
oder eine ärztliche Bescheinigung bei Einstieg in einen
Beruf.
({0})
Einige Menschen haben den Wunsch, ihre Wehrtauglichkeit überprüfen zu lassen, bevor sie sich entscheiden, in
den freiwilligen Wehrdienst einzutreten. Sie wollen vorher ihre Gesundheit überprüfen lassen und sind bereit,
dafür zu zahlen. Es gibt auch Menschen, die gerne wissen wollen, welche Blutgruppe sie haben, ohne dass es
dafür eine medizinische Notwendigkeit gibt. Wo ist da
das Problem?
Sie weisen natürlich auf einen Punkt hin, der im Zusammenhang mit Gesundheitsleistungen - nicht nur außerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenkasse,
sondern auch innerhalb - immer eine Rolle spielt. Die
entscheidende Frage ist: Liegt ein Einverständnis des informierten Patienten für das Durchführen einer Maßnahme vor, die eine Intervention in seinen Organismus
oder in seine Psyche bedeutet? Es ist die ethische Pflicht
der Ärzte, eine korrekte Aufklärung zu betreiben. Wer
gegen dieses Aufklärungsgebot, das auch in der Musterberufsordnung der Ärzteschaft geregelt ist, verstößt,
muss zur Rechenschaft gezogen werden.
({1})
Das gilt unabhängig von der Frage, ob es eine Leistung
ist, die im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen enthalten ist. Wenn sie bei einer Person überflüssig ist, darf sie nicht erbracht werden, und wenn sie kritisch ist, muss man mit dem Patienten oder der Patientin
darüber reden, ob in diesem konkreten Fall die entsprechende Maßnahme geboten ist oder nicht.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Screening auf ein
sonst erst spät zu erkennendes Mammakarzinom, also
Brustkrebs. Über diese Untersuchung wie über die Untersuchung von Männern auf das prostataspezifische Antigen gibt es eine große fachliche Debatte, ob sie zweckmäßig und richtig sind. In beiden Fällen, ob im System
der GKV oder individuell bezahlt, braucht man nach
meiner Einschätzung zwingend eine subtile und präzise
Aufklärung darüber, was passieren kann, wenn man die
jeweilige Untersuchung unterlässt, und was passieren
kann, wenn man sie durchführen lässt. Auch dies kann
nämlich Folgen haben. Es kann zu Fehldiagnosen kommen. Das Ergebnis kann zur Beunruhigung führen. Die
Untersuchung kann zur Folge haben, dass Maßnahmen
eingeleitet werden, die nicht notwendig sind.
Nun komme ich zum Ende meiner Antwort.
({2})
- Ich bin Ihnen ja dankbar, dass Sie Differenzierungen
ermöglichen. Ich glaube auch, dass es die richtige politische Herangehensweise ist, Differenzierungen zu ermöglichen und nicht mit dem Vorwurf der „Abzocke“
immer wieder in die gleiche Schneise zu schlagen.
({3})
Hier bin ich der gleichen Meinung wie Sie.
({4})
Ich bin immer dafür, alles, was geregelt werden muss,
in einem Gesetz zu regeln.
({5})
Ich bin aber auch immer dafür, bei allen gesetzlichen Regelungen darauf zu achten - damit wäre der Gesetzgeber
klug beraten -, nicht im Übermaß zu regeln. Diese Debatte muss im Einzelnen geführt und dann entschieden
werden.
In manchen Fällen wird die Berufsordnung leider von
deutschen Gerichten in ihre Einzelteile zerlegt. Ich will
ein konkretes Beispiel nennen. Ich bin der Meinung,
man muss zwingend regeln, dass IGeL-Leistungen nur
innerhalb des eigenen Fachgebiets erbracht werden dürfen. Außerhalb des eigenen Fachgebiets sollte es nicht
möglich sein, eine IGeL-Leistung zu erbringen. Das sehen die deutschen Gerichte aber anders. Die deutschen
Gerichte sagen: Zu einem geringen Anteil muss es möglich sein, auch außerhalb des eigenen Fachgebiets IGeLLeistungen zu erbringen. - Sie stehen dumm da, wenn
Sie sagen: Wir möchten gerne vermeiden, dass eine
Leistung erbracht wird, die nicht zum Fachgebiet gehört. - Da ist es wesentlich einfacher, bei der Aufklärung
oder beim Schriftgebot anzusetzen.
Nur: Eine Regelung, die wir treffen - egal ob sie dann
im Gesetz oder in der Berufsordnung steht -, werden wir
nur dann durchsetzen bzw. in der Praxis umsetzen können, wenn wir die Beziehungen zwischen Arzt und Versichertem bzw. zwischen Arzt und demjenigen, der nach
einer IGeL-Leistung fragt, pflegen. Umsetzen wird der
Staat eine solche Regelung ja nicht, indem er jemanden
daneben stellt und die Einhaltung der Regeln bewacht,
sondern wir sind auf die Mitwirkung der Akteure angewiesen. Deswegen müssen wir an dieser Stelle das Wissen der Patienten und der Versicherten stärken und
gleichzeitig an die Ehre der Ärztinnen und Ärzte appellieren. Wir wollen ja nicht, dass es in den Praxen eine
Gesundheitspolizei gibt.
Ich finde, dies setzt voraus, dass wir grundsätzlich
versuchen müssen, die Menschen zu erreichen. Dies
wiederum setzt voraus, dass wir ein Stück weit Vertrauen aufbringen. Wir dürfen die Chance, die Menschen
für unser Ziel zu gewinnen, nicht dadurch zerstören, dass
wir Texte schreiben, die von vornherein über das Ziel hinausschießen und nur Misstrauen verbreiten. Das ist,
glaube ich, der gesellschaftspolitisch entscheidende
Punkt, an dem ich einen deutlichen Unterschied zwischen der sich um Mitte bemühenden Position von Frau
Klein-Schmeink, die in ähnlicher Form auch Frau
Molitor vorgetragen hat, und dem SPD-Antrag wahrnehme. Sie haben das Recht in Ihrem Antrag leider an
manchen Stellen komplett durcheinandergebracht.
Ein Beispiel: Der G-BA, der Gemeinsame Bundesausschuss, soll in Zukunft Aufgaben im Bereich der Beurteilung und Bewertung von IGeL-Leistungen übernehmen. Das verstehe ich nicht; denn diese Leistungen sind
nicht im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen enthalten.
({6})
Wahr ist allerdings auch: Bevor eine Leistung in den
Leistungskatalog der GKV aufgenommen wird, muss sie
sich bewährt haben. Dafür gibt es Beispiele, etwa Unter21138
suchungen mit einem Kernspintomografen. Diese Untersuchungen, die heute Regelleistungen sind, waren in ihrer Entwicklungsphase lange Zeit IGeL-Leistungen, weil
man noch nicht wusste, wie tauglich sie wirklich sind.
Ich bin also sehr dafür, dass wir diese Debatte im
Ausschuss führen. Wir sollten sie aber differenzierter
führen, als Ihr Text das vermuten lässt. Ich glaube aber,
das bekommen wir schon hin.
Ich bedanke mich sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Marlies Volkmer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen Sie sich vor,
Sie haben monatelang auf einen Termin beim Augenarzt
gewartet und jetzt sitzen Sie geduldig im Wartezimmer,
bis die Praxisassistentin Sie aufruft. Sie kommen dann
aber noch nicht gleich zum Arzt, sondern Sie bekommen
erst einmal ein Klemmbrett ausgehändigt und Ihnen wird
kundgetan: Der Herr Doktor hält es für notwendig, dass
bei Ihnen auch eine Augendruckmessung gemacht wird.
Sie kostet 20 Euro, aber so viel wird Ihnen Ihre Gesundheit doch wert sein.
Dann überlegen Sie erst einmal: Was nun? Eigentlich
sind Sie es gewohnt, dass die gesetzliche Krankenversicherung alles Notwendige bezahlt. Andererseits wollen
Sie es sich mit dem Augenarzt auch nicht verderben,
weil er unter Umständen der einzige in der Umgebung
ist. Sie denken dann vielleicht auch: Dem Arzt kann man
eigentlich vertrauen. - Also lassen Sie diese Untersuchung machen. Es stellt sich heraus: Ihr Augendruck ist
völlig normal. Am Ende kommen Ihnen dann doch
Zweifel, ob es wirklich nur um Ihre Gesundheit ging.
Ein Problem, das anhand dieses Beispiels aufgezeigt
wird, ist eben: IGeL-Leistungen untergraben zum einen
das Arzt-Patienten-Verhältnis, sie untergraben zum anderen aber auch das Vertrauen in die gesetzliche Krankenversicherung.
({0})
Die IGeL-Leistungen sind für Patientinnen und Patienten gänzlich intransparent. Diese fragen sich dann schon:
Ging es jetzt nur darum, das Einkommen meines Arztes
zu erhöhen, oder war das doch eine notwendige Leistung, die die Krankenversicherung nicht bezahlen will?
Wir wollen endlich Transparenz schaffen. Die Patientinnen und Patienten sollen über Sinn oder Unsinn solcher zusätzlichen medizinischen Leistungen gut informiert sein. Sie sollen vom Arzt auch nicht unter Druck
gesetzt werden und sich nicht unter Druck gesetzt fühlen; denn sie sollen in die Lage versetzt werden, eine
selbstbestimmte Entscheidung zu treffen.
Wir wissen: Welche Leistungen die gesetzliche Krankenversicherung bezahlt, entscheidet der Gemeinsame
Bundesausschuss, das Gremium aus Ärzten und Krankenkassen, und der Gemeinsame Bundesausschuss hat
entschieden: Augendruckmessungen sind immer dann
Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung,
wenn der Arzt den berechtigten Verdacht hat, dass eine
Erhöhung des Augendruckes vorliegen könnte. Sie sind
aber eben nicht Kassenleistung als Vorsorgeleistung,
weil es hierzu noch keine Nutzenbewertung gibt.
Es gibt aber auch IGeL-Leistungen, für die die ärztlichen Fachgesellschaften noch nie einen Antrag auf
Kostenübernahme durch die Krankenversicherung gestellt haben. Warum wohl nicht? Einerseits, weil die Studienlage dünn ist, andererseits aber auch, weil sich mit
diesen Leistungen über eine Privatabrechnung mehr
Geld verdienen lässt.
({1})
Das wissen die Patientinnen und Patienten aber nicht,
und das ist ein unhaltbarer Zustand. Damit wollen wir
Schluss machen.
({2})
Es gibt hier inzwischen eine regelrechte IGeL-Industrie,
({3})
die Handbücher, Werbemittel und sogar Kongresse und
Fortbildungsseminare für die Arztpraxen anbietet. Auf
Internetseiten gibt es IGeL-Ranglisten, geordnet nach
ökonomischer Rentabilität. Hier wird der Arzt zum
Kaufmann,
({4})
und hier verletzt der Arzt seine ethischen Grundsätze.
Herr Henke, trotz des Verhaltenskodex, der 2006 von
der Ärzteschaft beschlossen worden ist, ist der Umfang
der IGeL-Leistungen deutlich angestiegen. 2010 haben
sie 1,5 Milliarden Euro ausgemacht. Inzwischen ist es
noch mehr.
({5})
Prinzipiell kann alles außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung - das haben
auch Sie gesagt - als IGeL-Leistung angeboten werden.
Eine Abrechnung anhand der lukrativen privaten Gebührenordnung der Ärzte ist zwar empfohlen, aber selbst an
diese Vorgabe wird sich häufig nicht gehalten.
Eindeutige Qualitätsanforderungen gibt es bei IGeL
nicht. Dabei haben Patientinnen und Patienten ein Recht
auf eine qualitativ gute und sichere Behandlung. Es ist
deswegen kein Wunder, dass viele Ärztinnen und Ärzte
diese IGeL-Praktiken ablehnen und unser Vorgehen dagegen unterstützen.
({6})
Von Alltagsferne kann hier überhaupt keine Rede
sein. Alltagsfern sind Sie, Herr Henke, wenn Sie ernsthaft glauben, der Patient könne sich bei der Ärztekammer beraten lassen, ob er die Rechnung bezahlen muss,
die er von seinem Arzt erhalten hat. Gehen Sie doch einmal in die Praxis und schauen sich die Situation vor Ort
an. Dann werden Sie sich fragen, wie das überhaupt
möglich sein soll.
({7})
Es geht uns mit dem vorliegenden Antrag nicht um
ein generelles Verbot von Individuellen Gesundheitsleistungen. Es gibt sinnvolle Leistungen, sie sind vorhin aufgezählt worden. Aber wir wollen Transparenz und Sicherheit für die Patientinnen und Patienten schaffen. Wir
wollen nicht, dass die Menschen bei einem Arztbesuch
unter Druck gesetzt werden oder dass ihnen unnötige
und medizinisch zweifelhafte Leistungen aufgedrängt
werden.
Es ist sehr bedauerlich, dass Sie an dieses Thema
offensichtlich nicht herangehen. Sie haben heute aufgezählt, was Sie alles machen wollen.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich bin sehr gespannt, ob sich das tatsächlich in dem
nun schon seit fast drei Jahren angekündigten Patientenrechtegesetz wiederfindet.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9061 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({2}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksache 17/9505 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Staatsminister Michael Link das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
vergangenen Sonntag fanden in Serbien Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen statt, also in einem
Staat, unmittelbar angrenzend an das Kosovo. Auch die
im Kosovo lebenden kosovarisch-serbischen Doppelstaater waren aufgerufen, sich an diesen Wahlen zu beteiligen. Ich stelle das voran, weil das ein Ereignis war,
was uns vorher durchaus Anlass zu der Frage gegeben
hat, wie diese Wahlen verlaufen würden.
Der Wahlgang ist erfreulich ruhig und ohne sicherheitsrelevante Zwischenfälle verlaufen. Anders als noch
bei den letzten serbischen Wahlen 2008 konnten sich
dieses Mal die Doppelstaater in ganz Kosovo an den
Wahlen beteiligen, und alle Seiten haben das anerkannt.
Das ist ein Erfolg für beide Staaten, für Serbien wie für
Kosovo. Die Einigung darüber, die Stimmabgabe der
Doppelstaater durch die OSZE ermöglichen zu lassen,
konnte erst in den letzten Tagen vor dem Wahlgang erreicht werden.
Es stand lange zu befürchten, dass sich die Lage im
Zuge dieser Wahlen zuspitzt. Das war der Anlass dafür
- jetzt kommt konkret KFOR ins Spiel -, dass zum
zweiten Mal innerhalb relativ kurzer Zeit die operative
KFOR-Reserve des deutsch-österreichischen Bataillons
nach Kosovo geschickt wurde. Diese Entsendung, die
auf Antrag der NATO geschah und die wir uns nicht
leicht gemacht haben, hat ohne Zweifel geholfen, einer
Eskalation der Lage vorzubeugen.
({0})
Auch vor diesem ganz aktuellen Hintergrund möchte
ich den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die
im Kosovo ihren Dienst leisten, zum Teil seit vielen
Jahren, zum Teil wiederholt, im Namen der gesamten
Bundesregierung ausdrücklich meinen Respekt und
Dank aussprechen.
({1})
- Da ist meine eigene Fraktion schneller als ich. - Ich
gehe davon aus, dass sich auch die Mitglieder des Deutschen Bundestages diesem Dank anschließen; denn es ist
das Mandat des Deutschen Bundestages, aufgrund dessen die Soldatinnen und Soldaten im Kosovo sind, nicht
aufgrund eines Mandates der Bundesregierung.
({2})
Unsere Soldatinnen und Soldaten tun dies unter schwierigen Bedingungen. Gerade im Kosovo ist die Situation
nach wie vor nicht leicht. Für ihren Einsatz gebührt ihnen Respekt und Dank.
Der Mandatsantrag, den die Bundesregierung heute
im Bundestag einbringt, sieht eine weitere Verlängerung
der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo vor. Die völkerrechtlichen
Grundlagen aus dem Jahr 1999 gelten fort. Die Inhalte
des Mandats und die Mandatsobergrenze von 1 850 Soldaten bleiben unverändert.
Wir müssen die Lage realistisch sehen: Kosovo ist
noch nicht an einem Punkt angelangt, an dem von einer
selbsttragenden Stabilität oder einem gesicherten regionalen Umfeld gesprochen werden könnte. Das Eskalationspotenzial insbesondere im Norden des Kosovo, aber
auch in anderen Teilen der Gesamtregion ist nach wie
vor hoch.
Die Ausschreitungen im Juli des letzten Jahres haben
wir noch alle lebhaft in Erinnerung. Viele von den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag waren auch
dort und haben sich ein eigenes Bild gemacht. Die
Ausschreitungen im letzten Juli an der kosovarischserbischen Grenze, die sich bis weit in den Herbst hineinzogen, haben gezeigt, wie angespannt das Verhältnis
zwischen den beiden Ethnien nach wie vor ist.
Deshalb trägt die internationale Gemeinschaft weiterhin die Verantwortung, für die Stabilität in der Region zu
sorgen. Deshalb hält die Bundesregierung dieses Mandat
weiterhin für erforderlich und bittet den Bundestag um
seine Zustimmung zur Verlängerung. Ich sage sogar ausdrücklich: Ohne das KFOR-Mandat hätte man eine Situation wie im letzten Juli, die sich dort über viele Wochen und Monate fortsetzte, wahrscheinlich nicht friedlich
meistern können. Deshalb sage ich noch einmal - auch
vor dem Hintergrund, dass einige gefragt haben, ob dieses Mandat noch notwendig ist -: Die Ereignisse gerade
im abgelaufenen Mandatszeitraum unterstreichen, dass
diese Verlängerung offenkundig sinnvoll und richtig ist.
Die Zukunft Serbiens und des Kosovo liegt langfristig
in der Europäischen Union. Das möchte ich gerne in einen breiteren politischen Zusammenhang stellen. Die
Bundesregierung unterstützt weiterhin die von der EU
beschlossene Thessaloniki-Agenda. Kosovo braucht das
klare Signal, dass es bei Erfüllung der Bedingungen eine
konkrete EU-Perspektive hat und dass es dabei auch von
Serbien nicht blockiert werden kann. Deshalb war es
richtig, dass nach direkten serbisch-kosovarischen Gesprächen und auch nach Zugeständnissen beider Seiten
der Europäische Rat im Dezember Serbien den Status eines Beitrittskandidaten verliehen und damit dem Land
eine klare europäische Perspektive eröffnet hat. Das war
an ebenso klare Reform- und Modernisierungsbedingungen geknüpft. Diese gelten weiter.
Kern der Bemühungen ist eine unverrückbare Forderung an die serbische Seite, die Normalisierung der Beziehungen zu Kosovo zu vollziehen. Dazu gehören die
Anerkennung der Souveränität des Kosovo über das gesamte Territorium seines Landes und der Abbau von serbischen Parallelstrukturen. Deshalb erwarten wir auch,
dass die Ergebnisse der illegal in zwei Gemeinden des
Nordkosovo abgehaltenen Kommunalwahlen, nämlich
in Zubin Potok und Zvecan, nicht anerkannt werden.
({3})
Wir erwarten aber auch, dass die kosovarische Seite
das Ihre beiträgt - das ist wahrlich auch nicht wenig und Übergriffe auf serbische Kosovaren unterbindet.
Denn es sind auch Staatsbürger des Kosovo, die in
Srbica, Bresovica, Gracanica und anderen Teilen speziell
des Nordkosovo leben. In allen ethnisch serbischen
Enklaven innerhalb des Kosovo erwarten wir, dass die
kosovarische Regierung für die Sicherheit der ethnisch
serbischen Bürger sorgt und Rechtsstaatlichkeit garantiert.
({4})
Der Aufbau der Sicherheitskräfte und die rechtsstaatlichen Strukturen des Kosovo sind Schwerpunkte der
EULEX-Mission und müssen vorangetrieben werden.
Die EULEX-Mission ist in den letzten Monaten häufig
an ihre Grenzen gestoßen. Darauf wird die EU Antworten finden müssen.
Aktuell läuft der Überprüfungsprozess zu EULEX.
KFOR musste in den letzten Monaten vor allem im
Norden des Kosovo zu häufig Aufgaben übernehmen,
die eigentlich entweder Aufgaben der kosovarischen
Sicherheitskräfte oder von EULEX gewesen wären.
EULEX muss deshalb besser werden.
Unsere polnischen Freunde tragen zurzeit die Hauptlast im EULEX-Bereich bzw. im Bereich der Polizeikräfte und stellen als Einzige jene Art von Polizeikräften, die wir vor allem im Norden gerade brauchen. Dafür
sind wir den Polen dankbar. Dankbarkeit reicht aber
nicht. Europäische Solidarität muss in konkretes Handeln umgesetzt werden. Wir haben deshalb gemeinsam
mit dem Bundesinnenministerium ein Konzept erarbeitet, aufgrund dessen im Einklang mit unserer klaren verfassungsrechtlichen Trennung von Polizei und Militär
mehr deutsche Polizisten entsendet werden sollen, die
dann auch die polnischen Kollegen entlasten und insgesamt die Performance von EULEX deutlich verstärken
könnten.
Ich bin zuversichtlich, dass auch andere Partner in
Europa gemeinsam mit uns hier mehr Verantwortung
übernehmen werden. Bis EULEX so weit ist, können wir
uns auf die hohe Professionalität der KFOR-Soldaten
und auf die umsichtige und besonnene Operationsführung - das unterstreiche ich ausdrücklich - durch den
deutschen Kommandeur verlassen.
Wir alle wissen, was im Kosovo auf dem Spiel steht.
Dazu gehört zuallererst, dass es keinen Rückfall in einen
bewaffneten Konflikt geben darf. KFOR wird alles tun,
was in ihrer Macht steht, um einen solchen Rückfall zu
verhindern. KFOR schafft zugleich das nötige Umfeld
für einen ruhigen und friedlichen politischen Prozess.
Die Mission trägt damit eine große Verantwortung. Sie
wurde in der Vergangenheit dieser Verantwortung gerecht. Sie hat deshalb auch für die Zukunft unsere volle
Unterstützung verdient.
Die Bundesregierung bittet den Deutschen Bundestag
um Zustimmung zu diesem Mandat.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dietmar Nietan von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatsminister Link hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es neben vielen positiven Entwicklungen auf
dem sogenannten Westbalkan Entwicklungen gibt, die
leider noch immer Grund zur Sorge geben. Deshalb ist
es richtig, dieses Mandat zu verlängern.
Ich will aber mit zwei guten Nachrichten beginnen,
die zeigen, in welche Richtung es weitergehen kann.
Viele hatten befürchtet, dass es kurz vor und während
der Wahlen in Serbien am 6. Mai im Nordkosovo zu
massiven Auseinandersetzungen kommt. Das ist Gott sei
Dank nicht eingetreten. Wir können feststellen, dass der
Kosovo im Wahlkampf und für die Entscheidung der
Wählerinnen und Wähler in Serbien kein relevantes
Thema war. Es waren andere Punkte, die die Wahl in
Serbien entschieden haben. Das zeigt: Schritt für Schritt
können sich die Verhältnisse ändern. Das liegt sicherlich
auch daran, dass es gerade der Regierung Tadic in Serbien gelungen ist, einen sehr proeuropäischen Kurs einzuschlagen. Daher ist es auch eine gute Nachricht - erlauben Sie mir diese Zwischenbemerkung -, dass nun
wohl eine Koalition aus demokratischer Partei und sozialistischer Partei ihre Arbeit in Serbien fortführen
wird.
Die Gründe für die guten Nachrichten liegen sicherlich in den Reformbemühungen beispielsweise der Regierung Tadic, aber auch - darauf hat der Staatsminister
schon hingewiesen - in der gestiegenen Aktivität der Europäischen Union im Vorfeld der Entscheidung über den
Kanditatenstatus für Serbien, im Kosovo-Serbien-Konflikt unterstützend zu vermitteln. Ich möchte an dieser
Stelle betonen: Lady Ashton hat dort, wie ich finde, gute
Arbeit geleistet. Ich sage als Oppositionspolitiker: Wir
haben es sehr begrüßt, dass sich auch der Bundesaußenminister für die Annäherung von Serbien und dem Kosovo sehr eingesetzt hat.
({0})
Trotz dieser guten Nachrichten will ich an dieser
Stelle sagen: Wenn wir nicht wollen, dass die negativen
Entwicklungen weiter ihre Eigendynamik entfalten,
dann müssen wir jetzt sehr schnell handeln. Das heißt,
die Frage der endgültigen Anerkennung der Eigenstaatlichkeit des Kosovo muss ein Punkt sein, in dem sich die
Europäische Union noch stärker engagieren muss, nicht
nur gegenüber den fünf Mitgliedstaaten, die den Kosovo
noch nicht anerkannt haben.
({1})
Wir müssen den Kosovaren auch deutlich machen, dass
wir ein Interesse daran haben, dass alle ihre Nachbarn in
der Region einschließlich Serbien die Eigenstaatlichkeit
des Kosovo garantieren; denn nur dann besteht nach
meiner Meinung eine Chance, dem um sich greifenden
Nationalismus entgegenzutreten.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist sicherlich - auch darauf hat der Staatsminister hingewiesen - eine nicht als
Lippenbekenntnis gemeinte, ernsthafte Perspektive für
die Staaten des sogenannten Westbalkans, die reformwillig und bereit sind, Mitglied der Europäischen Union zu
werden. Da es noch so viele Unwägbarkeiten gibt, wäre
es verantwortungslos, das Mandat jetzt zu beenden. Deshalb möchte ich appellieren, nicht nur über dieses Mandat zu reden, sondern auch darüber nachzudenken, was
wir, die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union, tun können, um klare Perspektiven für die
Menschen auf dem Westbalkan herauszustellen und uns
stärker dafür zu engagieren; denn nur wenn es eine klare
Perspektive gibt, werden weiterhin die Reformkräfte gestärkt werden, die dem Nationalismus widersagen.
Es gibt für mich drei Punkte, die wichtig sind, um
eine positive Dynamik zu entfalten und positive Signale
zu setzen:
Ich halte es für sehr wichtig, dass wir ernsthaft daran
arbeiten, in Sachen Liberalisierung der Visabestimmungen für das Kosovo voranzukommen. Es geht dabei
nicht um einen politischen Rabatt, sondern es geht um
eine Gleichbehandlung des Kosovo. Die Bemühungen
des Kosovo, die Kriterien für die Liberalisierung der
Visabestimmungen zu erfüllen, müssen honoriert werden. Wenn die Kriterien erfüllt sind, muss man die Kosovaren genauso behandeln wie die Serben, die Bosniaken
und andere auf dem Westbalkan.
({2})
Ein weiterer Punkt, der für mich sehr wichtig ist, ist,
dass wir uns noch stärker dafür engagieren, dass es möglichst schnell zu Beitrittsverhandlungen zwischen Serbien und der Europäischen Union kommt. Auch hier
möchte ich nicht falsch verstanden werden. Es geht nicht
um einen politischen Rabatt für Serbien oder für die reformfreundliche Regierung, sondern es geht darum, die
Beitrittsverhandlungen selbst als einen Mechanismus zu
nutzen, um die Werte, die wir alle teilen - Rechtsstaatlichkeit, Transparenz, Bekämpfung von Korruption und
organisierter Kriminalität -, durchzusetzen. Das erfolgreiche Beispiel von Kroatien zeigt, dass ein gut vorbereiteter und gut durchgeführter Beitrittsprozess immer noch
der beste Weg ist, diese Werte im täglichen Leben der
Staaten zu verankern.
Was ich auch für wichtig erachte, ist die Frage, wie
wir einen Rahmen setzen, damit es zu dieser positiven
Dynamik kommt. Deshalb lege ich Ihnen sehr ans Herz,
zu überlegen, ob es eine Möglichkeit gibt, die einzelnen
Kapitel im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit Serbien nicht immer mit der Frage der Anerkennung des
Kosovo durch Serbien zu belasten.
({3})
Wir sollten vielmehr überlegen, wie wir während der
Beitrittsverhandlungen, aber auch abseits der Verhandlungen über die einzelnen Kapitel ein Format schaffen,
das den Weg eröffnet, dass Serbien Kosovo letztlich anerkennt; denn jeder weiß: Solange das nicht der Fall ist,
kann Serbien nicht Mitglied der Europäischen Union
werden.
({4})
Die Zeit drängt. Premierminister Thaci hat gestern auf
der Internetseite EurActiv in einem Namensbeitrag deutlich gemacht, dass dann, wenn es nicht bald konkrete
Signale gibt, dass wir uns engagieren, und wenn es keine
positive Dynamik gibt, nationalistische Kräfte die Oberhand bekommen, die Frustration stärker wird, die Menschen sich alleingelassen fühlen und das Gefühl bekommen, dass KFOR ihnen nicht hilft, sondern eine
Besatzungsmacht darstellt.
Deshalb gibt es keinen Grund, zu zögern und zu warten; es gibt vielmehr viele Gründe, dass sich die EU beherzt für diese Region engagiert. Es sollte das Ziel unserer Bemühungen sein - damit will ich schließen -, die
Rahmenbedingungen nicht nur im Kosovo, sondern auf
dem gesamten Westbalkan so zu gestalten, dass alle
Staaten den Weg zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie,
Achtung der Menschenrechte sowie zu Presse- und Medienfreiheit finden. Die Übernahme des Acquis, der
Werte der EU, ist der beste Weg, um das zu erreichen,
was wir eigentlich wollen, nämlich dass möglichst
schnell das KFOR-Mandat nicht mehr notwendig ist.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Thomas de
Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
13 Jahren ist KFOR jetzt im Kosovo. Insgesamt ist die
Lage stabil. Auch die Wahlen sind erfolgreich verlaufen.
Herr Staatsminister Link hat das vorgetragen. Das ist natürlich ein Erfolg der beiden Staaten, das ist aber auch
ein Erfolg der OSZE - das will ich hier einmal sagen -,
das ist ein Erfolg des internationalen Drucks auf beide
Staaten, und das ist ein Erfolg, den KFOR und die Soldaten ermöglicht haben. Durch ihre schlichte Existenz,
auch der Reserve, durch ihr besonnenes und zurückhaltendes Handeln haben die Soldatinnen und Soldaten von
KFOR vor Ort ein sicheres Umfeld und damit eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen, dass diese Wahlen
erfolgreich verlaufen konnten. Herr Staatsminister Link
hat den Soldaten gedankt. Wenn ich das als Verteidigungsminister tue, dann klingt es vielleicht etwas komisch, aber ich schließe mich natürlich gerne dem Dank
an und freue mich darüber.
({0})
Die Reserve besteht aus Soldaten, die größtenteils gerade erst aus dem Kosovo nach Hause gekommen sind.
Einige sind gerade erst aus Afghanistan gekommen. Sie
mussten kurzfristig erneut in den Kosovo, einige, nachdem sie gerade ihre Freundinnen in den Arm genommen
hatten. Nun kann und muss man sagen: Das ist hart, aber
das ist so bei einer Reserve. Wenn man zur Reserve gehört, dann kann man auch zwei-, drei- oder viermal geholt werden. Das ist so. Trotzdem: Das Verhalten der
Truppe im Umgang damit war erstklassig. Obwohl es
vielen freigestellt war - Frau Kastner war mit einigen
vom Bundestag dort -, sind sie dort hingegangen. Einige
haben ein bisschen geknurrt, aber dann doch gesagt: Wir
wissen, was unser Auftrag ist, und wir gehen dort hin. Das ist klasse, und das verdient noch einmal einen extra
Dank.
({1})
Nun ist geplant, dieses Bataillon - das will ich hier
gerne sagen - nach der Stichwahl am 20. Mai 2012 so
schnell wie möglich nach Deutschland zurückzuführen.
Das wird ein paar Tage dauern. Wenn aber der zweite
Wahlgang genauso gut verläuft wie der erste, dann hoffe
ich, dass es nicht zu einem erneuten Rückruf der Reserve
kommen wird.
Trotzdem hatten wir im letzten Jahr ein Eskalationspotenzial. Herr Link hat davon schon gesprochen. Dies
war im Juli und dann noch im Herbst der Fall. Seitdem
hat sich die Lage stabilisiert. Aber: Sie ist nach wie vor
labil.
Die Bewegungsfreiheit für KFOR ist im Norden des
Kosovo grundsätzlich wiederhergestellt, für die Polizeimission EULEX gilt das allerdings nicht. Vor diesem
Hintergrund und angesichts des genannten Risikos halten wir an der bisherigen Obergrenze von 1 850 Soldatinnen und Soldaten für die nächste Mandatsperiode fest,
auch wenn wir sie bisher nicht ausgeschöpft haben und
auch nicht ausschöpfen wollen.
Die Situation in der Republik Kosovo zeigt, dass
KFOR als Teil des Konzepts der drei Sicherheitsreihen
erforderlich bleibt. Die erste Sicherheitsreihe soll durch
die kosovarische Polizei gewährleistet werden, die zweite
Sicherheitsreihe durch die Polizeimission EULEX und
erst die dritte Sicherheitsreihe durch die Soldaten von
KFOR. Faktisch ist in weiten Bereichen KFOR in die
Rolle der ersten Sicherheitsreihe, des First Responder, gedrängt worden. Das ist keine gute Entwicklung, und das
muss sich auch wieder ändern. So stelle ich mir vernetzte
Sicherheitspolitik nicht vor.
KFOR kann zwar die Situation unter Kontrolle halten,
das Problem lösen kann KFOR aber nicht. Eine militärische Lösung des Konfliktes im Kosovo wird es niemals
geben. Es bedarf einer politischen Lösung, und zwar
dringend. Gerade der Stabilisierung der rechtsstaatlichen
Strukturen mit Unterstützung durch EULEX kommt dabei - Herr Link hat davon gesprochen - eine besondere
Priorität zu. Oder um es schlicht und einfach zu sagen:
EULEX muss besser werden - in jeder Weise.
Meine Damen und Herren, am 11. Juni 1999 hat der
Bundestag zum ersten Mal über die Beteiligung deutscher Soldaten an KFOR beraten. Verteidigungsminister
war damals Peter Struck. Er hat dazu gesagt - ich zitiere -:
Es ist nur der Anfang auf einem langen, dornenreichen Weg zu wirklichem Frieden.
Vielleicht hat das niemand geglaubt und nicht gedacht,
dass das so lange dauert. Aber er sollte recht behalten.
Die Bundeswehr ist seit 13 Jahren ein zuverlässiger
Begleiter auf diesem Weg. Zum vierten Mal in Folge
werden wir ab September 2012 den Kommandeur KFOR
stellen und damit zum siebten Mal insgesamt. Auch das,
dass wir immer wieder gefragt werden, ist ein Zeichen
der Anerkennung für unsere Rolle im Kosovo.
Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen sehr
wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Landes, das
sich nur zwei Flugstunden von hier, mitten im Herzen
Europas befindet. Aber es kann nur ein Beitrag sein. Für
die Fortsetzung dieses Beitrags bitten wir, die Bundesregierung, das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium, um Ihre Unterstützung und um Ihre Zustimmung.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Thomas Nord.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister! Herr Staatsminister! Es ist sicherlich für
Sie keine Überraschung, dass wir heute im Deutschen
Bundestag zu diesem Thema eine andere Position als
alle anderen Parteien beziehen. Wir haben den Krieg gegen Serbien 1999 abgelehnt, weil er aus unserer Sicht
völkerrechtswidrig war. An dieser Ablehnung hat sich
nichts geändert. Deswegen werden wir auch heute wieder Nein zur Entsendung von Bundeswehrtruppen in den
Kosovo sagen. Wir denken, ein Ja dazu wäre eine Legitimierung dieses Vorgehens, und das halten wir nach wie
vor für politisch falsch.
({0})
Das Jahr 1999 war - der Minister hat es schon gesagt für Deutschland eine politische Zäsur. Der Bellizismus
hatte damals Hochkonjunktur, Friedenschaffen mit Waffen war sozusagen, zumindest hier im Deutschen Bundestag, für fast alle Parteien politischer Konsens.
Inzwischen liegt der Irakkrieg hinter uns, und Afghanistan ist, wie es ist. Es zieht mehr Nachdenklichkeit in
der Frage ein, ob man die Probleme dieser Welt tatsächlich mit Krieg lösen kann. Ich denke, in der Atalanta-Debatte heute ist schon deutlich geworden, dass diese
Nachdenklichkeit weit über die Linke hinausgeht. Ich
finde, das ist eine gute Entwicklung, auch wenn das an
der Vergangenheit natürlich nichts ändert.
({1})
Um zur Gegenwart zu kommen: Die jetzige Lage im
Kosovo ist gerade nicht von politischer Stabilität gekennzeichnet, wie hier zu Recht von allen Rednerinnen
und Rednern gesagt wurde. Die einseitige Souveränitätserklärung des Kosovo war ein Fehler, und die Anerkennung durch einen Teil der internationalen Staatengemeinschaft ebenso, weil es formal eine Situation
herbeizuführen scheint, in der ein unabhängiger, funktionierender Staat existiert. Das ist nicht die Lage, mit der
wir es konkret zu tun haben. Die Abwesenheit von Krieg
ist eben noch kein Frieden.
({2})
Die Lage auf dem Westbalkan ist nach wie vor explosiv. Wenn es dazu eines Beweises bedurft hätte, wäre es
der Nordkosovo, wo es - wenn man es ganz offen sagen
darf - zu einem bewaffneten Konflikt gekommen wäre,
wenn es die KFOR nicht gegeben hätte.
({3})
- Es ist alles andere als positiv, wenn es notwendig ist,
internationale Truppen in einem Land zu stationieren,
das sich als unabhängig betrachtet, um dort einen Bürgerkrieg zu verhindern. Wer das als positiv ansieht, der
hat, glaube ich, eine ganz merkwürdige Sicht auf Normalität, die in einem unabhängigen, souveränen Staat
existieren sollte.
({4})
Wenn wir die Situation ganz nüchtern betrachten - ich
war vor wenigen Tagen mit der Kollegin Beck und mit
Kollegen der Sozialdemokratie in Bosnien -, dann stellen wir fest, dass wesentliche Teile der politischen
Klassen in den Ländern des Westbalkans nach wie vor
nationalistische Positionen vertreten und auch eine nationalistische Politik betreiben. Großserbien ist bei vielen politischen Kräften in Serbien, in Bosnien oder im
Kosovo eben nicht von der Tagesordnung, und auch
Großalbanien ist bei vielen politischen Kräften im Ko21144
sovo, in Albanien oder in Mazedonien nicht von der Tagesordnung. Diese Kräfte haben sich in der gegenwärtigen Situation eingerichtet und profitieren davon, dass
wir einen Status quo aufrechterhalten, der nicht geeignet
ist, politische Normalität auf dem Westbalkan herbeizuführen.
({5})
Wenn wir hier heute über Serbien und den Präsidenten Tadic reden - er ist in der Tat jemand, der versucht,
die europäische Integration Serbiens voranzutreiben -,
müssen wir einfach festhalten: Tadic hatte 26 Prozent
der Wählerstimmen bei einer Wahlbeteiligung von
37 Prozent. Das heißt, er wird real von nicht einmal
10 Prozent der serbischen Wahlbevölkerung in seinem
Bestreben unterstützt. Man kann das durchaus als positiv
betrachten. Es ist aber alles andere als ein Ausdruck von
Stabilität; das will ich an dieser Stelle deutlich sagen.
({6})
Bei der Betrachtung der politischen Lage im Kosovo
sollten wir die soziale Lage dort nicht außer Acht lassen.
Die soziale Lage im Kosovo ist der in Bosnien und der
in anderen Westbalkanstaaten sehr ähnlich. 34 Prozent
der Bevölkerung im Kosovo leben in Armut, 12 Prozent
sogar in extremer Armut. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist dramatisch. Etwa 45 Prozent der Bevölkerung
sind arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei
70 Prozent. Das heißt, wir haben es mit einer dramatischen sozialen Situation zu tun. Dass Bundesländer angesichts einer solchen Lage nach wie vor darüber nachdenken, Sinti und Roma in den Kosovo abzuschieben, ist
ein absoluter Skandal. Das muss endlich aufhören.
({7})
Die Wirtschaftsleistung des Kosovo will ich hier nicht
weiter kommentieren. Der Standard zitiert aus einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung:
Der einzige profitable Wirtschaftszweig im Kosovo, in dem es auch „vertrauensvolle“ Zusammenarbeit zwischen Albanern und Serben gibt, scheint
die organisierte Kriminalität zu sein.
Wir wissen, dass das so ist. Wir wissen, dass der Alltag von Korruption, von organisierter Kriminalität und
von Nationalismus bestimmt ist.
Ich habe nicht mehr viel Redezeit; deswegen will ich
Folgendes sagen - ({8})
- Ich weiß, dass Sie möchten, dass ich aufhöre. Trotzdem nenne ich noch ganz kurz drei Punkte:
Erstens. Wir brauchen einen internationalen Friedensplan für den Westbalkan. So, wie es jetzt läuft, kann es
nicht weitergehen. Dies betrifft sowohl die EU als auch
die internationale Gemeinschaft.
Zweitens. Bisher gibt es dort keinen selbstständigen
wirtschaftlichen Aufschwung; ich verweise auf Punkt 9
der G-8-Initiative zur Wiederherstellung des Friedens.
Wir brauchen einen Wirtschaftsplan für Südosteuropa,
damit die Menschen dort ihr Geld tatsächlich selbst verdienen und würdig leben können.
({9})
Drittens. Wir brauchen einen Abschied von alten
Feindbildern.
({10})
Unsere Unterstützung muss denen gelten, die tatsächlich
für Versöhnung und Frieden auf dem Balkan eintreten.
Den nationalistischen Parteien, egal welcher Nationalität, sollten wir entschieden entgegentreten.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Nord, Sie sagen, dass die Abwesenheit von Krieg noch keinen Frieden bedeutet. Das
wird niemand in diesem Hause bestreiten.
({0})
Was bedeutet es aber, wenn der Krieg da ist? Es macht
einen großen Unterschied, ob man es geschafft hat, wenigstens erst einmal die Waffen zum Schweigen zu bringen, oder ob man den Krieg einfach so laufen lässt. Das
ist ein unglaublich großer Unterschied.
({1})
Das habe ich in all den Kriegsjahren, in denen ich mich
auf dem Balkan bewegt habe, erlebt. Wer in Bosnien war
- ich war in den Kriegsjahren ständig in Bosnien -,
musste den Menschen, die dort eingekesselt waren und
beschossen wurden, erklären, weshalb wir sie nicht beschützen. Ich weiß nicht, welche Antwort Sie ihnen gegeben hätten.
Ich bin auch in Srebrenica gewesen. Die Kosovo-Intervention ist nicht zu verstehen, wenn man nicht Srebrenica im Hintergrund mitdenkt. Musste es im Kosovo erst
zu einem Srebrenica kommen, und ist es nicht richtig gewesen, auch ethisch richtig gewesen, durch diesen Einsatz weiteres Blutvergießen im Kosovo zu verhindern
({2})
und dafür zu sorgen, dass der Graben nicht so fürchterlich tief wird? Muss erst so unglaublich viel Blut fließen,
bevor man sich daranmacht - das ist das Mühselige; da
haben Sie recht -, den Frieden zu schaffen?
({3})
Dass das ein langer Weg ist, wissen wir alle.
Marieluise Beck ({4})
({5})
Wir wissen auch, dass es manches politische Versagen auch der internationalen Gemeinschaft gegeben hat,
sowohl im Zusammenhang mit Dayton - wir sprechen
heute nicht über Bosnien - als auch in Bezug auf das
Kosovo. Das Durcheinander von UNMIK und EULEX,
unter dem auch KFOR zu agieren hat und das etwas damit zu tun hat, dass nicht einmal die Europäische Union
ihre 27 Stimmen zusammenbringt, ist Folge eines großen Versäumnisses, das auf uns selbst zurückweist und
die Situation vor Ort zusätzlich schwierig macht.
Wir wissen weiter - das kann man lernen, wenn man
sich mit den Militärs unterhält -, dass es manchmal weniger um ethnisch-nationalistische Konflikte geht, gerade in Nord-Mitrovica, sondern dass es ein gemeinsames Interesse der organisierten Kriminalität über die
serbische und albanische Grenze hinaus gibt, dieses
Nord-Mitrovica sozusagen als ein schwarzes Loch zu
haben, als einen Ort, in dem es keine durchsetzungsfähigen Institutionen gibt. Die organisierte Kriminalität wird
von dort in trauter Gemeinsamkeit betrieben - unter dem
Deckmantel des vermeintlich ethnisch Nicht-Zusammenkommen-Könnens.
Dass Menschen in Nord-Mitrovica, die sich in Initiativen zusammenfinden und interethnisch agieren wollen,
massiv unter Druck geraten und Angst haben müssen,
aus dem Hause zu gehen, das ist ein Zustand, der nicht
ertragen werden darf. Das richtet sich in der Tat auch an
die Adresse Serbiens bzw. Belgrads. Es gibt eine Mischung von unterschiedlichen Botschaften. Gegenüber
der Europäischen Union wird deutlich gesagt: Wir sind
an diesen Parallelstrukturen eigentlich gar nicht beteiligt. - Aber unter der Hand mischt man letztlich doch
immer wieder mit und sorgt dafür, dass Parallelstrukturen aufrechterhalten werden. Dann ist eine Botschaft:
Wir sind nicht und niemals bereit, das Kosovo oder zumindest den Norden des Kosovo aufzugeben. - Das ist
eine Unklarheit, mit der man es in Serbien immer wieder
zu tun hat. Ich wünsche den Serben, der serbischen Bevölkerung, dass dort Klarheit entsteht.
({6})
Wir alle wissen: Diese Politiker versperren den serbischen Bürgerinnen und Bürgern den Weg in die EU, in
die die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger möchte.
({7})
Es gibt bei uns immer wieder einmal die Debatte darüber - man konnte das gerade aus Tutzing hören -, ob
nicht die Dauer dieser Missionen ein Zeichen dafür ist,
dass man im Grunde genommen endlich zu radikaleren
und ehrlicheren Lösungen kommen muss, was hieße,
ethnisch neue Grenzen zu ziehen, und zwar danach, wie
sich die Ethnien - angeblich - sortiert haben. Wer das
ausspricht und vorschlägt, hat nicht verstanden, womit
wir es im Westbalkan zu tun haben.
Eine Teilung des Kosovo würde bedeuten, dass auf
der Stelle die albanischstämmige Bevölkerung in Mazedonien begehren würde, sich aus dem Staatsverbund herauszulösen. Es würde bedeuten, dass die albanischstämmige Bevölkerung im Presevo-Tal ihren Anschluss an
das Kosovo fordern würde. Es würde bedeuten, dass
Albin Kurti, der junge attraktive Nationalist, im Kosovo
nicht mehr zu bremsen wäre, der den Anschluss an Albanien fordert. Es wäre Präsident Dodik nicht mehr zu
bremsen, der immer wieder ein Referendum zur Abspaltung der Republik Srpska von Bosnien bekannt gibt,
nachdem diese ethnische Homogenität durch Vertreibung hergestellt worden ist. Auch würde ich nicht die
Hand ins Feuer dafür legen, dass eine ungarische Regierung nicht daran denken würde, die ungarische Bevölkerung in der Vojvodina als eigentlich zu ihrem Land gehörig zu betrachten.
Ich meine, wir müssen hier sehr deutlich machen,
dass der Weg zum Frieden nur über Kompromisse gehen
kann. Sie sind schwierig und brauchen Zeit. Sie erfordern viel Geduld. Sie brauchen auch für den Notfall, und
zwar präventiv, Militär, damit es nicht zum Ausbruch
von Gewalttätigkeiten kommt. Es muss sich aber vollständig verbieten, über das neuerliche Verschieben von
Grenzen auf dem Balkan zu sprechen. Das wäre Dynamit für die ganze Region und dann auch für uns.
({8})
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Philipp Mißfelder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
am 10. Juni 1999 die Resolution 1244 verabschiedete,
sprach der Generalsekretär der UNO von einer Tragödie
im Kosovo. Es ging um das blanke Überleben. Die Situation hat sich 13 Jahre später zum Guten gewendet.
Nichtsdestotrotz sehen wir - Ausdruck dafür ist auch
diese Debatte - die Entwicklung nach wie vor mit großer
Sorge. Wir sind natürlich nicht beruhigt, was die politische Entwicklung in großen Teilen angeht.
Zurück zu der Zeit vor 13 Jahren; denn die politische
Interpretation des Mandats heute beruht sehr stark auf
der Geschichte dieses Konflikts: Vor 13 Jahren beschloss
der Bundestag aufgrund der Notlage der Menschen im
Kosovo ein Mandat mit einer Obergrenze von
8 500 Mann. Der Unterschied zwischen dem Mandat mit
8 500 Mann vom 11. Juni 1999 und dem Mandat mit
1 850 Mann, über das wir heute diskutieren, liegt vor allem im Erfolg eines zivil-militärischen Friedenseinsatzes, der auch zum Ansatz gehört. Deshalb dürfen wir
heute sicher davon ausgehen, dass die KFOR mit maximal 1 850 deutschen Soldatinnen und Soldaten den Auftrag erfüllen wird.
Ich glaube, dass man voller Stolz sagen kann: Die
KFOR-Soldaten haben einen sehr guten Dienst geleistet.
Deshalb danken wir ihnen insbesondere für das, was sie
in den letzten 13 Jahren auch mit Unterstützung der Bundeswehr geleistet haben. Die Tragödie konnte gestoppt
werden.
({0})
Die Hoffnung, die viele Menschen in dem Land selber haben, nämlich dass die Entwicklung weiter in Richtung Europa geht, ist berechtigt. Ich glaube, auch wenn
ich nicht für alle Abgeordneten meiner Fraktion sprechen kann - vielleicht gilt das auch für andere Fraktionen -, dass wir am Ziel der europäischen Integration des
gesamten Westbalkans festhalten sollten. Dies ist politisch einer der wichtigsten Prozesse, um dauerhaften
Frieden und Stabilität zu gewährleisten.
({1})
Wenn wir zurückblicken, können wir feststellen, dass
es erst einmal Fortschritte gab. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb am 25. Mai 2011:
Es scheint, als sei … eine neue Epoche angebrochen: Mehr und mehr Serben nehmen am politischen Leben teil, profitieren von den Minderheitenrechten und -quoten und spielen eine zunehmend
wichtige Rolle in der Politik in Kosovo.
Das ist eine positive Beurteilung, die man sich natürlich
im Einzelfall anschauen muss. Im Großen und Ganzen
war dies aber die Entwicklung auch in 2011.
Dann kam es im Juli und im November 2011 leider
wieder zu Unruhen. Die Entsendung von kosovo-albanischen Spezialpolizisten und Zollbeamten führte an den
Grenzübergängen im Norden Kosovos zu gewaltsamen
Ausschreitungen, die hier in einem anderen Rahmen
schon ausführlich diskutiert worden sind. Trotz der politischen Erfolge und der militärischen Stabilität, die
erreicht worden ist - auch durch KFOR -, ist es notwendig, nicht zu unterschätzen, dass es immer noch Eskalationspotenzial gibt. Man muss daher zur Kenntnis nehmen, dass man hier nicht nur politisch tätig sein kann,
sondern auch die militärische Option weiterhin braucht.
So bedauerlich das auch nach solch einer langen Zeit ist,
nichtsdestotrotz scheint es notwendig zu sein. Deshalb
sollten wir an diesem Mandat festhalten.
Die Lage hat sich im Jahr 2012 vor allem dank KFOR
wieder stabilisiert. Es ist aber ganz klar: Diejenigen, die
im Nordkosovo Unruhe stiften, werden das jederzeit
wieder tun können. Das ist für uns politisch inakzeptabel. Deshalb werden wir sowohl diese militärische Maßnahme weiter verlängern als auch die politischen Initiativen verstärken und aufrechterhalten, die notwendig sind,
um dort weiterhin Stabilität zu gewährleisten.
Aus meiner Sicht handelt es sich um eine europäische
Verantwortung, für Sicherheit in unserer eigenen Nachbarschaft, in der Nachbarschaft der Europäischen Union
und zugleich im Herzen Europas zu sorgen. Wir sprechen hier nicht über eine weit abgelegene Region, vielmehr handelt es sich um einen Teil Europas, der aus meiner Sicht irgendwann auch ein Teil der Europäischen
Union sein wird. Deshalb liegt es in unserer Verantwortung, diese Probleme selber zu lösen und nicht nur darauf zu vertrauen, dass Freunde aus der NATO, insbesondere die USA, die Verantwortung übernehmen.
Die historische Entscheidung, die einst 1999 getroffen worden ist und die in der Bundesrepublik sehr umstritten war, ist rückblickend als richtig zu betrachten.
Sie war humanitär absolut notwendig für eine Stabilisierung des Landes, aber auch für ein friedliches Miteinander, und hat sich ausgezahlt.
Über den militärischen Beitrag, also die Verlängerung
des Mandats, hinaus - das gilt für diesen Einsatz wie für
viele andere - müssen wir auch einen politischen Beitrag
leisten, nämlich die Türe nach Europa offenzuhalten und
damit dem Land eine vernünftige und gute Zukunft bieten zu können.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die Fraktion der SPD hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Susanne Kastner.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir heute über die Fortsetzung des
KFOR-Mandates reden, dann sind wir uns in diesem
Hause weitgehend einig, dass der Einsatz der Bundeswehr ein Erfolg war und ist. Unsere KFOR-Truppen leisten gute Arbeit und genießen ein sehr hohes Ansehen.
In der letzten Woche waren wir mit einer Delegation
im Kosovo und konnten uns erneut von dieser Tatsache
überzeugen. Die Regierenden in Pristina und besonders
die Staatspräsidentin haben sich ausdrücklich für den
kontinuierlichen Einsatz und die Unterstützung Deutschlands bedankt. Diesen Dank möchte ich sehr gerne an
unsere Soldatinnen und Soldaten weitergeben.
({0})
Neben den politischen Gesprächen stand für uns
selbstverständlich der Besuch unserer Bundeswehrsoldaten im Mittelpunkt. Die Reise - das ist heute schon etliche Male angesprochen worden - fiel in eine spannende
Zeit, da im Vorfeld der serbischen Wahlen erneut das
deutsch-österreichische ORF-Kontingent stationiert
wurde.
Die Entscheidung, die Truppen anzufordern, ist dabei
überhaupt nicht zu kritisieren. Denn es war nicht absehbar, ob die Lage im Nordkosovo erneut eskalieren
würde, so wie im vergangenen Jahr, als es zu erheblichen
Grenzkonflikten kam. Glücklicherweise können wir
heute sagen, dass es dieses Mal sehr friedlich geblieben
ist. Das verdanken wir sicherlich auch der Präsenz unserer Soldatinnen und Soldaten.
Problematisch ist aus meiner Sicht allerdings, dass
unsere Soldatinnen und Soldaten kaum noch Planungssicherheiten bei ihren Einsatzzeiten haben. Zweifellos
wird es immer wieder vorkommen, dass Einsatzbefehle
erst kurzfristig erteilt werden können. Die serbischen
Wahlen aber waren wahrlich keine Überraschung.
Daher appelliere ich an die politische Leitung des
Verteidigungsministeriums, die Bedürfnisse der Einsatzsoldatinnen und -soldaten nicht aus den Augen zu verlieren. Schon mehrfach haben wir die schleichende Verlängerung der Stehzeiten kritisiert. Das ORF-Bataillon ist
ein Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte. Es kann
doch nicht sein, dass unsere Soldatinnen und Soldaten
zum Teil nur eine Woche Zeit haben, um sich auf den
nächsten Einsatz vorzubereiten.
Da helfen auch Entschuldigungen und gut gemeinte
Worte nicht weiter. Diese werden von den Soldaten zur
Kenntnis genommen, nützen aber nicht viel, wenn sich
die konkrete Einsatzplanung letztlich doch nicht ändert.
Die Einsatzplanung muss prinzipiell verbessert und an
die Lebensrealität unserer Soldatinnen und Soldaten,
insbesondere mit Blick auf ihre Familien und Kinder angepasst werden. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
hat etwas mit Attraktivität und Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu tun.
Darüber hinaus, Herr Minister, gibt es ein zweites leidiges Thema, die Betreuungskommunikation. Man könnte
ja annehmen, dass Telefon- und Internetverbindungen
im Kosovo ein vernachlässigbares Problem darstellen.
Tatsache ist allerdings, dass unsere Soldatinnen und Soldaten dort mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert
werden wie beispielsweise in Afghanistan.
Ich frage mich schon, warum die Mitarbeiter der
EULEX in unmittelbarer Nachbarschaft günstig nach
Hause telefonieren können, während unsere Soldaten
das nicht können. Vom Skypen will ich erst gar nicht reden. Hier sehe ich das Bundesministerium der Verteidigung in der Pflicht, sich der Sache mit Nachdruck anzunehmen. Dass es an den technischen Voraussetzungen
nicht scheitert, zeigen die funktionierenden Netze der
befreundeten Nationen im Einsatz.
Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages hat
jüngst auf weitere Probleme in den Bereichen Unterbringung, Versorgung und Betreuung im Einsatzgebiet aufmerksam gemacht. Ich baue diesbezüglich auf das
Verteidigungsministerium, dass es die berechtigten Beschwerden unserer Parlamentsarmee ernst nimmt und
schnellstmöglich für Abhilfe sorgt. Das sind wir unseren
Soldatinnen und Soldaten doch schuldig.
Bei allen Herausforderungen in der Praxis ist der Einsatz unserer Parlamentsarmee im Kosovo ein wichtiger
Beitrag für die Stabilität innerhalb der Region. Daher bin
ich mir sicher, dass das neue KFOR-Mandat wiederum
durch eine breite Mehrheit im Hause unterstützt wird.
Fakt ist allerdings auch, dass der Bundeswehreinsatz
keine Dauerlösung sein darf. Unser erstes Mandat - auch
darauf ist heute schon etliche Male hingewiesen worden haben wir schließlich im Jahr 1999 verabschiedet.
13 Jahre später ist unser Auftrag immer noch nicht beendet.
Frau Kollegin Beck, ich war sehr dankbar für die Einschätzung, die Sie als Kennerin dieser Region hier am
Pult des Deutschen Bundestages vorgenommen haben.
Wir müssen alles, aber auch alles daransetzen, damit wir
eine politische Lösung des Konflikts auf dem Balkan erreichen.
Danke schön.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Als wir vor einem Jahr die Verlängerung des KFORMandats hier im Parlament beraten haben, war der Ton
durchaus optimistischer als heute. Wir konnten im letzten Jahr zum dritten Mal in Folge die Mandatsobergrenze senken. Wir kamen ja von 3 500 Soldatinnen und
Soldaten im Jahr 2009 über 2 500 im Jahr 2010 auf
1 850 Soldatinnen und Soldaten im Jahr 2011.
Es war uns damals aber auch klar, dass die Lage insbesondere im Norden weiterhin fragil ist und dass die Sicherheitslage jederzeit eskalieren kann. Leider wurde
genau diese Einschätzung, die im letzten Jahr hier geäußert worden ist, bestätigt. Folgerichtig wurde dann die
reguläre KFOR-Truppe mit den Kräften der operativen
Reserve, dem schon oft angesprochenen ORF-Bataillon,
verstärkt. Genau für diesen Fall haben wir diese Reserve
ja auch aufgestellt.
Ich habe höchsten Respekt vor den Soldaten - der
Minister und auch Sie, Frau Kastner, haben es angesprochen -, die ganz kurzfristig in den Einsatz geschickt
worden sind und unter schwierigsten Bedingungen - es
gibt Berichte von über zwölf Mann in einem Zelt und die
Situation im tiefsten Winter; Sie haben die Internetverbindungen angesprochen - ihren Einsatz dort leisten.
Hinsichtlich der Betreuung und Versorgung - darin sind
wir uns einig - kann die Bundeswehr durchaus besser
werden.
Meine Damen und Herren, der Respekt gilt unseren
Soldaten, weil sie selbst unter diesen Bedingungen ihren
Auftrag hoch professionell ausführen. Das gilt für das
ORF-Bataillon genauso wie für die regulären KFORKräfte. Die Soldaten sind im Grenzgebiet im dortigen
Norden mit einer hochexplosiven Situation konfrontiert,
mit Demonstranten, die emotional aufgeladen und zum
Teil gewaltbereit sind. In diesem schwierigen Umfeld
behalten sie die Nerven, wirken sie deeskalierend, stabilisieren sie die Lage und sorgen für Bewegungsfreiheit.
Auf diese Menschen können wir als Deutsche stolz sein.
Herzlichen Dank dafür!
({0})
Die KFOR-Soldaten machen einen guten Job, aber sie
können das Problem an sich nicht lösen. Solange sich
Belgrad und Pristina nicht mit echtem Lösungswillen an
einen Tisch setzen und von ihren jeweiligen Maximalforderungen Abstand nehmen, wird sich an der Situation
substanziell nichts ändern. Ich bin aber vorsichtig optimistisch, dass es nach den Wahlen zumindest von serbischer Seite verstärkten Druck geben wird, um zu einer
Lösung zu kommen.
Herr Kollege, Sie haben die Wahlen angesprochen.
Die Kosovo-Frage ist laut den Umfragen vor der Wahl
nur noch von relativ geringer Bedeutung. Sie ist nicht
das zentrale Problem, das die Menschen vor Ort beschäftigt. Das zentrale Problem ist ihre wirtschaftliche Situation, und ihr sehnlichster Wunsch ist, möglichst schnell
den Weg nach Europa zu gehen. Aber der Weg in die
Europäische Union kann nur zum Ziel führen, wenn die
Kosovo-Frage gelöst ist. Ich bin unserer Bundeskanzlerin dankbar, dass sie diese Verknüpfung immer wieder
richtig dargestellt hat.
Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen kurz
von einem persönlichen Erlebnis in Pristina berichten.
Der Kollege Hahn und ich waren kurz vor Weihnachten
im Kosovo und haben neben unseren Soldaten auch eine
Gruppe junger Studenten aus dem Kosovo getroffen. Ich
habe eine junge Generation erlebt, die die Vergangenheit
hinter sich gelassen hat, die für eine Zukunft in Europa
brennt, die motiviert und bereit ist, Leistungen zu erbringen, um ihre Situation zu verbessern, und die Konflikte
der Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Wir haben im Kosovo im letzten Jahrzehnt viel erreicht. Gerade wenn ich die junge Generation dort erlebe, habe ich die berechtigte Hoffnung, dass wir in
Zukunft noch viel mehr erreichen können. Unsere Beteiligung am KFOR-Einsatz ist ein kleiner Beitrag dazu,
den wir auch in Zukunft leisten sollten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9505 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Richard Pitterle, Dr. Axel Troost, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Abgeltungsteuer abschaffen - Kapital-
erträge wie Löhne besteuern
- Drucksachen 17/4878, 17/7666 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Richard Pitterle, Dr. Axel
Troost, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Steuerliche Abzugsfähigkeit von Managerbe-
zügen einschränken
- Drucksache 17/9552 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sahra
Wagenknecht, Sevim Dağdelen, Nicole Gohlke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gerechtere Verteilung durch eine 75-ProzentReichensteuer für Einkommensmillionäre
- Drucksache 17/9525 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Steffen Kampeter.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gilt allgemein, aber für die Finanzpolitik insbesondere: Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. Wenn ich mir die heutige Debatte und die Beschlussempfehlung anschaue, dann stelle ich fest, dass einige
jedoch zu realitätsfremden Einschätzungen über die
Struktur und Art und Weise, wie in der deutschen Wirtschaft gearbeitet und bezahlt wird, kommen.
Es gehört zu den Realitäten der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik, dass wir von Familienunternehmen geprägt sind und nicht von managergeführten
Unternehmen, die börsennotiert sind. Den Schwerpunkt
der sozialen Marktwirtschaft bilden Eigentümerunternehmer, die in allen Bereichen ihres Unternehmens mit
Maß und Mitte vorgehen.
Wir beraten heute über steuerpolitische Vorschläge.
Ich stelle fest: Wir brauchen eine wachstumsfreundliche
Steuerpolitik für Unternehmen in Deutschland, die allen
Facetten gerecht wird. Was wir nicht brauchen, ist eine
ideologische Steuerpolitik, die für die Übertreibungen
und Exzesse Weniger alle Unternehmen in Gesamthaftung nimmt. Deswegen stehen wir den Vorschlägen der
Fraktion Die Linke sehr skeptisch gegenüber.
({0})
An dieser Stelle muss man vielleicht noch einmal hervorheben, dass die Gleichung „Je komplizierter das
Steuerrecht, umso mehr Gerechtigkeit spiegelt es wider“
hanebüchener Unsinn ist. Das Gegenteil ist wahrscheinlich richtiger.
({1})
Für die Bundesregierung will ich erklären: Wir glauben, dass bei der Vergütung von Managern Maß und
Mitte einzuhalten sind. Ich glaube aber, dass das Steuerrecht kein geeigneter Ort ist, um diese Schlacht auszutragen. Die Koalition ist dieses Problem intelligenter angegangen, indem sie einen Kultur- und Mentalitätswechsel
in vielen deutschen, europäischen und sogar amerikanischen Entscheidungsgremien vorangetrieben hat. Ein
wesentlicher Baustein war das sogenannte Gesetz zur
Beschränkung von Managergehältern. Darüber hinaus
hat die Bundesregierung die gesamtgesellschaftliche Debatte über dieses Thema positiv begleitet, indem sie betont hat, dass die Vorstandsgehälter wieder zurückgeführt werden müssen.
Ich glaube, das ist ein Kulturwechsel in der politischen Debatte. Früher freute man sich, der Genosse der
Bosse zu sein. Ich glaube, die jetzige Bundesregierung,
die für Maß und Mitte steht, ist ein Vorreiter in der Debatte, und das ist gut so. Das Steuerrecht wollen wir da
lassen, wo es hingehört.
({2})
Ich will darauf hinweisen - das ist Ausdruck dieses Kulturwechsels -, dass der Aufsichtsratsvorsitzende der
Commerzbank und Vorsitzende der Corporate-Governance-Kommission vor wenigen Wochen einen mahnenden Brief an die DAX-Vorstände geschrieben hat. Das
heißt, dass die Initiative zur Begrenzung von Vorstandsvergütungen nicht allein aus der Politik kommt. Sie wird
von den Entscheidungsgremien aufgegriffen, die davon
betroffen sind, von den Aufsichtsräten und den Hauptversammlungen.
({3})
Die Managervergütung soll Risiko und Verantwortung der handelnden Personen widerspiegeln. Darum
geht es bei dieser Frage. Ich glaube, dass die Richtung
der Debatte stimmt.
Herr Kollege Kampeter, die Kollegin Paus würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich freue mich auf die Redezeitverlängerung durch
die Kollegin Paus.
Frau Paus, bitte.
Gern geschehen, Herr Kampeter.
Das freut mich.
Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass sich die
Bundesregierung jetzt an der Debatte beteiligen will. Ich
habe konkret von Ihnen gehört, dass Sie steuerliche
Maßnahmen nicht ergreifen wollen. Können Sie sagen,
welche konkreten Maßnahmen die Bundesregierung in
dieser Hinsicht ergreifen will, außer sich intensiv an der
Debatte zu beteiligen?
Ich glaube, es geht hier nicht um eine intensive Debatte. Das sogenannte Gesetz zur Begrenzung von Managergehältern war das Resultat eines aktiven gesetzgeberischen Handelns. Wenn Sie aber glauben, dass allein
Gesetze helfen, dann springen Sie, Frau Kollegin Paus,
zu kurz. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: In den Zeitungen werden Managergehälter mit Worten wie „jenseits von Eden“ oder „in der Winterkorn-Zone liegend“
beschrieben. Solche Gehälter sind gesellschaftlich nicht
mehr akzeptabel, Frau Kollegin Paus. Das ist auch unsere Auffassung.
Die Debatte lebt ein Stück weit von intellektuellen
Unredlichkeiten; denn die Gehälter sind nicht von der
Bundesregierung beschlossen worden, sondern in der
Regel von paritätisch besetzten Aufsichtsräten bzw. von
Personalausschüssen. Das hier spärlich vertretene linke
politische Spektrum des Parlaments sollte vielleicht, anstatt hier mutig gesetzgeberisches Handeln zu fordern, in
den Aufsichtsräten mehr Mut beweisen. Sie sollten zeigen, dass Sie bereit sind, auch dort für die Begrenzung
der Managergehälter einzutreten. Wer beispielsweise als
gewerkschaftlicher Interessenvertreter im VW-Aufsichtsrat für hohe Managervergütungen streitet und
gleichzeitig hier mit Bezug auf seine gewerkschaftlichen
Verbindungen beklagt, dass es dieselben gibt und sagt,
dass er das korrigieren will, der handelt natürlich nicht
konsistent. Auf diese Inkonsistenzen müssen wir die
linke Seite des Hauses vielleicht einmal hinweisen.
({0})
Das Gleiche gilt für die Debatte über die Abgeltungsteuer. Auch die Abgeltungsteuer ist Gegenstand ideologischer Auseinandersetzungen. Sie ist aber auch eine erfolgreiche Geschichte in der Steuerpolitik. Für die
Sozialdemokraten will ich an dieser Stelle erwähnen,
dass sie von Peer Steinbrück ins deutsche Steuerrecht
eingeführt worden ist. Im Vergleich zu allen Vorgängersystemen handelt es sich um die erfolgreichste Form der
Besteuerung von Kapitaleinkünften, die es in der Bundesrepublik Deutschland jemals gegeben hat.
Herr Kollege Kampeter, auch der Kollege Troost
würde Ihnen gerne eine Redezeitverlängerung gewähren. Sind Sie damit einverstanden?
Herr Kollege Troost, wenn Sie mir das netterweise
gewähren würden. Ich freue mich darauf.
Ich beziehe mich allerdings auf den vorangegangenen
Punkt, auf die Managergehälter.
Auf welchen denn?
Sie tun so, als wäre das kein steuerrechtliches Problem. Wenn Sie steuerrechtlich anerkennen, dass solche
Gehälter als Kosten abgezogen werden und damit sozusagen nicht mehr der Besteuerung unterliegen, dann akzeptieren Sie damit genau diese Gehälter.
({0})
Das ist genau der Punkt, weswegen wir sagen, dass hier
eine Veränderung stattfinden muss. Wenn diese Gehälter
gesellschaftlich nicht anerkannt werden sollen, dann
kann auch die Abzugsfähigkeit dieser als Kosten nicht
anerkannt werden. Deswegen können die Aufsichtsräte
trotzdem solche Gehälter beschließen.
Das ist ihnen ja völlig freigestellt. Aber es darf dann
nicht zu einer Einschränkung unserer Steuereinnahmen
als Bund bzw. als Länder führen.
({0})
Herr Kollege Troost, ich bedanke mich dafür, dass Sie
mir noch einmal deutlich machen, dass Sie vom Steuerrecht nach meinem Empfinden offensichtlich weniger
verstehen als die Mehrheit dieses Hauses. Wenn ich eine
Vergütung nicht auszahle, dann unterliegt sie der Gewinnbesteuerung. Wenn ich eine Vergütung auszahle,
unterliegt sie der persönlichen Besteuerung des Empfangenden.
({0})
Das muss man vergleichen. Sie können die Genossen da
drüben fragen, ob das Steueraufkommen beim Staat höher ist, wenn ich dies als Ertrag im Unternehmen oder
als persönliches Einkommen in der Spitzensteuerkategorie besteuere. Ich will Sie gerne aufklären: Variante zwei
ist diejenige, die dem Staat mehr Erträge bringt. Das
muss ich in aller Klarheit sagen.
({1})
Zu behaupten, die von Ihnen vorgeschlagene steuerrechtliche Regelung würde dem Staat mehr Einkommen
bringen, ist angesichts der unterschiedlichen Behandlung von unternehmerischen Erträgen und persönlichem
Einkommen schlichtweg Unsinn. Das ist nun einmal so.
({2})
Ich führe dies nicht als Argument an. Ich sage: Wir
müssen die Dinge da entscheiden, wo sie hingehören.
Das gilt im Übrigen auch - Stichwort „ideologische Verbohrtheit“ - für die Abgeltungsteuer. Sie stellt das erfolgreichste System für die Besteuerung von Kapitaleinkünften dar und ist ein Beitrag zur Steuervereinfachung
und zur Steuerkategorisierung. Die Sache könnte noch
sehr viel unkomplizierter sein. Hätten wir uns 2003,
2004, als wir über die rot-grüne Amnestie diskutiert haben, einigen können, wäre die Abgeltungsteuer nicht so
ein Flop geworden.
Die Abgeltungsteuer ist eine der Grundlagen dafür,
dass wir jetzt mit der Schweiz Regelungen treffen können, dass wir Steuerhinterziehung rechtlich nicht weiter
privilegieren - mit dem Quellenabzug bei der Abgeltungsteuer können wir erhebliche Milliardeneinkünfte
für den deutschen Fiskus erzielen ({3})
und dass wir mit weiteren Regelungen für mehr Steuergerechtigkeit und gegen Steuerhinterziehung von Kapitaleinkünften kämpfen können. Deswegen finde ich es
so ungehörig, dass die Umsetzung des deutsch-schweizerischen Abkommens vom rot-grünen Lager, beispielsweise von Nordrhein-Westfalen, verhindert wird. Man
könnte es jetzt relativ rasch umsetzen. Das würde deutlich machen, wie wirkungsvoll die Abgeltungsteuer als
ein Beitrag gegen Steuerhinterziehung ist.
({4})
Nun lautet der Vorschlag von der linken Seite dieses
Hauses, man müsse die Abgeltungsteuer erhöhen. Mir ist
ein realistischer Steueranspruch, der auch durchgesetzt
wird, lieber als ein ideologisch überhöhter Steueranspruch mit einer virtuellen Ertragswahrscheinlichkeit.
Ich glaube, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine
vernünftige Regelung gefunden haben. Das heißt nicht,
dass man am zukünftigen System der Abgeltungsteuer
das eine oder andere nicht doch noch überprüfen will.
Ein Argument finde ich perfide. In der gesamten Argumentation des Antrags der Linken wird so getan, als
sei die Abgeltungsteuer lediglich von angeblichen Kapitalisten und Hochverdienern zu zahlen. Ihr Vorschlag
läuft doch darauf hinaus, dass in der Mitte der Gesellschaft diejenigen stärker belastet werden, die Vorsorge
treffen, beispielsweise für Unvorhergesehenes, die sich
nicht allein auf den Staat verlassen und sich für ihr Alter
etwas zurücklegen. Diese Menschen wollen Sie stärker
belasten. Die Behauptung, Ihr Vorschlag belaste lediglich Großverdiener, ist falsch.
({5})
Ihr Vorschlag trifft die Mitte der Gesellschaft und nimmt
denjenigen etwas weg, die Vorsorge treffen, die eigenverantwortlich handeln. Wir wollen diese Eigenverantwortung unterstützen. Wir wollen bei der Eigenverantwortung nicht abkassieren. Deswegen ist der Vorschlag
nicht nachzuvollziehen und zurückzuweisen.
({6})
Ich empfehle Ihnen, im Sinne der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses zu optieren und Steuerpolitik mit Sinn und Verstand und nicht mit ideologischen
Scheuklappen zu betreiben.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Carsten Sieling.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gegenüber meinem Vorredner habe ich auf jeden Fall einen
Vorteil: Ich komme nicht aus Nordrhein-Westfalen, ich
befinde mich nicht mitten im Wahlkampf und muss hier
keine Reden halten, die nur entsprechende Wirkungen
erzielen sollen, uns aber leider in der Sache - darauf
komme ich gleich im Einzelnen - nicht weiterhelfen. Ich
kann nur sagen: Wir drücken allen Nordrhein-Westfalen
die Daumen. Ich glaube, es wird so kommen, wie wir es
uns wünschen. Herr Staatssekretär, als Schattenminister
für Finanzen bleiben Sie im Schatten stehen, auch nach
dem kommenden Sonntag. Sie bleiben Parlamentarischer Staatssekretär. Es ist wichtig, das hervorzuheben.
In Ihrer Rede ist das, glaube ich, sehr deutlich geworden.
({0})
Anfangen will ich bei einem Thema, das Sie aufgegriffen haben: bei der Managervergütung. Ich kann nicht
verstehen, dass ein Staatssekretär für Finanzen im Deutschen Bundestag nicht als Erstes deutlich macht, dass
wir in diesem Bereich ein Riesenproblem haben, weil
manche Managergehälter mittlerweile das 50-Fache des
Durchschnittseinkommens betragen.
({1})
Natürlich ist es so, dass wir dieses Thema angehen müssen, auch steuerpolitisch. Die Abzugsfähigkeit muss reduziert werden, damit der Anreiz für die Unternehmen,
hohe Gehälter zu zahlen, minimiert wird.
({2})
Das müssten Sie wissen, und das müssten Sie hier deutlich machen.
Natürlich wäre die persönliche Einkommensbesteuerung dann höher. Ich sage Ihnen aber auch: Sie ist nicht
hoch genug. Wir brauchen deutlich höhere Staatseinnahmen, um die Haushalte zu sanieren.
({3})
Deshalb sagen wir Sozialdemokraten: Wir wollen eine
Erhöhung des Spitzensteuersatzes.
({4})
Bei einem Spitzensteuersatz von 49 Prozent würden die
Bezieher hoher Einkommen einen größeren Beitrag leisten. Ich hätte mir gewünscht, hier einen solchen Vorschlag zu hören.
Was geschieht stattdessen? Die Bundesregierung verteilt Geschenke. Ich nenne nur das Stichwort „Betreuungsgeld“. Ich will Ihnen auch sagen: Natürlich ist es
gut, dass das Land Nordrhein-Westfalen beim deutschschweizerischen Steuerabkommen nicht mitmacht. Es
wäre nämlich unvertretbar, neue Geschenke zu produzieren.
({5})
Jetzt möchte ich auf die Abgeltungsteuer zu sprechen
kommen. Ich hätte gerne einmal gehört, wie die Meinung Ihres Hauses, des Bundesministeriums der Finanzen, hierzu ist.
({6})
Ich nehme da nämlich sehr unterschiedliche Botschaften
wahr; ich habe sie persönlich gehört und gelesen.
({7})
Sie haben gerade sehr für die Abgeltungsteuer geworben. Wir Sozialdemokraten sagen, dass wir aus gewissen
Entwicklungen - ich werde gleich auf die einzelnen
Punkte zu sprechen kommen - Konsequenzen ziehen
müssen. Wir wollen, dass der Abgeltungsteuersatz von
25 Prozent auf 32 Prozent erhöht wird; das ist unsere
Forderung. Allerdings darf man das Kind nicht mit dem
Bade ausschütten und wie die Linkspartei, ohne sich mit
der Substanz zu beschäftigen, eine Abschaffung und
Überführung der Abgeltungsteuer fordern.
({8})
So weit sind wir nicht, weil die Sachverhalte zu unklar
sind.
({9})
Zurück zur Meinung Ihres Hauses, Herr Staatssekretär. Ich kenne da jemanden. Als ich hörte, was er mir
sagte, sind mir fast die Ohren abgefallen. Laut Berliner
Zeitung vom 25. April 2012 hat Bundesfinanzminister
Schäuble auf einem Symposium des Bundesverbandes
deutscher Banken erklärt: Ich habe die Abgeltungsteuer
nicht eingeführt. - Er soll, so die Zeitung, außerdem gesagt haben, er sei immer ein Anhänger der synthetischen
Einkommensteuer gewesen. Meine Damen und Herren
von der Koalition, wer sagt denn jetzt die Meinung der
Bundesregierung: Herr Schäuble auf Symposien oder
Herr Kampeter hier?
({10})
Ich finde, es ist durch und durch unsolide, mit einem
solch wichtigen Thema so umzugehen.
({11})
Weil dies ein wichtiger Punkt ist, über den wir heute
zu entscheiden haben - wir Sozialdemokraten lehnen
den Vorschlag der Linkspartei ab -, möchte ich darauf
hinweisen: Was die Abgeltungsteuer betrifft, ist die Bemessungsgrundlage deutlich erweitert worden. Insbesondere Dividenden werden durch die Abgeltungsteuer
breiter besteuert als zuvor. Vor allem sind die alten Privilegien des Halbeinkünfteverfahrens weggefallen. Früher
wurden Dividenden nur zu 50 Prozent herangezogen,
jetzt werden sie ganz der Besteuerung unterworfen. Das
ist ein Fortschritt, an dem wir auf alle Fälle festhalten
wollen.
Ich will deutlich machen, weshalb wir dieses Thema
angehen müssen. Es kam nämlich zu einem Einbruch
des Steueraufkommens. Allerdings ziehen wir daraus
nicht den Schluss, die Abschaffung der Abgeltungsteuer
zu fordern, ohne zuvor die genauen Fakten und Grundlagen zu ermitteln. Die Zinsentwicklung ist infolge der Finanzkrise nämlich nachweislich gesunken. Deshalb ist
völlig klar: Auch wenn die Besteuerung von Kapitaleinkünften Teil der normalen Einkommensbesteuerung
wäre, wäre es zu diesem Einbruch gekommen. Es muss
geklärt werden, ob das an der Abgeltungsteuer oder eben
an diesen wirtschaftlichen Faktoren liegt. Auf jeden Fall
ist der Weg richtig, den Steuersatz zu erhöhen, um für
eine stärkere Heranziehung zu sorgen.
Lassen Sie mich abschließend noch darauf hinweisen
- auch das müssen wir betrachten -, dass das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung jüngst als Ergebnis einer Untersuchung der Entwicklung der Abgeltungsteuer
herausgefunden hat, dass durch die Senkung des Steuersatzes, der vor der Reform bei 44 Prozent lag, auf jetzt
26 Prozent insbesondere die Fremdfinanzierung bessergestellt wird, dies umgekehrt jedoch eine Schwächung
des Eigenkapitals bedeutet.
All diese Ergebnisse werden wir uns anzuschauen haben. Entscheiden können wir aber erst, wenn die Faktenlage deutlicher ist. Deshalb lehnen wir den Antrag der
Linken ab.
Herr Präsident, erlauben mir Sie, dass ich ganz zum
Schluss noch darauf hinweise: Das letzte Mal haben wir
hier genau drei Tage vor den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg darüber diskutiert.
({12})
Dieses Mal bringen Sie das Thema vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen auf die Tagesordnung. Damit weiß man: Ihnen geht es gar nicht ernsthaft um die
Sache. Sie wollen hier billige Vorteile erzielen.
({13})
- Das stimmt. - Die werden Ihnen nicht reichen. Ich
hoffe, dass weder der Staatssekretär noch die Linkspartei
am Sonntag einen Erfolg einfahren werden.
Für Verteilungsgerechtigkeit und richtige Finanzpolitik stehen die Bundesländer, und Nordrhein-Westfalen
macht hier eine verdammt gute Figur.
({14})
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({15})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Daniel
Volk das Wort.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Sieling, dafür, dass
Sie nicht aus dem wahlkämpfenden Bundesland Nordrhein-Westfalen kommen, war das eine ganz gute Wahlkampfrede.
({0})
Eines haben Sie hier schon deutlich gesagt - und das
ist natürlich auch symptomatisch für die Herangehensweise des linken Teils dieses Hauses -: Steuerpolitik
wird immer nur unter dem Aspekt gesehen, dass der
Staat mehr Geld braucht. Der falsche Schluss, den Sie
daraus ziehen, ist nun aber, dass Sie meinen, dass, wenn
man die Steuersätze anhebt, mehr Steuereinnahmen folgen
({1})
Dieser Schluss ist leider Gottes nicht zutreffend.
Ich darf nur auf die heute bekannt gewordene Steuerschätzung für die nächsten Jahre verweisen. Die Steuerschätzung hat wiederum knapp 30 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen für die nächsten Jahre vorausgesagt.
Das heißt, eine vernünftige Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik führt zu Steuermehreinnahmen. Eine massive Anhebung des Spitzensteuersatzes auf 75 Prozent
würde dagegen wie andere vorgeschlagene Maßnahmen
im Steuerrecht wohl eher dazu führen, dass einige Leute
schichtweg versuchen werden, sich diesem Raubzug einer linksfraktionellen Steuerpolitik zu entziehen. Die
Politik, die hier insbesondere von der Linksfraktion vorgeschlagen wird, hat also zur Folge, dass die Steuereinnahmen sinken. Das kann nicht im Interesse unseres
Staates sein.
Wir wollen eine vernünftige Steuerpolitik machen:
Eine wohlwollende Austarierung zwischen staatlichem
Finanzbedarf einerseits und genügend finanziellem
Spielraum für die Bürger andererseits ist Kennzeichen
einer vernünftigen Steuerpolitik, die übrigens auch zu
mehr Wirtschaftswachstum führen wird. Aus diesem
Wirtschaftswachstum ergibt sich eine solide Einnahmebasis des Staates, mit der dann eben auch die Staatsverschuldung abgebaut werden kann.
({2})
Ich gehe felsenfest davon aus, dass es uns dank der
laut der heutigen Steuerschätzung wiederum steigenden
Steuereinnahmen gelingen wird, bis 2014 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen. Ich glaube, das
ist das ganz wesentliche Signal am heutigen Tage.
({3})
Schauen wir uns an, wie die Linksfraktion an die Managergehälter bzw. an die Gehälter von Vorstandsmitgliedern herangehen will. Das geht wieder einmal auf
die typische Art und Weise: Wir nehmen es denen da
oben, weil die es nicht verdient haben,
({4})
und angeblich wird es dann denen da unten gegeben.
Dieses angebliche Nach-unten-Geben hat bislang noch
nie funktioniert. Sie wollen also eigentlich nur nehmen.
({5})
Das Entscheidende ist, dass Sie an diese Sache mit
dem vollkommen falschen Ansatz herangehen. Die
Frage, wie hoch die Vergütungen von Arbeitnehmern
- Vorstandsmitglieder sind eigentlich nichts anderes als
Angestellte eines Unternehmens - sind,
({6})
stellt eine Frage dar, die die Eigentümer der Unternehmen zu entscheiden haben. Ich halte es für völlig abwegig, zu fordern, dass die Politik vom grünen Tisch aus
darüber zu befinden habe, welche Vergütung festzusetzen ist oder wann sie zu hoch ist.
({7})
Ich glaube, dazu sind wir nicht berufen.
({8})
Mit Tarifautonomie einher geht Tariffreiheit. Insofern
sollten wir die Entscheidung über die Vergütung der sogenannten führenden Angestellten in die Hände der Eigentümer der Unternehmen legen. Deswegen kann ich
nur empfehlen, das Ganze nicht über das Steuerrecht zu
regeln. Man sollte eher darüber nachdenken, ob nicht die
Hauptversammlung in entsprechenden Unternehmen ein
Mitspracherecht bei der Festsetzung der Höhe der Vergütung von Vorstandsmitgliedern haben sollte.
({9})
Das halte ich für weitaus angemessener und für weitaus
besser als eine fürchterlich komplizierte Bestimmung im
Steuerrecht.
({10})
Sie wollen das 20-Fache des Bruttolohns des Facharbeiters als Grundlage heranziehen. Dieser wird sich von
Jahr zu Jahr entsprechend ändern. Das ist eine Verkomplizierung des Steuerrechts, die sicherlich nicht vertretbar ist.
({11})
Wir sollten also nicht im Steuerrecht ansetzen, sondern
im Unternehmensrecht. Ich glaube, das ist der richtige
Ansatz.
Ein weiterer Punkt ist die Frage der Abgeltungsteuer.
Es klingt erst einmal wahnsinnig schön - auch Kollege
Sieling hat das gesagt -: Der Steuersatz der Abgeltungsteuer soll von 25 auf 32 Prozent angehoben werden. Die
genaue Begründung, warum das nun genau 32 Prozent
sein sollen, haben Sie uns leider Gottes nicht gegeben.
Es könnten auch 35 oder 55 Prozent sein, wie auch immer. Aber einen entscheidenden Punkt haben Sie nur
ganz beiläufig gestreift, nämlich die Tatsache, dass vor
Einführung der Abgeltungsteuer über das sogenannte
Halbeinkünfteverfahren nur die Hälfte der Zuflüsse als
Bemessungsgrundlage für die Besteuerung herangezogen wurde. So war auch die Begründung dafür, dass man
für die Einführung der Abgeltungssteuer die Hälfte einer
Spitzensteuerbelastung von circa knapp unter 50 Prozent
ansetzt, nämlich 25 Prozent. Warum soll jetzt plötzlich
dieses Prinzip mit einem Steuersatz von 32 Prozent, wie
Sie es gerade vorgeschlagen haben, aufgegeben werden?
({12})
Da besteht tatsächlich ein Widerspruch.
Man sieht ganz einfach: Sie sind eben nicht mehr bereit, die von Ihnen früher vollkommen zu Recht vertretenen Prinzipien weiterhin zu vertreten, wenn Sie auf der
Oppositionsbank sitzen. Das halte ich, ehrlich gesagt,
nicht für glaubwürdige Politik. Insofern, meine ich, sollten Sie sich diese Forderung nach einer Anhebung der
Abgeltungsteuer auf 32 Prozent noch einmal genau überlegen.
Herr Kollege Sieling: Ja, der Staat braucht Steuereinnahmen; das ist vollkommen richtig. Steuern müssen
aber in einem angemessenen Verhältnis zu den finanziellen Spielräumen der Bürger stehen. Wenn Sie als SPDFraktion der Ansicht sind, der Staat brauche mehr Steuereinnahmen, dann kann ich Sie nur auffordern, dem
deutsch-schweizerischen Steuerabkommen zuzustimmen.
({13})
Das ist nämlich der angemessene Weg, auch in diesem
Bereich die Steuereinnahmen des Staates deutlich zu
steigern, hier endlich den gordischen Knoten zu durchtrennen und dafür zu sorgen, dass wir auch bei denjenigen, die ihr Geld in der Schweiz angelegt und bislang
nicht versteuert haben, für Steuergerechtigkeit sorgen.
Solange Sie dieses Abkommen ablehnen, sind Sie kein
glaubwürdiger politischer Partner mehr in Fragen der
Steuergerechtigkeit und der Steuerfairness.
({14})
Für die Linke spricht jetzt Herr Kollege Dr. Diether
Dehm.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine
Fraktion hat drei Anträge zur Besteuerung von Superreichen vorgelegt. Einer dieser Anträge hat die Besteuerung der Einkommensmillionäre zum Ziel, also jener,
die jedes Jahr mehr als das 40-Fache des Gehaltes einer
Verkäuferin bekommen. Genau mit diesem Vorschlag
hat François Hollande die Wahl gewonnen. Mit diesem
Antrag der Linken könnten Sie, liebe SPD, auch Ihrem
sozialdemokratischen Freund Hollande beistehen.
({0})
Die Superreichen, 1 Prozent unserer Bevölkerung,
sind in den letzten Krisenjahren noch reicher geworden
und besitzen mehr als die Hälfte des Geldvermögens. In
Deutschland stehen 7 500 Milliarden Euro Privatvermögen 2 000 Milliarden Euro Staatsschulden gegenüber.
Nur mit Umverteilung kann die Staatsverschuldung abgebaut werden.
({1})
Die Linke will, dass Spekulanten endlich nicht mehr
mit einer Abgeltungsteuer von läppischen 25 Prozent davonkommen, sondern wie jeder Angestellte und jeder
Handwerksmeister besteuert werden. Das Abgeltungsteuergeschenk muss ganz weg.
({2})
Rot-Grün hat die Hedgefonds zugelassen, die Großspekulanten damit steuerlich beschenkt. Die Große Koalition und Schwarz-Gelb haben die Steuergeschenke
dann dankend weiterentwickelt. Die Linke ist die einzige
Partei, die gegen die Macht der Deutschen Bank steht.
Alle anderen Parteien im Bundestag bekommen Parteispenden von den Großspekulanten und von Konzernen nicht. Das hat gute Gründe, und das soll so bleiben.
({3})
Spekulanten produzieren nichts. Sie fressen nur denen, die etwas leisten, die Haare vom Kopf.
({4})
Die Bundesregierung macht erst Steuergeschenke an die
Zockerbanken. Die verzocken dann das geschenkte
Geld, und Sie müssen eine Bankenrettung machen. Als
Tarnmanöver schreien Sie dann: „Schuldenbremse!“, nur
um die Bevölkerung wieder zu rupfen: beim Arzt, in der
Schule, als Verkehrsteilnehmer, bei den kommunalen
Leistungen und der Solarenergie. Wir sagen: Unsere
Schuldenbremse ist die Vermögen- und Millionärsteuer.
({5})
Jetzt müssen Millionäre mit einer Initiative für die
Vermögensabgabe kommen. Ich habe dort gerne unterschrieben.
({6})
- Kein Sozialneid! Nicht ausgerechnet von Ihnen, von
der FDP!
Lieber Kollege Volk, Sie haben von einem Raubzug
gesprochen. Sie werden nie verstehen, dass es Unternehmer gibt, die zu ihrem Glück nicht noch eine Million und
noch eine Million brauchen. Es macht nicht unglücklich,
etwas abzugeben: für die Lidlverkäuferin, die alleinerziehende Mutter und den kranken Nachbarn auch. Wir
sind Unternehmer, die in einem Land leben wollen, in
dem Krankenhäuser und Gesundheit nicht zum schäbigen Spekulationsobjekt verkommen, immer mehr gebettelt werden muss und der Unterricht ausfällt.
({7})
Glück ist teilbar, auch mit den 50 Prozent junger
Menschen in Südeuropa, die jetzt ohne Arbeit dastehen.
Herr Kollege Dehm, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Volk?
Aber gerne.
Bitte schön, Herr Volk.
Herr Kollege Dehm, Sie erwähnten gerade, dass auch
Sie den Aufruf von Millionären zur Einführung einer
Vermögensabgabe unterschrieben haben, also auch einer
der Betroffenen sind. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt,
dass es eine Kontoverbindung des Bundesfinanzministeriums gibt, auf die jeder freiwillig über seine Steuerschuld hinaus einzahlen kann?
Ich stelle Ihnen noch eine zweite Frage, auch wenn
Sie sie möglicherweise nicht beantworten wollen: Haben
Sie von dieser Kontoverbindung Gebrauch gemacht?
Ich habe es, um Ihnen das deutlich zu sagen, vorgezogen - das ist auch wichtig -, gewerkschaftliche Initiativen bzw. all die sozialen Initiativen wie Attac oder
Occupy, deren Camp jetzt wieder von der Stadt Frankfurt verboten werden soll, mit meinem Geld zu unterstützen. Das habe ich immer getan, ob ich das steuerlich geltend machen kann oder nicht, und das werde ich auch
weiterhin tun. Wichtig ist, dafür zu spenden, dass der
Widerstand in diesem Land gegen die Spekulanten
wächst.
({0})
Wir sind Unternehmer, die in einem Land leben wollen, in dem, wie gesagt, Gesundheit nicht zum schäbigen
Spekulationsobjekt verkommt.
Eine Welt, in der wie in Spanien eine Ärztin aufs
Land ziehen muss, damit sie dort wenigstens ein paar
Kartoffeln und Eier für ihre Leistung bekommt, oder in
der wie in Griechenland Mütter ihre Kinder - meistens
auf Nimmerwiedersehen - an SOS-Kinderdörfer abgeben,
({1})
ist eine Welt, in der sich die gut verdienenden Unternehmer, die sich an dieser Initiative beteiligen, nicht wohlfühlen.
Wir Erstunterzeichner für eine Vermögensteuer - das
ist etwas anderes als der Aufruf, den ich vorhin zitiert
habe - sagen genauso wie Warren Buffett und Bill
Gates: Wir wollen überall eine Vermögensteuer. Es kann
doch nicht sein, dass ein erfolgreicher Unternehmer weniger Steuern zahlen muss als seine Sekretärin.
({2})
Die Bundesregierung aber steht unbelehrbar bei den
professionellen Steuerverkürzungsartisten von der FDP.
Die großen Zeitungskonzerne und das Privatfernsehen
propagieren Ackermänner und Steuerflüchtlinge wie
Franz Beckenbauer und Michael Schumacher. Tolle Vorbilder für unsere Jugend: in Kitzbühel für Werbeeinnahmen aus Deutschland lächerliche Dumpingsteuern zu
zahlen! Es muss doch endlich für alle eine patriotische
Pflicht sein, in Deutschland seine Steuern ordentlich zu
zahlen. Es kann doch nicht sein, dass Steuerflüchtlinge
als Vorbilder propagiert werden.
({3})
Weil es eben auch ein großes Glück ist, in einer Welt zu
leben, in der Hunger, Analphabetismus, Arbeitslosigkeit
und Aids zurückgedrängt werden. Die Schere zwischen
Arm und Reich darf nicht weiter auseinandergehen. Ich
zitiere noch einmal François Hollande: „Solidarität beginnt bei gerechter Steuerzahlung der Konzerne.“
Der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof
hat letzte Woche zugunsten einer Stärkung der Gemeinden entschieden. Liebe Sozialdemokraten, Sie können
etwas für die Städte und Dörfer nicht nur in NordrheinWestfalen tun, für den neuen Präsidenten in Frankreich
und für Solidarität in Europa: Unterstützen Sie die Anträge der Linken für soziale Steuergerechtigkeit!
({4})
Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus für Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht alle
Anträge der Linken sind schlecht.
({0})
- Die meisten in der Tat, aber nicht alle.
({1})
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bereits vor
drei Jahren dafür votiert, den Betriebsausgabenabzug
von Managergehältern auf maximal 500 000 Euro zu begrenzen.
({2})
Denn es stimmt, was Herr Troost eben gesagt hat: Das ist
nichts anderes als eine Subventionierung von gigantischen Managergehältern - diese sind völlig aus dem
Ruder gelaufen - durch den Staat. Die Rechnung, die Sie
aufgemacht haben, Herr Kampeter, ist nicht richtig.
({3})
Natürlich bleibt das Managergehalt so, wie es ist. Darauf
wird dann der Spitzensteuersatz gezahlt. Über die Details können wir gerne separat diskutieren. Aber es war
falsch, was Sie hier in öffentlicher Sitzung gesagt haben.
({4})
Mit der Forderung nach Abschaffung der Abgeltungsteuer wird eine wichtige steuerpolitische Forderung von
uns Grünen aufgegriffen. Seit drei Jahren gibt es die Abgeltungsteuer in Deutschland. Die Spatzen pfeifen es
von allen Dächern: Die in Deutschland geltende Abgeltungsteuer ist Murks. Egal ob Sie Steuerberater fragen,
ob Sie mit Unternehmern und Unternehmerinnen reden,
ob Sie mit den Finanzämtern reden oder ob Sie mit der
Wissenschaft reden, alle sind sich einig: Sie ist Murks.
({5})
- Darüber kann ich Sie in Kenntnis setzen, Frau
Tillmann. Es ist nicht eine Stimme, sondern es sind viele
Stimmen. Ich habe intensive Gespräche darüber geführt.
Ich komme zu den verschiedenen Punkten, die für
eine Abschaffung der Abgeltungsteuer sprechen.
Erstens. Sie verursacht wegen der Günstigerprüfung
einen unglaublich hohen bürokratischen Aufwand.
Zweitens. Sie schwächt die deutsche Wirtschaft - das
hat das DIW in seinem aktuellen Wochenbericht deutlich
gemacht - und erhöht damit das Insolvenz- und Überschuldungsrisiko der deutschen Unternehmen, weil sie
die Eigenkapitalbasis schwächt. Fremdkapital wird nämlich gegenüber Eigenkapital steuerlich deutlich bessergestellt. Pro eingesetztem Euro spart eine Unternehmerin 18 Cent an Steuern, wenn sie ihr Kapital bei einer
Bank anlegt, statt es im eigenen Unternehmen zu halten.
Es gibt bereits entsprechende Verhaltensänderungen.
Das hat das DIW nachgewiesen.
({6})
Drittens. Die Abgeltungsteuer erleichtert Steuerhinterziehung, weil sie anonymisiert von Finanzinstituten
abgeführt wird und die Steuerfahnder deswegen weniger
Indizien über Steuersünder bekommen. Jede Normalverdienerin gibt dem Finanzamt umfassend Auskunft über
ihre Einkünfte. Für Bezieher von Kapitaleinkünften gilt
das seit drei Jahren in Deutschland nicht mehr.
({7})
Viertens. Die versprochenen höheren Steuereinnahmen sind nicht geflossen. Sie haben dieses Versprechen
als Propaganda gebraucht, um überhaupt eine Mehrheit
- tendenziell auch in der Bevölkerung - zu bekommen.
Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück hat den
berühmt-berüchtigten Satz geprägt: Lieber 25 Prozent
von x als 42 Prozent von nix! Diese Steuermehreinnahmen wurden jedoch nicht erzielt.
({8})
Stattdessen gibt es Steuermindereinnahmen in Höhe von
3 Milliarden Euro.
({9})
- Schauen Sie sich die Zahlen an. Das ist kein dummes
Zeug. Das wissen Sie, Herr Flosbach, genauso gut wie
ich.
({10})
Wenn Sie kein anderes Argument haben, brüllen Sie
noch lauter; aber ich habe momentan das Mikrofon.
Fünftens. Die Abgeltungsteuer verstößt zutiefst gegen
jegliches Gerechtigkeitsempfinden der Steuerbürgerinnen und Steuerbürger.
({11})
Warum soll Kapitaleinkommen niedriger besteuert werden als Arbeitseinkommen? Das versteht kein Mensch.
({12})
Deswegen findet das Wort von Warren Buffet immer
mehr Unterstützerinnen und Unterstützer. Dass die Abgeltungsteuer bisher nicht noch mehr in Misskredit geraten ist, liegt einzig und allein an der tollen Wortschöpfung. Wenn die Leute, die nicht davon profitieren,
wüssten, was zurzeit im Steuersystem in Deutschland
gilt, dann würden sie massenhaft aufstehen.
({13})
Deswegen gehört die Abgeltungsteuer wieder abgeschafft. Wir von den Grünen freuen uns ausdrücklich darüber, dass diese Einsicht in letzter Zeit auch jenseits von
Grünen und Linken öffentlich formuliert worden ist.
({14})
Wenn Exfinanzminister Peer Steinbrück in der Zeit vor
zwei Wochen einräumt, die Einführung der Abgeltungsteuer sei - Zitat - „ein Fehler, an dem ich leider mitgewirkt habe“,
({15})
wenn umgehend der jetzige Finanzminister und der damalige Kabinettskollege Schäuble sekundiert: „Ich war
schon immer ein Anhänger der synthetischen Einkommensteuer“, dann begrüßen wir das.
Dazu passt allerdings das derzeit mit der Schweiz
ausgehandelte Steuerabkommen, das die geltende Abgeltungsteuer zementiert, nicht.
({16})
Würde das Steuerabkommen mit der Schweiz tatsächlich
so abgeschlossen, wie Sie von Schwarz-Gelb es wollen,
dann müsste es wieder gekündigt werden, wenn wir in
Deutschland die Abgeltungsteuer tatsächlich abschaffen.
Das ist ein weiterer Grund, dieses Steuerabkommen mit
der Schweiz so nicht abzuschließen.
({17})
Ich bin trotzdem voller Hoffnung, da das sachfremde,
aber leider immer so wirkungsmächtige Argument der
Gesichtswahrung nach den Äußerungen von Steinbrück
und Schäuble hoffentlich obsolet ist. Deswegen sollte
jetzt der Weg frei sein, liebe Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten, wenn nicht heute, dann doch zumindest am Montag intensiv darüber zu debattieren, wie wir
es hinbekommen, die Abgeltungsteuer wieder abzuschaffen. Wir brauchen das. Außerdem hat auch Herr
Jörg Asmussen über den Finanzminister Schäuble gesagt: Es gibt nichts, was Herr Schäuble nicht kann. - Daher bin ich zuversichtlich, dass er auch in der Lage ist,
gemeinsam mit uns die Abgeltungsteuer in Deutschland
wieder abzuschaffen.
({18})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Olav Gutting das Wort.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Fraktion Die Linke stellt hier drei Anträge, die im Wesentlichen nichts Neues bieten. Es ist Altbekanntes, mit
einer Ausnahme: Neu ist die bei François Hollande abgekupferte Forderung nach einem Spitzensteuersatz von
75 Prozent.
({0})
Wissen Sie, es ist schon putzig: Man hat den Eindruck, dass Sie von den Linken, je schlechter die Wahlergebnisse sind und je mehr Wähler Ihnen davonlaufen,
umso höhere Forderungen beim Spitzensteuersatz stellen. Konsequenterweise werden Sie wahrscheinlich
nächste Woche, nachdem Sie in Nordrhein-Westfalen
aus dem Landtag geflogen sind, einen Spitzensteuersatz
von 95 Prozent oder gleich Enteignung fordern.
({1})
Oskar Lafontaine hat schon vorgebaut. Er hat vor kurzem zum Besten gegeben, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Spitzensteuersatz bei 95 Prozent gelegen hat
und keiner daran gestorben ist. Das ist richtig. An einem
Steuersatz stirbt keiner.
({2})
Aber mit Ihrer Steuerpolitik, meine Damen und Herren
von der Linken, machen Sie das Land nicht gerechter,
Sie machen es nur ärmer.
({3})
Interessant war auch, der SPD zuzuhören. Das gilt
auch für die öffentlichen Äußerungen im Vorfeld. Da
hört man schon eine grundsätzliche Zustimmung zu
Steuererhöhungen, aber auch zum Streichen der Abzugsfähigkeit bei Vorstandsgehältern heraus. Was früher richtig war und als notwendig erachtet wurde, ist Ihnen von
der SPD längst nicht mehr wichtig und wird von Ihnen
längst nicht mehr gefordert.
({4})
Sie wundern sich dann noch, wenn die Leute Ihre
Politik nicht mehr verstehen. Der einzige rote Faden, den
man bei Ihnen noch erkennen kann, ist die beständige
Abkehr von den Maßnahmen, die Sie in den letzten Jahren richtigerweise selbst - in der Regel mit uns beschlossen haben.
Zur Abgeltungsteuer: Man muss einfach noch einmal darauf hinweisen, dass es Ihr Finanzminister Peer
Steinbrück war, der diese Abgeltungsteuer so eingeführt
hat. Ich erinnere mich auch noch gut an seine Argumentation, als er sagte: 25 Prozent auf x sind eben besser als
42 oder eben 45 Prozent auf gar nichts. - Wir haben es
gemeinsam für richtig erachtet und eingesehen, dass
diese Abgeltungsteuer dazu beitragen wird, die Abwanderung von Kapital ins Ausland zu verringern und den
bürokratischen Aufwand abzubauen. Dieser Abbau der
Bürokratie wurde in den damaligen Beratungen übrigens
auch ausdrücklich von den Linken begrüßt. Das ist eine
moderne Steuer, eine Steuer, die vor allen Dingen auch
den globalen Entwicklungen Rechnung trägt. Nur, zumindest Peer Steinbrück, wie man hört, will davon jetzt
nichts mehr wissen.
Man kann durchaus der Meinung sein - und diese
Auffassung vertreten wir auch in der Koalition -, dass
man bei der Abgeltungsteuer noch das ein oder andere
verbessern muss. Es sind Änderungen notwendig, um zu
einer stärkeren Vereinfachung zu kommen. Aber mit einer Erhöhung, wie sie jetzt auch die SPD fordert, konterkarieren wir diese Überlegungen zu Vereinfachungen bei
der Abgeltungsteuer. Sie erst einzuführen und hinterher
so zu tun, als ob sie Teufelszeug wäre, das ist keine verlässliche Politik.
({5})
Leider gibt es viele Beispiele dafür, dass Sie immer
wieder wichtigen und richtigen Reformprojekten zu21158
nächst zustimmen und sich dann anschließend vom
Acker machen. Das ist janusköpfig. Erst senkte RotGrün beispielsweise den Spitzensteuersatz auf 42 Prozent. Dann braucht es eine CDU-geführte Regierung, um
diesen Spitzensteuersatz wieder auf 45 Prozent anzuheben. Und schauen wir uns die Agenda 2010 an: Sie war
richtig für Deutschland. Die Agenda 2010 war richtig für
Deutschland, genauso wie die von uns mit Ihnen zusammen beschlossene Rente mit 67.
({6})
Einen guten Teil unserer heutigen Wettbewerbsfähigkeit, einen guten Teil des Erfolgs, dass wir heute in Europa als die Wachstumslokomotive dastehen, als der Stabilitätsanker, haben wir den Reformen von Gerhard
Schröder zu verdanken. Aber statt sich darüber zu freuen
und statt den europäischen Partnern der Sozialdemokraten diese Reformen zu empfehlen, stellen Sie sich hin
und tun so, als ob die SPD nie irgendetwas damit zu tun
gehabt hätte.
({7})
Sie wissen, dass nachhaltiges Wachstum in Europa
nur mit Strukturreformen möglich ist, Strukturreformen
wie zum Beispiel die Agenda 2010.
({8})
Aber stattdessen stimmen Sie jetzt in den Chor der
Schuldenstaaten ein. Sie fordern sinnlose, schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme, für die am Ende der
deutsche Steuerzahler geradestehen muss. Das ist traurig, meine Damen und Herren von der SPD.
({9})
Bei den Linken - das wissen wir - ist in der Steuerpolitik Hopfen und Malz sowieso verloren.
({10})
Aber wenigstens Sie von der SPD, mit denen zusammen
wir gute Dinge gemacht haben, sollten sich endlich wieder der Verantwortung für diesen Staat bewusst werden.
({11})
Für die SPD hat jetzt der Kollege Lothar Binding das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht zunächst ein
Wort zum Kollegen Kampeter: Ich verstehe nicht, dass
Sie sich nicht die Peinlichkeit ersparen konnten, hier
noch einmal das Abkommen mit der Schweiz, dieses
Verhandlungsdesaster, zu zitieren!
({0})
In ihm ist eine „Abschleichregelung“ enthalten, sozusagen eine Motivation zum Schwarzgeldtransfer in Steueroasen; der Mindestsatz ist viel zu niedrig; der Ankauf
von CDs künftig zweifelhaft; und - ich glaube, das ist
das deutlichste Signal - es lässt nur maximal 1 300 Prüfanfragen in zwei Jahren zu, also ungefähr zwei Anfragen
pro Finanzamt.
({1})
Das stellt doch keine hinreichenden Kontrollmöglichkeiten bereit, um Betrügern auf die Spur zu kommen. Betrüger werden vielmehr begünstigt. Deshalb frage ich mich,
wie Sie sich die Peinlichkeit erlauben konnten, das hier
noch einmal zu erwähnen.
({2})
Ullrich Meßmer hat mir vorhin, als Daniel Volk seine
Verteidigungsrede für die Einkommen von Millionären
gehalten hat, gesagt: Wenn wir diese Verteidigungsrede
gehört hätten, als es um die Verkäuferinnen von Schlecker
ging, dann wäre das eine richtig große Leistung gewesen. Leider müssen wir auf diese Leistung verzichten.
({3})
Ich fasse zusammen: Auch die Linke hat Ideen, mal
schlechte, mal weniger schlechte. Sie will eine Einkommensteuer für Millionäre von 75 Prozent. Außerdem will
sie 5 Prozent Vermögensteuer, 60 Prozent Erbschaftsteuer, 25 Prozent Körperschaftsteuer. Die Abgeltungsteuer soll abgeschafft werden. Wie daraus ein in sich
schlüssiges Steuerkonzept werden soll, kann, denke ich,
kein Fachmann erkennen. Die FDP dagegen will - ähnlich erfolglos - nur die Steuern senken. Das hat bisher
nur einmal geklappt, bei den Hoteliers; ansonsten ist dieses Vorhaben bislang schiefgegangen.
({4})
Wir sind gespannt, was da noch passiert.
Wir glauben, dass solche radikalen, scheinbar einfachen Lösungen abzulehnen sind. Die SPD-Fraktion arbeitet tatsächlich an einem gerechten System. Ich kann
versprechen: Das wird nicht einfach. Wir wissen: Das
Versprechen auf Einfachheit ist nicht erfüllbar. Alle, die
seit 50 Jahren von einem einfachen Steuersystem träumen, haben ihren Traum immer dann ausgeträumt, wenn
sie ihn aufschreiben sollten.
({5})
Lothar Binding ({6})
Wir wissen: Die Idee der Steuerprogression ist gerecht; je mehr man verdient, desto mehr Prozente Steuern zahlt man. Wir müssen uns nicht nur um die Idee der
besseren Umsetzung der Steuerprogression kümmern,
sondern auch um die Praxis der Regression bei den Abgaben. Wer sich nicht auch um die Abgaben kümmert,
der wird immer in einem ungerechten System landen.
Deshalb müssen wir an dieser Stelle sehr viel mehr
machen.
({7})
Stichwort „Managergehälter“. Joachim Poß hat lange
vor 2007 - Ergebnis war schließlich ein in Hamburg gefasster Parteitagsbeschluss - darüber geredet, dass die
Aufsichtsräte wieder verantwortlicher arbeiten sollen. Er
hat von einer Erhöhung der Transparenz gesprochen. Er
hat gesagt: Wir müssen den Angemessenheitsbegriff und
den Selbstbehalt bei D&O-Versicherungen - Directorsand-Officers-Versicherungen - überdenken; schließlich
gehe es nicht an, dass sich Manager einfach haftungsfrei
stellen könnten. Joachim Poß sprach von einem - das
wurde heute schon einmal zitiert - Mentalitäts- und Kulturwandel im Bereich Managergehälter. Ich glaube, dass
ein solcher Wandel das wichtigste Ziel sein muss. Bisher
lassen sich nämlich viele Dinge gar nicht regeln, weil
Manager ihre Gehälter in einem ganz anderen Rechtsraum erhalten können. Wir brauchen also mehr als eine
einfache gesetzliche Regelung.
Joachim Poß hat fast prophetisch gesagt: „Die Wirksamkeit des Gesetzes zur Begrenzung der Managergehälter ist nicht automatisch garantiert.“ Wir wissen inzwischen auch, warum. Die CDU hat damals ein paar
Sachen abgelehnt. Ich will einmal zwei nennen:
Sie hat eine Neuregelung zu Betriebsausgabenabzügen bei Personen, die mehr als 1 Million Euro verdienen,
verhindert. Wir haben gesagt: Die Betriebsausgaben
sollten hälftig nicht von der Steuerschuld abgezogen
werden, um somit die Funktion einer Dämpfung auf
diese exorbitanten Gehälter auszuüben. Das hat die CDU
damals verhindert. Bisher ließ sich dieser Kulturwandel
nicht herbeiführen. Selbsterkenntnis muss nämlich immer durch faktische Politik unterstützt werden.
Außerdem gab es einen Passus, der die Verpflichtung
der Konzernleitung auf die Interessen der Mitarbeiter,
der Anteilseigner und auf das Wohl der Allgemeinheit
beinhaltete. Wenn er umgesetzt worden wäre, wären wir
an unserem Ziel angekommen.
Was ist nun das Ergebnis? Es gibt Personen, die verdienen 48 000 Euro. Ich muss sagen: Ich finde das in
Ordnung. Wer würde das bestreiten? Sie denken jetzt
alle an ein Jahreseinkommen. Ich meine aber ein Einkommen von 48 000 Euro pro Tag. Gegenwärtig gibt es
Personen, die pro Tag 48 000 Euro verdienen, und das
hat ein Aufsichtsrat beschlossen. Da merken wir: Das ist
hinsichtlich Mentalität und Kultur eine schlimme Verfehlung. Wir glauben, da anzusetzen, ist ein Signal dafür,
dass sich sehr viel mehr als bisher machen lässt, und das
wollen wir künftig auch tun.
({8})
Ich will noch kurz etwas zur Abgeltungsteuer sagen.
Vielleicht ist es richtig, die Abgeltungsteuer wieder abzuschaffen. Das kann sein.
({9})
Vielleicht ist es aber auch falsch. Zumindest ist die Analyse, die die Linken vornehmen, nicht richtig. Im Antrag
der Linken steht zum Beispiel, dass die „kassenmäßigen
Steuereinnahmen des Jahres 2010 sowie die Prognose
der Steuerschätzung vom November 2010 … einen massiven Einbruch bei den Einnahmen aus der Abgeltungsteuer“ zeigen.
Man sollte sich bewusst machen, dass gerade bei den
Kapitalertragsteuern der Zinssatz eine wichtige Rolle
spielt: Sinken die Zinsen, haben viele Menschen ein geringeres Einkommen, und das Steueraufkommen ist kleiner.
({10})
So ähnlich ist es bei den Dividenden: Sinken die Gewinne der Unternehmen, werden auch die Dividenden
sinken, und die Steuern auf die gesunkenen Dividenden
fallen geringer aus. Mit dieser Analyse kann man keine
Politik machen; denn damit kommt man zu falschen Ergebnissen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme sofort zum Schluss. - Hinzu kommt, dass
derzeit die Veräußerungsgewinne ohne Spekulationsfrist
besteuert werden. Das ist ein großer Vorteil. Das wieder
zurückzudrehen, wäre jedenfalls auf der jetzt angedachten Basis ein Fehler. Langfristig darüber nachzudenken,
könnte sich lohnen, aber nicht auf der Basis, die die
Linke heute vorgeschlagen hat.
Vielen Dank.
({0})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Antje Tillmann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Lieber Lothar
Binding, du hast gesagt, du wollest das ausgewogene
Steuerkonzept der SPD vortragen.
({0})
Das, was du uns vorgetragen hast, war ein Strauß von
Durcheinander. Ich fange mit der Kapitalertragsteuer
oder Abgeltungsteuer an.
In beiden Reden, sowohl in der Rede von Ihnen, Herr
Sieling, als auch in der Rede von dir, Lothar Binding,
war der Teil, der sich darauf bezog, dass die Abgeltungsteuer nicht die negativen Effekte gehabt hat, die die
Linken ihr zuschreiben, richtig. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Vor den 25 Prozent von x hatten wir
nicht 42 Prozent von nix, wie der berühmte Satz lautete,
sondern die Hälfte von 42 Prozent von nix; wir hatten
nämlich das Halbeinkünfteverfahren. Durch die Abgeltungsteuer ist es bei den Dividenden sogar zu einer Steuererhöhung gekommen. Dieser Passus der Rede war,
fand ich, sehr in Ordnung.
Sie haben auch darauf hingewiesen, dass wir zu Zeiten
der synthetischen Besteuerung - ähnlich wie Finanzminister Schäuble bin ich ein Fan von einer gut gemachten und vernünftig durchgeführten synthetischen Besteuerung - dieselben Probleme hatten wie heute. Wir hatten
den Werbungskostenabzug, wo es immer Umgehungstatbestände gab. Wir hatten den Verlustabzug, bei dem sich
die Leute arm gerechnet haben. Wir hatten natürlich die
Steuerhinterziehung. Nichts ist dadurch besser geworden, dass man die synthetische Besteuerung auch auf die
Einkünfte aus Spekulationsgewinnen bezogen hat. Ganz
im Gegenteil: Bei der Abgeltungsteuer haben wir, selbst
bei anonymer Besteuerung, zumindest die Sicherheit,
dass die Banken haften, wenn sie Steuern nicht einziehen. Das hatten wir früher nicht. - Diesen Part fand ich
gut.
Dann kam der Part hinsichtlich des Parteitagsbeschlusses: Erhöhung der Abgeltungsteuer auf 32 Prozent. Nun kann man über jede Steuererhöhung diskutieren. Sie tun das ja im Moment besonders gern mit den
Linken. In Ihrem Konzept steht auch noch die Vermögensteuer und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes.
({1})
Sie haben also einen Strauß von Steuererhöhungen vor.
Inhaltlich und systematisch könnte man darüber sprechen, wenn da nicht die Tatsache wäre, dass Sie dann in
den nächsten drei Jahren Kapitalgesellschaften anders
besteuern als Personengesellschaften. Da der größte
Fluchtinstinkt der Deutschen der Steuerfluchtinstinkt ist,
wird das dazu führen, dass Personengesellschaften und
Kapitalgesellschaften ihre Rechtsform wechseln. Das
heißt, in den nächsten drei Jahren werden alle überlegen,
wie sie ihre Steuerlast möglichst gering halten können,
und werden sich umwandeln - mit erheblichen gesellschaftlichen Kosten, mit erheblichen Belastungen für die
Unternehmen.
({2})
Was Ihnen beiden offensichtlich peinlich ist, ist der
Satz 2 aus Ihrem Parteitagsbeschluss. Darin steht nämlich - deshalb kann ich Ihr Abstimmungsverhalten heute
gar nicht verstehen -: Wenn die Steuer doch nicht die
von Ihnen gewünschte Höhe erreicht, plädieren Sie für
eine Abschaffung der Abgeltungsteuer. - Das heißt, drei
Jahre Gestaltungsdurcheinander, nach den drei Jahren
die völlige Abschaffung und in der Folge dieselben Probleme, die wir vorher auch hatten. Damit ist das Steuerchaos perfekt. Das kann ich nicht als Steuervereinfachung oder Steuersystematik empfinden. Das ist einfach
Murks.
({3})
Da ist schon konsistenter, was die Linke fordert, nämlich die Abgeltungsteuer sofort abzuschaffen. Aber warum ist das nicht sinnvoll? Lieber Herr Troost und Herr
Dehm, Sie haben mit keinem Wort gesagt, wie Sie die
Probleme lösen wollen, die wir früher hatten. Die Probleme, die es mit der Abgeltungsteuer gibt, zum Beispiel
die Ermittlung der Anschaffungskosten, zum Beispiel
die Verlustverrechnung, hat man bei der synthetischen
Besteuerung ganz genauso. Dazu kommen die Probleme
mit den Werbungskosten.
Sie haben schön dargestellt, was Sie alles nicht wollen und dass Ihr Vorschlag gut für die Armen ist, aber
Sie haben mit keinem Satz gesagt, wie Sie die Besteuerung vornehmen wollen. Sie haben vor allen Dingen verschwiegen, dass Sie das Halbeinkünfteverfahren wieder
einführen müssen, weil Sie das Ganze sonst verfassungsrechtlich nicht durchkriegen. Mit dem Halbeinkünfteverfahren senken Sie aber die Steuer auf Dividenden. Das
haben Sie nicht gesagt.
Dafür haben Sie behauptet, Herr Dehm, dass Ihre
Schuldenbremse die Millionärsteuer sei. Einmal abgesehen davon, dass Sie bei der Schuldenbremse gar nicht
zugestimmt haben: Ich kann Sie nur auf einen Artikel im
Handelsblatt von gestern verweisen. Danach gibt es in
der Schweiz im Moment massive Zuwanderungsbestrebungen französischer mittelständischer Unternehmer,
die nämlich der Steuer in Höhe von 75 Prozent entgehen
wollen. Das heißt, Sie werden Unternehmen aus
Deutschland vertreiben und werden keinen einzigen
Cent an zusätzlichen Steuereinnahmen bekommen.
({4})
- 75 Prozent würde ich noch nicht unter „Steuerdumping“ fassen. Da liegen Sie völlig daneben.
({5})
Zu behaupten, dass das niedrige Kapitalertragsteueraufkommen auf die Abgeltungsteuer zurückzuführen ist,
ist - da muss ich den Kollegen Sieling und Binding wieder recht geben - völlig daneben.
({6})
Das zeigt, dass man überhaupt keine Ahnung von wirtschaftlichen Vorgängen hat.
({7})
Es ist völlig richtig, dass Dividenden nicht in der Höhe
fließen, dass Zinsen nicht in der Höhe fließen, dass mit
der synthetischen Besteuerung von Kapitaleinkünften
nicht Einnahmen in dem Umfang erzielt werden könnten, wie das 2008 der Fall war.
({8})
Wenn Sie sich darüber so echauffieren, dass Sie das als
Steuerberater wüssten - ({9})
- Auch dann erkläre ich es Ihnen ausgesprochen gerne.
Dazu habe ich noch Zeit. Auch als Unternehmer wüssten
Sie, dass im Jahr 2008 Spekulationsgewinne bei einer
Haltefrist von über einem Jahr noch nicht besteuert wurden, sodass Sie die Situation vor 2008 und nach 2008
überhaupt nicht vergleichen können.
({10})
- Es ist wahr. Darüber können wir gerne diskutieren.
Zusammenfassend kann ich nur sagen: Das, was Sie
vorhaben, ist nicht durchdacht. Es ist teilweise faktisch
unrichtig. Es wird nicht das gewünschte Ergebnis erzielen. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg, die Abgeltungsteuer weiter zu entwickeln.
Frau Paus, im Nachgang werden Sie mir noch die
Steuerberaterkammer oder den Steuerberaterverband
nennen, der sich für die Abschaffung der Abgeltungsteuer ausspricht. Ich kenne keinen einzigen.
Danke.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Die Abgeltungsteuer abschaffen - Kapitalerträge
wie Löhne besteuern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/7666, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4878 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Linken und der Grünen angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksache 17/9552 und 17/9525 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 a und b
auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Frank
Schwabe, Ingrid Arndt-Brauer, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Leitlinien für Transparenz und Umweltver-
träglichkeit bei der Förderung von unkon-
ventionellem Erdgas
- zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Krischer, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz und Kontrolle bei der Förde-
rung von unkonventionellem Erdgas in
Deutschland
- Drucksachen 17/7612, 17/5573, 17/9450 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Horst Meierhofer
Oliver Krischer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Johanna Voß, Dr. Barbara Höll, Eva
Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Keine Erdgasförderung auf Kosten des Trinkwassers - Fracking bei der Erdgasförderung
verbieten
- Drucksachen 17/6097, 17/9196 Berichterstattung:
Abgeordneter Oliver Krischer
Über die Beschlussempfehlung zu den Anträgen der
Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken werden wir später namentlich abstimmen. Wir
werden also drei namentliche Abstimmungen durchführen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Bundesminister Dr. Norbert
Röttgen.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Die Förderung von unkonventionellem Erdgas durch das
sogenannte Fracking birgt Risiken, die wir noch nicht
einschätzen können. Es können in allen Phasen der Erprobung und der Anwendung Umweltbeeinträchtigungen auftreten. Aufgrund des Einsatzes von Chemikalien
können Gefahren für das Grund- und Trinkwasser bis21162
lang nicht ausgeschlossen werden. Oft liegen sogar die
von den Ländern ausgewiesenen potenziellen Lagerstätten in Einzugsgebieten für Trinkwasser oder in landwirtschaftlichen Gebieten. Weil Gefahren klar sind, wir sie
aber nicht kennen und ihre Auswirkungen auf die Natur
und hier insbesondere auf das Trinkwasser nicht abschätzen können, sind die Menschen in den betroffenen
Regionen verunsichert. Man kann sogar sagen, Sie haben Angst davor, dass eine wirtschaftliche Nutzung erfolgt und dabei Gefährdungen eintreten, die man nicht
kalkulieren kann.
({1})
Darum ist es gut, dass wir diese Debatte nutzen, um uns
mit den Ängsten und der Verunsicherung der Menschen
zu beschäftigen.
({2})
Es geht um die Ängste von Eltern, von Müttern und Vätern, und um die Ängste der Landwirtschaft, die ihre
wirtschaftliche Grundlage bedroht sieht. Dieses Thema
ist in vielen Regionen unseres Landes, insbesondere in
Nordrhein-Westfalen, ein bedeutsames Thema. Darum
ist es unsere Verantwortung, mit diesen Ängsten sachlich
umzugehen. Heute müssen wir in dieser Debatte so viel
Klarheit, wie derzeit möglich ist, herstellen. Dazu
möchte ich jedenfalls diese Debatte nutzen.
({3})
Ich möchte angesichts dessen, was noch ungewiss ist,
fünf Punkte klarstellen und ausführen:
Erstens. Solange wir keine umfassenden präzisen und
wissenschaftlich belastbaren Erkenntnisse über die Risiken besitzen, solange die fachlichen Grundlagen noch
unzureichend sind, um zu einer umfassenden Bewertung
zu kommen, so lange darf es keine wirtschaftliche Nutzung von Fracking geben. Das ist der erste Grundsatz,
der vorläufig gelten muss.
({4})
Zweitens. Solange die Risikofragen nicht geklärt
sind, halte ich es nicht für vertretbar, weitere Genehmigungen für Fracking bei der Suche nach Gas aus unkonventionellen Vorkommen zu erteilen. Insbesondere in
sensiblen Gebieten, wie zum Beispiel in Trinkwasserschutzgebieten, muss Fracking grundsätzlich verboten
werden. Die Zuständigkeit dafür liegt allerdings bei den
Ländern.
Drittens. Die Risiken müssen erforscht werden. Ich
habe darum im Sommer des vergangenen Jahres dem
Umweltbundesamt den Auftrag erteilt, eine wissenschaftliche Studie über die Risiken des Fracking für die
Umwelt und insbesondere für die Bevölkerung erstellen
zu lassen. Das Umweltbundesamt hat im Herbst 2011
nach einer regulären Ausschreibung den Auftrag für
diese Studie erteilt. Im nächsten Monat wird sie abgeschlossen sein. In dieser Studie werden die Risiken des
Fracking klar benannt und wissenschaftlich bewertet
werden. Mit dieser Studie, die im nächsten Monat vorliegt, werden wir dann eine solide Grundlage für unsere
politische Bewertung haben,
({5})
um angemessene Konsequenzen ziehen und Aussagen
treffen zu können. Vorher machen Ihre Aktionen keinen
Sinn. Bevor man nicht eine solide Grundlage hat, ist das
lediglich Aktionismus,
({6})
und Aktionismus ist nicht die richtige Antwort, wenn
Menschen Angst haben. Man sollte mit den Ängsten
kein politisches Spiel treiben,
({7})
sondern verantwortlich damit umgehen.
Viertens. Mit diesem Punkt nenne ich Ihnen das feststehende Prinzip für die Beurteilung von Fracking. Bei
der Anwendung von Risikotechnologien und bei der Anwendung von Fracking hat die Sicherheit von Mensch
und Natur oberste Priorität. Bei der Sicherheit wird es
keine Abstriche geben. Bei allen Erkundungen, auch
beim sogenannten Probefracking, sind die höchsten
Sicherheitsmaßstäbe anzulegen. Nur so kann ein mögliches Fracking überhaupt zulässig werden. Unser Kriterium ist allein das Sicherheitsprinzip.
({8})
Daraus folgt: Weil die Sicherheit von Mensch und
Natur unser Leitprinzip ist, wollen wir Fracking in sensiblen Gebieten ganz ausschließen. Daraus folgt: Wir
wollen eine verpflichtende Umweltverträglichkeitsprüfung einführen und dafür das Bergrecht ändern.
({9})
Die Wasserbehörden sind zwingend zu beteiligen.
({10})
Eine Umweltverträglichkeitsprüfung kommt derzeit erst
bei einem Fördervolumen von über 500 000 Kubikmetern Erdgas pro Tag infrage. Diese Schwelle ist zu hoch;
sie muss ohne jede Frage abgesenkt werden.
({11})
Diese Punkte stehen heute schon fest. Wir haben sie
eingeleitet, über sie kann heute bereits abgestimmt werden. Hierüber kann heute bereits Klarheit geschaffen
werden.
({12})
Wenn wir darüber einig sind, brauchen wir gar nicht zu
streiten und erst recht nicht zu schreien. Vielmehr sollten
wir alle unsere gemeinsame Verantwortung sehen, den
betroffenen Menschen das Maximum an Klarheit und
Sicherheit zu geben, das wir heute geben können.
({13})
Darüber sollten wir keinen unnötigen Streit führen, sondern uns in der Verpflichtung gegenüber den Menschen
sehen.
Fünftens. Das ist mein letzter Punkt. Neben der Sicherheitsfrage, die maßgeblich und nicht verhandelbar ist,
braucht eine solche Methode immer die Akzeptanz der
Menschen vor Ort. Gegen die Menschen ist dies nicht zu
erreichen. Wenn man Akzeptanz erreichen möchte, gilt
das Gebot, dass die Bürger frühzeitig informiert, beteiligt und eingebunden werden müssen. Das ist zwingend
notwendig.
Das wird durch die Umweltverträglichkeitsprüfung
gewährleistet, weil sie eine entsprechende Bürgerbeteiligung vorsieht. Ich plädiere sehr dafür: Wenn man eine
Umweltverträglichkeitsprüfung durchführen will, dann
ist die Bürgerinformation, die Bürgerbeteiligung zwingend geboten. Über die Köpfe der Bürger ist das nicht zu
machen. Nur mit den Bürgern oder gar nicht - das ist
zwingende Bedingung.
({14})
In diesem Zusammenhang gibt es allerdings auch
Klagen bei den Ländern - bislang sind die Länder für
den Vollzug des Bergrechts zuständig -, dass sie die Informationen haben etwas schleifen lassen. Das wird sicherlich besser werden. Die Länder sind aufgefordert,
die Antragsteller, die die Nutzung genehmigt haben
möchten, zu verpflichten, alle zur Verfügung stehenden
Informationen der Öffentlichkeit bereitzustellen. Die
Unternehmen, die sich dort beteiligen wollen, müssen
umfassende Transparenz vor Ort gewährleisten.
Damit komme ich zur zusammenfassenden Bewertung. Wir haben zurzeit noch keine ausreichenden Kenntnisse über die möglichen Auswirkungen. Die Wissensdefizite müssen abgebaut werden. Wir haben das eingeleitet. Nächsten Monat wird dies der Fall sein. Bevor die
Wissensdefizite nicht abgebaut sind, dürfen keine Fakten
geschaffen werden. Das muss unbedingt verhindert werden, meine Damen und Herren.
({15})
Ob es zur Gewinnung von unkonventionellem Erdgas
in Deutschland kommen wird, ist zurzeit sehr, sehr ungewiss. Klar ist nur: Oberste Leitmotive und Prinzipien
sind die unbedingte Sicherheit von Mensch und Natur
sowie die Einbindung und Akzeptanz der Menschen vor
Ort. Das sind die Kriterien, die wir heute kennen.
Ich appelliere sehr dafür, so vorzugehen - nach dem
Prinzip von Sicherheit auf einer wissenschaftlichen Basis - und uns alle bewusst zu sein, dass dieses Thema
viele Menschen ganz elementar berührt, verunsichert
und in Ängste versetzt.
Gehen wir mit den Ängsten und den Sorgen der Menschen in den betroffenen Regionen verantwortlich um!
Mit diesem Appell möchte ich schließen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger, die sicherlich zahlreich dieser Debatte folgen! Herr Minister,
bei dem, was Sie sagen, ist eigentlich nur eines sicher:
dass Sie Angst vor dem Wahlsonntag haben. Das ist Ihre
Motivation, hier überhaupt so eine Rede zu halten, die
Sie zwei Jahre lang hätten halten können.
({0})
Sie hatten zwei Jahre Zeit, hier etwas auf den Tisch zu
legen, was zustimmungsfähig ist. Dazu waren und sind
Sie nicht in der Lage. Jetzt kommen Sie mit solchen Dingen.
({1})
Wenn Sie ein Maximum an Klarheit und Sicherheit
wollen - genau das haben Sie gerade hier gesagt und einige Punkte genannt -,
({2})
dann können Sie das ja gleich beweisen, indem Sie den
Anträgen zustimmen, die von der Opposition hier auf
den Tisch gelegt werden. Das ist die Probe aufs Exempel.
({3})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bedauerlicherweise entscheidet bei Fracking Schwarz-Gelb in diesem
Hause und nicht der Bürger. Dann wäre nämlich klar,
welche Entscheidung getroffen würde.
({4})
Die Menschen im Land sehen das deutlich kritischer als
Schwarz-Gelb in diesem Hause.
Ich weiß nicht, ob noch die Fernsehspots laufen, die
ich eine Zeit lang gesehen habe. Abends war im Fernsehprogramm zur besten Sendezeit - das war sicherlich
sehr teuer - ein Herr Dieter Sieber zu sehen, der zum unkonventionellen Erdgas unter anderem gesagt hat:
Wenn man mich fragt, ob es sicher ist, diese Erdgasvorkommen zu entwickeln, kann ich nur antworten: ja, absolut.
Ich weiß gar nicht genau, wie sicher das Ganze am
Ende ist. Das wissen wir in der Tat alle noch nicht ganz
genau. Was ich allerdings weiß, ist, dass man ganz
schwer auf der Hut sein muss, wenn sich jemand beim
Thema Fracking schon absolut sicher ist, dass es sicher
ist. Da müssen wir alle gemeinsam aufpassen.
Ich halte das auch für eine vollkommen verfehlte Unternehmensstrategie. Was verspricht sich Exxon Mobil
nur davon, auf der einen Seite vermeintlich überparteiliche Foren mit Experten zu veranstalten und auf der anderen Seite gleichzeitig schon diese Spots im Fernsehen
laufen zu lassen?
Um allerdings nicht falsch verstanden zu werden:
„Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ ist
auch in der Energiepolitik die falsche Strategie. Gas ist
ein Brückenenergieträger - das hätten Sie ruhig einmal
sagen können, Herr Minister - und wichtig als Brücke in
die Zukunft der Vollversorgung mit erneuerbaren Energien.
Deswegen schließen wir die Förderung von Erdgas
auch im unkonventionellen Bereich nicht aus.
({5})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, schließen Sie das
aus?
({6})
- Sie wissen es noch nicht? Okay.
({7})
Es muss aber die bestmögliche und umfassendste Prüfung auf Gefahren für Mensch und Umwelt geben. Dazu
ist eine umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung notwendig - und keine Umweltverträglichkeitsprüfung
light, die Sie zurzeit immer noch diskutieren.
Außerdem brauchen wir umfassende Transparenzund Beteiligungsregeln; denn das, was hier passiert, erinnert mich zum Teil wirklich an das, was ich sonst aus
Lateinamerika kenne: Dort gibt es Gebiete, wo die
Claims abgesteckt sind, und weder die Bürgerinnen und
Bürger noch der Bürgermeister wissen, was eigentlich
geschieht. Das ist ein gesellschaftlicher Skandal, und dagegen muss man vorgehen. Sie haben die Möglichkeit.
Sie haben hier im Parlament die Mehrheit, das entsprechend umzusetzen.
({8})
Die Devise der Bundesregierung und von SchwarzGelb am Anfang lautete: Verharmlosung. Mittlerweile
haben wir es mit einer Verschleppungsstrategie zu tun.
Ein Beispiel für die Verharmlosung: Am 31. März 2011
hat mir der ehemalige Staatssekretär Homann auf eine
Anfrage zum Thema unkonventionelles Erdgas wie folgt
geantwortet:
Bezüglich möglicher Risiken bei der Gewinnung
von unkonventionellem Erdgas geht die Bundesregierung nach jetzigem Kenntnisstand davon aus,
dass bei Beachtung der geltenden technischen Sicherheitsvorschriften und aktuellen Umweltstandards
- das sind immer noch die von heute keine wesentlichen Unterschiede zur Gewinnung
von konventionellem Erdgas bestehen.
Das ist ja interessant.
({9})
Das war eine völlige Verharmlosung. Heute ist nicht
mehr Verharmlosung, sondern eine Verschleppungsstrategie angesagt.
Ich habe am Montag im Spiegel gelesen - zuerst habe
ich gedacht: Mensch, jetzt kommt etwas Substanzielles -, dass Sie und auch Herr Rösler sehr skeptisch seien.
Sie haben auf ein Gutachten verwiesen - das kam als
neue Nachricht daher -, das mittlerweile schon seit einem Jahr in Bearbeitung ist. Es ist im Übrigen ein
Schmalspurgutachten, weil es viel weniger untersucht,
als in Nordrhein-Westfalen untersucht wird. Sie sind
nicht dafür da, um Gutachten zu erstellen, um über den
Wahlsonntag zu kommen, sondern Sie sind dafür da, zu
handeln. Sie sind der Ankündigungsminister Nummer
eins in dieser Bundesregierung. Das Fracking ist sinnbildlich für Ihr Versagen und für Ihre verkorkste Energiewende, und zwar in Bezug auf alle energiepolitischen
Fragen in unserem Land.
({10})
Ich kann die ganzen Vorgänge gar nicht aufführen:
({11})
29. Juni 2011, Antrag aus Nordrhein-Westfalen von RotGrün, abgelehnt im Bundesrat von Schwarz-Gelb, am
21. November 2011 Anhörung im Deutschen Bundestag,
am 8. Februar 2012 Anträge der Opposition im Umweltausschuss, am 28. März 2012 wiederum Anträge der Opposition im Umweltausschuss, abgelehnt von Ihnen, von
Schwarz-Gelb. Ich verstehe sogar, dass Sie als Koalition
den Oppositionsanträgen nicht zustimmen wollen, aber
Sie hatten genug Zeit, einen eigenen Vorschlag auf den
Tisch zu legen.
({12})
Sie sind dazu nicht willens bzw. in der Lage - das ist die
ganze Wahrheit -, dann dürften Sie aber nicht an der Regierung sein. Da Sie an der Regierung sind, müssen Sie
handeln.
({13})
Sie müssen sich die Gesetzgebung vornehmen. Das machen Sie nicht, damit scheitern Sie. Hallo, Herr Röttgen,
bitte hören Sie zu: Das ist Ihre Verantwortung, und der
kommen Sie nicht nach.
({14})
- Wahrscheinlich ist er gedanklich gerade in NordrheinWestfalen.
({15})
Frau Dött und Herrn Dr. Paul - er spricht gleich
noch - haben zum Thema unkonventionelles Erdgas
eine Pressemitteilung herausgegeben. In dieser Pressemitteilung steht - ich habe sie mir gerade noch einmal
herausgesucht -:
Die Union strebt an, unmittelbar nach der Sommerpause eine politische Initiative zu ergreifen.
„Unmittelbar nach der Sommerpause“ - jetzt wird es interessant; denn: Von wann ist eigentlich diese Pressemitteilung? Diese Pressemitteilung ist vom 5. August 2011,
und das macht deutlich, dass Sie eine Verschleppungsstrategie verfolgen.
({16})
Die Wahrheit ist: Sie sind handlungsunfähig, Sie retten sich mit Gutachten, während die Menschen in
Deutschland, insbesondere in Nordrhein-Westfalen - in
Recklinghausen, Unna, im Ennepe-Ruhr-Kreis, in
Hamm, im Märkischen Kreis, in großen Teilen des
Münsterlandes - ganz konkrete Sorgen und Nöte haben.
Sie philosophieren heute zum wiederholten Male über
die Frage, aber Sie handeln nicht. Nordrhein-Westfalen
hat gehandelt. Beispielsweise hat die Bezirksregierung
gegen Widerstände transparent gemacht, welche Vorhaben es in Nordrhein-Westfalen überhaupt gibt.
Ich habe es gerade schon gesagt: Fracking steht sinnbildlich für Ihren Umgang mit der Energiewende, für Ihren Umgang mit der Infrastrukturpolitik.
({17})
Wir stehen vor großen Aufgaben. Wir brauchen die Akzeptanz der Menschen, um diese Aufgaben durchzuführen. Was machen Sie? Sie wollen in Bezug auf diese
Technologie mit dem Kopf durch die Wand.
({18})
Sie werden aber am Ende mit dem Kopf gegen die Wand
laufen, und zwar mit Karacho. Es ist borniert und ignorant, wie der Wirtschaftsminister an dieser Stelle vorgeht.
({19})
Es ist tricksen, es ist täuschen, und es ist tarnen. Es ist
keine hohe Regierungskunst, sondern brotlose Kunst.
Herr Röttgen, ich bin gespannt, was die FDP gleich
sagt. Herr Meierhofer hat Sie bereits im Umweltausschuss für Ihr Nichtstun kritisiert. Wenn Sie von dem
überzeugt sind, was Sie gerade gesagt haben, dann setzen Sie sich durch. Sie können Ihre Rücksichtnahme
vollkommen aufgeben. Auch Sie haben wahrscheinlich
gelesen, was Herr Niebel gestern über Sie gesagt hat.
Wenn Sie der Meinung sind, dass das, was Sie gerade
gesagt haben, richtig ist, dann stimmen Sie unseren Anträgen zu, wenn nicht, dann hören Sie mit dem Philosophieren auf. Dann sollten Sie zugeben, dass Sie schlichtweg nicht in der Lage sind, eine gesetzgeberische
Regelung zum Fracking im Deutschen Bundestag zu
verabschieden.
({20})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege Horst
Meierhofer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da
uns heute drei Anträge vorliegen, will ich versuchen,
klarzumachen, warum man diese Anträge, egal aus welcher Richtung sie kommen, lieber Kollege Schwabe,
nicht unterstützen kann: Denn diese Anträge sind inhaltlich leer und falsch.
({0})
Das ist so wenig, dass Sie damit definitiv unter Beweis
gestellt haben, dass Sie nicht in der Lage sind, hierzu ein
vernünftiges Gesetzgebungsvorhaben auf den Weg zu
bringen.
({1})
In dem Antrag der SPD fängt es gleich im zweiten
Satz an:
Im Gegensatz zu konventionellen Gasvorräten können diese
- gemeint sind die Unkonventionellen nicht mit klassischen Techniken gefördert werden,
bei denen Gas ohne weitere technische Maßnahmen
in ausreichender Menge frei … zuströmt.
({2})
Jetzt werde ich Sie vielleicht überraschen, Herr
Schwabe, wenn ich sage, dass Sie in Ihrem Antrag zu
Recht geschrieben haben, dass bei Fracking, bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas, 0,5 bis 1 Prozent
Chemikalien mit eingepresst werden. Wissen Sie, in
welchem Maße das bei konventionellem Erdgas zum
Teil der Fall ist? Bis zu 5 Prozent bei konventionellem
Erdgas.
({3})
Das ist das Zehnfache. Sie haben gesagt, die Förderung
von konventionellem Erdgas sei viel ungefährlicher als
die von unkonventionellem. Das Gegenteil ist der Fall.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU
Sie behaupten hier das genaue Gegenteil und bauen
einen Popanz auf, indem Sie sagen, dass wir bei unkonventionellem Erdgas Regelungsbedarf haben und bei
konventionellem nicht. Das ist absurd. Es sollte doch um
den Sicherheitsstandard gehen und nicht darum, ob es
sich um konventionelles oder unkonventionelles Erdgas
handelt.
({4})
Ihnen geht es um einen dümmlichen Wahlkampf. Dabei
kümmern Sie sich aber überhaupt nicht um die Leute.
Das Thema betrifft Niedersachsen übrigens genauso wie
Nordrhein-Westfalen. Niedersachsen interessiert Sie
heute natürlich nicht. Wir hingegen sind an einer insgesamt vernünftigen Lösung für die Menschen interessiert.
Die Grünen verweisen darauf, dass wir uns an den Ergebnissen orientieren müssen, die bei den Untersuchungen in den USA erzielt werden. In Ihrem vierseitigen
Anträgchen verweisen Sie neunmal auf die USA. Sie
schreiben immer wieder, dass wir die Erkenntnisse aus
den USA abwarten müssen. Für mich ist vollkommen
irrrelevant, welche Ergebnisse in den USA erzielt werden, weil wir ganz andere Ansprüche haben als die USA.
({5})
- Herr Krischer, ich kann Ihnen die Stellen in Ihrem Antrag vorlesen. - Wenn wir uns an dem orientieren würden, was in den USA herauskommt, dann wäre das so,
als würden wir, wenn in Aserbaidschan ein Ölunfall passiert, sagen: Wir warten, welche Erkenntnisse dort gewonnen werden, und dann machen wir mit der Ölförderung weiter.
({6})
Wir wollen doch unsere eigenen Standards entwickeln.
Dazu brauchen wir Ergebnisse. Wir wollen, bitte schön,
erst einmal wissen, welche Probleme es gibt, bevor wir
so einen populistischen, dünnen und inhaltsleeren Antrag wie den Ihren vorlegen.
({7})
Selbst Exxon Mobil sagt, dass diesbezüglich noch
viele Fragen zu klären sind. Sie sagen, dass sie in zwei
Jahren der Lage seien, ohne Chemikalien zu arbeiten.
Sie sagen, dass es nicht nur um Chemikalien geht, sondern auch um seismologische Probleme. Welche Probleme bestehen im Bereich der Geothermie? Auch das
muss angesprochen werden. Welche Probleme bestehen,
wenn man dichtes Deckgestein hat? Keiner dieser
Punkte ist in Ihren Anträgen enthalten. Wie kann man
sich denn auf etwas versteifen, ohne sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen? Das ist blanker Populismus.
({8})
Solange wir nicht wissen, was die wirklichen Probleme in diesem Zusammenhang sind, werden wir die
Frage, ob wir es auf jeden Fall genehmigen wollen oder
nicht, nicht beantworten. Da hat der Kollege Röttgen
vollkommen recht. Natürlich warten wir erst die Ergebnisse ab, und zwar die Ergebnisse aus Nordrhein-Westfalen genauso wie die des UBA.
Sogar Exxon Mobil ist in seinen Ausführungen kritischer als Sie. Allein daran zeigt sich, dass Sie das Problem überhaupt nicht durchdrungen haben. Es geht hier
um radioaktive Materialien, die dort unten vorhanden
sind. Vielleicht ist auch das ein Punkt, den man untersuchen sollte. Das gilt für die Bereiche Geothermie, für die
Förderung von konventionellem und für die Förderung
von unkonventionellem Erdgas. Vielleicht sollte man
sich mit der Freisetzung von Methan beschäftigen. Auch
das gilt für unkonventionelles wie konventionelles Erdgas. Von all dem steht nichts in Ihren drei Anträgen. Das
sind von vorne bis hinten Schaufensteranträge - einer
wie der andere. Eigentlich ist es schade um die Zeit, in
der wir uns mit diesen Anträgen beschäftigen.
({9})
Sie werden sehen, dass wir etwas Vernünftiges vorlegen. Sie werden sehen, dass wir im Gegensatz zu Ihnen
Einvernehmen mit den Wasserbehörden wollen. Wir
wollen die Wasserbehörden nicht nur beteiligen. Wir
wollen, dass es ein Einvernehmen und nicht nur ein Benehmen gibt. Die anderen Punkte hat der Umweltminister angesprochen. Ich bin mir sicher, dass wir zu einem
vernünftigen, wissenschaftlich fundierten Ergebnis kommen werden, dass wir einen Antrag vorlegen werden, der
nicht so oberflächlich ist wie die, die Sie hier vorgelegt
haben.
Kollege Meierhofer, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herzlichen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Johanna Voß das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Run auf die letzten Gasreserven hat begonnen, Fracking ist die Methode. Deutschlandweit hoffen
BNP, Wintershall, Exxon Mobil, Gaz de France und
Suez auf große Gewinne. Aber deutschlandweit protestieren gleichzeitig Bürgerinnen und Bürger, Kommunen,
Wasserversorger, Gemeinderäte, Kreistage und Stadtparlamente. Sie fassen einstimmige Beschlüsse gegen Fracking, egal von welcher Partei sie sind.
({0})
Warum? Was ist die Gefahr? Das Trinkwasser ist in
Gefahr. Gas soll gefrackt werden. Chemikalien, Sand,
Wasser, CO2 oder - wie auch schon geschehen - Diesel
werden mit hohem Druck in den Boden gepresst, um das
Gestein aufzubrechen, in dem das Gas fest eingeschlossen ist. Das bedeutet einen enormen Flächenverbrauch
mit Tausenden neuer Bohrungen, mit Tausenden Tonnen
teils hochgiftiger Chemikalien, die verpresst werden,
und Millionen Liter hochkontaminierter Abwässer, die
hinterher mit Quecksilber, Radon und anderen Isotopen
und Giften aus dem Untergrund angereichert in weiteren
Bohrungen - Disposalbohrung nennt man das - verklappt werden. Das entspricht heutigen Umweltstandards in keiner Weise.
({1})
Diese Praxis gehört abgeschafft. Das Risiko ist zu
hoch, unser Trinkwasser ist zu kostbar. Wir fordern ein
Verbot.
({2})
Zahlreiche Studien weisen Vergiftungen des Trinkwassers durch die eingesetzten Chemikalien, durch Methan
und durch aus dem Boden gelöste Gifte und Schwermetalle nach. Auch die Erdbebengefahr steigt. Die Gefahren sind groß. Die Menschen in Pennsylvania haben das
schon erlebt. In den USA haben betroffene Gemeinden
keine Wasserversorgung mehr. Lastwagen müssen das
Trinkwasser heranschaffen. In Wyoming forderte die
Umweltbehörde Einwohner einer Gemeinde auf, beim
Duschen die Fenster weit aufzureißen, um Explosionen
zu vermeiden.
({3})
Versorgungssicherheit und Energieunabhängigkeit
werden uns als Argumente für das Fracking genannt.
Was ist da dran? Nach Prognosen des industrienahen Instituts CERA von 2009 kann unkonventionelles Erdgas
ab 2020 2 bis 3 Prozent des europäischen Gasverbrauchs
decken, also weniger als 1 Prozent des Energieverbrauchs. Dazu braucht es doch dieses Risiko nicht; hier
sollte man Energieeinsparung und erneuerbare Energien
nutzen.
({4})
Fracking wird in Europa überhaupt nicht gebraucht.
Es ist keine saubere Brückentechnologie. Sicher, viele
der mit Fracking verbundenen Risiken bestehen auch bei
der herkömmlichen Erdgasförderung. Da haben Sie
recht. Denken wir an die Verseuchungen durch undichte
Leitungen in Niedersachsen und an die Quecksilbervergiftungen. Deshalb ist ein neues Bergrecht erforderlich
- das hat auch Herr Röttgen gesagt -, aber nicht so, wie
die Regierung es plant. Sie setzen auf Transparenz und
Bürgerbeteiligung zur schnelleren Durchsetzung der Interessen der Erdgaskonzerne. Wir brauchen Umweltverträglichkeitsprüfungen, aber bei jeder Bohrung, weil
jede Bohrung durch die wasserführenden Schichten
geht. Da brauchen wir Sicherheit. Die Verklappung giftiger Abwässer in alte Bohrungen muss gestoppt werden.
({5})
Das sagen sogar diejenigen, die bei Exxon in der Untersuchung dabei waren. Wir brauchen eine umfassende
Haftung der Energiekonzerne, Beweislastumkehr, und
wir brauchen das Vetorecht der Wasserbehörden.
({6})
Nun zu den vorliegenden Anträgen. SPD und Grüne
wollen ein Moratorium. Die SPD will Probebohrungen
zulassen. Wozu das? Schiefergas lässt sich nur mit Fracking fördern. Dagegen fordert die Linke ein sofortiges
Verbot. Ein Moratorium ist nicht sicher. In NordrheinWestfalen heißt das, dass Anträge der Unternehmen liegen bleiben. Konzerne haben aber das Recht auf einen
Bescheid und können das gerichtlich durchsetzen. Ein
Moratorium ist nicht viel mehr als ein freundlicher Appell. Was das bringt, war in Frankreich zu sehen. Dort
gibt es jetzt ein Verbot.
Herr Röttgen, nehmen Sie das Fachwissen der Menschen ernst, gehen Sie ordentlich mit dem Fachwissen
der Menschen um, schaffen Sie ein Maximum an Sicherheit, und verbieten Sie Fracking sofort! Sie sind ein
Minister, Sie können Gesetze machen.
({7})
Dass Sie Fracking nicht gut finden, reicht nicht aus.
({8})
Der Kollege Oliver Krischer hat nun für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Voß, ein Minister kann keine Gesetze machen, ge21168
nauso wie die CDU in Nordrhein-Westfalen nicht bestimmen kann, wer Ministerpräsident wird. Das macht
das Volk, die Gesetze macht der Bundestag, und das ist
auch gut so.
({0})
Herr Röttgen, es gehört schon Chuzpe dazu, sich,
nachdem man zwei Jahre nichts zum Thema „Unkonventionelles Erdgas und Fracking“ getan hat, hier hinzustellen und aufzuzählen, was man demnächst vielleicht
eventuell tun will. Das ist eine Unverschämtheit. Das ist
das Spiel mit den Ängsten der Menschen, das Sie uns
vorwerfen. Zwei Jahre haben Sie bei diesem Thema blockiert und überhaupt nichts getan.
({1})
Sie haben von Transparenz gesprochen und gesagt,
Bergbehörden hätten den Menschen nicht mitgeteilt,
welche Lizenzen es gibt. Ich kann Ihnen sagen, wer die
Transparenz verhindert hat. Das war 2008 eine schwarzgelbe Landesregierung unter einem - die Älteren werden
sich vielleicht erinnern - Ministerpräsidenten Rüttgers.
Er hat, ohne den Landtag, ohne die Menschen und ohne
die Kommunen zu informieren, diese Lizenzen erteilt.
Deshalb haben wir heute dieses Problem in NordrheinWestfalen. Das ist Ihre Verantwortung, die Verantwortung Ihrer Partei. Wir wollen nicht, dass sich das wiederholt.
({2})
Es gibt sehr viele Gründe gegen Fracking, so wie es
heute praktiziert wird. Selbst die vom Exxon-MobilKonzern in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Ergebnis, dass wir es mit einer ganz neuen Risikodimension zu tun haben. Deshalb gibt es gute Gründe, eine
Rechtsgrundlage zu schaffen, die sicherstellt, dass diese
Technologie im Moment nicht angewendet werden darf
und ein Moratorium durchgeführt wird. Das könnten Sie
heute und hier beschließen. Es liegen Anträge vor, in denen genau dies gefordert wird. Sie könnten auch selbst
eine Vorlage einbringen. Das tun Sie aber nicht, weil Sie
dieses Thema aussitzen wollen. Wir haben vor einem
Jahr einen entsprechenden Antrag eingebracht. Wir haben auch eine Anhörung durchgeführt. Sie haben mehrfach darum gebeten, dass wir dieses Thema verschieben,
damit Sie selber etwas vorlegen können. Sie haben auch
angekündigt - Herr Schwabe hat das eben gesagt -, dass
von Ihnen etwas kommt. Es kam aber nichts. Jetzt wollen Sie nur über die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kommen. Das ist der Hintergrund dieser ganzen Aktion heute.
({3})
Man hatte bei Herrn Röttgen in den letzten zwei Jahren einen ganz komischen Eindruck: Wenn er in Nordrhein-Westfalen unterwegs war, wenn er dort Veranstaltungen besucht hat oder wenn er als Landesvorsitzender
agierte, hat er Fracking-kritische Beschlüsse gefasst.
Aber wenn er dann ins Flugzeug gestiegen und Richtung
Berlin geflogen ist, hat der Mann eine merkwürdige Metamorphose durchgemacht.
({4})
Plötzlich war er Fracking-Befürworter.
({5})
Auf meine Anfragen hat er dem Umweltausschuss Werbebroschüren der Öl- und Gasindustrie als Literatur zur
Verfügung gestellt. Genau das ist Norbert Röttgen; genau das ist die Realität. Am Ende machen Sie an dieser
Stelle das Geschäft der Öl- und Gaskonzerne.
({6})
Ich sage Ihnen: Was Sie machen, ist absolut doppelzüngig. In Nordrhein-Westfalen stellen Sie sich als Fracking-Kritiker dar. Da ist zum Beispiel ein Herr
Dr. Droste, ein Kollege aus dem Landtag, der im Wahlkreis Ratingen kandidiert. Ich darf Ihnen einmal vorlesen, was er zum Thema Fracking sagt:
Ich … unterstütze Initiativen … mit dem Ziel, Fracking in NRW zu verhindern.
Ja, wenn der Mann das will, dann darf er nicht Norbert
Röttgen wählen. Das geht nicht. Dann muss er jemand
anderen wählen.
({7})
Noch dreister ist die Kollegin von der FDP im gleichen Wahlkreis. Sie sagt: Die FDP hat bereits eine Initiative zur Änderung des Bergrechts eingebracht.
({8})
Wo, bitte, ist diese Initiative? Ich kenne sie nicht. Sie
müssten sie hier einbringen. Wir haben entsprechende
Vorlagen eingebracht. Von Ihnen ist zu diesem Thema
nichts gekommen. Aber in Nordrhein-Westfalen erzählen Sie das Gegenteil.
({9})
Ich sage Ihnen: Ihre Doppelzüngigkeit bei diesem
Thema werden Ihnen die Menschen nicht durchgehen
lassen. Das, was wir hier erlebt haben, sowohl von Herrn
Röttgen als auch von Ihnen, ist Fracksausen wegen Fracking.
Danke schön.
({10})
Der Kollege Dr. Michael Paul hat für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lassen wir den Wahlkampfdonner vielleicht
einmal einen Augenblick beiseite.
({0})
Wir können ja einfach einmal die Kontrollfrage stellen:
Würden wir heute über Fracking reden, wenn am Sonntag nicht Wahl in Nordrhein-Westfalen wäre? Die Antwort lautet: Nein.
({1})
Also ist es eindeutig: Das, was hier heute gemacht wird,
ist nichts anderes als Wahlkampfgetöse.
({2})
Noch einmal zur Sache: Erdgas wird sicherlich auch
in der Zukunft eine ganz wichtige Rolle in unserem
Energiemix spielen. Ein Grund dafür ist, dass wir in der
Energiewende verstärkt auf den schwankenden Einsatz
von erneuerbaren Energien wie Sonne und Wind setzen.
Man muss natürlich auch sehen: Erdgas ist auch ökologisch vorteilhafter, als wenn wir Kohle einsetzen würden.
({3})
Im Vergleich zur Kohle emittiert Erdgas bei der Stromproduktion 60 Prozent weniger CO2.
Aber es ist schon wichtig - auch das müssen wir sagen -, dass wir hier auch einen Blick auf die Versorgungssicherheit werfen. Im letzten Winter hat sich gezeigt - die Bundesnetzagentur hat das in der letzten
Woche vorgestellt -, dass wir kurz vor einem Blackout
standen.
({4})
Anfang Februar war es so, dass die russischen Gaslieferungen schwankten und die Gaskraftwerke im Süden
Deutschlands nicht mehr laufen konnten, da der Druck
in den Gasleitungen nicht ausreichte. Man sieht also:
Auch für die Stromversorgung sind wir auf eine sichere
Gasversorgung angewiesen.
Zurzeit beziehen wir 14 Prozent aus heimischen
Quellen - hauptsächlich aus Niedersachsen. Die Förderung von Erdgas aus Schiefergestein und Kohleflöz
könnte uns unabhängiger von Importen machen und zur
Versorgungssicherheit beitragen.
({5})
Die Vereinigten Staaten - das haben wir in den letzten
Jahren eindrucksvoll gesehen; das müssen wir einfach
zur Kenntnis nehmen - sind vom Erdgasimporteur zum
-exporteur geworden. Die Erdgaspreise in den Vereinigten Staaten sind deutlich niedriger als in Europa. Allein
in den letzten vier Jahren ist der Preis durch die Förderung aus unkonventionellen Quellen um 80 Prozent gefallen.
Aber - hier haben alle Redner heute recht - wir dürfen natürlich nicht die Augen vor den Gefahren verschließen. Um es deshalb noch einmal ganz klar zu sagen: Der Schutz des Grundwassers hat für uns absoluten
Vorrang. Deshalb müssen auch die rechtlichen Anforderungen geändert werden.
({6})
Wasserschutzgebiete müssen für Fracking ausgeschlossen werden. Die Wasserbehörden vor Ort müssen ein Vetorecht haben; denn schließlich wissen sie am besten,
wie das Grundwasser zu schützen ist.
({7})
Das müssen wir rechtlich ändern.
Die Bevölkerung und die Kommunen müssen rechtzeitig informiert werden, und zwar auch umfassend.
Deshalb müssen wir an dieser Stelle die Regeln für die
Umweltverträglichkeitsprüfung ändern; denn - das ist ja
schon dargestellt worden - die Grenze von 500 000 Kubikmetern Gas pro Tag, ab der erst eine UVP durchgeführt wird, ist eindeutig zu hoch.
Meine Damen und Herren, dass wir zunächst einmal
die Gutachten abwarten, die in Auftrag gegeben worden
sind - unter anderem auch von der jetzigen rot-grünen
Landesregierung in Nordrhein-Westfalen -, spricht aus
meiner Sicht eher für Vernunft und Genauigkeit als für
Überstürzung und voreilige Schlussfolgerungen.
Das Wirtschaftsministerium hat die Bundesanstalt für
Geowissenschaften und Rohstoffe gebeten, zu den Potenzialen und zur Geologie in Deutschland Stellung zu
nehmen. Das Gutachten wird in wenigen Wochen vorliegen. Wir haben gerade gehört: Das vom Umweltbundesamt in Auftrag gegebene Gutachten zu den Risiken wird
ebenfalls in einem Monat vorliegen.
({8})
Das Land Nordrhein-Westfalen wird wohl im Sommer
ein entsprechendes Gutachten haben.
Der Diskussionsprozess, den Exxon Mobil eingeleitet
hat, ist bereits zu Ende. Das heißt, wir haben schon einen
Teil der Fakten; weitere werden wir bekommen. Auf dieser Grundlage werden wir strengere gesetzliche Umweltanforderungen einführen, unabhängig davon, dass Sie
heute diese Anträge gestellt haben. Jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt brauchen wir keine Regelung.
Dass wir hier im Wahlkampf sind, haben wir heute
sehr eindrucksvoll gesehen. Wir vonseiten der Koalition
jedenfalls werden an dieser Stelle vernünftig weiterarbeiten, und zwar im Interesse der Bevölkerung wie der
Umwelt.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Klaus Breil für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eines vorab - ich sage das ganz bewusst auch als
Wirtschaftspolitiker -: Sollte irgendwo in Deutschland
eines Tages gefrackt werden, dann nur unter Beachtung
der höchsten Sicherheits- und Umweltstandards.
({0})
Hierzu gehören auch Umweltverträglichkeitsprüfungen
und das Einvernehmen mit den Wasserbehörden. Hier
darf es keine Kompromisse geben.
({1})
Die Belange der Bürger müssen in die Entscheidung,
wo und was erkundet oder gefördert wird, von Anfang
an einbezogen werden. Bis es so weit ist, benötigen wir
weitere wissenschaftliche Untersuchungen. Standards
müssen durch die Bundesanstalt für Geowissenschaften
und Rohstoffe erarbeitet werden. Das heißt, wir warten
ab,
({2})
welche Fortschritte die Entwicklung von Wissenschaft
und Technik auf diesem Gebiet macht.
Möglicherweise müssen den Frack-Flüssigkeiten bald
schon gar keine umweltbelastenden Stoffe mehr hinzugefügt werden. Es gibt Signale aus der Industrie, dass
dies schon in zwei Jahren der Fall sein könnte.
Kollege Breil, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Krischer?
({0})
Ja.
Herr Kollege Breil, ich höre, dass Sie weiter abwarten
wollen und dass Sie nur unter Beachtung der höchsten
Standards fracken wollen. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, dass im Lande Niedersachsen, wo Sie mit politische Verantwortung tragen, seit langem gefrackt wird,
aber eben nicht unter Beachtung dieser Standards, die
Sie angeblich noch einführen wollen? Was wollen Sie
tun, damit dort nicht weiter so gefrackt wird, wie das
bisher gemacht wurde?
({0})
Herr Kollege Krischer, Sie wissen sehr genau: In diesen Anträgen geht es um neue Aufsuchungen und neue
Erkundungen. Es geht nicht darum, was seit langem
Standard in der Gasförderindustrie ist.
({0})
Ich fahre fort.
Kollege Breil, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Frage. Lassen Sie diese Frage zu?
Nein.
({0})
Aus den gerade genannten Gründen haben die Unternehmen ihre Erkundungsbohrungen bereits freiwillig zurückgestellt.
Allen Vorbehalten und Risiken zum Trotz: Eine partielle Selbstversorgung mit Erdgas sollte weiter unser
Ziel sein. Aktuell liegt der Anteil bei 14 Prozent unseres
Erdgasverbrauches. Wir wollen uns energiepolitisch
nicht noch mehr in die Abhängigkeit anderer teils rechtsstaatlich fraglicher und politisch instabiler Staaten begeben. Statt alles reflexartig uneingeschränkt, unbedingt
und unerlässlich zu verbieten, müssen wir besonnen und
pragmatisch handeln und eventuell ein wenig länger
oder auch sehr viel länger abwarten.
({1})
Die Risiken dürfen auf gar keinen Fall unterschätzt
werden. Wir haben gerade in Deutschland hervorragende
Unternehmen mit enormem Wissen auf dem Gebiet der
Erdgasförderung. Wir haben mit der Bundesanstalt für
Geowissenschaften und Rohstoffe eine exzellente staatliche Einrichtung, die sehr gut über unseren Untergrund
Bescheid weiß.
Das eine emotionale Thema hat die Koalition durch
die Energiewende und den damit verbundenen Atomausstieg abgeräumt. Jetzt gibt es ein neues. „Endlich wieder
Angst machen“, höre ich die Wahlkämpfer aus den Parteizentralen jubeln. Aber so einfach ist das nicht. Das
Leben ist eben nicht schwarz oder weiß.
({2})
Noch stammt ein ansehnlicher Teil unserer Erdgasversorgung aus konventionellen heimischen Quellen.
Daher drängt uns nichts. Wir gehen mit Bedacht vor und
warten auf die noch ausstehenden Gutachten und deren
wissenschaftliche Schlussfolgerungen. Weitere Untersuchungen müssen folgen.
({3})
Blinden Verbotsforderungen erteilen wir ebenso eine
Absage wie Ihren Anträgen.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/9450. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/7612 mit dem Titel
„Leitlinien für Transparenz und Umweltverträglichkeit
bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas“.
Wir stimmen nun über Buchstabe a der Beschluss-
empfehlung auf Verlangen der Fraktion der SPD na-
mentlich ab.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Anschluss
an diese Abstimmung noch zwei weitere namentliche
Abstimmungen durchführen werden. Zu allen drei Ab-
stimmungen liegen mir zahlreiche Erklärungen zur Ab-
stimmung nach § 31 der Geschäftsordnung vor. Entspre-
chend unserer Geschäftsordnung nehmen wir diese zu
Protokoll.1)
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Ich bitte um ein
Zeichen, ob alle Schriftführerinnen und Schriftführer am
Platz sind. - Ich eröffne die erste namentliche Abstim-
mung, und zwar, wie gesagt, über Buchstabe a der Be-
schlussempfehlung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgeben konnte? - Das ist nicht
der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen.2)
Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/9450 fort und
kommen damit zur zweiten namentlichen Abstimmung.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/5573 mit dem Titel „Transparenz
und Kontrolle bei der Förderung von unkonventionellem
Erdgas in Deutschland“. Sind die Schriftführerinnen und
Schriftführer an ihren Plätzen? - Das ist der Fall. Ich er-
öffne die zweite namentliche Abstimmung, und zwar
über Buchstabe b der Beschlussempfehlung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.3)
Wir kommen schließlich zur dritten namentlichen Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Keine Erdgasförde-
rung auf Kosten des Trinkwassers - Fracking bei der
Erdgasförderung verbieten“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9196,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/6097 abzulehnen. Sind alle Schriftführerinnen und
Schriftführer an den vorgesehenen Plätzen? - Das ist der
Fall. Ich eröffne die Abstimmung, und zwar über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.4)
1) Anlagen 4 und 5
2) Ergebnis Seite 21174 C
3) Ergebnis Seite 21176 B
4) Ergebnis Seite 21179 A
Vizepräsidentin Petra Pau
Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
werden Ihnen später bekannt gegeben.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die nicht an
den weiteren Beratungen teilnehmen wollen oder können, uns die Möglichkeit zu geben, die Beratungen fortzusetzen und die nächsten Redner zu hören. Es wäre
schön, wenn dies sowohl in den Reihen der Fraktionen
als auch auf der Regierungsbank umgesetzt würde. Unabdingbare Gespräche können vielleicht an einem anderen Ort geführt werden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Vereinbarte Debatte
Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand,
Lebensqualität“: Zwischenergebnisse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!
Wohlstand ist eine Grundlage, aber kein Leitbild für
Lebensgestaltung. Ihn zu bewahren, ist noch
schwerer, als ihn zu erwerben.
Diese zwei Sätze stammen von Ludwig Erhard. Ich
meine, es ist schon bemerkenswert, dass dieser Genius
mit diesen zwei Sätzen einen erheblichen Teil dessen beschreibt, was wir in dieser Enquete-Kommission seit ihrer Einsetzung beraten. Wohlstand ist eine Grundlage,
aber kein Leitbild für die Lebensgestaltung. Da geht es
um den nichtmateriellen Teil unserer Lebensqualität. Es
ist schwer, den Wohlstand, den zwei Generationen in
Deutschland aufgebaut haben, angesichts der demografischen Entwicklung und der Schuldenkrise über zukünftige Generationen hinweg zu bewahren. Auch da hatte
Ludwig Erhard recht.
Der Vater der sozialen Marktwirtschaft hatte damals
schon vergleichbare Problemfelder, etwa die Teilhabe
für alle, im Blick. Damals wie heute ist richtig, dass die
Antwort die soziale Marktwirtschaft ist. Es ist richtig
und wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass diese
Enquete-Kommission schon bei ihrer Einsetzung ein Erfolg war, allein dadurch, dass ein erheblicher Teil dieses
Hauses, mit Ausnahme der Linken, sich im Einsetzungsbeschluss klar zur sozialen Marktwirtschaft bekannt hat.
Das muss man an dieser Stelle einmal klarstellen.
Die wirtschaftspolitische Leitlinie meiner Fraktion ist
die soziale Marktwirtschaft im Erhard’schen Sinne, flankiert von den Grundideen der christlichen Soziallehre,
Gemeinwohlorientierung, Personalität, Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit. Einige Mitglieder der
Enquete-Kommission aufseiten der Opposition verstehen die Enquete-Kommission als Argumentationsgrundlage für eine staatliche Transformationsagenda im Sinne
eines „Green New Deal“. Andere sprechen von demokratischer statt sozialer Marktwirtschaft. Ich möchte hier
ganz klar festhalten, dass für uns, die Union, die soziale
Marktwirtschaft nicht Ursache einer ökologischen Krise
und auch nicht der Wirtschafts- und Finanzkrise ist, sondern vielmehr die Antwort auf diese Krise.
({0})
Der Staat hat in diesem Rahmen ordnungspolitische
Aufgaben. Er hat dafür zu sorgen, dass sich freiheitliches
Unternehmertum und private Initiativen entfalten können. Gleichzeitig beruht ein starker Sozialstaat - auch
das muss man einmal deutlich sagen - auf dem Fundament einer starken und leistungsfähigen Wirtschaft. Genau darum geht es. Wir müssen unsere Wirtschaft stark
und leistungsfähig halten und dürfen nicht Ideen anhängen, nach denen man Wachstum künstlich, zwanghaft
beschränken und behindern muss.
Ich möchte hier in aller Deutlichkeit formulieren: Aus
unserer Sicht muss die soziale Marktwirtschaft weder
umdefiniert noch umbenannt werden. Sie muss gestaltet
werden. Wir müssen Missverständnisse beseitigen; wir
müssen uns auf das zurückbesinnen, was Erhard seinerzeit zum Thema „Teilhabe, Wohlstand für alle und Wettbewerb“ als den Weg dorthin definiert hat. Nur dann
sind wir auf einem guten Weg.
({1})
Lassen Sie mich auch noch etwas zum Thema Nachhaltigkeit ausführen. Das ist ein Begriff, der sich in dieser Enquete-Kommission durch alle Diskussionen zieht,
und zwar zu Recht. Ich freue mich, dass die Nachhaltigkeit in der Projektgruppe 2 - „Indikatorenbestimmung“ - keine eigenständige Dimension hat, sondern
dass man erkannt hat, dass sich die Nachhaltigkeit auf
die Themen materieller Wohlstand, Soziales und Ökologie bezieht, dass sie im Grunde eine Querschnittfunktion
einnimmt. Ich möchte betonen: Nachhaltigkeit ist nicht
nur ein ökologisches Thema, auch wenn das von manchen so verstanden wird. Der Begriff kommt aus der
Forstwirtschaft. Es ist eine Betrachtungsweise, die zutiefst ökonomisch ist, aber natürlich auch ökologische
Konsequenzen einbezieht.
In diesem Zusammenhang war für mich der Auftritt
von Professor Meadows in der Enquete-Kommission
sehr aufschlussreich. Er hat seinerzeit das Gutachten für
den Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ mitformuliert. Ich will mich jetzt gar nicht auf das beziehen,
was er spaßeshalber zu Prognosen gesagt hat. Mit diesen
sollte man sich nämlich sinnvollerweise, beispielsweise
wenn es um das Ende der Ölvorräte geht, auf Zeiten beziehen, die jenseits des eigenen Lebensalters liegen, weil
man dann nicht mehr dafür verantwortlich gemacht werden kann, wenn es nicht so kommt.
Ich will mich auf etwas anderes beziehen, was mich
und auch etliche Kollegen sehr nachdenklich gemacht
hat. Er hat gesagt, die ökologischen Probleme dieser
Welt seien in einer Demokratie nicht lösbar. Mir ist klar
geworden, warum er das so sieht. Er hat nämlich die falDr. Georg Nüßlein
sche restriktive Nachhaltigkeitsdefinition zugrunde
gelegt: Die jetzige Generation muss zugunsten der nachfolgenden Generationen verzichten. Für uns heißt Nachhaltigkeit aber, dass wir die Bedürfnisse der jetzigen Generation so befriedigen, dass das nicht zulasten der
nachfolgenden Generationen geht. Das ist an der Stelle
das Entscheidende. Natürlich kann man die ökologischen Probleme in einer Demokratie lösen, nämlich indem man nicht Verzicht predigt, wie das der eine oder
andere von den Grünen macht, sondern dafür Sorge
trägt, dass die heutige Generation mitgenommen wird,
dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden, aber hierbei auf
Nachhaltigkeit geachtet wird, sodass tatsächlich die
Chance besteht, dafür auch Unterstützung zu finden.
Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission
ist, wenn man einmal den einen oder anderen Grabenkampf vernachlässigt, auf einem recht guten Weg. Ich
glaube, wir sollten in den nächsten Diskussionen unseren Fokus auf die Themen „Staatsverschuldung“ und
„demografische Entwicklung“ legen, weil das die Bereiche betrifft, durch die unser Wohlstand in der Tat gefährdet ist. Da hat Erhard recht: Diesen Wohlstand zu bewahren, ist eine schwierige Aufgabe. - Diese EnqueteKommission kann einen Beitrag dazu leisten.
Vielen herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Unsere Enquete-Kommission ist in aller
Munde. Ich muss schon sagen: Wenige Parlamentsgremien genießen das Privileg, dass sie von einer so breiten
gesellschaftlichen Debatte begleitet werden. In den überregionalen Medien wird diese Enquete-Kommission als
innovatives Projekt präsentiert. Der Spiegel zum Beispiel hat unsere Kommission „Glückskommission“ genannt. Die Zeit befand, unser Thema sei zu wichtig, um
es zu ignorieren oder ideologischen Grabenkämpfen zu
überlassen, sehr geehrter Herr Nüßlein.
({0})
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung meint gar, der Deutsche Bundestag wolle mit dieser Enquete-Kommission
die Welt zu einem besseren Ort machen.
Auch viele große zivilgesellschaftliche Organisationen beschäftigen sich mit unserem Thema „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“. Wir haben einige beeindruckende Kongresse und Tagungen erlebt. Ich denke mit
Freude an den Evangelischen Kirchentag in Dresden, an
den Attac-Kongress „Jenseits des Wachstums“ oder an
zahlreiche Diskussionen bei Unternehmen, Stiftungen
und Umweltverbänden zurück. Ich blicke voraus, etwa
auf den Transformationskongress des DGB oder auf den
Katholikentag in Mannheim. Überall wird unser Thema
diskutiert. Selbst das Kanzleramt hat dieses Thema mittlerweile entdeckt und greift die Themen dieser EnqueteKommission eifrig auf, und zwar im Bürgerdialog der
Kanzlerin.
Die Einschätzungen der Öffentlichkeit über den Verlauf und die Ergebnisse unserer Arbeit sind allerdings
differenziert: mal wertschätzend und neugierig, mal kritisch, selten sogar hämisch. Ich glaube, die Kritik liegt
zum einen darin begründet, dass die Öffentlichkeit nur
einen Teil unserer Beratungen mitbekommt und ihr die
oft sachbezogene und gute Detailarbeit in den Projektgruppen verborgen bleibt. Sie liegt aber auch darin begründet, dass an unsere Enquete-Kommission zum Teil
titanische Erwartungen gestellt werden, die über ihren
Auftrag und ihre Ressourcen hinausreichen.
Viele Kommentare und Zuschriften zeigen diese immensen Erwartungen: Für die Komplettrevision des
herrschenden Arbeitsalltags soll die Kommission sorgen,
für die Umwälzung des Produktionssystems, für bessere
Luft, für angenehmeren Konsum, ja sogar für ein besseres TV-Programm oder für Seelenfrieden und Heiterkeit.
Das sind hohe Erwartungen, die wir wohl nicht erfüllen
werden können. Man kann von uns nicht erwarten, dass
wir alle Probleme, Mängel sowie wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Defizite der letzten Jahrzehnte beheben. Eines aber sage ich als Aufforderung an uns alle:
Viele Erwartungen, die an uns gerichtet werden, sind legitim und dürfen nicht enttäuscht werden. Man kann
sehr wohl von uns erwarten, dass wir über diese Legislatur hinaus einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen
Transformationsdebatte leisten, und wir stehen vor gewaltigen Transformationen. Man kann von uns erwarten,
dass wir die politischen Entscheidungsträger in diesem
Hohen Haus zur Selbstreflexion genau darüber anregen.
Außerdem kann man von uns erwarten, dass wir einen
ganz konkreten Vorschlag zu einer alternativen Wohlstandsmessung liefern.
Die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass wir Wege
aufzeigen, wie wir die Krisen überwinden, die überhaupt
erst zur Einsetzung dieser Enquete-Kommission geführt
haben. Da ist zum einen die Wirtschafts- und Finanzkrise. Wir brauchen konkrete Vorschläge zur Regulierung der Finanzmärkte, und wir brauchen Frühwarnsysteme.
({1})
Wir brauchen auch eine Selbstreflexion darüber, dass wir
plötzlich im Angesicht der Euro-Krise alle miteinander
- ich nehme keinen hier im Haus aus - in die alten
Wachstumsdebatten zurückfallen, wenn es um die Bewältigung dieser Krise geht.
({2})
Daniela Kolbe ({3})
Wir brauchen Antworten auf die soziale Krise, die zunehmende Spaltung der Gesellschaft, die Prekarität und
Ausgrenzung. Wir müssen über Verteilung von Einkommen sprechen und darüber, wie wir die sozialen Probleme verringern können.
Nicht zuletzt müssen wir über die ökologische Krise
sprechen, über Ressourcenverknappung und Klimawandel. Wir müssen voranschreiten und Ideen für internationale Kooperation anregen.
({4})
Auch über den Beitrag, den wir als Vorreiter leisten wollen, müssen wir noch intensiver diskutieren, als wir das
bisher getan haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an vielen Punkten
sind wir gemeinsam schon ein beachtliches Stück vorangekommen. Aber die Menschen draußen sind an manchen Stellen schon weiter als wir im Hohen Haus. Sie erwarten Ergebnisse, und Sie haben ein Anrecht auf unsere
Offenheit und auf Ernsthaftigkeit in der Debatte. Lassen
Sie uns das als Ansporn für die kommende Arbeit nehmen!
Ich möchte schließen mit einem Dank an alle Kolleginnen und Kollegen der Enquete-Kommission, ob Abgeordnete oder Sachverständige. Es war mir eine Freude,
als Vorsitzende bis hierhin mit Ihnen zu arbeiten. Ich
möchte Ihnen danken für die tagtäglich engagierte und
gewissenhafte Arbeit, die wirklich zeitraubend und aufwendig ist. Gleichzeitig möchte ich uns alle miteinander
mahnen, dass wir die berechtigten Erwartungen der Gesellschaft ernst nehmen und dass wir die Erwartungen,
die in uns gesetzt werden, nicht enttäuschen. Ich freue
mich daher auf eine weitere gute, an manchen Stellen
noch konstruktivere und noch mehr ergebnisorientierte
Zusammenarbeit, und - das will ich ganz deutlich sagen,
liebe Kolleginnen und Kollegen - ich freue mich auf das
kommende Jahr.
Vielen Dank.
({5})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen bekannt:
Erstens. Abstimmung über die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der SPD „Leitlinien für Transparenz und Umweltverträglichkeit bei der Förderung von
unkonventionellem Erdgas“; hier geht es um die Drucksachen 17/7612 und 17/9450. Abgegebene Stimmen:
553. Mit Ja haben 301 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 192, und 60 Kolleginnen und Kollegen
haben sich enthalten. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 553;
davon
ja: 301
nein: 192
enthalten: 60
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Siegfried Kauder ({7})
Dr. Stefan Kaufmann
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({11})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({12})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer ({13})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({15})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({18})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({22})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({23})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({24})
Sibylle Laurischk
Dr. Martin Lindner ({25})
Michael Link ({26})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({27})
Dr. Martin Neumann
({28})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({29})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({30})
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({31})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Lothar Binding ({32})
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({33})
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({34})
Hubertus Heil ({35})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({36})
Frank Hofmann ({37})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({38})
Fritz Rudolf Körper
Vizepräsidentin Petra Pau
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({39})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({40})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Karin Roth ({41})
Michael Roth ({42})
Marlene Rupprecht
({43})
Anton Schaaf
Bernd Scheelen
({44})
Werner Schieder ({45})
Ulla Schmidt ({46})
Silvia Schmidt ({47})
Carsten Schneider ({48})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({49})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({50})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({51})
Volker Beck ({52})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({53})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({54})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({55})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Enthalten
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Zweitens. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen „Transparenz und Kontrolle bei der Förderung
von unkonventionellem Erdgas in Deutschland“, Drucksachen 17/5573 und 17/9450. Abgegebene Stimmen:
552. Mit Ja haben 299 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 193; 60 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 552;
davon
ja: 299
nein: 193
enthalten: 60
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({56})
Manfred Behrens ({57})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen
({58})
Vizepräsidentin Petra Pau
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({59})
Dirk Fischer ({60})
Axel E. Fischer ({61})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({62})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Siegfried Kauder ({63})
Dr. Stefan Kaufmann
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({64})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({65})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({66})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({67})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({68})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer ({69})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({70})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({71})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({72})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({73})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({74})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({75})
Peter Weiß ({76})
Sabine Weiss ({77})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({78})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Reiner Deutschmann
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({79})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({80})
Sibylle Laurischk
Dr. Martin Lindner ({81})
Michael Link ({82})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({83})
Dr. Martin Neumann
({84})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({85})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({86})
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({87})
Nein
CDU/CSU
Dr. Patrick Sensburg
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Lothar Binding ({88})
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({89})
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({90})
Hubertus Heil ({91})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({92})
Frank Hofmann ({93})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({94})
Fritz Rudolf Körper
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({95})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({96})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Karin Roth ({97})
Michael Roth ({98})
Marlene Rupprecht
({99})
Anton Schaaf
Bernd Scheelen
({100})
Werner Schieder ({101})
Ulla Schmidt ({102})
Silvia Schmidt ({103})
Carsten Schneider ({104})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({105})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({106})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({107})
Volker Beck ({108})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({109})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({110})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({111})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Dr. Hermann Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Enthalten
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Vizepräsidentin Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Drittens. Abstimmung über die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zum
Antrag der Fraktion Die Linke „Keine Erdgasförderung
auf Kosten des Trinkwassers - Fracking bei der Erdgasförderung verbieten“, Drucksachen 17/6097 und
17/9196. Abgegebene Stimmen: 551. Mit Ja haben
429 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 60,
und 62 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten.
Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 551;
davon
ja: 429
nein: 60
enthalten: 62
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({112})
Manfred Behrens ({113})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen
({114})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({115})
Dirk Fischer ({116})
Axel E. Fischer ({117})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({118})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Siegfried Kauder ({119})
Dr. Stefan Kaufmann
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({120})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({121})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({122})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({123})
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({124})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer ({125})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({126})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({127})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Vizepräsidentin Petra Pau
Armin Schuster ({128})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({129})
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({130})
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({131})
Peter Weiß ({132})
Sabine Weiss ({133})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Lothar Binding ({134})
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({135})
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({136})
Hubertus Heil ({137})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({138})
Frank Hofmann ({139})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({140})
Fritz Rudolf Körper
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({141})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({142})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Karin Roth ({143})
Michael Roth ({144})
Marlene Rupprecht
({145})
Anton Schaaf
Bernd Scheelen
({146})
Werner Schieder ({147})
Ulla Schmidt ({148})
Silvia Schmidt ({149})
Carsten Schneider ({150})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({151})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({152})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({153})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Reiner Deutschmann
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Joachim Günther ({154})
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Michael Kauch
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({155})
Sibylle Laurischk
Dr. Martin Lindner ({156})
Michael Link ({157})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({158})
Dr. Martin Neumann
({159})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({160})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({161})
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({162})
Nein
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Vizepräsidentin Petra Pau
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Rosemarie Hein
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({163})
Volker Beck ({164})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({165})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({166})
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({167})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der
Kollege Florian Bernschneider für die FDP-Fraktion.
({168})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Auch ich will zu Beginn der Debatte Danke sagen: Danke für die größtenteils konstruktive Zusammenarbeit in den Projektgruppen. Ich glaube, dass dieses
fraktionsübergreifende Ringen um die beste Lösung am
Ende des Tages auch die Garantie dafür ist, dass aus der
Enquete-Kommission etwas Reales in der Tagespolitik
übrig bleibt.
({0})
Ich möchte trotzdem die Gelegenheit dieser öffentlichen Debatte nutzen, auf grundsätzliche Unterschiede
einzugehen. Ein solcher grundsätzlicher Unterschied
lässt sich zum Beispiel an einer Gleichung festmachen,
die bereits aus den 70er-Jahren stammt, aus den Thesen
des Club of Rome. Diese Gleichung lautet: Wir haben
begrenzte natürliche Ressourcen, und daraus folgt ein
begrenztes mögliches Wachstumspotenzial. So simpel
und verführerisch logisch diese Gleichung klingen mag,
sie ist und bleibt falsch, nicht etwa, weil wir Liberale die
Begrenztheit und die notwendige Regenerationszeit natürlicher Ressourcen anzweifeln, sondern weil in dieser
Gleichung ein wesentlicher Teil fehlt, nämlich der Fortschrittswille und die Kreativität des Menschen. Unsere
Entwicklungsgeschichte zeigt deutlich, dass Menschen
immer wieder in der Lage waren, die Grenzen des Machbaren zu verschieben. Wir Liberale zweifeln nicht daran,
dass es Menschen auch in Zukunft möglich sein wird,
über sich hinauszuwachsen.
({1})
Es gibt eine zweite Überlegung, die viele Mitglieder
der Enquete-Kommission antreibt und die trotzdem
falsch ist. Sie drückt sich in Sätzen aus wie: Wir brauchen ein gezieltes Wachsen und vor allem ein gezieltes
Schrumpfen. Meine Damen und Herren, zur Erinnerung:
Wachstum ist immer das Ergebnis millionenfacher Einzelentscheidungen, die jeden Tag getroffen werden. Es
ist falsch, zu meinen, dass die Politik diese Einzelfallentscheidungen diktieren könnte.
({2})
Es ist genauso falsch, zu meinen, man könnte mit einer
politisch diktierten Wachstumsrate von maximal 0,5 Prozent eine Antwort auf die Herausforderungen unserer
Zeit geben. Stellen Sie sich das einmal in der Realität
vor. Der Wachstumsbegrenzungsbeauftragte der Bundesregierung kommt dann im Oktober zu Volkswagen und
sagt: Jetzt müsst ihr die Bänder abstellen. Wir haben unser politisch verordnetes Ziel von 0,5 Prozent Wachstum
für dieses Jahr erreicht.
({3})
- Das tun wir auch. Das sind die Punkte, über die wir
uns nicht einig sind. - Eine solche Politik wäre nicht nur
realitätsfern, sondern auch unsozial. Unsere Geschichte
zeigt auch: Wachstum beinhaltet immer die Chance auf
sozialen Aufstieg. Wenn die Politik Wachstumsraten
künstlich begrenzt, sie deckelt, dann begrenzen wir damit auch die Chance auf sozialen Aufstieg.
({4})
Ich sage Ihnen als Liberaler: Wir wollen nicht in einer
Welt leben, in der die einzige Chance auf sozialen Aufstieg die staatliche Umverteilung ist. Es ist ein Grundversprechen der sozialen Marktwirtschaft, dass sich Anstrengungen und Fleiß in Chancen auf sozialen Aufstieg
auszahlen. Kollege Nüßlein hat bereits angesprochen,
dass es nicht die Aufgabe der sozialen Marktwirtschaft
ist, Wachstumsraten zu begrenzen. Es ist die Aufgabe
der sozialen Marktwirtschaft, mit marktwirtschaftlichen
Instrumenten das Handeln des Einzelnen dort zu begrenzen, wo er droht die Nachhaltigkeit oder die Interessen
der Gemeinschaft zu gefährden. Das ist unsere Aufgabe
als Politiker. Ich bezweifle manchmal, dass alle Kollegen der Enquete-Kommission daran festhalten. Manchmal habe ich das Gefühl, sie wollen am politischen Reißbrett in Berlin diese millionenfachen Entscheidungen,
die jeden Tag getroffen werden, planen. Das wird nie
besser funktionieren als in der sozialen Marktwirtschaft.
({5})
Lassen Sie mich als letzten Punkt die Nachhaltigkeit
ansprechen. Für uns Liberale besteht die Nachhaltigkeit
aus einem Drei-Säulen-Modell. Es geht darum, die ökologische, die soziale und die ökonomische Nachhaltigkeit im Blick zu behalten. Das ist deshalb so wichtig,
weil sich die drei Säulen gegenseitig bedingen. Natürlich
können wir eine Politik machen, bei der am Ende die Bezahlbarkeit von Mobilität und Energie zur sozialen Frage
unseres Jahrhunderts wird. Das wäre ökologisch betrachtet sogar nachhaltig. Es kann aber nicht nachhaltig
sein, weil die gesellschaftliche Akzeptanz fehlt.
Einen letzten Kommentar kann ich mir nicht verkneifen, gerade weil uns als FDP die ökonomische Nachhaltigkeit so wichtig ist. Sie von der Opposition halten uns
gegenüber jede Woche flammende Plädoyers, dass man
Wachstum politisch begrenzen müsse. In der Euro-Krise
erklärt Ihr politisches Spitzenpersonal landauf, landab,
man bräuchte große Wachstumspakete für Europa.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht dass wir
uns falsch verstehen - ob Ihre Argumentation stringent
ist, müssen Sie klären -: Wir stehen für Wachstum. Aber
das Wachstum, das Sie für Europa wollen, ist nicht nachhaltig, weil es auf Pump finanziert ist und nicht auf
Strukturreformen basiert.
({6})
Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns jetzt dafür sorgen, dass ein Teil der Vorschläge der Enquete-Kommission Realität wird. Geben Sie Ihrem Spitzenpersonal ein
Stück weit Nachhilfe. Dann sind wir in Europa auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
({7})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Sabine Leidig das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich staune schon über den Gestus und die Unterstellungen, die Sie in diese Debatte einbringen. Herr
Bernschneider, ich habe das Gefühl, wir sind in verschiedenen Veranstaltungen.
({0})
Es wäre ausgesprochen spannend, hier darzustellen, welche unterschiedlichen Ausgangspositionen und welche
Lernprozesse in dieser Enquete-Kommission stattfinden,
und zwar innerhalb und zwischen den politischen Lagern. Das ist das eigentlich Interessante.
({1})
Das schaffe ich allerdings nicht in fünf Minuten. Deshalb habe ich mich entschlossen, drei Erkenntnisse zu
skizzieren, die sich in der bisherigen Arbeit der EnqueteKommission für mich persönlich herauskristallisiert haben.
Erste Erkenntnis: Wir müssen überhaupt nicht über
die Frage „Wachstum - ja oder nein?“ streiten, sondern
wir müssen darüber reden, wie wir leben wollen. Es
geht, jedenfalls in den hochindustrialisierten Ländern,
längst nicht mehr darum, dass mehr Waren produziert
werden müssten, damit jeder oder jede genug hat. Im
Gegenteil: Es gibt Überkapazitäten in der Automobilbranche, bei der Handyproduktion, in der Lebensmittelindustrie, und das führt zu harter Konkurrenz auf dem
Weltmarkt, zu Druck auf die Löhne und Verdichtung von
Arbeit, aber eben nicht zu mehr Lebensqualität.
Das globale Vermögen, also das, was nicht verbraucht, sondern angelegt wird, hat sich in den ersten
zehn Jahren dieses Jahrtausends glatt verdoppelt. Geschrumpft dagegen sind die öffentlichen Haushalte und
die Realeinkommen der Mehrheit der Bevölkerung. Entscheidend ist doch, dass eine Entwicklungsrichtung eingeschlagen wird, die den Verbrauch von Natur reduziert
und die allen Menschen die Teilhabe an den Möglichkeiten eröffnet, die diese Gesellschaft bietet.
({2})
Für mein Spezialthema Mobilität würde das zum Beispiel heißen, dass die Autos kleiner, leichter und weniger
werden, dass die Städte, die heute autogerecht aussehen,
umgestaltet werden, damit sie künftig grüner, erholsamer und menschengerecht sind. Wenn das geschehen ist,
wird man sehen, ob die Wirtschaft gewachsen ist oder
nicht. Entscheidend ist der Zuwachs an Lebensqualität
und an Nachhaltigkeit.
({3})
Darauf kommt es an.
({4})
Zweite Erkenntnis: Ich habe erkannt, dass es sehr
wichtig ist, die Astronautenperspektive aufzugeben
- wir haben entsprechende Lernprozesse durchlaufen;
dabei schaue ich in die Runde - und die konkreten sozialen Verhältnisse ins Blickfeld zu rücken.
({5})
Es ist eben nicht „die Menschheit“, die den Globus
zugrunde richtet, sondern es sind konkrete Personen, die
unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen
handeln. Die Liberalisierung führte dazu, dass Investmentbanker in gegenseitiger Konkurrenz um die Kapitalanleger immer größere Risiken eingehen mussten, um
kurzfristig möglichst große Gewinne zu realisieren.
({6})
Wenn man dem begegnen will, dann muss man die Banken und die Finanzmärkte durch Gesetze regulieren und
begrenzen; da helfen moralische Appelle gar nichts.
Diese Erkenntnis ist inzwischen auch in Ihrer Fraktion
angekommen. Ich wundere mich über Ihre Ausbrüche
hier.
({7})
Dritte Erkenntnis: Die Frage von Geschlechtergerechtigkeit, die feministische Perspektive, hat eine ganz
große Bedeutung für nachhaltiges Wirtschaften. Das bedeutet, dass die sogenannte Sorgearbeit, die Care-Ökonomie, in den Mittelpunkt gestellt werden muss. Das ist
Arbeit, die nicht auf den Markt ausgerichtet ist, sondern
auf die Bedürfnisse der Mitmenschen.
({8})
Sie sollte - das wäre zukunftsweisend - als gesellschaftlich notwendige Arbeit aufgewertet und gerecht
zwischen den Geschlechtern verteilt werden. Dazu
braucht es neue Modelle von sozialer Absicherung; dazu
braucht es kurze Vollzeit bei der Erwerbsarbeit. Heute
Morgen hat der Deutsche Frauenrat seine Positionen
dazu dargestellt. Diese Positionen sind wirklich wegweisend, und ich finde das ganz toll.
In der Diskussion hat eine Kollegin allerdings eingewandt: Wir können nicht gegen die natürlichen Kräfte
des Marktes arbeiten.
({9})
Da sind wir, glaube ich, an einem Knackpunkt. Tatsächlich ist die kapitalistische Marktwirtschaft - was auch
immer sie geleistet hat - keineswegs eine „natürliche
Angelegenheit“, im Gegenteil.
({10})
Der ureigenste Zweck allen Wirtschaftens ist es,
({11})
die Vorsorge, die Versorgung zu organisieren, Leben zu
erhalten und Lebensqualität herzustellen.
Dieser Zweck wird zunehmend in sein zerstörerisches
Gegenteil verkehrt, wenn Produktion und Konsum nicht
mehr Mittel zum guten Leben sind, sondern vor allen
Dingen Mittel zum Zweck der Geldvermehrung.
({12})
An dieses Thema müssen wir herangehen - in der
Enquete-Kommission und in der gesellschaftlichen Debatte, die, wie Daniela Kolbe bereits gesagt hat, schon
viel weiter ist als das, was Sie uns hier bieten. Ich bin
auch froh, dass es so ist; denn ich glaube, dass die Zeit
reif ist, um wirklich solche grundlegenden Debatten zu
führen. Die Enquete-Kommission ist auch ein Forum,
das die Gelegenheit schafft, in der Gesellschaft gemeinsam weiter voranzukommen.
Danke.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Kurzfristig hatte ich mir überlegt, ob ich nicht
alles in meiner Rede umstellen muss. Das werde ich aber
nicht tun; denn ich freue mich über die Gelegenheit, eine
öffentliche Zwischenbilanz unserer Enquete zu ziehen.
Schließlich ist es eine unserer Hauptaufgaben, das Bewusstsein dafür zu wecken, dass unsere gegenwärtige
Form des Wirtschaftens nicht zukunftsfähig ist, dass wir
dringend neue Antworten auf alte Fragen von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität brauchen und dass
dies sehr schnell und möglichst gemeinsam geschehen
muss.
({0})
Ich freue mich über den hohen Grad an Gemeinsamkeit, der sich in der Enquete abzeichnet, soweit es die
Analyse betrifft - na ja, sagen wir mal: Enquete minus
Herr Bernschneider. Wir sind uns einig, dass die Grenzen der Erde auch die Grenzen unserer Ökonomie sind.
Wir sind uns einig, dass in vielen Bereichen - vor allen
Dingen Klimawandel, Artenvielfalt, Stickstoffeintrag die Grenzen unserer globalen Ökosysteme bereits überschritten worden sind. Deshalb sind wir uns auch einig,
dass wir in Zukunft mit erheblich weniger Energie und
Ressourcen auskommen müssen. Wir sind uns sogar einig, dass Wachstum nur ein Mittel und kein Ziel politischen Handelns sein darf.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ehrlich gesagt, hätte
ich das vor anderthalb Jahren bei der Einsetzung der
Kommission nicht erwartet. Deshalb hat sich die Einsetzung der Enquete schon jetzt gelohnt.
Für mich persönlich hat sich ihre Einsetzung auch
deshalb gelohnt, weil ich einiges gelernt habe. Die hohe
Bedeutung des Rebound-Effekts war mir zum Beispiel
nicht bewusst. Dieser Effekt bewirkt, dass ein Großteil
der Verbrauchsminderungen, die durch technische Verbesserungen erreicht werden, durch ein verändertes Verhalten der Menschen wieder neutralisiert wird, ja, dass in
manchen Fällen der Verbrauch nach der „Verbesserung“
höher ist als vorher.
Diese Erkenntnis wird tiefgreifende Folgen für die
Umwelt-, Wirtschafts- und Technologiepolitik haben;
denn das bedeutet, dass technische Veränderungen von
politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Änderungen begleitet werden müssen, um wirksam zu
sein. Wir werden uns also sehr ernsthaft mit der Preisgestaltung von Energie und Rohstoffen beschäftigen müssen. Was die Abgabe von Schadstoffen in die Umwelt
betrifft, werden wir über Obergrenzen für die Abgabe
von Schadstoffen sprechen müssen. Und das Wichtigste:
Wir werden über Werte reden müssen, über die Bedeutung von Konsum, über den Stellenwert von materiellen
und nichtmateriellen Bedürfnissen. Mit einem Wort: Wir
werden auch über Lebensstile reden müssen.
Das sind schmerzhafte Themen. Aber wenn wir es
schaffen, sie hier im Bundestag und in der Öffentlichkeit
so sachlich und ergebnisorientiert zu diskutieren, wie
wir das bisher in der Enquete gemacht haben, dann haben wir eine Chance, die größte Herausforderung des
21. Jahrhunderts zu bestehen: die Selbstbeschränkung
unserer Spezies.
({2})
Noch etwas habe ich gelernt: Es ist sinnlos, einen Fetisch mit einem Anti-Fetisch zu bekämpfen. Es bringt
überhaupt nichts, dem Ruf nach Wachstum den Ruf nach
Schrumpfung oder Nullwachstum entgegenzusetzen.
Damit begibt man sich nämlich auf eine magische Ebene
und hat für die Sachfragen keine guten Lösungen mehr.
Denn magisch ist es ja schon, was von Wachstum erwartet wird: Arbeitsplätze, ein gewisser Wohlstand, sogar
Glück und Zufriedenheit.
Erstens bringt unsere Art, zu wirtschaften, diese Ergebnisse schon lange nicht mehr. Das Wachstum des
Bruttoinlandsprodukts bedeutet eben nicht automatisch,
dass es Arbeitsplätze gibt - das Phänomen des unökonomischen Wachstums -, und schon gar nicht trägt es zum
Glück unserer Bürgerinnen und Bürger bei.
Zweitens ist dieses wirtschaftliche Wachstum, wenn
wir es als Ziel verfolgen, mit untragbaren Kosten für Gesellschaft und Umwelt verbunden. Wir kannibalisieren
unseren Planeten für ein kurzfristiges Feuerwerk der
Verschwendung. Das muss aufhören.
({3})
Wir meinen, es ist wichtig, sich gar nicht erst in den
Streit um Wachstum oder nicht einzulassen; Frau Leidig
hat es erwähnt. Stattdessen ist es geboten, dass wir uns
auf unsere politischen Ziele konzentrieren: dass alle
Menschen ein Auskommen haben, dass sie ihre Fähigkeiten gut entwickeln können und am Leben der Gesellschaft teilhaben können und dass dies in einer Weise geschieht, die auch den Menschen im nächsten Jahrhundert
noch eine Chance gibt - von den anderen Geschöpfen
unserer Erde ganz zu schweigen. Deshalb sollte erst im
zweiten Gang gefragt werden, was die Wirkung unserer
Politik auf das Bruttoinlandsprodukt sein könnte. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass eine kurzfristige Erhöhung
unseres Material- und Energieverbrauchs die Folge einer
großen Transformation sein wird. Also: kurzfristig mehr
Energie, mehr Emissionen und eine Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts, um mittel- und langfristig eine drastische Senkung von Verbrauch und Emissionen zu erreichen.
Wir können das schaffen. Wir haben die historische
Chance, den gegenwärtigen Fehlkurs zu korrigieren. Dafür brauchen wir Ideen, Mut und Entschlossenheit. EiniDr. Hermann E. Ott
ges davon hat sich in der Enquete schon gezeigt. Machen
wir weiter so. Ich habe das gute Gefühl, dass wir in einem Jahr ein Ergebnis vorlegen werden, das Bestand hat
vor der Aufgabe, die vor uns liegt.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Wir stehen
- so der französische Philosoph Baudrillard gemeinsam vor der entscheidenden Frage: Was tun
nach der Orgie?
Denn wie eine Orgie mag es uns bisweilen vorkommen: die Welt der Verschwendung, Verschmutzung, die
Welt der rücksichtslosen Ausbeutung. Unsere Lebensweise verdankt sich einer technischen Aufbrechung der
Natur in einer Form, der die Begrenzungen unseres Planeten aus dem Blick geraten sind. Andererseits: Die Verlockungen des Fortschritts und des Wachstums waren
und sind mächtig. Die von der Aufklärung erträumte
Vervollkommnung des Menschen haben wir zwar nicht
erreicht. Die Überwindung der materiellen Not sowie
Hunger und Elend, eine gute medizinische Versorgung,
hohe Lebensqualität: Das haben wir für uns erreicht.
Wir leben im Überfluss der Möglichkeiten, nicht anstrengungslos wie im biblischen Paradies, aber von den
Versprechungen des paradiesischen Lebens nicht weit
entfernt. Wir haben zwar die Idee des Fortschritts verloren, aber der Fortschritt geht weiter. Doch er hat seinen
Preis, besonders die Umweltzerstörung schlägt auf
unsere Lebensqualität zurück. Deswegen hat die Kommission auch den Auftrag, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie Wachstum und Wohlstand vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden können. Wie können wir
innerhalb der Grenzen unseres Planeten nachhaltig wirtschaften und unseren Lebensstandard aufrechterhalten?
Ressourcen entnehmen wir der Natur. Was ist uns Natur? Der englische Philosoph Francis Bacon hat gesagt,
Natur ist etwas, das auf die Folterbank gespannt werden
muss, damit man ihr die Geheimnisse entreißen kann.
Dieses instrumentelle Verhältnis zur Natur prägt uns
noch heute. Wir stehen der Natur entgegen, sie ist uns
Mittel für unsere Zwecke, wir nutzen, wir übernutzen
sie, nichts an ihr ist heilig, alles ist profan. Wir unterwerfen die Schöpfung industrieller Dienstbarkeit. Das, was
wir an der Schöpfung als unzureichend empfinden, wollen wir als Mitingenieure Gottes verbessern. Das ist aus
meiner Sicht ein erster Befund: Wir sind infiziert von einer Denkweise, die die Natur unseren technischen Möglichkeiten überlässt. Dass wir selbst ein Teil der Natur
sind, in sie eingebettet, haben wir zu unserem Schaden
negiert. Wir sind Teil des technischen Systems geworden, und nicht wenige behaupten, dass hier ein ehernes
Gehäuse der Hörigkeit entstanden sei.
Vielleicht aber verstehen wir die Natur nur zu wenig.
Nur der kann die Natur beherrschen, der sie versteht wiederum Bacon. Technikfolgen wären durch Folgetechnik zu beseitigen. Die ökologische Krise ist dann lediglich eine Krise einer besonderen Form der Technisierung, der das notwendige ökologische Wissen fehlt.
Wachstum - dies ist eine Antwort, die wir diskutiert haben - ist das beste Mittel, Wachstumsfolgen zu beseitigen. Aus meiner Sicht präsentiert sich dieses Argument
in zwei sehr ernsthaften Varianten. Die eine setzt auf
Marktmechanismen durch die Internalisierung von Umweltkosten, die andere auf eine Form des ökologischen
Umbaus, die grünes Wachstum ermöglicht. Beide Antworten stehen in der Tradition technischen Denkens und
suchen Lösungsansätze für die Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch auf der systemischen
Ebene. Das „Gehäuse der Hörigkeit“ wird damit nicht
verlassen, aber für unsere Zwecke neu ausgerichtet.
Mein Verdacht ist allerdings, dass es damit nicht genug ist. Sieht man in die klassische Philosophie, stellt
man fest: Wertvorstellungen des Maßes und der Mitte
spielen dort eine große Rolle, die Einordnung in ein
Ganzes. Hier zitiere ich wieder Baudrillard:
Die Orgie ist der explosive Augenblick der Moderne, der Augenblick der Befreiung in allen Bereichen.
Das ist eine Freiheit, die um ihre Grenzen nicht mehr
weiß, um die Verantwortung, die damit einhergeht, eine
Freiheit, die kein Gut mehr kennt und keine religiösen
Bindungen, die das Handeln in den Möglichkeitsräumen
begrenzte. Freiheit explodiert in den Exzess. Die technischen Möglichkeiten der Menschheit übersteigen ihre
moralischen. Dies ist aus meiner Sicht ein zweiter wichtiger Befund der Debatte. Nur wenn wir die Balance
zwischen Können und Sollen wiederfinden, zwischen
technischer Möglichkeit und ethischer Verantwortung,
können wir umsteuern. Erst hier rückt die Möglichkeit in
den Blick, das „Gehäuse der Hörigkeit“ brüchig werden
zu lassen.
({0})
Ein dritter Befund: Das Wesen unserer Probleme ist
heute national nicht mehr fassbar. Im Anblick der Erde
vom Weltall aus hat der amerikanische Schriftsteller Archibald MacLeish das schöne Bild geprägt: Wir sind gemeinsam Reisende auf dieser Erde und Brüder in der
ewigen Kälte, „riders on the earth together, brothers in
eternal cold“. Globalität bedarf eines globalen Bewusstseins. Der Weltinnenraum braucht globale Institutionen.
Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel, der tief in die
Idee der nationalen Souveränität eingreift. Aber nur so
werden wir in der Lage sein, die globalen Allmenden
wie das Klima wirksam zu schützen. Das geht über ethische Diskurse über Fernverantwortung weit hinaus.
Über die Bedingungen für unser Überleben wird heute
global entschieden, und es bedarf einer entscheidungsfähigen institutionellen Fassung, ein Gehäuse der Möglichkeit.
({1})
Das erste Jahr der Arbeit in der Enquete-Kommission
hat aus meiner Sicht viele wichtige Fragen aufgeworfen
und erste Antworten erbracht. Kein Mitglied der Kommission hat sich der Dringlichkeit der Problemstellungen
verweigert. Alle scheinen ein zunehmendes Unhaltbarkeitsgefühl zu teilen, das Erich Kästner einmal auf die
Formel gebracht hat:
Das geht auf keinen Fall so weiter, wenn das so
weiter geht.
Aber wir sind mit sehr unterschiedlichen Lösungsansätzen in die Diskussion gegangen. Vieles davon schließt
sich aus meiner Sicht nicht gegenseitig aus, sondern
kann sich sinnvoll ergänzen. Daran müssen wir im
nächsten Jahr anknüpfen; denn unsere Enkel könnten
uns eines Tages fragen: Was habt ihr während der Orgie
getan?
({2})
Das Wort hat die Kollegin Edelgard Bulmahn für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn die Wirtschaft wächst, dann geht es allen Menschen besser - so lautete die klassische Gleichung, die über viele Jahrzehnte wirtschaftliches und sogar politisches Handeln geprägt hat. Aber diese
Gleichung geht genauso wenig auf wie die Gleichung
„Kein Wachstum ist der Königsweg“. Beide Gleichungen haben im 21. Jahrhundert keine Gültigkeit mehr.
({0})
Deshalb sage ich ausdrücklich: Die größte Gefahr für
ein Scheitern der Enquete sehe ich darin, sich in der
scheinbar schlichten Scheinalternative „Wachstum - ja
oder nein?“ zu verirren. Wenn wir uns in dieser Scheinalternative verirren, dann werden wir der Herausforderung und der Aufgabe, die uns gestellt worden ist, nicht
gerecht.
Globales Wachstum bedeutet eben keineswegs immer
globalen Wohlstand. Die Wirtschaft wächst, und gleichzeitig bedroht der Klimawandel unsere Lebensgrundlage
auf eine Art und Weise, die für die Menschheit in Gänze
existenzbedrohend ist. Die Wirtschaft wächst, und trotzdem geht es vielen Menschen nicht besser, weil sie sich
in unsicheren, schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen befinden. Das sind allein in Deutschland knapp
6 Millionen Menschen. Herr Bernschneider, wenn Sie
sagen, dass Anstrengung und Fleiß sich lohnen sollen,
dann sage ich dazu ausdrücklich Ja. Damit kann ich aber
nicht begründen, und Sie auch nicht, warum eine Erzieherin in unserem Land so viel weniger verdient als zum
Beispiel jemand in einer Bank.
({1})
Dies zeigt - das sage ich ausdrücklich -, dass wir ein
bisschen genauer hinschauen müssen; denn die Erzieherin leistet unglaublich viel, gerade für unsere Zukunft.
Genau über diese Zusammenhänge sagt unser Bruttoinlandsprodukt gar nichts aus. Deshalb brauchen wir bessere Maßstäbe, eine bessere Beschreibung von Wohlstand und Lebensqualität. Was wir messen und wie wir
messen, beeinflusst unser Handeln. Es zeigt auch, was
uns wichtig ist. Teilhabe an Arbeit ist uns wichtig. Bildungschancen sind uns wichtig. Wohlstandsentwicklung
und auch seine Verteilung sind uns wichtig. Eine intakte
Umwelt, Gesundheit und auch Wirtschaftswachstum,
politische Beteiligung und Demokratie - alle Umfragen
zeigen, dass das den Menschen wichtig ist.
({2})
Das Messsystem, über das wir im Augenblick diskutieren, wird Werteentscheidungen und den demokratischen Meinungsaustausch nicht ersetzen, aber wir können darüber mehr Transparenz herstellen. Das ist wichtig
in einer Demokratie. Dieses Messsystem wird die Wirklichkeit besser beschreiben können, über Zusammenhänge informieren und auch aufklären. Vielleicht tragen
ja die Diskurse darüber auch dazu bei, eine neue Kultur
der Rechenschaftslegung in der Politik zu etablieren.
({3})
Wenn wir unseren Kindern eine ökologisch, ökonomisch und sozial intakte Welt übergeben wollen, dann
brauchen wir nicht nur ein neues Messsystem, sondern
dann müssen wir auch konkrete Wege beschreiben, wie
wir die Probleme lösen wollen, zum Beispiel wie wir
den Klimawandel begrenzen und wie wir die Spaltung
der Gesellschaft überwinden wollen. Ja, liebe Frau Kollegin Kolbe, da werden manchmal titanische Anforderungen und Erwartungen an uns gestellt; das ist richtig.
Wir sollten versuchen, zumindest modellhaft zu zeigen,
wie der sozial-ökologische Wandel gelingen kann.
Notwendig ist das ernsthafte Bemühen, überzeugende, realisierbare Modelle und Vorschläge zu erarbeiten, wie diese Transformation, diese Umgestaltung gelingen kann. Es ist notwendig, dass wir Auskunft
darüber geben und etwas dazu sagen, wie wir die CO2Emissionen in unserem Land und weltweit reduzieren
wollen, damit der Klimawandel nicht so dramatisch voranschreitet, wie er es gerade tut. Es ist auch notwendig,
dass wir darüber diskutieren, ob es richtig ist, ob das Ziel
erreicht werden kann, wenn man zum Beispiel die Förderung von regenerativen Energien mit einem solch dramatischen Todesstoß - 30 Prozent sind ein Todesstoß einfach zerstört.
({4})
- Ja, genau diese Diskussion müssen wir führen. Wenn
wir diese Diskussion im Parlament nicht führen, dann
werden wir - das sage ich Ihnen ganz klar - unserer Verantwortung nicht gerechnet, weil genau das die Erwartung der Bürgerinnen und Bürger an uns ist. Sie erwarten, dass wir dazu Auskunft geben.
({5})
Kollegin Bulmahn, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Kauch?
Ja, das nehme ich immer gerne auf.
Liebe Kollegin Bulmahn, ist Ihnen bekannt, dass unter dieser Bundesregierung ein Anteil von 21 Prozent der
erneuerbaren Energien an der Stromproduktion erreicht
worden ist - das ist der höchste Wert für erneuerbare
Energien, den wir je in diesem Land erreicht haben -,
dass wir bei der Photovoltaik einen Ausbaugrad von
7 500 Megawatt pro Jahr in zwei Jahren hintereinander
hatten, obwohl Ihr Umweltminister Gabriel - er ist jetzt
SPD-Vorsitzender - noch im Jahr 2009 einen Zielkorridor von 1 900 Megawatt angestrebt hatte,
({0})
dass die Dinge, die Sie hier erklären, offensichtlich
nichts mit der Realität zu tun haben,
(Dr. Hermann E. Ott [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Herr Kauch, das wissen Sie auch
besser!
insbesondere angesichts der Tatsache, dass wir die
Hälfte der EEG-Umlage für 15 Prozent des Ökostroms
ausgegeben haben, und dass es nicht nachhaltig ist - Sie
sprechen hier über nachhaltiges Wachstum - einen solch
hohen Anteil der Kosten für die Bürger für nur eine
Technologie auszugeben und die anderen zu vernachlässigen?
({1})
Ich darf vielleicht mit einer Gegenfrage antworten: Ist
Ihnen bekannt, lieber Kollege, dass der Anteil der regenerativen Energien vor zwölf Jahren noch bei ungefähr
5 Prozent lag und der weitaus größte Teil aus Wasserkraft stammte, die aber begrenzt ist? Ist Ihnen bekannt,
dass es uns gelungen ist, die 21 Prozent, die Sie nennen,
durch eine konsequente, mutige Politik zu erreichen, indem wir nämlich den Kurs gewechselt und gesagt haben:
Wir wollen Wohlstandsentwicklung, Umweltverträglichkeit und eine Begrenzung des Klimawandels zusammenführen, wir wollen für die Welt Vorbild sein, und wir
wollen zeigen, dass es möglich ist, für eine Wohlstandsentwicklung zu sorgen, wirtschaftliches Wachstum zu
erzielen und gleichzeitig unsere Umwelt zu schonen?
Das ist der Erfolg von zwölf Jahren Politik, an der meine
Partei und meine Fraktion einen ganz erheblichen Anteil
hatten; sonst wäre das nämlich nicht in die Wege geleitet
worden.
({0})
Ich denke, das wird Ihnen bekannt sein. Ich möchte, dass
eine solch erfolgreiche Politik fortgesetzt werden kann.
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen die
Chancen, die eine auf erneuerbare Energien und Ressourceneffizienz gegründete Wirtschaft bietet, mutig
nutzen. Wir wollen nicht kleinmütig und ängstlich sein.
Wir wollen Antworten auf die Frage geben, welche Gesetze, welche fiskalischen Anreize und welche ordnungsrechtlichen Maßnahmen wir brauchen, welche
schädlich sind und welche den notwendigen und wichtigen sozialökologischen Wandel unterstützen. Wir wollen
auch Antworten darauf geben, wie wir zum Beispiel eine
bessere Work-Life-Balance erreichen können. Wir wollen also nicht nur die ökologischen Probleme, sondern
auch die sozialen Probleme lösen. Wir wollen nämlich
nicht noch in 20 oder 30 Jahren darüber diskutieren, wie
wir Frauen bessere Berufschancen eröffnen können. Wir
möchten das bitte etwas schneller schaffen.
({1})
Wir möchten schneller erreichen, dass Zeitwohlstand
nicht nur eine Vokabel ist, die in Sonntagsreden benutzt
wird, sondern dass er von den Menschen tatsächlich realisiert wird. Wir wollen auch nicht nur in Sonntagsreden darüber sprechen, wie die Kluft zwischen Arm und
Reich überwunden wird, sondern wir wollen durch konkrete Vorschläge sicherstellen, dass uns dies gelingt.
({2})
Wichtig sind dabei positive Beispiele, die zeigen, wie
wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise verändern
können, Beispiele, die Menschen Mut machen und Menschen motivieren, sich zu engagieren. Wenn wir die Ressourceneffizienz um den Faktor fünf verbessern wollen,
dann bedeutet das eine Revolution in der technologischen Entwicklung, und zwar in einer Dimension, die
wirklich mit der industriellen Revolution vergleichbar
ist. Es bedeutet auch Chancen, wenn wir hier vorangehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, derartig grundlegende Veränderungen werden neue Wege in der Technologieentwicklung bedeuten - aber nicht allein. Denn
diese technologischen Entwicklungen werden nur zum
Erfolg führen, wenn es uns auch gelingt, soziale, ökologische und wirtschaftliche Ziele zusammenzuführen,
also eine Art neuen Gesellschaftsvertrag zu schließen.
Kollegin Bulmahn, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Dadurch kommt das Thema Demokratie auf die Tagesordnung. Insofern ist klar, dass dies nicht nur ein
technologisches, sondern auch ein politisches Projekt ist.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Judith
Skudelny das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Bulmahn, ich freue mich ganz außerordentlich, dass Sie die Bedeutung der Ordnungspolitik,
ganz besonders im Klimabereich, hier im Plenum nach
vorne getragen haben. Ich erinnere mich an die erste Sitzung der Projektgruppe 4, deren Vorsitzende Sie sind
und in der ich Mitglied bin. Sie haben damals mehrfach
darauf hingewiesen, dass Sie bezweifeln, dass wir in der
PG 4 überhaupt dazu kommen werden, unter ordnungspolitischen Aspekten über Klimapolitik zu sprechen. Ich
möchte Sie an dieser Stelle darauf hinweisen, dass ich
diejenige war, die Sie immer wieder daran erinnert hat,
dass dies zentrale Fragen dieser Enquete-Kommission
sind.
({0})
Ihre Ausführungen hier lassen mich annehmen, dass wir
es mit Ihrer Bereitschaft tatsächlich schaffen werden,
diese wichtigen Fragen zu beantworten.
({1})
Wir haben bisher immer über Wirtschaftswachstum
gesprochen. Es gibt, global gesehen, aber noch ein ganz
anderes Wachstum. Dabei geht es um ein wichtiges
Thema, das wir auch in der Enquete-Kommission besprechen müssen: Auf welcher Ebene sprechen wir über
diese Fragen? Das ist nämlich schlicht und ergreifend
das Bevölkerungswachstum. Es gibt derzeit 7 Milliarden
Menschen. Die erste Verdoppelung, von 1 Milliarde
Menschen auf 2 Milliarden Menschen, hat 120 Jahre gedauert. Mittlerweile dauert der Sprung um 1 Milliarde
Menschen mehr genau zwölf Jahre. Wir haben das Problem, die weiteren Milliarden Menschen medizinisch zu
versorgen, zu ernähren, einzukleiden und sie am Wohlstand teilhaben zu lassen. Dieses Problem aufgrund des
Wachstums müssen wir tatsächlich global lösen.
({2})
Deswegen bin ich ganz froh, dass wir uns in der Projektgruppe 3 auf die globale Ebene geeinigt haben. Es
geht nämlich schlicht und ergreifend nicht darum, was
wir in Deutschland machen. Wir in Deutschland stellen
gerade einmal 16 Prozent der Bevölkerung auf europäischer Ebene, etwa 5 Prozent der Bevölkerung in allen Industrienationen und 1,2 Prozent - künftig nur noch
0,8 Prozent - der Weltbevölkerung. Selbst wenn wir
vollkommen aufhören würden, Abgase zu emittieren,
und zwar egal welche, würde das beispielsweise in der
Klimakurve nicht einmal eine Delle ausmachen.
({3})
Wir müssen darüber reden, wie wir aus unserer Verantwortung heraus auf globaler Ebene tatsächlich durchschlagend tätig werden können.
({4})
Diese Frage ist aber nicht einfach zu beantworten. Mit
nationalen Maßnahmen globale Probleme zu lösen,
funktioniert schlicht und ergreifend nicht. Bei der Diskussion über die Vorreiterrolle müssen wir uns in regelmäßigen Abständen auch einmal umdrehen und gucken,
ob hinter uns eigentlich noch jemand ist.
({5})
Das sind schwierige Fragen, die wir beantworten
müssen, was eben nicht sehr einfach ist, weil es um viele
Felder geht. Wir laufen vor; aber anderen Nationen,
selbst den weit entwickelten Nationen, fällt es einfach
schwer, uns zu folgen.
Nicht von ungefähr sind die USA, die noch vor ein
paar Jahren in der Klimapolitik voranschreiten wollten,
aufgrund sozialer Probleme jetzt ein Stück zurückgerudert. Nicht von ungefähr diskutieren wir im Zusammenhang mit der Verlagerung der Industrie, die wir in den
letzten 20 Jahren betrieben haben, darüber, dass wir in
Deutschland durchaus nicht besser geworden sind, was
den Klimaschutz angeht, sondern nur eine Aktion „Sauberer Vorgarten“ durchgeführt haben.
Luft, Boden, Wasser: Alles wird in Deutschland besser. Wir versauen es aber in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Das sind doch die tatsächlichen Probleme, über die wir reden müssen.
({6})
Dies ist eben nicht so einfach zu beantworten, wie Teile
der Opposition uns das vorgaukeln.
Meine Damen und Herren, ich glaube, in der Enquete-Kommission wird tatsächlich besser und ernsthafter geredet, als hier manche Einlassungen der Opposition
glauben machen. Ich glaube tatsächlich, dass wir ein gutes Ergebnis erzielen werden.
Am Ende möchte ich zwei Sachverständige zitieren,
die ich beide schätze, einen Sachverständigen der Opposition und einen der Regierung. Sie haben gesagt: Eine
gute, nachhaltige Politik befindet sich zwischen naivem
Altruismus und zynischem Pessimismus. - Wenn wir auf
dieser Schiene bleiben, dann kommen wir zu guten Ergebnissen.
Ich hoffe, dass die Sacharbeit künftig weiterhin gut
bleibt und dass das Ergebnis besser wird als der Anschein, der durch manche Einlassungen in der Diskussion hier erweckt wurde.
({7})
Für alle nachfolgenden Rednerinnen und Redner: Das
Präsidium versichert, dass in jedem Fall noch jemand
hinter Ihnen ist - zumindest am heutigen Abend.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Stefanie Vogelsang von der
Unionsfraktion.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir haben jetzt hier in der Debatte von unterschiedlicher Seite den Arbeitsauftrag des
gesamten Hauses an die Enquete-Kommission beleuchtet. Dies haben wir aus unterschiedlicher parteipolitischer Sicht heraus und mit unterschiedlichen Ansätzen
getan. Der eine argumentierte politisch, der andere etwas
philosophischer, lieber Matthias Zimmer. Unsere Vorsitzende hat sehr verbindlich formuliert, wieder andere waren sehr viel streitbarer bei der Herausarbeitung von Akzenten. Etliche Beiträge waren auch ideologisch geprägt.
Gegen Ende der Debatte möchte ich mich auf einen
Auftrag konzentrieren, den wir im Einsetzungsbeschluss
für diese Enquete-Kommission bekommen haben und
den wir in der Projektgruppe 2 bearbeiten. Es geht darum, ein Maß zu entwickeln, mit dem wir den Wohlstand
von Volkswirtschaften - den Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland, aber auch den Wohlstand von China,
von Bhutan oder von Südafrika - messen und vergleichen können.
Ich möchte meinerseits mit einer ideologischen Betrachtungsweise beginnen. Wir haben in den letzten 30,
40, 50 Jahren Wohlstand über Wirtschaftswachstum definiert. Die Volkswirte und alle Wirtschaftswissenschaftler haben das nie für sich reklamiert und das Wirtschaftswachstum nie als ein Maß für Wohlstand angesehen.
Wenn ich meine Großmutter gefragt hätte, was Wohlstand ist, hätte ich ganz sicher die Antwort bekommen:
dass es uns allen gut geht.
({0})
Wenn ich sie gefragt hätte: „Was brauchen wir denn
dazu, dass es uns allen gut geht?“, dann hätte sie als Erstes geantwortet: dass wir alle gesund sind, dass wir alle
eine Arbeit haben, dass wir genug zum Leben haben,
dass unsere Umwelt sauber ist, dass wir in unserem Land
sicher leben können, dass wir in einem freien Land leben, dass wir sagen können, was wir denken, dass wir
demokratisch teilhaben können und dass wir ganz viel
Wert darauf legen, dass wir mit einem guten Gewissen
das, was wir in unserem Leben geschaffen haben, unseren Kindern und unseren Enkelkindern weitergeben können, damit sie genauso gut leben können. - Das wäre für
meine Großmutter Wohlstand gewesen. Das wären für
sie die Dinge gewesen, die unseren Wohlstand ausmachen.
Über genau diese Punkte, etwas akademischer, mit
treffenden Worten gut formuliert, diskutieren wir in der
Enquete-Kommission. Wir haben uns in der Projektgruppe 2 in den letzten anderthalb bis zwei Jahren ungefähr 30 oder 40 akademische Werke über Indikatoren zur
Messung von Wohlstand angeschaut. Wir haben geguckt: Was machen hier die Kanadier? Was machen die
Franzosen? Wir haben uns mit den Indikatoren der Österreicher oder mit unterschiedlichen deutschen Ansätzen beschäftigt.
Wir haben uns mit der Frage auseinandergesetzt: Wie
können wir am besten das Maß für Wohlstand kommunizieren? Ist es nicht am besten, wenn wir nur eine Zahl
kommunizieren? Dann steht sie allmonatlich in der BildZeitung, und jeder kann sie verstehen. Sind nicht drei,
fünf oder sieben Zahlen zu kompliziert? Frau Bulmahn,
2002 - Sie waren in dieser Zeit Ministerin - lagen der
Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung etwas
über 30 Indikatoren zugrunde. Kennen Sie einen Bürger,
der schon einmal von diesen Indikatoren gehört hat?
({1})
Richtig ist, dass wir ganz viele Statistiken haben und
in vielen Bereichen Messungen vorgenommen werden,
auf die es aber gar nicht ankommt. Wenn jemand etwas
zu einem speziellen Thema wissen will, bekommt er
dazu Daten geliefert, meistens auch die der letzten 10,
15, 20 oder 25 Jahre. Uns in der Enquete-Kommission
geht es darum, etwas zu finden, was einfach zu kommunizieren ist und für alle Menschen verständlich darstellt,
wie sich der Wohlstand in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar für alle Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland, im Verhältnis zu dem Wohlstand anderen
Ländern entwickelt.
Können wir anhand von Kriterien Gefahren für unseren Wohlstand erkennen? Können wir beurteilen, ob wir
so weitermachen können? Können wir ein Wohlstandsgut, zum Beispiel Gesundheit, in ein Verhältnis zur Bildung setzen? Kann beides zusammengemischt und mit
einem Indikator angezeigt werden? Wenn wir eine gute
Bildung haben, hat der entsprechende Indikator den Wert
1; wenn es uns gesundheitlich schlecht geht, führt das zu
einem Indikator mit dem Wert 6. Sollen wir dann nach
außen einen Indikator mit dem Wert 3,5 kommunizieren? Das ist nicht darstellbar und nicht vernünftig.
Frau Präsidentin, ich komme zum Ende. Das, worauf
wir uns geeinigt haben, ist sinnvoll, nämlich dass wir
weiter an einem Indikatorensatz arbeiten wollen, der nur
sehr wenige Dimensionen beinhaltet; einige der Dimensionen habe ich vorhin aufgezählt. Vielleicht sollte es
noch sogenannte Warnsignale für Spezialisten geben, so21190
dass man reagieren kann. Aber in der Hauptsache muss
es für die Menschen verständlich sein und das ausdrücken, was schon meine Oma wusste.
Danke schön.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 a und b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierter Bericht über die Umsetzung des
Bologna-Prozesses in Deutschland
- Drucksache 17/8640 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Burchardt,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die soziale Dimension von Bologna stärken
- Drucksachen 17/8580, 17/9604 Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Ulla Burchardt
Dr. Martin Neumann ({2})
Kai Gehring
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Helge Braun.
({3})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In den letzten zehn Jahren hat der Bologna-Prozess das Studium an unseren Hochschulen tiefgreifend
verändert. Die Einführung der gestuften Studienstruktur
ist inzwischen weit fortgeschritten. 85 Prozent der rund
15 000 Studiengänge in Deutschland sind mittlerweile
umgestellt. Deshalb will ich die Gelegenheit nutzen,
mich zunächst einmal bei allen, die an dieser Herkulesaufgabe an den Hochschulen mitgewirkt haben, ganz
herzlich zu bedanken.
({0})
Im internationalen Vergleich ist gerade Deutschland
bei dem zentralen Ziel des Prozesses, nämlich der Steigerung der internationalen Studierendenmobilität, Vorreiter. Heute geht jedem dritten Hochschulabschluss ein
studienbezogener Auslandsaufenthalt voraus. Bei einem
Viertel beträgt dieser Aufenthalt sogar mindestens drei
Monate. Das sind ganz hervorragende Zahlen, über die
wir uns alle freuen können. Aus der Sicht der Bildungspolitik können sie in Zukunft natürlich gerne noch sehr
viel besser werden.
({1})
Auch der Arbeitsmarkt gibt uns recht. Bachelor-Absolventen sind selten arbeitslos und werden nach ihrem
Abschluss nahezu nie unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt. Ein Großteil unserer Bachelor-Absolventen, nämlich 53 Prozent der FH-Bachelor und 77 Prozent der Uni-Bachelor, strebt im Anschluss ein Masterstudium an. 90 Prozent von ihnen erhalten dabei einen
Studienplatz sowohl an ihrer Wunschhochschule als
auch in ihrem Wunschfach.
({2})
Nach einer aktuellen Ländererhebung steht rechnerisch für jeden interessierten Bachelor heute ein Masterstudienplatz zur Verfügung. Ich sage ausdrücklich: Das
ist eine sehr erfreuliche Botschaft. Sie deckt sich aber
nach meiner Einschätzung nicht vollständig mit den konkreten Erfahrungen der Studierenden. Deshalb ist,
glaube ich, die Aufgabe, einen für jeden Bewerber transparenten und verlässlichen Zugang zu den Masterstudiengängen zu organisieren, noch eine der aktuellen Aufgaben im Bologna-Prozess.
Der schwierige Start des Bologna-Prozesses vor Jahren lag vor allem daran, dass bei der Umsetzung der Studiengänge eine kurze Studienzeit, eine große Stofffülle
und eine hohe Prüfungsfrequenz eingeführt worden sind,
die dazu geführt haben, dass so mancher Studiengang
kaum mehr studierbar war. Das hatte zur Folge, dass die
Zahl der Studienabbrecher 2006/2007 auf einen Höchststand von 35 Prozent angestiegen ist. Darauf folgte dann
die Reform der Reform.
Die Entschlackung und die zeitliche Entzerrung vieler
Studiengänge haben dazu geführt, dass die Zahl der Studienabbrecher aktuell wieder sinkt. Insbesondere an
Fachhochschulen, wo die Umstellung auf Bachelor-Studiengängen größtenteils schon besonders früh stattgefunden hat, ist die Zahl der Abbrecher von 39 Prozent im
Jahr 2006 auf einen erstaunlich und erfreulich niedrigen
Stand von 19 Prozent im Jahr 2010 gesunken. Das zeigt:
Wir sind auf einem guten Weg.
({3})
Eine sehr grundsätzliche Kritik am Bologna-Prozess
war es stets, dass der Prozess zu singulär auf berufliche
Fachkenntnisse ausgerichtet ist. Die sogenannte Beschäftigungsfähigkeit oder, wie es auf Englisch heißt,
Employability, ist das Stichwort, das sich im BolognaProzess gerade durch den Einfluss der angelsächsischen
Länder immer wieder durchgesetzt hat. Weil ich aber
ganz persönlich davon überzeugt bin, dass unsere Tradition des Humboldt’schen Bildungsideals für die Entwicklung autonomer, selbstreflexiver Individuen und
verantwortungsbewusster Weltbürger in den Bildungsgesellschaften des 21. Jahrhunderts unerlässlich ist, haben
wir vor wenigen Wochen auf der internationalen Bologna-Konferenz für die Implementation dieses Bildungsideals im Bologna-Prozess gekämpft.
Das Ergebnis ist, dass sich in Bukarest nun auf deutsche Initiative 47 Staaten im Bologna-Kommuniqué dazu
bekannt haben, dass Hochschulbildung neben der Weitergabe von fachlichen Erkenntnissen auch zum selbstbewussten und kritischen Menschen hin ausbilden soll.
Damit ist der Bologna-Prozess im Hinblick auf unser
Bildungsideal besser geworden.
({4})
Deutschland wird in wenigen Jahren einen Anteil von
weniger als 1 Prozent an der Weltbevölkerung haben.
Die Internationalisierung von Bildung und Forschung ist
deshalb für den Fortbestand unserer Innovationskraft
von existenzieller Bedeutung. Der Bologna-Prozess ist
gerade deshalb für uns eine großartige Chance. Mit der
Bologna-Konferenz von Bukarest ist unser Bildungsideal fester Bestandteil dieses Prozesses geworden. Auf
dem Weg, ihn umzusetzen und gleichzeitig unsere Stärken in Deutschland zu bewahren, sind wir gut vorangekommen. Deshalb fordere ich alle auf, unseren nationalen Prozess zu unserem eigenen Glück weiter engagiert
voranzutreiben.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Swen
Schulz das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der BolognaProzess ist tatsächlich noch mit vielen Problemen behaftet. Auch wenn der Staatssekretär Braun hier so freundlich geredet und den Eindruck erweckt hat, als wäre alles
auf dem besten Wege, gibt es eine ganze Menge Probleme.
Sie haben, Herr Staatssekretär Braun, die Konferenz
der 47 Bologna-Staaten, die in Bukarest stattgefunden
hat, angesprochen. Die dort zusammengekommenen Ministerinnen und Minister loben sich gegenseitig normalerweise sehr viel; das ist klar. Aber selbst in deren Abschlusskommuniqué lassen sich Hinweise finden, dass
einiges gemacht werden muss. Nun lautet die entscheidende Frage: Wie sieht es in Deutschland aus? Was
macht die Bundesregierung? Was macht die sie tragende
Koalition? Ein wichtiger Punkt - auch in dem Kommuniqué angesprochen - ist die soziale Dimension des Bologna-Prozesses. Dazu hat der Staatssekretär Braun interessanterweise rein gar nichts gesagt.
Die SPD hat ein Konzept für einen Hochschulsozialpakt vorgelegt. Es ist notwendig, dass angesichts steigender Studierendenzahlen zusätzliche Wohnheimplätze
geschaffen werden, dass wir bessere Beratungsangebote
bekommen und dass die BAföG-Ämter gestärkt werden.
Es ist unmöglich, dass die Betreffenden teilweise Monate darauf warten müssen, ihr BAföG zu erhalten, das
sie benötigen und auf das sie einen Anspruch haben. Die
Kinderbetreuungsangebote müssen ausgebaut werden,
damit die Vereinbarkeit von Familie und Studium verbessert wird. Deshalb müssen auch die Studierendenwerke gestärkt werden. Das ist eine Aufgabe, der sich
der Bund und die Länder gemeinsam stellen müssen.
({0})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist: Das BAföG muss
verbessert werden, damit sich die Menschen ein Studium
überhaupt erst einmal leisten können. Das BAföG ist das
zentrale Instrument der sozialen Ausbildungsförderung.
Es muss gepflegt, gestärkt und weiterentwickelt werden.
({1})
Was macht nun die Koalition? - Nichts! Unseren Antrag zur sozialen Dimension des Bologna-Prozesses haben Sie im Ausschuss abgelehnt. Zum BAföG legt die
Bundesregierung partout kein Konzept vor, über das sie
mit den Ländern verhandeln könnte.
({2})
Ich habe noch in der gestrigen Fragestunde den Staatssekretär Rachel dazu befragt. Nichts Genaues weiß man
nicht, was das BAföG-Konzept der Bundesregierung betrifft. Wahrscheinlich gibt es das gar nicht.
Ein weiterer wichtiger Punkt des Bologna-Prozesses
ist die Schaffung ausreichender Studienkapazitäten. Die
SPD hat schon im letzten Jahr ein Konzept für einen
Hochschulpakt Plus vorgelegt, für mehr Studienplätze
für Anfänger, aber auch für das Masterstudium, damit
alle, die daran interessiert sind, tatsächlich den Master
erringen können. Der Staatssekretär Braun hat ganz nett
dazu geredet und angedeutet, da könne es vielleicht ein
Problem geben. Wenn man aber genau schaut, was die
Koalition bisher unternommen hat, stellt man fest: Wieder Fehlanzeige! Im Bundestag lehnt sie alles, was zum
Hochschulpakt kommt, ab. In der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern erklärt sich
Frau Schavan widerstrebend bereit, eine Arbeitsgruppe
einzurichten, die den Bedarf prüfen soll. Dabei liegt
doch der Bedarf auf der Hand.
Noch ein wichtiger Punkt ist die Qualität des Studiums. Die Koalition brüstet sich mit dem Qualitätspakt
Lehre. Aber er ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein
Swen Schulz ({3})
angesichts der Probleme, die wir haben. Das sehen wir
gerade bei der Abbrecherquote.
({4})
Wir haben schon im letzten Jahr einen Abschlussbonus vorgeschlagen. Ich erwarte, dass sich die Regierungskoalition wenigstens einmal ernsthaft mit dieser
Idee befasst und sie prüft. Aber diese Koalition lehnt alles in Bausch und Bogen ab. Dabei wäre ein Abschlussbonus ein wirklich geeignetes Instrument, um nicht nur
den Studienbeginn finanziell zu fördern, sondern auch
im gesamten Verlauf das erfolgreiche Studium und die
gute Lehre.
Der Grund für diese Blockade an diesem Punkt und
an anderen Punkten ist, dass Finanzminister Schäuble
Frau Schavan den Geldhahn zugedreht hat.
({5})
Das tut Ihnen weh, und das ist wirklich bitter. Aber es
ist so. - Das ist kein Gerede der Opposition, sondern das
belegen die eigenen Zahlen der Bundesregierung. Ihre
mittelfristige Finanzplanung
({6})
sieht im Bundestagswahljahr 2013 noch ein Plus vor, danach wird reduziert. Über eine halbe Milliarde Euro werden Sie im Bildungsbereich einsparen. Aber für das Betreuungsgeld sind 2 Milliarden Euro jährlich drin. Das
ist die falsche Politik.
({7})
Herr Kollege Schulz, ich will Ihre Rede zwar nicht inhaltlich bewerten. Aber das war jetzt eigentlich ein schöner Abschluss. Achten Sie bitte auf die Zeit.
({0})
Eine Bemerkung noch, Frau Präsidentin. - Der Bologna-Prozess muss auf die richtige Spur kommen. Dafür
ist einiges an Engagement nötig. Aber so, wie die Koalition es macht, geht es nicht.
Danke schön.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor
Dr. Martin Neumann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Schulz, Sie wissen, dass es keine Bundesregierung vor der jetzigen gab,
die mehr Geld für Bildung und Forschung ausgegeben
hat. Das muss man zu Beginn einmal sagen.
({0})
Sicherlich haben der Bologna-Prozess und die Beschlüsse dazu unsere Hochschullandschaft dramatisch
verändert. Das ist ein Prozess. Wenn Sie so tun, als sei
der Prozess abgeschlossen, dann entspricht das nicht den
Tatsachen. Sie wissen, dass eine ganze Studierendengeneration im Gegensatz zu den Lehrenden an den Hochschuleinrichtungen nichts anderes kennengelernt hat.
Entgegen den Unkenrufen, die Sie hier wiederholt haben, sind die allermeisten Studierenden mit ihrer Situation zufrieden. Auch der Vierte Bericht über die Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland - den
müssen Sie einmal lesen - zeichnet ein durchaus freundliches Bild.
Mittlerweile gehört Deutschland zur Spitzengruppe
bei der Umstellung auf Master- und Bachelorstudiengänge. Noch ein Wort zur Qualität und Qualitätssicherung, die auch Sie angesprochen haben. Unsere Hochschulen sind bei der Qualitätssicherung spitze, was
glücklicherweise an den hervorragenden Beschäftigungschancen für unsere Bachelorabsolventen deutlich
wird. Das bestätigen die Studien, die man einfach einmal
lesen muss.
Ich sage es noch einmal: Der Bologna-Reformprozess
war, ist und bleibt eine Mammutaufgabe für unsere
Hochschulen. In diesem Zusammenhang möchte ich
mich dem Dank an die Macher, an die Verantwortlichen,
an die Studierenden und an die Professoren dafür anschließen, dass sie sich dieser Reformaufgabe so engagiert gestellt haben und weiter stellen.
({1})
Im Zeitraum von 2009 bis 2011 ist die Zahl der Studienanfänger um mehr als 20 Prozent angewachsen.
Wenn man weiß, dass die Studienanfängerquote heute
über 50 Prozent liegt, dann kann man wirklich zufrieden
sein. Der Opposition und gerade Ihnen, lieber Kollege
Schulz, fällt es wahrscheinlich zunehmend schwer, kritische Fakten vorzutragen. Ihr Antrag „Die soziale Dimension von Bologna stärken“ ist aus meiner Sicht eher
ein Verlegenheitsvorstoß, als dass er ein ernstzunehmendes Anliegen ausdrückt.
({2})
Das Abstimmungsverhalten gestern im Ausschuss hat
das bestätigt: Nicht einmal die Linken und die Grünen
haben Ihrem Antrag zugestimmt. Wir natürlich auch
nicht.
({3})
Die Erklärung dafür ist das, was hinter dem Antrag
steckt.
Worum geht es in diesem Antrag? Ich will es deutlich
sagen. Sie behaupten nicht zum ersten Mal, dass wegen
der steigenden Studierendenzahlen der Bund in der Verantwortung sei, und fordern, neben dem Hochschulpakt
zum Ausbau der Studienplatzkapazitäten „auch für einen
parallelen bedarfsgerechten Ausbau der sozialen InfraDr. Martin Neumann ({4})
struktur zu sorgen“. Immerhin bemerken Sie beiläufig
auch - das will ich Ihnen positiv anrechnen -, dass das
nicht nur Sache des Bundes, sondern auch der Länder ist.
Das ist so weit okay. Aber Sie versuchen immer wieder,
den Eindruck zu erwecken - und das nehme ich Ihnen
übel -, als sei der Bund allein für die Situation verantwortlich.
Ich habe es heute Vormittag schon einmal gesagt: Der
Bund unterstützt die Länder sehr großzügig bei ihrer
grundgesetzlich verankerten Aufgabe, die Finanzierung
der Hochschulen sicherzustellen. Das muss man an dieser Stelle deutlich sagen.
({5})
Stichwort Exzellenzinitiative: 1,9 Milliarden Euro. Hochschulpakt in der zweiten Phase, 2011 bis 2015: rund
5 Milliarden Euro. Denken wir nur an den Qualitätspakt
Lehre: bis zum Jahr 2020 - Sie wissen, dass es jedes Jahr
200 Millionen Euro sind - noch einmal 2 Milliarden
Euro zusätzlich.
Der Bund hat deutlich gemacht - auch das ist immer
wieder in den Ausschusssitzungen erkennbar geworden -,
dass er sich, selbst wenn die Studienanfängerzahlen weiter steigen, nicht davor drücken wird, eventuell noch
nachzulegen.
Doch was machen die Länder? In Baden-Württemberg beispielsweise werden die Studiengebühren wegen
eines rot-grünen Wahlversprechens abgeschafft.
({6})
Die Hochschulen erhalten damit künftig mehr als
163 Millionen Euro aus den Studiengebühren nicht
mehr.
({7})
Diese Einnahmeausfälle - Kollege Gehring, das muss
man natürlich auch einmal insgesamt betrachten - sollen
stattdessen aus allgemeinen Haushaltsmitteln kompensiert werden. Wenn man jetzt die Schuldenbremse und
das, was da noch alles mit dranhängt, in Betracht zieht,
stellt sich die Frage: Wie lange wird man das durchhalten?
Noch eine weitere Bemerkung zu Baden-Württemberg - das passt an der Stelle. Das Land Baden-Württemberg ist das Land mit den meisten örtlichen Zulassungsbeschränkungen. Es hält also ganz offensichtlich
unzureichende Kapazitäten vor und ruft nach mehr Geld
vom Bund.
({8})
Das Motto lautet: Bundesgeld soll Löcher stopfen, die
zuvor durch populistische Maßnahmen verursacht wurden.
({9})
Der jüngste BAföG-Bericht und auch der BolognaBericht bescheinigen uns gute Arbeit. Sie bescheinigen
vor allem der Bundesregierung gute Arbeit. Ich denke,
an der Stelle sollten wir weitermachen.
Die Unterstützungsleistungen für Studierende sind
stärker gestiegen als die Lebenshaltungskosten. Die Zahl
der BAföG-Bezieher befindet sich auf einem Allzeithoch.
({10})
Gleichzeitig entscheiden sich immer mehr junge Menschen für ein Studium. Ich sage: Dann können die Rahmenbedingungen gar nicht so schlecht sein. Die deutschen Studierenden stellen zudem laut OECD die größte
Gruppe der europäisch und international mobilen Studierenden. Ich denke, auch hier sind die Rahmenbedingungen eher gut als schlecht.
Ich möchte zum Schluss noch einen Verdacht äußern;
das darf ich an dieser Stelle. Ich habe den Verdacht, dass
es Ihnen mit Ihrem Antrag weniger darum geht, in der
Hochschulfinanzierung qualitative Verbesserungen zu
erreichen, sondern darum, den Bund als Lückenbüßer
und Sparschwein der SPD-regierten Länder zu missbrauchen,
({11})
die nicht in der Lage oder willens sind, ausreichend eigene Anstrengungen zu unternehmen und die Prioritäten
richtig zu setzen.
({12})
Ich habe noch einen Gedanken zum Mittelabfluss.
Auch dieser Punkt wird immer wieder angesprochen.
({13})
Bei einem Mittelabfluss von durchschnittlich 99,4 Prozent kann man auch davon ausgehen, dass die Bundesregierung, konkret das BMBF, mit dem Geld, was hier
zur Verfügung gestellt wird, ausreichend gut umgeht.
Ich komme damit zum Schluss.
({14})
Die Ankündigung ersetzt nicht den Schlusspunkt!
Die FDP-Bundestagsfraktion kann nicht erkennen, an
welcher Stelle diesem Antrag auch nur ansatzweise zugestimmt werden könnte, und wird ihn deshalb ablehnen.
Danke.
({0})
Die Kollegin Nicole Gohlke hat nun für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Vor
zwei Wochen haben sich die Bildungsminister aller Länder, die die Bologna-Reform an den Hochschulen umsetzen, in Bukarest getroffen. Auch Deutschland hat das
Kommuniqué der Konferenz unterzeichnet. Darin finden
sich sehr viele unterstützenswerte Vereinbarungen. Herr
Staatsekretär Braun hat viele davon schon erwähnt.
Aber Papier ist geduldig. Die Frage ist natürlich, ob
und wie all das nun faktisch umgesetzt wird. Wenn man
einen Blick in den Bericht wirft, den uns die Bundesregierung zur Umsetzung der Bologna-Reform in
Deutschland vorgelegt hat, verliert man da leider wieder
recht schnell die Hoffnung. Denn darin bleibt von der
kritischen Reflexion, die Sie zu Recht gerade als Teil des
Kommuniqués von Bukarest erwähnt haben, nicht mehr
so viel übrig.
Ein Beschluss aus dem Kommuniqué von Bukarest
lautet:
Der Zugang zu höherer Bildung soll sozial gerecht
erweitert werden.
Das ist völlig richtig. Aber was hieße das für die Bundesregierung, wenn sie diesen Beschluss von Bukarest
ernst nehmen würde? Sie müsste erstens die Hochschulen überhaupt erst in die Lage versetzen, sich zu öffnen.
Aktuell wird ein angemessener Ausbau der Hochschulen
durch fehlende Studienplätze verhindert. Das heißt, wir
brauchten als Allererstes eine deutliche Aufstockung des
Hochschulpakts.
({0})
Zweitens. Sie müssten das BAföG erhöhen. Sie müssten dafür sorgen, dass mehr Studierende BAföG bekommen, und Sie müssten endlich den Darlehensanteil im
BAföG abschaffen. Sie kennen doch die Zahlen: Drei
von vier Abiturientinnen und Abiturienten, die auf ein
Studium verzichten, tun dies aus finanziellen Gründen
oder aus Angst vor Verschuldung. Wenn Sie es mit der
sozialen Öffnung ernst meinen, dann geben Sie den Studienberechtigten die finanzielle Möglichkeit, ein Studium aufzunehmen.
({1})
Drittens. Wir brauchen den freien Zugang zum Master. In Ihrem Bericht haben Sie geschrieben, dass für jeden interessierten Bachelorabsolventen ein Masterstudienplatz zur Verfügung steht. Da musste man schon
staunen, weil gerade in der aktuellen Studie des HIS, die
Sie selbst in Auftrag gegeben und aus der Sie zitiert haben, die Forscher und Forscherinnen zu einem anderen
Ergebnis kommen: 10 Prozent an den Universitäten,
14 Prozent an den Fachhochschulen können eben nicht
den Master machen, den sie machen wollen. Das muss
sich dringend ändern.
({2})
Das wirklich größte Problem der Bologna-Reform
- das musste auch in Ihrem Bericht zugegeben werden liegt doch in der Bezahlung der Bachelorabsolventinnen
und -absolventen. Die Einkommen liegen bei den Fachhochschulabsolventinnen und -absolventen 7 Prozent und
bei den Universitätsabsolventinnen und -absolventen
20 Prozent unter denen der Inhaber traditioneller Abschlüsse. Das erklärt in sehr einfachen Zahlen, warum
die Mehrheit der Studierenden den Master anschließen
will. Geben Sie den jungen Menschen diese Möglichkeit!
({3})
Ein weiteres Ergebnis der Bukarest-Konferenz war:
Studierendenzentriertes Lernen soll vorangetrieben werden. - Das ist ebenfalls völlig richtig. Seit Jahren beklagen die Studierenden die Auswirkungen der BolognaReform. Verschulung, enormer Prüfungsdruck und Auswendiglernerei statt tieferer inhaltlicher Auseinandersetzung waren mitunter Anlass für die heftigen Bildungsstreiks der letzten Jahre. Sie reden in Ihrem Bericht
immer nur von Umsetzungsproblemen oder davon, dass
man alles eigentlich irgendwie im Griff hat. Aber an den
Hochschulen hat sich tatsächlich wenig geändert. Treffen Sie endlich mit Kultusministern, mit Hochschulrektoren und mit Studierenden verbindliche Vereinbarungen
für ein Lernen, bei dem wirklich die Interessen der Studierenden im Zentrum stehen.
({4})
Die Studierenden brauchen gute Betreuung. Bei einem Verhältnis von 1 Hochschullehrer auf 60 Studierende lässt sich individuelle Betreuung natürlich nicht
realisieren. Schaffen Sie also endlich den Raum für
selbstbestimmtes, kritisches und nachhaltiges Lernen.
Kolleginnen und Kollegen von der Bundesregierung,
wenn die in Bukarest getroffenen Vereinbarungen etwas
wert sein sollen, dann müssen diesen Vereinbarungen
auch Taten folgen. Wir brauchen einen Reformprozess
für die Hochschulen, der Bildungschancen nicht einschränkt, sondern sich an einer umfassenden Öffnung
der Hochschulen orientiert. Wir brauchen eine Studienreform, die eine eigenständige Studiengestaltung ermöglicht und eine kritische Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Disziplin und den gesellschaftlichen
Verhältnissen fördert. Bringen Sie das endlich auf den
Weg!
Vielen Dank.
({5})
Kai Gehring hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht die Bologna-Reform an sich, sondern die Umsetzung in Deutschland ist das Problem. Wir befürworten
die Etablierung eines europäischen Hochschulraums in
Verbindung mit einer umfassenden sozialen Öffnung der
Hochschulen. Aber wir kommen den visionären Bologna-Zielen nicht näher, wenn die Bundesregierung die
Probleme nicht benennt und nicht behebt.
({0})
Damit gefährdet sie die Akzeptanz der Reform und treibt
Studierende in die Arme der Studienreformgegner.
47 Staaten haben sich der Bologna-Deklaration angeschlossen. Da ist es nicht verwunderlich, wenn bei
Ministerkonferenzen wie Ende April in Bukarest weiche, von diplomatischer Sprache geprägte Kommuniqués herauskommen. Entscheidend ist, was in den einzelnen Ländern daraus gemacht wird. Da sind Sie blass
geblieben, Herr Braun. Was jetzt die Konsequenzen aus
diesem Kommuniqué für die Bundesregierung sind und
was den Umsetzungsstand in Deutschland angeht, muss
man Deutschland weiterhin ein mangelhaftes Zeugnis
ausstellen.
({1})
Denn auch im 13. Bologna-Jahr werden wesentliche
Ziele der Reform verfehlt:
Erstens. Die Mobilität ist nicht gestiegen, sondern gesunken. Im Jahr 2009 absolvierten nur 26 Prozent der
Bachelorstudierenden Auslandsaufenthalte. In den alten
Studiengängen waren es dagegen 32 Prozent. Das steht
so in Ihrem Regierungsbericht. Um die Auslandsmobilität deutscher Studierender zu steigern, müssen Bachelorstudiengänge flexibilisiert und Zeitfenster für Mobilität
eingebaut werden.
({2})
Zweitens. Die Studierbarkeit muss erhöht und die Arbeitsbelastung gesenkt werden. Bachelorstudierende berichten immer häufiger über massiven Prüfungsstress
und Bulimielernen. Ob die Abbrecherquoten gesunken
sind, bleibt zweifelhaft. Deswegen ist es notwendig, dass
Hochschulen ihre Studienprogramme überarbeiten,
Workload herunterschrauben und die Prüfungsdichte reduzieren.
Drittens. Die Anerkennungspraxis ist weiterhin beschämend und deshalb auch mobilitätsfeindlich. Wenn
nur magere 52 Prozent der im Ausland erworbenen Studienleistungen an deutschen Hochschulen anerkannt
werden, wird jede zweite Studienleistung vergeudet,
weil nicht anerkannt, und werden Studierende demotiviert.
({3})
Die Studierenden dürfen nicht unter einer bürokratischen
und überpeniblen Anerkennungspraxis der Universitäten
leiden, sondern sie brauchen eine grundsätzliche Anerkennungsgarantie.
({4})
All diese Probleme sind übrigens seit längerem bekannt; zahlreiche Studien haben sie belegt. Daher ist es
inakzeptabel, dass Bildungsministerin Schavan die
Kernprobleme nicht zur Kenntnis nimmt, geschweige
denn löst.
Der vierte Bologna-Bericht dieser Regierung ist dafür
ein trauriges Beispiel, weil darin die Problembereiche
systematisch ausgeklammert werden:
Erstens. Die Probleme beim Übergang vom Bachelor
in den Master werden ausgeblendet.
Zweitens. Die Hinweise auf die Akzeptanzprobleme
des Bachelorabschlusses auf dem Arbeitsmarkt sind aus
dem Bericht geflogen; in Zwischenberichten waren dazu
noch kritische Töne zu finden.
Drittens. Die Zahlen zur sozialen Schieflage im Bildungssystem werden verschwiegen.
Wer die Umsetzungsprobleme unter den Teppich
kehrt, gefährdet die Akzeptanz der Reform und verhindert vor allem die notwendigen Korrekturen, die mit allen Akteuren gemeinsam angepackt und fortgesetzt werden müssen.
({5})
Wir wollen, dass der Bologna-Bericht die Realität
endlich differenziert wiedergibt, statt sie schönzufärben.
In allen Folgeberichten muss deshalb belegt werden,
welche Konsequenzen aus den im Jahr zuvor ausgesprochenen Handlungsempfehlungen wirklich gezogen worden sind.
Das gilt insbesondere für die größte Bologna-Baustelle hierzulande: die soziale Öffnung der Hochschulen.
Wir wollen eindeutig mehr Bildungsaufsteiger für ein
Studium erreichen. Dafür brauchen wir deutlich mehr
Studienplätze, eine Verdopplung des Hochschulpakts
und flächendeckend bessere Studienbedingungen. Ihr
Qualitätspakt Lehre, den Sie so gerne anführen, kommt
nur wenigen Hochschulen zugute.
Wir brauchen auch endlich konkrete BAföG-Reformvorschläge, mit denen Bildungsministerin Schavan auf
die Länder zugeht. Die grüne Perspektive eines ZweiSäulen-Modells haben wir hier mehrfach angesprochen.
Der letzte BAföG-Bericht darf nicht einfach in der
Schublade des Ministeriums verschwinden.
({6})
Wir brauchen gezielte Investitionen in die soziale
Infrastruktur an den Hochschulen, also den Ausbau von
Studien- und Sozialberatung, von studentischem Wohnen und der Infrastruktur, zum Beispiel Kinderbetreuung. Hier muss deutlich mehr passieren.
({7})
Die oberste Leitlinie für die soziale Dimension muss
deshalb sein, die gesellschaftliche Vielfalt und Diversity
auf dem Campus zu erhöhen. In diesem Sinne muss Frau
Dr. Schavan gemeinsam mit KMK, Ländern und Hochschulen vor Ort die Ärmel hochkrempeln und handeln.
Nach 13 Jahren den Bologna-Umbauprozess rückabzuwickeln, wie es die Linksfraktion immer wieder fordert, ist falsch und realitätsfern. Bologna muss besser
werden. Das heißt: Überstrukturierung runter und Freiräume zu selbstbestimmtem Lernen rein!
Herr Kollege.
So bekommen wir dann auch in einer angemessenen
Zeit
({0})
eine echte Qualitätsreform hin und nicht nur eine Studienstrukturreform.
({1})
Bekanntlich sind die Auffassungen darüber, was eine
angemessene Redezeit ist, sehr unterschiedlich.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Tankred Schipanski
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Es ist ja nicht die erste bildungspolitische Debatte am heutigen Tage, und es ist insgesamt sicherlich
auch nicht die letzte. Heute geht es um zwei Themen,
zum einen um den vierten Bericht der Bundesregierung
zur Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland
und zum anderen um den SPD-Antrag, den wir bereits in
erster Lesung am 9. Februar in diesem Hohen Hause behandelt haben. Dieser Antrag der SPD ist Bestandteil einer Antragsreihe. Wir haben vorhin gehört: Es kommen
immer neue Pakte, neue Geldgießkannen, aber es ist immer der gleiche Inhalt. Ich darf Ihnen einmal aufzeigen,
dass die Themen, die Sie hier immer wieder vorwurfsvoll, klagend und voller Mitgefühl vortragen, allesamt
abgeräumt sind.
Wenn Sie heute Morgen richtig zugehört haben - das
war ja das reine Wahlkampfschaulaufen Ihrer Landesminister; die haben Sie hier in die Bütt geschickt -,
({0})
dann haben Sie auch mitbekommen, dass unsere Redner,
allen voran die Bundesministerin Schavan und der Fraktionsvize Michael Kretschmer, Sie in die Wirklichkeit
zurückgeholt haben.
({1})
„Wirklichkeit“ heißt, dass der vorliegende Antrag und
viele Ihrer schallplattenartig vorgetragenen Redebeiträge, Herr Schulz, die Sie hier immer wieder leisten,
überholt sind.
({2})
Thema Hochschulbau. Vonseiten des Bundes gab es
heute klare Bekenntnisse. Die Länder sind sich noch uneins.
Thema Kooperationskultur. Vonseiten des Bundes
liegt ein exzellenter Vorschlag auf dem Tisch. Wir warten auf das Votum der Länder.
Thema Hochschulpakt. Der Bund steht klar zu seinem
Wort. Das haben Sie heute Morgen in der Debatte gehört.
({3})
Thema BAföG. Das wurde vor kurzem erhöht.
Meine Damen und Herren, der Bund ist auf die Länder zugegangen. Er steht mit den Ländern in Verhandlungen. Sie sehen: Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht.
({4})
Ein Wort zu Ihnen, Herr Schulz. Sie sprechen hier
ganz groß über studentischen Wohnraum und Kindergärten. Hierbei kommt es doch ganz entscheidend auf die
Kommunen an. Sie unterscheiden nie, ob der Bund, die
Länder oder die Kommunen zuständig sind. Schauen wir
uns einmal Thüringen an. Hier finden gerade Landratswahlen und Bürgermeisterwahlen statt. Herr Rossmann,
wir haben uns heute über die Äußerungen des Thüringer
Kultusministers aufgeregt, der bei den Kommunalwahlen zu rot-roten Bündnissen aufgerufen hat. Er hat heute
nicht als Minister, sondern als Landesvorsitzender der
SPD gesprochen.
({5})
Wie sieht es in der Heimatstadt des Ministers Matschie,
in Jena, aus? In der Stichwahl hat sich der SPD-Bürgermeister wieder durchgesetzt. Ich habe fieberhaft im
Wahlkampf geholfen. Dort gibt es keinen ausreichenden
Wohnraum für Studierende. Man kümmert sich auf kommunaler Ebene anscheinend nicht um diese Dinge.
Lassen Sie mich zum vierten Bologna-Bericht der
Bundesregierung kommen. Wir haben gehört - Staatssekretär Braun hat das an vielen Beispielen eindrucksvoll aufgezeigt -: Wir sind auf einem guten Weg, und
das, obwohl wir Studienanfängerzahlen haben, von denen wir damals gar nicht zu träumen wagten. Natürlich
gibt es noch Handlungsbedarf. Aber es ist oftmals nur
Handlungsbedarf, bei dem gesetzgeberisches Wirken
nicht möglich ist. Es liegt gerade in der Autonomie der
Hochschulen, wie ein Studiengang strukturiert wird, wie
Fristen für das Einschreiben in Seminare festlegt werTankred Schipanski
den, wann eine Klausur gestellt wird und wie viele Klausuren geschrieben werden. Ob eine Klausur am Semesteranfang korrigiert sein muss oder nicht, kann man doch
nicht gesetzlich bestimmen. Das liegt in der Organisationshoheit der Hochschule. Hier können wir nur für Effizienz werben und die Verwaltungen sensibilisieren.
Auf Ihrem Wunschzettel steht auch Etliches zu den
Masterstudiengängen; das Thema musste heute erwähnt
werden. Wir haben dazu einen festen Standpunkt: Jeder,
der die Leistung bringt, soll einen Masterstudienplatz erhalten.
({6})
Das geschieht in dem Bewusstsein, dass es beim Master
um eine wissenschaftliche Vertiefung geht. Der Regelabschluss ist der Bachelor. Dazu haben Sie heute die Fakten gehört. Bachelorabsolventen sind seltener arbeitslos
({7})
und werden seltener unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt. Auf dem Arbeitsmarkt ist die Akzeptanz für diesen Abschluss vorhanden. Es gibt zum Beispiel Aktionen wie „Bachelor Welcome“ vonseiten der
deutschen Wirtschaft.
Die Frage der Masterstudienplätze muss fachspezifisch
beantwortet werden. Natürlich gibt es Studiengänge, bei
denen der Master als Regelabschluss empfehlenswert ist.
Doch unsere differenzierte Hochschullandschaft macht
auch hier differenzierte Angebote. Ich freue mich, dass
es vor allem durch das Engagement Deutschlands auf
der Bologna-Konferenz erstmals gelungen ist, festzuschreiben, dass es beim Bachelor nicht nur um Beschäftigungsfähigkeit geht, sondern dass es auch um das Studienziel der Allgemeinbildung geht, so wie wir das in
Deutschland im Sinne des Humboldt’schen Bildungsideals kennen.
Abschließend ein Blick auf die Mobilität. Ein wichtiger Schwerpunkt der Konferenz in Bukarest war die weitere Stärkung der internationalen Mobilität. Auslandsaufenthalte sind gerade für junge Menschen eine tolle
Gelegenheit, um sprachliche und kulturelle Erfahrungen
zu sammeln und sich persönlich weiterzuentwickeln. Im
Jahr 2009 ist die Zahl der deutschen Studierenden im
Ausland - nicht zuletzt dank der Mobilitätsförderung
durch den DAAD und das Auslands-BAföG - auf
115 500 gestiegen.
({8})
Entscheidend ist für die jungen Menschen aber, dass der
im Ausland erworbene Abschluss bzw. die dort erworbenen Scheine - darauf hat der Kollege Gehring zu Recht
hingewiesen - hier anerkannt bzw. angerechnet werden.
Hier haben wir noch ein Stück Arbeit vor uns; da haben
Sie völlig recht.
Ich bin aber überzeugt davon, dass wir auf einem guten Wege sind. Ich freue mich bereits auf die nationale
Bologna-Konferenz, die im Herbst stattfinden wird,
({9})
um weiterhin mit allen Akteuren in einem intensiven
Dialog zu bleiben.
Vielen Dank.
({10})
Der Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann hat jetzt das
Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Braun, über den Bologna-Prozess ist
differenziert gesprochen worden. Darum möchte ich
noch einmal für den besonderen Akzent werben, den
wir mit unserem Antrag „Die soziale Dimension von
Bologna stärken“ in die Diskussion hineinbringen wollen.
Dieser soziale Akzent begründet sich auf eine Tatsache, die auch beim Staatssekretär anklang. Früher hatten
wir Studienabbrecherquoten von rund 20 Prozent zu verzeichnen. Wir mussten feststellen, dass diese Zahl bei
den Fachhochschulen dramatisch nach oben und jetzt
wieder nach unten gegangen ist. Bei den Universitäten
liegt diese Quote leider immer noch auf einem zu hohen
Niveau.
Wenn die Bundesregierung im Hinblick auf die Verbesserung der Qualität der Lehre diesen Gesichtspunkt
aufgenommen hat, ist das sicherlich eine gute Initiative;
darüber müssen wir gar nicht streiten. Aber das ist nicht
der einzige Gesichtspunkt. Im Anschluss an die Debatte
im Februar wurde uns seitens der Wissenschaft aufgezeigt, wie sich der Stress an den Hochschulen bei den
Studierenden niederschlägt, unter anderem mit markanten Untersuchungsergebnissen, die aufzeigen, wie viele
Medikamente genommen werden, um mit dem Stress
klarzukommen.
Ich finde, das ist nicht banal, sondern das ist ein Ausdruck für das Phänomen einer Überlastung, das sich speziell an den Universitäten zeigt. Wenn dieses Phänomen
von uns mit unserer Vorstellung von besseren Studierund Arbeitsbedingungen angegangen wird, dann ist das
wichtig und nicht in Bezug auf das BAföG zu diffamieren.
Genauso wichtig ist es, die Studierenden in Bezug auf
ihre Wohnbedürfnisse zu unterstützen. Hier ist Stress im
Grunde vorprogrammiert. Einerseits freuen wir uns, dass
es inzwischen 2,2 Millionen Studierende gibt; andererseits wissen wir aber auch, dass es zu Problemen kommen wird, wenn das Wohnungsangebot nicht entsprechend mitwächst.
Es geht darum, mitzudenken und nicht nur die Zahlen
für sich alleine zu betrachten. Wir müssen uns überlegen, was das Ganze im Hinblick auf das BAföG, die
Wohnraumproblematik, die wachsenden Bedarfe an Studienberatung oder die Unterstützung in Stresssituationen
und psychischen Belastungssituationen bedeutet. Das
meinen wir, wenn wir von der sozialen Dimension sprechen.
Diese Dimension kommt auch noch an einer anderen
Stelle zum Tragen, die ich noch kurz erwähnen darf. Wir
freuen uns, dass nicht nur bei der Zahl der Studierenden,
die aus Deutschland ins Ausland gehen, ein Anstieg zu
verzeichnen ist, sondern dass auch mehr ausländische
Studierende zu uns nach Deutschland kommen. Bei dieser Gruppe gibt es jedoch besonders hohe Abbrecherquoten zu verzeichnen; diese Studierenden haben beispielsweise große Schwierigkeiten, Wohnraum zu finden
oder im Studium zurechtzukommen. Auch das meinen
wir, wenn wir von sozialer Dimension sprechen.
Seit der Februarinitiative haben wir lediglich von den
Repräsentanten der Studentenwerke zusätzliche Verstärkung bekommen, die sagen, dass sich die Kommunen,
die Länder, aber auch der Bund mit engagieren müssen.
Auch wenn Sie unseren Antrag heute ablehnen, wird Ihnen das Problem letztlich keine Ruhe lassen. Das Thema
liegt auf Wiedervorlage; wir von den Sozialdemokraten
bleiben am Ball.
({0})
Im Februar hat es eine interessante Äußerung seitens
der Bundesbildungsministerin gegeben. Am 23. Februar
2012 hat Frau Schavan gesagt: „Die Politik hat Fehler
gemacht.“ In diesem Zusammenhang hat sie deutlich gesagt, was bei der Studienreform falsch gelaufen ist, zum
Beispiel die Verkürzung der Reform auf ökonomische
Aspekte.
Die Ministerin hat darauf hingewiesen, dass sie eine
Expertenkommission einberufen hat. Diese Kommission
besteht allerdings aus nur drei Professoren, die die Bildungsidee wieder in das Studium nach der BolognaStruktur hineindenken sollen, Stichworte: Humboldt,
Bildung durch Wissenschaft. Herr Kollege Braun, wir
sagen Ihnen: Sie sollten parallel dazu auch eine Studentenkommission einberufen,
({1})
um die Bologna-Konferenz im Herbst nicht mit dem alten Fehler zu belasten, den die Ministerin schon einmal
begangen hat, als sie den studentischen Weckruf „Macht
keine Fehler bei Bologna!“ als gestrig bezeichnet hat.
Noch ist es nicht zu spät, noch haben Sie die Chance, die
nächste Bologna-Konferenz auch über die studentische
Seite mit vorbereiten zu lassen.
Meine Schlussbemerkung: Wenn wir dahin kommen
wollen, dass Bildung durch Wissenschaft in der BolognaStudierstruktur wieder stärker mit einer gemeinsamen
Bildungsidee einhergeht, dann kann das nicht allein die
Weltbürgeridee sein, wie sie bei Ihnen durchklang. Wir
glauben, dass Bologna ein europäischer Hochschulraum
ist. Darum muss auch eine europäische Bildungsidee damit einhergehen. Dann hätte Bologna auch eine Solidaritätsidee.
Im Zuge der Austeritätspolitik, die manche Länder
derzeit leider erleben müssen - Portugal, Spanien, Griechenland -, stellen wir fest, dass dort vor allen Dingen
an der Bildung gespart wird und sich die Bedingungen
an den Hochschulen verschlechtern.
({2})
Herr Kollege.
Thema einer nächsten Bologna-Konferenz kann auch
sein - das wollten wir Ihnen gerne mitgeben -: Wie
schafft man in allen Ländern die Chance, Bildung in Bezug auf den europäischen Erfahrungsraum positiv zu erleben? Denn Bologna ist gemeinsames Studieren, und
Bologna ist auch Solidarität.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage
auf Drucksache 17/8640 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse zu überweisen. Damit sind Sie
einverstanden? - Dann ist es so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Die soziale Dimension von Bologna stärken“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9604, den Antrag abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitions-
fraktionen. Die SPD-Fraktion hat dagegen gestimmt,
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke haben sich ent-
halten.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 a bis c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth ({0}), Dr. Barbara Hendricks,
Dr. Bärbel Kofler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ute
Koczy, Uwe Kekeritz, Thilo Hoppe und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neuausrichtung der Europäischen Entwick-
lungspolitik für mehr Kohärenz und wirksame
Armutsbekämpfung
- Drucksache 17/9553 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Hübinger, Sibylle Pfeiffer, Peter Altmaier, weite-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht,
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga Daub,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Neuausrichtung der EU-Entwicklungs-
politik - Für eine wirksame, ergebnisorien-
tierte, länder- und regionenspezifische euro-
päische Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 17/9424 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union - Partnerschaft statt interessengeleitete Bevormundung
- Drucksache 17/9461 Hier ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Karin Roth hat das Wort
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Es ist spät am Abend. Trotz allem ist dieses Thema wichtig, weil es bei der europäischen Entwicklungspolitik im wahrsten Sinne des Wortes auch um
eine neue Zeit innerhalb der Europäischen Union geht.
Das müssen wir wahrnehmen, wenn wir über Entwicklungspolitik reden. Natürlich geht es in Europa zurzeit
vor allem um die Stabilisierung der Finanzen und der
Wirtschaft. Es geht aber auch um Entwicklungspolitik,
weil Wirtschaft und Entwicklung zusammengehören.
Die Europäische Union und ihre 27 Mitgliedstaaten
waren im Jahr 2010 mit zusammen rund 54 Milliarden
Euro der weltweit größte Geber öffentlicher Mittel für
die Entwicklungszusammenarbeit. Damit diese Mittel
auch die größtmögliche Wirkung bei der Armutsbekämpfung erzielen, sind jedoch eine bessere Abstimmung und eine klare Arbeitsteilung innerhalb der Europäischen Union erforderlich, um Doppelstrukturen zu
vermeiden. Dazu brauchen wir mehr Kohärenz in den
einzelnen Politikbereichen und vor allen Dingen mehr
Transparenz und eine bessere Koordinierung.
({0})
Hier kommt der Europäischen Union eine Schlüsselfunktion zu, indem die Kommission innerhalb der Europäischen Union gemeinsam mit allen Mitgliedstaaten die
Strategien, Ziele, Programme und Schwerpunkte festlegt. Die angestrebten differenzierten Entwicklungspartnerschaften und die Konzentration auf die am wenigsten
entwickelten Länder und auf Subsahara-Afrika sollten
daher die Leitlinie für die Mitgliedstaaten sein und die
Politik auch in unserem Land bestimmen.
Angesichts der Neuorientierung der europäischen Außenpolitik, die die Entwicklungspolitik besonders mitbestimmt - wir haben nur noch nicht richtig wahrgenommen, dass das in Europa zusammengehört -, und vor
allen Dingen angesichts der Verlagerung von Aufgaben
aus den Mitgliedstaaten auf die europäische Ebene, in
multilaterale Politikfelder kommt es darauf an, dass wir
in Europa unsere Stimme erheben, und zwar auch parlamentarisch und nicht nur durch die Regierungen.
({1})
Eine starre Quote bei der bi- und multilateralen finanziellen Zusammenarbeit, wie sie sich die Bundesregierung derzeit noch auferlegt, ist aus meiner Sicht für die
Europäische Union und die europäische Ebene nicht
handlungsleitend, sondern eher fesselnd. Daher sollte sie
aufgehoben werden.
({2})
Eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung der einzelnen Förderbereiche innerhalb der Europäischen
Union und der multilateralen Institutionen - zum Beispiel WHO, Globaler Fonds oder Weltbank -, also der
beiden Ebenen zusammen, sind die Herausforderungen,
die wir bewältigen müssen. Das ist kompliziert; gar
keine Frage. Wenn wir das nicht schaffen, sind wir nicht
effizient und agieren nicht im Interesse der Menschen in
den Entwicklungsländern.
Dem Ministerrat kommt hierbei eine besondere Aufgabe zu. Deshalb beobachten wir im Entwicklungsausschuss die Politik des Ministerrates.
Die SPD begrüßt die Neuausrichtung der europäischen Entwicklungspolitik, die eine stärkere Armutsbekämpfung und vor allen Dingen mehr Kohärenz
vorsieht. Vor dem Hintergrund, dass die acht Millenniumsziele nicht erreicht worden sind, ist die Konzentration auf die Armutsbekämpfung im Zusammenhang mit
der Programmierung unserer Politik besonders wichtig.
Darüber sind wir uns im Ausschuss fast immer einig.
Ich bin sicher, dass die Weiterentwicklung der Millenniumsziele auf der Basis der Verwirklichung der Menschenrechte und verantwortungsvoller Staatsführung zu
einem nachhaltigen und breitenwirksamen Wachstum
führen wird. Eine Voraussetzung dafür ist - das kann ich
Ihnen heute Abend nicht ersparen -, dass die zugesagten
Finanzmittel von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
bis 2015 nicht nur von der Europäischen Union erreicht
werden müssen, sondern vor allen Dingen auch von uns.
({3})
Aber wir wissen schon jetzt, dass das Deutschland trotz
aller Lippenbekenntnisse nicht erreichen wird. Ich sage
es noch einmal deutlich: Die schwarz-gelbe Regierung
hat an dieser Stelle versagt, obwohl wir eine große
Mehrheit im Bundestag haben, die dieses Ziel unterstützt. Schade darum! Das ist wenig glaubwürdig.
({4})
Karin Roth ({5})
Umso mehr begrüßen wir es, dass die Europäische
Kommission an dem vereinbarten Ziel festhält und sogar
einen Stufenplan vorgelegt hat. In diesem Zusammenhang begrüßen wir es auch, dass die Kommission die oft
umstrittene Budgethilfe ausdrücklich als einen wichtigen
Baustein für Infrastruktur vor allen Dingen beim Aufbau
von sozialen Sicherungssystemen in den Ländern erachtet und sich dazu bekennt.
Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass die allgemeine und sektorale Budgethilfe jenseits von einzelnen
multilateralen und bilateralen Programmen für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Parlamente ein
wichtiges Instrument ist. Sie hat also nicht nur eine Wirkung im wirtschaftlichen, sondern auch im politischdemokratischen Sinne. Sie ist deshalb aus meiner Sicht
ein Instrument, das wir weiterführen müssen.
({6})
Wir erwarten allerdings von der Europäischen Union,
dass die Frauenförderung als Querschnittsaufgabe überall verwirklicht wird. Das ist in den einzelnen Ländern
schwierig - das wissen wir -, aber gerade deshalb müssen wir umso mehr dafür sorgen, dass die Gender-Frage
im Rahmen der Budgethilfe und der Programmierung in
den Mittelpunkt gerückt wird. Frauen - das ist keine
Frage - sind der Motor für die Entwicklung. Das haben
wir oft genug in diesem Parlament erwähnt.
({7})
Zudem muss das Parlament in den jeweiligen Partnerländern in den Prozess integriert werden. Bei unseren
Bundestagsreisen erfahren wir oft, wie wichtig es ist,
dass das Parlament an Kompetenz gewinnt, so wie wir
das zumindest in Deutschland gewöhnt sind, und nicht
außen vor bleibt. Es besteht die große Chance, innerstaatliche Transparenzsysteme aufzubauen, zum Beispiel
einen Rechnungshof. Es wäre ein Grund zum Feiern,
wenn das gelingen würde, aber auch wenn die Zivilgesellschaft in die Lage versetzt würde, Haushalte zu lesen
und darüber zu diskutieren, wie das zur Verfügung stehende Geld verwendet wird.
Kürzlich hat mir bei einem Aufenthalt in Sambia der
deutsche Botschafter bestätigt, wie wichtig das Instrument der Budgethilfe in den Regierungsverhandlungen
ist. Er betont, dass es in diesem Zusammenhang um eine
Partnerschaft auf Augenhöhe geht. Es ist wichtig, dass
die Geberländer gemeinsam mit den Partnerländern entsprechende Schritte machen, aber auch eine Evaluation
durchführen, wodurch eine neue Kompetenz in der Politik entsteht. Das ist meiner Meinung nach der eigentliche
Mehrwert der Budgethilfe: Sie organisiert gegenseitiges
verlässliches Vertrauen.
({8})
Kohärenz spielt aber nicht nur im Bereich der Entwicklungshilfe, sondern auch in allen anderen Bereichen
eine Rolle. Sie ist nicht nur für den Bereich erneuerbare
Energien wichtig, sondern auch für den Klimaschutz,
faire Handelsbeziehungen und Rohstoffabkommen. Es
bringt nichts, wenn wir nur innerhalb der Entwicklungspolitik auf Kohärenz achten. Die Politikfelder insgesamt
müssen kohärent sein. Ich denke, dass das nicht nur unsere Aufgabe ist, sondern auch Aufgabe der Europäischen Union.
({9})
In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass
ich sehr froh darüber bin, dass es die Richtlinie der EU
zur sozialen Verantwortung der Unternehmen, die neue
CSR-Strategie, gibt. Sie ist ein wichtiges Element, wenn
es darum geht, unsere Arbeit für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und gegen Ausbeutung und Kinderarbeit zu unterstützen. Ich denke, wenn wir all dies bedenken, wird ein Schuh daraus.
Frau Kollegin Roth.
Ich freue mich sehr darüber, dass wir diesen Antrag
heute gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen auf den
Tisch gelegt haben.
Frau Kollegin?
Ich habe gehofft, dass wir gemeinsam mit CDU/CSU
und FDP einen Antrag vorlegen. Ich hatte mir das sehr
gewünscht. Differenzen sind zwar vorhanden, aber sie
sind nicht so groß, dass man sich nicht hätte einigen können.
Frau Kollegin!
Stimmen Sie heute Abend einfach zu. Das wäre nicht
so schlecht.
({0})
In diesem Sinne wünsche ich uns, dass wir diese Beratungen fortsetzen.
Frau Kollegin, auf jeden Fall setzt sich Ihre Redezeit
jetzt nicht mehr weiter fort.
Frau Präsidentin, ich danke Ihnen.
Ich glaube schon, dass es gelungen wäre,
({0})
wenn wir alle das hätten schaffen wollen. Ich hoffe auf
bessere Zeiten.
({1})
Die Kollegin Anette Hübinger hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Roth, wir
hätten das vielleicht geschafft. Aber erinnern Sie sich
einmal an eine bestimmte Ausschusssitzung: Die Hand,
von der man gestreichelt werden will, sollte man nicht
beißen!
({0})
Das ist der Grund, warum man manchmal nicht zusammenfindet, obwohl man es gerne würde.
({1})
Dennoch freue ich mich, dass wir heute diese Debatte
führen. Ich kann nachvollziehen, dass Sie sie lieber zu
einem anderen Zeitpunkt als jetzt, am späten Abend, geführt hätten; denn in dieser Debatte setzen wir uns mit
einem Politikbereich auseinander, der in Zukunft auch
für unsere nationale Entwicklungszusammenarbeit von
Bedeutung sein wird. Diese Debatte unterstreicht auch
die Bedeutung der Europäischen Union im Rahmen des
entwicklungspolitischen Handelns. Sie verdeutlicht ferner, welche Aufgaben, aber auch Chancen, für Europa,
Deutschland und unsere Partnerländer, in der Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit liegen und
was eine gute partnerschaftliche Zusammenarbeit bedeutet. Dabei geht es auch um die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern, die wir unterstützen.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten werden in ihrem
Handeln von Menschenrechten und Werten wie Freiheit,
Gleichheit, Demokratie sowie Rechtsstaatlichkeit geleitet. Um diese Werte weiterzutragen, ist ein gemeinsames
Auftreten der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten ein Gebot der Zeit, zumal die EU - Frau Roth hat das
ja schon betont - gemeinsam mit den Mitgliedstaaten
mehr als die Hälfte der Mittel für die weltweite Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellt.
Zum Jahreswechsel hat die Kommission erneut - man
muss sagen: erneut - wegweisende Dokumente zur Entwicklungszusammenarbeit und zur Budgethilfe vorgelegt. Das ist ein weiterer Versuch, die europäische Entwicklungszusammenarbeit, deren oberstes Ziel die
Armutsreduzierung ist, zwischen EU und Mitgliedstaaten abzustimmen und damit gezielter, wirksamer und ergebnisorientierter zu gestalten. Das ist eine Herausforderung, die angesichts der Situation in den Entwicklungsländern, aber auch - mit Blick auf die Finanzkrise - angesichts der Situation in den Geberländern ein Gebot der
Zeit ist. Diese Herausforderung muss endlich angepackt
werden.
Bereits vor 20 Jahren wurde die Verpflichtung, das
entwicklungspolitische Handeln nach den Grundsätzen
der Komplementarität, der Kohärenz und der Koordination auszurichten, im Maastricht-Vertrag festgeschrieben. Zwischenzeitlich wurden immer wieder neue Vereinbarungen dazu getroffen: in 2006 der European
Consensus on Development, 2007 der Code of Conduct,
und 2009 wurden diese Grundsätze im Lissaboner Vertrag und im Vertrag über die Arbeitsweise der EU festgeschrieben.
Trotz all dieser Übereinkünfte - so haben Untersuchungen gezeigt -, hat die EU in der Entwicklungszusammenarbeit beim Spezialisierungsgrad und bei der
Vermeidung von Überschneidungen keinen signifikanten
Fortschritt erzielt. In einer ihrer letzten Mitteilungen zur
Handelspolitik hat die Kommission sogar einräumen
müssen, dass sie im Hinblick auf zwei ihrer Kernkompetenzen, nämlich der Politikkohärenz und der Regionalisierung des Handels, in der Entwicklungszusammenarbeit große Defizite aufweist. Auch die letzten Berichte
des Europäischen Rechnungshofes zu Bildung und Gesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit zeigen
dringenden Handlungsbedarf auf.
({2})
Es bedarf also weiterer europäischer, aber auch nationaler Anstrengungen, um allen vertraglich verankerten
Handlungsmaximen gerecht zu werden.
({3})
Deutschland hat zwar in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahren eine stärkere
Sektor- und Länderfokussierung erzielt; das allein reicht
aber nicht aus. Dieser neue Versuch der Kommission
darf daher nicht zu einem weiteren Lippenbekenntnis
werden. Worten müssen Taten folgen. Ansonsten verspielen wir, das heißt die EU und die Mitgliedstaaten,
die europäische Reputation im entwicklungspolitischen
Bereich.
Wir brauchen endlich ein abgestimmtes arbeitsteiliges
Miteinander der EU mit den Mitgliedstaaten und der
Mitgliedstaaten untereinander. Wir brauchen ein Miteinander wie in einem Mannschaftsspiel, in dem jeder
Spieler seine Rolle kennt und konsequent spielt. Wir
brauchen eine gut aufgestellte EU, die Politikkohärenz
in allen Bereichen zugunsten einer effektiven Entwicklungspartnerschaft als Dreh- und Angelpunkt ihres Handelns begreift. Hierzu bieten die Vorschläge der Kommission eine gute Grundlage. Ausdrücklich begrüßen
wir daher, dass sich die EU in der Entwicklungszusammenarbeit auf eine kleinere Anzahl von Staaten beschränken und sich auf die am wenigsten entwickelten
Staaten konzentrieren will. Da haben wir einen Konsens.
Auch die Konzentration auf maximal drei Bereiche
pro Land, in denen sie die größte Wirkung erzielen kann,
unterstützen wir; denn das befördert die erforderliche
Spezialisierung. Wir begrüßen auch die differenzierte
Herangehensweise in Entwicklungspartnerschaften auf
der Basis von Länderstrategien, die gemeinsam mit den
Partnerländern erstellt werden, sowie die gemeinsame
Programmierung mit den Mitgliedstaaten. Die geplante
zeitliche Abstimmung der gemeinsamen Programmierung mit den Strategiezyklen der Partnerländer ist sicherlich wegweisend. Wir begrüßen nicht zuletzt die an21202
gestrebte Vereinfachung und Flexibilisierung der Finanzinstrumente und die stärkere Fokussierung auf Programme und Maßnahmen, die ein breitenwirksames und
nachhaltiges Wachstum fördern. Schließlich begrüßen
wir die Konditionierung der allgemeinen und sektoralen
Budgethilfe.
Diese Ansätze unterstreichen die Ownership der Partnerländer, und sie vermeiden Überschneidungen der Programme und Projekte. Sie beinhalten aber auch die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, ihrerseits die nationale
Entwicklungszusammenarbeit genauer unter die Lupe zu
nehmen. Diese muss sich stärker an der eigenen Expertise ausrichten und spezialisieren. Länderlisten müssen
abgestimmt aufgestellt werden, damit keine Geberwaisen entstehen.
Inhalte und Ausgestaltung der Zusammenarbeit werden maßgeblich durch die Aufgabenverteilung und die
Struktur des Zusammenwirkens von EU und Mitgliedstaaten bestimmt. Maßstab sind dabei immer Armutsreduzierung, Wahrung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung. Wo der Rahmen nicht
stimmt, ist die Gefahr groß, dass die entwicklungspolitischen Maßnahmen ihre Wirkung nicht voll entfalten.
Das ist die Lehre, die wir aus der Vergangenheit ziehen
müssen. Daher fokussiert sich der Antrag der christlichliberalen Koalition auch auf die Ausgestaltung des Miteinanders, um endlich die gewünschte Effizienz, Kohärenz und Kompatibilität sowie Synergieeffekte in der
Entwicklungszusammenarbeit zwischen der EU und den
Mitgliedstaaten zu erreichen.
({4})
Wir sind der Ansicht, dass die neuen Mitteilungen der
Europäischen Kommission zur Entwicklungspolitik, die
viele Aspekte und Ansätze der deutschen Entwicklungszusammenarbeit enthalten, noch weiter konkretisiert
werden müssen. Dies erscheint uns besonders unter dem
Gesichtspunkt einer größeren Akzeptanz der Aufgabenverteilung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten,
aber auch zur Erreichung von mehr Wirksamkeit und
Transparenz geboten.
Folgende vier Punkte aus unserem Antrag möchte ich
deshalb hervorheben:
Erstens. Eine klare Abgrenzung der Aufgabenfelder
ist notwendig. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass
sich die EU lediglich als 28. Geber in den Reigen der
27 Mitgliedstaaten einreiht. Vielmehr sollte die Europäische Union ihre Stärke in den Vordergrund rücken, die in
einem Mehrwert ihres Handelns aufgrund ihrer Kompetenz und ihrer Finanzkraft gerade in Bezug auf große
Strukturmaßnahmen und regional übergreifendem Handeln besteht.
Zweitens. Um eine Entwicklungszusammenarbeit aus
einem Guss zu erreichen, muss die EU die Expertise der
Mitgliedstaaten verstärkt einbinden. Gerade bei der Aufstellung der Länderstrategien und der geplanten gemeinsamen Programmierung sowie bei der Durchführung der
Maßnahmen ist deren Mitwirkung unerlässlich.
Drittens. Dasselbe gilt auch bei der Vergabe und Kontrolle der Budgethilfe, die immer wieder Anlass für teilweise sehr kontrovers geführte Diskussionen ist. Die
Mitgliedstaaten müssen künftig auf Basis ihrer Länderkenntnis mitentscheiden können, ob die Voraussetzungen zur Vergabe von Budgethilfe der EU an ein Partnerland gegeben sind, um eine bessere Rückkopplung zu
ihrer eigenen nationalen Handhabung der Vergabe zu haben.
({5})
Auch bedarf es einer Nachjustierung bei der Vergabe
der sektoralen Budgethilfe. Allgemeine und sektorale
Budgethilfe müssen derselben Konditionierung unterliegen; denn beide sind Anreize zur Förderung einer guten
Regierungsführung. Nur so kann ein einheitliches und
transparentes Verfahren bei diesem Finanzinstrument sichergestellt werden. Ginge man nach unterschiedlichen
Kriterien vor, wäre die Gefahr groß, dass grundlegende
Voraussetzungen zum Erhalt von Budgethilfe wie Achtung der Menschenrechte, Demokratiestandards und
Rechtsstaatlichkeit umgangen werden, indem die weniger konditionierte sektorale Budgethilfe in Anspruch genommen wird.
Viertens. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Einbindung des Europäischen Entwicklungsfonds in den allgemeinen Finanzrahmen, ohne dabei die gesamten Mittel
der Entwicklungszusammenarbeit auf europäischer Ebene
zu reduzieren. Dies ist ein Gebot der Haushaltsklarheit
und der parlamentarischen Kontrolle und muss strikt
weiterverfolgt werden.
({6})
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ich bitte Sie, unsere Forderungen gemeinsam mit Herrn Minister Niebel
auf den Weg zu bringen.
({7})
Wir sind überzeugt, dass er diese Forderungen nächste
Woche im Ministerrat mit Verve vertreten wird und mit
Sicherheit auch seine Kolleginnen und Kollegen dort
überzeugen kann.
Herzlichen Dank.
({8})
Heike Hänsel hat das Wort für die Fraktion die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über die Neuausrichtung der europäischen Entwicklungszusammenarbeit
unter der Überschrift „Agenda für den Wandel“. Dies geschieht in einer Zeit, in der sich die Europäische Union
in ihrer größten finanziellen und wirtschaftlichen Krise
befindet. Das europäische Integrationsmodell hat mit der
Lissabon-Strategie auf ein neoliberales Wirtschaftsmodell gesetzt, mit der Konkurrenz - jetzt muss vor allem
die FDP gut zuhören - um die niedrigsten Löhne, die
niedrigsten Steuersätze und die niedrigsten Sozialstandards, verbunden mit Deregulierung, Liberalisierung
und der größtmöglichen Freiheit für Kapital und Unternehmen. Wir müssen feststellen: Die Krise zeigt, dass
dieses Modell gescheitert ist.
({0})
Wenige Länder profitieren davon, aber die Mehrheit verliert.
Nun will die EU ausgerechnet in der Entwicklungszusammenarbeit diese gescheiterten Instrumente für die
Armutsbekämpfung einsetzen. Im Papier der Kommission steht: Wachstum, gutes Geschäftsklima,
({1})
Handelsliberalisierung,
({2})
Stärkung des Privatsektors,
({3})
Integration der ärmsten Länder in den Welthandel,
({4})
Ausweitung privat-öffentlicher Projekte,
({5})
noch mehr Freihandelsabkommen usw.
({6})
Diese ganze verfehlte Politik unter der Überschrift
„Agenda für den Wandel“ soll also auf die Länder des
Südens ausgeweitet werden.
({7})
Das ist in unseren Augen ein Programm für mehr Armut
und nicht für Armutsbekämpfung.
({8})
Daneben sollen auch noch die Finanzmärkte, die ja
selbst gerade durch enorme Spekulationen mit Nahrungsmitteln und Agrarrohstoffen zur weltweiten Armut
beigetragen haben, in Bezug auf die Finanzierungsinstrumente eine größere Rolle spielen. Auch das ist völlig kontraproduktiv.
({9})
So beurteilt zum Beispiel auch CONCORD, ein
Bündnis europäischer Entwicklungsorganisationen,
diese Agenda für den Wandel mit den Worten: Die EU
betreibt mit diesem Konzept statt Armutsbekämpfung in
Entwicklungsländern eine Politik für ihre eigenen Interessen und für die eigene politische Ausrichtung, die
durch sie dominiert wird und nicht die Mitbestimmung
der Entwicklungsländer in den Mittelpunkt stellt. - Die
Mittel fließen in Investitionen im Energie- und im Privatsektor,
({10})
die eben auch vor allem im Interesse der Europäischen
Union liegen.
CONCORD warnt auch davor,
({11})
dass die Reduzierung der Entwicklungszusammenarbeit
zum Beispiel für Mitteleinkommensländer ein großes
Risiko darstellt, da dort 75 Prozent der Armen weltweit
leben und die soziale Ungleichheit in diesen Ländern
teilweise größer ist als in Niedrigeinkommensländern.
Das zeigt sich übrigens auch im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU. Auch hierzu gibt es Reformvorschläge. Insgesamt wird jedoch weiterhin stark auf
den Export in die Länder des Südens gesetzt, der die
Existenz von Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern gefährdet und deshalb nicht armutsbekämpfend ausgerichtet ist.
({12})
Wir begrüßen grundsätzlich das Mittel der Budgethilfe. Wir halten es für ein sehr zukunftsweisendes Instrument zur Armutsbekämpfung. Es kann selbstbestimmte Entwicklungen und vor allem auch den Aufbau
von sozialen Sicherungssystemen und Gesundheitssystemen ermöglichen, aber nur dann, wenn es eben nicht als
Sanktionsinstrument benutzt wird
({13})
und die EU nicht von vornherein vorschreibt, wie die
Länder ihre Politik ausrichten sollen - gegen diese Bevormundung wehren wir uns -, sondern wenn diese Länder ihre politische und wirtschaftspolitische Ausrichtung
und die Richtung, in die sie gehen wollen, selbst bestimmen können.
({14})
Wir haben hier - das finde ich interessant - vor über
einer Stunde über einen Bericht der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ debattiert.
In dem Bericht wird Wachstum als politisches Ziel des
21. Jahrhunderts infrage gestellt und ausgeführt, dass
wir hier im Norden, wenn wir in den Ländern des Südens ernsthaft die Entwicklung voranbringen wollen,
weg müssen von diesem Wachstumswahn und diesem
enormen Rohstoffverbrauch. Das findet sich in dieser
Agenda aber leider nicht wieder. Das halten wir für ein
großes Problem.
({15})
Weg von der Profitorientierung: Das ist im Grunde
das Gebot der Stunde. Weg von der Profitmaximierung
hin zu einer Politik des sozialen Ausgleichs und der Solidarität: Das wäre eine Antwort auf die Krise in Europa
und für mehr Entwicklung in den Ländern des Südens.
Es gibt übrigens weltweit Initiativen, die dafür auf die
Straße gehen. Nächste Woche werden Tausende von
Menschen in Frankfurt zur Blockupy kommen. Ich kann
nur dazu aufrufen: Kommt alle hin!
Danke.
({16})
Harald Leibrecht hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäische Union ist weltweit der größte Geber in der Entwicklungszusammenarbeit. Im Jahre 2010 belief sich das
Budget innerhalb der EU auf über 50 Milliarden Euro.
Frau Hänsel, ich glaube, Sie sind hier auf dem falschen
Dampfer, wenn Sie sagen, dass das, was die EU hier leistet, nicht zielführend ist.
({0})
Die Europäische Union stellt mit der geplanten Neuausrichtung ihrer Entwicklungspolitik die richtigen Weichen hin zu größerer Wirksamkeit, verbesserter Koordinierung, effizienterem Mitteleinsatz und der Förderung
von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Mit der Agenda für den Wandel wird die Ausrichtung auf die Armutsbekämpfung bekräftigt und gleichzeitig ein stärkerer Fokus auf die Beseitigung der
Ursachen von Armut gelenkt. Die Förderung von breitenwirksamem und nachhaltigem Wachstum spielt in
diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle.
Die EU-Entwicklungspolitik soll zukünftig gezielt
den Aufbau lokaler privatwirtschaftlicher Strukturen unterstützen,
({1})
so zum Beispiel durch die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen oder durch den erleichterten Zugang zu
Wirtschafts- und Finanzdienstleistungen. Nur so können
Arbeitsplätze entstehen und die Menschen sich selber
aus ihrer Armut befreien.
({2})
Mit der Neuausrichtung sendet die Europäische
Union aber nicht nur ein wichtiges Signal nach außen,
sondern auch nach innen; denn im Kontext der EuroKrise, in der die Mitgliedstaaten selber enorme Sparanstrengungen unternehmen, um ihre Staatsverschuldungen zu senken, steht die Europäische Union stärker denn
je in der Verantwortung, ihre Entwicklungszusammenarbeit transparenter, wirksamer und effizienter zu gestalten. Ich sage das nicht zuletzt deshalb, weil wir als
Entwicklungspolitiker natürlich nicht wollen, dass in
Krisenzeiten als Erstes die Entwicklungszusammenarbeit dem Rotstift zum Opfer fällt. Deshalb ist es besonders wichtig, dass die Entwicklungszusammenarbeit gezielter, wirksamer und ergebnisorientierter wird.
({3})
Mit dem vorliegenden Antrag möchten die Koalitionsfraktionen mit Blick auf den EU-Entwicklungsministerrat am 14. Mai dieses Jahres das Signal senden,
dass wir den neuen Kurs der Europäischen Union unterstützten. Unser Dank gilt Bundesminister Niebel, der die
deutsche Position auf EU-Ebene in weiten Teilen durchsetzen konnte.
({4})
Ich möchte an dieser Stelle kurz auf den Antrag der
Linksfraktion zu sprechen kommen. Man muss sich
doch schon sehr wundern, wenn man dort liest, dass die
Europäische Union und die Mitgliedstaaten keinen Anspruch darauf hätten, die Verwendung der Mittel nach
ihren Maßstäben zu kontrollieren. - Ich bin sehr gespannt, wie Sie, meine Damen und Herren von den Linken, dies dem deutschen Steuerzahler erklären wollen.
Die Linke spricht sich in ihrem Antrag im Prinzip für
die bedingungslose Vergabe allgemeiner Budgethilfe
aus. Es sei ganz klar gesagt: Das ist eine vollkommen
rückwärtsgewandte Politik. Diese Vergabepraxis hat es
in der Vergangenheit gegeben.
({5})
Dadurch wurden auch autoritäre Regime gestützt. Damit
muss ein für alle Mal Schluss sein.
({6})
Meine Fraktion ist nicht prinzipiell gegen die allgemeine Budgethilfe. Nur müssen wir ganz genau hinschauen, wo und wie wir sie einsetzen möchten, damit
sie der jeweiligen Bevölkerung nutzt und nicht zweckentfremdet wird. Der arabische Frühling hat uns
eindringlich vor Augen geführt, dass die Entwicklungszusammenarbeit nicht nur die Armutsbekämpfung, sonHarald Leibrecht
dern auch die verantwortungsvolle Regierungsführung
im Blick haben muss.
Deshalb ist es vollkommen richtig, dass die Vergabe
allgemeiner Budgethilfe künftig an gemeinsame und
sehr strenge Kriterien geknüpft wird
({7})
und dabei insbesondere gute Regierungsführung,
({8})
die Achtung der Menschenrechte sowie Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit stärker berücksichtigt werden. Das
BMZ unter Dirk Niebel ist hier mit gutem Beispiel vorangegangen
({9})
und hat auf europäischer Ebene wichtige Impulse gesetzt. Die deutschen Beiträge zur Budgethilfe werden
nach strengen und transparenten Vergabekriterien gewährt und ständig überprüft.
Das konsequente Vorgehen des Bundesministers hat
bereits in einigen Fällen Wirkung gezeigt.
({10})
Ende 2010 hat Minister Niebel beispielsweise die Budgethilfe für Mosambik gekürzt, da dort Maßnahmen zur
Korruptionsbekämpfung nicht wie vereinbart umgesetzt
wurden. Dies hat wesentlich zum Einlenken der Regierung von Mosambik beigetragen, die schließlich ein Gesetzespaket zur Korruptionsbekämpfung vorgelegt hat.
Ein anderes Beispiel ist Malawi. Die Aussetzung der
allgemeinen Budgethilfe durch Minister Niebel hat dazu
beigetragen, dass Gesetze, die zu einer Beschneidung
von Minderheitenrechten und der Pressefreiheit geführt
hätten, an eine unabhängige Rechtskommission verwiesen wurden.
Diese Beispiele zeigen deutlich: Durch eine konsequente Haltung kann man die politische Entwicklung eines Landes positiv beeinflussen und helfen, Demokratie
und Menschenrechte zu schützen. Diesen Kurs wird die
FDP-Fraktion auch weiterhin unterstützen. Darum unterstützen wir auch die Neuausrichtung der europäischen
Entwicklungspolitik.
Ich danke Ihnen.
({11})
Jetzt hat Thilo Hoppe für Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir Grünen sind die Europapartei.
({0})
Deshalb dürfte es auch nicht verwundern, dass wir auch
die Rolle der Europäischen Union in der Entwicklungspolitik stärken wollen.
Während in dem Antrag der Koalition und auch in
dem der Linken, zumindest zwischen den Zeilen, EuroSkepsis zu spüren ist,
({1})
sehen wir in dem Antrag, den wir gemeinsam mit der
SPD eingebracht haben, in mehr Europa auch in der Entwicklungspolitik eher Chancen.
({2})
Der Tenor auf den letzten drei großen entwicklungspolitischen Konferenzen - Paris, Accra und Busan - war
immer gleich, eine klare Botschaft an die sogenannten
Geber: Hört doch endlich damit auf, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht! Schließt euch zusammen! Legt
auch euer Geld zusammen! Unterstützt zum Beispiel im
Rahmen von Budget- oder Sektorbudgetfinanzierung
den Aufbau eines Gesundheitssystems in einem Partnerland, statt dass dort die Deutschen, die Engländer, die
Niederländer und Dänen alle ihre eigenen Projekte hochziehen, ihre Vorzeigekrankenhäuser aufbauen und davor
ihre Fahne hissen!
Mehr gemeinsames Vorgehen ist gefragt, zumindest
bessere Absprachen, und mehr Arbeitsteilung. Die Vertretung der Europäischen Union in den entsprechenden
Partnerländern - das hat Frau Hübinger schon gesagt soll nicht als die 28. Gebernation auftreten; sie hat vielmehr die Aufgabe, die europäischen Mitgliedsländer zusammenzuführen und ein gemeinsames Auftreten zu organisieren.
({3})
Bei speziellen Herausforderungen - ich denke dabei
an fragile Staaten oder große Entwicklungsländer, die
Fortschritte im Wirtschaftswachstum gemacht haben, wo
aber die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer
wird und die Gesellschaft auseinanderfällt - könnte die
Europäische Union auch als alleiniger Akteur kraftvoll
auftreten.
Wenn wir im Gegensatz zur Koalition die Stärkung
der Rolle der EU in der Entwicklungspolitik befürworten
und die Vorschläge der EU-Kommission überwiegend
- das gilt nicht für alle - positiv beurteilen, dann heißt
das noch lange nicht, dass wir die Probleme übersehen.
Es gibt nach wie vor organisatorische Probleme. In den
Vorschlägen der Europäischen Kommission, die jetzt
vorliegen, wird unserer Meinung nach auch die Rolle der
Privatwirtschaft viel zu stark betont.
Die größten Probleme liegen aber in einem anderen
Bereich, und zwar in den negativen Auswirkungen, die
andere Politiksektoren der Europäischen Union auf die
Entwicklungsländer haben. Es kommt leider immer noch
vor, dass Erfolge der EU-Entwicklungspolitik durch andere Politiken der EU wieder völlig zunichte gemacht
werden. Damit meine ich vor allem die europäische
Handels-, Agrar- und Fischereipolitik.
({4})
Noch immer werden hochsubventionierte Hähnchenteile aus EU-Überschussproduktion auf afrikanischen
Märkten abgekippt und treiben dort die Geflügelzüchter
und Kleinbauern in den Ruin. Völlig pervers ist, was
nach wie vor im Rahmen der europäischen Fischereipolitik geschieht - wir werden das hier hoffentlich noch
in einer anderen Debatte ausführlicher diskutieren können -: Hochsubventionierte europäische Fabrikschiffe
fischen die Küsten Afrikas leer. Ein einziges dieser europäischen Fabrikschiffe fischt an einem Tag die Menge,
die 40 afrikanische Fangboote in einem ganzen Jahr fangen. Zu diesen Fischereiverträgen hat Horst Köhler einmal gesagt, sie seien Schandverträge, die dringend überarbeitet werden müssen.
({5})
Es gibt leider viele Beispiele dieser Art, die deutlich
machen, dass die eine Hand der EU etwas aufbaut, was
die andere Hand wieder einreißt. Doch zu diesen Kohärenzproblemen ist in dem Antrag der Koalition nichts zu
finden. Fehlanzeige auch beim 0,7-Prozent-Ziel. Das
verschweigen Sie lieber peinlich, weil sonst die Unterlassungssünden der eigenen Regierung zutage treten
würden.
({6})
Vor allem deshalb, aber auch, weil Sie die Rolle der EU
im Gegensatz zur nationalen Entwicklungspolitik eher
kleinhalten wollen, lehnen wir Ihren Antrag ab.
Zum Antrag der Linken gibt es, wenn man ganz viel
Revolutionsrhetorik weglässt und sich auf die Kernforderungen konzentriert, durchaus eine Menge Gemeinsamkeiten. Es gab im Vorfeld auch den Versuch, wenigstens zu einem gemeinsamen Antrag der Opposition zu
kommen. Dabei waren wir auf einem guten Weg. Das
wollte die Fraktionsführung der SPD nicht. Das war
nicht eure Schuld.
Herr Kollege.
Es gibt, wie gesagt, viele Übereinstimmungen bei den
Forderungen. Was wir aber nicht teilen, ist, dass das
Prinzip der Good Governance beiseitegeschoben werden
soll. Natürlich müssen wir über Good Governance reden.
Aber das beinhaltet natürlich Verpflichtungen für beide
Seiten. Deshalb bleibt uns nur Enthaltung.
Wir wollen die Rolle der EU für eine globale nachhaltige Entwicklung stärken.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
haben den Antrag auf Drucksache 17/9553 mit dem Titel
„Neuausrichtung der Europäischen Entwicklungspolitik
für mehr Kohärenz und wirksame Armutsbekämpfung“
eingebracht. Über den stimmen wir jetzt ab. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch
die einbringenden Fraktionen. Die übrigen haben dagegen gestimmt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/9424 mit dem Titel „Die Neuausrichtung der EUEntwicklungspolitik - Für eine wirksame, ergebnisorientierte, länder- und regionenspezifische europäische Entwicklungszusammenarbeit“. Wer stimmt dafür? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen bei Zustimmung durch die einbringenden Koalitionsfraktionen. Die Opposition war dagegen.
Jetzt folgt die Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9461 mit dem Titel
„Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union Partnerschaft statt interessengeleitete Bevormundung“.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Dafür hat die Fraktion
Die Linke gestimmt. Dagegen haben CDU/CSU, FDP
und SPD gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen haben sich
enthalten.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schweinepest tierschonend bekämpfen -
Notimpfung ersetzt grundloses Keulen
- Drucksachen 17/8893, 17/9218 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Hans-Michael Goldmann
Friedrich Ostendorff
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/9218, den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU,
SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/8893 anzunehmen. Wer stimmt für die Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
1) Anlage 6
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Alle anderen
haben zugestimmt. Damit ist die Beschlussempfehlung
angenommen.
Tagesordnungspunkt 14:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Freiheit von Forschung und Lehre schützen Transparenz in Kooperationen von Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit Unternehmen bringen
- Drucksache 17/9064 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9064 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 13:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Florian Hahn,
Albert Rupprecht ({3}), Michael Kretschmer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Martin
Neumann ({4}), Patrick Meinhardt, Dr. Peter
Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Forschung für die zivile Sicherheit
- Drucksachen 17/8573, 17/9550 Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Hahn
René Röspel
Dr. Martin Neumann ({5})
Krista Sager
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.2)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/9550, den Antrag anzunehmen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und Ablehnung der Oppositionsfraktionen.
Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Birgitt Bender, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung - Nutzerorientiert, solidarisch, zukunftsfest
- Drucksache 17/9566 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({6})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9566 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 15:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes in
den Jahren 2009 und 2010
- Drucksache 17/9401 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Tourismus
Die Reden sind hier wiederum zu Protokoll gege-
ben.4)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9401 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. - Damit sind Sie einver-
standen. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zur geplanten Einberufung
einer Regierungskonferenz und zum geplanten
Beschluss der Regierungskonferenz über die
Zustimmung zum Protokoll zu den Anliegen
der irischen Bevölkerung bezüglich des Ver-
trags von Lissabon
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset-
zes i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zusam-
menarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/9568 -
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.5)
1) Anlage 8
2) Anlage 7
3) Anlage 10
4) Anlage 9
5) Anlage 12
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zum Antrag der Fraktionen von CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9568. Die antragstellenden Fraktionen wünschen Abstimmung in der Sache. Die Fraktion Die Linke
wünscht Überweisung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Wer ist für die
Überweisung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Damit ist die Überweisung abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Drucksache 17/9568. Wer stimmt für den Antrag? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen bei Zustimmung durch die einbringenden Fraktionen. Die Fraktion Die Linke ist dagegen gewesen.
Tagesordnungspunkt 17:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({8})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Matthias Miersch, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz der biologischen Vielfalt - Die Taxono-
mie in der Biologie stärken
- Drucksachen 17/3484, 17/9549 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ewa Klamt
René Röspel
Dr. Peter Röhlinger
Krista Sager
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/9549, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen und Ablehnung der Oppositionsfraktionen.
Tagesordnungspunkt 18 a:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Marco
Bülow, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Keine deutsche Zustimmung zu einer europäischen Förderung der Atomenergie
- Drucksache 17/9554 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Die Reden sind zu Protokoll genommen worden.
Der vorliegende Antrag zeigt, dass die Opposition
trotz des nationalen Ausstiegs aus der Kernenergie ver-
zweifelt versucht, am alten Kampfthema Kernenergie
festzuhalten. Doch auch wenn Deutschland in naher Zu-
kunft einen Weg ohne Kernenergie geht, bedeutet es
nicht, dass uns die anderen Mitgliedstaaten automatisch
folgen müssen. Der Energiemix bleibt in der Hand der
Nationalstaaten. Das ist den Mitgliedstaaten im Lissa-
bon-Vertrag garantiert. Die Mitgliedstaaten können ent-
scheiden, wie sie ihren Energiemix gestalten, sie sind da-
bei natürlich an die europaweiten CO2-Reduktionsziele
gebunden.
Die Opposition sollte deshalb lieber konstruktiv an
der Energiewende hierzulande mitarbeiten, um Europa
und der Welt zu zeigen, dass unser Weg durchaus ein Er-
folgsmodell ist. Mitarbeiten heißt konkret, Blockhaltun-
gen auflösen: beispielsweise im Bundesrat, wenn es um
die Zustimmung der steuerlichen Förderung der Gebäu-
desanierung geht oder beim Ausbau der Netze auf Lan-
desebene.
Nicht die Kernenergie, sondern der Ausbau der er-
neuerbaren Energien steht im Mittelpunkt des EU-Ener-
giefahrplans, und das ist auch richtig so. Der EU-Ener-
giefahrplan 2050 ist ein wichtiger Wegweiser für mehr
Klimaschutz und für eine nachhaltige Energiepolitik.
Der Fahrplan zeigt auf, wie die EU den Ausstoß von
Treibhausgasen gegenüber 1990 bis 2050 um 80 bis
95 Prozent reduziert. Diese ambitionierten Ziele können
nur erreicht werden, wenn wir unser Energiesystem um-
bauen. Mögliche Handlungsalternativen und jeweilige
Kosten dieser Alternativen zeigt die Kommission im EU-
Energiefahrplan auf.
Es ist zu begrüßen, dass der Ausbau der erneuerba-
ren Energien ein Schwerpunkt des EU-Energiefahrplans
ist. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Stromver-
brauch steigt in allen sieben Szenarien deutlich zwi-
schen 64 bis 97 Prozent im Jahr 2050. Deutschland hat
sich mit der Energiewende, die wir im vergangenen
Sommer beschlossen haben, schon auf diesen Weg ge-
macht. Wir haben allein in 2011 den Anteil der erneuer-
baren Energien am Strommix um 3 Prozent auf 20 Pro-
zent gesteigert. Damit gehören wir zu den Vorreitern in
Europa und werden vom europäischen Ausbau der er-
neuerbaren Energien profitieren.
Wir sind uns einig, dass das oberste Ziel unserer
Energiepolitik sein muss, mehr Klimaschutz und mehr
Ressourcenunabhängigkeit zu schaffen. Genau deswe-
gen ist es richtig, dass wir auch europaweit den Ausbau
der erneuerbaren Energien vorantreiben. Aber mehr
Klimaschutz bedeutet ebenfalls, dass Gas- und Kohle-
kraftwerke, in Verbindung mit CCS, wie auch die Kern-
energie eine Rolle im zukünftigen Energiemix der Mit-
gliedstaaten spielen können. Deshalb sieht auch der
EU-Energiefahrplan in allen Szenarien bis 2050 weiter-
hin die Kernenergie vor, da es eine CO2-freie Erzeu-
gungsart ist.
Gleichzeitig wird im EU-Energiefahrplan aber auch
betont, dass die EU weltweit die höchsten Standards für
Sicherheit und Gefahrenabwehr leisten muss. Das ist 1) Anlage 11
vor allem auch im deutschen Interesse. Gerade weil
Länder wie Frankreich, Großbritannien oder auch die
Niederlande in der Kernenergie eine tragende Säule ihrer Energieversorgung sehen, ist es wichtig, dass wir
auch in Zukunft auf europäischer Ebene über die Kernenergie mitsprechen. Dies gilt insbesondere für die Reaktorsicherheit.
Deshalb ist es gut und richtig, dass sich Deutschland
weiter intensiv an der Arbeit in der europäischen Atomgemeinschaft beteiligt. Wenn wir auch zukünftig über
nukleare Sicherheit mitreden wollen, bietet die Europäische Atomgemeinschaft eine ideale Plattform. Denn was
bringt es uns, wenn unsere Kraftwerke abgeschaltet
sind, aber in unseren Nachbarstaaten Kernkraftwerke in
Betrieb sind, die unsicher sind. Dies gilt insbesondere
auch für den Neubau von Kernkraftwerken.
Sie sprechen davon, dass die Förderung der Kernenergie gestoppt werden soll. Mir ist kein Land bekannt,
in dem es eine so weitgehende Förderung einer Erzeugungsart gibt wie in Deutschland. Hierzulande werden
die erneuerbaren Energien mit weit über 12 Milliarden
Euro gefördert. Wir sind also gefordert, den Spagat zwischen Förderung und Bezahlbarkeit bis zur Marktreife
einer Technologie zu bewältigen.
Deshalb ist es richtig, dass die EU-Kommission verschiedene Fördermodelle der einzelnen Mitgliedstaaten
in den Blick nimmt und vermeiden will, dass es zu einem
Wettlauf der Fördermaßnahmen für erneuerbare Energien in Europa kommt. Es braucht eine schrittweise Einführung eines einheitlichen Fördersystems für Europa,
um die Energie dort zu erzeugen, wo sie am meisten
Leistung bringen. Eine solche Harmonisierung bedeutet
konkret, Photovoltaik dort wo am meisten Sonne scheint,
Wind auf und an der See und Wasserkraft in Norwegen,
der Schweiz oder Österreich.
Wir brauchen keine Angst vor einer solchen Harmonisierung zu haben, da Deutschland Vorreiter bei der
Nutzung regenerativer Energien und alternativer Energietechnik ist. Unsere Industrie kann nur davon profitieren, da sie jetzt schon, wie Sie selber propagieren, Vorreiter ist.
Der EU-Energiefahrplan 2050 zeigt, dass wir vor gewaltigen Herausforderungen stehen. Europa hat sich
ambitionierte klimaschutzpoltische- und energiepolitische Ziele gesetzt. Dabei sind die erneuerbaren Energien die entscheidenden Energieträger der europäischen
Energiewende.
Um unsere ambitionierten Ziele zu erreichen, braucht
es vor allem eine enge Zusammenarbeit in der europäischen Energiepolitik. Das Gleiche gilt auch zum Erreichen unserer noch ambitionierteren nationalen Ziele.
Diese erreichen wir schneller und effizienter mit Europa.
Aber trotz aller gemeinsamen Zielsetzung dürfen wir
nicht die Subsidiarität der Mitgliedstaaten verletzen.
Denn auch wenn die Opposition am liebsten alle
Länder zu einem Atomausstieg zwingen will, muss akzeptiert werden, dass andere Mitgliedstaaten an der
Kernenergie festhalten, nicht zuletzt auch aus klimaschutzpolitischen Erwägungen. Wir können zwar mit
dem eingeschlagenen Weg zeigen, dass wir unsere
Energieversorgung ohne Kernenergie gewährleisten
können, aber wir können die anderen Länder nicht
zwingen, aus der Kernenergie auszusteigen.
Die SPD versucht mit ihrem Antrag krampfhaft, weiter eine Scheindebatte über das Thema Kernenergie im
Deutschen Bundestag aufrechtzuerhalten. Der SPD ist
- genauso wie den Grünen - nach dem von SchwarzGelb final beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie
in Deutschland ein, wie ich sagen möchte, gehegtes und
gepflegtes parteipolitisches Feindbild verloren gegangen. Manchmal glaube ich, dass just die Fraktionen, die
sozusagen „traditionell“ einen Ausstieg aus der Kernenergie gefordert haben, am Ende von dem finalen Ausstieg aus der Kernenergie durch die schwarz-gelbe Regierung nicht ausschließlich erleichtert waren. Ihnen ist
nämlich ein zentraler Teil ihres Wahlprogramms entfallen, und nun versuchen sie krampfhaft, am alten Wählergewinnungsprogramm festzuhalten, und operieren weiter mit dem Medium Angst und Verunsicherung.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, Sie wissen ganz genau, dass der Energiemix in Europa Sache der Mitgliedstaaten ist. Und es mag uns
fraktionsübergreifend nicht gefallen, aber Fakt ist: Der
von Schwarz-Gelb beschlossene Ausstieg aus der Kernenergie kann den anderen europäischen Staaten nicht
mit Zwang „übergestülpt“ werden. Wir haben dafür keine
rechtliche Handhabe. Sie verraten uns zudem nichts
Neues, wenn Sie in Ihrem Antrag darauf hinweisen, dass
andere Mitgliedstaaten in Europa weiter auf die Kernenergie setzen. Wir kennen den Energiemix unserer
Nachbarstaaten alle genau. Über unstrittige Fakten
brauchen wir uns nicht im Plenum auszutauschen.
Fakt ist: Deutschland kann gegenüber unseren europäischen Nachbarstaaten allein Vorbildcharakter haben
auf dem Weg, den es mit der 2011 verabschiedeten Energiewende und dem Kernenergieausstieg beschritten hat.
Gerade jene europäischen Nachbarstaaten, die noch
heute in ihrem Energiemix stark auf Kernenergie setzen,
beäugen Deutschland ganz genau. Wir müssen sie mit
Ergebnissen und Fakten überzeugen. Die Vorreiterrolle
wird aber nur erfolgreich sein, wenn der Reiter auch ankommt, ohne zu straucheln.
Wir Deutschen können stolz sagen: Wir haben in unserem Land inzwischen einen Anteil der erneuerbaren
Energien am Stromverbrauch von über 20 Prozent. Trotz
starker Konjunktur und dem im März 2011 bereits begonnenen Ausstieg aus der Kernenergie haben die emissionshandelspflichtigen Energie- und Industrieanlagen
in Deutschland aufgrund verbesserter Energieeffizienz
und dem Ausbau der erneuerbaren Energien im Jahr
2011 weniger CO2 ausgestoßen als im Vorjahr. Auch hat
sich die Nische der Erneuerbaren zu einer beachtlichen
Branche entwickelt, die aktuell mehr als 380 000 Beschäftigte in Deutschland in Lohn und Brot bringt. Das
sind Argumente, die unsere europäischen Nachbarn vom
Aus- und Umstiegsgedanken überzeugen können, soZu Protokoll gegebene Reden
lange wir nicht in anderen Bereichen strombedingt in
Schwierigkeiten kommen
Dabei vergesse ich keineswegs, dass der deutsche
Umstieg von der konventionellen Stromerzeugung auf
die erneuerbaren Energien noch Herausforderungen vor
sich hat. Ich nenne hier etwa allem voran den Umbau
der Netze und den Speicherbedarf. Auch hier werden unsere europäischen Nachbarn einen geschärften Blick auf
uns haben. Mit einem Antrag, wie ihn uns die SPD hier
vorgelegt hat, wird man hingegen keinen der europäischen Nachbarn überzeugen können. Papier ist an der
Stelle geduldig, hat aber keine Wirkung.
Aber selbst wenn man den Wertgehalt dessen, was Sie
niedergeschrieben haben, prüft: Stellungnahmen von
den vier Mitgliedstaaten mit einem Forderungsgehalt,
wie Sie ihn beschreiben, gibt es offenbar gar nicht. Sie
haben offensichtlich einen Artikel aus der Presse in der
Kalenderwoche 15 dankbar aufgegriffen. Die Tatsache,
dass es inzwischen längst offizielle Dementi von „bezichtigten“ Mitgliedstaaten gibt, haben Sie einfach ignoriert und uns in der Kalenderwoche 19 dennoch Ihren
Antrag vorgelegt. Frankreich hat, wie in der Presselandschaft seit der Kalenderwoche 15 allseits zu lesen ist, öffentlich dementiert. Auch Tschechien hat unmittelbar
und offiziell dementiert, dass eine solche Stellungnahme
existiere bzw. in Rede stehe. Die Tschechische Botschaft
hat mir aktuell nochmals bestätigt, dass sich hieran
auch nichts geändert hat.
Aber das scheint Sie ja ohnehin nicht zu interessieren - und ich will Sie deshalb mit diesen Fakten auch
nicht weiter belasten. Denn das Ziel Ihres Antrags ist ja
klar erkennbar, wie ich es eingangs bereits beschrieben
habe: Sie versuchen, den „Motor Angst“ im Themenkreis der Kernenergie nochmals anzuwerfen und für Ihre
parteipolitischen Ziele auszuschlachten, und, ganz nebenbei, mit Scheinanträgen wie diesen die Regierungsfraktionen von ihrer eigentlichen Arbeit, dem Regieren,
abzuhalten.
Gleichwohl, der guten Ordnung halber sozusagen,
um mir Ihren Vorwurf zu ersparen, ich wollte mich in der
Sache nicht klar positionieren, äußere ich mich zu einer
rein theoretischen Frage. Sollte künftig und - ich sage
klar: hypothetisch - jemals die Frage nach einer Gleichstellung der beiden Energieformen erneuerbare Energien und Kernenergie im Hinblick auf finanzielle Förderprojekte auf EU-Ebene im Raum stehen: Einmal sehe
ich grundsätzlich nicht die Notwendigkeit, die Technologie der Kernenergie zu fördern, insbesondere in Anbetracht des Umstandes, dass es sich vor allem um eine
etablierte Technologie handelt, die ohnehin verhältnismäßig kostengünstigen Strom produzieren kann und einer Förderung insofern bereits nicht bedarf. Zum anderen und vor allem wäre das auch jenseits deutscher
Interessen. Denn mit unserem 2011 beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie kann es aus deutscher Sicht
kein Interesse geben, eine entsprechende Fördergrundlage zu befürworten. Schließlich wäre es sozusagen allein eine Förderung zugunsten Dritter. Ihr parteipolitischer Kunstgriff, mit dem Sie so gerne versuchen, alte
ideologische Grabenkämpfe zum Themenfeld der Kernenergie zu revitalisieren, hatte an dieser Stelle eine wirklich schlechte handwerkliche Ausführung. Denn bereits
fiskale Interessen sprechen aus meiner Sicht klar dagegen, dass Deutschland sich für eine solche Gleichstellung aussprechen kann.
Der Mensch hat ein Kurzzeitgedächtnis. Nur ein Jahr
nach den tragischen Ereignissen von Fukushima verblassen offensichtlich die Erinnerungen. Haben wir
noch im letzten Sommer zum zweiten Mal den Atomausstieg beschlossen - nachdem Union und FDP den rotgrünen Atomkonsens zwischenzeitlich aufgelöst und die
Laufzeiten verlängert hatten -, so geht es jetzt schon
wieder um das Thema, ob man Atomenergie fördert.
Und da wundert man sich, dass die Menschen ihr Vertrauen in die Politik verlieren. Im Herbst 2010 die Laufzeiten verlängern, im Sommer 2011 mit viel rhetorischem Brimborium erneut aussteigen und 2012
überlegen, ob man den Bau eines unsicheren Atomkraftwerks in Brasilien mit deutschem Steuergeld ermöglicht.
Was soll diese Doppelmoral? Sie beweist leider nur,
dass die Regierungskoalition nicht wirklich vom Ausstieg überzeugt ist oder der Atomlobby zumindest noch
einige Zugeständnisse machen möchte. Der deutsche
Atomausstieg müsste doch die Konsequenz nach sich
ziehen, sich in Europa und weltweit für eine nachhaltige
Energiewende ohne Atomenergie einzusetzen.
Wenn Länder wie Frankreich, Großbritannien, Polen
und Tschechien plötzlich fordern, Atom als klimafreundliche Energie anzuerkennen, um sie somit genauso subventionieren zu können wie zum Beispiel erneuerbare
Energien, dann reicht es nicht, wenn die Bundesregierung dies still und leise ablehnt. Gerade da wünscht
man sich eine klare und laute Stellungnahme: „Nein,
mit uns nicht.“ Und spätestens nach Fukushima hätte
man alle Argumente auf seiner Seite gehabt, und es
wäre für jeden nachvollziehbar gewesen, wenn man
dem Kraftwerksbauer Areva und der brasilianischen
Regierung gesagt hätte: Es tut uns leid, wir geben euch
wegen der Risiken keine Bürgschaft zum Bau eines
neuen Atomkraftwerks. Wir können aber darüber reden,
wie wir euch bei der Entwicklung einer sauberen und
zukunftsfähigen Energieversorgungsstruktur helfen
können. - Ein Beispiel: Allein in den brasilianischen
Bioethanolanlagen Kraft-Wärme-Kopplung anzuwenden, würde Energie von 20 AKW einsparen.
Es ist traurig, dass Union und FDP den Atomausstieg
scheinbar nicht aus Überzeugung beschlossen haben. Es
ist aber auch bitter, dass Sie komplett das Gespür dafür
verloren haben, wie Politik glaubwürdig bleibt. Wie wollen Sie den Menschen erklären, dass Sie die Abkehr von
der gefährlichen Atomenergie in Deutschland für richtig
halten, um die Menschen hier zu schützen, aber gleichzeitig kein Problem damit haben, dass in angrenzenden
Ländern in Zukunft der Bau neuer Atomkraftwerke
sogar gefördert wird?
Können Sie den Bürgerinnen und Bürgern in diesem
Land nicht einmal zeigen, dass Sie sich für ihre Sicherheit stark machen? Das Argument „Wir mischen uns
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht ein, das ist deren Sache; jedes Land muss selber
wissen, was es macht“ ist mehr als scheinheilig, wenn
man sonst gerade in Europa bereit ist, anderen Ländern
beispielsweise strenge Sparvorschriften zu diktieren.
Noch einmal: Der Bau und Betrieb von Atomkraftwerken ist keine rein nationale Angelegenheit, weil die
Gefahren alle betreffen. Wir leben in einer Westwindzone, und wenn es in Frankreich, zum Beispiel im AKW
Fessenheim oder Cattenom, zu Störfällen mit Freisetzung von Radioaktivität kommt, dann können Sie ganz
sicher sein, dass die radioaktive Strahlung vor allem uns
Deutsche treffen wird.
Was ich persönlich wieder einmal ernüchternd finde,
ist die Motivation hinter dem „Subventionsmöglichkeiten für Atomenergie“. Denn worum geht es dabei eigentlich? Es geht nicht um den Erhalt und den Schutz unserer Lebensgrundlagen, es geht nicht um die Sicherheit
der Menschen, es geht nicht um die Zukunft kommender
Generationen. Es geht wieder einmal nur darum, das
Siechtum der Atomenergie zu verlängern.
Der Vorstoß Großbritanniens, Frankreichs, Polens
und Tschechiens zeigt eindeutig, dass Atomenergie unwirtschaftlich ist. Durch Milliardensubventionen in den
letzten Jahrzehnten und die Vergesellschaftlichung der
Folgekosten sind die alten abgeschriebenen Atomkraftwerke zwar sehr profitabel; der Neubau von Reaktoren
rechnet sich aber nirgends auf der Welt. Wenn selbst in
Großbritannien, dem Vorreiterland des völlig liberalisierten Marktes, das sich immer gegen jeden staatlichen
Interventionismus wendet, nach staatlicher Förderung
geschrien wird, dann ist das der stechende Beweis, dass
es einfach nicht möglich ist, neue Atomkraftwerke privatwirtschaftlich zu errichten. Sie sind in Zukunft auch
ökonomisch nicht konkurrenzfähig zu erneuerbaren
Energien. Daher lassen sich keine Investoren finden, die
dieses wirtschaftliche Harakiri mitspielen wollen. Ähnlich ist es im Fall des brasilianischen AKW-Neubaus:
Keine deutsche Bank ist beispielsweise bereit, Geld für
den Bau von Angra 3 bereitzustellen. Selbst die Banken
im atomfreundlichen Frankreich haben klargemacht,
dass sie Kredite nur vergeben, wenn eine deutsche
Hermes-Bürgschaft unterschrieben ist. Der deutsche
Steuerzahler soll das Risiko tragen, zu welchem die Banken nicht bereit sind? Das ist geradezu unverschämt.
Wie die über 130 000 Unterzeichner der Aktion
„Atomtod exportiert man nicht!“ von Campact, aber
auch die Resonanz der Postkartenaktion „Ich bin doch
kein Atombürger!“ von urgewald zeigen, akzeptieren die
Bürger diese Politik nicht mehr. Das Gleiche gilt für den
Vorstoß Frankreichs, Großbritanniens, Polens und
Tschechiens zur Förderung von Atomenergie. Sollte
diese Forderung Gehör finden, dann müssen Sie sich
nicht wundern, wenn die Anti-AKW-Bewegung erneut
großen Zulauf bekommt und es zu massiven Widerstandsaktionen kommt - und zwar europaweit, auch
dort, wo man es vielleicht noch nicht gewohnt ist. Denn
die Menschen werden allerorts immer sensibler in Zeiten, in denen an allen Ecken und Enden gespart werden
muss und der Bevölkerung immer mehr zugemutet wird.
Menschen, die ständig aufgefordert werden, den Gürtel
enger zu schnallen, werden es sicher nicht tolerieren,
dass ausgerechnet eine Technologie gefördert werden
soll, die nachweislich eine Gefahr für sie darstellt.
In unserem Antrag „Keine deutsche Zustimmung zu
einer europäischen Förderung der Atomenergie“ fordern wir daher die Bundesregierung auf, die Anliegen
Großbritanniens, Frankreichs, Polens und Tschechiens
rigoros in die Schranken zu weisen. Wer so unbelehrbar
ist, der muss eben von anderen wachgerüttelt werden.
Mit diesem Antrag fordert die SPD-Fraktion, dass
sich Deutschland dafür einsetzt, dass der europaweite
Ausstieg aus der Subventionierung vorhandener oder
zukünftiger Atomkraftwerke durchgesetzt und eine
Gleichstellung von regenerativen Energien mit Kernenergie aufgrund geringer CO2-Emissionswerte verhindert wird. Auslöser dieses Antrages ist die von der dänischen EU-Ratspräsidentschaft erbetene Stellungnahme
zum EU-Energiefahrplan bis 2050.
Der schwarz-gelben Bundesregierung ist wichtig,
dass wir auch in Zukunft die europäische Energiepolitik
technologieoffen ausgestalten. Derzeit wird im Zusammenhang mit den Verhandlungen zu den Ratsschlussfolgerungen zum Energiefahrplan 2050 diskutiert,
inwiefern der Begriff der Technologieneutralität einer
zukünftigen Energie- und Klimapolitik in diesem Plan
verankert werden soll. Wir machen uns hierbei für eine
ausgewogene Verwendung des Begriffs stark. Schwerpunkte der zukünftigen Entwicklung sehen wir in der
Steigerung der Energieeffizienz sowie dem EU-weiten
Ausbau flexibler Energieinfrastrukturen und erneuerbarer Energien.
Neben den staatlich getragenen Maßnahmen zur
Erhöhung der Energieeffizienz müssen auch Effizienzgewinne berücksichtigt werden, die aus dem Markt heraus durch technischen Fortschritt realisiert werden.
Dies ist einer der wichtigsten Bausteine einer erfolgreichen Wirtschafts- und Energiepolitik.
In der Süddeutschen Zeitung wurde am 13. April
2012 berichtet, dass Großbritannien, Frankreich, Polen
und Tschechien eine EU-Förderung aller „emissionsarmen“ Energieträger durchsetzen wollen und damit
neben erneuerbaren Energien auch Kernkraftwerke und
die CCS-Technologie im Blick hätten. Bei der europäischen Kommission ist bislang jedoch kein solches
Schreiben eingegangen.
Dieser Antrag der SPD beruft sich also größtenteils
auf einen Zeitungsartikel, der zum Teil unbelegte Behauptungen einer Gleichstellung von Atomenergie mit
den erneuerbaren Energien in verschiedenen europäischen Ländern aufstellt.
Die christlich-liberale Koalition gründet indes ihre
Politik auf einer gesicherten Faktenlage und nicht auf
Spekulation. Schon aus diesem Grund lehnen wir diesen
Antrag ab.
Am 13. April 2012 wurde aufgrund eines in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienenen Artikels gemeldet,
Zu Protokoll gegebene Reden
Großbritannien, Frankreich, Polen und Tschechien forderten Subventionen für Kernkraftwerke.
Ziel der vier Staaten ist es in der Tat, beim bis zum
Jahr 2050 in Europa geplanten Umstieg auf emissionsarme Energieversorgung ein eigenes sogenanntes LowCarbon-Ziel im Energiesektor festzulegen. Kernkraftwerke sollen danach wie Solar- oder Windenergieanlagen als emissionsarme Technologien eingestuft werden.
Dies hätte zur Folge, dass die Stromerzeugung in
Kernkraftwerken mit erneuerbaren Energien gleichgestellt würde und sodann „technologieneutral“ national
oder sogar mit EU-Geldern unterstützt werden könnte.
Die FDP lehnt Subventionen für die Kernenergie ab.
Wir Liberalen bekennen uns nachdrücklich zum energiepolitischen Zieldreieck. Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit sowie Umwelt- und Sozialverträglichkeit
sind gleichrangige Ziele bei der Stromversorgung.
Wir müssen im Energiebereich einen funktionierenden EU-weiten Markt schaffen, das heißt fairer Wettbewerb ohne Diskriminierungen und ohne ungerechtfertigte Subventionen.
Der Staat hat die Aufgabe, geeignete Rahmenbedingungen für die Marktabläufe festzulegen, die den Wettbewerb sichern und verstärken. Subventionen sind nur
dann und auch nur so lange sinnvoll, wie sie nötig sind,
um neue, innovative Technologien zur Marktreife zu
bringen. Demnach sind Subventionen für die Kernenergie nicht gerechtfertigt und überflüssig. Es geht im
Energiebereich aktuell grundsätzlich eher darum, Subventionen abzubauen und keine neuen Subventionstatbestände einzuführen.
Die FDP begrüßt daher ausdrücklich, dass Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler und Bundesumweltminister Norbert Röttgen für die Bundesregierung
erklärt haben, dass die Bundesregierung Dauersubventionen für bereits am Markt etablierte Technologien, wie
die Kernkraft, ablehnt.
Man muss sich langsam den Vorwurf gefallen lassen,
immer wieder den Kaffee von gestern aufzuwärmen,
wenn man darauf hinweist, dass die Atomenergie allein
in Deutschland in den vergangenen 50 Jahren mit wenigstens 185 Milliarden Euro Steuergeldern subventioniert wurde. Das ist eine solch gewaltige Menge Geld,
die die Bevölkerung der angeblich so billigen Atomkraft
eingeschoben hat, dass sie nur in der Steinkohleförderung ihresgleichen suchen kann. Was in dieser Summe
noch nicht enthalten ist, sind die zukünftigen Kosten für
die Atommüllverwahrung, mit denen sich die Generationen noch in Jahrhunderten werden herumschlagen müssen. In diesem Zusammenhang möge man sich doch bitte
auch vor Augen führen, wie derzeit gegen die erneuerbaren Energien gewettert wird, was da von verbraucherfeindlicher Subventionierung die Rede ist, obwohl diese
Energieformen keine Folgekosten für Klimawandel und
Entsorgung mit sich bringen werden, sondern sogar
dazu beitragen, dass diese Folgekosten minimiert werden. Eine Investition in die Zukunft, durch die Energie
mittelfristig nicht nur ökologisch unbedenklich, sondern
nahezu kostenlos wird.
Wenn wir jetzt hören, dass im Rahmen des EuratomVertrages einige EU-Mitgliedstaaten die Gleichstellung
der Atomkraft mit Erneuerbaren fordern und eine Einspeisevergütung für Atomstrom wollen, glaubt man, es
handele sich um einen schlechten Scherz. Aber mitnichten ist das als Scherz gemeint, sondern bitterböser
Nuklearkapitalismus. Wie wir wissen, schwimmen den
großen Energieversorgern in Deutschland die Felle
weg, da sie die Energiewende verschlafen. Ihre größten
Gelddruckmaschinen - Atomkraftwerke - werden stillgelegt. Da es sich bei der Atomwirtschaft aber um ein
internationales Kartell handelt, zu dem deutsche Unternehmen wie die Deutsche Bank gehören, nützt das einseitige Engagement auf nationalstaatlicher Ebene gegen
Atomkraft im weltweiten Wirtschaftsgebahren kaum.
Die Welt war geschockt, als im März 2011 drei japanische Reaktorblöcke explodiert bzw. geschmolzen sind
und in einem Abklingbecken die Kernschmelze nur
durch den Einsatz einer Zementspritze eingedämmt werden konnte. Riesige Gebiete sind dort nun verstrahlt, für
Jahrhunderte unbewohnbar. Die Atomlobby hatte einen
ihrer schwärzesten Monate, denn die Weltöffentlichkeit
war entsetzt über die Folgen, die Atomkraft mit sich
bringt. Überall gab es vermehrt kritische Stimmen und
sogar die Bundesregierung hat ihre skandalträchtige
AKW-Laufzeitverlängerung zurückgenommen. Seitdem
sind Monate vergangen - und was geschieht? Die international agierende Atomwirtschaft bäumt sich wieder
auf und versucht mit aberwitzigen Mitteln ihren Albtraum weiter zu träumen, und zwar auf Kosten der Menschen, der Umwelt und der zukünftigen Generationen.
Einer der Gründe, warum ihnen das so leichtfällt, ist
der immer noch bestehende Euratom-Vertrag, in den jedes EU-Mitglied zwangsintegriert wird. Der Zweck der
Europäischen Atomgemeinschaft ist die Förderung der
Atomkraft für die sogenannte friedliche Nutzung. Es ist
bekannt, dass die friedliche Nutzung von Atomkraft die
Voraussetzung für die militärische Nutzung ist. Ein
Land, das eine Atombombe bauen will, braucht ein
Atomkraftwerk. Der Euratom-Vertrag stammt aus einer
Zeit, in der es noch gelungen ist, den Menschen das
Märchen vom Wirtschaftswunder aufzutischen, das nur
mit Atomkraft möglich sei. Wie falsch das ist, wie geradezu peinlich diese Ambitionen im Nachhinein wirken
und als wie heuchlerisch und gefährlich sie sich herausgestellt haben, ist hinlänglich bekannt. Die Atomkraft ist
ein Schauermärchen aus alter Zeit und hat im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr.
Mit dem halbherzigen Atomausstieg hat das sogar die
konservativ-liberale Bundesregierung festgestellt. Der
nächste Schritt muss sein, auf internationaler Ebene den
Atomausstieg zu forcieren. Dazu gehört zuallererst, sich
innerhalb der Europäischen Union auf die Auflösung
des peinlichen Euratom-Vertrags zu konzentrieren. Nirgendwo sonst gibt es eine institutionell und staatlich
derart garantierte Wirtschaftsförderung für einen privaten Wirtschaftszweig, wie es der Euratom-Vertrag für
die europäischen Energieversorger und ReaktoranlaZu Protokoll gegebene Reden
genhersteller ist. Auch nach ihrem Beschluss zum Ausstieg aus der Atomkraft zahlt die Bundesrepublik, also
ihre Steuerzahler, weiterhin Geld für die Erforschung
und Förderung der Atomenergie. Ein unhaltbarer Zustand!
Wenn die Bundesregierung sich nicht vehement gegen
die neuerlichen Ambitionen der europäischen Atommafia einsetzt, im Deckmäntelchen der Klimafreundlichkeit
von Atomkraft, die nachgewiesenermaßen eine dreiste
Lüge ist, die Bevölkerung wieder um Milliarden zu
schröpfen, um ihren profitträchtigen Albtraum weiterzuträumen, dann wird sie sich gegenüber der Bevölkerung
verantworten müssen. Es ist keine Frage, ob der nächste
Atom-GAU stattfindet. Es ist nur nicht klar, wann und
wo er stattfinden wird. Das ist kein Schauermärchen,
sondern die logische Konsequenz beim Betrieb einer
Hochrisikotechnologie, die keinen Platz für Fehler und
Schlamperei einräumt. Wer auf europäischer Ebene die
Atomkraft weiter fördert, nimmt in Kauf, dass dieser
GAU in der unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet.
Selbstverständlich darf es die von Polen, Großbritannien, Tschechien und Frankreich geforderte AtomSubventionierung niemals geben. Wenn der deutsche
EU-Kommissar zu diesen indiskutablen Forderungen
meint, er sei „bereit, verschiedene Optionen zu diskutieren“, dann ist er bereit, vorsätzlich gegen die Interessen
der deutschen und der restlichen EU-Bevölkerung zu
agieren. Es gibt nur eine Konsequenz, die gezogen werden kann: Die Europäische Atomgemeinschaft muss umgehend aufgelöst werden, und sollte das nicht möglich
sein, muss die Bundesregierung dieses absurde Vertragswerk einseitig kündigen.
Seit ihrem Entstehen wird Atomenergie mit Milliardensubventionen gefördert - in der EU durch den Euratom-Vertrag und zusätzlich durch die einzelnen Mitgliedstaaten. Dazu kommt zum Beispiel in Deutschland
die gesamte Forschungsinfrastruktur genauso wie die
Sanierung gescheiterter Endlager und des ostdeutschen
Uranabbaugebiets Wismut. Die Endlagerkatastrophe
Asse wird schätzungsweise 4 Milliarden Euro kosten,
Morsleben über 2 und Wismut über 6, um nur drei Beispiele zu nennen.
Atomstrom zieht eine Spur von Steuergeldern hinter
sich her, wo immer er produziert wird, weil er sich ohne
Subvention nicht rechnet und die Folgekosten meist der
Allgemeinheit zufallen. Trotz jahrzehntelanger staatlicher Förderung im dreistelligen Milliardenbereich
allein in Deutschland hat sich an den wesentlichen Problemen der Atomkraft nichts geändert: Sie ist immer
noch hochgefährlich, ist ohne Subventionen nicht rentabel und hinterlässt den schädlichsten Giftmüll, den die
Menschheit je hervorgebracht hat. Bis heute sind alle
Nationen, die auf Atomkraft gesetzt haben, mit dem
Endlagerproblem überfordert.
Immer mehr Staaten kehren deshalb der Atomkraft
den Rücken und erkennen, dass die Zukunft den Erneuerbaren gehört. Insofern kommt der Vorstoß von Frankreich, Großbritannien, Polen und Tschechien, in der
kommenden Energy Roadmap der EU Atomkraft mit den
erneuerbaren Energien gleichstellen zu wollen, auch einer Bankrotterklärung der Atomkraft gleich. Nur wenn
man Atomkraft zum Bestandteil der energiepolitischen
Ziele der EU macht, lässt sie sich weiter fördern. Nur
wenn man Atomkraft weiter fördert, lässt sich ihr unweigerlicher Niedergang hinauszögern.
Es kann aber doch nicht die Lehre aus der Atomkatastrophe von Fukushima sein, noch uneinsichtiger und
länger auf Atomkraft zu setzen als zuvor. Die Lehre muss
sein, schneller auszusteigen und den Atomausstieg ernst
zu nehmen. Und dazu gehört mehr, als nur eine Laufzeitverlängerung zurückzunehmen und acht Atomkraftwerke abzuschalten. Den Atomausstieg ernst zu nehmen,
heißt, die Energiewende hier voranzubringen und sie
eben nicht, wie wir es erleben, an die Wand zu fahren. Es
heißt, die Ausrichtung der Forschung an die neuen Ziele
anzupassen, und es heißt, weltweit, insbesondere in
Europa, für eine neue Ausrichtung der Energiepolitik zu
werben und zu zeigen, dass und wie es geht. Das ist unsere Aufgabe. Es wäre die Aufgabe dieser Bundesregierung, sich mit dieser Botschaft in Europa zu engagieren
und die wenigen immer noch auf Atomkraft fixierten
Staaten davon zu überzeugen, dass es anders geht, dass
man die Atomkraft nicht braucht.
Das macht die Bundesregierung jedoch nicht. Weder
gestaltet sie die eigene Energiewende mit Engagement
und durchdachtem Plan, noch zeigt sie Interesse für
mehr Atomsicherheit in Deutschland und Europa. Von
seinen vielen Ankündigungen hat der zuständige Minister Röttgen bislang so gut wie keine umgesetzt. Ein
Stresstest für Atommüllzwischenlager und Urananreicherungsanlagen? Vor 14 Monaten versprochen, bis
heute nicht begonnen. Neue Sicherheitsanforderungen
für deutsche Atomkraftwerke? Vor 14 Monaten versprochen, Status und Lieferdatum unbekannt. Bessere Katastrophen- und Strahlenschutzvorsorge für Atomunfälle?
Vor 14 Monaten versprochen, Status und Lieferdatum
unbekannt. Mehr Atomsicherheit in Europa? Gerne in
Reden gefordert, aber keine eigene Taten. Gerade die
grenznahen Atomkraftwerke im Ausland stellen eine
Herausforderung dar, der sich Minister Röttgen im Interesse der Bevölkerung besonders widmen müsste. Daran
zeigt er jedoch nicht das geringste Interesse.
Angesichts der miserablen Bilanz als Deutschlands
oberster Atomaufseher überrascht es schon gar nicht
mehr, wie sein Umweltministerium reagierte, als der
besagte Vorstoß der vier Staaten bekannt wurde, die
Atomkraft in der EU-Agenda aufwerten zu wollen. Sein
Haus sah sich nicht in der Lage, diesem gefährlichen
Unfug eine klare Absage zu erteilen. Stattdessen ergriff
ausgerechnet das traditionell atomkraftfreundliche
Wirtschaftsministerium die Stimme für die schwarzgelbe Bundesregierung und übernahm Röttgens Aufgabe. Es ist höchste Zeit, dass das Umweltministerium
aufhört, seine eigenen Pflichten und Zuständigkeiten für
einen konsequenten und möglichst sicheren Atomausstieg abzuwickeln. Minister Röttgen, lassen Sie Ihren
vollmundigen Reden endlich ehrliche Taten folgen!
Zu Protokoll gegebene Reden
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9554 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie, die Fraktion der SPD wünscht Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
SPD abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung durch
die Opposition und gegen die Stimmen der Koalition abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
CDU/CSU und der FDP abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist nun mit
dem umgekehrten Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Alexander
Ulrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Soziale Errungenschaften in der Europäischen
Union verteidigen und ausbauen
- Drucksache 17/9410 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.
Der Antrag der Linken, „Soziale Errungenschaften in
der Europäischen Union verteidigen und ausbauen“,
zeigt einmal mehr sehr deutlich, wessen geistiges Kind
sie sind, dass sie die Nachfolgepartei der SED sind, die
sich immer noch nicht vom Kommunismus verabschiedet
hat und immer noch nicht verstanden hat, dass wir keinen reinen Kapitalismus, sondern eine soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland haben.
Es ist richtig, dass wir in Europa die größte Krise der
letzten Jahrzehnte haben. Die Auswirkungen werden uns
noch lange beschäftigen und allen große Opfer abverlangen. Wir haben auf die Finanz- und Wirtschaftskrise
angemessen reagiert, sowohl deutschland- als auch europaweit. Aufgrund der von Bundeskanzlerin Angela
Merkel geführten Bundesregierung getroffenen Maßnahmen ist Deutschland gestärkt aus der Krise hervorgegangen. Es ist nicht nur gelungen, die Krise in
Deutschland in den Griff zu bekommen, sondern auch
die Arbeitslosigkeit Stück für Stück zu reduzieren, auf
unter 3 Millionen. Das ist eine großartige Leistung, über
die wir uns freuen.
Die Krise in Europa hält uns noch immer in Atem. Mit
dem Europäischen Stabilitätsmechanismus und dem Fiskalpakt, die von den Linken abgelehnt werden, haben
wir geeignete Mechanismen geschaffen, um auch der europäischen Krise Herr zu werden.
Wir sind bereit, den in Not geratenen Staaten zu helfen, fordern aber selbstverständlich von den Staaten, die
lange Jahre weit über ihre Verhältnisse gelebt haben, einen Sparbeitrag. Dies betrifft auch die Rentenhöhe und
das Renteneintrittsalter. Wie wollen die Linken unseren
Arbeiterinnen und Arbeitern erklären, dass sie bis zum
67. Lebensjahr arbeiten müssen, die Arbeiter aus den
Krisenländern, die mit unseren Geldern unterstützt werden, aber schon mit 60 Jahren aus dem Arbeitsleben
ausscheiden? Hier muss gegengesteuert werden, und
zwar massiv.
Das Gleiche betrifft den Beamtenapparat. In vielen
Krisenländern, insbesondere in Griechenland, wurde
der Staatsapparat zur Unterbringung von Günstlingen
eingesetzt und missbraucht. Deshalb ist es jetzt mehr als
gerechtfertigt, wenn der aufgeblähte öffentliche Dienst
auf eine Form reduziert wird, die notwendig ist, um geeignete gesellschaftliche Strukturen zu erhalten.
Der heutige Antrag zeigt auch mal wieder deutlich,
wie wenig die Linken unser demokratisches System verstehen, wie wenig sie in unserem System angekommen
sind, dass sie sich geistig immer noch in der DDRStaatsdiktatur befinden. Die Menschen in Griechenland
oder Spanien demonstrieren nicht, weil sie befürchten,
dass ihre Demokratie auf dem Spiel steht, sondern weil
sie Angst um ihre Zukunft haben, weil sie um ihre Arbeitsplätze fürchten.
Von Wirtschaft verstehen die Linken einfach nichts.
Diese Partei, die zu verantworten hat, dass die Wirtschaft der damaligen DDR gnadenlos in den Sand gesetzt wurde, versteht immer noch nicht den Zusammenhang zwischen Produktivität und Löhnen. Scheinbar ist
es der Partei nicht klar, dass die Löhne in den letzten
Jahren in den Krisenstaaten wesentlich stärker gestiegen sind als deren Produktivität. Dies führte zwangsläufig zu einer verringerten Konkurrenzfähigkeit und damit
zur Vernichtung von Arbeitsplätzen. Entsprechend hoch
ist die Arbeitslosigkeit in den Krisenstaaten. Es ist
zwangsläufig notwendig, die Löhne zu senken, damit die
Produktivität endlich ansteigt und die Länder wettbewerbsfähig werden. Ein großes Hindernis ist der dort
eingeführte Mindestlohn, den die Linken jetzt selbstverständlich bei uns fordern. Ein Mindestlohn von 10 Euro
pro Stunde würde mittelfristig bei uns die gleichen Effekte hervorrufen, wie wir sie in Griechenland sehen.
Stück für Stück würde die Wettbewerbsfähigkeit sinken
und im gleichen Maße die Arbeitslosigkeit steigen.
Dies ist nicht im Sinne unserer Gesellschaft und deshalb nicht mit uns zu machen. Wir freuen uns, dass unsere deutsche Wirtschaft so gut im Rennen ist. Deshalb
werden wir die über Jahrzehnte erfolgreiche soziale
Marktwirtschaft ausbauen und arbeitsmarktpolitische
Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen forcieren.
Legen Sie Ihre rosarote Brille ab, wachen Sie auf und
machen endlich Politik für die Menschen in Deutschland, nicht für Ihre Vergangenheit, nicht für Ihre kommunistischen Wunschträume, und schmeißen Sie diesen
Antrag in die Tonne.
Als Sozial- und Europapolitiker habe ich den Antrag
der Linksfraktion mit Interesse gelesen. Dabei ist mir jedoch wieder einmal aufgefallen, dass in Ihrer Fraktion
immer noch einige Zusammenhänge hinsichtlich des Zusammenspiels zwischen wirtschaftlichen, sozialen und
haushälterischen Notwendigkeiten unklar zu sein scheinen. Ihre Forderungen belegen leider, dass Sie zum einen den Ernst der Lage nicht erkannt haben, was die finanziellen Sorgen und Nöte von Griechenland und
anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union anbelangen. Und zum anderen ziehen Sie die falschen
Schlussfolgerungen aus Ihren Einschätzungen.
Wenn es nach Ihnen ginge, würde Deutschland also
weder den Fiskalpakt noch den Europäischen Stabilitätsmechanismus ratifizieren. Der Fiskalpakt ist jedoch
der wichtige Stützpfeiler für Haushaltsdisziplin und für
finanzpolitische Stabilität in Europa. Er bildet im europäischen Regelungsgefüge eine Grundlage für Wachstum. Damit wird die Stabilitätsarchitektur in Europa
verbessert, die eine dringende und wichtige Voraussetzung für die Bewältigung der Staatschuldenkrise ist. Bislang haben die Märkte Vertrauen darin, dass wir in Europa endlich eine gleichgerichtete Politik machen. Die
jetzige Ruhe auf den Finanzmärkten verdeutlicht dies.
Durch den Fiskalpakt werden diejenigen EU-Mitgliedstaaten, die ihn ratifizieren, dazu angehalten, in nationaler Verantwortung Schuldenbremsen einzuführen. Damit ist die Hoffnung verbunden, über das nationale
Recht eine größere Bindungswirkung zu erreichen, als
es über den Stabilitäts- und Wachstumspakt möglich ist.
Um die akut zu hohe Staatsverschuldung in vielen EULändern schnellstmöglich zurückzuführen und zukünftige exzessive Staatsverschuldungen nachhaltig zu vermeiden, ist der Fiskalpakt unerlässlich.
Die Linke fordert beschäftigungsschaffende und sozialpolitische Maßnahmen anstelle der erforderlichen
Sparpakete. Dazu muss ich Ihnen Folgendes erklären:
Solide öffentliche Finanzen sind eine wesentliche Voraussetzung für Vertrauen in einen handlungsfähigen
Staat und dauerhaft günstige Wachstums- und Beschäftigungsbedingungen. Im Sinne der deutschen Schuldenbremse und europäischer Vorgaben leitete die christlichliberale Koalition einen nachhaltigen, wachstumsorientierten Konsolidierungskurs ein. Auf dem Arbeitsmarkt
setzt sich die günstige Entwicklung fort, wie wir es Monat
für Monat sehen können. Die Zahl der Arbeitslosen in
Deutschland liegt derzeit schon knapp unter der 3-Millionen-Grenze und könnte bis zum Jahr 2016 auf rund
2,6 Millionen sinken, wenn sich die Schätzungen unseres
Bundesfinanzministeriums bestätigen, wovon ich ausgehe. Die Menschen kommen hierzulande in Arbeit. Das
ist die beste Vorbeugung gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Und ebendies soll unseren Vorstellungen zufolge auch in den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union geschehen. Mit einer Schuldenpolitik, so
wie Sie sich das wünschen, werden wir dieses Ziel niemals erreichen.
Zum ESM-Vertrag ist zu sagen, dass er ein klares Zeichen für nachhaltige Stabilität innerhalb der EU setzt.
Der ESM schafft erstmals eine direkte Bindung der Krisenbewältigung an die neue Stabilitätspolitik der EuroZone, in der der überarbeitete Stabilitäts- und Wachstumspakt durch den neuen zwischenstaatlichen Vertrag
der Euro-Länder über Stabilität, Koordinierung und
Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion ergänzt und verstärkt wird.
Die Verknüpfung von Fiskalpakt und ESM soll der
Verstärkung der haushaltspolitischen Verantwortlichkeit
und der Solidarität innerhalb der Wirtschafts- und Währungsunion dienen. Und genau deshalb ist es unerlässlich, dass auch Deutschland beide Regelwerke zugleich
ratifiziert. Hierfür mache ich mich stark. Die weltweite
Finanz- und Schuldenkrise hat die strukturellen Schwächen der Währungsunion - zu hohe Staatsverschuldung,
mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, institutionelle Lücken
- schonungslos offengelegt, Die Euro-Zone hat darauf
mit einem Dreiklang aus nationalen Reformen, europäischen Maßnahmen und der Einrichtung eines Krisenbewältigungsmechanismus entschlossen reagiert. Ich bin
überzeugt, dass die europäische Währungsunion mit
diesem Maßnahmenbündel aus der Krise gestärkt hervorgehen und in Zukunft besser funktionieren wird. Auch
bei Ihnen könnte eines Tages die Erkenntnis wachsen,
dass es keine Alternative zu dem aufgezeigten Weg gibt,
um Europa wirtschaftlich und sozial voranzubringen
und international wettbewerbsfähig zu machen.
Im Zusammenhang mit Ihrer Forderung, Darlehen an
notleidende Staaten künftig nicht mehr an die Erfüllung
bestimmter Auflagen im Bereich Wirtschaft, Soziales,
Arbeit usw. zu knüpfen, muss ich eine Gegenfrage stellen: Fänden Sie es gerecht, wenn Ihr Nachbar, der sich
hoffnungslos verschuldet hat und dem Sie nun über eine
längere Zeit Geld leihen, keine Anstrengungen unternehmen würde, um besser haushalten zu können und
seine Haushaltskasse aus eigener Kraft wieder aufzubessern? Auch Sie würden ziemlich schnell darum bitten, dass er mit anpackt, dass er bei sich spart und
versucht, neue Einnahmequellen zu finden, die ihn nachhaltig absichern, denn schließlich ist jeder für sich verantwortlich und sollte sich nicht ausschließlich auf die
Solidarität anderer verlassen. Dort, wo Hilfe nötig ist,
soll sie auch geleistet werden. Aber jeder muss auch das
Bestmögliche dazu aus eigener Kraft beitragen. An diesem Konzept werden wir in der Union auch weiter festhalten, es ist das einzig gerechte.
Aber nun zu Ihrem Lieblingsthema, dem gesetzlichen
Mindestlohn. Sie kennen doch aus den zahlreichen Debatten der vergangenen Monate und Jahre die Argumente, die gegen einen solchen gesetzlichen Mindestlohn sprechen. Er ist entweder zu hoch oder zu niedrig,
vernichtet entweder Arbeitsplätze oder verpufft wirkungslos. Außerdem unterwandert er grundlos unsere
über 60 Jahre bestehende und bewährte Tradition der
Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie. GewerkschafZu Protokoll gegebene Reden
ten und Arbeitgeberverbände praktizieren seit über
sechs Jahrzehnten eine gerechte Lohnfindung, und dies
sehr erfolgreich. Wieso um alles in der Welt sollten wir
dies gefährden? In der Wirtschafts- und Finanzkrise hat
sich dieses sozialpartnerschaftliche System aufs Neue
bewährt, indem kluge Lösungen verhandelt wurden, die
die Menschen in Lohn und Brot gehalten haben. Wir
werden nur dort helfen, wo es notwendig ist. Dort, wo
keine tariflichen Strukturen herrschen, wo also Arbeitnehmer nicht auf tarifliche Vergütungen zurückgreifen
können - die sogenannten weißen Flecken -, wollen wir
Unterstützung anbieten. Die Union setzt sich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland ein
und will, dass Lohnuntergrenzen für die Bereiche eingeführt werden, wo noch weiße Flecken in der Tariflandschaft bestehen. Damit schließen wir eine Lücke, die die
Sozialpartner ohne unsere Mitwirkung allein mit den
Mitteln der Tarifpolitik, der Allgemeinverbindlicherklärung oder des Mindestarbeitsbedingungengesetzes nicht
schließen könnten.
Sie sehen also, wir, die Union kümmern uns um die
sozialen und wirtschaftlichen Belange unserer Bürger
hier ebenso wie auf europäischer Ebene. Wir sind ein
verlässlicher und kompetenter Partner in der Europäischen Union. Wir arbeiten hart und sind zuversichtlich,
die noch anstehenden Probleme zu meistern. Ihre Forderungen sind deswegen vollumfänglich abzulehnen.
Der Titel des Antrags der Linksfraktion ist unterstützenswert: „Soziale Errungenschaften in der Europäischen Union verteidigen und ausbauen“. Auch wir in
der SPD machen uns Sorgen angesichts der sozialen
Schieflage in Europa. Aber in Ihrem Antrag widersprechen Sie sich immer wieder. Sie hängen der Illusion
nach, man könne angesichts der Krise auf das Sparen
völlig verzichten. Das ist realitätsfremd - es sei denn,
Sie sagen uns, wo ihr Dukatenesel steht.
Die SPD-Fraktion will, dass der Sparkurs ergänzt
wird um Investitionen für Wachstum. Wir müssen klug
und gezielt beides machen: sparen und investieren, aber
zielgerichtet und effektiv. Die SPD hat in Deutschland
gezeigt, wie das geht; denn die gute gegenwärtige Situation der Wirtschaft haben wir der SPD zu verdanken, sowohl den Reformen, die oft auch schmerzhaft waren, als
auch den Konjunkturprogrammen und gezielten Maßnahmen zum Erhalt von Arbeitsplätzen.
Es ist nun fünf Jahre her, dass die Hypothekenkrise in
den USA ihren Anfang nahm. Sie erreichte schnell
Europa. Die Konjunktur in Deutschland brach ein, und
auch hierzulande mussten Banken mit großen finanziellen Mitteln vor dem Kollaps gerettet werden, damit sie
nicht das gesamte Wirtschafts- und Finanzsystem in den
Abgrund reißen. Neben der Bankenrettung kümmerte
sich die damalige Regierung auf Initiative der SPD auch
um die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Wirtschaft
und den Arbeitsmarkt.
Im November 2008 beschloss die damalige Bundesregierung unter maßgeblicher Beteiligung der SPD das
erste Konjunkturpaket. Bundesminister für Arbeit und
Soziales war damals Olaf Scholz. Der Bundesfinanzminister hieß Peer Steinbrück. Auf Betreiben der SPDMinister wurde ein Schutzschirm für Arbeitsplätze errichtet, lange bevor der erste Rettungsschirm für Griechenland das Licht der Welt erblickte. Maßnahmen des
ersten Konjunkturpakets waren unter anderen die Ausweitung des CO2-Gebäudesanierungsprogramms, die
Verlängerung des Kurzarbeitergeldes und die Absenkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung
auf 2,8 Prozent.
Im Januar 2009 folgte das zweite Konjunkturpaket.
Mit ihm wurden beispielsweise der Eingangssteuersatz
und der Krankenkassenbeitrag gesenkt, der steuerliche
Grundfreibetrag erhöht und die Regelsätze für Kinder in
Familien mit Grundsicherung erhöht. Außerdem gab es
bis 2010 ein kommunales Investitionsprogramm und ein
Kredit- und Bürgschaftsprogramm zur Unterstützung der
Wirtschaft. Das gesamte Fördervolumen der beiden Pakete entsprach rund 100 Milliarden Euro. Die Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP hat in ihrer Antwort auf
die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zugeben
müssen, dass die umfassenden Konjunkturpakete zum
positiven Wachstum seit dem Jahre 2010 beigetragen
haben.
Heute - im fünften Jahr der Krise - soll laut Bundesregierung alles anders sein. Trotz des erwiesenen Erfolgs aktiver Wirtschaftspolitik hat sich die Bundesregierung bis Anfang 2012 gesträubt, ihre rigide Sparpolitik
um eine Politik zu ergänzen, die Wachstum und Beschäftigung stärkt und den Menschen zugute kommt. Die
Maßnahmen der Konjunkturpakete sind ausgelaufen.
Die Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung und zur
gesetzlichen Krankenversicherung sind seit 2009 um
insgesamt 0,7 Prozentpunkte gestiegen. Die OECD hat
im April festgestellt, dass die Abgabenlast nur in Belgien
höher ist als in Deutschland. Das Deutsche Institut für
Wirtschafsforschung hat im November 2011 festgestellt,
dass der Reallohn eines mittleren Arbeitnehmers in
Deutschland seit 2005 um 7 Prozent gesunken ist. Ebenfalls Ende 2011 stellte die OECD fest, dass die Einkommensunterschiede in Deutschland so stark zugenommen
haben wie in kaum einem anderen Land. Deshalb bin ich
sehr gespannt auf den 4. Armuts- und Reichtumsbericht,
den die Bundesregierung hoffentlich bald vorlegen wird.
Spätestens dann wird sie eingestehen müssen, dass die
Armut in Deutschland weit größer ist, als sie bislang
zugibt. Selbst das Statistische Bundesamt hat für 2009
festgestellt, dass fast 16 Prozent der Menschen in
Deutschland von Armut bedroht waren. 43 Prozent dieser Menschen waren Alleinerziehende und deren Kinder.
Da klingt es doch wie Hohn, dass die Bundesregierung
beabsichtigt, Müttern eine Prämie für das Zuhausebleiben zu zahlen, statt das Geld in den Ausbau der Kinderbetreuung zu investieren.
Unglaublich ist auch, dass die Bundesregierung sich
mit jährlich 70 000 Schulabbrechern zufrieden geben
möchte. Sie ist der Meinung, es sei ausreichend, das
europäische Ziel, die Quote der Schulabbrecher auf
10 Prozent zu senken, zu erreichen. Die Bundesregierung gratuliert sich dazu, dieses Ziel schon heute statt
im Jahre 2020 erreicht zu haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das alles sind Beispiele dafür, dass sich die Bundesregierung überhaupt nicht um die sozialen Folgen der
Krise kümmert. Sozialpolitik findet nicht statt. Daher
verwundert es auch nicht, dass die Bundesregierung
sich auf europäischer Ebene lediglich dafür einsetzt,
dass gespart wird. Sparen allein hilft aber nicht. Solide
Finanzen sind nur das Fundament, auf dem das europäische Haus errichtet werden muss. Für den Bau des Hauses bedarf es aber Investitionen, Investitionen in Menschen und in die Wirtschaft, die das Haus aufbauen
sollen.
Der Europäische Stabilitätsmechanismus und der
Fiskalpakt sind ein Meilenstein auf dem Weg der weiteren europäischen Integration. Diese Gesetzentwürfe
schaffen einen weiteren wichtigen Baustein, um die Vertrauenskrise in den Finanzmärkten zu überwinden. Nur
auf diesem Wege können wir soziale Standards, die Lage
der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes in Europa nachhaltig verbessern.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag
Wachstums- und beschäftigungsschaffende Maßnahmen
statt Kürzungen. Wachstum lässt sich aber nicht mit
Schulden kaufen, Wachstum entsteht durch Strukturreformen. Ein geforderter politischer Kurswechsel ist
gerade keine Alternative zu einem strikten Sparkurs in
der EU. Die Finanzkrise kann nur dadurch gelöst werden, dass die Ursachen in den betroffenen Ländern
angegangen werden. Um die Krise in den betroffenen
Ländern zu bekämpfen, müssen Defizite reduziert werden und die Wachstumsperspektiven wie auch die Wettbewerbsfähigkeit durch entsprechende Strukturreformen
gestärkt werden.
Wir sind auf einem guten Weg, die Krise in Europa
Schritt für Schritt zu bekämpfen. Die Ursache der Krise
war die zu hohe Staatsverschuldung. Für dauerhaftes
Wachstum brauchen wir auch solide und tragfähige
Haushalte. Sowohl der Stabilitäts- und Wachstumspakt
wie auch der Fiskalvertrag dienen diesem Ziel.
Anders als einige Vertreter der Opposition sieht die
FDP den Fiskalvertrag als einen wichtigen Schritt zu
mehr Solidarität in Europa. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einführung von Schuldenbremsen, er automatisiert das Defizitverfahren, und er führt für Staaten,
die sich im Defizitverfahren befinden, sogenannte Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme ein.
Dies sind wesentliche deutsche Forderungen, die die
Bundesregierung hier durchsetzen konnte.
Aufgrund der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik
gestalten sich Ansatzpunkte für Wachstumsinitiativen
auf europäischer Ebene manchmal schwierig. Die Frage
nach der besten Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit muss daher in jedem Land verschieden beantwortet werden. Denn zum Teil bestehen ganz unterschiedliche Ursachen der Arbeitslosigkeit. Wir bevorzugen eine koordinierende Tätigkeit der EU in diesem
Punkt.
Nicht nur den Arbeitsmarktreformen in Deutschland
verdanken wir unseren robusten Arbeitsmarkt. Die deutsche Wirtschaft ist vielfältig und breit aufgestellt, die
Unternehmen sind international wettbewerbsfähig. Viele
Jobs konnten in der Krise durch das eingeübte Zusammenspiel der Sozialpartner gerettet werden. Diese Strukturen müssen wir analysieren und gegebenenfalls auf
andere europäische Länder übertragen.
Die europäische Sozialpolitik hat in vielen Bereichen
zu einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in Europa geführt. Wir begrüßen
den Fokus der Strategie „Europa 2020“, der sich unter
anderem auf sozialpolitische Belange stützt. Von den
fünf Oberzielen der Strategie „Europa 2020“ haben
zwei unmittelbaren Bezug zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik: Ziel ist es, bis zum Jahr 2020 die Erwerbstätigenquote der Männer und Frauen in der EU auf 75 Prozent zu steigern und die Zahl der von Armut und sozialer
Ausgrenzung bedrohten Menschen um 20 Millionen zu
reduzieren. Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist der
beste Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung.
Der Forderung aus dem vorliegenden Antrag der
Fraktion Die Linke, einen gesetzlichen Mindestlohn in
Höhe von 10 Euro pro Stunde in Deutschland einzuführen, kommen wir nicht nach. Wir lehnen die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns
ab. Die soziale Marktwirtschaft funktioniert, und die
Lage am Arbeitsmarkt ist ausgesprochen gut. Für die
FDP gilt der Koalitionsvertrag unverändert, in dem wir
einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn eindeutig
ablehnen.
Erschreckend sind die Forderungen aus dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke. Diese sind
rückwärtsgewandt und realitätsfremd.
Wir werden unseren Kurs fortfahren und die gesteckten Ziele verfolgen. Solides Haushalten und Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung
sind unverzichtbare Säulen zur Krisenbewältigungspolitik in der EU. Dabei setzen wir auf Wachstum durch
Strukturreformen.
Vor knapp einer Woche fanden in Frankreich und
Griechenland Wahlen statt. In beiden Fällen wurde eine
Politik abgewählt, die auf Sozialabbau setzt und die Lasten der Finanzkrise auf den Rücken der Bevölkerung abwälzen will.
In Frankreich gewann ein Präsidentschaftskandidat,
der sich für eine Vermögensteuer von 75 Prozent ausspricht und das Renteneintrittsalter wieder senken will.
In Griechenland verloren die sogenannten Memorandumsparteien ihre Mehrheit. Memorandum steht hier
für die Durchführung der von der Troika von IWF, EUKommission und Europäischer Zentralbank auferlegten
Kürzungsmaßnahmen für das Land.
Das Ergebnis der Wahlen in Frankreich und Griechenland macht deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger
sind nicht länger bereit, mit drastischen Sparmaßnahmen, Sozialkürzungen und einer Einschränkung ihrer
Zu Protokoll gegebene Reden
demokratischen Rechte für die Finanz- und Wirtschaftskrise zu zahlen.
In dem vorliegenden Antrag fordert die Linke von der
Bundesregierung ein, sich für den Erhalt und Ausbau
der sozialen Errungenschaften einzusetzen, nicht für deren Abriss. Wir wissen natürlich, dass hier nicht die
Kraft des besseren Arguments zählt. Nur durch gesellschaftlichen Druck ist ein Politikwechsel zu erreichen.
Mit den Wahlausgängen in Frankreich und Griechenland ist die Debatte über die derzeitige Krisenpolitik in
Europa neu eröffnet. Auch in Deutschland gibt es ein
großes Unbehagen über diese Politik. Deshalb ist es
richtig, dass in einer Woche in der Bankenmetropole
Frankfurt am Main Proteste und Aktionstage geplant
werden. Es ist ein Skandal, dass mit den derzeitigen Verbotsverfügungen diese Proteste verboten und die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden soll. Diese Verbote
dürfen keinen Bestand haben. Eine Protestnote dagegen
haben in den letzten Tagen 3 500 Menschen unterschrieben. Die Linke wird bei den Protesten auch vor Ort sein
und mit vielen internationalen Gästen Alternativen zur
sozial ungerechten Krisenpolitik aufzeigen.
Das derzeitige Krisenmanagement in Europa, maßgeblich von der Regierung Merkel vorangetrieben, ist
nicht nur sozial ungerecht. Es ist auch ökonomisch
falsch. Die Maßnahmen, die einseitig auf Ausgabenkürzung und marktradikale Strukturreformen gerichtet sind,
treiben immer mehr Staaten tiefer in die Rezession.
Heute hat die Deutsche Bank ein Papier mit Wachstumsprognosen für die USA, Japan und den Euro-Raum
veröffentlicht. Danach wird in diesem Jahr die Wirtschaft im gesamten Euro-Raum voraussichtlich um
0,2 Prozent schrumpfen, in einzelnen Ländern deutlich
stärker. Für die USA und Japan wird dagegen ein Wachstum von 2,6 Prozent und 2,8 Prozent vorausgesagt.
Denn anders als in Europa wird die wirtschaftlich angespannte Situation nicht noch durch einen harten Sparkurs verschlimmert.
Um die Schulden abzubauen, könnte man das Geld
dort holen, wo es liegt: bei den Banken, Millionären und
Milliardären. Aber weil die Bundesregierung dies ablehnt und Europa auch diese Politik diktiert, werden die
Völker Europas in Geiselhaft genommen. In Geiselhaft
für die Rettung der Banken und zur Sicherung der Profite der Spekulanten. Auf nichts anderes läuft der sogenannte Fiskalpakt und der neue EU-Rettungsschirm
ESM hinaus.
Die Linke sagt dazu Nein und wird im Bundestag dagegen stimmen.
Unsere Forderungen in dem vorliegenden Antrag
sind klar:
Darlehen an notleidende Staaten dürfen nicht mehr
an den Abbau sozialer Standards und das Absenken von
Mindestlöhnen gekoppelt werden. Stattdessen sind die
öffentlichen Haushalte der Euro-Zone von den Finanzmärkten abzuschirmen. Kredite sollen über eine öffentliche Bank vergeben werden, um Zinsaufschläge zu verhindern.
Statt Bankenrettung und Sparpakete muss die Politik
in der EU beschäftigungsschaffende und sozialpolitische Maßnahmen initiieren. Dazu gehören ein effektives
europaweites Zukunftsinvestitionsprogramm zum sozialökologischen Umbau sowie kurzfristig Konjunkturpakete in den Krisenstaaten. Um all dies zu finanzieren,
müssen eine EU-weite Vermögensabgabe und eine echte
Bankenabgabe eingeführt werden sowie zur Begrenzung
der Spekulation eine europaweite Finanztransaktionsteuer.
Die Wahlergebnisse in Frankreich und Griechenland
machen uns Mut, dafür weiter zu streiten.
Natürlich müssen die sozialen Standards in Europa
verteidigt und ausgebaut werden. Die politische Integration muss vorangetrieben werden, und die europäischen
Institutionen müssen eine stärkere demokratische Legitimation erhalten.
Die Politik der Bundesregierung trägt dem nur bedingt Rechnung; denn sie handelt in der vorhandenen
Schuldenkrise nur sehr zögerlich und setzt auf einen einseitigen Sparkurs sowie intergouvernementale Verträge.
Trotzdem halten wir den ESM als ständigen Rettungsschirm für überfällig, wir haben ihn ja bereits vor einem
Jahr eingefordert. Aus unserer Sicht sollte der Rettungsschirm ein größeres Volumen haben. Hierfür wäre die
zusätzliche Überführung der EFSF-Mittel in den ESM
sinnvoll, damit dieser auch wirklich gegen Spekulationen wirken kann.
Dass Mitgliedstaaten, die unter den Rettungsschirm
wollen, nur konditioniert Geld erhalten, ist richtig. Für
die Kredite haften die deutschen Steuerzahler und Steuerzahlerinnen.
Strukturreformen und Schuldenabbau sind für die
Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltige Staatsfinanzierung genauso wichtig wie gezielte Investitionen in nachhaltiges Wachstum und der Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte in Europa. Die von uns geforderte
Einführung eines Mindestlohns würde einen Beitrag
dazu leisten, den Konsum in Deutschland zu stärken und
die Nachfrage nach ausländischen Waren zu erhöhen.
Eine damit verbundene Verbesserung der Leistungsbilanzen anderer Euro-Staaten kommt der Stabilität der
Euro-Zone, und damit auch uns in Deutschland, zugute.
Die Bundesregierung propagiert seit Beginn der
Krise immerzu, dass die strukturellen Probleme angegangen werden müssen und sich die Probleme damit allein lösen lassen würden. Die Entwicklungen der letzten
Monate hinterlassen aber nicht nur nach Ansicht der
Grünen, sondern auch vieler Sachverständiger, den Eindruck, dass dieser starre Ansatz die Krise nicht lösen
kann. Sie entlarven diesen vielmehr als gescheitert.
Es ist nun die Zeit gekommen, in Europa Lösungen zu
finden, wie die Wirtschaft in diesen Regionen wieder Impulse bekommen kann. Sparen ist notwendig, reicht aber
allein nicht aus, um die Krise zu überwinden. Die EntZu Protokoll gegebene Reden
Priska Hinz ({0})
wicklungen in Europa, mit vielen Staaten in der Rezession, zeigen, dass mehr vom Weiter-so nicht funktionieren wird.
Deswegen wollen wir Grünen zur Ergänzung des Fiskalpaktes auch Wachstumsinitiativen, am besten über
die Europäische Investitionsbank. Die Kanzlerin hat
sich inzwischen ja auch diesen unseren Vorschlag zu eigen gemacht. Wir dürfen gespannt darauf sein, was daraus wird.
Eine Stärkung der Befugnisse der Europäischen Investitionsbank und gezielte Projektinvestitionen beispielsweise in alternative Energien in Südeuropa, um
Anreize zu schaffen, dass wieder mehr privates Kapital
in die Krisenstaaten fließt, könnten relativ zügig auf den
Weg gebracht werden.
Diese Programme wollen wir nicht über neue Schulden finanzieren. Schon seit langem fordern wir die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Investitionsanreize für private Investitionen in den krisengeplagten
Ländern könnten sich dadurch finanzieren lassen.
Zudem sollte der vom Sachverständigenrat vorgeschlagene Schuldentilgungsfonds eingerichtet werden,
um in einem überschaubaren Zeitraum europaweit verträgliche Schuldenstände zu erreichen und für verträgliche Refinanzierungskosten zu sorgen. Neben dem ESM,
der ex post für Krisenstaaten eine Art Rettungsnetz darstellt, würde ein Altschuldentilgungsfonds präventiv das
Problem zu hoher Staatsverschuldung angehen und somit beruhigend auf die Märkte wirken können.
Für die Bankenkrise in vielen Ländern, die die Staatsverschuldung verschärft, müssen wir auf einen europäischen Bankenrettungsfonds hinarbeiten. Dieser wäre in
der Lage, die Bankenrestrukturierung von der Staatsfinanzierung zu lösen, und würde auf diese Weise negative
Rückkopplungseffekte vermeiden.
Abschließend noch ein Wort an die Linke. Natürlich
muss der soziale Kahlschlag verhindert werden. Die ohnehin Schwachen müssen geschützt und die Bevölkerungsgruppen, die es sich am meisten leisten können,
müssen in die Verantwortung genommen werden. Deshalb fordern wir ja eine Finanztransaktionsteuer und
wollen eine Vermögensabgabe einführen.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9410 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 20:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Friedrich Ostendorff, Bärbel Höhn, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Systematischen Antibiotikamissbrauch bekämpfen - Tierhaltung umbauen
- Drucksache 17/9068 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Gesundheit
Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben.
Mit dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen vom 21. März 2012 wird der missbräuchliche
Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung angeprangert. Ein umfangreicher Forderungskatalog an die Bundesregierung soll Abhilfe schaffen.
Zwischenzeitlich sind jedoch einige wichtige Forderungen überholt, denn die schwarz-gelbe Bundesregierung hat unter Hochdruck bereits am Abbau dieser offenkundigen Missstände gearbeitet.
Das Problem wurde sehr schnell erkannt: Der massive Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung begünstigt die Entstehung resistenter Keime - diese Keime können auch für die Verbraucher gefährlich sein. Somit war
Anfang des Jahres nach Hinweisen aus Studien zur nicht
sachgerechten Anwendung von Antibiotika in der Tierhaltung schneller Handlungsbedarf begründet.
Ganz aktuell hat Bundesministerin Aigner auf der
Agrarministerkonferenz in Konstanz Ende April den
Weg für eine bundesweite Datenbank freigemacht.
Gleichzeitig soll der Rahmen der anzupassenden Überwachung entsprechend abgesteckt werden.
Danach könnten Tierärzte künftig verpflichtet werden, jede Abgabe von Antibiotika sowie den Empfängerbetrieb zu melden. Eine solche Datenbank kann den zuständigen Überwachungsbehörden in den Ländern
einen Überblick ermöglichen, in welchen Mastbetrieben
auffällig viele Antibiotika zum Einsatz kommen. Auffällige Betriebe sollen dazu verpflichtet werden, einen Plan
zur Verringerung des Arzneimitteleinsatzes vorzulegen.
Über eine entsprechende Verschärfung des Arzneimittelgesetzes soll die rechtliche Möglichkeit des Aufbaus einer Datenbank geschaffen werden. Dies ist nach
unserer Meinung ein wirksames Kontrollinstrument;
denn bisher wird nur die von der Pharmaindustrie abgegebene Gesamtmenge an Antibiotika erfasst. Was in den
einzelnen deutschen Ställen verabreicht wird, ist bisher
in keiner übergreifenden Datenbank erfasst.
Ich denke, es ist unser gemeinsames Ziel, die Anwendung von Antibiotika in der Nutztierhaltung auf ein erforderliches Mindestmaß zu beschränken. Gleichzeitig
wollen wir aber eine fachgerechte Vergabe der Medikamente allein beschränkt auf Krankheitsfälle auch weiterhin ermöglichen.
Wenn wir uns hier mit Antibiotikamissbrauch in der
Tierhaltung beschäftigen, dann dürfen wir nicht vergessen, dass die Mehrheit der Mastbetriebe einen verantwortungsvollen Umgang mit den Tieren pflegt und sich
am Tierschutzgesetz orientiert. Das Wohlergehen jedes
einzelnen Tieres steht für den Halter im Vordergrund.
Meiner Ansicht nach gibt es drei Gründe für einen
stellenweisen Antibiotikamissbrauch in der Tiermast:
teilweise schlechtes Tiermanagement, vereinzelt auch
kriminelle Energie und, nicht zu vergessen, die sinkenden Gewinnmargen beim Verkauf von Masttieren.
Gutes Tiermanagement liegt deshalb in erster Linie in
der Verantwortung eines jeden einzelnen Landwirts
selbst. Deshalb sollte schon bei der Ankunft neuer Tiere
eine gründliche Reinigung der Ställe eine Selbstverständlichkeit sein. Während der Mast muss der Stall
ebenfalls penibel sauber gehalten werden, um Entzündungen und Übertragungen zu verhindern. Jeder Betrieb ist gehalten, für eine stetige Verbesserung der Haltungsbedingungen und der hygienischen Bedingungen
für Nutztiere zu sorgen.
Je gesünder die Tiere sind, umso weniger Medikamenteneinsatz ist notwendig. Keinesfalls sollte die Antibiotikavergabe zum Kaschieren von Hygienedefiziten
dienen.
Die Sachkunde und Ausbildung unserer Landwirte ist
letztlich ebenfalls entscheidend bei der Tierhaltung insgesamt und für die Antibiotikaanwendung nach streng
fachlichen Maßstäben. Die Einhaltung der vorgeschriebenen Mindestanwendungsdauer von Antibiotika ist
ebenso wichtig wie die tierärztliche Betreuung bei Wirkstoffwechsel. Es darf auch nicht sein, dass Antibiotika
rein prophylaktisch gegeben werden. Dem Tierarzt
kommt hierbei übrigens eine Schlüsselrolle zu.
Somit liegt in einer professionellen Beratung im Hinblick auf ein gutes Stallmanagement der Schlüssel zu
mehr Stallhygiene und zu einer Minimierung des Antibiotikaeinsatzes.
Im Tierschutzgesetz wollen wir mit der anstehenden
fünften Novelle auch vermehrt die Eigenkontrolle der
Betriebe gesetzlich verankern. Damit soll jeder einzelne
Tierhalter verpflichtet werden, seinen Betrieb verantwortungsbewusst auch im Hinblick auf das Tierwohl zu führen.
Das Dispensierrecht der Tierärzte sollte nach meiner
Meinung erhalten bleiben, damit die unmittelbare Versorgung des erkrankten Tieres gewährleistet wird.
Kriminelle Energie gibt es in jedem Wirtschaftszweig,
so auch beim Handel mit Tierarzneimitteln. Wenn in großem Stil auf Autobahnraststätten Medikamente verschoben werden, so muss diesem Gebaren dringend Einhalt
geboten werden. Der Schwarzmarkt für Veterinärmedizin kann nur eingedämmt werden, indem unsere staatlichen Kontrollorgane verstärkt ihr Augenmerk auf den illegalen Handel mit Medikamenten insbesondere aus
Osteuropa legen.
Dem Lebensmittel Fleisch wird in unserer Gesellschaft eine zu geringe Wertschätzung zuteil. Die Gewinnmargen in der Tiermast werden immer geringer, die
Kosten steigen aber permanent an. Wenn ein Masthähnchen für den Züchter nur 2 Cent Gewinn abwirft, dann
müssen wir uns als Verbraucher ehrlich fragen, ob wir
durch unser unbedachtes Kaufverhalten nicht eine gewisse Mitverantwortung für den Wertverfall von Fleischprodukten tragen.
Wir dürfen keinen Vorschub leisten, dass in unserer
Gesellschaft Tierfleisch in den Status eines „Ramschproduktes“ versetzt wird - auch diesen Aspekt dürfen
wir nicht außer Acht lassen, wenn es um Wirtschaftlichkeit bei der Tierhaltung geht.
Insbesondere in der landwirtschaftlichen Veredlung
steckt eine Menge Arbeitskraft der damit befassten Betriebsinhaber und Beschäftigten, häufig eine Arbeit rund
ums Jahr und oft eine Menge Entbehrungen aufgrund
Schicht- oder Bandarbeit gegenüber anderen Beschäftigungsgruppen. Deshalb ist diese Arbeit zur Versorgung
der Bevölkerung mit hochwertigen Lebensmitteln, welche wir zweifellos in Deutschland produzieren, nicht
hoch genug zu schätzen. An dieser Stelle ein herzlicher
Dank an die Mitarbeiter dieser Branche.
Deshalb bedarf es weiterhin auch keines generellen
„Umbaus“ der Tierhaltung, wie von den Antragstellern
gefordert wird; jedoch brauchen wir dort eine stetige
Verbesserung nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, um im Wettbewerb zu bestehen.
Fazit: Den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen lehnen wir ab, da viele der im Antrag geforderten Maßnahmen zur nachhaltigen Beschränkung des Antibiotikaeinsatzes und zu der damit einhergehenden Beeinflussung der Resistenzentwicklung bereits umgesetzt
wurden.
Die erforderlichen Änderungen der arzneimittelrechtlichen Vorschriften werden in der 16. Arzneimittelgesetzesnovelle verankert und auf den Weg gebracht sowie
teilweise auch durch neue Ermächtigungen umgesetzt.
Bestimmte Antibiotika mit für den Menschen schädlichen Einflüssen werden verboten, zum Beispiel Cephalosporine der dritten und vierten Generation bei Geflügel.
Bei einigen Antibiotika mit großer Bedeutung für die
Humanmedizin sollen jetzt Antibiogramme durchgeführt
werden, zum Beispiel bei Fluorchinolonen, Cephalosporinen. Die Einschränkung der von Tierärzten praktizierten Möglichkeit der Umwidmung von Medikamenten ist
eine weitere Maßnahme. Mit der bundesweiten, zentralen Antibiotika-Datenbank ist bald eine lückenlose Erfassung für alle Antibiotikaanwendungen in der landwirtschaftlichen Tierhaltung möglich. Mit diesen
Maßnahmen sind wir deshalb bereits auch ohne den Antrag der Opposition auf dem richtigen Weg. Und jeder
Einzelne von uns sollte sich einmal fragen, ob er nicht
auch bereit wäre, wenige Cent mehr für ein Hähnchen zu
bezahlen.
Wir debattieren heute ein Thema, das auf den ersten
Blick nicht mehr im Fokus der Öffentlichkeit steht. Das
entlässt die Bundesregierung aber nicht aus der Verantwortung, endlich einen substanziellen Gesetzesvorschlag zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vorzulegen. Der war ja schon für Anfang März dieses Jahres
angekündigt. Offensichtlich kann sich die Bundesregierung wieder mal nicht einig werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Abermals hinkt die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung hinterher. Das kennen wir von dieser
zerstrittenen Koalition, die sich mehr mit sich auseinandersetzt als mit den wirklich wichtigen Themen. Die notwendige Gesetzesnovelle will die Regierung im Herbst
2012 einbringen. Gleiches hören wir Abgeordnete ja
auch beim Thema Tierschutznovelle.
Die SPD will den Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung drastisch senken. Bei jeder unsachgemäßen Anwendung von Antibiotika steigt das Risiko, dass resistente Krankheitserreger entstehen. Diese Erreger
können die Gesundheit von Verbrauchern gefährden.
Wir brauchen zukünftig mehr Klarheit, Offenheit und
Transparenz im System der Verschreibung und der Anwendung von Antibiotika. Wir fordern ein nationales Antibiotikareduktionsprogramm mit klaren Zielvorgaben,
das seinen Namen auch verdient.
Die Fachöffentlichkeit hat in den letzten Monaten intensiv über das Thema Dispensierrecht diskutiert. Fachverbände, Umwelt- und Tierschutzverbände, selbst der
Bund Deutscher Milchviehhalter, haben sich eindeutig
positioniert: Es besteht kein Grund, das Dispensierrecht
infrage zu stellen. Wir Oppositionsparteien sind uns in
diesem Punkt ebenfalls einig: Bevor wir das Dispensierrecht einschränken, müssen viele andere Maßnahmen
umgesetzt werden, um den Einsatz von Antibiotika zu reduzieren. Denn eines ist klar: Am Flaschenhals lässt
sich am besten überwachen, wer welche Mengen Antibiotika verschreibt und ausliefert.
Ich sehe auch die Rabattgestaltung der Pharmahersteller kritisch. Abgabepreise, die um 50 Prozent in Abhängigkeit von der georderten Menge differieren, führen
zu Wettbewerbsverzerrungen. Tierarztpraxen, die die
Versorgung in der Fläche gewährleisten, werden dadurch benachteiligt. Das ist nicht im Sinne einer verlässlichen und flächendeckenden tierärztlichen Versorgung
und schadet der Ausübung des freien Berufes. Das kann
nicht in unserem Sinne sein.
Wir müssen auch die geplanten Regelungen zur Umwidmung von Wirkstoffen kritisch überprüfen. Wir müssen dabei sicherstellen, dass es auch bei den Nutztieren,
die keine erhebliche wirtschaftliche Bedeutung haben,
wegen fehlender Zulassung von Wirkstoffen nicht zum
Therapienotstand kommt.
Es kann nicht sein, dass wir wegen der fehlenden Zulassung von Wirkstoffen bei einer Tierart Wirkstoffe, die
bei einer anderen Tierart zugelassen sind, umwidmen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, auf europäischer
Ebene eine Initiative zu starten, damit das Zulassungsverfahren neuer Wirkstoffe geändert wird. Dies ist im
Sinne des Tierschutzes dringend erforderlich.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist sich ihrer Verantwortung für den gesundheitlichen Verbraucherschutz
und den Tierschutz bewusst. Deshalb haben wir früh und
vorausschauend gehandelt. Die SPD hat als erste Fraktion einen richtungsweisenden Antrag „Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung senken und eine wirksame Reduktionsstrategie umsetzen“ in den Bundestag
eingebracht. Mit diesem Antrag zeigen wir den Weg auf,
wie der Bund dieses Ziel zusammen mit den Ländern erreichen kann. Leider verweigerte die schwarz-gelbe Koalition ihre Zustimmung zu diesem Antrag. Beim nun
vorliegenden Antrag der Grünen befürchte ich das gleiche Vorgehen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich auch den
Antrag der Fraktion Die Linke wegen seiner Sachund Fachkompetenz loben. Der Antrag der Kollegin
Tackmann, der heute leider nicht zur Abstimmung steht,
ist in jeder Hinsicht fachlich ausgezeichnet und zielführend. Hinter den Anträgen der SPD und der Linken
bleibt der jetzt debattierte Antrag der Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen leider zurück.
Ich freue mich, dass sich Bund und Länder auf der
letzten Agrarministerkonferenz grundsätzlich auf den
Aufbau einer bundesweit einheitlichen Datenbank für
die Erfassung des Einsatzes von Antibiotika bei landwirtschaftlichen Nutztieren geeinigt haben. Die selbsternannte Datenschützerin aus dem FPD-geführten Justizministerium hatte in den letzten Monaten immer wieder
gegen eine bundeseinheitliche Rechtsgrundlage für eine
deutschlandweite Antibiotikadatenbank argumentiert.
Ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger muss
sich in diesem Punkt mit ihrer Kabinettskollegin Ilse
Aigner schnell einigen. Die Justizministerin muss sich
bewegen und darf sich nicht aus parteitaktischen Motiven gegen eine zentrale Datenerfassung sperren. Denn
zurzeit leistet sie mit ihrem Verhalten dem Verbraucherschutz einen Bärendienst.
Die mir bisher vorliegenden Informationen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zeigt eines: Die geplante AMG-Novelle lässt befürchten, dass es keine substanziellen Veränderungen geben wird. Die Neuregelung
ist eine leere Hülse. Die Ministerialbürokratie soll vom
Parlament ermächtigt werden, die konkreten Maßnahmen auszuarbeiten. Ich fordere die Abgeordneten auf,
den Gesetzentwurf so auszugestalten, dass wirklich effektive Maßnahmen umgesetzt werden. Verordnungsermächtigungen sind nicht zielführend und überlassen die
Lösung des Problems am Ende nur den Beamten im
BMELV und den Länderministerien.
Einen Freifahrtschein für die Ministerialbürokratie
werden wir Sozialdemokraten nicht ausstellen. Wir wollen die Bearbeitung eines so sensiblen Themas nicht alleine in die Hände der Beamten geben. Wir nehmen die
Rolle des Parlaments sehr ernst. Wir Abgeordnete des
Deutschen Bundestages wollen auch weiterhin mitentscheiden können. Wir müssen das Verbrauchervertrauen
zurückgewinnen. Daher brauchen wir Klarheit, Offenheit und Transparenz auch im Gesetzgebungsverfahren.
Lebensmittelsicherheit, Verbraucher- und Tierschutz
haben für die SPD-Bundestagsfraktion oberste Priorität. Deshalb wollen wir den Einsatz von Antibiotika
drastisch senken. Die SPD fordert konkrete und eindeutige Zielvorgaben, um den Antibiotikaeinsatz in der
Nutztierhaltung zu reduzieren. Wir wollen mehr Transparenz und eine nachvollziehbare Rückverfolgbarkeit
der Anwendung. Dafür brauchen wir ein betriebsbezogenes bundesweites einheitliches Monitoring- und Reduktionsprogramm. Die Leitlinien der BundestierärzteZu Protokoll gegebene Reden
kammer für den sorgfältigen Umgang mit antibakteriell
wirksamen Tierarzneimitteln müssen rechtsverbindlich
gemacht werden.
Die SPD fordert ein zweistufiges Sanierungsprogramm für tierhaltende Betriebe. Auffällige Betriebe mit
hohem Antibiotikaverbrauch sollen im ersten Schritt
verpflichtet werden, ein Sanierungsprogramm zusammen mit ihrem Bestandstierarzt auszuarbeiten und umzusetzen. Bestandteile dessen müssen die Verbesserung
des Tierschutzstandards und des Hygienestatus sein.
Dabei sind alle Stufen der Produktion einzubeziehen.
Greifen die auf freiwilliger Basis entwickelten Maßnahmen nicht, sind die Amtstierärzte gefordert. Betriebe
werden dann amtlicherseits zu verbindlichen Maßnahmen zur Verbesserung des Hygienestatus verpflichtet.
Wir werden keiner AMG-Novelle aus dem Hause Ilse
Aigner zustimmen, in welcher die soeben beschriebenen
Maßnahmen fehlen. Wir brauchen eindeutige und wissenschaftlich unterlegte Aktions- und Schwellenwerte.
Uns fehlt auch die Verpflichtung, Mortalitätsraten zu
melden, die als Indiz für Mängel in der Betriebsführung
dienen. Das reine Sammeln von Daten zu Monitoringzwecken reicht nicht. Die betroffenen Betriebe müssen
am Ende auch Konsequenzen spüren, wenn sie nichts
ändern.
Die Aufgabe der Kontrollbehörden vor Ort muss es
sein, jene Betriebe zügig zu identifizieren, die massive
Probleme haben. Dafür müssen wir die rechtlichen Voraussetzungen schaffen. Ich bin davon überzeugt, dass
die landwirtschaftlichen Betriebe in der Lage sind, Verbesserungen bei Hygiene- und Tierschutzstandards und
in der Betriebsführung zügig umzusetzen. Grundsätzlich
brauchen wir eine Weiterentwicklung zu tiergerechteren
Haltungssystemen.
Wenn der Gesetzgeber entsprechende und ambitionierte Vorgaben macht, wird das Thema sehr schnell erledigt sein. Die bisher vorgelegten Maßnahmen aus dem
BMELV sind nicht ambitioniert genug. Die Ministerin
muss nun auf die Länder zugehen und mit ihnen einheitliche Überwachungsgrundsätze vereinbaren.
Es gibt entlang der Lebensmittelkette immer wieder
Schwächen in der Überwachung. Die müssen wir konsequent ausräumen. Es kann nicht sein, dass wir weitere
zehn Jahre über dieses Thema diskutieren, ohne dass wir
substanzielle Fortschritte erreichen. Entscheidend ist,
wie die Maßnahmen vor Ort umgesetzt werden. Mir ist
bewusst, dass die Kommunen kein Geld haben und kaum
noch Personal einstellen. Von den Sparzwängen sind natürlich auch die Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsämter betroffen. Die Verbraucher erwarten jedoch zu Recht, dass die Amtstierärzte tierhaltende
Betriebe intensiv kontrollieren. Hier müssen wir ansetzen und den Kontrollbehörden vor Ort endlich die notwendigen Daten und Auswertungen zeitnah zur Verfügung stellen.
Ohne eine akute bakterielle Infektion darf es keine
Gabe von Antibiotika geben. Dies gilt für die Nutzung
von Antibiotika in der Tiermedizin genauso wie in der
Humanmedizin. Das muss das Ziel sein, und darüber
herrscht hier weitgehend Einigkeit.
Resistenzen gegen Antibiotika entwickeln sich in Bakterien spontan. Dies ist unvermeidbar. Je länger und
häufiger ein Antibiotikum in Gebrauch ist, desto schneller verbreiten sich Bakterien, die gegen diesen Wirkstoff
resistent sind. Insbesondere multiresistente Keime, die
unempfindlich gegen mehrere Antibiotika sind, können
nur schwer behandelbare Infektionskrankheiten verursachen. Die bekanntesten Beispiele hierfür sind MRSA
- Methicillin-resistente Staphylococcus aureus - und
ESBL-Keime - Extended Spectrum beta-Lactamase.
Deswegen sind Antibiotikaresistenzen ein bedeutendes
Problem für die öffentliche Gesundheit. Es ist ein Gebot
des vorsorgenden Gesundheitsschutzes, die Anwendung
von Antibiotika so restriktiv zu gestalten, dass wirksame
Antibiotika im Notfall zur Verfügung stehen.
Der von den Bundesministern Dr. Philipp Rösler, Ilse
Aigner und Professor Dr. Annette Schavan im vergangenen Frühjahr vorgestellte Zwischenbericht der Deutschen Antibiotika Resistenzstrategie - DART - zeigt auf,
wo wir beim Auftreten von Antibiotikaresistenzen stehen
und was zu tun ist. Der Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen beschäftigt sich jedoch lediglich mit wenigen
Teilaspekten des Antibiotikamissbrauchs und lässt wesentliche Ursachen aus. Er ist daher ungeeignet, etwas
zur grundlegenden Lösung des Problems beizutragen.
Die Untersuchungen des niedersächsischen Agrarministers Gert Lindemann belegen einen hohen Antibiotikaeinsatz in der landwirtschaftlichen Tierhaltung. Die
Studien aus NRW sind hingegen wegen statistischer
Mängel wenig aussagekräftig. Nach den niedersächsischen Ergebnissen wurden in der Putenmast 84 Prozent,
in der Schweinemast 68 Prozent und in der Kälbermast
92 Prozent der Tiere sowie 76 Prozent der Masthühner
mit Antibiotika behandelt. Dabei wurden bis zu acht verschiedene Antibiotika eingesetzt, und es wurde nicht immer die fachlich gebotene Dauer des Antibiotikaeinsatzes beachtet. Antibiotika werden häufig eingesetzt, um
schlechte hygienische Zustände in den Betrieben zu
überdecken.
Gleichwohl weist in Deutschland produziertes und
vermarktetes Fleisch nur minimale Rückstände von Antibiotika auf. Dies belegen beispielsweise die Untersuchungen des Instituts für Hygiene und Umwelt der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz der
Hansestadt Hamburg. Der Verzehr von Fleisch ist bei
uns völlig unbedenklich. Wesentlich wichtiger für den
genussvollen Fleischkonsum sind der richtige hygienische Umgang beim Zerlegen und Zubereiten des
Fleischs und zum Beispiel das Durchgaren von Geflügelfleisch.
Eine wesentliche Ursache für den hohen Einsatz von
Antibiotika gerade in der Kälbermast ist die gemeinsame Aufzucht von Tieren aus unterschiedlichen Herkünften. Die Tiere bringen die bakterielle Ausstattung
des Herkunftsbetriebes mit und stecken sich dadurch gegenseitig an. In Transportern und Sammelställen ist der
Austausch von Krankheitskeimen zwischen den Tieren
Zu Protokoll gegebene Reden
unvermeidlich. Die betroffenen Betriebe müssen Strategien zur Vermeidung von Krankheitspools und zur Verringerung der Ansteckungsgefahren entwickeln. Die
Minderung des Antibiotikaeinsatzes wird verstärkt zu geschlossenen Haltungssystemen führen.
Die Zahlen machen deutlich, dass es einen erheblichen Verbesserungsbedarf für den Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung gibt. Die bestehenden unverbindlichen Leitlinien der Bundestierärztekammer zur
Anwendung von Antibiotika reichen offensichtlich nicht
aus. Die Novelle des Arzneimittelgesetzes muss den
Rahmen setzen für einen sachgerechten Einsatz von Antibiotika und eine verbesserte Kontrolle. Antibiotika
müssen in der Therapie als Heilmittel weiterhin verabreicht werden dürfen. Forderungen nach pauschaler Reduktion oder dem Verbot bestimmter Antibiotika sind
nicht sinnvoll. Das Dispensierrecht steht auf dem Prüfstand. Es muss garantiert werden, dass tierhaltende Betriebe eine ausreichende Versorgung mit Arzneimitteln
aller Art erhalten. Die Tierärzte müssen verstärkt durch
Beratungsleistungen in das Bestands- und Hygienemanagement eingebunden und für ihre Leistungen angemessen entlohnt werden. Dann wird der Anreiz sinken,
Medikamente zu verkaufen.
Die Bundesregierung hat bereits Maßnahmen eingeleitet, um den Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu
vermindern. Auf der Agrarministerkonferenz vorige Woche wurde die Schaffung einer bundeseinheitlichen amtlichen Datenbank für die Erfassung des Antibiotikaeinsatzes bei landwirtschaftlichen Nutztieren beschlossen.
Die Daten müssen aufbereitet und zugänglich gemacht
werden. So können wir die besten Betriebe identifizieren
und ihre Managementmaßnahmen auf schwächere Betriebe übertragen.
Weitere Maßnahmen zur Sicherstellung eines verantwortungsbewussten und sorgfältigen Antibiotikaeinsatzes befinden sich in der Ressortabstimmung bzw. der
Verbändeanhörung. Weiterhin müssen bestehende und
bewährte Strukturen wie das Zoonosenmonitoring gestärkt werden. Hier sind die Länder gefordert, die notwendigen Daten auch zu melden. Davon profitiert auch
der vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit entwickelte und in diesem Jahr aktualisierte nationale Antibiotikaresistenzatlas „Germap“.
Bei allen Maßnahmen, die jetzt eingeleitet werden, muss
darauf geachtet werden, dass kleinere Betriebe nicht benachteiligt werden. Auch sie müssen diese ohne zusätzliche bürokratische Belastung leisten können.
Alle diese Maßnahmen kosten Geld. Dafür werden
letztlich die Verbraucherinnen und Verbraucher, die eine
antibiotikafreie Tierhaltung fordern, mit höheren Preisen bei Fleisch- und Milchprodukten zahlen müssen. Wir
müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass diese
Maßnahmen das Resistenzproblem nur mindern können.
Viele Resistenzen entstehen durch die unsachgemäße
Anwendung von Antibiotika im Humanbereich. Ein besonderes Augenmerk müssen wir auf die Personen richten, die häufig mit Tieren zu tun haben. So können Tierhalter, Tierärzte und Mitarbeiter in tierhaltenden
Betrieben und Tierarztpraxen jedoch Überträger von resistenten Keimen sein. Krankenhäuser müssen dies bei
der Aufnahme solcher Patienten im Blick haben.
Wir können in dieser Problematik nur dann zu einer
sachgerechten und wirkungsvollen Lösung kommen,
wenn Bund, Länder und die europäische Ebene konstruktiv zusammenarbeiten. Wir müssen gemeinsam mit
der Forschung, der Tier- und Humanmedizin sowie den
Tierhaltern neue Konzepte entwickeln.
Eine Tierhaltung, die auf regelmäßige Antibiotikagaben angewiesen ist, ist alles andere als nachhaltig.
Muss eine Tierärztin oder ein Tierarzt in einem Bestand
immer wieder auf Antibiotika zurückgreifen, läuft
grundsätzlich etwas schief im Stall. Leider scheint das
keine Ausnahme zu sein.
Zwei Studien aus dem Jahr 2011 belegen das. Eine
kam aus NRW, die andere aus Niedersachsen. In NRW
wurden für 92,5 Prozent der untersuchten Hähnchenmastdurchgänge Antibiotikabehandlungen dokumentiert. Nur 16 Prozent kamen ohne Antibiotika aus. Die
Tiere erhielten durchschnittlich 3 bis 4, einige sogar bis
zu 8 verschiedene antibiotische Wirkstoffe. Dabei werden konventionell gehaltene Masthähnchen selten älter
als 35 Tage. Das zuständige Landesamt, LANUV, verwies darauf, dass bei Betrieben mit weniger als 10 000
Tieren und einer Mastdauer von mehr als 45 Tagen der
Antibiotikaeinsatz deutlich geringer war.
Antibiotika werden aber auch bei allen anderen landwirtschaftlichen Nutztieren wie Schweinen oder Rindern
zu häufig eingesetzt. Allerdings ist der vorbeugende Einsatz von Antibiotika als Wachstumsförderer seit 2006
verboten.
Insgesamt werden laut dem Bundesministerium für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz,
BMELV, jährlich 784 Tonnen Veterinärantibiotika in
Deutschland verkauft. Selbst wenn nur einige Tiere erkrankt sind, wird insbesondere in der Geflügelhaltung
sofort der gesamte Bestand behandelt: Metaphylaxe. Oft
sind das Hunderte oder Tausende Tiere. Das kann im
Ausnahmefall begründet sein. Aber allzu oft wird hier
wohl ein rechtlicher Graubereich missbraucht.
Um nicht missverstanden zu werden: Der Einsatz von
Antibiotika ist zur Behandlung kranker Tiere in den Ställen notwendig und gerechtfertigt, wenn es keine andere
Behandlungsalternative gibt. Das muss eine tierärztliche Entscheidung bleiben. Der zu häufige und regelmäßige Einsatz oder eine zu kurze Behandlungsdauer ist
jedoch hoch riskant. Denn das fördert Antibiotikaresistenzen. Sind Mensch oder Tier dann wirklich bei einer
schweren Erkrankung auf wirksame Antiobiotika angewiesen, haben Resistenzen schwerwiegende Folgen.
Neue antibiotische Wirkstoffe sind kaum in Aussicht
bzw. ihre Entwicklung kostet sehr viel Geld. Deshalb ist
ein sehr sorgsamer Umgang mit den verfügbaren Antibiotika extrem wichtig und oberste Pflicht der Tierärztinnen und Tierärzte, aber auch der Landwirtschaftsbetriebe. Jede unnötige Verwendung ist verantwortungslos.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aber die Debatte über Maßnahmen zur Reduzierung
des Antibiotikaverbrauchs muss viel früher ansetzen.
Die Reduzierung der Risiken für Bestandserkrankungen
ist der Königsweg zu mehr Tiergesundheit und weniger
Antibiotika im Stall.
Wahr ist allerdings auch, dass das Thema Antibiotikamissbrauch nicht nur in der Nutztierhaltung diskutiert
werden muss, sondern auch bei Klein- und Heimtieren.
Auch in der Humanmedizin müssen wir darüber reden.
Aber nicht nur reden ist wichtig, sondern es muss
endlich auch gehandelt werden. Die Linksfraktion hatte
bereits im Januar 2012 einen Antrag in den Deutschen
Bundestag eingebracht. Wir wollten ihn gemeinsam mit
der von Ministerin Aigner für März 2012 angekündigten
Novelle des Arzneimittelgesetzes, AMG, im Ausschuss
diskutieren. Da diese Novelle aber wohl nicht vor
Herbst vorgelegt wird, haben wir den Antrag in dieser
Woche dem Ausschuss zur Diskussion vorgelegt. SPD
und Grüne haben ihm zugestimmt. Die Koalition hat ihn
leider mit der Schutzbehauptung, sie würden ja schon
alles tun, abgelehnt.
Unser Antrag „Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung reduzieren“, Bundestagsdrucksache 17/8348,
enthält folgende Kernforderungen: erstens die Verbesserung der Datengrundlage des Antibiotikaverbrauchs der
einzelnen Bestände, zweitens eine Antibiotikareduktionsstrategie, drittens die Verbesserung der Haltungsbedingungen der Tiere und des Bestandsmanagements
für mehr Tiergesundheit, viertens den Erhalt des tierärztlichen Dispensierrechts und fünftens die Trennung
von Human- und Veterinärantibiotika. Das wollen übrigens laut einer aktuellen Umfrage von Forsa auch
83 Prozent der Bürgerinnen und Bürger so.
In einer Kleinen Anfrage „Maßnahmen zur Reduktion
des Antibiotikaeinsatzes in der Tierhaltung“, Bundestagsdrucksache 17/8744, haben wir nachgehakt. Die
ausweichenden Antworten des Agrarministeriums oder
sein Verweis auf die Zuständigkeit der Bundesländer
lässt auf sehr wenig Tatendrang schließen. Das Verschleppen von angekündigtem Tatendrang kennen wir
aus dem Haus bei vielen Themen. Aber beim Thema Antibiotika ist Trägheit unverantwortlich und inakzeptabel.
Nur sehr langsam scheint sich nun auf Druck der Opposition etwas zu bewegen. Der AMG-Entwurf ist jetzt
immerhin im Herbst zugesagt. 2012 hat Staatssekretär
Bleser auf meine Nachfrage bestätigt. Auch die Bundesländer machen Druck. Auf der Frühjahrskonferenz in
Konstanz Ende April verständigten sich die Agrarministerinnen und Agrarminister immerhin auf eine bundesweite Datenbank zur Erfassung des Antibiotikaeinsatzes.
Details werden abzuwarten sein. Der Bundesverband
praktizierender Tierärztinnen und Tierärzte hat seine
Zweifel angemeldet. Die Alternative einer freiwilligen
Datensammlung im Rahmen des Qualitätssiegels „QS“
ist aber aus Sicht der Linksfraktion nicht ausreichend.
So ist ein freier Datenzugang für die Überwachungsbehörden der Länder nicht vorgesehen, aber unverzichtbar. Daher ist der Bund-Länder-Ansatz der Agrarministerinnen und Agrarminister der deutlich bessere Weg.
Es liegen in Deutschland aus dem Berufsstand zahlreiche kluge Empfehlungen und Leitlinien zur Anwendung von Antibiotika in der Tierhaltung vor. Wenn sie
freiwillig in der Praxis nicht konsequent genug umgesetzt werden, müssen sie rechtlich verankert werden.
Staatliches Handeln muss bei so hohen Gesundheitsrisiken für Mensch und Tier unmissverständlich, unverzüglich und konsequent sein. Die Bundesregierung ist es
bislang nicht.
Gestern hat der BUND in Berlin eine Pressekonferenz abgehalten und gefragt: Was hat die Bundesregierung in den letzten Monaten eigentlich getan, nachdem
im November 2011 Studien aus NRW und Niedersachsen
dargelegt haben, dass die massive Vergabe von Antibiotika gerade in der industriellen Tierhaltung gang und
gäbe ist? Was hat Bundesministerin Aigner getan, nachdem der BUND mit seiner Studie im Januar gezeigt hat,
dass Fleisch in den Supermärkten mit multiresistenten
Keimen kontaminiert ist? Was hat die Bundesregierung
seitdem getan, um den Antibiotikamissbrauch zu bekämpfen und die Menge wirksam zu reduzieren?
Nichts, sagen die Experten. Nichts, sagt der BUND.
Nichts, sagen wir. Frau Ministerin Aigner, Sie werden
Ihrer Verantwortung nicht gerecht.
Es reicht eben nicht, betroffen die schlechten Nachrichten und bedrückenden Fakten zum massiven Antibiotikaeinsatz zu kommentieren. Die Bürgerinnen und
Bürger erwarten zu Recht, dass Sie aktiv werden, konkrete Maßnahmen entwickeln und vor allem durchsetzen. Und genau das tun Sie nicht.
Seit einem halben Jahr kündigen Sie gesetzliche
Schritte an und lassen von Zeit zu Zeit ein paar Testballons steigen. Dabei handeln Sie stets nach den Regeln
der Salamitaktik: Scheibchen für Scheibchen - nie mehr
geben als unbedingt nötig. Hauptsache, die Öffentlichkeit wird kurzfristig beruhigt.
So war es nach Veröffentlichung der Studien aus
NRW und Niedersachsen im November. Alle mahnten
grundsätzliche Schritte zur Antibiotikareduktion an, Sie
verwiesen auf die ohnehin anstehende Novellierung des
Arzneimittelgesetzes mit einigen Minimalanpassungen
und waren ansonsten der Ansicht, die Länder müssten
ihre Hausaufgaben machen.
Mit dieser Haltung kamen Sie nach Veröffentlichung
der BUND-Studie zu multiresistenten Keimen nicht mehr
durch. Eilig wurde eine Pressekonferenz einberufen, auf
der die nächsten Scheibchen präsentiert wurden: Die
Bundesregierung - so hieß es dort - werde unter Hochdruck in den nächsten sechs Wochen, also bis Anfang
März, das AMG verschärfen, um den Antibiotikamissbrauch zu reduzieren. Abgesehen davon, dass die vorgestellten Maßnahmen aus unserer Sicht völlig an der eigentlichen Problemstellung - dazu komme ich gleich
noch - vorbeigehen, warten wir bis heute auf die Einbringung in Kabinett und Bundestag. Wie wir hören,
wird es wohl bis nach der Sommerpause dauern, bis der
Zu Protokoll gegebene Reden
Entwurf im Parlament behandelt wird. Dann ist die Studie aus NRW bald ein Jahr alt. Dieses Verzögern und
Verschleppen ist eine Frechheit, Frau Aigner!
Die Bundesregierung begründet den neuerlichen Verzug der Maßnahmen damit, dass sie nun auf Wunsch der
Länder eine bundeseinheitliche Datenbank für Antibiotikaverschreibungen aufbauen will. Das begrüßen wir
natürlich ausdrücklich und sind gespannt auf die Ergebnisse. Denn wir haben bei der transparenten Erfassung
der Daten bereits viel Zeit verloren, weil die Agrarlobby
jahrelang bei Ihnen und Ihrem Amtsvorgänger Seehofer
erfolgreich darauf hingewirkt hat, dass der konkrete Antibiotikamissbrauch für die Landeskontrollbehörden und
die Öffentlichkeit Verschlusssache bleibt. So werden die
Daten zu Antibiotikaverschreibungen heute ausschließlich zu Monitoringzwecken beim DIMDI erfasst.
Und noch nicht einmal das funktioniert: Eigentlich
sollten Pharmaunternehmen und Großhändler bis
31. März 2012 die Daten für 2011 liefern. Nach Auskunft der Bundesregierung sind 37 von 42 Pharmaunternehmen und 15 von 20 Großhändlern ihrer Pflicht bisher nachgekommen. Was für ein Rechtsverständnis, der
Verpflichtung zur Meldung nicht nachzukommen! Warum, Frau Aigner, verzichten Sie eigentlich darauf,
Sanktionen für die säumigen Unternehmen vorzusehen?
Nimmt die Regierung ihre eigenen Gesetze nicht ernst?
Das ist ein skandalöser Zustand, und wir würden es sehr
begrüßen, wenn Sie endlich auf die Forderungen von
Minister Remmel aus NRW eingehen und eine bundeseinheitliche Datenbank aufbauen mit betriebsbezogenen, transparenten und risikoorientierten Daten zur Medikamentenvergabe in Tierhaltungen.
Doch auch wenn die Datenbank endlich kommt,
bleibt die zentrale Frage von Ihnen völlig unbehandelt.
Denn die Fakten liegen schon lange auf dem Tisch. Jetzt
geht es darum, die Ursachen der Antibiotikakrise zu bekämpfen, und das bedeutet: Wir brauchen einen grundsätzlichen Umbau der Tierhaltungssysteme. Aber da gehen Sie bisher überhaupt nicht dran, Frau Aigner.
Dabei zeigen uns doch alle vorliegenden Studien,
dass dort, wo tiergerechte Haltung praktiziert wird, wo
Platz, Auslauf und Frischluft selbstverständlich sind,
der systematische Einsatz von Antibiotika nicht notwendig ist. Was hindert Sie, Frau Aigner, diese nicht neue
Erkenntnis endlich in Gesetze umzusetzen? Auch hier
scheint die Regierung klar im Griff der Agrarlobby zu
sein, die ja bei den Regierungsfraktionen fest im Sattel
sitzt. So zum Beispiel Franz-Josef Holzenkamp, CDUAgrarsprecher, stellvertretender Vorsitzender des niedersächsischen Landvolks und bezahlter Aufsichtsratsvorsitzender bei der Agravis. Kollege Holzenkamp, da
weiß man doch nicht mehr, wem Sie sich verpflichtet fühlen, den Bürgerinnen und Bürgern oder den Wirtschaftsakteuren. Welchen Hut haben Sie wann auf? Das bleibt
für die Steuerzahler doch völlig im Unklaren.
Sie, Frau Ministerin Aigner, sollten sich von solchen
Interessenkonflikten unabhängig machen. Und deshalb:
Sorgen Sie dafür, dass endlich die Haltungsparameter
verschärft werden. Wir dürfen nicht länger zulassen,
dass die Nutztiere eng auf eng gehalten werden. Diese
tierquälerische Haltung widerspricht dem Tierschutz
und ist ein idealer Nährboden für die Bildung und Ausbreitung von multiresistenten Keimen.
Verschärfen Sie die Behandlungsregeln, indem Sie im
AMG ganz klar definieren, wie eine „ordnungsgemäße
Behandlung“ auszusehen hat. Es kann nicht sein, dass
weiterhin große Mengen Antibiotika verschrieben werden, ohne dass eine echte Untersuchung der Tiere
durchgeführt wurde.
Streichen Sie endlich den Zulieferern der industriellen Tierhaltungen die Mengenrabatte auf Arzneimittel.
Es ist nicht einzusehen, dass die Tierärzte, die gewissenhaft jedes einzelne Tier untersuchen und nur im wirklichen Bedarfsfall Antibiotika verschreiben, für ihren verantwortungsvollen Umgang mit Medikamenten bestraft
werden. Es kann nicht sein, dass die einzelne Flasche so
viel teurer ist als die Flasche beim palettenweisen Bezug.
Frau Aigner, werden Sie endlich aktiv und hören Sie
auf zu verschleppen und zu verzögern! Geben Sie Ihre
Salamitaktik auf, und bringen Sie endlich den Mut auf,
an die Ursache des massiven Antibiotikaeinsatzes heranzugehen. Die Wirksamkeit der Antibiotika ist durch
den ungehemmten Einsatz äußerst gefährdet. Es geht
hier nicht um Bonbons. Das ist eine Zeitbombe für uns
Menschen.
Verlassen Sie endlich den Pfad der industriellen Massentierproduktion. Die Zukunft der Tierhaltung ist
bäuerlich.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9068 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Umsetzung der UN-Resolution 1325 mit einem Rechenschaftsmechanismus fördern
- Drucksache 17/8777 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Wenn wir auf die letzten Jahre zurückblicken, können
wir weltweit deutliche Fortschritte in der Frage der
Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen feststellen. Dies belegen nicht zuletzt Ergebnisse aus den
Millennium Development Goals.
Statistiken belegen glasklar: Erstens, dass die Einschulungsrate in zwei Drittel der Entwicklungsländer
zwischen Mädchen und Jungen fast ausgeglichen ist,
womit wir einer wichtigen Zielvorgabe der Milleniumserklärung bereits näher gekommen sind; und, zweitens,
dass die Perspektive für Frauen als wirtschaftlich aktive
Bestandteile der Gesellschaft durch entwicklungspolitische Maßnahmen verschoben werden konnte, sodass
diese nicht mehr ausschließlich in der Landwirtschaft
beschäftigt sind. Auch das ist als Erfolg zu werten.
Innerhalb Deutschlands sind wir aktiv und setzen die
Ideen der UN-Resolution aktiv um. Diese Erfolge sind
unter anderem auch der kontinuierlichen Entwicklungszusammenarbeit der Bundesregierung zu verdanken.
Die Bundesregierung leistet in ihrer Entwicklungsarbeit
somit einen wichtigen Beitrag auf dem Weg zur Gleichberechtigung in unseren Partnerländern. Das Schlagwort im Kampf gegen Diskriminierung von Frauen heißt
Empowerment: Erstens. Empowerment durch Bildung
und Ausbildung. Zweitens. Empowerment durch Zugang
zur Rechtsprechung. Drittens. Empowerment durch
politischer Teilhabe. Viertens. Empowerment durch Aufklärungskampagnen. Gleichzeitig muss man aber auch
feststellen, dass vor allem in Entwicklungsländern und
Krisengebieten weiter massiver Handlungsbedarf zum
Schutz der Rechte von Frauen besteht. Richtig ist, dass
es Defizite in der Umsetzung auf EU-Ebene gibt. Nicht
Deutschland sollte die Opposition anklagen, sondern
erst einmal andere multilaterale Organisationen, wie
die EU. Es ist die EU und nicht die Bundesregierung, die
noch nicht verstanden hat, dass Frieden auch Frieden
zwischen den Geschlechtern ist und mehr als „adding
women to the process“. Deshalb müssen folgende
Punkte in der EU vorangetrieben werden, und ich hätte
mir gewünscht, dass Ihr Antrag auf diese Fragen eingeht.
Erstens. Gender muss ins zivile Krisenmanagement
integriert werden, zum Beispiel mit Gender Focal Points
und EU-Special-Representatives. Zweitens. Gendertraining für EU-Personal mit Best Practices und konkreten
Beispielen. Drittens. Betroffene Bevölkerungs- und
Frauengruppen müssen kontaktiert werden. Viertens.
Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik
({0}), muss vor allem auf Prävention setzen, statt auf
reaktives Krisenmanagement fixiert zu bleiben. Fünftens. Resolution 1325 muss auf EU-Ebene wie national
umgesetzt werden, unter anderem durch Netzwerkarbeit
von NGOs.
Aber es gibt auch bei uns noch Defizite. Selbst in
einer Industrienation wie Deutschland brauchen wir nur
auf die Vorstandsetagen schauen und die damit zusammenhängende Debatte um die Frauenquote. International stehen wir vor noch größeren Herausforderungen.
Erstens. Frauen machen 70 Prozent der ärmsten
Menschen der Welt aus. Zweitens. Die Frauen- bzw.
Müttersterblichkeitsrate in Entwicklungsländern ist immer noch zu hoch, denn über eine halbe Millionen
Frauen und Mädchen sterben jährlich an den Komplikationen einer Schwangerschaft oder während der Geburt.
Drittens. Frauen, die eine Beschäftigung ausüben, arbeiten häufig im Niedriglohn- oder informellen Sektor
und können ihre Rechte kaum oder gar nicht einfordern.
Viertens. Frauen sind häufig den unterschiedlichsten
Formen der Gewalt ausgesetzt: Beschneidung, systematische Vergewaltigung, Misshandlung.
Zur Überwindung solcher Defizite hat das BMZ in
dieser Legislatur Akzente gesetzt und einen Entwicklungspolitischen Gender-Aktionsplan auf den Weg gebracht. Darin werden auch „Frauen in bewaffneten
Konflikten und ihre Rolle bei der Konfliktbearbeitung“
berücksichtigt. In Orientierung an den UN-Sicherheitsresolutionen werden gezielt Maßnahmen identifiziert,
die in Krisenländern frauenspezifische Belange durch
entwicklungspolitische Maßnahmen begleiten. Außerdem sollen Frauen ganz gezielt, verstärkt und gleichberechtigt in den Aufbau einer demokratischen und
gerechten Gesellschaftsordnung einbezogen werden.
Gleichzeitig soll in Konflikt- und Postkonfliktgesellschaften die Gewaltbereitschaft von Männern gegenüber Frauen durch Aufklärung und Verarbeitung der
Konflikte eingedämmt werden.
Konkret heißt das zum Beispiel: Wir wollen in unseren Partnerländern: Erstens. Wir planen, Hilfe für Opfer sexueller Gewalt und ehemalige Kombattantinnen zu
leisten, indem wir die psychologische und medizinische
Versorgung stärken oder mehr geschützte Räume, zum
Beispiel Frauenhäuser, schaffen. Zweitens. Wir planen,
Frauen den Zugang zur Rechtsprechung, beispielsweise
durch Rechtsberatungsangebote und erweiterte Informationsmöglichkeiten, zu erleichtern.
Dies sind nur einige Ansatzpunkte, welche dem „Entwicklungspolitischen Gender-Aktionsplan 2009 bis
2012“ des BMZ zu entnehmen sind, ein Aktionsplan, der
eben nicht nur die UN-Resolutionen berücksichtigt, sondern umfassender ist und die Schaffung der Geschlechtergleichberechtigung als Schlüssel zu nachhaltiger
Entwicklung begreift.
Ich habe mir den Antrag der SPD gut durchgelesen,
der die Bundesregierung noch einmal mit Nachdruck
dazu anhält, die Umsetzung der Resolution 1325 voranzutreiben und darüber hinaus noch eine Rechenschaftspflicht einzuführen. Meiner Ansicht nach ist diese Pflicht
derzeit nicht notwendig, weil wir in unserer Tagespolitik
hart daran arbeitende Resolution umzusetzen.
Deswegen sind auch Priorisierungen wie ein nationaler Aktionsplan überflüssig. Mir scheint, die Kollegen
von SPD und Grüne sind aus lauter Profilierungssucht
in UN-Fragen wieder einmal über das Ziel hinausgeschossen. Sie mögen darin recht haben, dass wir noch
lange nicht da sind, wo wir hinwollen, im Kampf gegen
die Unterdrückung und für die Rechte von Frauen. Aber
ich kann leider nicht recht erkennen, inwiefern ein nationaler Aktionsplan und eine Rechenschaftspflicht die
Umsetzung der Resolutionen 1325 und deren Nachfolgeresolutionen vorantreiben soll, denn: Ein nationaler
Aktionsplan und eine Rechenschaftspflicht würden gegenüber dem bestehenden deutschen Engagement für
die Umsetzung bis auf das politische Zeichen keinen
entscheidenden Mehrwert erzeugen Davon abgesehen
war die Forderung auch so nicht in dem umfassenden
Antrag vom 3. März 2010 „Internationaler Frauentag Zu Protokoll gegebene Reden
Gleichstellung national und international durchsetzen“
enthalten.
Der Sinn des Aktionsplans und einer Rechenschaftspflicht besteht im Wesentlichen darin, die Regierungen
dazu anzuhalten, die VN-Resolutionen umzusetzen und
das Engagement nachprüfbar zu machen, insbesondere
für das Parlament. Die Nachprüfbarkeit ist durch die
ständigen Berichte der Bundesregierung seit 2004 ohnehin gewährleistet, ebenso wie unser Engagement für die
Umsetzung der VN-Resolutionen.
Ich verweise hier zum Einen auf die „Freundesgruppe der Resolution 1325“, der Deutschland angehört. Zum anderen nimmt Deutschland an den jährlichen offenen Debatten im VN-Sicherheitsrat teil und
setzt sich für die Berücksichtigung der in der Resolution
enthaltenen Forderungen in allen VN-Gremien ein. Auf
nationaler Ebene erfolgt die Umsetzung durch die verschiedenen beteiligten Ressorts. Eine interministerielle
Arbeitsgruppe zu Resolution 1325 ist die Koordinierung
der Ressorts und die Vernetzung von ressortübergreifenden Arbeitskreisen, die auf verwandten Gebieten arbeiten, zum Beispiel mit dem Arbeitskreis „Zivile Krisenprävention“ oder dem Ressortkreis „Afghanistan“. Ich
halte einen Aktionsplan und Rechenschaftspflicht zu Resolution 1325 nochmals für überflüssig. Die erheblichen
Ressourcen für solch ein Dokument sollten besser genutzt werden, und wir sollten andere Möglichkeiten zur
besseren Umsetzung der Resolution 1325 und zur Schaffung der Geschlechtergleichstellung erwägen.
Deutschland kann und muss dabei seinen Einfluss im
UN-Sicherheitsrat, den Arbeitsgruppen und Gremien
geltend machen. Auf deutsche Initiative hin wurde die
Arbeitsgruppe „Kinder in bewaffneten Konflikten“
gegründet. Die spezielle Situation von Mädchen in bewaffneten Konflikten muss da unbedingt berücksichtig
werden.
Mit unserem Antrag teilen wir die Auffassung des
Deutschen Instituts für Menschenrechte, welches in seinem Bericht zu Frauen und Sicherheit feststellt, dass bei
der Umsetzung der Resolution 1325 zu Frauen, Frieden
und Sicherheit noch keine nachhaltigen Erfolge sichtbar
sind. Die Resolution 1325 und ihre Folgeresolutionen
1820, 1888 und 1889 wurden mit dem Ziel verabschiedet, Frauen in allen Phasen der Konfliktbewältigung
und Konfliktprävention aktiv einzubinden und ihren
Schutz in bewaffneten Konflikten sicherzustellen. Der
Resolution 1325 liegt die Erkenntnis zugrunde, dass nur
eine geschlechtersensible Friedens- und Sicherheitspolitik soziale Gerechtigkeit und nachhaltigen Frieden
bewirken kann.
Die Realität bei der Umsetzung der Resolution ist
aber enttäuschend: Der prozentuale Anteil von Frauen
beim militärischen Personal oder in Führungsetagen internationaler Peacekeeping-Operationen ist immer
noch sehr gering. Gleiches gilt für die Einbeziehung von
Frauen bei der Aushandlung von Friedensverhandlungen. Letztere beinhalten zentrale Weichenstellungen für
spätere sozial- und machtpolitische Entwicklungen, die
dann ohne die Beteiligung von Frauen zustande kommen. Der Frauensicherheitsrat weist zu Recht darauf
hin, dass es meist Fraueninitiativen sind, die in und
nach Krisen und Konflikten als erste über ethnische und
religiöse Schranken hinweg den Dialog aufnehmen. Es
muss daher unser aller Interesse sein, Frauen in Kriegen und Konflikten besser zu schützen und entsprechend
ihres Bevölkerungsanteils in VN-Missionen und Friedensverhandlungen einzubinden.
Besonders problematisch für die Umsetzung der Resolution 1325 hat sich die schleppende Implementierung
auf nationalstaatlicher Ebene erwiesen. Eine Reihe von
Staaten ist der Aufforderung des VN-Generalsekretärs
bislang nicht gefolgt, einen nationalen Aktionsplan zur
Umsetzung der Resolution 1325 vorzulegen. Auch
Deutschland gehört nach wie vor zu dieser Gruppe von
Ländern, und die Bundesregierung hat entsprechende
Aufforderungen aus den Reihen der Oppositionsparteien
abgelehnt. Hier zeigt sich ein entscheidender Faktor für
die mangelhafte Umsetzung der VN-Resolution, der in
mangelndem politischen Willen der Regierungen begründet liegt.
VN-Generalsekretär Ban Ki-moon bemängelt in seinem Bericht zu Frauen, Frieden und Sicherheit aus dem
Jahre 2009, dass ein Evaluations- und Rechenschaftsmechanismus vergleichbar dem der Resolution 1612 zu
Kindern in bewaffneten Konflikten fehlt. Mit diesem Antrag greifen wir den Vorschlag des Generalsekretärs
auf und fordern einen Evaluations- und Rechenschaftsmechanismus zum systematischen Sammeln, Vergleichen und Publikmachen von Informationen zur
Resolution 1325. Auf diese Weise können Transparenz
und Vergleichbarkeit hergestellt und der Druck auf
Staaten erhöht werden, die Vorgaben des Sicherheitsrats entsprechend umzusetzen. Das Instrument des Naming and Shaming und die Möglichkeit, Sanktionen zu
verhängen, haben sich dabei für den Umsetzungserfolg
der Resolution 1612 als besonders förderlich erwiesen
und sollten auch für die Resolution 1325 entsprechend
eingerichtet werden.
Wir fordern, dass die Bundesregierung als derzeitiges
Mitglied im VN-Sicherheitsrat ihrer besonderen Stellung
gerecht wird und die Schlüsselrolle von Frauen bei der
Prävention und Lösung von Konflikten, bei der Friedenskonsolidierung sowie beim Wiederaufbau verstärkt
wahrnimmt und anerkennt. Dazu gehört unter anderem,
unverzüglich einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325 vorzulegen, ausreichend zu
budgetieren und für diesen zu werben. Wir fordern die
Bundesregierung auf, noch während ihrer Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat einen Resolutionsentwurf
einzubringen, der den Gedanken des VN-Generalsekretärs aufgreift und einen Rechenschaftsmechanismus
ähnlich dem der Resolution 1612 für die Resolution
1325 fordert. Es ist an der Zeit, die besondere Rolle von
Frauen als Akteurinnen für den Frieden nicht nur durch
Worte sondern auch durch Taten anzuerkennen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zeitgleich mit der Formulierung der Millenniumsentwicklungsziele verabschiedeten die Vereinten Nationen
im Jahr 2000 die Resolution 1325 „Frauen, Frieden und
Sicherheit“. Diese war das Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses und ist ein wichtiges Symbol für einen
Perspektivwechsel.
Frauen rücken immer deutlicher in das Blickfeld, in
das Blickfeld nicht nur von Wissenschaftlern, sondern
auch von Politikern. Den Wahrnehmungswandel halte
ich für richtig und wichtig und freue mich daher sehr, in
diesem Hohen Hause das Thema aufgreifen zu können.
Nicht nur mit Blick auf Afghanistan, sondern in Bezug
auf zahlreiche weitere Konflikte und Kriege stehen wir
heute und in Zukunft vor großen Herausforderungen.
Frauen als Friedensstifter tragen Potenzial - sowohl zur
friedlichen Konfliktlösung als auch zur künftigen Konfliktprävention.
„Frieden und Sicherheit“ - das sind Ziele, über die
wir auf nationaler und internationaler Ebene verhandeln. Sie bestimmen auch die Umsetzung der vorliegenden Resolution.
Die Resolution und die folgenden Resolutionen fordern verstärkte Sicherheitsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung. Ausgangslage dieser Forderung bildet die
starke Bedrohung und Unsicherheit von Frauen und
Kindern. Als größte Opfer kriegerischer Handlungen
tragen sie zugleich das größte friedensstiftende Potenzial in sich. Die Resolution betont daher richtig ihre herausragende Rolle für das Gelingen von Friedensprozessen.
Seit der Beschlussfassung der Resolution 1325 vor
mittlerweile rund zwölf Jahren gibt es einen vielfältigen
Prozess der Umsetzung. Wie auch in dem Antrag der
SPD-Fraktion beschrieben, gibt es Länder, die der Resolution durch die Umsetzung eines nationalen Aktionsplans nachkommen, andere tun dies nicht. Das bedeutet
jedoch nicht, dass sie den Forderungen der Resolution
nicht nachkommen. Ein nationaler Aktionsplan ist eine
Möglichkeit der Umsetzung der Forderungen der UNResolution; nicht jedoch die einzige.
Die Bundesregierung hat mit dem ressortübergreifenden Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ bereits ein sehr
umfassendes Instrument geschaffen. Er umfasst die geforderte Stärkung und Einbeziehung der Frauen in Mechanismen der Konfliktbearbeitung und Friedensschaffung. Das ist meiner Meinung nach völlig ausreichend,
um eine zielorientierte Umsetzung der UN-Resolution
1325 zu erreichen. Die Forderung der SPD-Fraktion
nach einem weiteren Aktionsplan teilen wir daher nicht.
Dies würde einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand mit
sich bringen, der in keiner Relation zu der Wirksamkeit
eines solchen Aktionsplanes steht.
Den nötigen Perspektivwechsel, den die UN-Resolution fordert, hat es bereits gegeben. Er befindet sich in
einem Prozess konstanter Umsetzung - Umsetzung nicht
nur auf Papier, sondern vor Ort in den Konfliktregionen.
Die UN-Resolutionen zeichnen sich durch relativ
klare und entschiedene Formulierungen und Absichtserklärungen aus. In der Realität herrscht immer noch ein
etwas anderes Bild vor: Der Frauenanteil in militärischen EU-Missionen zum Beispiel liegt bei circa 6 Prozent und in den zivilen Missionen bei 8 Prozent. Vor diesem Hintergrund liegt es in der Natur der Sache, dass
die Forderung, Frauen auf allen Ebenen einzubeziehen,
zunehmend energischer diskutiert wird. Weitere Resolutionen wurden verabschiedet mit der Maßgabe, die Rolle
der Frauen als friedenspolitische Akteurinnen zu stärken und sie nicht primär oder gar ausschließlich als
schutzbedürftig zu betrachten.
Frauen werden - nicht nur in der Friedens- und Sicherheitspolitik - berücksichtigt und gefördert. Das ist
auch wichtig; das steht außer Frage. Dass in diesem Zusammenhang der Wunsch nach einer Quotierung besteht, ist nachvollziehbar, jedoch nicht zielführend. Bereits jetzt achtet die Bundesregierung in der Arbeit in
allen Ressorts auf das sogenannte Gender-Mainstreaming. Auch dies ist schon eine gelungene Umsetzung der
hier vorgelegten Wünsche und wesentlich produktiver,
als auf eine quantitative Quote zu setzen.
Wir haben mit der Entwicklung des vernetzten Ansatzes ziviler und militärischer Mittel in Konfliktsituationen einen großen Schritt nach vorne gemacht. Das
Thema hat in der jüngsten Vergangenheit eine größere
Bedeutung erlangt. Krisen und Konflikte sind komplexer
geworden in den vergangenen Jahren. So müssen wir neben dem klassisch militärischen Bereich auch die ökonomische, entwicklungspolitische, soziale und kulturelle
Komponente vor Augen haben.
Prävention, Bewältigung und Nachsorge von Konflikten kann unter den Bedingungen unseres Jahrhunderts
nur funktionieren, wenn unterschiedliche Maßnahmen
in einem umfassenden Konzept miteinander vernetzt
werden.
Zusammengefasst lässt sich sagen. Die Umsetzung
der UN-Resolution 1325 ist auch zwölf Jahre nach ihrer
Verabschiedung auf einem guten Wege.
Die Bundesregierung weiß um ihre Pflicht und handelt. Daher sind die hier vorliegenden Oppositionsanträge nicht notwendig.
Die UN-Resolution 1325 hat uns ja schön häufiger in
dieser Wahlperiode beschäftigt. Dabei geht es um den
Schutz von Frauen und Mädchen in bewaffneten Konflikten, aber auch - und das ist mir besonders wichtig um ihre Einbeziehung in Friedensprozesse. Wie wichtig
das ist, können wir beinah in allen aktuellen Krisen- und
Konfliktregionen sehen. Die Revolutionen in den arabischen Staaten wären ohne Frauen nicht möglich gewesen. Heute geht es den Frauen in diesen Ländern, zum
Beispiel in Ägypten, nicht besonders gut, und was aus
den hoffnungsvollen Emanzipationsbewegungen in diesen Ländern wird, steht in den Sternen.
Vor etwas mehr als einem Jahr haben wir hier aus
Anlass des zehnjährigen Bestehens der UN-Resolution
Zu Protokoll gegebene Reden
einen gemeinsamen Antrag der drei Oppositionsfraktionen debattiert, in dem wir festgehalten haben, was Konsens bei SPD, Linken und Grünen in diesem Haus ist.
Wir waren uns einig, dass wir die schleppende Umsetzung dieser völkerrechtlich verbindlichen Regelung
nicht mehr hinnehmen wollen, und haben uns auf fünf
Punkte verständigt, die wir gemeinsam von der Bundesregierung verlangen:
Erstens fordern wir gemeinsam einen nationalen Aktionsplan, in dem verbindliche Schritte für die Umsetzung der Verpflichtungen Deutschlands aus dieser Resolution beschrieben werden.
Zweitens legen wir Wert darauf, dass ein solcher Aktionsplan nicht in irgendwelchen Regierungshinterstübchen entsteht, sondern dass schon bei der Entstehung
die Zivilgesellschaft, also Frauen-, Friedens- oder Entwicklungsorganisationen, einbezogen werden.
Drittens sind wir der Auffassung, dass ein solcher Aktionsplan auch mit entsprechenden finanziellen Mitteln
ausgestattet werden muss, um überhaupt wirksam zu
werden.
Viertens soll die Bundesregierung die Umsetzung regelmäßig evaluieren und überwachen und fünftens dem
Bundestag gegenüber jährlich über die Fortschritte des
Aktionsplans berichten.
Dieser interfraktionelle Antrag wurde zu unser aller
Bedauern mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Schwarz-Gelb will keine Verpflichtungen, keine
Evaluierungen und erst recht kein Geld ausgeben, um
die Rolle von Frauen in Friedensprozessen zu stärken.
Dass die SPD das Thema nun erneut einbringt, ist natürlich zu begrüßen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Sie müssen sich dann schon fragen lassen, warum Sie
mit Ihrem heute zur Debatte stehenden Antrag deutlich
hinter unserer gemeinsamen Positionierung vom letzten
Jahr zurückbleiben.
Vor allem fällt negativ auf, dass Sie die Erarbeitung
eines nationalen Aktionsplans nun doch wohl ausschließlich der Bundesregierung überlassen wollen. Von
der Einbeziehung der Zivilgesellschaft ist jedenfalls bei
Ihrem Antrag nun nicht mehr die Rede. Aber für die
Linke ist dies ein Knackpunkt, ohne den Sie unsere Zustimmung beim besten Willen nicht erwarten dürfen. Ein
wirkungsvoller Aktionsplan braucht nicht nur den politischen Willen der Regierung, er braucht auch den Sachverstand und die gesellschaftliche Breite von Nichtregierungsorganisationen, um seine Wirkung zu entfalten. Er
braucht Anwältinnen und Anwälte außerhalb des Parlaments, die seine Umsetzung kritisch und wach begleiten.
Sonst droht einem Aktionsplan zu 1325 dasselbe, was
diese Bundesregierung in der zivilen Krisenprävention
anrichtet: Sie wird von desinteressierten Staatssekretärinnen und Staatssekretären sowie Ministerinnen und
Ministern in Sonntagsreden gelobt, aber im Alltag vernachlässigt.
Im Übrigen habe ich einige Dokumente und Anträge
von SPD-Frauen gelesen, die erheblich konkreter sind
als das, was die Fraktion hier vorlegt. So fordert zum
Beispiel die Landesfrauenkonferenz der Berliner Sozialdemokratinnen am 23. April dieses Jahres, „Soldaten,
die in Auslands- und anderen Einsätzen gegen Menschen- bzw. Frauenrechte verstoßen, ausnahmslos auch
strafrechtlich zu verfolgen und in keine weiteren Einsätze mehr zu entsenden“.
Das wäre doch schon mal ein Anfang. Die Linke
bleibt allerdings dabei, dass gar keine Soldaten mehr in
Kriegseinsätze entsandt werden sollen.
In diesem Jahr jährt sich zum zwölften Mal die Verabschiedung der UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden
und Sicherheit“ - ein historischer Meilenstein auf dem
Weg hin zu einer geschlechtersensiblen Friedens- und
Sicherheitspolitik. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der VN wurde in völkerrechtlich verbindlicher
Form eine aktive Rolle von Frauen bei der Konfliktprävention und Konfliktbewältigung gefordert.
Damit wurde endlich die Tatsache anerkannt, dass
Frauen in Konflikten und beim Wiederaufbau eines Landes oft die Hauptlast tragen, ohne dass sie über einen
entsprechenden politischen Einfluss verfügen.
Frauen in den Konfliktgebieten dieser Welt können
sich auf diese Resolution berufen. Doch leider zeigt sich
in der Praxis, dass die Bilanz bei der Umsetzung von Resolution 1325 bis heute eher mager ausfällt. Denn in den
meisten Konflikten sehen sich die Parteien nicht an die
Resolution 1325 und die Folgeresolutionen, wie etwa
1820, 1888, 1989 und 1960, gebunden.
Nach einer Studie von UNIFEM aus dem Jahr 2009
waren in den 22 seit 1992 durch die UN geführten Friedensverhandlungen nur 7,5 Prozent der Verhandelnden
weiblich, und nur knapp 3 Prozent Frauen waren Unterzeichnerinnen in 14 Friedensgesprächen. Das sind vernichtend geringe Zahlen. Dabei wäre es so wichtig, die
Kompetenzen und Ideen von Frauen in die Krisenprävention und beim nachhaltigen Friedensaufbau einzubeziehen. Denn gerade zivilgesellschaftliche Gruppen, wie
beispielsweise lokale Fraueninitiativen, leisten unersetzbare Arbeit im Bemühen um eine nachhaltige Friedenskonsolidierung.
Wie ernüchternd die Bilanz für Frauen ausfällt, zeigen ein Jahr nach Beginn des arabischen Frühlings beispielsweise die Entwicklungen in Tunesien und Ägypten.
Während der Proteste standen die Frauen in Tunesien,
in Ägypten oder im Jemen in der ersten Reihe. Männer
und Frauen demonstrierten Seite an Seite für ein Leben
in Würde, für Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Und obgleich Tunesien, was die Frauenrechte
angeht, Vorreiter in der arabischen Welt ist und beim
Wahlrecht sogar eine Quotierung von 50 Prozent hat,
gab es in den ersten beiden Übergangsregierungen jeweils nur eine Frau. Nach den Wahlen sind gerade einmal zwei Frauen in der Regierung, und keiner der wichtigen Ministerposten ging an eine Frau.
Noch weitaus schwieriger stellt sich die Situation der
Frauen in Ägypten dar: Sie sind leider die großen Verlierer der Revolution. In der zehnköpfigen VerfassungsZu Protokoll gegebene Reden
Kerstin Müller ({0})
kommission war keine einzige Frau vertreten, obwohl
gerade Frauen zur zentralen Frage der Gleichstellung
von Frauen in der Verfassung viel beizutragen hätten.
Im neu gewählten Parlament sitzen lediglich 2 Prozent
Frauen. Und noch vor Wochen ging das Militär mit brutaler Härte gegen friedlich demonstrierende Frauen vor.
Sie wurden verprügelt - die Bilder gingen um die Welt oder unsittlichen und menschenverachtenden Jungfrauentests unterzogen. Hillary Clinton nannte es eine
Schande, dass Frauen, die genauso wie Männer ihr Leben für die Revolution riskiert hätten, nun systematisch
erniedrigt und von der Macht ausgeschlossen werden.
Recht hat sie!
Deshalb brauchen die Frauen in der arabischen Welt
unsere ganze Unterstützung. Denn wenn der Wandel von
Dauer sein soll, müssen jetzt auch die Frauen systematisch an der Gestaltung der neuen Demokratien beteiligt
werden.
Leider wird Gewalt gegen Frauen auch in vielen
Kriegen weiter systematisch als Kriegswaffe eingesetzt.
Jüngstes Beispiel ist der Putsch in Mali: Hier jagen Islamisten unverschleierte Frauen und Mädchen und vergewaltigen sie. Die Verpflichtungen aus den Resolutionen 1325 und 1820, der Schutz von Frauen vor sexueller
Gewalt, werden in krasser Weise verletzt.
Diese Beispiele zeigen, dass die Forderungen aus der
UN-Resolution 1325 und den Folgeresolutionen endlich
auf internationaler Ebene konsequent umgesetzt werden
müssen.
Sicherlich gibt es auf der EU- sowie auf der UNEbene Fortschritte, wie etwa die Schaffung von UN
Women 2010 oder die Ernennung von Margot Wallström
als UN-Sonderberichterstatterin zu sexueller Gewalt in
Konflikten. Auch Deutschland ist bemüht, in zahlreichen
Einzelmaßnahmen die Resolution umzusetzen.
Allerdings ist es ein Skandal, dass Deutschland fast
zwölf Jahre nach der Verabschiedung der Resolution
noch immer keinen eigenen nationalen Aktionsplan zur
Umsetzung der Resolution 1325 verabschiedet hat, so
wie Kofi Annan dies bereits 2005 von allen UN-Mitgliedstaaten gefordert hat. Deutschland sitzt seit Januar
2011 wieder im UN-Sicherheitsrat und hat nicht einmal
das Stichwort UN-Resolution 1325 auf seiner UNAgenda. Das ist wirklich mehr als peinlich, denn damit
droht Deutschland nun zum europäischen Schlusslicht in
dieser Frage zu werden und seinen Ruf als glaubwürdiger Makler im Sicherheitsrat zu verlieren. In dieses Bild
passt auch, dass Deutschland 2011 lediglich Rang 16
der Geberländer für den Kernhaushalt von UN Women
einnimmt. Antonie de Jong von UN Women sagt: „Der
deutsche Beitrag“ - von 818 000 Euro - „passt nicht zusammen mit der Führungsrolle, die Deutschland in den
Vereinten Nationen übernimmt … Wir hatten uns von
Deutschland hinten eine Null mehr erhofft.“ Zitat „Die
Welt“ vom 11. August 2011. Recht hat sie.
Daher bin ich froh, dass die Fraktionen der SPD, der
Linken und von Bündnis 90/Die Grünen bereits im letzten Jahr einen gemeinsamen Antrag für die Schaffung
eines nationalen Aktionsplans eingebracht haben. Einen
solchen werden wir bei anderen Mehrheitsverhältnissen
in der nächsten Legislaturperiode auf den Weg bringen.
Denn damit werden wir dann die UN konkret unterstützen.
Ergänzend zu einem solchen Aktionsplan einen Rechenschaftsmechanismus einzuführen, wie es die SPD in
ihrem Antrag vorschlägt, um die Resolution 1325 auf
nationaler Ebene voranzureiben, ist eine gute Idee, und
daher unterstützen wir diesen Antrag. Denn wie wichtig
die Umsetzung der Resolution 1325 ist, zeigt die Situation von Frauen im Kongo, in Dafur, im Südsudan, in
Afghanistan und in der arabischen Welt. Wir dürfen die
Hoffnungen dieser Frauen nicht enttäuschen und müssen daher alles dafür tun, dass die Resolution 1325 umgesetzt wird.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/8777 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Damit sind Sie wiederum einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Gerd Bollmann, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schadstoffbelastung durch Abfallmitverbrennung senken - Gleiche Bedingungen für Müllverbrennung und Abfallmitverbrennung
- Drucksache 17/9555 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Die Reden wurden zu Protokoll genommen.
Der Antrag der SPD-Fraktion, den wir heute hier beraten, zeigt einmal mehr den verzweifelten Versuch,
durch Irreführung und Verängstigung der Bevölkerung
Klientelpolitik zu betreiben. Dieser Versuch wird dem
ernst zu nehmenden Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf einen wirksamen Schutz vor möglichen Belastungen bei der Abfallverbrennnung nicht gerecht.
Denn dieser Antrag verschleiert, dass die Alternative
zur Verbrennung der Abfälle die Deponierung wäre. Die
ist aber weniger sinnvoll als der Verbrennungsprozess,
weil durch die Deponierung der Abfälle an der Erdoberfläche ebenfalls eine Belastung der Umwelt entsteht und
die in den Abfällen gebundene Energie nicht nutzbar gemacht wird. Aus diesem Grund - und weil die Deponiekapazitäten für das Abfallvolumen nicht zur Verfügung
stehen - ist eine Deponierung der Abfälle auch rechtlich
weitestgehend untersagt.
Darüber hinaus reichen die Kapazitäten der bestehenden Müllverbrennungsanlagen aber auch zur Verbrennung der gesamten anfallenden Abfallmenge nicht
aus. Deshalb ist die Mitverbrennung unverzichtbar.
Um die Abfallmengen für die Verbrennung herrscht
ein Wettbewerb zwischen den überwiegend kommunalen
Abfallverbrennungsanlagen und Abfallmitverbrennungsanlagen um die energiereichsten und damit ertragreichsten Abfälle.
Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Kollegen
der SPD sich zum verlängerten Arm der kommunalen
Abfallentsorger machen, wenn sie fordern, die Abfallmitverbrennung in Kraft- und Zementwerken unter die
gleichen Voraussetzungen zu stellen wie die Abfallverbrennung in Müllverbrennungsanlagen. Hinter dem vorgetragenen Anliegen des Schutzes der Bevölkerung vor
Beeinträchtigungen der Luftqualität steht ein wirtschaftliches Interesse.
Die technischen Bedingungen in abfallmitverbrennenden Kraftwerken lassen nur die Verbrennung aufwendig aufbereiteter Siedlungsabfälle zu. Für diese Aufbereitung ist nur der geringste Teil dieser Abfälle
geeignet. Im Wesentlichen kann in Kraftwerken nur
Klärschlamm verbrannt werden, der eine größere Energiedichte besitzt, leicht aufzubereiten ist und nicht zu
Beschädigungen an den Verbrennungseinrichtungen
führt.
Die Müllverbrennungsanlagen können zwar den gesamten Siedlungsabfall technisch verarbeiten, haben
aber mit Blick auf den Ertrag ihrer Anlagen ein großes
Interesse am energiereichen Klärschlamm. Weil aber die
Kapazitäten der reinen Müllverbrennungsanlagen für
die entstehenden Mengen Klärschlamm und Siedlungsabfälle nicht ausreichen, müssten die nicht verbrennbaren Abfälle ungenutzt deponiert werden.
Diese Faktenlage kennen auch die Kollegen der
SPD-Fraktion. Denn sie selbst haben in der rot-grünen
Regierungszeit unter Bundeskanzler Schröder und Umweltminister Trittin im Jahr 2003 die aktuelle 17. Bundes-Immissionsschutzverordnung verabschiedet, die sie
jetzt kritisieren. Die unterschiedliche Behandlung von
reinen Abfallverbrennungsanlagen und Abfallmitverbrennungsanlagen haben Sie nicht abgeschafft. Das ist
wohl ein Fall von Gedächtnisschwund.
Was damals, etwa durch die grüne NRW-Umweltministerin Bärbel Höhn, noch als energetisch sinnvolle
Verwertung von Abfällen angesehen wurde, heißt heute
„Ökodumping“. Dieser Begriff soll den Eindruck erwecken, Kraft- und Zementwerken würde zulasten der Bevölkerung und Umwelt gestattet, bei der Mitverbrennung des Abfalls mehr gesundheitsgefährdende Stoffe
auszustoßen als reine Abfallverbrennungsanlagen.
Auch hier zeigt ein Blick auf die Fakten, dass diese
Behauptung nichts mit der Realität zu tun hat. Die
17. Bundes-Immissionsschutzverordnung bestimmt in
ihrer derzeit geltenden Fassung, dass hinsichtlich des
Ausstoßes aller gesundheitsgefährdender Stoffe, insbesondere von Dioxinen, Schwermetallen und organischen
Schadstoffen, dieselben Anforderungen gelten wie für
reine Abfallverbrennungsanlagen. Ebenso ist die von
der SPD geforderte regelmäßige Schadstoffmessung bereits durch die Verordnung vorgeschrieben.
Auch die Immissionsprüfung im Umfeld der Verbrennungsanlagen, die die tatsächliche Belastung der Bevölkerung ständig überwacht, muss in beiden Fällen die
gleichen strengen Anforderungen erfüllen.
An diesen Anforderungen ändert auch die Umsetzung
der IED-Richtlinie nichts, die wir zurzeit beraten.
Über die sogenannte Mischungsregelung wird grundsätzlich nur bei Großfeuerungsanlagen zwischen den
beiden Anlagentypen unterschieden. Sie bestimmt aber
auch, dass mit steigender Menge des mitverbrannten
Abfalls die Grenzwerte absinken. Ab einem Anteil an der
gesamten Brennstoffmenge von 25 Prozent gelten die
gleichen Anforderungen an die Emissionen wie bei einer
reinen Abfallverbrennungsanlage.
Diese Regelung ist den unterschiedlichen technischen
Bedingungen in Abfallverbrennungsanlagen und Mitverbrennungsanlagen geschuldet. Würde diese Regelung gestrichen, könnte eine Mitverbrennung in Kraftund Zementwerken nicht erfolgen. Dann müsste, wie
eingangs gesagt, ein Großteil der Abfälle ohne energetische Verwendung deponiert werden.
Allein dieser Umstand reicht aber auch nicht aus, um
einen höheren Schadstoffausstoß bei der Mitverbrennung zu rechtfertigen. Vielmehr muss hinzukommen,
dass auch durch die höheren Schadstoffemissionen die
Grenzwerte für die Umgebungsluft eingehalten werden
und keine Gesundheitsgefährdung der Bevölkerung entsteht. Die Verantwortbarkeit dieser Schadstoffmehrbelastung der Luft ist deshalb mit Blick auf die Auswirkungen auf die Bevölkerung durch mehrere medizinische
Gutachten untersucht worden. Übereinstimmendes Ergebnis dieser Untersuchungen war, dass bei Einhaltung
der festgelegten Grenzwerte die Konzentrationen der
ausgestoßenen Schadstoffe in der Umgebungsluft so gering sind, dass die Gefahr einer Gesundheitsbeeinträchtigung nicht besteht.
Dieser Antrag ist deshalb nichts anderes als eine umweltpolitische Nebelkerze zur Verdeckung wirtschaftlicher Interessen. Der Schutz der Umwelt vor höheren Belastungen und damit auch der Schutz der Bevölkerung
vor Gefährdungen ihrer Gesundheit würde durch die in
dem Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen nicht erhöht.
Dieser Antrag ist deshalb abzulehnen.
Die Müllverbrennung wird von einem Großteil der
Bevölkerung kritisch begleitet. Ich habe als junger Kommunalpolitiker diese Diskussionen hautnah miterlebt. Es
ging damals um die Erweiterung des Rohstoffrückgewinnungszentrums Herten oder, anders ausgedrückt, um
eine Müllverbrennungsanlage. In vielen öffentlichen
Sitzungen wurden technische Ausstattung, Verfahren,
Emissionswerte und notwendige Schutzmaßnahmen ausführlich und kontrovers diskutiert. Dies geschah auf einem sehr hohen Niveau. Letztendlich wurden modernste
technische Verfahren, strengere Grenzwerte, laufende
Messungen und weitere Auflagen durchgesetzt.
Warum geschah dies? Weil die Müllverbrennung größere Ängste hervorrief als viele andere IndustrieanlaZu Protokoll gegebene Reden
gen. Viele Bürger sind bei der Verbrennung von vermischten Abfällen besonders argwöhnisch.
Wir müssen die Sorgen und Ängste der Bevölkerung
ernst nehmen. Dies ist unsere Aufgabe als gewählte Abgeordnete, nicht die Berücksichtigung einzelner Wirtschaftsinteressen.
Die Bürger haben nämlich recht. Die Müllverbrennung muss strengeren Regeln und Auflagen unterliegen.
Aus diesem Grund gibt es ja auch eine eigene BundesImmissionsschutzverordnung für die Verbrennung von
Abfällen.
Niemand kann im Ernst behaupten, dass bei der Verbrennung von gemischten Abfällen, besonders von gemischten Siedlungsabfällen, zu 100 Prozent bekannt ist,
was verbrannt wird. Gerade im gemischten Siedlungsabfall sind jedoch problematische Stoffe, wie chlorhaltiges PVC, PCP oder PCB, enthalten. Bei deren Verbrennung können hochgiftige Dioxine und Furane einstehen.
Eine Restungewissheit bei der Zusammensetzung
bleibt, bei allen Kontrollen, Messungen und Proben, übrig. Daher muss eine Müllverbrennungsanlage so arbeiten, dass auch riskante Reststoffe und Stoffverbindungen
schadlos verbrannt werden.
In Deutschland sind wir mit den hohen Auflagen und
den hohen Standards bei MVA bisher sehr gut gefahren.
Nicht nur unterschreiten die meisten kommunal betriebenen Müllverbrennungsanlagen die Grenzwerte auch
im Dauerbetrieb, auch sind wir von Unfällen, gesundheitlichen Schäden durch das Austreten von giftigen
Emissionen und dauerhafter zusätzlicher Belastung von
Mensch und Natur weitgehend verschont geblieben.
Dies können andere Länder leider nicht nachweisen.
Häufig kam und kommt es andernorts zu Umweltgefährdungen und Gesundheitsschäden durch Abfallverbrennung.
Die hohen Anforderungen der 17. BImSchV an die
Müllverbrennung bestehen daher, unserer Ansicht nach,
zu Recht. Die SPD begrüßt auch, dass die EU einige
Grenzwerte gesenkt hat. In ihrem Referentenentwurf zur
Umsetzung der Richtlinie zur Industrieemission übernimmt das BMU diese schärferen Grenzwerte. Meiner
Meinung nach sollte aber auch die Einhaltung des Standards der Technik stärker gefasst werden.
Die besondere Sorgfaltspflicht für Umwelt und Gesundheit bei der Müllverbrennung ist der Hintergrund
unseres Antrags. Die Auflagen der 17. BImSchV für
MVA sind wegen dem möglichen Gefährdungen gerechtfertigt.
Gleichzeitig aber werden diese Auflagen durch Ausnahmen bei der Mitverbrennung von Abfällen in Industrieanlagen konterkariert. Können Sie mir erklären,
warum sogar bei gefährlichen Stoffen Mitverbrennungsanlagen höhere Grenzwerte haben als Müllverbrennungsanlagen? Warum darf eine MVA im Tagesmittel
nur 10 mg/m3 Ammoniak ausstoßen, eine Mitverbrennungsanlage aber die dreifache Menge? Warum dürfen
Anlagen zum Brennen von Kalk mehr als die doppelte
Menge von Stickstoffdioxid ausstoßen? Warum sind die
erlaubten Grenzwerte im Halbstundenmittel selbst bei
organischen Stoffen und Chlorverbindungen höher? Warum gibt es für Mitverbrennungsanlagen, selbst für diese
höheren Grenzwerte, noch einmal weitere Ausnahmemöglichkeiten, und dies bei gefährlichen Stoffen wie
Quecksilber, organischen Kohlenstoffen, Chlorverbindungen und Kohlenmonoxid? Sind diese Emissionen
ungefährlicher, weil sie aus Mitverbrennungsanlagen
stammen?
Auch bei technischen Anforderungen, wie zum Beispiel der Mindesttemperatur bei Verbrennung, werden
Ausnahmen ermöglicht. Eine Mindesttemperatur von
850 Grad verhindert die Entstehung von Dioxinen und
Furanen bei der Verbrennung. Bei der Mitverbrennung
von Abfällen in Kraft- und Zementwerken wird eine
niedrigere Mindesttemperatur erlaubt. Dieses Risiko
halte ich für unverantwortlich.
Es gibt weitere Erleichterungen, Ausnahmen zugunsten der Mitverbrennung und zulasten von Mensch und
Natur. Und ich rede hier nicht nur von der derzeit gültigen Regelung, sondern auch von dem Referentenentwurf
zur Umsetzung der Industrieemissionsrichtlinie.
Weithin gibt es Ausnahmeregelungen, die es Mitverbrennungsanlagen erlauben, Regelungen der 17. BImSchV zu
Mindesttemperaturen, Rauchgasreinigung und Schadstoffmessung brechen zu dürfen. Diese Praxis, diese
Rechtslage muss geändert werden. Aus ökologischen,
gesundheitlichen und ökonomischen Gründen ist es notwendig, dass alle Mitverbrennungsanlagen dieselben
Auflagen einhalten müssen wie Müllverbrennungsanlagen.
Seit einigen Jahren nimmt aber die Verbrennung von
Abfall in Industrieanlagen stetig zu, vor allem, weil es
für die meisten Mitverbrenner ökonomisch reizvoll ist.
Aber allen Beteiligten muss klar sein: Kraftwerke, Zementwerke oder Kalkbrennereien haben sich eben als
Kraftwerke bzw. Zementwerke bewährt, nicht als Müllverbrennungsanlagen.
Die Mitverbrennung, zum Beispiel halogener organischer Kohlenwasserstoffe, muss allen Sorgen bereiten.
Die Mitverbrennungsanlagen sind dazu nicht geeignet,
und sie werden es auch nicht dadurch, dass die Auflagen
gesenkt werden.
Bereits heute gibt es erste Studien, die Umwelt- und
Gesundheitsgefährdungen durch die Mitverbrennung
von Abfällen in ungeeigneten Anlagen befürchten lassen.
Wir sind nicht gegen die Mitverbrennung von Abfällen in Kraftwerken und Industrieanlagen. Nur müssen
dann die Mitverbrennungsanlagen alle Auflagen der
17. BImSchV für MVA einhalten.
Warum geschieht das nicht? In einer Antwort auf
meine schriftliche Frage beruft sich das BMU auf Kapazitätsengpässe durch das Deponierungsverbot. Unsinn;
dies war im Jahr 2005. Heute haben wir bereits Überkapazitäten bei der Müllverbrennung.
Ein weiterer Grund, der angeführt wird, ist finanzieller Art. Den Anlagenbetreibern wären die hohen Kosten,
Zu Protokoll gegebene Reden
die zum Beispiel das Einhalten der Grenzwerte erfordert, nicht zuzumuten.
Auch bei den Müllverbrennungsanlagen kostet Qualität auch Geld. Hohe Investitionskosten und hohe laufende Kosten sind der Grund, warum die Müllverbrennung in den regulären Müllverbrennungsanlagen circa
130 Euro pro Tonne kostet. Der Preis für eine Tonne mitverbrannten Abfalls in Industrieanlagen liegt bei
50 Euro. Der Grund für den Preisunterschied sind alleine die geringeren Auflagen, höhere Emissionsgrenzwerte, geringere Schutzmaßnahmen.
Meine Damen und Herren von Union und FDP, dies
ist kein Wettbewerb, dies ist keine Notwendigkeit aufgrund fehlender Kapazitäten. Dies ist Ökodumping zum
Vorteil einiger weniger.
Liebe Abgeordnete von Union und FDP, Herr Bundesumweltminister Röttgen, Sie behaupten, Mitverbrennern seien die Kosten notwendiger Schutzmaßnahmen
nicht zuzumuten. Ich frage Sie: Sagen Sie auch dem Bürger vor Ort persönlich, ihm seien höhere Müllgebühren
zuzumuten? Denn der Bürger bezahlt über seine Abfallgebühren die höhere Sicherheit der meist kommunalen
Müllverbrennungsanlagen. Oder sagen Sie dem Bürger,
die höheren Gesundheitsrisiken bei der Mitverbrennung
sind doch halb so schlimm, dafür ist es ja auch billiger?
Ich fordere Sie noch einmal auf: Beenden Sie diesen
ökologischen und ökonomischen Schwachsinn. Für die
Verbrennung von Abfällen müssen gleiche Regeln herrschen, egal worin sie verbrannt werden.
Die Einführung der 17. Bundes-Imissionsschutzverordnung durch die schwarz-gelbe Bundesregierung im
Jahr 1990 war ein Meilenstein für den Umweltschutz in
Deutschland. Sie hat die Umweltbelastung durch Müllverbrennungsanlagen durch die damals strenge Grenzwertsetzung für Dioxine von 0,1 ng/m3 nachdrücklich
verbessert und noch heute gültige, europaweite Maßstäbe gesetzt. Mit den nachfolgenden Novellierungen,
insbesondere der Umsetzung der EU-Verbrennungsrichtlinie 2003, sind die immissionsschutzrechlichen Anforderungen für die Müllverbrennung und Müllmitverbrennung immer weiter verschärft worden. Heutzutage
sind die Grenzwerte und ihre Fortschreibungen in der
Regel nicht toxikologisch begründet, sondern orientieren sich am technisch Machbaren unter Berücksichtigung des wirtschaftlich Darstellbaren. Dabei haben sich
die Grenzwerte von Monoverbrennungsanlagen und Abfallmitverbrennungsanlagen im Laufe der Zeit immer
weiter angeglichen.
Für Abfallmitverbrennungsanlagen gelten abhängig
vom Anlagentyp und der Art und des Anteils des Abfalls
spezielle Emissionsgrenzwerte. Generell dürfen nicht
mehr als 25 Prozent der Feuerungswärmeleistung aus
Abfällen stammen, in der Zement- und Kalkindustrie
liegt dieser Anteil bei 60 Prozent. Werden diese Schwellenwerte überschritten, gelten die Grenzwerte für Monoverbrennungsanlagen.
Bei der Grenzwertfestlegung für Mitverbrennungsanlagen wird zudem prinzipiell zwischen zwei Schadstoffgruppen unterschieden. Für die erste Gruppe von Schadstoffen, die Stoffe und Stoffgruppen enthält, die eine
hohe Gesundheitsrelevanz aufweist, beispielsweise polychlorierte Dioxine, Furane oder Quecksilber, werden für
alle Abfallverbrennungs- und Mitverbrennungsanlagen
die gleichen Anforderungen festgelegt. Für die zweite
Gruppe von Schadstoffen, etwa Stickstoffoxid oder Staub,
gibt es technisch bedingt durchaus abweichende Grenzwerte. So ist beispielsweise die Einhaltung des Monoverbrennungsanlagen-Grenzwertes für Stickoxide für
Zementwerke derzeit mit dem eingesetzten SNCR-Verfahren nicht möglich. Zu beachten ist jedoch, dass darüber hinaus noch die Möglichkeit zur Erteilung von
Ausnahmengenehmigungen besteht, über deren Zulässigkeit allerdings in der Verantwortung der zuständigen
Genehmigungsbehörden vor Ort entschieden wird.
Mit der Umsetzung der europäischen Industrieemissionsrichtlinie in deutsches Recht, die noch in diesem Jahr
erfolgen wird, werden die Grenzwerte erneut einer
Überprüfung und einer weiteren Verschärfung unterzogen. Das ist der Hintergrund, vor dem der Antrag der
SPD-Fraktion, der in ähnlicher Form bereits Gegenstand der parlamentarische Debatte in Nordrhein-Westfalen und einer gescheiterten Bundesratsinitiative war,
betrachtet werden muss.
Grundsätzlich ist das Ziel, anspruchsvolle Grenzwerte, die den Stand der Technik widerspiegeln, festzuschreiben, begrüßenswert. Allerdings kann dies eben
auch bedeuten, dass es sich um unterschiedliche Grenzwerte für verschiedene Arten von Abfallverbrennungsanlagen handelt. Dies muss allein nach dem technisch
Machbaren unter Berücksichtigung des wirtschaftlich
Darstellbaren entschieden werden.
Zurückzuweisen ist jedenfalls der Vorwurf, es handele
sich bei der Abfallmitverbrennung um Ökodumping zulasten der regulären Müllverbrennungsanlagen. Hier
wird ganz offensichtlich die unterschiedliche Natur des
eingesetzten Abfalls nicht berücksichtigt. In der Abfallmitverbrennung geht es nicht darum, regulären Siedlungsabfall thermisch zu verwerten. Vielmehr handelt es
sich um speziell vorbehandelte Abfälle, die den spezifischen Anforderungen der industriellen Verwertung entsprechen müssen. Deshalb sind die Kosten einer Mitverbrennung nicht einfach mit denen einer Verbrennung in
einer Müllverbrennungsanlage zu vergleichen. Zugleich
ist zu beachten, dass durch die Abfallmitverbrennung
wertvolle primäre Energieressourcen geschont werden.
Die wirtschaftlichen Probleme vieler - vor allem kommunaler - Müllverbrennungsanlagen sind daher nicht
einer unzulässigen Konkurrenz durch Abfallmitverbrennung geschuldet, sondern allein wirtschaftlichen Fehlplanungen, die erhebliche Überkapazitäten auf diesem
Markt hervorgebracht haben.
Zum Abschluss möchte ich den Vorschlag machen,
dass wir uns angesichts der großen Komplexität, die der
Grenzwertfestlegung im Immissionsschutzrecht zugrunde
liegt, mit diesem Thema im Rahmen der IED-Umsetzung
noch einmal detailliert beschäftigen. Ich kann mir gut
Zu Protokoll gegebene Reden
vorstellen, dass wir zur Novellierung der 13. und
17. BImschV eine Ausschussanhörung durchführen, bei
der wir den Stand der Technik noch einmal detailliert erörtern und dann eine Entscheidung treffen, die wissenschaftlich fundiert und in der Sache angemessen ist.
Mitverbrennung von Abfall: Das klingt effektiv, da
wird man den Abfall los, ohne Probleme - zumindest
suggeriert dies die Wortwahl. Worum geht es: In Hochöfen, Gießereien und in Zementfabriken wird gut brennender Abfall verbrannt. Da stellt sich die Frage: Warum eigentlich? Ganz einfach, für das Verbrennen von
Abfall erhält man Geld, und mit dem Verbrennen des Abfalls spart der Hochofen oder die Gießerei Brennstoff,
zum Beispiel Erdgas, Kohlekoks oder Erdöl ein - toll!
Wozu wurden dann eigentlich Müllverbrennungsanlagen
gebaut?
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen der Mitverbrennung von Abfall und der Müllverbrennung? Erstens. Bei der Müllverbrennung muss jedes Abfallgemisch verbrannt werden. Sollte das Gemisch nicht
brennen, dann wird mit Öl oder Kohle nachgeheizt. Bei
der Mitverbrennung ist es anders. Da wird nur Abfall
verbrannt, der gut brennt, denn man will ja Kohle oder
Öl einsparen. Nicht brennender Abfall bleibt bei der
Mitverbrennung übrig.
Zweitens. Bei der Müllverbrennung sind strenge
Grenzwerte für Schadstoffe und Staub in der Abluft vorgesehen. Die Abluft muss zwingend über Filtersysteme
laufen, und wenn die Verbrennungstemperatur nicht
über 850 Grad Celsius liegt, darf kein Abfall verbrannt
werden. Bei der Abfallmitverbrennung existieren weniger strenge Grenzwerte und Ausnahmeregelungen zum
Beispiel gibt es keine Vorschrift für die Verbrennungstemperatur. Das ist kritisch, weil bei Temperaturen unter
800 Grad Celsius Dioxine entstehen können.
Während Müllverbrennungsanlagen mit aufwendigen
Filteranlagen und Aktivkohlefilter teilweise bis zur hundertfachen Unterschreitung von Grenzwerten im Abgas
sorgen, werden bei der Abfallmitverbrennung die geforderten Grenzwerte gerade so unterschritten oder mit
Ausnahmeregelungen sogar verletzt. Filter kosten Geld.
Das ständige Einhalten von Verbrennungstemperaturen
kostet Geld. Das Zusetzen von Öl für schlecht brennenden Müll kostet Geld. Deshalb ist es kein Wunder, wenn
Entsorgungsunternehmen immer, wenn es möglich ist,
die Mitverbrennung statt der Müllverbrennung nutzen,
denn da kostet die Entsorgung einer Tonne Abfall nur 50
statt über 100 Euro. Deshalb wird immer mehr Müll
über Abfallmitverbrennung entsorgt. Fatal ist nur, dass
der billigeren Entsorgung wesentlich höhere Umweltbelastungen gegenüberstehen. Für die Bevölkerung sind
die zusätzlichen Emissionen bei Mitverbrennungsanlagen zwar unsichtbar, aber gesundheitsgefährdend.
Ob Umweltbelastungen wegen fehlender Filter aus
der Abfallmitverbrennung oder aus dem normalen Betrieb eines schrottverarbeitenden Stahlwerkes, wie in
Riesa, stammen, ist für die Betroffenen egal. Aktuelle
Untersuchungen des BUND in der sächsischen Stadt
Riesa zeigen, dass die Dioxinwerte in der Stadt steigen,
dass es hohe Staubbelastungen gibt und dass von 10 000
Riesaern jährlich 11,4 an bösartigem Leberkrebs erkranken. Im Landesdurchschnitt sind es weniger als
3,5 Sachsen von 10 000, die diese schreckliche Diagnose erhalten. Auch bei Lungenkrebs ist in Riesa eine
Fallverdopplung zum Landesdurchschnitt auf 48 von
10 000 Einwohnern vom BUND statistisch belegt.
Bei der Schrottverarbeitung im Stahlwerk entstehen
ähnlich Abgase wie bei der Mitverbrennung von Abfällen in Industrieanlagen. Unzureichende Filter der dortigen Anlage und das Entstehen von Dioxin durch falsche
Verbrennungstemperaturen können eine Ursache der
Erkrankungen sein. Deshalb müssen in Riesa Filter installiert und in der Bundesrepublik die Mitverbrennung
gestoppt werden.
Die SPD fordert in ihrem Antrag, dass Mitverbrennungsanlagen die gleichen Grenzwerte und Bedingungen wie reguläre Abfallverbrennungsanlagen einhalten
sollen. Das ist ein Anfang, und deshalb wird die Linke
dem Antrag der SPD zustimmen.
Aber im Interesse der Menschen in Riesa und überall
dort, wo in Industrieanlagen Abfall mitverbrannt wird
oder aus anderen Gründen Schadstoffe entweichen, fordert die Linke zusätzlich, dass nicht nur die strengen
Grenzwerte für jede Branche gelten, sondern auch, dass
die Mitverbrennung verboten bleibt, bis die Industrieanlagen die gleichen realen Schadstoffwerte wie die regulären Müllverbrennungsanlagen erreichen. Der Schutz
der Gesundheit muss über den Gewinninteressen von
Firmen und Entsorgungsunternehmen stehen.
Wir Grüne begrüßen ausdrücklich den vorgelegten
Antrag der SPD-Fraktion. Bei der derzeitigen Dauerlethargie der Bundesregierung ist es dringend notwendig,
dass aus der Opposition Impulse gesetzt werden, um
überhaupt noch etwas voranzubringen in der Umweltpolitik. Die EU-Industrieemissionsrichtlinie, IED-Richtlinie, liegt vor und muss möglichst bald in deutsches
Recht umgesetzt werden. Leider ist ja zu erwarten, dass
es etwas länger dauert bei der Bundesregierung. Im
Rahmen dieser Umsetzung muss unter anderem auch die
17. Bundes-Immissionsschutzverordnung, die die Verbrennung und die Mitverbrennung von Abfällen reguliert, novelliert werden. Hier müssen im Sinne des Schutzes der Gesundheit von Menschen und der Umwelt
dringend die bestehenden Regelungen zum Schutz vor
Immissionen umfassend auf den Prüfstand gestellt werden.
Wir haben einiges erreicht in Deutschland bei der
Luftreinhaltepolitik. Viele Regelungen und Grenzwerte
hat aber die Zeit überholt, sie müssen dringend neuen
Entwicklungen angepasst werden. Auch gehören die diversen Ausnahmen auf den Prüfstand. Der Antrag der
SPD greift ein Thema auf, bei dem wir schon lange zwingenden Änderungsbedarf sehen. Wir haben ja gemeinsam mit der SPD schon einmal eine entsprechende Bundesratsinitiative eingebracht sowie bereits im Jahr 2007
Zu Protokoll gegebene Reden
einen eigenen Bundestagsantrag zur Anpassung der
Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen.
Die Müllverbrennungsanlagen in Deutschland unterschreiten mittlerweile die bestehenden Grenzwerte der
17. BImSchV so deutlich, dass eine massive Verschärfung der Grenzwerte der 17. BImSchV zwingend geboten
ist. Hier gehen wir Grünen in unseren Forderungen allerdings deutlich über den Antrag der SPD hinaus, der
nur eine Aufhebung und Überprüfung der Ausnahmeregelungen fordert. Aber auch die Abschaffung der bestehenden Ausnahmeregelungen für die Mitverbrennung ist
eine wichtige Forderung, die wir klar unterstützen.
Es ist ein Skandal, dass Abfallströme von den Müllverbrennungsanlagen hin zu Mitverbrennungsanlagen
umgeleitet werden, die nicht einmal ansatzweise die festgeschriebenen Grenzwerte erfüllen. Der Bundesumweltminister aber sieht keinen Grund, endlich für die Mitverbrennung die gleichen Standards einzuführen. Scheinbar
ist es ihm gleichgültig, dass dadurch Mensch und Umwelt unnötig belastet werden und in Deutschland freudig
Ökodumping betrieben wird. Dabei handelt es sich hier
nicht um bedeutungslose Stoffe. Sie wissen, dass durch
Kupfer, Chlor und Brom in den Abfällen beim Verbrennen gefährliche Dioxine und Furane entstehen, die in
deutlich über den klassischen Grenzwerten liegenden
Konzentrationen freigesetzt werden.
Es gibt aus unserer Sicht keinen nachvollziehbaren
Grund, warum bei der Mitverbrennung von Abfällen die
Umwelt und die menschliche Gesundheit stärker belastet
werden dürfen als bei der normalen Müllverbrennung.
Ich bin ernsthaft gespannt, wie die Koalitionsfraktionen
wieder die Untätigkeit ihres Ministers rechtfertigen werden. Aber bitte behaupten Sie nicht wieder, entsprechende Vorschläge Ihrerseits befänden sich schon in der
Ressortabstimmung. Bei den vielen Vorgängen, die sich
nun schon seit Monaten in der Ressortabstimmung befinden sollen, aber nie fertig abgestimmt auf dem Tisch
erscheinen, glaubt Ihnen dies langsam keiner mehr. Das
Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz ist da schon seit letztem
Herbst - das ist doch Arbeitsverweigerung!
Wie wenig aktiv das Umweltministerium ist, merken
wir ja derzeit im Umweltausschuss. Gäbe es nicht zahlreiche qualifizierte Anträge der Opposition und wichtige
Vorlagen aus der EU, hätten wir bald gar nichts mehr zu
diskutieren.
Man kann nur hoffen, dass der Bundesumweltminister nach seiner erwartbaren Wahlniederlage am Sonntag entweder sein Amt zur Verfügung stellt oder endlich
zur dringend notwendigen Sacharbeit zurückkehrt. Der
jetzige Zustand der absoluten Untätigkeit ist mit Blick
auf die notwendigen Gesetzesänderungen nicht länger
hinnehmbar. Und mit Blick auf die Umsetzung der IEDRichtlinie gibt es ja noch zahlreiche andere Baustellen,
nicht nur die Grenzwerte bei der Müllverbrennung und
der Abfallmitverbrennung. Ich nenne einmal exemplarisch die Themen Quecksilberbelastung und die Verringerung der Treibhausgasemissionen. Durch eine ambitionierte Umsetzung der Richtlinie könnten große
Verbesserungen in Sachen Gesundheits- und Umweltschutz erreicht werden. Wir Grüne werden - das kann
ich versprechen - das Problem öffentlich diskutieren
und umfassende Vorschläge vorlegen. Wir begrüßen es,
dass die SPD mit dem heutigen Antrag einen ersten
wichtigen Aufschlag gemacht hat, und stimmen dem Antrag klar zu.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9555 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für gute Arzneimittelversorgung Versandhandel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen
- Drucksache 17/9556 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Die Reden sind zu Protokoll gegeben.
Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der
Fraktion Die Linke zum Thema Versandhandel. Ein
Dauerthema, wie mir scheint, denn bereits im Juni 2008
mussten wir uns mit einem gleichlautenden Vorschlag
der Linken befassen. Der Versandhandel soll, so lautet
das erklärte Ziel, auf rezeptfreie Arzneimittel beschränkt
werden. Ich frage mich daher, warum sich die Linke in
dieser Sache so vehement engagiert und sich gar zum
Schutzpatron der Apotheker aufschwingt?
Mir scheint, dass die Bemerkung in meiner Rede von
vor zwei Wochen, in der ich die fehlende politische Intervention der Opposition im Rahmen der AMG-Novelle
als Zustimmung gewertet habe, hier zu einem überstürzten Aktionismus geführt hat. Dabei ist diese Entscheidung zum Versandhandel doch bereits mit dem GKVWSG im Jahr 2004 gefallen.
Fakt ist, dass bereits am 25. März 2009, also in der
letzten Legislaturperiode, eine Anhörung zu diesem
Thema im Bundestag stattgefunden hat. Diese hat gezeigt, dass der Versandhandel als fester Bestandteil zu
einer umfassenden und zeitgemäßen Arzneimittelversorgung gehören kann.
Zweifelsohne birgt das Thema Versandhandel
Schwierigkeiten. Aus diesem Grund wurden damals zu
Recht hohe Hürden für den Versandhandel ins Gesetz
eingebaut. Denn unser erklärtes Ziel ist und war, dass
eine sichere und zuverlässige Versorgung der Patienten
mit Arzneimitteln auch über diesen Vertriebsweg gewährleistet wird.
Der mit dem Versandhandel verbundene Hauptproblemkreis ist sicherlich im Bereich der Pick-up-Stellen
zu verorten. Denn beim Versandhandel hat sich neben
dem „klassischen“ Versandhandel in Form des Direktversands an den Verbraucher diese zweite Vertriebsform
über Bestell- und Abholstationen entwickelt, die wir
durchweg kritisch beurteilen. Ich räume aber auch ein,
dass es schwierig ist, ein Pick-up-Verbot zu realisieren
und es gleichzeitig beim Versandhandel zu belassen.
Zwar ist der „klassische“ Versandhandel aufgrund
des derzeitig geringen Marktanteils kein wirtschaftliches Problem für die öffentlichen Apotheken. Jedoch
stellen die Rechtslage und die daraus resultierende Beliebigkeit bei der Vor-Ort-Abgabe von Arzneimitteln in
Pick-up-Stationen insbesondere die Rechtmäßigkeit der
Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung an den
Betrieb der öffentlichen Apotheken infrage. Damit droht
der Wegfall der rechtlichen Verbindlichkeit der Apothekenbetriebsordnung und somit eine umfassende Beliebigkeit der Abgabestellen.
Dies hat eine erhebliche Schwächung der Arzneimittelsicherheit, der Arzneimittelversorgung und des Verbraucherschutzes zur Folge. Mithin ist zur Lösung der
Pick-up-Problematik die Reduzierung des Versandhandels auf das europarechtlich notwendige Maß erforderlich. Genau das fordern wir - heute genauso wie bereits
im Koalitionsvertrag.
Weil Arzneimittel ein sensibles Gut sind, bedarf ihre
Ausgabe einer kritischen Prüfung durch einen Pharmazeuten, der zudem mit dem Patienten in direktem
Kontakt stehen muss. Gerade dieser wichtige Aspekt der
Patientensicherheit ist bei der Pick-Up-Problematik
nicht gegeben. Beim direkten Versand an den Endverbraucher und Adressaten ist wenigstens der weitere
Missbrauchsaspekt durch die direkte Übergabe grundsätzlich unterbunden.
Für uns steht fest, dass der legale Versandhandel seit
seiner Einführung vor fünf Jahren überschaubare Probleme bereitet. Er kann chronisch Kranken, multimorbiden Patienten, Gehbehinderten, Älteren und Berufstätigen den Zugang zu Arzneimitteln erleichtern. Der
Versandhandel stellt offenbar auch keine umgreifende
wirtschaftliche Gefahr für die Präsenzapotheken dar,
deren Zahl sei sogar noch gestiegen.
Für begrüßenswert halte ich auch den Schritt, zum
Schutz der legalen Vertriebswege die Anforderungen an
Hersteller und Vertreiber zu konkretisieren und auf diese
Weise transparenter zu gestalten. Besonders fälschungsgefährdete Arzneimittel etwa erhalten in diesem Rahmen
zusätzliche Sicherheitsmerkmale zur Identifizierung
einzelner Arzneimittelpackungen. Dies ist ja eines der
Hauptziele der AMG-Novelle.
Ein Verbot des Rx-Versandhandels ist verfassungsrechtlich nicht zwingend und europarechtlich nicht
geboten, weil es der Europäische Gerichtshof in das
Belieben der Mitgliedstaaten gestellt hat, auch den RxVersandhandel zuzulassen. Das BMG hat „konkretisierende Anforderungen zur Qualität“ der Pick-up-Stellen
für Arzneimittel vorgeschlagen und ist weiterhin gesprächsbereit.
Bereits im Koalitionsvertrag haben wir ein Verbot
von Pick-up-Stellen vereinbart. An diesem Ziel halten
wir fest. Weil bisher sämtliche Vorstöße aufgrund ihrer
mangelnden Verfassungskonformität gescheitert sind, ist
nun ein entsprechend abgestimmter Vorschlag vorzulegen. Hier fordern wir die Bundesregierung auf, einen
verfassungskonformen Entwurf zu verabschieden.
Vor diesem Hintergrund überrascht die Argumentation vonseiten der Linken, als vermeintlicher Anwalt der
Apotheker doch schon sehr. Hier lässt die Linke ja eine
geradezu ungewohnt bürgerliche Attitüde erkennen.
Vielleicht fordert sie als Nächstes auch noch eine Erhöhung der Vergütung? Dabei sind es doch gerade wir, die
im Rahmen der AMG-Novelle die Sorgen mittelständischer und inhabergeführter Apotheken nicht vernachlässigen wollen.
Nach Auslaufen der Sparmaßnahmen Ende 2012 ist
auf Basis präzisierter Daten der Apothekenabschlag
wieder von den Vertragspartnern auf der Bundesebene
zu vereinbaren. Wir empfehlen, dass für das Jahr 2013
als Ausgangsbasis für die vorgesehenen Verhandlungen
gesetzlich der für 2009 und 2010 geltende Abschlag, der
derzeit gerichtlich überprüft wird, festgelegt wird. Dies
bildet eine faire Ausgangsbasis für die folgenden Verhandlungen zwischen Kassen und Apothekern und ist
überdies auch sachgerecht.
Ich konstatiere, dass im Rahmen der Sparmaßnahmen
insbesondere auch die Apothekerschaft einen hohen Beitrag geleistet hat. Die aktuell entspannte finanzielle
Situation der Kassen ist gerade auch auf die Einsparungen im Arzneimittelsektor, wozu die Apotheker einen erheblichen Beitrag geleistet haben, zurückzuführen.
Wenn also über Entlastungen geredet wird, dürfen nicht
diejenigen hinten runterfallen, die vorher den größten
Beitrag geleistet haben. Deshalb ist es nun geboten,
dass wir uns konstruktiv mit den Vorschlägen der Apothekerschaft befassen. Wenn schon bei Krankenhäusern
darüber nachgedacht wird, mehr Geld ins System zu
bringen, muss gerade auch geprüft werden, inwieweit
die Apotheker entlastet werden können.
Will man im Interesse der Arzneimittelsicherheit und
des Verbraucherschutzes sowie zur nachhaltigen Stärkung der mittelständischen Struktur in der Apothekenlandschaft die Pick-up-Problematik lösen, so bedarf es
hier keines blanken Aktionismus, sondern einer verfassungsrechtlich sauberen Lösung.
Als die rot-grüne Bundesregierung im Zuge des GKVModernisierungsgesetzes im Jahr 2004 den Versandhandel mit Arzneimitteln legalisierte, taten wir dies aus
Gründen des Verbraucherschutzes. Zu diesem Zeitpunkt
bezogen die Bürgerinnen und Bürger bereits Arzneimittel aus dem Ausland. Durch einen geregelten, kontrollierten und überwachten Versandhandel wollten wir dafür sorgen, dass sie besser vor den Risiken, wie
beispielsweise gefälschten Medikamenten, geschützt
werden.
Der Versandhandel mit Medikamenten hat sich bewährt. Aktuell wird jedes zehnte rezeptfreie Arzneimittel
nicht mehr durch den Apotheker, sondern durch den
Zu Protokoll gegebene Reden
Postboten abgegeben. Die Option, Arzneimittel per Post
zuzustellen, hat durchaus positive Auswirkungen gehabt: Sie konnte zur Schließung von Versorgungslücken,
vor allem in ländlichen Gebieten, beitragen. Auch gab
sie den Betreibern von Präsenzapotheken die Möglichkeit, ihre Kunden besser zu versorgen. Ebenso praktisch
ist der Versandhandel mit klassischen Nebensortimentsprodukten wie Nahrungsergänzungsmitteln und speziellen Kosmetika.
Im Gegensatz zu den stationären Apotheken, die noch
immer etwa 80 Prozent ihres Umsatzes mit verschreibungspflichtigen Medikamenten machen, lebt der Versandhandel vom Verkauf der typischen Produkte des
Ergänzungssortiments und rezeptfreien Arzneimitteln.
Hier erzielen Versandapotheken mittlerweile einen
Marktanteil von jeweils rund 10 Prozent. Bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln hingegen liegt ihr Marktanteil
unter 1 Prozent.
Auch wenn viele Verbraucher immer häufiger Arzneimittel im Internet bestellen - auf die Apotheke vor Ort
verzichten möchten sie nicht. Der Arzneimittelversand
reicht nicht aus, um eine zeitnahe flächendeckende Versorgung anbieten zu können.
Neben der schnellen Versorgung und guten Erreichbarkeit sind es die klassischen Apothekenaufgaben, die
die Menschen in Deutschland schätzen. Dazu gehören
das Einlösen von Rezepten, die Herstellung von Rezepturen, die Nacht- und Notdienste sowie die Beratung zu
Medikamenten, Beschwerden und allgemeinen Gesundheitsfragen. Wegen dieser Dienstleistungen haben die
Apotheken ihre besondere Monopolstellung in Deutschland inne, was zudem vom Bundesverfassungsgericht
bestätigt wurde. Für 93 Prozent der deutschen Bevölkerung ist und bleibt die Präsenzapotheke unverzichtbar.
Wir sollten uns darauf konzentrieren, die genannten
Stärken der Apotheken zu fördern und den Aufwand angemessen zu honorieren.
Die Zulassung des Versandhandels mit Arzneimitteln
hat jedoch nicht wie behauptet zu einer Verminderung
der Patientensicherheit geführt. Zugelassene Versandapotheken beziehen ihre Ware aus den gleichen Quellen
wie stationäre Apotheken, nämlich aus dem Großhandel
oder direkt von der pharmazeutischen Industrie. Arzneimittelfälschungen, die Sie in ihrem Antrag ansprechen,
stammen von illegalen Händlern aus dem Ausland, der
überwiegende Teil aus Indien. Dieses Problem existierte
schon vor der Freigabe des Handels. Mit einem Verbot
des Versandhandels für verschreibungspflichtige Arzneimittel werden Sie nichts gegen diesen illegalen Vertrieb ausrichten können. Auch in Ländern mit einem umfassenden Verbot, wie beispielsweise Österreich, stellt
der Zoll regelmäßig gefälschte Arzneimittel sicher.
Gegen die unseriösen Händler wurden Maßnahmen
ergriffen. Unter anderem gibt es ein Gütesiegel vom
Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und
Information sowie eine aktuelle Liste der zugelassenen
Versandapotheken, das „Versandapothekenregister“ auf
der Website des Bundesgesundheitsministeriums. Dort
können sich die Verbraucher jederzeit über sichere Anbieter informieren.
Aus diesen Gründen sehe ich nicht den Versandhandel an sich als Problem. Wesentlich problemtischer sind
jedoch die Pick-Up-Stellen. In den Gewerbebetrieben,
die als Pick-Up-Stellen genutzt werden - das sind in der
Regel Drogerien, aber auch Tankstellen und Blumenläden -, findet niemals eine Beratung über die Anwendung
der Arzneimittel und mögliche Nebenwirkungen statt.
Sie kann auch nicht stattfinden, da es in den genannten
Einrichtungen kein entsprechend ausgebildetes Personal gibt. Abgesehen davon unterliegt die Lagerung in
der Drogerie, im Blumenladen oder an der Tankstelle
nicht den strengen Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung.
Die Trennung zwischen Apotheken und anderen Gewerbebetrieben wurde nicht willkürlich eingeführt. Sie
leistet einen wesentlichen Beitrag zum Bewusstsein der
Bevölkerung für die Besonderheiten von Arzneimitteln
und damit zur Vermeidung eines gesundheitsschädlichen
Fehlgebrauchs von diesen. Sie wirkt auch als sinnvolle
Konsumschwelle, sodass die Menschen von einem übermäßigen Medikamentengebrauch abgehalten werden.
Doch diese Trennung wird vor allem durch die
Pickup-Stellen zusehends aufgehoben. Im Koalitionsvertrag haben sich CDU/CSU und FDP für eine Bekämpfung der Auswüchse des Versandhandels ausgesprochen
und die Abschaffung der Pick-Up-Stellen in Aussicht gestellt. Wir fordern die Regierung zum wiederholten Male
auf, ein verfassungskonformes Gesetz vorzulegen, das
Pick-Up-Stellen unterbindet. Der Versandhandel mit
Arzneimitteln hingegen hat sich als Ergänzung zum bestehenden System bewährt. Daher werden wir dem Antrag nicht zustimmen.
Eine hochwertige Arzneimittelversorgung ist für eine
effiziente medizinische Therapie unverzichtbar. Darüber
besteht in diesem Hause Einigkeit. Einigkeit besteht
auch darüber, dass Arzneimittel besondere Güter sind,
an die hohe Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen
gestellt werden.
Die Koalition und der liberale Gesundheitsminister
haben erst gestern mit der vom Kabinett verabschiedeten Apothekenbetriebsordnung einen wichtigen Schritt
zu mehr Qualität und mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung gemacht.
Für alle Apotheken sind ab sofort Maßnahmen zur
Qualitätssicherung und zur Dokumentation ebenso wie
Hygienepläne verpflichtend vorgeschrieben. Auch stärken wir die Beratungs- und Informationspflicht der Apotheker gegenüber den Kunden.
Die Linke behauptet in dem vorliegenden Antrag, die
Qualität der Arzneimittelversorgung dadurch zu verbessern, dass der Versand von rezeptpflichtigen Arzneimitteln gänzlich verboten wird. Das ist schlicht Unsinn.
Denn mit ihrem Antrag verschließt die Linke doch nur
die Augen vor der Realität. Der Versandhandel hat sich
in Deutschland fest etabliert; er gehört heute zum Apothekenmarkt. Dass der Wettbewerb zwischen Versandapotheken und Präsenzapotheken zu einer besseren VerZu Protokoll gegebene Reden
sorgung hinsichtlich Qualität, Service und zum Teil auch
des Preises führt, muss an dieser Stelle gar nicht betont
werden.
Man darf auch nicht verschweigen, dass gerade der
Versandhandel für bestimmte Personengruppen die einzige Möglichkeit ist, überhaupt einen einfachen Zugang
zu den benötigten Arzneien zu erhalten. Denken Sie einfach an die Menschen mit eingeschränkter Mobilität,
chronisch Kranke oder Berufstätige, denen es zu den
Geschäftszeiten nicht immer möglich ist, eine Apotheke
aufzusuchen. Nicht zu vergessen ist die Arzneimittelversorgung im ländlichen Raum, wo der Weg zur nächsten
Apotheke zum Teil schon sehr weit geworden ist.
Die von Ihnen ausgeführten Sicherheitsbedenken bezüglich des Versandhandels sind nach den vorliegenden
Zahlen nicht empirisch nachweisbar. Bei der persönlichen Aushändigung der Medikamente im Versandhandel
herrscht grundsätzlich kein geringerer Standard an Patienten- und Gesundheitsschutz, als dies bei der Abgabe
in den Präsenzapotheken der Fall ist.
Vielmehr hätten wir bei einem Verbot des klassischen
Versands verfassungsrechtliche Bedenken, da ein solches Verbot als verfassungswidriger Eingriff in die
grundrechtlich geschützte Berufsausübungsfreiheit des
Art. 12 Grundgesetz angesehen werden könnte.
Auch die Warnung vor dem sogenannten Einfallstor
von Produktfälschungen schürt unnötige Sorge bei den
Bürgern und geht an der Realität vorbei. Das zeigt auch
zum Beispiel der Vergleich mit Österreich, wo ohne Versandhandel die Fallzahlen vergleichbar sind.
Im Übrigen kümmern wir uns bereits um die tatsächlichen Probleme hinsichtlich der Gefahr durch zunehmende Arzneimittelfälschungen, indem wir mit der
anstehenden AMG-Novelle die Sicherheitsmerkmale erhöhen und die Lieferkette transparenter gestalten.
Die Forderungen der Linken gehen schlichtweg an
der Realität vorbei. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Die Linke legt Ihnen hier einen Antrag vor, der einen
wichtigen Beitrag dazu leistet, eine gute gesundheitliche
Versorgung der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land
zu sichern.
Die Apotheke vor Ort ist ein wichtiger Baustein zu einer guten gesundheitlichen Versorgung und zwar auf
mehreren Ebenen: Eine hochwertige, sichere Arzneimittelversorgung ist für die medizinische Therapie unverzichtbar. Es ist daher enorm wichtig, dass bei einem Arzneimittel drin ist, was draufsteht.
Der Versandhandel ist aber das Haupteinfallstor für
Fälschungen. Die Zahl der sichergestellten Fälschungen ist nach Angaben des Zollkriminalamts in nur fünf
Jahren um das Zwanzigfache angestiegen. Bisherige
Versuche durch Zertifizierungen und Länderlisten haben
daran wenig geändert. Aber das muss sich ändern.
Arzneimittel sind auch keine Lutschbonbons, die man
im Kiosk verkaufen oder über das Internet bestellen und
verschicken sollte. Sie erfordern eine umfassende Kontrolle und Beratung. Dazu ist es sinnvoll, das pharmakologische Wissen von Apothekerinnen und Apothekern für
die gesundheitliche Versorgung nutzbarer zu machen.
Ideen, wie das von der ABDA und der KBV entwickelte Modell zur Arzneimittelversorgung zeigen, wohin die Reise gehen muss. Das ist mit Versandapotheken
nicht möglich. Das muss doch auch der Bundesregierung klar sein, wenn sie Modellprojekte für eine Kooperation von Ärzten und Apotheken ins Versorgungsstrukturgesetz schreibt.
Wenn die Bundesregierung bei der Novellierung der
Apothekenbetriebsordnung fordert, dass bei der Abgabe
eines Arzneimittels eine Beratung aktiv angeboten werden muss, frage ich mich, wie das bei einer Internetapotheke vonstatten gehen soll. Hier werden doch Internetund Präsenzapotheken mit zweierlei Maß gemessen, und
es wird in Kauf genommen, dass Menschen, die ihre Arzneimittel im Internet beziehen, schlechter versorgt werden als Menschen, die eine Präsenzapotheke aufsuchen.
Das ist mit der Linken nicht zu machen.
Die Linke fordert, dass Apotheken als Leistungserbringer anerkannt und integriert werden, anstatt Apotheken zu reinen Verkaufshäusern verkommen zu lassen,
die ihre Dienste ebenso gut im Internet anbieten können.
Genau das geschieht aber, wenn man den Versandhandel
nicht einschränkt. Die Gleichen, die kein Problem haben, wenn Internetapotheken rezeptpflichtige Arzneien
verschicken, würden mit gutem Grund Sturm laufen,
wenn Ärztinnen und Ärzte übers Internet behandelten.
Präsenzapotheken stellen oft den ersten Anlaufpunkt
für Menschen dar, die gesundheitliche Beeinträchtigungen haben. Sie können so eine Lotsenfunktion erfüllen,
indem sie beispielweise einen Arztbesuch anraten. Und
sie entlasten letztlich auch die ärztlichen Praxen, da
sich nicht alle Menschen mit ihren Fragen gleich an den
Arzt wenden müssen. Dies gilt es flächendeckend zu erhalten und zu verbessern und nicht durch einen sich weiter ausbreitenden Versandhandel zu gefährden. Es ist
doch klar, dass Präsenzapotheken schließen müssen,
wenn immer mehr Arzneimittel übers Internet verschickt
werden.
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Versandhandel
wegen der Zuzahlungen an Bedeutung gewonnen hat.
Menschen bestellen ihre Arzneien im Internet, um Kosten zu vermindern oder zu umgehen. Die Linke setzt sich
nicht nur für die Begrenzung des Versandhandels auf rezeptfreie Arzneien ein, sondern auch für die Abschaffung
der Zuzahlungen. Das dient der Gesundheit der Menschen doppelt: durch eine persönliche Beratung in Apotheken und die Beseitigung von unsozialen Kosten, die
kranke Menschen abhalten, sich notwendige Arzneien zu
besorgen.
Und zuletzt: Auch wenn es den meisten klar sein
müsste: Der Linken geht es bei der flächendeckenden
Versorgung mit Apotheken nicht vorrangig um die Apotheker, wie es bei der flächendeckenden ärztlichen Versorgung nicht vorrangig um die Ärzte geht. Es geht um
eine gute Versorgung der Bürgerinnen und Bürger.
Zu Protokoll gegebene Reden
Unsinnige Initiativen werden durch Recycling nicht
besser. Schon 2009 forderte die Linke ein Verbot des Ver-
sands rezeptpflichtiger Arzneimittel. Aus der Anhörung
dazu sowie einem Antrag der FDP, der ein Verbot von
Pick-up-Stellen forderte, hätte die Linke lernen können:
Die Patientenverbände hatten den Versandhandel aus
Sicht chronisch Kranker und Behinderter als eine wich-
tige Option bezeichnet. Vor allem bei mobilitätseinge-
schränkten Menschen könne der Versandhandel den Zu-
gang zu Medikamenten verbessern.
Deutlich wurde auch, dass die Beratungsqualität von
Versandapotheken nicht schlechter ist als die von Prä-
senzapotheken. Beide haben Vor- und Nachteile: Der di-
rekte persönliche Kontakt kann durch die Anwesenheit
anderer Kundinnen und Kunden behindert werden. Eine
telefonische Beratung durch Versandapotheken bietet
Vertraulichkeit, findet jedoch meist ohne Kenntnisse des
Umfelds statt. Die Behauptung der Linken, nur Präsenz-
apotheken können aktiv eine Beratung anbieten, er-
scheint mir angesichts der zunehmenden Kommunika-
tion via neue Medien ein Argument von vorgestern. Pa-
tientinnen und Patienten sollten selbst entscheiden,
welche Beratung für sie die passende ist. Aufgabe der
Politik ist es, sicherzustellen, dass diese Beratung sicher
und vertraulich durchgeführt werden kann.
Anders als bei dubiosen Internethändlern kann man
bei zugelassenen Versandapotheken rezeptpflichtige
Arzneimittel nicht einfach per Mausklick bestellen. Vo-
raussetzung ist immer, dass der Kunde sein Rezept an
die Versandapotheke schickt. Wenn, wie vorgeschlagen,
bei legalen Versandapotheken ausschließlich ein Maus-
klick für eine Bestellung - nicht verschreibungspflichti-
ger Medikamente - reicht, dann könnte die beklagte Ver-
wechslungsgefahr gegenüber illegalen Angeboten sogar
steigen statt zu fallen.
Ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungs-
pflichtigen Arzneimitteln wäre europarechtlich möglich,
wenn durch den Versandhandel die Gesundheit der Be-
völkerung gefährdet würde. Es hilft nichts, diese Tatsa-
che gebetsmühlenartig zu wiederholen und zu ignorie-
ren, dass der Versand von verschreibungspflichtigen
Arzneimitteln seit vielen Jahren ohne Schadensfälle in
Deutschland Praxis ist. Ein Verbot wäre verfassungs-
rechtlich nicht haltbar. Das hat die schwarz-gelbe Bun-
desregierung gerade erst wieder in ihrer Gegenäuße-
rung zum Vorschlag der Bundesländer bekräftigt. Ein
Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit der Ver-
sandapothekerinnen und -apotheker würde eine starke
Rechtfertigung brauchen. Die fehlt, da das Problem der
Patientengefährdung, dem man angeblich mit dem Ver-
bot begegnen will, mangels Schadensfällen nicht exis-
tiert. Der Schutz vor Konkurrenz ist kein zulässiger
Eingriffszweck. Das hören Koalitionsabgeordnete der
Union gar nicht gerne - oder sie dichten der Bundes-
regierung einen gegenteiligen Standpunkt an. Dann
müssen sie - wie Sie, Herr Hennrich, in der letzten Wo-
che - die zu Protokoll gegebene Rede nachträglich kor-
rigieren.
Zumindest in einem Punkt gibt es Bewegung: der Ein-
schätzung zum Thema Pick-up-Verbot. Die Linke stellt
fest, dass ein separates Verbot aus verfassungsrechtli-
chen Bedenken gescheitert ist. Auch Frau Flach scheint
in dieser Frage als Parlamentarische Staatssekretärin
dazugelernt zu haben. Manchmal scheint es doch zu hel-
fen, in Regierungsverantwortung zu stehen und zur Ab-
stimmung mit den Verfassungsressorts gezwungen zu
sein. Frau Flach vertritt nun das Gegenteil dessen, was
die FDP noch 2009 forderte. Weiterhin behauptete sie
letzte Woche hier im Bundestag, dass die Mehrheit der
Bundesländer inzwischen auch einsehe, dass ein isolier-
tes Verbot von Pick-up-Stellen verfassungsrechtlich be-
denklich wäre.
Bei so viel Einigkeit wäre es endlich an der Zeit, sich
von unhaltbaren Versprechungen zu verabschieden. Das
Ministerium hat schon vor Jahren einen Vorschlag mit
klaren Vorgaben für diese Abholstellen erarbeitet. Die-
ser wäre schnell aus der Schublade zu ziehen, aber da
scheint, wie schon in der letzten Legislaturperiode, die
CDU zu blockieren. Statt gegen Windmühlen zu kämp-
fen, sollte die Union sich darauf besinnen, im Interesse
der Patientinnen und Patienten sinnvolle Rahmenbedin-
gungen zu verabschieden. So könnte etwa der direkte te-
lefonische Draht zur Beratung bei der Abholung vorge-
schrieben werden.
Ich würde mich freuen, wenn wir über kurz - ich be-
fürchte jedoch, über lang - hier im Bundestag konstruk-
tiv darüber diskutierten, welchen gesundheitspolitischen
Anforderungen Pick-up-Stellen gerecht werden müssen.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9556 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24 a und b:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck ({0}), Tom Koenigs, Uwe
Kekeritz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
- Drucksache 17/8452 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
({1})
- Drucksache 17/9528 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Marina Schuster
Niema Movassat
Volker Beck ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Humanitäre Hilfe ({3}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({4}), Tom
Koenigs, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt unterzeichnen und ratifizieren
- Drucksachen 17/8461, 17/9528 Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Marina Schuster
Niema Movassat
Volker Beck ({5})
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Wir sprechen heute über das Zusatzprotokoll zum
UN-Sozialpakt, in welchem ein Individualbeschwerdeverfahren geregelt wird. Durch dieses Protokoll wird ermöglicht, dass Einzelpersonen oder Gruppen - auch im
Namen anderer - Beschwerden einlegen können, wenn
sie die im UN-Sozialpakt festgeschriebenen sogenannten WSK-Rechte, also die wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte, verletzt sehen und den nationalen
Rechtsweg ausgeschöpft haben. Durch dieses Fakultativprotokoll werden die WSK-Rechte, die seit der Wiener
Weltkonferenz für Menschenrechte 1993 gemeinsam mit
den bürgerlichen und politischen Menschenrechten als
unteilbar miteinander verknüpft gelten, in ihrer Bedeutung gestärkt. Dies ist ein weiterer und notwendiger
Schritt, die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu betonen und politisch durchzusetzen.
Deutschland hat bereits Individualbeschwerdemechanismen zum UN-Zivilpakt, zum Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung,
zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau, zur UN-Anti-Folter-Konvention und zur UN-Behindertenkonvention anerkannt. So
ist es richtig, dass die Bundesregierung sich die Frage
gefallen lassen muss, ob hier eine „Spielverzögerung“
vorliegt oder ob es gute Gründe für die Dauer gibt. Die
Opposition muss fragen, die Regierungskoalition muss
antworten. Wir haben zu diesem Thema bereits Anfang
2011 einen Antrag der SPD-Fraktion diskutiert, heute
geht es um eine Gesetzesvorlage von Bündnis 90/Die
Grünen.
Lassen Sie uns dabei nicht vergessen, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Dokument
erst am 10. Dezember 2008 angenommen hat und es bislang lediglich von acht Staaten - Argentinien, Bolivien,
Bosnien-Herzegowina, Ecuador, El Salvador, Mongolei,
Slowakei, Spanien - ratifiziert worden ist. Die Mehrheit
der Länder befindet sich wie Deutschland noch im Prüfungsprozess.
Doch zurück nach Deutschland. Da die Bundesregierung sehr aktiv und konstruktiv an der Arbeit am Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt mitgewirkt hat, würde
sie sich mit einer willkürlichen Verzögerung politisch ad
absurdum führen. Stattdessen gehört es zum Prinzip der
Rechtsstaatlichkeit und damit zur deutschen Politik,
nicht nur, aber auch im Bereich der Menschenrechte eingegangene Verpflichtungen auch umzusetzen und sich
einem externen - auch kritischen - Monitoring zu unterwerfen.
Wir erleben leider immer wieder Staaten, die sich formal zu den Menschenrechten bekennen und entsprechende Erklärungen schnell ratifizieren, sie dann aber
nur zögerlich bis gar nicht umsetzen, sei es, weil sie
nicht wollen oder nicht können. Gerade gestern wurde in
einer Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe auf die große Lücke zwischen dem
in der Verfassung garantierten Recht auf Religionsfreiheit und der Praxis einer nicht erfolgenden Strafverfolgung bei Verletzungen dieses Menschenrechts in vielen
Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas hingewiesen. Eine mitunter geradezu inflationäre Unterzeichnung der jeweiligen Menschenrechtserklärungen ohne
konsequente Umsetzung in nationale Rechtsprechung,
konsequentes Monitoring und tatsächliche Sanktionierung entspricht eben gerade nicht den Prinzipien der
Good Governance.
Eine Unterzeichnung und Ratifizierung des Fakultativprotokolls wird in der Bundesrepublik - und das ist
richtig so - erst nach einer Prüfung aller juristischen
und finanziellen Auswirkungen erfolgen. Daher stimmt
die Bundesregierung einer Ratifizierung immer nur
dann zu, wenn die aus einem internationalen Übereinkommen erwachsenen Verpflichtungen bereits mit deutschem Recht im Einklang stehen oder in deutsches Recht
umgesetzt worden sind. Diese Prüfung gestaltet sich angesichts der weitreichenden Implikationen des Sozialpaktes nicht nur in Deutschland als komplex und zeitaufwendig. Für Deutschland hat das Fakultativprotokoll
diverse prozessualrechtliche Auswirkungen, die sich
etwa am Beispiel des Beamtenrechts zeigen lassen. Eine
Ratifizierung hat Auswirkungen auf das Streikrecht für
Beamte. Dieser Sonderstatus wird aufwendig rechtlich
geprüft.
Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP hat
bereits im Koalitionsvertrag den Menschenrechten einen
besonderen Stellenwert in ihrer Arbeit eingeräumt. Als
Querschnittsthema durchzieht die Menschenrechtspolitik alle Politikfelder, die Innen- wie die Außenpolitik, die
Wirtschafts- wie die Sozialpolitik. Der Mensch, das
mündige Subjekt, das Individuum in Freiheit und Verantwortung, ist das Thema und der Mittelpunkt christlichliberaler Politik. Dazu gehört ein Individualbeschwerderecht.
Menschen, deren Rechte verletzt werden, müssen allerdings für ihre Beschwerde Rechtssicherheit haben.
Solange die Rechtslage nicht klar und eindeutig nachvollziehbar und gesichert ist, könnte das sogar dazu führen, dass auch inhaltlich berechtigte Klagen formaljuristisch abgewiesen werden müssten. Das schwächt in
der Folge die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechte der Menschen, statt sie im Sinne des Zusatzprotokolls zu stärken.
Liebe Kollegen von der Opposition, ich kann Ihrem
Anliegen - und darin bin ich mit der FDP-Fraktion auf
einer Linie -, eine Ratifizierung des Zusatzprotokolls
zügig zu ermöglichen, nur zustimmen, muss aber einen
Gesetzentwurf wie den vorliegenden zum jetzigen Zeitpunkt ablehnen. Auch der mitberatende Auswärtige Ausschuss, der Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie der
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung teilen diese Einschätzung mehrheitlich.
Bereits vor zwei Jahren habe wir von der SPD-Fraktion mit einem gleichlautenden Antrag die Bundesregierung aufgefordert, das Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt zu unterzeichnen und zu ratifizieren.
Zwei Jahre sind genug Zeit, um mögliche Auswirkungen des Protokolls für Deutschland zu überprüfen. Bedenken sollten zum jetzigen Zeitpunkt geklärt, die Abstimmung unter den Ministerien abgeschlossen sein.
Es erstaunt auch nicht mehr, es verärgert vielmehr,
dass die Bundesregierung die in Aussicht gestellte
Zeichnung und Ratifizierung bis heute nicht vollzogen
hat.
Außenpolitisch läuft Deutschland Gefahr, die positive
internationale Rolle, die es bei der Entstehung des Zusatzprotokolls eingenommen hat, zu gefährden und Renommee unnötig aufs Spiel zu setzen. Ein negatives Signal für andere Länder! Gerade die Finanz- und
Wirtschaftskrise hat doch gezeigt, dass arbeitende Menschen besonders in den rauen Zeiten der Globalisierung
auf international gültige Regeln angewiesen sind. Sie
brauchen verbindliche und garantierte Rechte, die sie
auch nach Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges
einklagen können.
Die WSK-Rechte, die im UN-Sozialpakt festgeschrieben sind, schützen weltweit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Rechte. Aber erst wenn der Zugang zu
individuellen Beschwerdemechanismen sichergestellt
ist, erfüllt sich der Grundsatz der Unteilbarkeit und der
Interpendenz aller Menschenrechte.
„Die erschreckende Realität ({0}) ist, dass Staaten
und die internationale Gemeinschaft als Ganzes noch
immer viel zu häufig Verstöße gegen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte dulden, Verstöße, die, würden
sie bürgerliche und politische Rechte verletzen, Entsetzen und Empörung provozieren und zu konzertierten
Forderungen nach sofortiger Wiedergutmachung führen
würden.“ Dieses Zitat des UN-Ausschusses belegt die
noch immer unterbewertete Rolle der WSK-Rechte nur
zu deutlich.
Erst durch das Zusatzprotokoll wird der UN-Sozialpakt, werden die WSK-Rechte den bürgerlichen und
politischen Rechten gleichgesetzt. Das Zusatzprotokoll
wird in Kraft treten, wenn es zehn Staaten ratifiziert haben. Bislang haben dies nur Ecuador, die Mongolei,
Spanien, Argentinien und El Salvador getan. Deutschland hat bei den internationalen Verhandlungen zum Fakultativprotokoll aktiv und konkret mitgearbeitet. Umso
weniger leuchtet die jetzige Zurückhaltung ein.
Aus der Ratifizierung des Zusatzprotokolls ergeben
sich zudem keinerlei neue Verpflichtungen über jene hinaus, zu denen sich Deutschland als Vertragsstaat des
UN-Sozialpakts ohnehin verpflichtet hat. Die WSKRechte müssten mit deutschem Arbeits- und Sozialrecht
nur mehr abgeglichen werden, und im Bedarfsfall müssten WSK-Rechte in nationales Recht umgemünzt werden.
Die Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs bedeutet in Deutschland den Gang bis vor das Bundesverfassungsgericht, was bereits einen beachtlichen Filter darstellt. Wenn Deutschland sich nicht dem Vorwurf einer
gezielten Verzögerungstaktik und dem Vorwurf doppelter Standards aussetzen will, muss es jetzt handeln. Die
Zeichnung des Zusatzprotokolls bringt Vorteile und Klärung, die WSK-Rechte werden konkret im nationalen
Recht abgebildet und verschwinden nicht mehr hinter
„Allgemeinen Bemerkungen“ des UN-Sozialausschusses.
Die SPD unterstützt daher den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen und erwartet von der Bundesregierung die
Zeichnung und Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum
UN-Sozialpakt noch vor der Sommerpause. Denn auch
hinsichtlich der WSK-Rechte gilt: Nicht Menschenrechte
werden verletzt, sondern Menschen! Und diese, jeder
Einzelne und alle, müssen sich wehren und Anspruchsrechte gegen ihren Staat durchsetzen können - notfalls
mithilfe der UN.
Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf der Grünen, der die Bundesregierung dazu auffordert, das
Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die sogenannten WSK-Rechte, zu unterzeichnen und zu ratifizieren.
Die Fraktion der FDP hält dies für das richtige Anliegen, dennoch ist der Antrag überflüssig. Im Folgenden
möchte ich dies erläutern.
Die FDP-Bundestagsfraktion vertritt den Standpunkt,
dass eine Zeichnung und Ratifizierung des Fakultativprotokolls nach gründlicher Prüfung durch die Bundesregierung möglichst bald erfolgen sollte. Dafür sprechen
verschiedene völkerrechtliche und menschenrechtspolitische Gründe. Es geht uns dabei vor allem um die
Glaubwürdigkeit Deutschlands, um die Glaubwürdigkeit
unserer wertegeleiteten Außenpolitik, um die Glaubwürdigkeit unserer Entwicklungspolitik und unseren Einsatz
für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Deutschland hat den UN-Sozialpakt bereits
im Jahr 1973 ratifiziert und ist somit völkerrechtlich zu
dessen Einhaltung verpflichtet. Dazu schafft das Fakultativprotokoll lediglich ein Rechtsmittel. Diesen Schritt
der Zeichnung und Ratifikation des Fakultativprotokolls
zu gehen, ist angesichts der großen Bedeutung, die unsere Bundesregierung den WSK-Rechten beimisst, und
im Hinblick auf unseren glaubhaften Einsatz für diese
Rechte nur folgerichtig.
Zu Protokoll gegebene Reden
Für eine Ratifikation des Fakultativprotokolls spricht
ferner, dass dadurch Einzelpersonen ein Beschwerdemittel zur Verfügung steht, wenn ihnen ihre Menschenrechte vorenthalten werden. Bisher gab es als Mittel der
Überprüfung der Einhaltung der WSK-Rechte in den
Unterzeichnerstaaten nur die Staatenberichte, in denen
Rechenschaft über die Menschenrechtssituation abgelegt wurde und Verbesserungsmaßnahmen vorgeschlagen wurden. Das Individualbeschwerdeverfahren des
Fakultativprotokolls hingegen ermöglicht es Einzelpersonen, vor einem internationalen Gremium Beschwerde
gegen ihren Staat einzulegen, wenn ihre wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Rechte verletzt werden.
Der Ausschuss der Vereinten Nationen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ist damit nicht mehr
nur für das Berichtsprüfungsverfahren, sondern auch
für internationale Beschwerdeverfahren und Untersuchungsverfahren zuständig. Da es sich bei den WSKRechten um absolut elementare und überlebenswichtige
Rechte wie das Recht auf Wasser, auf Nahrung und auf
Wohnen handelt, bin ich der Überzeugung, dass es einem jeden Menschen zusteht, diese Rechte mit mehr
Nachdruck als bisher einfordern zu können.
Darum begrüßt die FDP-Bundestagsfraktion, dass
unsere Regierung derzeit eine Zeichnung und Ratifizierung des Fakultativprotokolls prüft. Eine solche Prüfung
ist ein angemessenes und notwendiges Vorgehen bei
sämtlichen internationalen und völkerrechtlichen Verträgen. Ich bin zuversichtlich, dass die dabei noch bestehenden Vorbehalte gegen eine Zeichnung ausgeräumt
werden können. Das Interesse am Zustandekommen des
Fakultativprotokolls kann der Bundesregierung jedenfalls nicht abgesprochen werden, hat sie doch die Verhandlungen über das Protokoll maßgeblich aktiv und
konstruktiv begleitet. Der Gesetzentwurf der Grünen in
dieser Sache ist daher nicht nötig.
Ich möchte an dieser Stelle auch an das globale
Engagement der Bundesregierung für die Gewährleistung der WSK-Rechte erinnern, beispielsweise an den
Einsatz von Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel
für das Menschenrecht auf Wasser und sanitäre Grundversorgung. Im Wassersektor ist Deutschland einer der
größten bilateralen Geber weltweit und der größte bilaterale Geber in Afrika. Mit etwa 400 Millionen Euro im
Jahr fördert die Bundesrepublik Programme und Projekte in diesem Bereich, und der Wassersektor ist in
27 Ländern Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Von den laufenden Vorhaben zur
Verbesserung der Wasser- und Sanitärversorgung profitieren etwa 80 Millionen Menschen weltweit, das entspricht annähernd der Bevölkerung Deutschlands. Auch
der wirtschaftliche Nutzen dieser Anstrengungen ist
enorm, denn laut der Weltgesundheitsorganisation dient
jeder in die Wasserversorgung investierte US-Dollar
auch dazu, einen volkswirtschaftlichen Schaden von
8 US-Dollar zu vermeiden.
Daher vertraue ich darauf, dass die Bundesregierung
es ernst meint mit ihrem Einsatz für die WSK-Rechte.
Dass derzeit noch die letzten Fragen bezüglich einer
Zeichnung des Fakultativprotokolls auf Ressortebene
geklärt werden, erfüllt mich mit Zuversicht, dass diese
sorgfältige Prüfung bald zu einem positiven Ergebnis
kommt. Statt also diesen überflüssigen Gesetzentwurf
anzunehmen, sollten wir das Ergebnis der Überprüfung
abwarten und können auf eine baldige Zeichnung hoffen.
Mit dem Fakultativprotokoll soll der Internationale
Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
konkretisiert werden. Bei Verletzungen dieser Rechte
sollen sich die Betroffenen wehren können. Das ist gut
und wichtig. Hierfür sieht das Fakultativprotokoll Individualbeschwerdeverfahren vor. Einzelpersonen oder
Personengruppen könnten sich demnach an den UNAusschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte wenden, wenn sie ihre Rechte in den Staaten, in
denen sie leben, verletzt sähen.
Die Linke hat das Anliegen stets unterstützt. Die Umsetzung des Zusatzprotokolls in innerstaatliches Recht
würde einen wichtigen Schritt zur Gleichstellung der
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte mit
den bürgerlichen und politischen Rechten bedeuten. Im
Unterschied zum UN-Sozialpakt enthielt der UN-Zivilpakt von Anbeginn ein Individualbeschwerderecht. Es
kann also keine Rede davon sein, dass wir in der Bundesrepublik bislang allen Menschenrechten den gleichen
Stellenwert einräumen würden. Die Bundesregierung
behandelt die WSK-Rechte äußerst stiefmütterlich. Auch
der fünfte UN-Staatenbericht für Deutschland hat dies
ausdrücklich bestätigt. Deshalb hat die Linke dazu eine
Große Anfrage eingebracht.
Ich freue mich daher, dass sich nun auch die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen dieses
Themas angenommen haben. Die Linke hat im federführenden Ausschuss beiden vorliegenden Initiativen zugestimmt. Wir werden ihnen auch heute unsere Zustimmung geben.
Es passt zur Politik von Schwarz-Gelb, dass Deutschland bei der Unterzeichnung und Ratifizierung des Fakultativprotokolls auf der Bremse steht. Schon seit 2008
prüft die Bundesregierung mögliche „Anpassungserfordernisse“ im deutschen Recht, die sich aus dem Zusatzprotokoll ergeben könnten. Mit ihrer Hinhaltetaktik verhindert die Bundesregierung, dass das Zusatzprotokoll
in Kraft treten kann. Hierfür müssen mindestens zehn
Staaten das Zusatzprotokoll ratifizieren. Gegenwärtig
fehlen noch zwei Ratifizierungen. Insbesondere hochentwickelte Industrieländer wie Deutschland müssten hierbei eigentlich eine Vorbildfunktion übernehmen. Allerdings hat als erstes Land bezeichnenderweise das
krisengeschüttelte Spanien das Protokoll ratifiziert.
Argentinien, Bolivien, Bosnien-Herzegowina, Ecuador,
El Salvador, die Mongolei und die Slowakei haben sich
dem spanischen Beispiel angeschlossen. Weshalb zögern aber insbesondere mächtige Wirtschaftsnationen
wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder die
USA so auffällig, obwohl sie sonst gern mit erhobenem
Zeigefinger andere Länder kritisieren, wenn es um Menschenrechte geht?
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Wahrheit ist, dass die Bundesregierung zwar gern
das Hohelied der Menschenrechte singt, wenn es ihr
politisch passt. Dort, wo sie selbst mit Kritik rechnen
muss, kneift sie lieber. Offenbar befürchtet sie bei einer
Ratifizierung des Zusatzprotokolls eine Klageflut der
Betroffenen. Damit würde der Zusammenhang zur Politik der Bundesregierung sichtbar gemacht. Denn vor allem in Deutschland wurden im Zuge der neoliberalen
Sozialkürzungsdiktate die wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte abgebaut. Dies hat sich unter
Schwarz-Gelb verschärft, geht aber ursächlich auf das
Konto von Schröders Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen unter Rot-Grün. Als Folge von Hartz IV leben aktuell knapp 2,4 Millionen Kinder in Armut, atypische
und prekäre Beschäftigungsverhältnisse ufern immer
weiter aus. Leiharbeit und Niedriglohn verletzen die
Würde der Menschen, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben können. 2,5 Millionen Beschäftigte brauchen zu ihrem Hauptberuf noch einen Minijob, und über 1,3 Millionen Erwerbstätige müssen ihre Hungerlöhne mit
Hartz IV aufstocken, um über die Runden zu kommen.
Von Sassnitz bis Berchtesgaden suchen immer mehr
arme und wohnungslose Menschen sogar Suppenküchen
auf, um wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag zu bekommen. Und immer mehr Menschen müssen zu den Tafeln gehen, um sich mit einfachen Grundnahrungsmitteln wie Milch, Mehl und Gemüse zu versorgen! Die
Linke sagt: Für ein wohlhabendes Land wie die Bundesrepublik ist das ein Skandal!
Das sind alles schwerwiegende Verletzungen der
Menschenwürde und der wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte. Dem Antrag der Grünen ist diesbezüglich ein schlechtes Gewissen anzumerken. Die Grünen entdecken ihr Interesse für die WSK-Rechte reichlich spät und erst in der Opposition. Es ist wohl auch
kein Zufall, dass ihr Antrag damit argumentiert, dass
wegen der hohen rechtlichen Hürden nur vergleichsweise wenige erfolgreiche Individualbeschwerden gegen
Deutschland zu erwarten seien. Ein weitaus besserer
Grund für diese Annahme wäre doch gewesen, wenn es
bei uns keine gravierenden Verletzungen der WSKRechte gäbe! Die Grünen wissen genau, dass dies nicht
der Fall ist und sie in ihrer Regierungszeit einen gehörigen Teil der politischen Verantwortung dafür tragen.
Falls die Grünen endlich bereit sein sollten, den neoliberalen Irrsinn zu beenden und politisch umzudenken,
wird die Linke dies ausdrücklich unterstützen. Deshalb
stimmen wir den Initiativen auch zu; eine nachträgliche
Beschönigung rot-grüner Regierungsbilanz dürfen sie
von uns allerdings nicht erwarten. Da dieses wichtige
Anliegen im federführenden Ausschuss leider keine
Mehrheit bekommen hat, lehnen wir die Beschlussempfehlung ab.
Es ist jetzt mehr als zweieinhalb Jahre her, dass wir
das jetzt zur Debatte stehende Thema zuletzt im Plenum
beraten haben. Es geht um die Forderung, endlich das
Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Damals lag uns ein Antrag der
SPD vor, den wir Grüne unterstützt haben, jetzt haben
wir es etwas genauer gemacht und einen Antrag sowie
einen Gesetzentwurf eingebracht. In dem Antrag fordern
wir die Bundesregierung auf, das Protokoll zu unterzeichnen, und mit dem Gesetzentwurf liefern wir ihr das
anschließend notwendige Ratifikationsgesetz gleich auf
dem Silbertablett hinzu.
Doch genauso wenig, wie sich unsere Forderung
nach der Ratifikation in den letzten Jahren verändert
hat, hat sich der Ablehnungsgrund der Koalition und der
Bundesregierung gewandelt. Damals wie heute heißt es,
die Bundesregierung - namentlich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales - prüfe die Unterzeichnung
und Ratifikation. Was vor zweieinhalb Jahren unverständlich war, ist es jetzt erst recht.
Seit dem 24. September 2009 ist die Zeichnung und
Ratifikation des Fakultativprotokolls möglich. Deutschland prüft seither die Ratifikation sowie die Anpassungserfordernisse im deutschen Recht. Wie kann die Bundesregierung ernsthaft behaupten, dass ein Protokoll, in
dem ausschließlich Verfahrensrechte geregelt sind, seit
mittlerweile über vier Jahren geprüft werden muss?
Eines will ich ganz klar feststellen; denn offensichtlich haben weder die Koalitionsfraktionen noch die Bundesregierung es begriffen: Durch das Fakultativprotokoll wird kein neues materielles Recht geschaffen. Es
wird lediglich den Rechten aus dem UN-Sozialpakt zur
Durchsetzung verholfen, indem man Bürgerinnen und
Bürgern die Möglichkeit eines Rechtsweges zum entsprechenden UN-Ausschuss einräumt - und auch dies
erst, wenn der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist.
Die Bundesrepublik hat sich im Jahre 1968 zur Unterzeichnung des Paktes entschlossen und ihn 1973 ratifiziert. Seither sind die Vorgaben des Sozialpakts geltendes nationales Recht. Wer nun ein Problem damit hat,
diesem Recht zur prozessualen Umsetzung zu verhelfen,
der macht Politik nach dem Motto: Wasch mir den Pelz,
aber mach mich nicht nass.
Sollte es tatsächlich Defizite im deutschen Recht geben, die einmal eine Beschwerde nach dem Fakultativprotokoll begründen würden, so wäre dies doch kein
Problem des Protokolls, sondern ein Problem in unserer
Rechtsordnung, die an dieser Stelle offenbar unvereinbar mit unseren völkerrechtlichen Verpflichtungen aus
dem Sozialpakt wäre. Das wäre dann zwar sicherlich
unschön, aber nichts, wovor man sich zu fürchten
bräuchte; denn zur Einhaltung und Wahrung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte
haben wir uns schließlich freiwillig entschieden.
Häufig wird uns Menschenrechtsaktivisten doch vorgehalten, die WSK-Rechte seien zu abstrakt, zu unbestimmt und nicht praktikabel. Gerade diesen kritischen
Stimmen sollten wir entgegnen, dass es ein Individualbeschwerdeverfahren gibt. Einzelfälle machen Probleme
oftmals erst anschaulich, holen sie aus dem Abstrakten
ins Konkrete.
Die Bundesregierung fügt jedoch mit ihrer jahrelangen Prüfung, die man bei näherer Betrachtung eigentlich nur als renitente Verzögerungstaktik bezeichnen
kann, der deutschen Menschenrechtsarbeit Schaden zu.
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
Wenn die deutsche Menschenrechtspolitik auf der rechtlichen Seite so aussieht, dass man zwar alle Verträge unterschreibt, dann aber nicht beabsichtigt, sie einzuhalten, wäre das fatal. Man kann nicht einen Vertrag
unterschreiben und dann nicht auch dafür Sorge tragen,
dass die mit der Unterzeichnung eingegangen rechtlichen Verpflichtungen auch individuell einklagbar gemacht werden. So darf man nicht mit internationalen
Menschenrechtspakten umgehen; denn wenn man diese
Logik für sich in Anspruch nimmt, darf man sich nicht
wundern, wenn sich Länder mit einer katastrophalen
Menschenrechtsbilanz ähnlich verhalten. Das eigentliche Problem bei der Frage nach der Unterzeichnung
und Ratifikation des Fakultativprotokolls zum Sozialpakt ist daher nicht die Klärung rechtlicher Defizite,
sondern die Frage der Glaubwürdigkeit, um gegenüber
anderen Ländern konsistent auftreten zu können.
Angesichts der Tatsache, dass die Bundesrepublik
Deutschland die Entstehung und Verabschiedung des
Fakultativprotokolls unterstützt hat, ist es nun in den
Augen anderer Staaten besonders dubios, dass wir uns
so sehr zieren, es auch zur innerstaatlichen Geltung zu
bringen. Wir sind es doch, die fremden Staaten stets ins
Gewissen reden, die Menschenrechte seien unteilbar.
Niemand bestreitet, dass es im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte beispielsweise in
der Volksrepublik China in den letzten Jahren Verbesserungen gegeben hat. Aber stets fordern wir dann, dass
dies nicht zulasten der bürgerlichen und politischen
Rechte geschehen darf.
Und was ist mit uns? Die Individualbeschwerdemechanismen zum Zivilpakt und zu mehreren anderen
Übereinkommen, die die bürgerlichen und politischen
Rechte betreffen, hat die Bundesrepublik längst anerkannt. Warum dann nicht auch für die WSK-Rechte?
Zu der bisweilen befürchteten Beschwerdeflut wird es
nicht kommen. Von den bislang gegen Deutschland eingebrachten Individualbeschwerden wurde der Großteil
schon als unzulässig zurückgewiesen, beispielsweise
aufgrund der fehlenden innerstaatlichen Ausschöpfung
des Rechtswegs. Auch die grundgesetzliche Rechtsschutzgarantie erweist sich als ein wirksamer Filter.
Ferner sind gegen Deutschland bisher kaum Individualbeschwerden aus anderen Rechtsbereichen eingereicht
worden.
Im Individualbeschwerdeverfahren zum internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte wurde
in nur einem Verfahren eine Verletzung eines Paktrechts
festgestellt. Hinzu kommt, dass beispielsweise bereits in
der Frauenrechtskonvention viele der wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Rechte geschützt sind und daher
auch schon bisher Individualbeschwerden zu wirtschaftlichen oder sozialen Rechten hätten erhoben werden
können. Dies ist nicht geschehen. Daher ist auch mit
Blick auf das neue Fakultativprotokoll nicht zu erwarten, dass auf Deutschland eine Flut an Individualbeschwerden zukommt.
Eine Ratifikation des Fakultativprotokolls wäre nicht
nur eine bedeutende Förderung der WSK-Rechte und
würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik in der internationalen Menschenrechtsarbeit steigern. Es wäre auch ein deutliches Zeichen, um die Menschenrechte insgesamt - bürgerliche und politische
sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte - in
ihrer Unteilbarkeit und Gleichwertigkeit zu stärken.
Gezeichnet haben das Zusatzprotokoll bislang
40 Staaten, zuletzt Irland, davor aber auch etwa Kasachstan oder die Demokratische Republik Kongo. Ist es
vertretbar, dass wir dahinter zurückstehen? Acht dieser
Staaten haben das Fakultativprotokoll bereits ratifiziert.
Zwei weitere Ratifikationen stehen bevor.
Drei Monate nach der zehnten Ratifikation tritt das
Protokoll dann in Kraft. Es ist bedauerlich genug, dass
Deutschland nicht unter diesen ersten zehn Staaten sein
wird. Aber bitte vermeiden Sie das erbärmliche Bild, das
sich ergeben würde, wenn Deutschland sich der Umsetzung dieses in Kraft getretenen völkerrechtlichen Vertrages verweigern würde.
„Eile mit Weile“: Das waren die Worte von CDU/
CSU und FDP in der Sitzung des Ausschusses für Menschenrechte am 29. September 2010, als wir über den
damaligen Antrag der SPD berieten.
Eine Zeichnung des Zusatzprotokolls durch die
Bundesrepublik Deutschland sollte erfolgen, das ist
unstrittig. Dies soll so schnell wie möglich geschehen. Und es soll so gründlich wie nötig geschehen.
Das sagte tags darauf der Unionsabgeordnete Frank
Heinrich in der Plenardebatte. Diese Äußerungen sind
mittlerweile ziemlich unglaubwürdig geworden. Wenn
Sie es mit dem Einsatz für die Menschenrechte ernst
meinen, dann fassen Sie sich nun endlich ein Herz und
ratifizieren Sie dieses Zusatzprotokoll.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8452. Der Ausschuss für Menschenrechte empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 17/9528, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? - Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Zugestimmt haben alle Oppositionsfraktionen, dagegen haben
alle Regierungsfraktionen gestimmt. Damit entfällt die
dritte Beratung.
Tagesordnungspunkt 24 b: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8461. Unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/9528 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen. Die Oppositionsfraktionen haben abgelehnt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta
Zapf, Dagmar Freitag, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Marieluise Beck ({0}), Katrin Göring-Eckardt, Viola von CramonTaubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 in
Belarus
- Drucksache 17/9557 Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Im Lichte aktueller Debatten um die anstehende Fußball-Europameisterschaft in Polen und in der Ukraine
debattieren wir heute über einen Antrag der SPD und
der Grünen, die nächste Eishockey-Weltmeisterschaft
nicht in Belarus stattfinden zu lassen. Genauer gesagt
soll Druck auf die Internationale Eishockey-Föderation
ausgeübt werden, die Weltmeisterschaft 2014 dem weißrussischen Verband und Belarus wieder wegzunehmen.
Meine sehr geehrten Antragsteller, ich möchte Ihnen
dazu sagen, dass ihr Antrag weder gut gemacht noch gut
gemeint ist. Meine Aussage kann ich auch begründen.
Wenn die Politik dem Sport Vorschriften macht, deren
Folgen in die Autonomie der jeweiligen Verbände eingreifen, dann bedient sich die Politik der gleichen Mitteln wie undemokratische Regime: Die Politik würde
den Sport instrumentalisieren. Das soll nicht sein, und
das darf nicht sein. Daher werden wir Ihren Antrag in
der derzeitigen Form ablehnen.
Gleichwohl wir uns vollkommen einig darin sind,
dass wir es in Weißrussland mit einer Diktatur zu tun haben, die wir in Europa vor langer Zeit als überwunden
geglaubt haben, so müssen wir doch davon Abstand nehmen, dem Sport Aufgaben anzudienen, die er nicht erfüllen kann. Der Sport kann politische Probleme wie zum
Beispiel die Achtung der Menschenrechte nicht lösen
und wäre damit auch vollkommen überfordert. Es hat
sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass
ein Boykott von Sportgroßveranstaltungen immer nur
zulasten der Sportler und der Menschen vor Ort geht
und im Endeffekt keine messbaren Erfolge offenbar wurden.
Das sage ich Ihnen nicht nur als Mitglied der CDU/
CSU-Bundestagsfraktionen, sondern auch als vom damaligen Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau direkt betroffener ehemaliger Sportler. Aber nicht
nur der Moskau-Boykott hat keine Wirkung erzielt. Vier
Jahre später in Los Angeles oder 1972 und 1976 als afrikanische Staaten aufgrund der Teilnahme von Rhodesien
und Südafrika die Olympischen Spiele in München und
Montreal boykottierten, war ebenfalls kein greifbares
Ergebnis festzustellen. Natürlich ist es möglich, Mängel
und Verfehlungen zum Beispiel bei der Achtung der
Menschenrechte anzuzeigen; aber das darf nicht dazu
führen, dass der Sport als öffentlichkeitswirksames Medium durch die Politik instrumentalisiert wird, und es
hat sich - wie gerade erwähnt - gezeigt, dass ein Boykott keine Lösung ist.
Lassen Sie mich hier als Beispiel die Olympischen
Spiele 2008 in Peking anführen. Auch hier wurde vor
den Spielen kontrovers darüber diskutiert, wie mit Tibet
und auch allgemein mit der Unterdrückung der Menschenrechte und der freien Meinungsäußerung in China
umgegangen werden soll. Auch hier wurde das Thema
Boykott lang und breit diskutiert, aber am Ende hat es
keinen Boykott gegeben, China war ein guter Gastgeber,
und es kam durchaus zu Veränderungen. Natürlich hätten wir uns eine größere und länger anhaltende Öffnung
des Landes auf vielen Ebenen gewünscht. Aber es kann
nicht verleugnet werden, dass es auch nachhaltige Veränderungen gab. Hier möchte ich vor allem die Paralympics herausstellen und die Erfolge, die für Behinderte in einem Land erzielt werden konnten, in dem
genau so viele behinderte Menschen leben wie Deutschland Einwohner hat. Behinderte wurden früher in China
versteckt, kamen sozusagen nicht vor. Erst durch die Paralympics und die im vorolympischen Jahr durchgeführten Special Olympics ist diese „versteckte“ Gruppe von
Menschen in China in der Gesellschaft angekommen.
Sie sehen, bei Sportgroßveranstaltungen in Staaten,
in denen unsere rechtsstaatlichen Grundprinzipien nicht
in dem Maße eingehalten werden, wie wir uns das zweifelsfrei wünschen würden, kommt die Politik an ihre nationalstaatlichen Grenzen. Die Sportverbände sind nur
der eigenen politischen Neutralität verpflichtet und
nicht den Wünschen und Hoffnungen von Politikern. Es
spielen bei der Vergabe von Sportereignissen eben nicht
die Kriterien eine Rolle, nach denen die Politik einen
Staat als demokratisch oder nicht demokratisch einstuft,
sondern die Mehrheitsverhältnisse für oder gegen einen
sich bewerbenden Verband sind ausschlaggebend.
Zudem liegen zwischen der Entscheidung, ein großes
Sportereignis in ein Land zu vergeben, und dem tatsächlichen Beginn der Veranstaltung immer mehrere Jahre,
in denen sich die politischen Vorzeichen dramatisch ändern können, wie wir es derzeit bei der anstehenden
Fußball-Europameisterschaft erleben können. Die Vergabe war der Versuch, einem mittel- und einem osteuropäischen Land die Möglichkeit zu geben, sich der Welt in
Zeiten politischer Veränderungen hin zu mehr Demokratie präsentieren zu können. Unsere polnischen Nachbarn haben diese Chance bisher sehr gut genutzt, und
ich bin der Überzeugung, dass die Fußball-Europameisterschaft Polen noch näher an Europa heranführen wird.
Für die Ukraine gilt dies leider nicht; denn deren politische Realitäten haben sich nach dem Regierungswechsel 2010 nicht unbedingt an die der Europäischen Union
angenähert.
Aber - ich sage es nochmal - die Politik darf den
Sport nicht instrumentalisieren. Der Anspruch des
Sports ist auch Annäherung, Verständigung, Integration
und Zusammenführung von Menschen und vieles mehr.
Der Sport steht für eine Idee und für übergreifende
Werte, die sich sehr gut im Attribut „olympisch“ zusammenfassen lassen. Stellvertretend seien hier die Werte
Fair Play, Toleranz, Verantwortung und Respekt genannt, die als Prinzipien wenige gesellschaftliche Bereiche so exponiert vertreten wie der Sport. Aber es muss
eine klare Trennung zwischen Sport und Politik gemacht
werden. Diese klare Trennung ist nicht immer einfach,
wie wir an Ihrem Antrag sehen können, sollte aber von
der Politik respektiert werden.
Die Vergabe von Sportgroßveranstaltungen an Länder wie Belarus führt bereits dazu, dass die Aufmerksamkeit für die massiven Defizite in dem Land steigt.
Durch die weltweite Berichterstattung sind die Sportverbände und die Sportler durchaus in der Lage, für eine
Verbesserung der Situation und für eine Öffnung eines
bisher mehr oder weniger abgeschotteten Landes zu
werben. Konkrete Erfolge sind aber zumeist auf die Zeit
der Sportereignisse begrenzt, wie beispielsweise eine
Garantie der freien Berichterstattung von Pressevertretern. Alles, was darüber hinausgeht, bleibt Aufgabe und
Verantwortung der Politik.
Politisch gesehen gibt es bei der derzeitigen Lage in
Belarus nichts zu beschönigen. Das Land wird weder demokratisch noch rechtsstaatlich regiert. Die Verhaftungen und Verurteilungen von Oppositionellen nach den
letzten Wahlen sind nicht akzeptabel und zu verurteilen.
Es ist unsere gemeinsame Aufgabe als Politiker, dem Regime in Minsk unmissverständlich und mit allen uns zur
Verfügung stehenden politischen - die Betonung liegt
hier auf „politischen“ - Mitteln klarzumachen, dass es
sich mit dieser praktizierten Politik isoliert.
Ja, wir können uns mit dem Deutschen EishockeyBund zusammensetzen und darüber diskutieren, wie es
zu einer Vergabe der Weltmeisterschaft 2014 an ein solches Regime kommen konnte, und ja, wir können das
Gleiche auch mit der Internationalen Eishockey-Föderation machen. Wir können auch - zusammen mit diesen
Partnern - darauf hinarbeiten, dass eine internationale
Vereinbarung über rechtsstaatliche und humanitäre
Mindestanforderungen während der Austragung von
Sportgroßveranstaltungen ausgearbeitet wird. All das
ist möglich.
Eines muss aber auch den Antragstellern der SPD
und von den Grünen gesagt werden: Wir können und
dürfen den Sportverbänden nicht diktieren, in welche
Länder sie in Zukunft solche Ereignisse vergeben und
dass bereits getroffene Entscheidungen - wie im Falle
von Belarus - revidiert werden müssen. Dies müssten
die Fachverbände selbst machen. Sonst können wir uns
darauf einstellen, dass es in Zukunft an vielen Ausrichterländern etwas auszusetzen gibt. Irgendeine Gruppierung findet einen Grund für einen Boykott. Die nächsten
Diskussionen werden wir nach den Boykottaufrufen in
der Ukraine und in Belarus bei den Olympischen Spielen in Sotschi erleben und dann bei den nächsten beiden
Fußball-Weltmeisterschaften in Russland und in Katar.
Andererseits darf man von den Sportverbänden bei
der Vergabe von Sportgroßveranstaltungen durchaus
mehr Fingerspitzengefühl erwarten. Auch der Sport lebt
nicht in einem Elfenbeinturm seiner eigenen Statuten.
Die Lösung für die Probleme, über die wir hier diskutieren, ist ein verstärktes Zusammenwirken von Sport
und Politik, und dieses gelingt am Besten, wenn miteinander gesprochen wird. Dann kann die Autonomie des
Sports gewahrt bleiben, ohne dass sich die Politik einzumischen versucht und den Sport instrumentalisieren
will.
Das langjährige Verhalten der Regierung in Minsk
zeugt von enormen demokratischen Defiziten. Mit Nachdruck hatten wir im Deutschen Bundestag verlangt,
gemeinsam mit der zivilisierten Staatengemeinschaft:
erstens die sofortige Freilassung der politischen Gefangenen und zweitens deren Zugang zu medizinischer Versorgung und zu anwaltlicher Betreuung.
Mittlerweile wurden aufgrund des erheblichen Druckes der Europäischen Union Mitte April die vormaligen
Oppositionsführer Sannikow und Bondarenko freigelassen. Ein Zeichen der Regierung in Minsk, den Draht zur
westlichen Wertegemeinschaft nicht abbrechen zu lassen. Folgerichtig sind daher in diesen Tagen die abgezogenen Botschafter der EU-Staaten nach Minsk zurückkehrt.
Auch angesichts dieser ersten Hinweise zur Deeskalation der Krise halte ich es für ein falsches Zeichen,
wenn wir nun eine Verlegung der Eishockey-WM fordern.
Der Sport sollte nicht als politisches Druckmittel verwendet werden. Wie wir gerade in diesen Tagen am Beispiel der Ukraine demonstriert bekommen - oder auch
in ähnlicher Weise beim bevorstehenden Eurovision
Song Contest in Aserbaidschan -, bietet eine internationale Großveranstaltung der Zivilgesellschaft eines autoritären Staates eine Bühne, sich in der Weltöffentlichkeit
bemerkbar zu machen. Solche Veranstaltungen stellen
internationale Öffentlichkeit her. Es gab selten eine derartige Befassung mit der Ukraine und mit Aserbaidschan wie im Vorfeld dieser Events. Und es gab selten
eine solche Bühne für die jeweilige Opposition, sich der
internationalen Staatengemeinschaft zu präsentieren.
Wenn das Regime die Veranstaltung zur Propaganda
nutzen will, dann sind eben die politischen Akteure gefordert, nicht die sportlichen!
Regierungsmitglieder, Parlamentarier und Diplomaten können durch Abwesenheit auf der Ehrentribüne
oder demonstrative Treffen mit Vertretern der Opposition während der WM auf die Zustände im Gastgeberland öffentlichkeitswirksam hinweisen. Damit erreichen
wir mehr für die Opposition, als wenn wir die Sportler
und Fans durch einen Boykott bestrafen oder gar die
Aufmerksamkeit der Staatengemeinschaft durch eine
Verlegung der WM in ein anderes Land von Weißrussland ablenken. Im Fall der Ukraine hat sich die Opposition ausdrücklich dagegen ausgesprochen, die FußballEM zu boykottieren. Wir dürfen dies auch für Weißrussland annehmen.
Viele von uns, auch die Bundesregierung, auch die
Europäische Union, haben in den letzten Jahren den
Zu Protokoll gegebene Reden
Versuch unternommen, Weißrussland in die europäische
Normalität zu begleiten. Es bleibt weiter richtig, dass
dieser Versuch unternommen wurde. Und, trotz allem:
Es wird auch künftig Gesprächskanäle geben müssen.
In meinen Augen bedeutet Handeln im Sinne der wertegebundenen Außenpolitik nämlich auch, dass wir niemals eine Gesellschaft aufgeben, die nicht nach unserem
Verständnis von politischen Werten regiert wird. Somit
ist der Erhalt des Dialoges mit den politisch Verantwortlichen in Regierung und Opposition eines autoritären
Staates eine der wichtigsten Voraussetzungen in einer
derartigen Krise, um doch noch auf friedlichem Wege
eine Veränderung der Verhältnisse zu erreichen.
Die Europäische Union gehört zum freien Teil Europas. Sie ist die Hoffnung für viele, die außerhalb leben;
wir merken das immer wieder, wenn wir außerhalb der
Europäischen Union reisen. Ich werbe auch weiter eindringlich für eine Erleichterung des Visaverfahrens: Wir
sollten einen leichten Zugang in die Bundesrepublik insbesondere für die junge Generation, für Studenten, für
Schüler und für gut ausgebildete Wissenschaftler aus
Weißrussland - und auch aus der Ukraine und Russland schaffen. Außerdem sollten wir dafür sorgen, dass wir
hinreichend Studienplätze und auch Stipendien ermöglichen, damit diese hochmotivierten Menschen hier zunächst ein Auskommen haben und unsere Wertegemeinschaft, im wahrsten Sinne des Wortes, am eigenen Leib
erleben. Gibt es dereinst bessere Garanten für eine demokratische Entwicklung in Belarus als die durch unsere Demokratie geprägten Heimkehrer?
In Weißrussland selbst aber sollten wir den demokratischen oppositionellen Kräften eine Chance geben, sich
anlässlich der Eishockey-WM 2014 einer breiten Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Und wir, die Politiker, sollten ebenfalls diese WM als Auftrag sehen, unsere Solidarität mit der weißrussischen Demokratiebewegung zu
unterstreichen, öffentlich zu zeigen und unsere politischdiplomatischen Bemühungen nicht abreißen zu lassen,
um den Menschen in Belarus ein Leben in politischer
Freiheit und Verantwortung zu ermöglichen.
Die Diskussion über die in wenigen Wochen beginnende Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine ist
noch in vollem Gang, schon rückt ein weiteres Sportereignis in den Fokus: die Eishockey-WM 2014 in Belarus.
Ebenso wie in der Ukraine ist die aktuelle Entwicklung in Weißrussland besorgniserregend. Das Land erlebt zurzeit eine der extremsten Repressionsphasen seit
seiner Unabhängigkeit. Menschen werden in Schauprozessen verurteilt und im schlimmsten Fall hingerichtet,
rechtsstaatliche Prinzipien werden mit Füßen getreten.
Versammlungs- oder Meinungsfreiheit sind de facto
nicht mehr existent in Weißrussland, gleiches gilt für die
Pressefreiheit. Willkürliche Handlungen durch den KGB
sind legitimiert worden, der Geheimdienst kann ohne
richterliche Genehmigungen Durchsuchungen und Verhöre durchführen, Folter und Tötung sind faktisch legalisiert.
Für internationale Organisationen ist es mittlerweile
kaum noch möglich, in Weißrussland ihrer Arbeit nachzugehen. So ließ die weißrussische Regierung beispielsweise das OSZE-Büro in Minsk nach den Wahlen und
der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen Wahlfälschung im Dezember 2010 schließen. Unserer Kollegin Uta Zapf, Vorsitzende der Ad-hoc-Arbeitsgruppe
Belarus der OSZE-PV - Parlamentarische Versammlung -, wurde das Visum verweigert - sie wollte zur Beobachtung von Gerichtsverfahren gegen Oppositionelle
ins Land reisen.
Vor solch einem Hintergrund wird die bereits beschlossene Vergabe der Eishockey-Weltmeisterschaft an
Weißrussland zur Farce.
Der organisierte Sport reklamiert auf nationaler wie
auf internationaler Ebene gerne die Vertretung ethischer
Werte wie Respekt und Toleranz, und das in vielen Bereichen zu Recht. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass
in Weißrussland in zwei Jahren eine internationale
Sportgroßveranstaltung, dem eigenen Anspruch nach
ein Fest der Freude und Völkerverständigung, stattfinden soll.
Heute diskutiert der Deutsche Bundestag über diese
Entscheidung der Internationalen Eishockey-Föderation - IIHF - ein Novum! Es zeigt, dass Politik und Sport
eben doch nicht immer strikt voneinander zu trennen
sind, auch wenn Vertreter des organisierten Sports dieses geradezu mantraartig immer wieder glauben machen möchten.
Vorab zwei Anmerkungen: Die viel beschworene Autonomie des Sports wird nicht dadurch infrage gestellt,
dass Politiker sportpolitische Ereignisse und Entscheidungen kommentieren. Auch sollen Sportlerinnen und
Sportler keinesfalls instrumentalisiert werden. Aber:
Sportlerinnen und Sportler sind mündige Bürger, die
selbst entscheiden können und in der Regel auch wollen,
zu welchen Themen sie sich in welcher Form und an
welchem Ort äußern.
Bislang fällt jedoch eher das große Schweigen im organisierten Sport auf. „Sport ist unpolitisch“ - so eine
gern gegebene Standardantwort auf nationaler wie internationaler Ebene. Wer so agiert, verkennt die Chancen, die sich dem Sport aufgrund seiner weltweiten Faszination bei den meisten Menschen bieten. Der Sport
kann Signale senden, Zeichen setzen - wenn er es denn
will!
In diesem Zusammenhang lohnt noch einmal ein
Blick auf die anstehende Fußball-Europameisterschaft
in der Ukraine. Im Gegensatz zu UEFA-Chef Michel
Platini, der im Schatten der dortigen Menschenrechtsverletzungen unbeirrt ein „Festival des Fußballs“ beschwört, haben sich in Deutschland führende Vertreter
des Deutschen Fußball-Bundes, Vereinsvertreter und
Spieler klar positioniert. Auch das ein Novum, hoffentlich endlich beispielgebend für andere.
Im vorliegenden Antrag fordern die Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung
auf, im konkreten Fall ihre Kontakte zum organisierten
Sport vor allem auf nationaler, aber auch auf internatioZu Protokoll gegebene Reden
naler Ebene zu nutzen und gegenüber den Eishockeyverbänden dafür zu werben, beim Kongress der IIHF in
Helsinki die Vergabe der Weltmeisterschaft an Belarus
zu revidieren.
Wir bedauern außerordentlich, dass sich die Koalitionsfraktionen mit uns nicht auf einen gemeinsamen
Antrag verständigen konnten, zumal wir uns damit in
guter europäischer Gesellschaft befänden. Schließlich
liegen aus dem Europäischen Parlament und auch aus
dem Außenrat der EU bereits vergleichbare Beschlüsse
vor.
So fordert das Europäische Parlament in einer Entschließung vom 29. März 2012 ({0}) „die
nationalen Eishockey-Verbände der EU-Mitgliedstaaten
und aller anderen demokratischen Länder auf, den IIHF,
auch auf seinem nächsten Kongress im Mai in Helsinki,
dazu zu drängen, seinen früheren Beschluss zu überdenken und die Möglichkeit der Verlegung der EishockeyWeltmeisterschaft 2014 von Belarus in ein anderes Gastland zu prüfen, bis in Belarus alle politischen Gefangenen, die von den internationalen Menschenrechtsorganisationen als „Gesinnungshäftlinge“ anerkannt wurden,
freigelassen werden und das Regime eindeutige Signale
bezüglich seines Engagements zur Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit setzt.“
In den Ratsschlussfolgerungen des Außenrats der EU
vom 23. März 2012 stellt der Rat im Zusammenhang mit
der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 gegenüber den
internationalen und nationalen Eishockey-Organisationen fest, dass die EU im Hinblick auf die Verletzungen
von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Prinzipien durch das weißrussische Regime im
eigenen Land größte Bedenken bezüglich der Vergabe
der WM nach Belarus hat.
Im Hinblick auf den Kongress der IIHF in Helsinki
vom 17. bis 20. Mai hat diese zwar in Aussicht gestellt,
dass „alle 70 Mitglieder dort das Recht haben werden,
die Vergabe infrage zu stellen. Sollte dies der Fall sein,
ist es die Aufgabe des Kongresses, eine Entscheidung zu
treffen.“
Allerdings hat der Präsident der IIHF, René Fasel,
gleichzeitig deutlich gemacht, dass er eine Verlegung
der WM aufgrund der Neutralität des Sports ablehnt.
Ähnlich verhält sich dem Vernehmen nach auch der
Deutsche Eishockey-Bund. Der Präsident des DEB,
Uwe Harnos, hat zwar eingeräumt, dass „der Sport sich
nicht darauf zurückziehen könne, dass er unpolitisch
ist.“ Gleichzeitig heißt es in einem offiziellen Statement
des Verbandes von Geschäftsführer Franz Reindl sinngemäß, dass es sich um ein Event der IIHF handele und
der DEB als Mitglied der IIHF verpflichtet sei, daran
teilzunehmen. Nur die IIHF wäre in der Lage, die Weltmeisterschaft zu verlegen.
Franz Reindl wörtlich: „Wir warten ab und beobachten die Diskussionen beim IIHF-Kongress in Helsinki im
Mai.“
Da sagen wir: Abwarten reicht nicht! Hier muss der
Sport seine Stimme erheben und sich deutlich gegen die
Verletzung von Menschenrechten positionieren, hier
darf es keine Neutralität geben. Dies wäre das richtige
Mittel.
Weißrussland ist in Europa isoliert. Die Austragung
der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 wäre für den Präsidenten und bekennenden Eishockeyfan Lukaschenko
das bisher größte persönliche Prestigeprojekt, durch das
er sich vor allem einen ungeheuren Popularitätsschub
erhofft. Eine Absage der WM in Weißrussland wäre ein
nicht zu unterschätzendes Signal gegen das Regime
Lukaschenko, ein herber Gesichtsverlust und gleichzeitig sicher eine Ermutigung an die unterdrückte Zivilgesellschaft in seinem Land.
Daher fordern wir die Bundesregierung ausdrücklich
auch mit Blick auf die Entschließung des Europäischen
Parlaments auf, das Gespräch mit den Entscheidungsträgern des Deutschen Eishockey-Bundes sowie den
Vertretern der Internationalen Eishockey-Föderation zu
suchen und für eine Neuvergabe der Eishockey-Weltmeisterschaft zu werben.
Diese Forderung ist keine Anmaßung oder gar unzulässige Einmischung der Politik auf Entscheidungsprozesse des autonomen Sports. Ich erlaube mir, in diesem
Zusammenhang darauf zu verweisen, wie oft sich Regierungen und Parlamente den in der Regel mit großem
Nachdruck vorgetragenen Forderungen seitens des organisierten Sports gegenübersehen. Und da soll die
Politik nicht auch Anmerkungen machen, Forderungen
stellen dürfen, ohne gleich mit ritualisierter großer Empörung einer unzulässigen Einmischung gescholten zu
werden?
Im Fall Belarus gilt es, die Instrumentalisierung des
Eishockey-Sports ausschließlich für Propagandazwecke
des Regimes Lukaschenko zu verhindern. Dies ist durch
eine Verlegung der Weltmeisterschaft möglich.
Insbesondere die Außenpolitiker der FDP haben sich
in dieser Angelegenheit öffentlichkeitswirksam positioniert - einen eigenen Antrag allerdings haben sie mit
dem Koalitionspartner nicht zustande gebracht.
Wir werben daher nochmals bei den Koalitionsfraktionen für eine Zustimmung zu unserem Antrag. Nehmen
Sie sich ein Beispiel an Ihren Kolleginnen und Kollegen
im Europäischen Parlament - dort hat man einen einstimmigen Beschluss hinbekommen!
Nach zahlreichen Negativerfahrungen der letzten
Jahre gilt der Grundsatz: Politik muss sich aus dem
Sport heraushalten. Völlig zu Recht betonen die Sportverbände ihre politische Neutralität und Unabhängigkeit. Boykotte und Verlegungen auf politischen Druck
bringen in aller Regel nichts, sondern bestrafen nur die,
die am allerwenigsten Verantwortung für die politische
Lage tragen. Abschreckende Beispiele sind die Olympischen Spiele 1980 in Moskau und 1984 in Los Angeles.
Sportliche Großereignisse dürfen nicht dazu instrumentalisiert werden, politische Forderungen durchzusetzen.
Genauso muss aber verhindert werden, dass diese Veranstaltungen von undemokratischen und autokratischen
Zu Protokoll gegebene Reden
Patrick Kurth ({0})
Machthabern politisiert und missbraucht werden, um
sich selbst in ein positives Licht zu rücken. Es ist deshalb
eine sehr wichtige, aber auch sehr schwierige Frage,
wie man mit sportlichen Großereignissen in Ländern
umgeht, in denen die Menschenrechtslage zweifelhaft
ist. Entscheidend für die Beantwortung der Frage ist, ob
das Schlaglicht der Weltöffentlichkeit, das eine solche
Veranstaltung auf ein Land wirft, zur Verbesserung und
Öffnung der dortigen Verhältnisse beitragen kann oder
ob die jeweilige Regierung das Land so fest im Griff hat
und die Meinungsfreiheit so stark unterdrückt wird, dass
das Ereignis einzig zu Propagandazwecken missbraucht
wird.
Deshalb lassen sich Sport und Politik auch nicht trennen. Insbesondere weltweite Sportereignisse haben
unweigerlich auch eine politische Dimension. Die Tatsache, dass der Sport eine völkerverbindende, friedensstiftende und menschenrechtsfördernde Funktion hat, führt
dazu, dass im Umfeld von Großveranstaltungen die politische Situation im Gastgeberland, insbesondere die
Lage der Menschenrechte, nie ausgeblendet werden
kann und darf. Aber trotzdem gilt, dass die politische
Einflussnahme auf sportliche Großveranstaltungen sich
auf das Nötigste beschränken muss.
Ein ganz besonderes Negativbeispiel für übermäßige
Einflussnahme sind die Diskussionen zur anstehenden
Fußball-Europameisterschaft 2012. Die Liste der Forderungen und Vorstöße aus den verschiedensten politischen Lagern, wie mit diesem Fußballfest vor dem Hintergrund der politischen Lage in dem Co-Gastgeberland
Ukraine umgegangen werden soll, ist lang. Boykottaufrufe und Verlegungsforderungen, die zum Teil vorgebracht werden, sind aus vielen Gründen fehl am Platze.
Es ist schwer nachvollziehbar, aus welchen Gründen die
Ukraine in diesem überzogenen Maß angegriffen wird.
Diese politische Fehlentwicklung vor allem auch in
Deutschland widerspricht den bisherigen Maßstäben im
Umgang mit Großveranstaltungen erheblich. Die Kritiker der EM in der Ukraine stellen Hürden auf, über die
sie auch bei den Olympischen Winterspielen 2014 in
Sotschi sowie den Fußball-Weltmeisterschaften 2018 in
Russland und 2022 in Katar springen müssten.
Dennoch ist die Eishockey-Weltmeisterschaft 2014,
die der Eishockey-Weltverband, IIHF, an Belarus vergeben hat, ein anderer Punkt. Dieser Fall ist in der Tat
nicht mit der Lage in der Ukraine vergleichbar und hat
eine andere Dimension. Der belarussische Präsident
Lukaschenko ist der letzte Diktator Europas. Die Menschenrechtslage in dem Land ist seit längerem katastrophal. Lukaschenko führt das Land mittels brutaler
Unterdrückung Andersdenkender und hält sich nur
durch Wahlfälschungen an der Macht. Es gibt keine freie
Presse, die Meinungsfreiheit ist erheblich eingeschränkt, Proteste werden mit massiver Gewalt im Keim
erstickt, rechtsstaatliche Grundsätze werden mit Füßen
bzw. Polizeistiefeln getreten. Unter dem Regime
Lukaschenko wurden Hunderte von friedlichen Demonstranten, darunter Präsidentschaftskandidaten, Oppositionsführer, Journalisten, Vertreter der Zivilgesellschaft
und normale belarussische Bürger, willkürlich festgenommen. Viele prominente Oppositionspolitiker sind
noch immer in Haft. Die Unsäglichkeit der Zustände ändert sich auch dadurch nicht, dass kürzlich die Oppositionspolitiker Sannikow und Bondarenko entlassen wurden. Nur ein weiterer, besonders erschreckender Beleg
für die inakzeptablen Zustände ist außerdem die Hinrichtung zweier junger Männer unter Missachtung aller
rechtsstaatlichen Grundsätze. Belarus ist das einzige
Land in Europa, das die Todesstrafe noch immer vollstreckt. Das Regime zeigt keinerlei Reformbereitschaft.
Man muss weiterhin besonders hervorheben, dass
sich Lukaschenko persönlich als glühender Eishockeyfan darstellt und die Bewerbung um die Weltmeisterschaft höchstpersönlich vorangetrieben hat und diese
somit ein politisches Prestigeobjekt des Regimes darstellt. Es kann deshalb als sicher gelten, dass er die
Veranstaltung für seine Zwecke im In- und Ausland propagandistisch missbrauchen würde. Lukaschenko will
ganz bewusst die Popularität dieses Sports in seinem
Land ausnutzen, um sich als erfolgreicher Landesvater
darzustellen, wenn er sich mit den besten Teams der Welt
präsentiert. Lukaschenko hat das Land so fest im Griff,
dass er die Weltmeisterschaft ungehindert zu Propagandazwecken missbrauchen könnte. Aufgrund der in Europa beispiellosen Repression würde die Opposition
keine Chance haben, die Veranstaltung als ein Vehikel
für mehr Offenheit zu nutzen.
All das zeigt, dass wir der Vergabe der EishockeyWeltmeisterschaft nach Belarus unter den derzeitigen
Umständen nicht tatenlos zusehen dürfen und die beteiligten Verbände mit aller Nachdrücklichkeit auf die genannten Probleme hinweisen und darüber diskutieren
müssen. Ändert sich nicht sehr bald merklich etwas an
der Situation in Belarus, ist es sehr schwer vorstellbar
bzw. schwer erträglich, dass die Eishockey-Weltmeisterschaft dort stattfindet. Nicht nur würden das Image und
die Glaubwürdigkeit des Sports massiv beschädigt werden. Es steht auch zu befürchten, dass die Bemühungen
um eine Veränderung der Lage in Belarus konterkariert
und zurückgeworfen würden.
Die Frage ist, wie man damit nun umgeht. Ein Antrag
des Deutschen Bundestages ist jedenfalls zum jetzigen
Zeitpunkt nicht der richtige Weg, weil er schlichtweg
nichts bringen würde und eine zu massive politische Einmischung darstellt. Es würde damit der Anschein erweckt, als könnten der Bundestag und die von ihm im
Antrag beauftragte Bundesregierung aktiv Einfluss auf
die Entscheidung nehmen. Dem ist aber nicht so. Es
kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass die
Entscheidungshoheit darüber, wo die Weltmeisterschaft
stattfindet, ohne Wenn und Aber beim Eishockeyverband
bzw. den zuständigen Gremien liegt. Es darf deshalb
nicht der Eindruck entstehen, dass deutsche Verfassungsorgane in einem offiziellen Beschluss die Entscheidung eines Weltsportverbandes beeinflussen möchten.
Im Gegenteil wäre ein entsprechender Beschluss sogar kontraproduktiv, weil dann der Verband erst recht
seine Unabhängigkeit betonen würde und nicht ohne
Gesichtsverlust eine Rücknahme der Vergabeentscheidung herbeiführen könnte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Patrick Kurth ({1})
Ein Antrag aber, der von vornherein keine ausreichende Aussicht auf eine Erreichung seiner Ziele hat, ist
reine Symbolpolitik, weil man damit so tut, als ob man
mit dem Antrag etwas bewirken könnte. Solche Schaufensteranträge werden aber der Ernsthaftigkeit des Themas nicht gerecht.
Stattdessen müssen wir in einen direkten konstruktiven Dialog mit den Entscheidungsträgern des Verbands
eintreten und diese für die Problematik noch mehr sensibilisieren und über alle möglichen Wege des Umgangs
mit der Lage in Belarus offen diskutieren. Die Verlegung
ist dabei sicherlich die wünschenswerteste Alternative,
darf aber dabei nicht die einzige Option sein.
Die Vergangenheit und die derzeitigen Diskussionen
um die Fußball-EM zeigen, dass der Umgang mit großen, populären Sportereignissen besonders anfällig dafür ist, allzu populistisch angegangen zu werden. Dieser
Gefahr dürfen wir aber nicht erliegen und Anträge des
Deutschen Bundestages dazu beschließen, die reine
Symbolpolitik sind. Dafür ist dieses Mittel nicht geschaffen. Die FDP steht jedenfalls für einen Umgang mit Augenmaß und Effizienz. Wir werden den Dialog mit den
Entscheidungsträgern und Funktionären weiter suchen
bzw. haben ihn bereits intensiv aufgenommen. Ich bin
mir sicher, dass dies der beste und vor allem wirksamste
Weg ist, die Verbände an ihre eigene Verantwortung für
den Sport zu erinnern und mit ihnen darüber zu diskutieren. Diesen Weg wird die FDP jetzt konsequent weitergehen.
Das Thema des Antrags der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen könnte aktueller wohl kaum
sein. Mit den Diskussionen um die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine in diesem Sommer, dem Formel-1-Rennen in Bahrain, sowie dem Eurovision-SongContest in Aserbaidschan Ende des Monats rückt nun
auch die in Belarus 2014 geplante Eishockey-Weltmeisterschaft auf die politische Tagesordnung.
Die sozialdemokratische und die grüne Fraktion hat
die Forderung letzteres Sportereignis zu boykottieren,
bereits im Europaparlament erhoben. SPD und Bündnis 90/Die Grünen wiederholen dies nun hier im Bundestag. Im Plenum gab es dafür ja schon den Beifall fast
aller Fraktionen, als der CDU-Redner Ronald Pofalla
sich kürzlich entsprechend äußerte.
Wir teilen ihre Kritik an den Machthabern in Belarus
zu 100 Prozent. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen, die beispielsweise Human Rights Watch zu Belarus
aufzählt, ist lang. Statt echte Versammlungsfreiheit zu
ermöglichen, wurden die Rechte zu demonstrieren 2011
erneut beschnitten. Pressefreiheit und ungehinderter Zugang zu sozialen Netzwerken - Fehlanzeige. Journalisten wurden verhaftet. Zwei mutmaßliche Attentäter wurden unter rechtsstaatlich fragwürdigen Bedingungen
zum Tode verurteilt und hingerichtet. Wir haben dies
hier gemeinsam verurteilt.
Unsere Fraktion bleibt jedoch bei der Skepsis, die in
der Debatte im Auswärtigen Ausschuss auch aus den
Fraktionen von CDU/CSU und FDP geäußert wurde. Sicher, die Kritik am Regime Lukaschenko wird hier von
allen geteilt und ein lautstarkes Signal wie dieses würde
bestimmt gehört werden.
Aber wenn man das allerdings wirklich ernst meint
und fordert, dass die Eishockey-Weltmeisterschaft an ein
anderes Land vergeben werden sollte, dann müsste man
tatsächlich auch über die Absage der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine und über die Absage des
Song Contest in Baku nachdenken. Und wenn man schon
dabei ist: Dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar
geplant ist, ist nicht außer Acht zu lassen. Auch hier ist
die Lage der Menschenrechte doch mehr als bedenklich.
Ebenso wie die in Bahrain. Dazu haben Sie allerdings
bisher keine Anträge gestellt. Und dass in Russland
nicht nur „lupenreine Demokraten“ regieren, dürfte inzwischen auch die SPD gemerkt haben. Was ist mit den
Olympischen Winterspielen in Sotschi?
Deshalb lassen Sie uns abwägen:
Dass sich die Bedingungen für Oppositionelle in autoritären Regimen allein dadurch verbessern, dass dort
viel beachtete Großveranstaltungen durchgeführt werden, kann man nun wirklich nicht behaupten.
Trotz des Eurovision Song Contest in Aserbaidschan
hat sich die Meinungs-, Presse-, und Religionsfreiheit
nicht durchgesetzt.
Auch hat sich die Lage der Menschen im Königreich
Bahrain durch die Austragung des Formel-1-Rennens
dort nicht verbessert. Es kommt dort weiterhin zu Verhaftungen von Demonstranten, Kritikern und Oppositionellen. Formel-1-Boss Bernie Ecclestone sagt dazu:
„Wir mischen uns nicht in Politik oder Religion ein.“
Aber auch einige Boykotte der Vergangenheit haben
wenig gebracht. Die Absage der westlichen Länder bei
den Olympischen Spielen in Moskau 1980 war sicherlich medienwirksam. Aber als Sieg für Demokratie und
Menschenrechte ist mir das nicht Erinnerung geblieben.
Und trotzdem: Sport, Kultur und Politik konsequent
trennen zu wollen, ist auch nicht sinnvoll.
Der Sportboykott gegenüber dem Apartheidregime in
Südafrika war richtig, die Durchführung einer FußballWM im Argentinien der Militärdikatur 1978 war falsch.
Wir finden daher, dass der Eishockey-Weltverband
ebenso wie die Veranstalter anderer Großveranstaltungen - seien es Olympia, Formel 1 oder Gesangswettbewerbe, im Vorfeld beachten sollten, wie die Lage in den
entsprechenden Ländern ist.
In den Kriterien für die Vergabe sollten Menschenrechte nicht nachrangig behandelt werden, sondern vorrangig, damit es nicht kurz vor der Durchführung eines
Ereignisses zu solchen Diskussionen kommen muss.
Wir finden es auch richtig, wenn Politikerinnen und
Politiker sich deutlich zu den Vorgängen in den Ländern
äußern.
Wir finden es richtig, dass sie überdenken, ob sie
wirklich mit Diktatoren auf Tribünen jubeln wollen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Und wir finden es richtig, wenn sich Sportlerinnen
und Sportler deutlich dazu äußern, was in den Ländern,
in denen sie sich faire Wettbewerbe liefern wollen, vor
sich geht.
Wir begrüßen daher die Äußerungen von Fußballbundestrainer Joachim Löw und von Philipp Lahm.
Und dem Parlament der Bundesrepublik stünde es gut
zu Gesicht, sich noch mehr als bisher gegen die weltweiten Menschenrechtsverletzungen auszusprechen. Auch
wenn gerade einmal keine wichtige Veranstaltung vor
der Tür steht. Ob man wirklich Geschäfte mit Menschenrechtsverletzern wie Nursultan Nasarbajew aus Kasachstan machen muss, ob man Waffen in alle Welt liefern
möchte, die am Ende solche Regime stärken, das sind
Fragen, mit denen wir noch viel zu tun haben. Mit zweierlei Maß messen ist immer verkehrt.
Aber wir teilen nicht Ihre Einschätzung, dass der Vorschlag des Bundestages an den Weltverband IIHF, die
Eishockey-WM nicht in Belarus durchzuführen, den
Menschen in Belarus hilft. Und das - und nicht das
starke Signal - sollte doch das gemeinsame Ziel sein.
Dieses Haus hat erst vor wenigen Wochen die Menschenrechtslage in Belarus diskutiert. Anlass für die Debatte war die gnadenlose Hinrichtung zweier junger
Männer, denen ein brutaler Anschlag auf die Minsker
Metro zur Last gelegt worden war. Wir haben bereits auf
die schweren Mängel des Prozesses und der Beweisführung hingewiesen. Nach rechtsstaatlichen Kriterien ist
die Schuld von Wladislaw Kowaljow und Dmitrij
Konowalow nie nachgewiesen worden, und damit haben
sie als unschuldig zu gelten. Auch in der Sache gibt es an
der Schuld der beiden große Zweifel.
Inzwischen ist durchgesickert, dass selbst die Begnadigungskommission des Präsidenten dem belarussischen Machthaber empfahl, die Todesurteile nicht zu
vollstrecken. Das heißt, Diktator Lukaschenko trägt die
persönliche Verantwortung für die Hinrichtung von
Wladislaw Kowaljow und Dmitrij Konowalow. Er hat
ihre Begnadigung gegen allen Rat und trotzt internationaler Proteste abgelehnt. Damit liegt die Verantwortung
für die Hinrichtung allein bei ihm.
Die Herausgabe der Leichname von Wladislaw
Kowaljow und Dmitrij Konowalow wird den Angehörigen verwehrt. Es soll keinen Ort zum Trauern geben.
Damit werden Angehörige zu Quasi-Mitschuldigen gemacht. Damit bedient sich der Diktator Lukaschenko eines bekannten Musters aus der Zeit Stalins.
Seit der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen
Wahlfälschung im Dezember 2010 wird jegliche Opposition in Belarus mit aller Härte verfolgt. Nahezu die gesamte Opposition wurde verhaftet. Im Gefängnis arbeitet das Regime an ihrer körperlichen und seelischen
Zerstörung. Unter Folter und Misshandlungen werden
den Oppositionellen Schuldeingeständnisse abgepresst
und damit ihre Selbstachtung zerstört. Die Begnadigten
werden öffentlich als Kriminelle denunziert. Für politisches Engagement wird ihnen unumwunden erneute Inhaftierung angedroht. Die Opponenten des Diktators
sollen systematisch als politische Gegner ausgeschaltet
werden.
Die belarussische Opposition und Menschenrechtler
aus ganz Europa fordern deshalb, die Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 nicht in Belarus austragen zu lassen.
Sport ist in Belarus Chefsache. Der Diktator persönlich sitzt dem Nationalen Olympischen Komitee vor. Der
Biathlonverband wird vom KGB-Chef General Saizev
geleitet. Lukaschenko nutzt die Popularität des Eishockeysports gekonnt für sich und spielt gelegentlich selbst
im eigens für ihn gegründeten Präsidententeam. Das Regime Lukaschenko ist kein würdiger Gastgeber für die
Eishockey-Weltmeisterschaft.
Die Vorstellung von Lukaschenko als Sonnenkönig einer Weltmeisterschaftsaustragung, während das Land zu
politischer Totenstille verdammt ist, ist unerträglich.
Welcher Sportler, der sich seiner gesellschaftlichen Bedeutung bewusst ist, möchte neben diesem gnadenlosen
Herrscher auf dem Treppchen stehen?
Sport und Politik lassen sich nicht trennen, so oft dieser Grundsatz auch beschworen wird. Sportliche Großereignisse, ob die Sportler es wollen oder nicht, werden
immer auch von den politischen Machthabern genutzt,
um sich in Szene zu setzen. Nun ist die Frage gerechtfertigt, wo denn dann die Grenze gezogen werden solle.
Nach aufrechten menschenrechtlichen und demokratischen Kriterien dürften dann nur noch etwa 65 Länder
Austragungsort für große internationale Spiele sein.
Wir sprechen derzeit viel über die Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine. Dort gibt es politische Unterdrückung und politischen Missbrauch der Justiz.
Aber es gibt noch eine Opposition. Und die bittet, das
Sportereignis stattfinden zu lassen. Sie bittet außerdem,
es für den politischen Protest zu nutzen.
In Belarus gibt es nicht nur politische Justiz, in Belarus wird gegen ein Prinzip verstoßen, das Europa sich
ansonsten überall zu eigen gemacht hat: keine Hinrichtungen mehr! Und es gibt keine politische Opposition,
die sich im Lande artikulieren könnte. Diese Opposition
bittet uns, dem Diktator nicht die Bühne für ein Schauspiel zu geben, in dem er sich als Vater der Nation aufspielt. Wir sollten dieser Bitte folgen.
Wir haben deshalb den Bundestagsfraktionen einen
interfraktionellen Antrag gegen die Austragung der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 in Belarus vorgeschlagen. Wir brauchen ein starkes Signal des Bundestages,
dass wir die Weltmeisterschaft in Belarus ablehnen. Wir
freuen uns, dass wir mit unserem Antrag bei der sozialdemokratischen Fraktion Unterstützung gefunden haben, ja, dass die SPD sich den Antrag quasi zu eigen gemacht hat. Die Koalition konnte sich nicht dazu
durchringen, unseren Antrag mitzutragen. Dies ist umso
unverständlicher, als Abgeordnete der Koalition in der
Presse ausführlich über ihren Brief an den Eishockeyverband berichteten, in dem sie die Verlegung der Weltmeisterschaft in ein anderes Land fordern. Eine Einlassung des Parlaments hierzu halten sie aber
Zu Protokoll gegebene Reden
Marieluise Beck ({0})
offensichtlich für unnötig. Es ist ein merkwürdiges
Selbstverständnis von Abgeordneten, wenn sie das Parlament nicht mehr als geeigneten Ort ihrer Arbeit ansehen, dafür aber die Zeitungen.
Ich hoffe, dass die Internationale Eishockey-Föderation die internationalen Proteste gegen die Austragung
der Weltmeisterschaft in Belarus ernst nimmt und auf ihrer kommenden Tagung eine Verlegung des Turniers in
ein anderes Land beschließt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
der Drucksache 17/9557. Wer stimmt dafür? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch Bündnis 90/Die Grünen
und SPD; die übrigen Fraktionen haben abgelehnt; enthalten hat sich niemand.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({0}), Sönke Rix, Dr. h. c. Wolfgang
Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Rechtswidrige Extremismusklausel in den
Bundesprogrammen gegen Rechtsextremismus sofort aufheben
- Drucksache 17/9558 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Seit die Unterzeichnung der Demokratieerklärung als
unabdingbare Voraussetzung für den Erhalt von Fördergeldern aus dem Bundesprogramm „Toleranz fördern Kompetenz stärken“ im Jahr 2011 eingeführt wurde, ist
sie den Oppositionsparteien ein Dorn im Auge. Die inhaltlichen Debatten beim Thema Extremismusbekämpfung konzentrieren sich seit Monaten einzig und allein
auf die Extremismusklausel, die von den zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen im Vorfeld
unterzeichnet werden muss.
Da kommt Ihnen als Opposition das aktuelle Urteil
des Verwaltungsgerichts Dresden gegen die Verwaltungsentscheidung des Landkreises Pirna wohl gerade
recht. Es überrascht niemanden hier in diesem Hause,
dass Sie sofort einen entsprechenden Antrag auf die Tagesordnung haben setzen lassen. Ihre darin enthaltene
Forderung nach einer sofortigen Streichung der Bestätigungserklärungen als Voraussetzung für die Zuwendung
aus den Bundesprogrammen „Toleranz fördern - Kompetenz stärken“, „Initiative Demokratie stärken“ und
„Zusammenarbeit durch Teilhabe“ war ebenfalls antizipierbar.
Selbstverständlich ist uns die Gerichtsentscheidung
des VG Dresden bekannt. Die Bewilligungsbehörde
BAFzA steht im engen Kontakt mit dem Landkreis Pirna.
Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir jedoch keine voreiligen Schlüsse ziehen, denn eine schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor. Zudem ist das Urteil noch
nicht rechtskräftig, da das Gericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache eine Berufung zugelassen
hat.
Wenn Sie sich genauer informiert hätten, wüssten Sie,
dass die Richter nicht die komplette Extremismusklausel, wie sie vom BMFSFJ eingeführt wurde, beanstandet
haben. Das schriftliche Bekenntnis zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung in Satz 1 der Demokratieerklärung kann durchaus zur Voraussetzung für den
Erhalt von Bundesfördermitteln gemacht werden.
Das hat auch der von Ihnen so gern und viel zitierte
Rechts- und Verwaltungswissenschaftlicher Ulrich
Battis in seinem Gutachten zur Zulässigkeit der Extremismusklausel bestätigt. Danach sei der erste Satz der
Bestätigungserklärung, das heißt die daraus hervorgehende Unterzeichnung der Erklärung, rechtlich bedenkenlos.
Wenn der Staat eigene Programme zur Bekämpfung
des politischen Extremismus auflegt, dann muss er auch
die Möglichkeit haben, darauf zu achten, dass nur diejenigen Initiativen gefördert werden, die auf dem Boden
unseres Grundgesetzes stehen.
Auch das sind im Übrigen nach der Auffassung von
Herrn Battis legitime Ziele, nämlich die Förderung von
Demokratie und die Gewährleistung, dass nur die Projektträger unterstützt werden, die sich für Demokratie
im Sinne unseres Grundgesetzes einsetzen. Das hat nun
wirklich nichts mit Generalverdacht oder Gesinnungsschnüffelei zu tun! Als christlich-liberale Koalition wollen wir damit verhindern, dass sich - wie in einigen
Kitas in Mecklenburg-Vorpommern geschehen - Extremisten einschleichen, um ihre extremistischen Weltanschauungen zu verbreiten.
Beanstandet hat das Gericht den zweiten Teil der Demokratieerklärung, die Verbürgung der Projektpartner
für die Verfassungstreue ihrer Kooperationspartner. Die
Rechtswidrigkeit ergebe sich aus der Unbestimmtheit
und der Unschärfe der verwendeten Begriffe und Formulierungen, so die Richter.
Eine ersatzlose Streichung der Klausel bei der Vergabe der Zuwendungen - wie Sie sie fordern - ist aber
deshalb nicht notwendig! Die Unterzeichnung der Erklärung ist für uns eine Selbstverständlichkeit, nicht
mehr als eine Formsache. Das Gericht hat auch nicht
gesagt, dass die Klausel abgeschafft werden muss. Im
Übrigen darf ich Sie daran erinnern, dass die Klausel
ursprünglich eine Erfindung aus der rot-grünen Regierungszeit ist, die bereits seit 2005 in den Zuwendungsbescheiden verwendet wurde.
Unsere Aufgabe ist es nun, zu schauen, inwieweit die
Klausel einer Überarbeitung bedarf, das heißt präzisiert
und verbessert werden muss, damit sie rechtlichen Bestand hat. Das weitere Vorgehen ist abhängig von der
schriftlichen Urteilsbegründung. Bis dahin bleibt die
„Demokratieerklärung“ unverändert NebenbestimEckhard Pols
mung und somit Bestandteil der erteilten Zuwendungsbescheide.
Die Demokratieerklärung ist aus guten Gründen eingeführt worden und muss beibehalten werden, denn der
Grundgedanke ist richtig: Die Demokratieerklärung
soll verhindern, dass extremistische Organisationen
finanziell unterstützt werden oder ihnen unwillentlich
eine Plattform geboten wird, wo sie ihr extremistisches
Gedankengut mit öffentlichen Mitteln, den Steuergeldern unserer Bürger, verbreiten können.
Aus diesen Gründen können wir Ihren Antrag auf
Streichung der Klausel nur ablehnen.
Mit ihrem Antrag vom 8. Mai 2012 heftet sich die
SPD an die Entscheidung des Verwaltungsgerichts
Dresden vom 25. April 2012.
Bislang liegt noch keine Urteilsbegründung vor. Lediglich aus einer Presseerklärung ist zu entnehmen,
weshalb das Gericht die von Zuwendungsempfängern im
Rahmen des Bundesprogramms „Toleranz fördern Kompetenz stärken“ geforderte Einverständniserklärung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung für
rechtswidrig erklärt hat. Das Gericht folgt wohl in seiner Entscheidung dem Gutachten des Sachverständigen
Professor Dr. Dr. h. c. Ulrich Battis vom 29. November
2010.
Battis hält die Demokratieerklärung grundsätzlich
für rechtmäßig. Es ist richtig, so Battis, dass die Vereine,
die für ihren Kampf gegen den Extremismus eine Förderung erhalten, selbst keine extremistischen Ideologien
verfolgen dürfen. Wenn für die Bekämpfung einer extremistischen Ideologie Vereine, die selbst eine extremistische Ideologie verfolgen, Fördergelder beanspruchen
dürfen, wäre das ein Circulus vitiosus.
In dieser Demokratieerklärung wird aber von den
Vereinen, die extremistische Ideologien bekämpfen,
auch verlangt, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten
und auf eigene Verantwortung dafür Sorge tragen, dass
die als Partner ausgewählten Organisationen und Referenten sich ebenfalls den Zielen des Grundgesetzes verpflichten. Die Demokratieerklärung sieht vor, dass nicht
einmal der Anschein erweckt werden darf, dass durch
Zuwendungen für den Kampf gegen Extremismus gerade
auch extremistische Gruppierungen unterstützt werden.
Battis und das Gericht halten diese sich auf Dritte beziehenden Forderungen der Demokratieklausel für zu
unbestimmt und zu unklar. So sei unklar, wer als Partner
anzusehen ist und welches Verhalten konkret von dem jeweiligen Verein abverlangt werden darf. Das Gericht
kommt also nicht zu dem Ergebnis, dass die Demokratieklausel selbst unzulässig ist, sondern es ist der Auffassung, dass lediglich bestimmte Formulierungen dieser
Erklärung dem Anspruch der Rechtsklarheit und Eindeutigkeit nicht entsprechen. Deshalb kam es zur Aufhebung dieser Demokratieklausel.
Grundsätzlich also ist das Gericht ebenso wie Battis
der Meinung, dass diejenigen, die eine öffentliche Förderung für ihren Einsatz gegen extremistische Gruppierungen in Anspruch nehmen, nicht selbst extremistischen Strömungen angehören dürfen. Dies gilt auch für
die Personen und Organisationen, mit denen diese Vereine ein bestimmtes öffentlich gefördertes Projekt durchführen. Dies hieße ja am Ende, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.
Entgegen der Entscheidung des Gerichts ist aber klar,
was man sich im vorgenannten Sinn unter einer Partnerschaft vorzustellen hat. Auch ist klar, wie sich der jeweilige Verein zu verhalten hat, damit nicht einmal der Anschein erweckt wird, mit öffentlichen Geldern würden
am Ende extremistische Ideologien und Gruppierungen
gefördert, die zwar gegen andere Extremisten vorgehen,
aber selbst unsere demokratische Grundordnung nicht
bejahen.
Die Formulierungen sind also klar und präzise genug. Es ist zu hoffen, dass die Berufungsinstanz die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Dresden korrigiert.
Sonst müsste eine andere Formulierung, aber nicht eine
andere Zielrichtung der Demokratieerklärung gefunden
werden.
Der SPD geht es aber in ihrem Antrag gar nicht darum, eine Präzisierung der Formulierung der Demokratieklausel herbeizuführen. Die SPD lehnt die Demokratieklausel entgegen der Auffassung des Gerichts
vielmehr grundsätzlich ab. Sie will überhaupt keine Demokratieklausel. Dies ist nicht nachvollziehbar. Der
SPD müsste es doch auch darum gehen, dass für extremistische Gruppierungen nicht auch noch staatliche
Gelder zur Verfügung gestellt werden.
Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber. So dumm aber ist die SPD nicht. Es geht ihr vielmehr ganz offensichtlich allein darum, die Regierung
anzugreifen, um ein bestimmtes extremistisches Klientel
zu bedienen. Die SPD will Wählerinnen und Wähler von
den Linken abziehen, und dies mit allen Mitteln - auch
auf Kosten der Demokratie. Dies aber ist verantwortungslos.
Manchmal braucht es erst den Hinweis der Justiz, damit der Bundesregierung Offenkundiges bewusst wird.
Daher bin ich dem Alternativen Kultur- und Bildungszentrum AKuBiZ in Pirna sehr dankbar. Dankbar für
seinen Mut und seine Hartnäckigkeit, mit dem dieser
Verein dem Recht zur Geltung verholfen hat. Das
AKuBiz hatte geklagt gegen den Zuwendungsbescheid
des Landkreises, der die Pflicht zur Unterzeichnung der
Extremismusklausel enthielt. Geklagt und gewonnen.
Das Verwaltungsgericht Dresden hat die Extremismusklausel in den Richtlinien des Bundesprogramms
„Toleranz fördern - Kompetenz stärken“ für rechtswidrig erklärt.
Dabei hatte sich Frau Dr. Schröder das so schön gedacht. Je unsauberer der Rechtsbegriff, desto größer die
Streuweite. Einfach ein Bekenntnis von den Initiativen
verlangen, dass „die als Partner ausgewählten Organisationen, Referenten etc. sich ebenfalls den Zielen des
Zu Protokoll gegebene Reden
Daniela Kolbe ({0})
Grundgesetzes verpflichten“. Dies möge bitte überprüft
werden. Daneben sollte natürlich „keinesfalls der Anschein erweckt werden“, dass extremistische Strukturen
unterstützt werden.
Das Gericht bemängelt zu Recht, dass die Erklärung
zu unbestimmt ist. Es ist beispielsweise vollkommen unklar, wer „Partner“ im Sinne der Klausel ist. Ebenfalls
bleibt im Dunkeln, welches Verhalten den Zuwendungsempfängern konkret abverlangt wird. Dass diese Formulierungen unsauber und in der Konsequenz rechtswidrig
sind, wird niemand überraschen. Selbst die Kollegen
von der FDP haben darauf schon kritisch hingewiesen.
Aber es geht hierbei um weit mehr als die juristische
Betrachtung. Die Extremismusklausel in den Programmen von Frau Dr. Schröder und analog auch in denen
von Herrn Dr. Friedrich ist auch politisch falsch. Sie
stellt einen staatlichen Generalverdacht gegen die Zivilgesellschaft dar. Sie setzt die Initiativen unter einen
fragwürdigen Bekenntnisdruck. Und Sie fordert die Initiativen konkret auf, ihre Partner auszuhorchen, in der
Vergangenheit von Referentinnen herumzuwühlen oder
das Umfeld von Veranstaltungsmoderatoren zu durchforsten.
Demokratie heißt produktiver Streit um Veränderung.
Bekenntnisforderungen hingegen sind ein Akt einer autoritären politischen Kultur. Sie verfehlen den Wesensgehalt demokratischer Kultur. Statt Bekenntnissen bedarf es der Überzeugungsarbeit. Ich habe den Eindruck,
dass diese Bundesregierung sich davor scheut.
Denn die Initiativen, die gegen Rechtsextremismus
arbeiten, decken viele gesellschaftliche Missstände auf.
Sie wirbeln Staub auf, den mancher lieber unter den
Teppich kehren würde. Diese Initiativen sind manchmal
anstrengend, zu anstrengend für die Bundesregierung.
Sie denkt sich offenbar: Was sich da tummelt, das kann
man nicht hinreichend kontrollieren, das muss eingehegt
werden.
Was für ein überkommenes Staatsverständnis Sie pflegen, zeigt der Obrigkeitsgeist dieser Erklärung. Die Extremismusklausel diskreditiert symbolisch die Initiativen, die sich gegen Neonazis und Ideologien der
Ungleichwertigkeit einsetzen. Aber schlimmer noch: Sie
macht ihnen auch faktisch das Leben schwer. Die von
Frau Dr. Schröder erfundene Klausel gefährdet den
Kampf gegen Rechtsextremismus substanziell.
„Alleingelassen im Kampf gegen Rechts“ überschrieb „Spiegel Online“ neulich zutreffend einen Bericht über die Unterfinanzierung und Gängelei der Demokratieinitiativen. Die Initiativen und Vereine, die sich
gegen Rechtsextremismus und für Demokratie engagieren, tragen schon schwer an der unzureichenden und
kurzfristigen Finanzierung ihrer Arbeit. Durch die Extremismusklausel werden sie vor zusätzliche bürokratische Hürden gestellt.
Wie stellt sich die Bundesregierung vor, dass die Initiativen zu belastbaren Einschätzungen kommen? Schon
die Urteile des Verfassungsschutzes zu bestimmten Akteuren gehen oft weit auseinander. Nicht einmal die behördlichen Instanzen, die mit einem hohen Personalund Ressourcenaufwand an der Überprüfung potenziell
extremistischer Strukturen arbeiten, kommen bezüglich
der Verfassungsmäßigkeit dieser Akteure regelmäßig zu
einhelligen Ergebnissen. Jenseits der grundsätzlichen
Kritik an diesem staatlich verordneten Observationsauftrag haben zivilgesellschaftliche Initiativen weder die
Fähigkeit noch die Legitimation, eine belastbare Einschätzung über die Qualifizierung der politischen Ziele
jeder ihrer Kooperationspartner einzuholen.
Einige der Träger haben schon entnervt aufgegeben.
In meiner Heimatstadt Leipzig sind mir mindestens zwei
Träger bekannt, die Projekte wegen der Extremismusklausel zurückgezogen haben, die Stadt Jena hat auf
Gelder für einen Lokalen Aktionsplan verzichtet, und
hier in Berlin kann die Mobile Beratung nur Dank einer
Ersatzfinanzierung durch das Land weiter arbeiten. Um
eine systematische Erfassung der Auswirkungen der Extremismusklausel drückt sich das Ministerium herum.
Es geht hier nicht um einen banalen Verwaltungsvorgang und auch nicht um Detailkritik an Förderkriterien.
Wir reden hier nicht über ein paar Euro für bessere Wärmedämmung oder die Details der steuerlichen Absetzbarkeit von Geschäftsessen. Die Kritik an der Extremismusklausel wiegt deshalb so schwer, weil die durch sie
behinderte gesellschaftliche Aufgabe eine existenzielle
ist: der Schutz unserer Demokratie vor Neonazismus
und Ideologien der Ungleichwertigkeit.
Die Bildungs- und Präventionsarbeit, die die Bundesprogramme fördern, ist unersetzbarer Teil einer systematischen Bekämpfung rechtsextremistischer Ideologie
und Gewalt und somit zentrale gesamtgesellschaftliche
Aufgabe. Das haben alle im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen angesichts des Bekanntwerdens der
Mordserie der Neonaziterrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ noch einmal einhellig bekräftigt.
Niemand mehr wird den Rechtsextremismus in diesem
Land als Jugend- oder Randproblem verharmlosen wollen.
Daher hat der Deutsche Bundestag in seiner gemeinsamen Entschließung vom 22. November 2011 beschlossen, zu überprüfen, wo dem Engagement demokratischer
Gruppen gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus Hindernisse entgegenstehen.
Diese Prüfung kann vor dem Hintergrund der weitreichenden Kritik an der Klausel aus der Zivilgesellschaft
und angesichts des aktuellen Urteils nur lauten: Es ist
auch die Extremismusklausel, die den Kampf gegen
Rechtsextremismus behindert.
Frau Dr. Schröder, Herr Dr. Friedrich, nehmen Sie
dieses Urteil ernst, und heben Sie die Extremismusklausel umgehend auf!
Bevor ich auf den vorliegenden Antrag der SPDFraktion eingehe, ist es mir ein Bedürfnis, hervorzuheben, dass die Initiativen gegen politischen Extremismus in unserem Land eine großartige Arbeit leisten.
Manche Engagierte gehen ihrer Arbeit trotz massiver
Bedrohungen und Einschüchterungen gegen sie selbst
Zu Protokoll gegebene Reden
und ihr Umfeld nach. Gerade mit Blick auf das Ziel einer
weltoffenen, toleranten Gesellschaft, das zum politischen Erbgut der Liberalen gehört, können wir vor diesen vielen Engagierten nur den Hut ziehen. Diesen Menschen gilt meine Anerkennung und die der gesamten
FDP-Bundestagsfraktion.
Wenn nun von der linken Seite des Hauses der billige
wie durchsichtige Versuch unternommen wird, diese
Haltung mittels eines Antrages zur Abschaffung der sogenannten Extremismusklausel infrage zu stellen, ist das
schäbig und der Sache nicht würdig. Gerne erkläre ich
Ihnen auch, warum.
Erstens sollten wir uns klarmachen, welche Aufgabe
die in Rede stehenden Programme haben: Die Bundesprogramme gegen politischen Extremismus haben die
Aufgabe, Menschen in unserem Land die Vorzüge unseres demokratisch verfassten Rechtsstaates zu verdeutlichen und sie zu bestärken, sich zu ihrer Demokratie zu
bekennen und für diese einzutreten. Wir wollen Menschen für unsere Demokratie gewinnen, sie begeistern
und nicht nur gegen irgendetwas sein. Daher sind diese
Programme für kleinliche Parteitaktik denkbar ungeeignet. Vielmehr sollten wir als politisch Verantwortliche
uns hinter diesen Initiativen versammeln und ihnen den
Rücken stärken.
Zweitens. Wenn Sie das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden, auf das Sie sich beziehen, aufmerksam
gelesen hätten, wäre Ihnen aufgefallen, dass das Bekenntnis von Zuwendungsempfängern zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung überhaupt nicht infrage
gestellt wird, von niemandem. Dazu verlieren Sie in
Ihrem Antrag jedoch kein Wort. Stattdessen verkürzen
Sie das Urteil und stürzen sich geradezu auf die beiden
beanstandeten Sätze zwei und drei. Das lässt tief blicken.
Selbstverständlich kann der Staat von Initiativen, die
Gelder zur Arbeit gegen politischen Extremismus erhalten möchten, ein Bekenntnis zu unserer Verfassung verlangen. Für mich als Demokraten ist das eine Selbstverständlichkeit. Dass Sie dies indirekt in Abrede stellen,
indem Sie von einem „Generalverdacht“ gegen die Initiativen sprechen, schlägt dem Fass den Boden aus.
Das Verwaltungsgericht Dresden bemängelt lediglich, dass die Sätze zwei und drei der Demokratieerklärung zu unbestimmt seien. Und die Haltung der FDPBundestagsfraktion, dass hier eine klarere Formulierung wünschenswert wäre, zum Beispiel im Sinne der
sächsischen Demokratieerklärung, ist ja bekannt. Dazu
stehen wir auch nach wie vor. Aber die Klausel an sich
muss keinesfalls gestrichen werden. Es gilt eher, sie zu
präzisieren. Auf dieses Gesprächsangebot sind Sie aber
bis heute nicht eingegangen. Auch das belegt: Es geht
Ihnen nicht um die Sache, es geht Ihnen um Demagogie.
Was mich besonders irritiert - damit bin ich bei meinem dritten Punkt angelangt -, ist die Vehemenz, mit der
gerade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, die Koalition in dieser Frage angehen.
Schließlich ist die Klausel nicht vom Himmel gefallen.
Und sie ist auch nicht, wie Sie so oft fälschlicherweise
behaupten, von Frau Ministerin Schröder erdacht worden. Sie stammt aus Ihrer eigenen rot-grünen Regierungszeit, von Bundesinnenminister Otto Schily, und das
wissen Sie auch. Das Einzige, was sich geändert hat: Sie
muss nun noch einmal explizit von Projektträgern unterschrieben werden. Ansonsten entspricht sie eins zu eins
der Belehrung, die damals, zu Ihrer Regierungszeit, an
die Träger und Zuwendungsempfänger der Förderprogramme verschickt wurde.
Wo war denn damals Ihr Aufschrei? Wo waren denn
Ihre Proteste?
Auf all diese Fragen haben Sie seit der letzten Debatte zu diesem Thema, die etwas über ein Jahr her ist,
keine Antwort gegeben. Aber Ihr Schweigen spricht
Bände. Schweigen ist eben doch nicht immer Gold.
Heute legen Sie nun erneut einen Antrag zur Streichung der Klausel vor. Die pikante Parallele: So wie
diese Woche standen wir auch beim letzten Mal, als wir
über die Extremismusklausel debattierten, vor Landtagswahlen. Damals, im Februar 2011, standen unter
anderem Wahlen in Hamburg, Rheinland-Pfalz und
Baden-Württemberg ins Haus. Am kommenden Wochenende wählt nun NRW.
Der Fall ist klar, Ihre Absichten sind eindeutig: Es
geht hier um Schützenhilfe im Wahlkampf für die in Düsseldorf gescheiterte rot-grüne Schuldenkoalition - um
nichts anderes.
Wir führen die parlamentarische Debatte über die
sogenannte Extremismusklausel oder auch Demokratieerklärung schon sehr lange, oft mit der gleichen Dramaturgie. Leider habe ich das Gefühl, dass die Oppositionsparteien, gerade die antragstellende SPD, in
diesem Thema einfach nicht dazulernen wollen. Das
lässt zumindest der vorliegende Antrag vermuten.
Man kann die Diskussion über die Demokratieerklärung anhand von zwei Fragen betrachten: Erstens: Ist
eine solche Erklärung überhaupt notwendig? Zweitens:
Wie soll die Demokratieerklärung konkret ausgestaltet
sein? Bisher sind wir in den Debatten im Bundestag leider nie über die erste Frage hinausgekommen. Das bedauere ich außerordentlich. Es muss doch eine Selbstverständlichkeit sein, dass sich ein Projektträger, der
vom Staat Geld im Kampf gegen den Extremismus erhält, zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt. In sämtlichen wissenschaftlichen Gutachten, über
die wir in der Vergangenheit gesprochen haben, ist dieser Gedanke zu finden. Und auch das jüngste Urteil des
Verwaltungsgerichts Dresden, auf das sich der SPD-Antrag bezieht, geht in dieselbe Richtung. Natürlich muss
man hier die genaue Urteilsbegründung abwarten, die
momentan noch nicht vorliegt. Aber aus der Pressemitteilung des Verwaltungsgerichts lässt sich schon ablesen,
dass grundsätzlich nichts gegen eine Demokratieerklärung spricht. Der hierfür wichtige Satz 1 der Erklärung
wurde vom Verwaltungsgericht offensichtlich nicht beanstandet. Dazu findet sich im Antrag der SPD leider
kein einziges Wort. Vielmehr stellen die Antragssteller
Zu Protokoll gegebene Reden
pauschal fest, dass die Extremismusklausel rechtswidrig
sei und die Arbeit der Projektträger gefährde. Das ist
leider viel zu undifferenziert! Und die Grundaussage widerspricht im Übrigen auch der Politik, die die SPD
noch in Regierungsverantwortung hochgehalten und
verteidigt hat.
Auch vom praktischen Gesichtspunkt her kann ich die
pauschale Ablehnung der Demokratieerklärung im
SPD-Antrag nicht teilen. In den Gesprächen, die ich mit
vielen Projektträgern geführt habe, wurde mir bestätigt,
dass gegen ein Bekenntnis zu unserer Verfassung grundsätzlich nichts einzuwenden sei. Ebenso bestätigten mir
die Verantwortlichen in den beteiligten Ministerien, dass
die Projektträger die Unterschrift unter die Demokratieerklärung prinzipiell nicht als Problem ansehen würden.
Die Ausgestaltung in der Praxis müsse nur stimmen.
Und hier kommen wir zur eigentlich wichtigen Frage,
zu der die SPD bedauerlicherweise schweigt: Wie kann
eine im politischen Anliegen berechtigte Demokratieerklärung so ausgestaltet werden, dass sie die wichtige
und segensreiche Arbeit der Projektträger für unsere
Demokratie nicht unnötig belastet? Als Antwort haben
wir Liberalen immer wieder betont, dass wir die Sätze 2
und 3 der jetzigen Demokratieerklärung der Bundesministerien nicht immer für geeignet halten. Diese
Tendenz wurde auch im Urteil des Dresdner Verwaltungsgerichts bestätigt. Aus unserer Sicht dürfen die
Projektträger nicht vor hohe bürokratische Hürden gestellt werden, wenn sie ein Bekenntnis zu unserer Verfassung abgeben. Es muss stets klar sein, welche konkreten
Handlungen von den Trägern zur Erfüllung der Demokratieerklärung erwartet werden. Und die Handlungen
selbst müssen verhältnismäßig sein. Es kann eben nicht
sein, dass ein Projektträger durch eigene Ermittlungstätigkeit sämtliche Partner hinsichtlich ihrer Verfassungstreue überprüft und dann nicht zur eigentlich wichtigen
Arbeit für Toleranz und Demokratie kommt. Deshalb
sollte man die Sätze 2 und 3 überarbeiten und eine praktikable Lösung für alle Beteiligten finden. Eine mögliche
Lösungsvariante - und auch das haben wir in den Debatten stets hervorgehoben - wäre die Demokratieerklärung der sächsischen Landesregierung. Aber leider sind
wir in unseren bisherigen Diskussionen nie bis zu diesem Punkt gekommen. Denn die Oppositionsparteien
haben immer schon in der Frage des Ob die falsche Antwort gewählt und sich damit lernresistent gezeigt.
Als positiv denkender Mensch habe ich noch nicht
den Glauben verloren, dass wir in der weiteren parlamentarischen Beratung des SPD-Antrags noch einmal
zur Frage des Wie kommen können. Ich würde es begrüßen, wenn wir die an sich richtige Demokratieerklärung
modifizieren und für die Projektträger noch praktikabler
gestalten könnten. Die bisherige Dramaturgie dieser
Debatten lässt mich jedoch zweifeln, ob sich zumindest
Teile der Oppositionsparteien in die richtige Richtung
bewegen wollen. Wenn SPD und Grüne aber nicht auf
den Pfad der Tugend kommen wollen - bei der Linkspartei ist diesbezüglich ja jede Hoffnung verloren -, können
wir ihren Antrag wie immer nur ablehnen.
Die SPD beantragt, die rechtswidrige Extremismusklausel in den Bundesprogrammen gegen Rechtsextremismus sofort aufzuheben. Wir haben es hier mit einer
gemeinsamen Forderung aller Oppositionsparteien und
breiter zivilgesellschaftlicher Kreise einschließlich der
Zentralräte der Juden und der Muslime zu tun. Selbstverständlich unterstützt die Linke dieses Anliegen.
Als „Demokratieerklärung“ wird die seit Januar
2011 gültige Extremismusklausel offiziell von der Bundesregierung bezeichnet. Das erinnert doch schon arg
an George Orwells Neusprech. Denn mit Demokratie
hat diese Klausel nichts zu tun. Sie ist vielmehr - wie
jetzt das Dresdner Verwaltungsgericht geurteilt hat - ein
in wesentlichen Teilen rechtswidriger Maulkorb für antifaschistische Projekte.
Die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus
waren eine Reaktion auf eine neue Welle neofaschistischer und fremdenfeindlicher Anschläge und Übergriffe
zu Anfang des Jahrtausends. Ihr Ziel ist die Stärkung
bürgerschaftlichen Engagements und damit demokratischer Strukturen vor Ort. Doch unter der schwarzgelben Bundesregierung wurden diese seit Jahren engagiert und unter großem persönlichen Einsatz arbeitenden Projekte plötzlich selber unter Extremismusverdacht
- den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit - gestellt.
Auf Betreiben der selbsternannten Extremismusexpertin
der Unionsfraktion, Bundesfamilienministerin Kristina
Schröder, müssen Projektträger sich mit der Unterzeichnung der Extremismusklausel nicht nur selber zur
Grundgesetztreue bekennen. Das ist schon ein unverschämter Misstrauenserweis, schließlich machen sich
diese Initiativen Tag für Tag um die Demokratie verdient! Aber damit nicht genug. Sie müssen zugleich eine
Garantieerklärung für alle Kooperationspartner abgeben. Im Klartext müssen sich die Projektträger damit zur
Gesinnungsschnüffelei verpflichten - auch unter Zuhilfenahme von Verfassungsschutzberichten. Die Extremismusklausel soll keineswegs sicherstellen, dass staatliche
Gelder wirklich gegen Nazis verwendet werden. Das ist
sowieso der Fall. Sie soll aber sicherstellen, dass nur
solche Initiativen Gelder kriegen, die aus Sicht der
Bundesregierung und ihres Geheimdienstes brav und
harmlos sind. Dabei ist ja bekannt, wie schnell der Verfassungsschutz ungerechtfertigte Vorwürfe gegen antifaschistische Gruppierungen erhebt: Die etwa im bayerischen Verfassungsschutzbericht genannte Vereinigung
der Verfolgten des Naziregims - Bund der Antifaschisten, VVN-BdA, oder die mehrfach ausgezeichnete Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle A.I.D.A. in München dürften damit ebenso
wenig als Kooperationspartner herangezogen werden
wie Teile der Linkspartei, die in Verfassungsschutzberichten als „extremistisch“ diffamiert werden. Ziel dieser Politik: Es soll sichergestellt werden, dass, wer auf
den Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus
hinweist, nicht gefördert wird. Schon die bloße Kooperation mit antikapitalistischen Organisationen wird
sanktioniert. Die konservative Bundesregierung, die
kein höheres Ziel kennt, als die Interessen der Reichen
zu bedienen, will nur einen zahnlosen Antifaschismus
Zu Protokoll gegebene Reden
dulden, der keinem Kapitalisten wehtut. Es ist zu befürchten, dass im vorauseilenden Gehorsam von einigen
Projekten Referenten gar nicht erst angefragt und breiten antifaschistischen Bündnissen eine Absage erteilt
werden, um die eigene Förderung nicht zu gefährden.
Der nicht erst seit Bekanntwerden der Mordserie der
Naziterroristen des sogenannten Nationalsozialistischen
Untergrunds, NSU, so bitter notwendige Kampf gegen
Neofaschismus und Fremdenfeindlichkeit wird damit geschwächt.
Das Alternative Kultur- und Bildungszentrum Sächsische Schweiz, AkuBiZ, hat sich standhaft geweigert, die
denunziatorische Klausel zu unterschreiben. Deshalb
wurden ihm vom Landkreis bereits bewilligte Gelder für
eine Flugschrift zum Gedenken an ein Außenlager des
KZ Flossenbürg in Königstein verweigert. Darin sah das
AKuBiZ zu Recht einen Verstoß gegen das grundgesetzliche Diskriminierungsverbot, wonach niemand aufgrund seiner politischen Ansichten benachteiligt werden
dürfe. In den Augen des Dresdener Gerichts war diese
Verweigerung der Förderung „rechtswidrig“, weil es
erhebliche Einwände gegen den zweiten Teil der Klausel
gibt, der „nicht ausreichend bestimmt“ sei.
Wer hat denn nun den Boden der Verfassung verlassen, Frau Schröder? Die antifaschistischen Initiativen,
die sich seit Jahren für Demokratie und Menschenrechte
engagieren? Oder Sie, die diese Initiativen mit der
Extremismusklausel zu kriminalisieren versuchen? Das
Dresdner Verwaltungsgericht hat uns die Antwort vorgelegt.
Frau Schröder, streichen Sie die Extremismusklausel
sofort und ersatzlos. Machen Sie den Schaden, den Sie
bereits bei der Bekämpfung des Neofaschismus angerichtet haben, mit Ihrer ideologischen Verblendung nicht
noch größer. Antifaschistisches, bürgerschaftliches
Engagement gehört gefördert und nicht an Fußfesseln
gelegt!
Die sogenannte Extremismusklausel behindert die
Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und ist eine
Beleidigung für aufrechte, mutige Akteure. Das haben
engagierte Initiativen von Anfang an betont, und das kritisieren alle Oppositionsfraktionen im Bundestag.
Es gab verschiedene juristische Gutachten gegen die
Klausel und einen breiten Protest in Wissenschaft und
Zivilgesellschaft. Mehrfach haben wir im Plenarsaal des
Bundestages bereits über Sinn oder Unsinn dieser Klausel gestritten; die Argumente sind also alle bekannt.
Doch inzwischen gibt es Neuigkeiten: Die Klausel ist
nicht nur abwegig und schikanös - sondern auch rechtswidrig. Das erklärte das Dresdener Verwaltungsgericht
am 25. April, nachdem der Pirnaer Verein AKuBiZ e.V.,
mit dem Rückhalt vieler anderer Akteure, gegen die
Klausel geklagt hatte. Eine schriftliche Urteilsbegründung steht zwar noch aus, doch bereits in den mündlichen Ausführungen während der Verhandlung wurde
klar: Das Urteil ist für Ministerin Schröder eine Niederlage. Die Klausel kann, zumindest in ihrer derzeitigen
Form, nicht bestehen bleiben. Das Gericht erläuterte
zur Rechtswidrigkeit, dass Forderungen, die sich auf
Dritte beziehen, zu unbestimmt formuliert seien.
Damit sind die besonders strittigen Passagen gemeint, mit denen Initiativen gezwungen werden sollen,
die Verfassungstreue ihrer Partner zu garantieren. So
sei beispielsweise unklar, wer überhaupt zu den „Partnern“ gezählt werden müsse und welches Verhalten von
den Initiativen konkret abverlangt würde.
Die Nötigung, Projektpartner bezüglich ihrer Gesinnung auszuspionieren, vergiftet das Miteinander in der
Arbeit gegen Rechts und bindet Ressourcen vor Ort, die
eigentlich der Projektarbeit zugute kommen sollen. Die
Rechtsunsicherheit und das gefühlte Misstrauen stellen
für die Zivilgesellschaft eine erhebliche Belastung dar.
Bündnis 90/Die Grünen begrüßen die kritische Zielrichtung des Urteils. Wir danken AKuBiZ e. V. und allen
anderen Mutigen, die sich von den staatlichen Kriminalisierungsversuchen nicht haben einschüchtern lassen,
sondern offensiv für unsere Demokratie einstehen.
Allerdings finden wir es traurig, dass in einer solchen
Frage überhaupt juristische Schritte unternommen werden müssen, weil kein Konsens zwischen Staat und Zivilgesellschaft herstellbar war. Neben der formal-juristischen Einschätzung ist uns daher auch der politische
Blick auf die Klausel wichtig. Natürlich lehnen wir jede
Gesinnungsschnüffelei kategorisch ab. Aber die erzwungene schriftliche Bejahung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung halten wir ebenfalls für fragwürdig. Diese wurde auch bereits in einem Gutachten des
Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom Januar 2011 als grundgesetzwidrig problematisiert.
Demokratische Werte lassen sich nicht per Unterschrift in die Köpfe der Menschen pressen und verankern. Wo immer eine Auseinandersetzung mit Haltungen
notwendig scheint, muss sie argumentativ geführt werden. Die zahlreichen Untersuchungen zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in der sogenannten Mitte
der Gesellschaft verdeutlichen: Wir müssen uns die
Mühe machen, zu überzeugen. Meinungsfreiheit muss
als hohes Gut geachtet und geschützt werden. Repression sollte eindeutigen Gefährdungslagen, zum Beispiel
bei tätlicher Gewaltausübung, vorbehalten bleiben.
Ein schriftliches Bekenntnis unterschreiben kann jeder. Über die tatsächliche innere Überzeugung sagt das
nichts aus. Diese erkennt man am Handeln.
Und das Handeln der zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Rechts ist vorbildlich. Sie zeigen tagtäglich
vor Ort, wie couragiert und entschlossen sie sich für unsere Demokratie einsetzen und rechten Schlägern und
Menschenfeinden entgegentreten. Hierfür brauchen sie
Anerkennung, Ermutigung und staatlichen Rückhalt.
Wie unverzichtbar eine starke Zivilgesellschaft ist,
wurde mit der rechten Terrorserie wieder einmal deutlich. Deshalb forderte der ganze Bundestag im November 2011 in einer gemeinsamen Entschließung auch eine
Prüfung, wo dem Engagement demokratischer Gruppen
gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und
Zu Protokoll gegebene Reden
Antisemitismus Hindernisse entgegenstehen. Die Klausel zählt zu diesen Hindernissen, die es aus dem Weg zu
räumen gilt.
Anderthalb Jahre blendet Ministerin Schröder die
zahlreichen berechtigten Einwände aus. Es ist zu hoffen,
dass ihre Lernresistenz endlich bröckelt - oder sie zumindest die Rechtsprechung unseres Landes respektiert.
Allerdings scheint ihre Intention, wie ich hörte, in eine
andere Richtung zu gehen: Ihr Ministerium hat die gegnerische Partei von AKuBiZ e. V., den Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, massiv unter Druck gesetzt, unbedingt in die Berufung zu gehen. Repression
scheint Frau Schröders Politikansatz schlechthin zu
sein.
Die Ministerin sollte das Urteil zum Anlass nehmen,
über bessere Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftlich Engagierte nachzudenken. Ihr bietet sich jetzt die
Chance, ein Zeichen zu setzen, um das Vertrauen der
Zivilgesellschaft zurückzugewinnen und die Zusammenarbeit aller Demokratinnen und Demokraten in konstruktiver Weise zu fördern.
Wir erwarten drei Dinge von Frau Schröder:
Erstens. Entschuldigen Sie sich bei den Initiativen für
die Misstrauensunkultur, die Sie geschürt haben!
Zweitens. Streichen Sie die unsägliche Klausel umgehend - und zwar ersatzlos! Demokratische Bündnisse
gegen rechtsextreme Verfassungsfeinde gedeihen nur auf
der Basis von Vertrauen.
Drittens. Passen Sie Ihr Bundesprogramm gegen den
sogenannten Extremismus den Realitäten in unserem
Land an! Wir brauchen ein 50-Millionen-Euro-Programm gegen alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Es muss ehrenamtlichen Projekten
einen direkten, unbürokratischen Zugang ermöglichen
sowie eine dauerhafte Strukturförderung für bewährte
Initiativen sichern.
Es wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache
17/9558 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Umfassende Teilhabe am Sport für Menschen
mit Behinderung ermöglichen - UN-Behindertenrechtskonvention umsetzen
- Drucksache 17/9190 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Ich freue mich sehr, heute zur Teilhabe am Sport von
Menschen mit Behinderungen in Deutschland und zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sprechen zu können. Zeigt doch das gestiegene Interesse am
Behindertensport allgemein wie auch die umfangreichen
Maßnahmen der Bundesregierung zusammen mit dem
Deutschen Behindertensportverband sowie anderen
Partnern, wie positiv sich dieser Bereich bisher entwickelt hat.
Am 29. August 2012 werden in London die XIV. Paralympischen Sommerspiele eröffnet. Damit richtet sich
der internationale Fokus erneut auf den Sport von Menschen mit Behinderungen. Seit den Olympischen Spielen
in Peking 2008 kann man von einer positiven Zeitenwende sprechen, was sich nicht nur am stärkeren öffentlichen und medialen Interesse zeigt. Auch die Paralympics in London 2012 werden uns vor Augen führen, mit
wie viel Leistungswillen, Leidenschaft und Fairplay die
Athleten für ihre Sache eintreten. Dabei reicht die
Strahlkraft des Leistungssports von Menschen mit Behinderungen weit über die nationalen Grenzen und weit
über die einzelnen Platzierungen bei den Wettbewerben
hinaus. Das Filmprojekt „Du bist GOLD“ zeigt im Vorfeld der Paralympics die Geschichte dreier herausragender Athleten und unverwechselbarer Persönlichkeiten, die ihre Tragödie zum Triumph gewendet haben. Die
Athleten zeigen, „dass Gold ist, immer wenn dein Wille
dein Weg bestimmt und immer wenn du niemals dein Ziel
aus den Augen verlierst“. Die Dokumentation bringt
zum Ausdruck, wie Leistungen von Menschen mit Handicap für ein selbstbestimmtes Leben stehen. Der Sport
von Menschen mit Behinderungen bedeutet, „dass du
mehr kannst, als du denkst und dass dein Leben das ist,
was du daraus machst“!
Dabei unterstützt die Bundesregierung den Behindertensport und diese lebensbejahende Botschaft und Lebenseinstellung nicht nur bei internationalen Großsportereignissen wie den Paralympischen Sommer- und
Winterspielen. So fördert das Bundesministerium des Innern, BMI, in Höhe von 200 000 Euro den Bundeswettbewerb „Jugend trainiert für Paralympics“, der morgen,
11. bis 13. Mai 2012, in Kienbaum bei Berlin erstmals
stattfinden wird. In Blick auf die Talentfindung und -förderung für Menschen mit Behinderung im Breiten- oder
Leistungssportbereich liegt die Kompetenz grundsätzlich
bei den Bundesländern. Das BMI beteiligt sich aber an
dem Bundeswettbewerb im Rahmen der Nachwuchsgewinnung für den Leistungssport der Menschen mit Behinderung. Zusammen mit der Deutschen Schulsportstiftung, dem Deutschen Behindertensportverband sowie
weiteren wichtigen Partnern aus Politik und Wirtschaft
setzt man hier ein wichtiges Zeichen - allen voran in Verbindung zur Inklusion.
Die Diskussion um die Förderung des Behindertensports in Deutschland und die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention ist zu wichtig, um daraus
eine parteipolitische Debatte zu machen. Deshalb
möchte ich im Folgenden auch nicht die einzelnen Forderungspunkte in dem Antrag der Fraktion Die Linke
mit zahllosen Gegenbeispielen entkräften oder die Initiatoren über zuwendungsrechtliche Bestimmungen bzw.
Kompetenzbereiche des Bundes aufklären. Die vielfältigen Maßnahmen und Programme der Bundesregierung
sprechen meines Erachtens deutlich dafür, dass uns der
Behindertensport und die UN-Behindertenrechtskonvention ein wichtiges Anliegen sind und uns die sporttreibenden Menschen mit und ohne Handicap am Herzen liegen.
So hat am 15. Juni 2011 die Bundesregierung den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beschlossen. Der Sport spielt bei
dem Übereinkommen - neben vielen anderen bedeutenden Feldern - eine wichtige Rolle. In Hinblick auf die
Umsetzung in Deutschland sowie deren Förderung
durch die Bundesregierung ist jedoch zu beachten, dass
grundsätzlich der Bund für den Spitzensport und die
Bundesländer für den Breitensport zuständig ist. Auch
ist bezüglich des Zeitrahmens vorweg zu unterstreichen,
dass mit der Umsetzung des Übereinkommens ein Zeithorizont von zehn Jahren verbunden ist. Dementsprechend sind wir in der Startphase und noch lange nicht
am Ziel, gleichwohl wir - gerade im internationalen
Vergleich - schon viele kräftige Schritte gemacht haben.
Daran anschließend haben wir uns in der Sitzung des
Sportausschusses am 26. Oktober 2011 intensiv mit der
Thematik befasst, um den aktuellen Stand zu erfahren
und uns für die weitere Entwicklung starkzumachen.
Der Leistungssport der Menschen mit Behinderungen
wird nach dem Leistungssportprogramm des Bundesministeriums des Innern, BMI, schon bereits seit 2005
nach den gleichen Kriterien gefördert wie der Spitzensport der Nichtbehinderten. Hierunter fallen zum Beispiel die Förderung des Leistungssportpersonals und
der Sportjahresplanungen der Behindertensportverbände. Die spezifischen Belange der Menschen mit Behinderung werden insofern bereits berücksichtigt. Eine
Gleichbehandlung spiegelt sich auch in der Höhe der
Haushaltsmittel wider: Der Deutsche Behindertensportverband, DBS, der Deutsche Gehörlosen-Sportverband,
DBSB, und Special Olympics Deutschland, SOD, werden mit insgesamt circa 5 Millionen Euro jährlich unterstützt. Laut dem Vorbericht des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
zum Stand der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Sportbereich sind die konkreten Maßnahmen einzelner Sportverbände wie auch jene des Deutschen Olympischen Sportbundes, DOSB, ausdrücklich
zu würdigen. Natürlich haben wir, wie bereits deutlich
gemacht, noch lange nicht die Zielmarke erreicht, die
wir uns wünschen und für die wir uns auch weiterhin
einsetzen werden.
An dieser Stelle sei aber auch einmal angemerkt, dass
gerade im Blick auf den behindertengerechten Ausbau
von Sportstätten und der Infrastruktur im Allgemeinen
es nicht allein nur um Sportlerinnen und Sportler geht.
Mit Blick in die Zukunft werden die Verbindungslinien
zum demografischen Wandel und den sich wandelnden
Bedürfnissen einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft deutlich. Mit dem Wandel sind ganz allgemein
veränderte Anforderungen an die Infrastruktur verknüpft. Der Sport kann - zum Beispiel durch die Austragung von Großsportereignissen - hierbei übrigens als
ein Entwicklungsmotor und Beschleuniger für Modernisierungen dienen. Die leider gescheiterte Bewerbung
um die Austragung der Olympischen Winterspiele 2018
hat deutlich gemacht, welches Potenzial die Spiele für
die Region und Deutschland insgesamt hinsichtlich einer Modernisierung gehabt hätten.
Zusammen mit den Bundesländern sowie dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,
BMVBS, werden sukzessiv die durch den Bund geförderten Sportanlagen hinsichtlich der Herstellung der Barrierefreiheit modernisiert. Im Rahmen des Konjunkturpakets II konnte die Infrastruktur des Spitzen- und
Breitensports über die bisherigen Möglichkeiten hinaus
gefördert werden. Laut dem 12. Sportbericht der Bundesregierung stellte das Bundesministerium des Innern
speziell für den Spitzensport für die Jahre 2009 und
2010 weitere 10 Millionen Euro zur Verfügung, wovon
rund 6,6 Millionen Euro dem Sportstättenbau zugutekamen. Ein bundesweites Sportstätten-Sanierungsprogramm ist aber aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und auch in Blick auf die
derzeitige Haushaltskonsolidierung nicht möglich. Wie
bereits beschrieben, unterstützt das BMVBS im Rahmen
des Möglichen diverse Maßnahmen zur Herstellung der
Barrierefreiheit bei Sportstätten, deren Modernisierung
bzw. Sanierung in Gebieten der Städtebauförderung übrigens ebenso förderfähig ist. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass laut Beschluss der 137. Sportreferentenkonferenz die „AG Sportstätten“ der Länder derzeit
damit beauftragt ist, den tatsächlichen Bedarf an Sportstättensanierung - die grundsätzlich in der Zuständigkeit der Bundesländer liegt - festzustellen.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales,
BMAS, und das Bundesministerium für Gesundheit,
BMG, haben sich in der Vergangenheit für Sportangebote der Krankenkassen, Rentenversicherungsträger
und Unfallkassen starkgemacht. Die personelle Ausstattung für den Leistungssport behinderter Sportler wurde
seit 2008 stetig aufgebaut. Die „duale Karriere“ von
Leistungssport und beruflicher Entwicklung behinderter
Sportler wurde auf Initiative des BMI und des Bundesministeriums der Finanzen, BMF, durch den neu geschaffenen, ressortübergreifenden Stellenpool bei Bundesbehörden maßgeblich vorangebracht. Durch die
Besetzung bzw. schnelle Überführung in reguläre Planstellen können nun sogar freie Plätze neu genutzt werden. An dieser Stelle sei auch einmal der Leitung und
den Mitarbeitern der verschiedenen Bundesministerien
und den nachgeordneten Behörden für ihren persönlichen Einsatz gedankt. Eine Herausforderung stellt hierbei nicht nur die Stellenschaffung dar, sondern vor allem
das Bereitstellen einer Stelle, die den zeitlichen, örtlichen, sozialen Bedingungen und Anforderungen in HinZu Protokoll gegebene Reden
blick auf die jeweilige Behinderung gerecht wird. Übergeordnet unterstützt die Bundesregierung zudem das
ehrenamtliche Engagement im Sportverein, nicht zuletzt
durch Bürokratieabbau und die Schaffung rechtlicher
Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel steuerlicher,
vereins- und haftungsrechtlicher Regelungen.
Liebe Sportlerinnen und Sportler mit und ohne Handicap, ich könnte die Erläuterungen noch um viele interessante und innovative Punkte ergänzen, die unser Engagement für und um den Behindertensport und in Hinblick
auf die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
untermauern. Doch lassen Sie mich abschließend noch
mal auf das am Anfang genannte Filmprojekt - „Du bist
GOLD“ - hinweisen. Du und - vor dem Hintergrund der
Inklusion - wir sind zusammen „Gold“, wenn immer
unser gemeinsamer Wille den Weg bestimmt und wir beim Thema Behindertensport - unser Ziel nicht aus
den Augen verlieren. Nach diesem Motto wird sich die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch weiterhin kraftvoll
dafür einsetzen, sportliche Leistungen von Menschen
mit Handicap mit Blick auf ein selbstbestimmtes Leben
zu unterstützen. Der Sport in Deutschland von Menschen mit und ohne Behinderung bedeutet, dass du mehr
kannst, als du denkst, und dass dein Leben das ist, was
du daraus machst!
Ihrem Lob für die Entwicklung des Behindertensports
in Deutschland und für die herausragende Bedeutung
der Verbände für den Breitensport kann ich mich nur anschließen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Fraktion die Linke. Sie haben recht: Die Erfolge der
deutschen Sportlerinnen und Sportler im Spitzensport,
bei den Paralympischen Spielen, sind bemerkenswert.
Ich stimme Ihnen auch zu, was die Bedeutung von Sport
für das Wohlbefinden und vor allem für die Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen angeht.
Sport trägt dazu bei, die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Er erhält und
steigert die Leistungsfähigkeit und weckt Selbstvertrauen. Durch die Begegnung der Menschen mit Behinderung untereinander und mit Nichtbehinderten leistet
der Sport einen wichtigen Beitrag zu der von uns angestrebten Inklusion, also zu der umfassenden Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen der
Gesellschaft. Spitzensportlerinnen und -sportler mit Behinderung machen mit ihren außergewöhnlichen Leistungen anderen Menschen mit Behinderung Mut, den
Weg zum Sport zu finden und ihr Leben aktiv zu gestalten.
Die christlich-liberale Koalition setzt sich dafür ein,
dass Menschen mit Behinderungen an allen Bereichen
des gesellschaftlichen Lebens teilhaben können. Das haben wir auch im Koalitionsvertrag verankert. Menschen
sind nicht behindert, sondern sie werden behindert und wir sorgen dafür, dass die Hindernisse abgebaut
werden. Das ist unser Ziel. Wir sind auf einem guten
Weg zur barrierefreien Gesellschaft. Auch im Sport.
Das gilt ebenso für den Spitzensport wie auch für den
Breitensport. In Bezug auf die Förderung durch die Bundesregierung ist jedoch zu beachten, dass der Bund für
den Spitzensport zuständig ist und die Länder für den
Breitensport. Deshalb sind diese Punkte ebenso die Forderungen, die den Bereich Schul- und Hochschulsport
betreffen, an dieser Stelle fehl am Platz. Die Forderungen in Ihrem Antrag sind ohnehin vor allem eins: überholt. Sie verlangen etwas, woran wir schon lange arbeiten.
Am 15. Juni 2011 hat die Bundesregierung den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention beschlossen, in der der Sport eine
wichtige Rolle spielt. Das Zeitfenster für die Umsetzung
beträgt 10 Jahre. Wir sind längst aus den Startblöcken
gestartet. Es wird aber natürlich noch etwas dauern, bis
wir die Zielgerade erreichen und alle Punkte umgesetzt
haben.
Wir haben auf unserem Weg schon viele Erfolge erzielt, unter anderem: Der Leistungssport von Menschen
mit Behinderung wird durch das Bundesministerium des
Innern nach den gleichen Kriterien gefördert wie der
Spitzensport der Nichtbehinderten. Das Bundesministerium des Innern unterstützt die Bemühungen der Behindertensportverbände, die Betreuung von Leistungssportlerinnen und -sportlern mit Behinderung zu verbessern.
Sportanlagen werden hinsichtlich der Herstellung der
Barrierefreiheit modernisiert. Die „Duale Karriere“
von Leistungssport und beruflicher Entwicklung behinderter Sportler wurde vorangebracht.
Auch die Maßnahmen, die Sie von der Bundesregierung zum Bewusstseinswandel in der Gesellschaft fordern, sind überholt. Der Bewusstseinswandel findet
statt. Inklusion ist nicht nur Thema, sondern auch Realität. Es gibt beeindruckende Beispiele von Inklusion im
Bereich des Sports: Denken Sie an den südafrikanischen
Sprinter Oscar Pistorius, der gemeinsam mit Jason
Smyth der erste Sportler mit Behinderung überhaupt ist,
der sich für Leichtathletik-Weltmeisterschaften ({0}) qualifizieren konnte. Er bezeichnet
sich selbst auch nicht als behindert, sondern als „ohne
Beine“.
Ein Beispiel aus Deutschland: Im Februar dieses
Jahres wurde der „Große Stern des Sports“ in Berlin
von unserer Bundeskanzlerin verliehen. Es ist eine Auszeichnung des Deutschen Olympischen Sportbunds und
der Volks- und Raiffeisenbanken für soziales Engagement von Sportvereinen. Dabei ist deutlich geworden,
dass Inklusion kein Randthema ist. Für die meisten der
18 Preisträger sind Konzepte zur Inklusion von Menschen mit Behinderung eine Selbstverständlichkeit.
Auch die Zahlen vom Deutschen Behindertensportverband belegen, dass der Behindertensport in Deutschland eine große Rolle spielt: Der Deutsche Behindertensportverband hat weit mehr als 600 000 Mitglieder in
über 5 800 Vereinen. Über 31 000 lizenzierte Übungsleiterinnen und Übungsleiter sowie 100 000 ehrenamtliche
Vereinsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter sind für den
DBS tätig. Die hohe Mitgliederzahl des Deutschen Behindertensportverbands, seine Funktion als Nationales
Paralympisches Komitee für Deutschland und seine
Zu Protokoll gegebene Reden
Konzepte für die Jugend sorgen für eine breite Wirkung
und Bekanntheit in der ganzen Gesellschaft.
Auch durch die starke Medienpräsenz während der
Paralympischen Winter- und Sommerspiele rückt das
Thema Behindertensport in den Fokus der Öffentlichkeit.
In Ihrem Antrag finden sich auch ganz absurde Einwände, zum Beispiel dieser: „Im Vergleich zu Menschen
ohne Behinderung betreiben Menschen mit Behinderung
prozentual weniger Sport.“ Erwarten Sie etwa, dass wir
behinderten Menschen Sport per Gesetz verordnen? Was
der Gesetzgeber tun kann und tun muss, ist, Menschen
mit Behinderungen zu ermöglichen, Sport zu treiben.
Der Vergleich zwischen dem sportlichen Engagement
von Menschen mit und ohne Behinderung kann doch im
Ernst kein sinnvoller Indikator für den barrierefreien
Zugang zum Sport sein.
Wir müssen die Rahmenbedingungen für die Teilhabe
schaffen. Und das tun wir: Wir ermöglichen Menschen
mit Behinderung die gleichberechtigte Teilnahme in allen Lebensbereichen, und zwar nicht, weil es Gesetz ist,
sondern weil es eine Selbstverständlichkeit ist.
Menschen sind unterschiedlich. Jeder Mensch verfügt
über andere Stärken und Schwächen. Trotzdem gelingt
es uns, in unserer Gesellschaft, trotz all der Unterschiede, miteinander zu leben. Das liegt nicht zuletzt
auch daran, wie wir politische Willensbildung organisieren. Oder, um es mit Gandhi zu sagen: „Unter Demokratie verstehe ich, dass sie dem Schwächsten die gleichen Chancen einräumt wie dem Stärksten.“
Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion haben einen Antrag vorgestellt, in dem gute Punkte angesprochen werden. Wir sind, nicht nur im Sport, noch weit
davon entfernt, allen Menschen in unserer Gesellschaft
wirklich gleiche Chancen zu bieten.
Menschen mit Behinderung haben weniger Möglichkeiten, Sport zu treiben. Vereine und Sportstätten sind oft
nicht darauf eingestellt, ihnen dies zu ermöglichen, da
sie wahrscheinlich zu Zeiten gebaut wurden, als behinderte Menschen noch nicht „gesellschaftsfähig“ waren,
als die Behinderung anstatt des Menschen wahrgenommen wurde.
Richtig ist auch, dass Sport im Bereich der Rehabilitationsarbeit, gerade für Menschen mit Behinderung,
wichtig und notwendig ist und dass entsprechende Angebote oft nicht vorhanden oder - und den Begriff verwende ich durchaus bewusst im doppelten Wortsinn - zu
hochschwellig sind.
Richtig ist zudem auch, dass sowohl in der UN-Behindertenrechtskonvention als auch im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung der Bereich Sport peinlich
kurz abgehandelt wird. Und selbst diese wenigen Maßnahmen warten noch auf vollständige Umsetzung.
Diese Missstände sorgen dafür, dass unsere Gesellschaft als Ganzes durch den Ausschluss von wenigen ein
Verlust an Gerechtigkeit erfährt.
Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, stellen einen
ausführlichen Katalog an Forderungen an die Bundesregierung auf, wie all diese Missstände zu beheben
seien. Vieles davon stößt auch bei uns auf offene Ohren,
nicht nur deshalb, weil wir die Handschrift des Deutschen Behindertensportverbandes wiedererkennen, mit
dem auch wir schon lange zusammenarbeiten - etwa bei
der Forderung nach konsequenter Umsetzung von Konvention und Aktionsplan oder der Forderung nach Weiterentwicklung des Aktionsplans im Sportbereich oder
auch der Forderung, die Spitzensportförderprogramme
des Bundes besser für Sportlerinnen und Sportler mit
Behinderung zugänglich zu machen und diesen wie deren nichtbehinderten Kolleginnen und Kollegen duale
Karrieren zu ermöglichen.
Auch Ihre Forderung, den inklusiven Umgang mit behinderten Menschen in Lehramtsstudiengängen zum
verpflichtenden Teil zu machen, finden wir unterstützenswert. Damit erhielten mehr Menschen das ihnen zustehende Maß an Gerechtigkeit und die Chancen, die sie
benötigen.
In manchen Bereichen sehen wir allerdings noch
Raum für Diskussionen und für Verbesserungen, etwa
hinsichtlich des von Ihnen vorgeschlagenen Sanierungsprogramms von Sportstätten. Natürlich ist dies notwendig und sinnvoll. Allerdings fielen die Kosten hierfür
wahrscheinlich hauptsächlich den Kommunen zu, die
ohnehin bereits heute mehr Aufgaben zu tragen haben,
als sie finanziell zu erfüllen in der Lage sind. Oder bei
Ihrer Forderung, den Breitensport stärker bei der Förderung zu berücksichtigen. Dies ist ureigene Aufgabe
der Länder. An diesen Stellen müssen wir auf Bundesebene aufpassen, dass wir uns im Namen von Gerechtigkeit nichts Fremdes anmaßen.
Bei einer Reihe Ihrer Forderungen bleiben Sie zudem
bedauerlicherweise unkonkret und symbolisch, etwa in
Ihrer Forderung nach Unterstützung des Ehrenamtes
von Menschen mit Behinderung. Klingt sehr gut, ist aber
leider wenig greifbar. Oder bei der Forderung, die „Bedeutung des Sports von und für Menschen mit Behinderung in der Öffentlichkeit stärker zu würdigen“. Das ist
sicher wichtig, aber mit ein paar Beispielen wäre Ihrem
Antrag an dieser Stelle auch gut gedient gewesen. Immerhin adressieren Sie mit Ihren Forderungen die Bundesregierung; da kann man ruhig spezifischere Forderungen aufstellen.
Aber verstehen Sie die hier aufgeführten Kritikpunkte
bitte nicht als Ablehnung. Sie haben ein wichtiges
Thema angesprochen und auf bestehende Mängel hingewiesen, die wir ähnlich sehen. Sie sprechen ein Thema
an, das seinen Platz auf der Tagesordnung des Bundestages verdient hat und in dem wir bei vielen Punkten einer Meinung sind. Inklusion von Menschen mit Behinderung ist eine Aufgabe, der sich unsere Gesellschaft auf
allen Ebenen stellen muss.
Wir freuen uns darauf, in den Ausschüssen gemeinsam an Ihrem Antrag zu arbeiten und so für mehr
Menschen Chancen zu schaffen, ihre Potenziale auszuschöpfen, für mehr Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen Möglichkeiten zu schaffen, auf den SpielZu Protokoll gegebene Reden
feldern an ihre Grenzen zu stoßen, nicht schon auf dem
Weg dorthin, und für unsere gesamte Gesellschaft etwas
mehr Gerechtigkeit zu schaffen und Chancen etwas
gleichmäßiger zu verteilen.
Wir Liberalen bekennen uns uneingeschränkt zu der
UN-Behindertenrechtskonvention und setzen uns für ein
freies und selbstbestimmtes Leben ohne Diskriminierung
für Menschen mit Behinderung ein. Aus diesem Grund
begrüßen wir, dass die Linke mit ihrem Antrag auf die
noch immer bestehenden Benachteiligungen geistig und
körperlich behinderter Menschen in unserem Land hinweist. Insbesondere mit Blick auf die im Sommer in London stattfindenden Olympischen und Paralympischen
Spiele freut es mich besonders, dass dieses Thema heute
im Plenum debattiert wird.
Sport, der Menschen verschiedenster Kulturen miteinander verbindet und innerhalb der Gesellschaft Integration fördert, indem er Toleranz, Respekt und Fairness vermittelt, erreicht dies noch viel intensiver bei behinderten Menschen.
Die Teilnahme behinderter Menschen an sportlichen
Großereignissen, das Aufzeigen, dass auch behinderte
Menschen Höchstleistungen erbringen und stolz auf ihre
Leistung sind, hat maßgeblich zum Wandel im Umgang
mit behinderten Menschen in unserer Gesellschaft beigetragen. Fernsehsender zeigen zunehmend längere
Beiträge über die Wettbewerbe, und die deutsche Bevölkerung feuert die behinderten Sportler an.
Die Unterstützung der Leistungssportler mit Behinderung hat einen Prozess ins Rollen gebracht, der aus
meiner Sicht allen behinderten Menschen, ob Sport treibend oder nicht, geholfen hat und ihr Ansehen und ihre
Wertschätzung in der Gesellschaft weiter stärkt.
Deutschland ist hier auf einem guten Weg.
Wünschenswert wäre, dass auch Sponsoren den Wert
der behinderten Leistungssportler erkennen und ihnen
bessere Verträge anbieten, um ihr finanzielle Situation
zu stärken. Auch müssen die Verbände reagieren und auf
den Sport von behinderten Menschen aufmerksam machen, damit mehr Menschen mit Behinderung zum Sport
finden und ein größerer Teil der Bevölkerung den Sport,
auch im Ehrenamt, unterstützt.
Ich möchte auch an das Internationale Olympische
Komitee appellieren, zu überlegen, ob in Zukunft die Paralympischen Spiele nicht direkt im Anschluss an die
Olympischen Spiele stattfinden könnten. Dies würde das
Interesse an den Paralympischen Spielen sicherlich vergrößern.
Wir hoffen sehr, dass die Debatte einmal mehr die
Aufmerksamkeit auf die behinderten Sport- und Leistungssporttreibenden in unserer Gesellschaft lenkt und
sich dadurch das Verhalten gegenüber behinderten Menschen verbessert und die gesellschaftliche Anerkennung
zunimmt.
Die von der Linken im Antrag geforderten Initiativen
betreffen insbesondere Verbände, Vereine und die Länder, die hier durch ihre räumliche Nähe sehr viel besser
als die Bundesregierung die Integration von behinderten Menschen in den Sport sowie die Gewährung von
Barrierefreiheit in Sportstätten und Stadien voranbringen kann. Die Forderungen an Fernsehen und Sponsoren sind berechtigt, können jedoch nur von diesen und
nicht durch die Bundesregierung umgesetzt werden. Für
den Großteil der - teilweise berechtigten - Forderung
der Linken muss daher festgestellt werden, dass sie den
falschen Adressaten haben. Meine Fraktion wird diesen
Antrag daher ablehnen.
In 111 Tagen beginnen die Paralympischen Sommerspiele in London. Ich freue mich darauf, wenn unsere
Athletinnen und Athleten an den Start gehen und Menschen auf der ganzen Welt ihnen zujubeln. Ich freue mich
besonders darüber, dass auch das Medieninteresse gewachsen ist und es deutlich mehr Übertragungszeit im
Fernsehen geben wird als in der Vergangenheit. Mit den
diesjährigen Paralympischen Spielen geht es zurück zu
den Wurzeln des Behindertensports. 1948 fanden in der
Nähe von London erstmals die „Stoke Mandeville
Games“ statt, eine Sportveranstaltung für Kriegsversehrte.
Die Entwicklung seitdem kann sich sehen lassen. Neben den Paralympischen Sommer- und Winterspielen
gibt es unter anderem noch die Deaflympics für gehörlose Menschen sowie die Special Olympics für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. Die Special Olympics National Summer Games beginnen in
wenigen Tagen in München. Der Deutsche Behindertensportverband e. V. verzeichnet nunmehr nach 60-jährigem Bestehen 600 000 Mitglieder. Sport von Menschen
mit Behinderungen wird auch in der Öffentlichkeit endlich als Sport wahrgenommen
Wir sind auf einem guten Weg, aber es muss noch viel
getan werden. Seit März 2009 ist die UN-Behindertenrechtskonvention für Deutschland verbindlich. Menschen mit Behinderungen müssen die Möglichkeit
bekommen, gleichberechtigt an Sportangeboten teilzuhaben. Sie sollen die freie Wahl haben, ob sie Sport im
Freizeit- oder Leistungsbereich ausüben wollen.
In der Realität ist dies leider nicht immer gewährleistet. Spitzensportlerinnen und Spitzensportler mit Behinderungen haben faktisch nicht die gleichen Voraussetzungen wie ihre Kolleginnen und Kollegen ohne
Behinderung, obwohl das Leistungssportprogramm der
Bundesregierung eine Gleichbehandlung vorsieht. Die
Prämien für Medaillen bei Paralympischen Spielen sind
niedriger als bei Olympischen Spielen, und für Europaund Weltmeisterschaften gibt es gar keine Prämie. In einigen Olympiastützpunkten gibt es Stufen und zu
schmale Durchgänge, sodass Rollstuhlfahrerinnen und
-fahrer nicht barrierefrei trainieren können. Das sollen
an dieser Stelle nur einige der Punkte sein, bei denen
Handlungsbedarf im Leistungssportbereich besteht.
Große Probleme gibt es auch im Nachwuchs- und
Breitensport. Häufig fehlt das Bewusstsein für die Bedeutung des Sports. Eltern, Lehrerinnen und Lehrern,
aber auch Medizinerinnen und Medizinern muss deutlich gemacht werden, dass Sport das Wohlbefinden von
Zu Protokoll gegebene Reden
Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen steigern
kann. Er stärkt das Selbstvertrauen und kann dazu beitragen, Unfall oder Krankheit, die zu der Behinderung
geführt haben, besser zu verarbeiten. Häufig erlebt man,
dass Kinder, die erst irgendwann nach der Geburt eine
Behinderung davontragen, zunächst einfach eine Sportbefreiung bekommen. Sie werden damit jedoch noch
stärker aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen, da sie
von ihren Schulfreundinnen und Schulfreunden ausgegrenzt werden. Dadurch entsteht erst recht das Stigma
des Andersseins.
Ich glaube, gerade Kindern kann man beim Umgang
mit Menschen mit Behinderungen mehr zutrauen als uns
Erwachsenen. Hier und da können wir sicher noch von
ihnen lernen! Kinder haben noch keine Vorurteile und
erworbene Berührungsängste. Vielmehr gehen sie offen
und neugierig aufeinander zu. Hier liegt ein großes
Potenzial für die gesamte Gesellschaft. Der Bewusstseinswandel, wie er häufig gefordert wird, ist ein langfristiger Prozess, und wir müssen heute bei den Jüngsten
anfangen.
Medizinerinnen und Mediziner sollten über Sportangebote in der direkten Umgebung informiert sein. So
können sie den Eltern von Kindern mit Behinderungen
eine erste Information mit auf den Weg geben. Eine noch
größere Rolle spielt die Schule. Kinder mit Behinderung
sollten im Rahmen ihrer Möglichkeiten unbedingt am
Schulsport teilnehmen. Gerade in Schulen mit überwiegend Schülerinnen und Schülern ohne Behinderung
muss es Konzepte für gemeinsamen Sportunterricht geben. Dies setzt jedoch voraus, dass Lehrerinnen und
Lehrer auch entsprechend ausgebildet sind. Sie brauchen qualifiziertes Wissen für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Dieses Wissen sollen sie im
Rahmen ihres Studiums verpflichtend erwerben. Bloße
freiwillige Zusatzqualifikationen reichen meiner Meinung nach nicht aus. Auch Trainerinnen und Trainer in
allgemeinen Sportvereinen brauchen entsprechende
Qualifikationen.
Gemeinsame Projekte oder Sportveranstaltungen in
Schule oder Verein tragen dazu bei, dass Inklusion aktiv
gelebt wird. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass es auch künftig ausreichend Nachwuchs für
den Spitzensport geben wird. Ohne Breitensport gibt es
langfristig keinen Spitzensport!
Eine gelungene Veranstaltung für Nachwuchsathletinnen und -athleten ist „Jugend trainiert für Paralympics“. Diese findet ab morgen wieder in Kienbaum statt.
Aber auch hier zeigt sich, dass nicht alles Gold ist, was
glänzt. Da es sich um einen Schulsportwettbewerb handelt, können Schülerinnen und Schüler mit Behinderung,
die keine Förderschule besuchen, nicht an diesem Wettbewerb teilnehmen.
Sie sehen, es gibt viel zu tun! Mit unserem Antrag
wollen wir den guten Weg etwas schneller voranschreiten. Geht nicht gibt’s nicht! Ich fordere Sie auf, den Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention
nachzukommen. Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Für den Sport gelten dieselben Ziele, wie sie aus zahlreichen anderen Bereichen der Politik von und für Menschen mit Behinderungen bekannt sind: Selbstbestimmung, Teilhabe, Barrierefreiheit, Gleichberechtigung,
Bewusstseinswandel, Inklusion und Verbesserung der
Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger.
Leider stehen diese Ziele selten in Mittelpunkt, wenn
es medienwirksam um Sport behinderter Menschen geht.
Häufig liegt der Schwerpunkt eher auf den Paralympics.
Mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen mit
Behinderungen hat das allerdings wenig zu tun. Hier
spielen der Schulsport, der Sport im Sportverein um die
Ecke und der Rehabilitationssport eine sehr viel größere
Rolle. Und hier gibt es viel zu tun. Wir sind noch weit
entfernt von einer Situation, in der Menschen mit Behinderungen selbstverständlich mit nichtbehinderten Menschen zusammen Sport treiben können. Viel zu selten
sind Sportstätten barrierefrei. Dass Trainerinnen und
Trainer dazu ausgebildet sind, behinderte und nichtbehinderte Menschen gemeinsam zu trainieren, ist ebenfalls nicht die Regel.
Sportangebote für Menschen mit Behinderungen flächendeckend zu öffnen und attraktiver zu gestalten, ist
nicht nur Teil der Umsetzung einer Verpflichtung, die die
Bundesrepublik mit der UN-Behindertenrechtskonvention eingegangen ist. Hier liegt auch eine große Chance:
Wenn Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam
Sport treiben, dabei Spaß haben und irgendwann erschöpft sind, bei Wettbewerben gemeinsam gewinnen
oder verlieren, wäre das ein großer Schritt nach vorn für
den viel beschworenen Bewusstseinswandel. Menschen
mit Behinderungen machen so gerne oder ungerne Sport
wie nichtbehinderte Menschen auch. Einige sind fähig
zu sportlichen Spitzenleistungen, andere haben daran
gar kein Interesse. Durch die flächendeckende Öffnung
von Sportangeboten allen Menschen die Möglichkeit zu
geben, diese Erfahrung zu machen, ist ein gutes Mittel
gegen den medizinisch geprägten und defizitorientierten
Blick auf Menschen mit Behinderungen.
Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache
17/9190 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung stehen. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 28:
Beratung der Unterrichtung durch den Deutschen
Ethikrat
Stellungnahme des Deutschen Ethikrats
Intersexualität
- Drucksache 17/9088 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Mit der Vorlage der Stellungnahme des Deutschen
Ethikrates zum Thema Intersexualität geht ein sehr intensiver Prozess zu diesem vielfach in unserer Gesellschaft unbeachteten Themenbereich zu Ende. Die Bundesregierung hatte den Ethikrat Ende 2010 gebeten, die
Situation Intersexueller zu beleuchten und Handlungsbedarf zu benennen.
Der Deutsche Ethikrat ist dem Auftrag der Bundesregierung nachgekommen. Er hat dies in einer beachtenswerten Art und mit großer Fachkompetenz getan. Insbesondere durch den systematischen Ansatz ist der Bericht
für den Diskurs über die gesamte Frage eine zentrale
Bereicherung. In einem mehrstufigen Diskursverfahren
hat man sich mit dem Thema Intersexualität auseinandergesetzt. Ein Diskurs, bei dem nicht nur eine Seite angehört wird, sondern Mediziner, Psychologen, Juristen,
Vertreter von Elterninitiativen, Vereine, Organisationen
und natürlich nicht zuletzt die Betroffenen selbst.
Nach der Anfang Mai des zurückliegenden Jahres
initiierten Befragung von Sachverständigen und der Onlinebefragung von Betroffenen sowie der öffentlichen
Anhörung im Juni 2011 war der Onlinediskurs die dritte
Stufe eines bislang einmaligen Diskursprojekts des
Deutschen Ethikrates.
Hauptbestandteil der Diskursplattform ist ein Blog,
auf dem vom 8. Juni bis 7. August 2011 zweimal wöchentlich Artikel von Experten und Betroffenen veröffentlicht wurden, die das Thema Intersexualität aus
verschiedenen Perspektiven beleuchteten. Interessierte
waren eingeladen, diese Autorenbeiträge auf der Beteiligungsplattform zu diskutieren und zu kommentieren,
um dem Ethikrat einen tieferen Einblick in die gesellschaftlichen Einstellungen und Einschätzungen zu verschaffen.
Unser Dank gilt daher allen Beteiligten des gesamten
Prozesses, von den Sachverständigen über die Mitglieder und hauptamtlichen Mitarbeiter bis hin zu den Teilnehmern an den Beteiligungsinstrumenten. Ein besonderer Dank geht an die intersexuellen Menschen, die bereit
waren, uns einen Einblick in ihr Leben zu gewähren. Die
Vorlage des Berichts ist gerade für die Politik eine wichtige Arbeitsgrundlage. Er ist Situationsanalyse und
Handlungsempfehlung zugleich. Das macht den Bericht
sehr wertvoll für die weitere Arbeit. Es ist gelungen, das
Thema als das, was es ist, aufzubereiten, nämlich als ein
Querschnittsthema, das in seinem Facettenreichtum
ganz verschiedene gesellschaftliche Bereiche berührt.
Dabei ist besonders entscheidend, das Thema zu objektivieren und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Auf der
anderen Seite haben die Fallberichte dazu beigetragen,
sich besser in die Gedanken der intersexuellen Menschen einfinden zu können.
Aus diesem Grund war es auch ein richtiger Schritt,
die Stellungnahme des Ethikrats mit in die Anhörung zur
Intersexualität einzubeziehen. Ich hoffe, dass es uns gelingt, die üblichen parteipolitischen Auseinandersetzungen zu überwinden und eine ehrliche Bestandsaufnahme
voranzubringen, die das Interesse und die Bedürfnisse
der Betroffenen in den Vordergrund stellt. Die dazu notwendige Vorarbeit hat der Ethikrat bereits geleistet.
Dafür, wie es in der Frage „Wie können wir den intersexuellen Menschen helfen?“ weitergeht, sind die Empfehlungen des Ethikrates bedeutsam. Insgesamt wurden
dabei drei zentrale Bereiche identifiziert. Dies ist der gesamte medizinische Bereich, der für die Betroffenen besonders bedeutend ist. Allem voran steht: Wir müssen sicherstellen, dass sich früher begangene Fehler nicht
wiederholen. Wir müssen verhindern, dass jemand gegen seinen Willen und sein Gefühl in eine Geschlechtsrolle gezwängt wird. Und wir müssen sicherstellen, dass
all jene, die in der Vergangenheit - auch unter dem Aspekt eines medizinischen Machbarkeitswahns - schlimmes Leid erfahren haben, die Hilfe bekommen, die sie
brauchen. Die Empfehlungen des Ethikrates zu medizinischen Fragen und den damit verbundenen Problemen
weisen dabei einen Weg. Ich bin sicher, dass dies auch in
der Anhörung eine sehr zentrale Rolle spielen wird.
Eine ganze Reihe von Empfehlungen gibt der Ethikrat
auch zur Frage des Personenstandsrechts. Dabei geht es
unter anderem auch um die Frage, ob zukünftig die
Möglichkeit eingeräumt werden kann, eine dritte Geschlechtskategorie zu schaffen. Damit soll der Zwang
von den intersexuellen Menschen genommen werden,
sich gegen ihre tatsächliche Lebenswirklichkeit einem
Geschlecht zuordnen zu müssen. Wir werden uns in der
Anhörung auch darüber informieren, welche rechtlichen
Folgen in anderen Bereichen damit verbunden wären
und welche weiteren Schritte in unserem Rechtssystem
dabei zu bedenken sind.
Wichtig ist auch die Feststellung des Ethikrats, dass
dafür Sorge getragen werden muss, dass Intersexuellen
mit Respekt entgegengetreten wird. Dies ist selbstverständlich eine gesellschaftliche Aufgabe, die nicht mit
Anhörungen, Resolutionen oder Anträgen zu lösen ist,
sondern in gesellschaftliche Verhaltensweisen überführt
werden muss. Intersexuelle Menschen müssen als Teil
der gesellschaftlichen Vielfalt und als biologische Realität anerkannt werden. Dazu ist insbesondere die Wissensvermittlung bedeutsam. Zu Recht kommentiert die
„Süddeutsche Zeitung“ zum Verständnis von intersexuellen Menschen: „Das ist … ein Bereich, über den die
Leute wenig wissen, weil sie wenig darüber wissen wollen. Es ist gut, dass der Ethikrat von Zeit zu Zeit zum
Wissen zwingt.“ Der in großer Einmütigkeit aller Mitglieder des Ethikrats verabschiedete Bericht setzt hinter
diese Aussage noch einmal ein deutliches Ausrufezeichen. Auch wir im Bundestag sollten dazu unseren Beitrag leisten, und dies möglichst offen und ohne ideologische Scheuklappen vor den Augen.
Ich bin sehr gespannt, wie sich die kommenden Beratungen gestalten werden. Ich bin zuversichtlich, dass wir
am Ende querschnittliche Regelungen für die intersexuellen Menschen in den verschiedenen Bereichen
schaffen, die dieser Personengruppe Verbesserungen
und Erleichterungen in ihrer individuellen Lebensperspektive bringen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir debattieren heute über die Stellungnahme und die
Empfehlungen des Deutsche Ethikrats zur Situation intersexueller Menschen.
Für meine Fraktion begrüße ich diese Stellungnahme.
Sie ist das Ergebnis eines mehrstufigen Beratungsprozesses. Der Deutsche Ethikrat hat sich mit großem
Engagement mit der für Viele neuen und unbekannten
Thematik intensiv auseinandergesetzt. Eine Befragung,
eine Anhörung sowie ein Internetdiskurs waren zentrale
Elemente der Befassung. In Internet sind alle Dokumente
auf den Seiten des Ethikrats unter www.ethikrat.org hinterlegt und erlauben so allen interessierten Bürgerinnen
und Bürgern, sich umfassend zu informieren.
So erfahren intersexuelle Menschen endlich die Wertschätzung und die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie
lange Jahre vermissen mussten. Gleichzeitig bietet die
Stellungnahme uns Politikerinnen und Politikern eine
sehr gute Grundlage für weitere Debatten über konkrete
gesetzgeberische Maßnahmen.
Intersexualität ist ein sehr komplexes Thema; der Begriff wird nicht einheitlich verwendet, Menschen werden
teilweise als intersexuell bezeichnet, obwohl sie selbst
sich gegen diese Benennung wehren.
Sie alle aber eint eine Kernforderung, über die
glaube ich parteiübergreifend glücklicherweise längst
Einigkeit herrscht. Die eindeutige Feststellung: Intersexualität ist keine Krankheit, sondern eine spezifische
geschlechtliche Identität, die es uneingeschränkt zu respektieren gilt!
Intersexuelle Menschen sind folglich auch nicht zu
„heilen“, sondern sie haben das selbstverständliche
Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und körperliche Unversehrtheit, wie jeder Bürger und jede Bürgerin unseres Staats.
Wir als Politikerinnen und Politiker müssen dafür
sorgen, dass schnellstmöglich die Rahmenbedingungen
dafür geschaffen werden, dieses fundamentale Menschenrecht zu sichern.
Daher begrüße ich sehr, dass auch der Deutsche
Ethikrat in seinem Bericht unmissverständlich betont:
„… Intersexuelle Menschen ({0}) als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt und Unterstützung der Gesellschaft erfahren. Zudem müssen sie vor medizinischen
Fehlentwicklungen und Diskriminierungen in der Gesellschaft geschützt werden.“
Ich denke, hier besteht breiter Konsens, nun geht es
darum, genau die verschiedenen Bereiche zu identifizieren und den konkreten Handlungsbedarf zu definieren.
Ich möchte mich im Folgenden auf drei zentrale
Handlungsfelder konzentrieren. Medizin, Öffentlichkeit
und Recht.
Intersexualität ist keine Krankheit. Diese schlichte
Tatsache scheint sich teilweise innerhalb der Ärzteschaft
leider immer noch nicht herumgesprochen zu haben.
Leidtragende sind die intersexuellen Menschen und ihre
mit ihren Ängsten und Unsicherheiten oftmals alleine
gelassenen Eltern. Sie werden noch zu oft von wohlmeinenden Ärzten zu einer Operation gedrängt, um das vermeintliche Problem des uneindeutigen Geschlechts ihres
Kindes zu beheben.
Doch damit beginnen erst die wirklichen Probleme!
Denn als Baby oder Kleinkind ist überhaupt noch gar
nicht feststellbar, ob die betreffende Person später eine
männliche oder weibliche Geschlechtsidentität entwickeln wird.
Operationen an Babies bzw. Kleinkindern sind daher
schlichtweg unverantwortlich und können sich unter
Umständen traumatisch auf die spätere Entwicklung der
Persönlichkeit auswirken.
Der Deutsche Ethikrat stellt daher völlig zutreffend
fest: „Irreversible medizinische Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung […] stellen einen Eingriff in das
Recht auf körperliche Unversehrtheit, Wahrung der geschlechtlichen und sexuellen Identität und das Recht auf
eine offene Zukunft und oft auch in das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit dar“. Leider ist die daraus abgeleitete Forderung aber nicht eindeutig genug. Es heißt
„Die Entscheidung über solche Eingriffe ist höchstpersönlich und sollte daher grundsätzlich von den entscheidungsfähigen Betroffenen selbst getroffen werden“.
Nein, das reicht so nicht! Die Entscheidung über eine
irreversible geschlechtszuweisende Operation soll ausschließlich der direkt betroffene entscheidungsfähige
Mensch treffen dürfen. Auch Eltern sollen künftig aufgrund von Ängsten und Unsicherheiten über die Zukunft
ihres Kindes keine derart weitreichende Entscheidung
für ihr Kind mehr treffen dürfen!
In diesem Zusammenhang halte ich die Entscheidung
des Ethikrats, zwischen „geschlechtsvereindeutigenden“ und „geschlechtszuordnenden“ Operationen zu
differenzieren, nicht für sinnvoll.
Was also ist zu tun?
Wir müssen dafür sorgen, dass der Medizin die Deutungshoheit über das Phänomen Intersexualität entzogen wird. Es muss Schluss sein mit der Vorstellung, mit
chirurgischen Mitteln eine vermeintliche Normalität
herstellen zu können.
Stattdessen brauchen Eltern nach der Geburt eines
intersexuellen Kindes ausreichend Zeit und umfassende
Beratung und Information, wie sie mit der für sie irritierenden Situation umgehen können.
Es ist zentral, die Eltern in ihrer Sorge zu begleiten
und ihnen dabei zu helfen, diese durch psychologische
Unterstützung und den Kontakt zu Selbsthilfegruppen
von und für intersexuelle Menschen zu überwinden.
Ich wünsche mir künftig keine Mediziner mehr, die
ausschließlich im Denksystem von krank und gesund
und der vermeintlich schnellen Lösung einer chirurgischen „Behandlung“ verhaftet sind. Vielmehr sollten
alle Mediziner den Eltern signalisieren, dass es sich bei
Intersexualität nicht um eine Krankheit sondern um eine
besondere Geschlechtsausprägung handelt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der derzeitige Entscheidungsdruck, der auf vielen Eltern lastet, ist schädlich und verhindert einen besonnenen Umgang mit dieser speziellen Situation.
Wir sollten daher in Kooperation mit den Ländern
dafür sorgen, dass das professionelle Beratungsangebot
bundesweit gestärkt wird und die aktuelle auf medizinische Diagnostik und Therapie verengte Diskussion in
den Hintergrund tritt.
Ich stehe den vom Ethikrat in die Diskussion gebrachten bundesweiten interdisziplinär besetzten Betreuungsstellen sehr aufgeschlossen gegenüber.
Gleichzeitig müssen die einschlägigen Richtlinien der
Ärzteschaft zum Umgang mit Intersexualität dringend
überarbeitet und der Lebenswirklichkeit angepasst werden. Denn wer heute noch denkt, Intersexualität heilen
zu müssen, hat den Sachverhalt nicht verstanden.
Stichwort Öffentlichkeit: Dem Ethikrat gebührt großer Dank dafür, die vielfältige Lebenssituation Intersexueller, das Leid und Unrecht, die Fremdbestimmung
Dritter über ihren eigenen Körper und ihr Leben sichtbar und öffentlich gemacht zu haben.
Darüber hinaus brauchen wir im Alltag eine stärkere
Sensibilität der gesellschaftlichen Mehrheit für die
selbstverständlichen Bedürfnisse und Rechte von Minderheiten und generell eine stärkere Akzeptanz des „Andersseins“.
Eine starke Antidiskriminierungsstelle des Bundes
kann durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit dazu
beitragen, die vielfältigen Beratungs- und Hilfsangebote
von und für Intersexuelle Menschen und ihre Angehörigen sichtbarer zu machen und in die Bevölkerung hinein
stärker zu sensibilisieren.
Ebenso müssen beispielsweise Erzieherinnen und Erzieher, Lehrpersonal an Schulen, Trainerinnen und Trainer stärker als bisher auf den Umgang mit Intersexualität vorbereitet werden.
Der dritte relevante Aspekt ist der Bereich des Rechts,
speziell des deutschen Namens- und Personenstandsrechts.
Hier hat der Deutsche Ethikrat mutig scheinbar in
Stein Gemeißeltes grundsätzlich infrage gestellt.
Warum gibt es in Deutschland nur die Möglichkeit,
„männlich“ oder „weiblich“ als mögliches Geschlecht
eintragen zu lassen?
Was spricht eigentlich dagegen, in Deutschland auch
ein sogenanntes Drittes Geschlecht, die Kategorie „anders“ einzuführen oder zumindest die Möglichkeit zu
bieten, den entsprechenden Eintrag bis zu einem gewissen Stichtag frei zu lassen?
Außerdem wirft der Ethikrat die spannende Frage
auf, ob eine Eintragung des Geschlechts im Personenstandsregister überhaupt noch erforderlich ist.
Hier sind vor allem die Rechts- und Innenpolitikerinnen und -politiker gefragt, nach möglichen Lösungen zu
suchen, die den Bedürfnissen der Intersexuellen Menschen Rechnung tragen, aber gleichzeitig in unserem bestehenden Rechtssystem praktisch umsetzbar sind.
In einer Anhörung wird sich der Familienausschuss
am 25. Juni mit der Stellungnahme des Ethikrats und
dem Antrag der Grünen beschäftigen, der ebenfalls viele
gute Ansätze enthält.
Ich wünsche mir, dass wir fraktionsübergreifend zu
Lösungen kommen, mit denen wir konkret die Lebenssituation intersexueller Menschen verbessern und ihr
Recht auf Selbstbestimmung sicherstellen können.
Dass es Menschen gibt, die sich nicht eindeutig als
„Mann“ oder „Frau“ positionieren wollen bzw. können,
löst auch heute noch starke Irritationen in der Gesellschaft aus. Wir halten für „normal“ oder „natürlich“,
was wir erlebt haben, was unserer Gewohnheit, unserer
Neigung und unseren Vorlieben entspricht. Die Gesellschaft, Traditionen, Religion und selbst die Wissenschaft
sind oft sehr leichtfertig und vorschnell dabei, bestimmte Entwicklungen zu ihrem Maßstab zu machen
und alles Abweichende für „unnormal“, „unnatürlich“
oder „krankhaft“ zu erklären.
Bis heute gibt es daher in der Medizin die Bereitschaft, nicht eindeutige genitale, chromosomale oder
gonadische Geschlechtsmerkmale meist schon in frühester Kindheit chirurgisch zu ändern.
Die Betroffenen können sich im Kindesalter nicht gegen die Eingriffe wehren und verstehen erst langsam,
was ihnen widerfahren ist. Sie fordern zu Recht, Intersexualität rechtlich und gesellschaftlich anzuerkennen.
Dabei berufen sie sich auch auf das Diskriminierungsverbot der UN und das Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Bislang ungeklärt waren sowohl der Zeitpunkt und
die Reichweite solcher Maßnahmen als auch die rechtlichen Konsequenzen, die ein „drittes Geschlecht“ haben
könnte. Der Deutsche Ethikrat ist daher von der Bundesregierung zu einer Stellungnahme aufgefordert worden
und hat unter anderem eine Onlinedebatte gestartet und
eine Befragung Betroffener durchgeführt.
Der Ethikrat stellte zunächst die Frage, ob es sich bei
den einzelnen Formen von Intersexualität um eine Störung oder um eine Variante der Geschlechtsentwicklung
handelt. Davon ausgehend ergaben sich eine Reihe medizin-, rechts- und sozialethischer Fragen, die der Ethikrat klären wollte:
Wie verhalten sich korrigierende oder angleichende
Eingriffe im Kindesalter mit entsprechenden lebenslangen Folgen für die Betroffenen zum Recht auf physische
und psychische Unversehrtheit und Selbstbestimmung?
Was spricht gegen eine Vielfalt an Körpern, Geschlechtsidentitäten und Rollenverhalten?
Welche Verantwortung trägt die Gesellschaft im Umgang mit dem Anderssein? Ist die Politik gefordert?
Zu Protokoll gegebene Reden
Welche Erfahrungen und Bedürfnisse haben Betroffene, und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus
ableiten?
Seit Februar dieses Jahres liegt uns nunmehr die abschließende Stellungnahme des Ethikrats vor. Darin
kommt der Ethikrat zu dem Ergebnis, dass intersexuelle
Menschen als Teil gesellschaftlicher Vielfalt Respekt
und Unterstützung der Gesellschaft erfahren müssen.
Zudem müssen sie vor medizinischen Fehlentwicklungen
und Diskriminierung in der Gesellschaft geschützt werden.
Eine zentrale Fragestellung der Diskussion war, ob
chirurgische Eingriffe an den Geschlechtsorganen von
Menschen mit Besonderheiten der geschlechtlichen Entwicklung, und insbesondere bei betroffenen Kleinkindern, überhaupt zulässig sein sollten.
Der Deutsche Ethikrat führt dazu in seiner Stellungnahme aus, dass irreversible medizinische Maßnahmen
zur Geschlechtszuordnung bei Menschen mit nicht eindeutigem Geschlecht einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Wahrung der geschlechtlichen
und sexuellen Identität und das Recht auf eine offene Zukunft und oft auch in das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit darstellen. Die Entscheidung darüber ist höchst
persönlich. Daher empfiehlt der Ethikrat, dass sie
grundsätzlich von den Betroffenen selbst getroffen werden sollte. Bei noch nicht selbst entscheidungsfähigen
Betroffenen sollten solche Maßnahmen nur erfolgen,
wenn dies nach umfassender Abwägung aller Vor- und
Nachteile des Eingriffs und seiner langfristigen Folgen
aufgrund unabweisbarer Gründe des Kindeswohls erforderlich ist. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn - so
führt der Deutsche Ethikrat aus - die Maßnahme der
Abwendung einer konkreten schwerwiegenden Gefahr
für die physische Gesundheit oder das Leben der Betroffenen dient.
Die Behauptung, man könne das Geschlecht eines
Menschen durch medizinische Eingriffe festlegen, führt,
abgesehen von der Schmerzhaftigkeit dieser Eingriffe,
auch mittel- und langfristig zu physischen und psychischen Komplikationen und dauerhaften Schäden. Viele
intersexuelle Menschen scheinen aufgrund der schmerzhaften Eingriffe körperliche Schäden davonzutragen etwa wenn sie aufgrund einer Verkleinerung die Sensibilität der Klitoris verlieren, wenn vernarbte Stellen bei
sexueller Erregung zu Schmerzen führen oder wenn
schon bei Kleinkindern die angelegte Neovagina - zum
Teil bis ins hohe Alter - bougiert werden muss. Ebenso
werden durch die kontrachromosomale Hormontherapie
oft multiple Stoffwechselstörungen hervorgerufen. Erschwerend kommt die bisherige Praxis hinzu, wonach
die Betroffenen und deren Angehörige häufig nicht über
das chromosomale Geschlecht informiert wurden; dadurch werden den Betroffenen vielfach die Unterlagen
- Aufbewahrungszeit 30 Jahre - vorenthalten. Dies kann
eine falsche medizinische Behandlung zur Folge haben,
zum Beispiel weibliche Krankenkassenkarte trotz Kerngeschlecht xy-chromosomal. Zu den psychischen Schäden gehören starke Traumatisierungen durch die Operationen und ihre Folgen. Zudem sind die Reaktionen des
auf eine angeblich mögliche Geschlechtsfestlegung
drängenden sozialen Umfelds und die Tabuisierung der
Intersexualität oft belastend.
Betroffene und der Deutsche Ethikrat kritisieren aus
diesen Gründen zu Recht die Zwangsfestlegung insbesondere im Kindesalter und fordern, die Genitaloperationen erst dann durchzuführen, wenn der intersexuelle
Mensch die Operation aus eigenem Willen möchte und
ihr zustimmen kann. Chirurgische Anpassungen im Kindesalter werden von Betroffenen mit der unsäglichen
Praxis der Beschneidung weiblicher Genitalien gleichgesetzt - eine Auffassung, für die ich sehr viel Verständnis habe. Persönlich bin ich der Auffassung, dass niemand ohne Erlaubnis - und durch das Lebensalter der
Betroffenen anzunehmende Einsicht - das Recht hat,
Veränderungen an den Genitalien eines Kindes oder Jugendlichen vorzunehmen.
Die Sexualität hat viele Gesichter, und manchmal irritieren sie uns und unser Verständnis von Normalität.
Intersexualität ist ein solches Beispiel, sie ist eine Herausforderung für Gesellschaft, Medizin, Recht und
Ethik.
Die bloße statistische Seltenheit, das Unbekannte,
Fremde oder scheinbar Unverständliche genügt oft, um
Abweichendes zu diskriminieren. Dieses diffamierende
Vorgehen müssen wir immer wieder thematisieren und
eine Lösung herbeiführen, die den Betroffenen hilft und
einer toleranten Gesellschaft Rechnung trägt.
Die am 25. Juni im Familienausschuss geplante öffentliche Sachverständigenanhörung wird uns neben der
nun vorliegenden Stellungnahme des Deutschen Ethikrates weiteren Aufschluss darüber geben, wie wir mit
dem Thema Intersexualität in Zukunft umgehen, und uns
im Rahmen unserer parlamentarischen Arbeit weitere
Handlungsempfehlungen an die Hand geben. Im Anschluss daran müssen wir zügig Lösungen finden, die
dazu beitragen, die rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung von intersexuellen Menschen umzusetzen.
Die Fraktion Die Linke begrüßt die Stellungnahme
des Ethikrats zum Thema Intersexualität. Diese Stellungnahme nimmt sich des Problems endlich ausführlich
und wissenschaftlich an. Sie ist ein wichtiger Baustein,
um die schweren Menschenrechtsverletzungen, begangen an intersexuellen Menschen, anzuerkennen. Das
Leid, das diesen Menschen fortwährend widerfahren ist
und widerfährt, wird nun an die Öffentlichkeit gerückt.
Bereits im Jahr 2009 rügte der CEDAW-Ausschuss der
Vereinten Nationen in einer abschließenden Bemerkung
zu ihrem Staatenbericht, dass die Bundesregierung keinen Dialog mit den Betroffenen gesucht hat. Der Bericht
ist das Ergebnis dieser Rüge. Immerhin.
Intersexuelle Menschen sind - vereinfacht gesagt Menschen, die sich von ihren Geschlechtsmerkmalen
nicht eindeutig einem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. Früher bezeichnete man sie
als Zwitter oder Hermaphrodit. Medizin, Psychiatrie
und Rechtswissenschaften warfen zum Ende des
Zu Protokoll gegebene Reden
19. Jahrhunderts ein besonderes Augenmerk auf Hermaphroditen. Zuvor waren diese Menschen anerkannt als
Menschen, die sich irgendwie zwischen den Geschlechtern befinden. Dann begann ein abendländischer Blick
auf dieses Phänomen. Man wollte dieses Dazwischen
überwinden. Es sollte und es konnte in dieser Vorstellung nur zwei Geschlechter geben. Der französische
Philosoph Michel Foucault hat uns die Erkenntnis mitgegeben, dass die Wissenschaften hier maßgeblich an
einer gesellschaftlichen Setzung mitwirkten.
Dieser Blick auf die Geschlechter bestimmt auch
heute noch das Denken. Ein Denken, dessen düsterer
Schatten sich in den zahllosen Operationen, sogar frühkindlichen Operationen, zur Herstellung eines eindeutigen Geschlechts ausdrückt. Mediziner glaubten, das
Richtige zu tun, wenn sie Penisse wegschnitten, Vaginen
herstellten oder aus einer Klitoris einen Penis machten.
Den Eltern wurde und wird nahegelegt, dass dies im Interesse des Kindes geschieht, weil es sonst in unangenehme Situationen käme. Nicht erst seit heute wissen
wir, dass dieses paternalistische Eingreifen massive Folgen hat. Diese Menschen müssen ihr Leben lang Hormone nehmen, vielen wurden die Gründe für die wiederholten schweren Eingriffe in ihrem Intimbereich spät
oder auch gar nicht mitgeteilt, andere durchliefen in der
Pubertät eine Phase, in der sich das operativ entfernte
Geschlecht wieder herausbildete und vieles mehr.
Schwere physische Leiden, psychische Traumatisierungen und ein unglaublich hohes Suizidrisiko prägten und
prägen das Leben von intersexuellen Menschen, auch
und gerade weil die Gesellschaft sie nicht wahrnehmen
und anerkennen wollte.
Die Bundestagsfraktion Die Linke und die PDS haben
in zahlreichen Kleinen Anfragen immer und immer wieder die Bundesregierung zu dieser Problematik befragt.
Leider beschied uns jede Bundesregierung, dass dies allein ein Problem der Medizin sei. Doch mit der Stellungnahme und den Empfehlungen des Ethikrats wissen wir,
dass es ein Problem von uns allen ist. Es handelt sich um
schwere Menschenrechtsverletzungen. Stellungnahme
und Empfehlungen geben uns die Möglichkeit, das Problem umfassend zu diskutieren. Auch wenn ich diese
nicht in allen Punkten teile, wie zum Beispiel darin, dass
die Gruppe der Intersexuellen geteilt wird, da Intersexuelle mit adrenogenitalem Syndrom, AGS, ausgeklammert
werden, so begrüßen wir die erhöhte Aufmerksamkeit
auf diese Problematik.
Intersexuelle zeigen uns: Es gibt mehr als zwei Geschlechter. Dies müssen wir akzeptieren. Die schweren
Menschenrechtverletzungen müssen aufgearbeitet und
sofort beendet werden.
Die Linke fordert ein sofortiges Verbot aller frühkindlichen Operationen an Intersexuellen, die zu Herstellung der Geschlechtseindeutigkeit vollzogen werden.
Die Linke fordert einen Fonds für die betroffenen
Menschen, damit sie für ihr Leid entschädigt werden.
Die Linke fordert, dass Krankenkassen den Betroffenen großzügig bei ihren physischen und psychischen
Problemen helfen.
Die Linke fordert, dass das Personenstandsrecht angepasst wird, sodass Intersexuelle als Menschen und als
Rechtssubjekte anerkannt werden.
Wir müssen handeln, damit nicht weiteres Leid geschieht.
Der Bundestag befasst sich heute zum zweiten Mal
mit dem Thema Intersexualität. Ende letzten Jahres haben wir über den grünen Antrag „Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren“ beraten. Heute beschäftigen wir uns mit der Stellungnahme des Deutschen
Ethikrates zum gleichen Thema.
Nachdem die Bundesregierung in ihrem Sechsten
Staatenbericht zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, CEDAW, die
Frage der Intersexualität nicht aufgegriffen hatte, legte
der Verein Intersexuelle Menschen und seine angeschlossene Selbsthilfegruppe XY-Frauen einen Schattenbericht vor. Dann folgte die Aufforderung des UN-Ausschusses zur Überwachung des CEDAW an die deutsche
Bundesregierung, in einen Dialog mit intersexuellen
Menschen zu treten und Maßnahmen zum Schutz ihrer
Menschenrechte zu ergreifen.
Im Ergebnis wurde 2010 dem Deutschen Ethikrat der
Auftrag erteilt, den Dialog mit den von Intersexualität
betroffenen Menschen und ihren Selbsthilfeorganisationen fortzuführen und ihre Situation und die damit verbundenen Herausforderungen umfassend und unter
Einbeziehung der ärztlichen, therapeutischen, sozialwissenschaftlichen und juristischen Sichtweisen aufzuarbeiten und dabei klar von Fragen der Transsexualität
abzugrenzen.
Die grüne Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich
die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur Situation intersexueller Menschen. Wir freuen uns, dass die
Stellungnahme nicht nur unter Einbeziehung der wissenschaftlichen Sichtweisen, sondern auch im Dialog mit
den Betroffenen und ihren Selbsthilfeorganisationen
vorbereitet wurde. Besonders freuen wir uns über die
Empfehlungen, die der Deutsche Ethikrat an die Bundesregierung formuliert hat. Sie decken sich mit dem
grünen Antrag, in dem wir einen Maßnahmenkatalog
vorgeschlagen haben, der die Situation Intersexueller
verbessern und künftigen Menschenrechtsverletzungen
und gesellschaftlicher Ausgrenzung entgegenwirken
soll.
Der Deutsche Ethikrat empfiehlt Kompetenzzentren
und Betreuungsstellen, Peer-to-Peer-Beratung, Geld für
Selbsthilfegruppen und einen Fonds für „Anerkennung
und Hilfe“. Patientenakten sollen länger aufbewahrt
werden, Verjährungsfristen bis zur Volljährigkeit ruhen.
Das Gremium fordert, Medizinerinnen und Mediziner,
Psychologinnen und Psychologen sowie Hebammen
besser auszubilden, die Öffentlichkeit aufzuklären und
bürokratische Hürden abzubauen, etwa bei der Erstattung von Medikamentenkosten.
Es ist aber auch wichtig, dass nicht nur die medizinische und psychologische Behandlung intersexueller
Zu Protokoll gegebene Reden
Menschen verbessert wird, sondern auch das Personenstandsrecht deren Existenz Rechnung trägt. Hier schlägt
der Deutsche Ethikrat vor, dass bei Personen, deren Geschlecht nicht eindeutig feststellbar ist, neben der Eintragung als „weiblich“ oder „männlich“ auch „anderes“ gewählt werden kann. Zusätzlich sollte geregelt
werden, dass kein Eintrag erfolgen muss, bis die betroffene Person sich selbst entschieden hat. Der Gesetzgeber sollte ein Höchstalter der betroffenen Person festlegen, bis zu dem sie sich zu entscheiden hat.
Bei der Debatte über den grünen Antrag im November letzten Jahres haben sich Kolleginnen und Kollegen
aller Fraktionen dem Thema Intersexualität mit viel Empathie zugewandt. Mit Freude habe ich viel Verständnis
bemerkt, was unsere Forderungen betrifft, und große
Bereitschaft gespürt, den intersexuellen Menschen zu
helfen. Allerdings haben die Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition immer wieder auf die Arbeit des Deutschen Ethikrates hingewiesen, deren Ergebnisse wir zunächst abwarten sollten.
Nun liegt die Stellungnahme vor, und sie enthält viele
Empfehlungen. Dies bedeutet für die Bundesregierung,
aber auch für uns Abgeordnete, sich an die Arbeit zu
machen und die Empfehlungen umzusetzen.
Ich bin optimistisch, dass wir beginnend mit der Anhörung am 25. Juni im Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend interfraktionell zu einem guten Ergebnis kommen.
Wir bieten dabei gerne unsere Unterstützung an.
Es wird interfraktionell Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9088 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 29:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Umfassende Visaliberalisierungen für Menschen in Russland und Osteuropa
- Drucksache 17/9191 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Seit Wochen debattiert ganz Europa die Menschenrechtslage in der Ukraine. Wir verlangen eine Rückkehr
der Ukraine zu demokratischen Prinzipien und zur
Einhaltung der Menschenrechte. Wir wollen, dass alle
politischen Gefangenen freigelassen werden und dass
insbesondere Julija Timoschenko die medizinische Versorgung erhält, die sie dringend benötigt. Die Europäische Union hat völlig zu Recht die Entscheidung über
ein Assoziierungsabkommen erst einmal auf Eis gelegt.
Europa schaut angesichts der Fußball-Europameisterschaft besonders intensiv auf die Ukraine. Wir erwarten
mit allem Nachdruck, dass die ukrainische Führung sich
dadurch veranlasst sieht, Schritte der Demokratisierung
des Landes und der Achtung der Menschenrechte einzuleiten. Diesen Prozess gilt es sehr aufmerksam zu beobachten. Dass die Linke mitten in diese Diskussion hinein mit einem Antrag kommt, in dem sie die Visafreiheit
für die Ukraine fordert, macht einen sprachlos und zeigt,
welch gestörtes Verhältnis sie zum Thema Wahrung der
Menschenrechte hat.
Unabhängig von der aktuellen politischen Lage in
der Ukraine und natürlich auch in Russland könnte man
beim Lesen des Antrags der Linken den Eindruck gewinnen, als ob es die Visaaffäre der damaligen rot-grünen
Bundesregierung nie gegeben hätte. Wir haben als
christlich-liberale Koalition daraus die Konsequenzen
gezogen und eine Visa-Warndatei beschlossen, die den
Mitarbeitern in den Visastellen bessere technische Rahmenbedingungen gibt, um frühzeitig Visamissbrauch zu
erkennen. Diese Visa-Warndatei wird wegen der Notwendigkeit einer europaweiten Ausschreibung vor Mitte
2013 nicht zur Verfügung stehen.
Es ist für die Innenpolitiker der CDU/CSU völlig unvorstellbar, dass auch nur ansatzweise über eine Lockerung des Visaverfahrens nachgedacht wird, bevor diese
Visa-Warndatei nicht in der Praxis eingesetzt worden ist
und erste Erfahrungen damit gemacht wurden. Insofern
sollte von dieser Debatte eine ganz klare Botschaft ausgehen: Mit den Innenpolitikern von CDU und CSU wird
es in dieser Legislaturperiode keine Änderungen im
Visumverfahren oder gar im Visumrecht geben. Das gilt
übrigens auch für Pläne des Auswärtigen Amtes, die
Visavergabe durch Privatfirmen durchführen zu lassen.
Eine solche Privatisierung von wichtigen Aufgaben für
die Wahrung der Sicherheit und Ordnung unseres Landes ist ohnehin mit allergrößter Vorsicht zu genießen.
Sie ist aber in jedem Fall ausgeschlossen, bevor uns die
Visa-Warndatei nicht zur Verfügung steht.
Wir sollten uns auch immer wieder vor Augen führen,
welche Konsequenzen unbedachte Entscheidungen für
die Visafreiheit haben können. Ich verweise in dieser
Hinsicht nur auf das Beispiel Serbien und Montenegro.
Gegen die allergrößten Bedenken der Innenpolitiker der
Koalition ist hier die Visapflicht gefallen. Das Ergebnis
kann in zahlreichen deutschen Kommunen, vor allem in
Baden-Württemberg, betrachtet werden. Sofort sind die
Asylbewerberzahlen aus diesen Ländern in die Höhe geschnellt und der baden-württembergische Städte- und
Gemeindebund wandte sich bereits nach wenigen Wochen mit einem Hilferuf an die Bundespolitik, weil man
in den Kommunen mit der Unterbringung serbischer
und montenegrinischer Asylbewerber völlig überfordert
war. Dieses Beispiel zeigt, dass eine vorschnelle Visafreiheit ungesteuerte Zuwanderung nach Deutschland
unmittelbar zur Folge hat und damit vor allem eines er21270
reicht wird: dass sich neue Probleme im Bereich der Integration auftürmen. Das kann nicht ernsthaft politisch
gewollt sein!
Wer sich einmal bei der Bundespolizei über die große
Zahl von Aufgriffen von illegalen Zuwanderern mit
ukrainischer oder russischer Staatsangehörigkeit informiert, der kann nicht bestreiten, dass es auch aus der
Ukraine und Russland einen starken Migrationsdruck
gibt, der sich ähnlich problematisch auswirken würde
wie die Visafreiheit für Serbien und Montenegro. Dass
sich dieser Migrationsdruck besonders auch aus Ländern wie Moldau und Georgien ergeben würde, versteht
sich wohl von selbst.
Es ist bezeichnend, dass der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft ausdrücklich von der Fraktion Die
Linke für seine verschiedenen Initiativen zur Visafreiheit
für Russland, die Ukraine und andere osteuropäische
Länder gelobt wird. Wenn der Ostausschuss bisher noch
nicht gemerkt hat, auf welchen Holzweg er sich hier begeben hat, dann sollte dies dem Ausschuss vielleicht klar
werden, wenn er sich einmal umschauen würde, wer sich
da mit ihm auf Wanderschaft begeben hat. Die deutsche
Wirtschaft und die Linke Schulter an Schulter. Wenn es
noch eines Beweises bedurft hätte, dass sich einige im
BDI völlig verrannt haben, dann wohl diese unheilige
politische Allianz, die sich da ergeben hat. In einer sonst
von Sachkenntnis völlig ungetrübten Pressemitteilung
des Ostausschusses ist zu lesen, dass die Visafreiheit an
den Innenpolitikern der CDU/CSU scheitert. Das ist so
und dabei wird es auch erst einmal bleiben!
Der Ostausschuss hat es bis heute nicht vermocht, einen einzigen Beleg dafür zu erbringen, weshalb die Visafreiheit für Russland und die Ukraine überhaupt nötig
ist und nicht bereits mit dem bestehenden Instrumentarium alle Bedürfnisse der deutschen Wirtschaft zufriedenstellend geregelt werden können.
Wir haben das Notenstellenverfahren, wir haben das
Bona-fide-Verfahren, wir haben längst die Regelung,
dass nach zwei Schengen-Visa, die ein Ausländer erhalten hat, auf eine erneute persönliche Vorsprache in der
Visastelle der Botschaft oder des Konsulats verzichtet
werden kann. Es gibt die verstärkte Erteilung von Mehrjahresvisa für Geschäftsleute. Ich frage mit allem Nachdruck: Wo ist das Problem?
Deutsche und ausländische Unternehmen, die sich
zum Beispiel bei unserer Botschaft in Moskau registrieren lassen und als seriös bekannt sind, können für russische Staatsbürger Visa beantragen und es kann auf eine
persönliche Vorsprache verzichtet werden. Warum reicht
das für die Leichtigkeit des Visumverkehrs nicht aus?
Ich will das nochmals betonen: Wir haben als Innenpolitiker der CDU/CSU immer und immer wieder den Ostausschuss und andere Kritiker der jetzigen Visaregelungen aufgefordert, uns ganz praktische Fälle zu
präsentieren, aus denen ablesbar wäre, dass das deutsche Visasystem Geschäftskontakte behindert, den wissenschaftlichen Austausch erschwert oder kulturelle und
religiöse Begegnungen unmöglich macht. Bis zum heutigen Tage ist uns kein einziger Fall genannt worden. Wir
diskutieren hier über ein Problem, das es in Wahrheit
nicht gibt.
Wenn aber trotzdem mit einer solchen Verve Lobbydruck ausgeübt wird, dann muss man schon die Frage
stellen: Was steckt dahinter? Man kann sich als Innenpolitiker, der im Zweifel eben nicht nur die Reisefreiheit,
sondern auch die Sicherheit im Blick hat, nicht des Eindrucks erwehren, dass eben doch aus wirtschaftlichen
Gründen solche Personen reisen dürfen sollen, bei denen man bei intensiverer Prüfung vielleicht zu Bedenken
käme, diese Personen ins Land zu lassen. Vor diesem
Hintergrund kann ich nur sagen: Markt ohne Moral
sollte es auch in diesem Bereich nicht geben!
Und Markt und Mafia sollte es erst recht nicht geben.
Es ist schon sehr bemerkenswert, dass die Linke in ihrem
Antrag auch Visafreiheit für Georgien oder die Republik
Moldau fordert. Zu Moldau gehört die Republik Transnistrien. Das ist eine der Hochburgen der Organisierten
Kriminalität in Osteuropa. Es ist das Mekka der Produktpiraterie und des Zigarettenschmuggels. Wollen wir
ernsthaft auch solche Länder und Regionen in eine Visafreiheit mit einbeziehen?
Man wird darauf hinweisen dürfen, dass schon heute
in Deutschland zahlreiche Gruppen der Organisierten
Kriminalität operieren, bei denen russische Tatverdächtige dominieren. Eine Visafreiheit würde den Aufbau
weitergehender OK-Strukturen mit engen Verbindungen
in die jeweiligen Herkunftsregionen der Tatverdächtigen
sehr erleichtern.
Und man muss sich ganz nüchtern vor Augen führen,
dass bei einer Aufhebung der Visumpflicht auch Angehörige extremistischer und terroristischer Organisationen ungehindert Einreisemöglichkeiten nach Deutschland hätten. Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien
oder auch Nordossetien sind Regionen innerhalb der
Russischen Föderation, die besonderen Bezug zum islamischen Terrorismus haben. Ich will hier keine Gefahren heraufbeschwören, aber dass man unter Sicherheitsgesichtspunkten intensiv untersuchen muss, ob hier
Reisefreiheit gewährt werden sollte, scheint mir mehr
als geboten.
Der Hinweis im Antrag der Linken, man könne die
deutsche Visavergabepraxis durch die Nutzung von
Schengen-Visa für andere Länder umgehen, ist nichts
anderes als ein Aufruf zum Rechtsbruch. Wenn Polen ein
Schengen-Visum vergibt, dann muss man auch dafür eigentlich einen korrekten Reisegrund angeben. Der
Grund für eine Reise muss sich auf Polen beziehen und
nicht auf Deutschland. Das Argument, die lockere Visavergabe anderer Staaten habe zu keinen Gefährdungen
geführt, ist eine beharrliche Verweigerung der Wahrnehmung von Tatsachen.
Man muss nur die täglichen Berichte unserer Bundespolizeidirektionen lesen und kann erkennen, dass mit
Schengen-Visa anderer EU-Staaten zum Beispiel illegale Arbeitskräfte, Prostituierte und als Straftäter Verdächtige in unser Land eingereist sind. Insofern kann
eine Forderung, die sich an den Interessen unseres Landes orientiert, nur lauten, dass die Praxis der VisaverZu Protokoll gegebene Reden
gabe in den osteuropäischen Ländern vergleichbarer
werden und dabei der deutsche Prüfungsmaßstab die
Grundlage bilden muss.
Wir lehnen strikt den Vorschlag der Linken ab, weitgehend auf die persönliche Vorsprache bei der Visavergabe zu verzichten. So wird dem Missbrauch Tür und
Tor geöffnet, wie wir aus der Visaaffäre wissen. Noch
einmal: Ich rede nicht wie der Blinde von der Farbe. Wir
haben doch mit anderen Kollegen aus dem Innenausschuss im Visauntersuchungsausschuss gesessen. Wir
können doch vielfältig erzählen, wie erfindungsreich
Schlepper- und Schleuserbanden sind. Wir kennen doch
den Fall der Handballnationalmannschaft von Sri
Lanka, die zu einem Trainingslager nach Bayern anreisen wollte, dort aber nie ankam, sondern sich sofort am
Flughafen in alle Winde zerstreute, weil es in Sri Lanka
alles Mögliche gibt, aber keine Handballnationalmannschaft. Wir kennen doch die Fälle von Volkstanzgruppen
aus der Ukraine, wo am Ende die weiblichen Teilnehmer
in Lokalen landeten, wo Volkstänze eher selten aufgeführt werden.
Die EU befindet sich in einem Visadialog mit Russland. Das ist kein isoliert zu behandelndes Thema. Dazu
gehört nicht nur eine Angleichung der Bedingungen für
die Visaerteilung, sondern eine Angleichung bei Fragen
gemeinsamer Wertvorstellungen und einer Rechtsstaatlichkeit, die sich in der Praxis bewährt. Die jüngsten
Bilder von den Demonstrationen aus Anlass des Beginns
der neuerlichen Präsidentschaft von Wladimir Putin und
die Situation der Presse- und Meinungsfreiheit in Russland zeigen, dass wir davon noch sehr weit entfernt sind.
Wir sind als CDU/CSU dafür, den Visadialog mit den
osteuropäischen Ländern mit dem Ziel zu führen, zu Visumserleichterungen zu kommen. Aber dies ist ein
schwieriger Dialog, der von Russland und der Ukraine
angesichts der dortigen innenpolitischen Entwicklungen
weiter erschwert wurde. Wir brauchen differenzierte Lösungen, wie sie im Antrag der Fraktion Die Linke gerade nicht zu finden sind. Deshalb lehnen wir ihn ab!
Michael Hartmann ({0}) ({1}):
Es ist schon ein bemerkenswerter Antrag, den uns die
Linke da heute vorlegt, bemerkenswert in vielfacher
Hinsicht: zum einen deshalb, weil anscheinend völlige
Visafreiheit unabhängig vom Schutzbedürfnis unseres
Landes und ausgebeuteter Menschen gefordert wird; bemerkenswert aber auch deshalb, weil die Linke offensichtlich in einem historischen Paradigmenwechsel nun
zum Sachwalter der Arbeitgeber und deren Interessenverbänden geworden ist. Insgesamt sechsmal wird nämlich in dem Antrag der Ost-Ausschuss der Deutschen
Wirtschaft zur Begründung der eigenen Forderungen
herangezogen. Diese neue Kapitalismusfreundlichkeit
der Linken wird die Kolleginnen und Kollegen der FDP
sicherlich erfreuen. Uns macht sie stutzig.
Denn in der Tat wissen wir darum, dass gerade jene
Wirtschaftskreise bereits seit langer Zeit die Hauptlobbyisten für diese Forderung sind. Nun verschließt
sich die SPD selbstverständlich nicht jedem begründeten Wunsch nach mehr Reisefreiheit. Allerdings sage ich
hier klipp und klar: Wer diese Debatte beginnt, der darf
nicht bei Russland enden, vielleicht noch nicht einmal
damit beginnen. Was ist zum Beispiel mit der Visafreiheit
gegenüber der Türkei?
Ich stelle außerdem fest: Legitime Interessen unserer
exportorientierten Wirtschaft sind uns wichtig, aber
nicht heilig. Sie dürfen bei der Entscheidung nicht einseitig dominieren.
Freier Handel und Wandel sind gut und notwendig.
Reisefreiheit ist obendrein ein Wert jeder offenen und
freien Gesellschaft, doch nicht um den Preis der Aufgabe unserer Sicherheitsinteressen.
Im Visa-Untersuchungsausschuss haben wir recht
übereinstimmend erfahren, dass Kriminelle, die zum
Beispiel junge Frauen zur Prostitution zwingen, von einer liberalen Visapraxis profitieren und jede noch so gut
gemeinte Liberalisierung missbrauchen. Seit jener Zeit
ist viel geschehen. Manchmal ist unser Visaregime sogar
zu streng geworden, wie wir wohl alle schon als Wahlkreisabgeordnete erfahren haben.
Es ist heute daher durchaus sinnvoll und richtig, über
Möglichkeiten einer Liberalisierung nachzudenken, zum
Beispiel bei Vertrauenspersonen, im Bereich des Austauschs mit der Wissenschaft oder bei Vielreisenden.
Dazu stehen wir zur Verfügung. Wir stehen allerdings
nicht zur Verfügung für den völligen Wegfall der Visumpflicht, gerade gegenüber Russland. Denn organisierte Kriminalität, Terroraktivitäten und Drogenhandel
würden dann noch leichter ein Einfallstor finden.
Daher erwarten wir, dass die Regierungsfraktionen,
bei denen ja im Falle der Unionsfraktionen ein deutlicher Riss zwischen Außen- und Innenpolitikern erkennbar ist, vor allem einmal sagen, was sie denn wollen.
Das gilt auch für die Regierung: Sie muss sagen, was sie
will: völlige Visafreiheit, wie die Kanzlerin andeutete,
ein gelockertes Regime oder gar keine Veränderung.
Wir werden uns im Ausschuss orientiert mit allen
durchdachten Vorschlägen fair auseinandersetzen,
selbstverständlich auch mit dem Antrag der Linken. Unser Maßstab wird dabei das Gesamtwohl unseres Landes
sein, nichts anderes.
Deutschland ist ein weltoffenes Land.
Deutschland braucht auch Zuwanderung. Angesichts
der demografischen Entwicklung ist es unerlässlich, dafür zu sorgen, dass Menschen sich dafür entscheiden,
nach Deutschland zu kommen. Dabei geht es nicht darum, wie von vielen Seiten befürchtet, Tür und Tor ungehemmt zu öffnen; vielmehr muss es im Interesse der
deutschen Wirtschaft, aber auch der deutschen Gesellschaft liegen, Menschen nach Deutschland zu locken,
die einen Beitrag zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes leisten wollen und können.
Deutschland muss daher seine Willkommenskultur
ausbauen und die Hürden für die Zuwanderung senken.
Da hat die FDP gemeinsam mit dem Koalitionspartner
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
CDU/CSU nun Deutschland einen entscheidenden
Schritt vorangebracht: mit der Umsetzung der sogenannten Bluecard-Richtlinie. Dadurch werden für Fachkräfte aus dem außereuropäischen Ausland endlich Erleichterungen für den Antritt eines Arbeitsverhältnisses
innerhalb der EU geschaffen: Die Vorrangprüfung entfällt, die Mindestgehaltsschwelle ist auf 44 000 Euro abgesenkt, bei Mangelberufen, wie beispielsweise Ärzten
und Ingenieuren, sogar auf 33 000 ({1}).
Bisher mussten Hochqualifizierte in der Regel ein
Mindestgehalt von 66 000 Euro nachweisen, um diese zu
erlangen. Gerade in mittelständischen Unternehmen
können aber diese Gehälter nicht bezahlt werden. Um
die Attraktivität für Arbeitnehmer aus dem Nicht-EUAusland zu steigern, war die Absenkung der Mindestgehaltsschwelle längst überfällig.
Auch für ausländische Studierende und Hochschulabsolventen gibt es deutliche Erleichterungen. Die VisaWarndatei, die wir geschaffen haben, kann einen wichtigen Beitrag zum Abbau der Bürokratie und zum Abbau
von Wartezeiten im Visumverfahren bringen. Bisher hatten die Auslandsvertretungen jeweils eigene Datenbanken mit den Daten zu Visumantragstellern, Einladern
etc. Gab es bei einer Antragstellung Auffälligkeiten,
musste kompliziert eruiert werden, ob bereits woanders
Daten vorliegen. Jetzt wird durch eine einheitliche Visawarndatei erreicht, dass alle am Visumverfahren beteiligten Behörden die gleichen Informationen haben. Damit können Wartezeiten für Antragsteller verringert werden.
Beide genannten Punkte sind wichtige Schritte für die
Öffnung Deutschlands für Fachkräfte. Darüber hinaus
wird aber auch weiterhin an anderen Stellen, wie im
Auswärtigen Amt, an Vereinfachungen des Verfahrens
gearbeitet.
Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle hat hier
wichtige Schritte eingeleitet: Die persönliche Vorsprache bei Reisenden, die innerhalb von zwei Jahren mindestens zweimal ein Schengen-Visum erhalten haben,
wird abgeschafft und durch die Vielreisendenregelung
ersetzt. Mittlerweile verfügen fast die Hälfte aller Geschäftsreisenden über Mehrjahresvisa für häufig Reisende. Außenhandelskammern, die vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag benannt worden sind,
können für ihre Mitglieder und deren Beschäftigte Visaanträge entgegennehmen.
Geplant ist weiterhin, den Abschluss der Visadialoge
mit den osteuropäischen Staaten gegenüber der EUKommission zu forcieren und darauf hinzuwirken, auch
mit der Türkei in einen Visadialog zu treten.
Die Vision eines offenen Wirtschaftsraumes „von Lissabon bis Wladiwostok“ ist gerade für Liberale bestechend. Es muss möglich sein, ohne Erosion der sozialen
Sicherheit die wirtschaftlichen Barrieren abzubauen
und Handelshemmnisse zu beseitigen.
Die FDP wird sich im Dialog mit Wirtschaftsverbänden, Unternehmen, Ausländer- und Sicherheitsbehörden
weiterhin zunächst für eine wesentliche Vereinfachung
und Entbürokratisierung des Visumverfahrens einsetzen.
Rechtssichere und einfache Lösungen sind gefragt.
Weltoffenheit ist im Interesse der deutschen Gesellschaft.
Es ist mir außerordentlich wichtig, dass wir das
Thema der Visafreiheit mit Russland und Osteuropa hier
im Bundestag beraten. Glücklicher wäre ich gewesen,
wenn es zu einer gemeinsamem Initiative der Mitglieder
des Auswärtigen Ausschusses gekommen wäre. Denn es
geht hier nicht um parteipolitisches Geplänkel, sondern
um die Reisefreiheit von Millionen von Menschen, Bürgerinnen und Bürgern der EU und Russlands und Osteuropas. Es ist nur noch absurd, dass sich die Möglichkeiten, zum Beispiel zwischen Deutschland und
Russland hin und her zu reisen, in den letzten Jahren
verschlechtert haben.
Während wir in dieser Frage nicht weiterkommen,
stehen sich Abertausende von Menschen die Beine vor
deutschen Konsulaten in den Bauch. Endlich drinnen
angekommen, werden sie dann mit der weiteren Erbringung von Dokumenten beauftragt. Viele reisen in Flächenstaaten wie Russland dafür tagelang zu den deutschen Konsulaten. Wir Mitglieder des Auswärtigen
Ausschusses und die mit der Region befassten Experten
bei unserer Anhörung waren uns einig: Wir verbreiten
eine Unwillkommenskultur anstelle einer Willkommenskultur.
Da nützt es uns auch nichts, wenn die Bundesregierung viel Geld in ein Deutschland-Jahr in Russland investiert. Die können uns ja eh nicht besuchen kommen!
Und die Beziehungen der Staaten untereinander leiden: Als ich Anfang Februar in Moskau war, sagte mir
der verantwortliche Abteilungsleiter im russischen Außenministerium, dass Russland die scharfen Visaregelungen von Deutschland als letztes Element des Kalten
Krieges wahrnehme und dass eine substanzielle Verbesserung des deutsch-russischen Verhältnisses nur möglich sei, wenn dieses Problem endlich aus der Welt geschafft sei.
Die Dekanin der deutsch-russischen Fakultät der
Universität Uljanowsk schrieb mir am 3. Mai, nachdem
sie ein Interview von mir zur Visafreiheit im russischen
Fernsehen gesehen hatte: „Meines Erachtens nach können unsere Länder nicht eher eine Annäherung anstreben, bis die unnötigen Bürokratieerscheinungen aus
dem Weg geräumt sind.“ Die Studienzeit ihrer Deutschstudenten würde sich um ein ganzes Jahr verzögern,
weil diese immer so lange auf die Visaerteilung ihres
Deutschland-Aufenthaltes warten müssten, so die Dekanin weiter.
Auch andere Staaten haben reagiert. EU-Bürger dürfen in Belarus und Aserbaidschan ihre Visa nicht mehr
direkt bei der Einreise beantragen. Kasachstan verlangte zwischendurch ein persönliches Vorsprechen von
Antragsstellerinnen und Antragsstellern. Russland verschärfte die Bedingungen zur Visavergabe speziell für
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutsche. Anders als früher muss die Rückkehrwilligkeit
und Rückkehrfähigkeit belegt werden.
Nun gab es mehr als einen EU-Russland-Gipfel in
Brüssel, bei dem die Zielsetzung einer Visafreiheit von
beiden Seiten bestätigt wurde. Wenn man sich dann umhört, warum das nicht zu echten Aktivitäten führt, dann
hört man von Moskau bis nach Madrid: Deutschland
bremst. Das darf nicht sein.
In unserem Antrag haben wir die Initiative des OstAusschusses der Deutschen Wirtschaft gelobt, wobei wir
immer anmerken, dass sichergestellt werden muss, dass
nicht nur Vertreter von Wirtschaft und Wissenschaft,
sondern alle Menschen vereinfacht reisen können. Und
wir haben uns sehr über die positive Rückmeldung des
Ost-Ausschusses zu unserem Antrag gefreut. Dankesschreiben von Wirtschaftsverbänden bekommen wir ja
auch nicht alle Tage.
Natürlich sind die Vorschläge, die im Papier des OstAusschusses gemacht werden und die wir auch mit großer Übereinstimmung auf unserer gemeinsamen Anhörung am 30. September 2012 im Auswärtigen Ausschuss
diskutiert haben, richtig: Die desaströse Visasituation
muss schnell mit sofortigen Maßnahmen verbessert werden. Dazu gehört, die Anzahl der angeforderten Unterlagen drastisch zu reduzieren, das Einreichen von Kopien zu erlauben, auf persönliche Vorsprachen vielfach
zu verzichten, Onlineverfahren zu ermöglichen, ein Beschwerdemanagement einzuführen und vieles mehr.
Diese Verbesserungen dürfen aber nicht zur Erhöhung
der Gebühren genutzt werden. Dabei darf das Ziel einer
Visafreiheit nicht aus den Augen verloren, sondern muss
vorangetrieben werden.
Die Visazahlen der letzten Jahre zeigen den im europäischen Vergleich unfreundlichen Umgang Deutschlands mit Menschen, die zu uns kommen wollen:
Deutschland hat nur ein Drittel der Visa an Russinnen
und Russen ausgegeben, die Finnland ausgegeben hat:
350 000 im Vergleich zu 960 000. Die Anzahl der Mehrfachvisa blieb gering.
Es sind nicht nur die Antragstellerinnen und Antragsteller, denen das Leben durch die aktuelle Visapraxis
schwer gemacht wird. Konsulatsmitarbeiterinnen und
-mitarbeiter beklagen die aufwendige Bearbeitung der
Anträge. Universitäten, Verbände und Firmen innerhalb
Europas sehen sich in ihren Handlungsmöglichkeiten
eingeschränkt. Familien können einander nicht besuchen.
Zivilgesellschaftliche Kontakte sind kaum möglich - das
alles in einer Zeit, wo wir uns alle darüber einig sind,
dass das Reden miteinander, das Zuhören und das voneinander Lernen das Wichtigste ist, was Menschen aus
verschiedenen Ländern miteinander tun können.
Deswegen appellieren wir an Sie, Frau Merkel, an
die Bundesregierung, an die Bremserinnen und Bremser
aus der Innenpolitik. Das Ziel liegt so nah. Es gibt eine
Arbeitsgrundlage für gemeinsames Handeln in Europa,
dadurch sogar eine Verpflichtung, es gibt viel Willen und
viel Hoffnung auf allen Seiten. Ergreifen Sie die Hand,
die sich ausstreckt.
Wir protestieren: Schluss mit der menschenunwürdigen Behandlung unserer Nachbarinnen und Nachbarn.
Schluss mit den Ausreden, dem Hinhalten, dem Bremsen.
Wir wollen eine Visafreiheit, und ich glaube, eine große
Mehrheit der im internationalen Bereich vertretenen Abgeordneten des Bundestages will sie auch.
Man kann es der Fraktion der Linken nicht verdenken, dass es ihr eine gewisse Freude bereitet haben
muss, den Vorstoß des Ost-Ausschusses der Deutschen
Wirtschaft zur Visaliberalisierung hier in einem Antrag
vorzulegen. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft hatte das Thema Visaliberalisierung vor allem
vor dem Hintergrund der Verbesserung der wirtschaftlichen Kooperation auf seine Tagesordnung gesetzt. Die
Außenpolitiker von CDU und SPD folgten daraufhin
dem Druck aus dem Ost-Ausschuss mit dem altbekannten Motto: Und wenn du nicht mehr weiterweißt, dann
gründe einen Arbeitskreis. - Dieser tagte in steter Regelmäßigkeit und großer Gemeinsamkeit und hatte nur
einen Haken: Die gemeinsame Einsicht, dass eine geradezu paranoide Visapolitik, wie sie auf deutschen Konsulaten zum Teil gehandhabt wird, nicht mehr in die Zeit
von Globalisierung und einer weltoffenen Politik passt,
wurde von allen Außenpolitikern geteilt. Die Innenpolitiker beider großen Fraktionen blieben allerdings vollkommen unbeeindruckt und tauchten nicht einmal zu
den Sitzungen des Arbeitskreises auf. So verwundert es
nicht, dass sich die beiden Vorsitzenden des Arbeitskreises bislang in Schweigen gehüllt haben, was eine gemeinsame parlamentarische Initiative hinsichtlich der
Visaliberalisierung betrifft.
Beim Thema „Visa“ bricht in der deutschen Politik
fast der Angstschweiß aus. Der politische Coup, mit dem
die Union vor sieben Jahren den grünen Außenminister
und die rot-grüne Regierung ins Abseits manövrieren
wollte, indem man den drohenden Untergang Deutschlands heraufbeschwor, hat bis zum heutigen Tag seine
Spuren hinterlassen. Im Klartext bedeutet dies, dass in
den konsularischen Behörden das Innenministerium
quasi immer mit am Tisch sitzt. Aus Angst vor Konsequenzen und Anwürfen aus dem Innenministerium handeln Sachbearbeiter zu ihrem eigenen Schutz lieber restriktiv statt liberal. Den Schaden haben das Ansehen
Deutschlands und diejenigen, die im ganz normalen
Austausch mit unserem Land stehen: Geschäftsleute,
Studierende, Künstlerinnen und Künstler, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Familienangehörige.
In dieser Hinsicht ist der generelle Antrag, den die
Fraktion Die Linke vorgelegt hat, von seiner Intention
her richtig. Allerdings wirft er auch Fragen auf: Wie
möchte die Fraktion Die Linke begründen, dass zum
Beispiel Georgier oder Ukrainer Nutznießer einer gemeinsamen Liberalisierung werden sollen, Menschen
aus der bereits assoziierten Türkei in diesem Antrag
aber nicht erwähnt werden? Da ist offensichtlich bei
dem Wunsch, der Regierungskoalition eins auszuwischen, die unkritische Übernahme der Thesen des OstAusschusses der Deutschen Wirtschaft zu einer politiZu Protokoll gegebene Reden
Marieluise Beck ({0})
schen Falle geworden. Wir fragen außerdem: Warum
fehlt in diesem Antrag eigentlich das Kosovo, dessen
Bürgerinnen und Bürger als einziges Land des westlichen Balkan immer noch keine visafreie Einreise in den
Schengen-Raum möglich ist? Zufall oder Absicht? Bevor wir uns zu diesem Antrag verhalten, fordern wir in
dieser Angelegenheit Klarheit.
Es wird interfraktionell Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9191 in die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung stehen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP
wünschen die Federführung beim Innenausschuss, die
Fraktion Die Linke beim Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zunächst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dafür
haben die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die
Koalitionsfraktionen. Der Überweisungsvorschlag ist
abgelehnt.
Wir kommen jetzt zu dem Überweisungsvorschlag
von CDU/CSU und FDP, die Federführung beim Innenausschuss vorzusehen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen gibt es keine. Dann ist die
Überweisung so bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen beschlossen.
Tagesordnungspunkt 30:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer ({0}), Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Ilse Stöbe als Widerstandskämpferin im Auswärtigen Amt anerkennen
- Drucksache 17/7488 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Die Reden sind zu Protokoll genommen.
Historische Würdigungen erfordern oft eine sehr
komplexe und eingehende Betrachtung der Begleitumstände. Das gilt auch für den Fall von Ilse Stöbe. War
Ilse Stöbe eine Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus? Das ist möglich. Es gibt Hinweise darauf. Wir sollten das überprüfen, und wenn es sich bestätigt, dann sollten wir sie auch als solche anerkennen, als
die einzige Form nachholender Gerechtigkeit, die uns
noch möglich ist.
Aber eingehender prüfen müssen wir es doch. Wenn
eine Anerkennung als Widerstandskämpfer mehr sein
soll als subjektive Wertung, dann muss sie in Tat und
Motiv nachvollziehbar sein. Der vorliegende Antrag
macht es sich einfach, zu einfach. Auf welche Informationen stützt er sich? Ich will diese Kernaussagen konzentriert zusammenfassen: Erstens. Ilse Stöbe hat in der
Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes gearbeitet. Zweitens hat sie seit 1933 Informationen an die
Sowjetunion weitergeleitet. Drittens haben dazu Planungen des Überfalls auf die Sowjetunion gehört. Viertens wurde sie 1942 in Plötzensee hingerichtet.
Vieles spricht dafür, dass ihr Schicksal ein Ausweis
nationalsozialistischen Unrechts ist. Aber viele Fragen
bleiben unbeantwortet. Vor allem gilt das für die Frage
nach der Motivation. Ohne das Motiv besagen Handlungen und Tatsachen noch nichts über ihre moralische und
rechtliche Qualität. Diesen Zusammenhang gilt es zu
klären, um ein vollständiges Bild zu gewinnen. Im Auswärtigen Amt wird derzeit erörtert, ob Ilse Stöbe als Widerstandskämpferin zu würdigen ist. Wir sollten diesen
Prozess jetzt erst einmal abwarten und ihm nicht vorgreifen, im Sinne der Sachlichkeit und der Gerechtigkeit.
Zur Zeit des Nationalsozialismus haben sich in
Deutschland einige wenige Menschen als Einzelne oder
als kleine Gruppen gegen die übergroße Mehrheit gestellt. Diese Mehrheit war eine Mehrheit des Schweigens, des Duldens oder gar der aktiven Unterstützung
des menschenverachtenden Naziregimes. Schon deshalb
erforderte der Widerstand der wenigen ein großes Maß
an Mut und Entschlossenheit. Viele haben diesen Mut
mit Verhaftung und Folter, viele auch mit ihrem Leben
bezahlt.
An diese Menschen zu erinnern, ist unsere Pflicht, gerade wenn sie durch ihren Widerstand ihr Leben riskiert
oder gar verloren haben. Sie bilden eine wichtige Linie
der Tradition des Widerstands gegen die Unmenschlichkeit. Auf diese Tradition darf und will unsere Demokratie, darf Deutschland nicht verzichten.
Deshalb begrüße ich auch das Grundanliegen des
Antrags der Fraktion der Linken, Frau Ilse Stöbe als Widerstandskämpferin anzuerkennen. Sie hat ohne Zweifel
wichtigen Widerstand geleistet, unter anderem, indem
sie Informationen über die Pläne Hitlers für einen Angriff auf die Sowjetunion weitergab. Sie wurde deshalb
von der Gestapo verhaftet und auf grausame Weise ermordet.
Ilse Stöbe wird deshalb auch zu Recht in der Ausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Bendlerblock in Berlin genannt und geehrt. Insofern ist die
Grundforderung, ihren Widerstand öffentlich anzuerkennen, bereits erfüllt.
Die Antragsteller erwecken allerdings den Eindruck,
dass die Agententätigkeit von Frau Stöbe für die Sowjetunion bislang ein Hinderungsgrund gewesen ist, sie zu
ehren. Ich kann dazu nur feststellen, dass es zum Glück
nach dem Ende des Kalten Krieges ein breiter gesellschaftlicher Konsens in Deutschland ist, dass die Agententätigkeit gegen das nationalsozialistische Deutschland im Auftrag von Alliierten - also auch im Auftrag
der Sowjetunion - längst nicht mehr als ehrenrührig angesehen wird.
Zur Forderung der Antragsteller, Frau Stöbe auf die
Ehrentafel der Widerstandskämpfer im Auswärtigen Amt
aufzunehmen, kann ich hier in der ersten Lesung nicht
abschließend Stellung nehmen. Das ist in jedem Fall zu
prüfen. Das Auswärtige Amt will offenbar diese Prüfung
auch auf der Grundlage von Moskauer Dokumenten
vornehmen. Ich plädiere dafür, dass dies zügig geschieht.
In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Auswärtige Amt bereits Rudolf von
Schelihas auf seiner Erinnerungstafel gedenkt. Er war
der Vorgesetzte von Frau Stöbe im Auswärtigen Amt und
ist am 22. Dezember 1942 mit ihr gemeinsam von der
NS-Unrechtsjustiz abgeurteilt und in Berlin-Plötzensee
exekutiert worden.
Im Gegensatz zu ihm hat Ilse Stöbe keine überlebenden näheren Verwandten, die sich in der Bundesrepublik
für ihr Andenken hätten einsetzen können. Ihre Mutter
war ebenfalls von den Nazis im KZ Ravensbrück ermordet worden. Ihr Halbbruder wurde im Gefängnis Brandenburg-Görden hingerichtet.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eines betonen:
Wenn man zur Person Ilse Stöbe recherchiert, kommt
man auch nicht daran vorbei, dass die Staatssicherheit
in der DDR sie sehr in Ehren hielt als erfolgreiche Sowjetspionin. Die Tatsache, dass Ilse Stöbe von der Stasi
als „eine der ihren“ vereinnahmt wurde, sollte aber in
unseren Augen nichts an ihren tatsächlichen Verdiensten
ändern. Wir sollten uns nur gemeinsam darum bemühen,
dass nicht der falsche Eindruck entsteht, es solle hier an
eine unselige Tradition des Ministeriums für Staatssicherheit angeknüpft werden.
Denn die Stasi hat im Gegensatz zum wiedervereinigten Deutschland keineswegs alle Widerstandskämpfer
gleich geehrt. Im Gegenteil, in der DDR und auch in der
Sowjetunion wurden die meisten Vertreter des nichtkommunistischen Widerstands als Konterrevolutionäre
gebrandmarkt. Nur die Kommunisten galten dort als
„echte“ Widerstandskämpfer. So erkennt man gerade
am Umgang mit der eigenen Geschichte, wie fragwürdig
die Ideologie der SED und der Stasi war.
So geht es in unserer Debatte heute darum, allen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die Widerstand geleistet haben - unabhängig davon, ob es um Christen, Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten oder andere geht.
Ilse Stöbe wird zu Recht als Widerstandskämpferin geehrt, unabhängig von ihrer politischen Überzeugung.
Und das ist auch gut so.
Es ist eine unmissverständliche und unantastbare
Grundvoraussetzung für unseren gesellschaftlichen
Grundkonsens: Menschen, die gegen die Nazis aktiv waren, und diejenigen, die Opfer des Systems wurden, finden unsere Anerkennung, Ehrung und Würdigung. Dazu
gehört aber auch Umsichtigkeit und Genauigkeit, um
Pauschalehrungen zu unterlassen und den tatsächlichen
Opfern und Widerstandskämpfern zu gedenken. Sicherlich ist Ilse Stöbe eine Gegnerin und ein Opfer des unmenschlichen NS-Regimes gewesen. Sie hat wohl während ihrer Tätigkeit beim Auswärtigen Amt den Sowjets
Informationen zugespielt und wurde dafür von den Nazis
zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dennoch ist der
vorgelegte Antrag aus zwei Gründen abzulehnen.
Zum einen ist er schon inhaltlich konfus, unvollständig und zum Teil unrichtig. Bevor Ilse Stöbe von der
Bundesregierung in einem Festakt als verdiente Widerstandskämpferin gegen die Naziherrschaft geehrt werden kann, muss zweifelsfrei belegt sein, dass ihr Wirken
auch diese Auszeichnung verdient. Bislang gibt es nur
sehr spärliche und unvollständige Informationen über
das Leben von Ilse Stöbe sowie ihr Handeln und die genauen Beweggründe hierfür. Auch die Studie „Das Amt“
von 2010 beschäftigt sich nicht ausführlich mit ihr und
sagt keineswegs eindeutig, dass es „längst überfällig“
sei, Ilse Stöbe als Widerstandskämpferin zu ehren und
auf die Ehrentafel für verdiente Widerstandskämpfer im
Auswärtigen Amt zu setzen. Das Kapitel, in dem sie lediglich an wenigen Stellen genannt wird, beschäftigt
sich nur ausführlich mit dem Wirken von Rudolf
Scheliha und den Umständen um dessen Rehabilitierung
und Auszeichnung nach dem Krieg.
Im Zuge der Vergangenheitsaufarbeitung des Auswärtigen Amts wird dieses natürlich auch prüfen, inwieweit weitere verdiente frühere Mitarbeiter eine Ehrung
verdienen. Bezüglich Ilse Stöbe steht das Auswärtige
Amt derzeit auch in Kontakt mit entsprechenden Historikern, um mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Wenn
diese Untersuchungen mehr Erkenntnisse über das Leben und Wirken von Frau Stöbe ergeben und diese zu
dem Ergebnis kommen, dass sie als eine verdiente Widerstandskämpferin geehrt werden muss, dann wird das
Auswärtige Amt sich dem sicherlich nicht verwehren.
Aber dazu bedarf es ausführlicher Recherche und weiterer gesicherter Fakten. Ein Antrag mit vielen unbelegten
Behauptungen reicht dafür nicht aus.
Ganz abgesehen davon kann der Antrag auch deshalb
nur abgelehnt werden, weil die Linke damit in Wirklichkeit wieder einmal ihre ideologische Linie untermauern
will, wenn es um die Aufarbeitung der Gewaltherrschaften in der deutschen Geschichte geht. Es drängt sich erneut der Eindruck auf, dass es ihr nicht so sehr um die
Person Ilse Stöbe geht, sondern vielmehr darum, die Legende zu befeuern, dass kommunistische Widerstandskämpfer bei der Aufarbeitung des NS-Unrechts bei Ehrungen systematisch ignoriert worden seien. Dass noch
immer Anträge mit solch klassenkämpferischem Duktus
eingebracht werden, zeigt das verfahrene Weltbild der
Linken. Sicherlich: Bei der Aufarbeitung der NS-Diktatur wurden in Westdeutschland Fehler begangen, die
aber nach und nach - zuletzt auch durch die Studie „Das
Amt“ - erkannt und bestmöglich angegangen worden
sind. Mit den antikommunistischen, paranoiden Verschwörungstheorien leistet die Linke sicherlich keinen
Beitrag zu einer nachhaltigen Aufarbeitungskultur. Im
Gegenteil zeigt die Partei gerade bei der Aufarbeitung
des DDR-Unrechts, dass sie einer Kultur des Vergessens
das Wort reden will. Es wäre wünschenswert, wenn die
Linke auch bei der Identifizierung und Ehrung von Widerstandskämpfern gegen das SED-Regime den gleichen
Zu Protokoll gegebene Reden
Patrick Kurth ({0})
Eifer an den Tag legen würde. Dies ist aber schon deshalb nicht zu erwarten, weil sie in ihren Reihen dabei
nicht fündig werden würde.
Diese Bundesregierung geht bei der Aufarbeitung der
eigenen Vergangenheit einen sehr guten Weg. Dazu gehört nicht nur die Aufdeckung von bisher unbekannten
Verflechtungen, sondern zweifelsfrei auch die Ehrung
bisher unberücksichtigter verdienter Kämpfer gegen das
NS-Regime. Dies wird mit der notwendigen Sorgfalt und
ohne jegliche ideologische Aufgeregtheiten erforscht
und umgesetzt.
Der im Antrag von meiner Fraktion beschriebene
Wunsch, dass Ilse Stöbe als Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus nun endlich Anerkennung
findet, ist mir ein sehr wichtiges Anliegen. Deswegen hat
es mich auch besonders gefreut, dass das Auswärtige
Amt bereits zugesagt hat, eine Aufnahme Stöbes in die
berühmte Galerie der Widerstandskämpfer zu prüfen.
Die Notwendigkeit, sich dieser Angelegenheit endlich
anzunehmen, wurde mir erneut bewusst, als ich den Bericht der Historikerkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amts las. An dieser Stelle möchte ich betonen,
dass ich - bei allen möglichen Differenzen in den Reihen
der Historiker - den Bericht der Autoren Conze, Frei,
Hayes und Zimmermann für eine große und notwendige
Leistung halte. Am Ende der Abhandlung über den langen juristischen Kampf der Familie Scheliha für dessen
Anerkennung als Widerstandskämpfer heißt es auf Seite
569: „Ilse Stöbe, Schelihas Mitarbeiterin in der Informationsabteilung, die am gleichen Tag mit ihm verurteilt
und in Plötzensee hingerichtet wurde, fehlt nach wie vor
auf der Tafel. Sie hatte keine Verwandten mehr, die sich
für sie einsetzen konnten, ihre Mutter war in Ravensbrück ermordet, ihr Halbruder in Brandenburg-Görden
hingerichtet worden.“ Dazu muss man erwähnen, dass
beide sich sowohl politisch gegen die Nazis im Widerstand engagierten als auch untergetauchten Juden halfen.
Den Beitrag Ilse Stöbes für den Widerstand gegen den
Nationalsozialismus und ihr Leben haben wir in unserem Antrag kurz skizziert. Angeregt durch Rudolf
Herrnstadt gab Ilse Stöbe Informationen an den sowjetischen Geheimdienst GRU weiter, in den Jahren 1940
und 1941 auch aus dem Auswärtigen Amt heraus, wo sie
- auch das ist inzwischen nachgewiesen - ordentlich angestellt gewesen ist. Im September 1942 wurde sie im
Rahmen der Gestapo-Aktionen gegen die von der Gestapo sogenannte Rote Kapelle verhaftet. Der einzige
Zusammenhang zwischen Stöbe, Herrnstadt, Scheliha
und der Roten Kapelle war jedoch, dass sie zum gleichen Funker Kontakt hatten. Die Hinrichtung Ilse
Stöbes erfolgte am 22. Dezember 1942 durch das Fallbeil in Plötzensee.
Wir haben das vergangene Jahr genutzt, um alle vorhandenen Informationen zu Ilse Stöbe zusammenzutragen. In dem Artikel „Rote Nelken für Alta“ - das war
Ilse Stöbes Deckname beim sowjetischen Geheimdienst
GRU -, steht, was Ilse Stöbe Ende Februar 1941 an die
Zentrale des GRU mitteilte: „Die Vorbereitungen zu einem Krieg gegen die UdSSR sind schon weit gediehen.
… Es werden drei Armeegruppen unter der Führung der
Feldmarschälle Bock, Rundstedt und Leeb gebildet. …
Als Termin für den Angriff muss man mit dem 20. Mai
rechnen.“ Auch wenn der schreckliche Angriff, der als
Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion in die
Geschichte einging, dann erst am 22.Juni begann, zeigt
sich, mit welchen präzisen Informationen Ilse Stöbe versuchte, die sowjetische Führung zu warnen. Sie tat dies
aus der inneren Überzeugung heraus, dass es die einzige
Möglichkeit sei, dem faschistischen Deutschland Einhalt
zu gebieten und bezahlte dies, wie so viele andere, mit
ihrem Leben. Ilse Stöbe hat keine Familie mehr, die für
ihre Anerkennung kämpfen kann. Deswegen haben wir
diesen Antrag hier im Parlament eingereicht.
Dazu kommt: Ilse Stöbe entstammte einer Arbeiterfamilie aus Lichtenberg, und sie ist eine Frau, die ihre Widerstandstätigkeit zwar in Zusammenarbeit mit Männern, aber doch eigenständig organisierte.
Alle drei Umstände mögen dazu beigetragen haben,
dass sie bisher nicht geehrt wurde. Die Autorin Sabine
Kebir konstatiert außerdem einen Zusammenhang zu
den dominanten Deutungsmustern in Bezug auf die eigene Geschichte in beiden deutschen Staaten. Sie meint,
dass es nie zu einer Anerkennung des Lebenswerkes von
Ilse Stöbe kam, weil sie in der Bundesrepublik als Kommunistin diskreditiert war. Dabei bestand ihr Widerstandsnetzwerk keinesfalls nur aus Kommunisten, wie
die enge Zusammenarbeit mit Scheliha zeigt.
In der DDR erfuhr Ilse Stöbe zwar Ehrungen; eine
Zeit lang war eine Schule in Berlin-Lichtenberg nach ihr
benannt. Aber man scheute sich doch, ihr Lebensbild in
die Öffentlichkeit zu bringen. Gewichtiger Grund hierfür war ihre Verbindung zu Rudolf Herrnstadt, der nach
seinem Sturz als Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ am 17. Juni 1953 zur Unperson wurde.
Es scheint, als sei der Moment gekommen, in dem all
die genannten Widerstände überwunden werden könnten. Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag, um
der überfälligen Ehrung Ilse Stöbes durch den Deutschen Bundestag Nachdruck zu verleihen.
Die Aufarbeitung der deutschen Geschichte und der
wahrhaftige Umgang mit den Verbrechen der Nazizeit
gehören zu den Grundlagen unserer Gesellschaft, unseres Staates und unserer Politik.
Dagegen lag lange Jahre ein Schleier des Schweigens
über der Rolle der deutschen Ministerien im Holocaust;
insbesondere die Rolle des Auswärtigen Amtes war unklar bis verklärt. Das änderte sich, als der grüne Außenminister Joschka Fischer im Rahmen der sogenannten
Nachrufdebatte eine Studie in Auftrag gab, die die Vergangenheit des Amtes aufarbeiten sollte. Die Studie
wurde unter dem Titel „Das Amt“ veröffentlicht. Außenminister Fischer war durch einen Brief der ehemaligen
Mitarbeiterin des Auswärtigen Amtes, Marga Henseler,
Zu Protokoll gegebene Reden
Kerstin Müller ({0})
darauf aufmerksam geworden, dass Diplomaten mit Nazivergangenheit immer noch im Amt mit Nachrufen geehrt würden.
Die Studie brachte erschreckende Fakten über die aktive Mitverantwortung des Auswärtigen Amtes an der
Vernichtung der Juden zutage. Spätestens seitdem ist die
These, das Auswärtige Amt sei nur „Mitläufer“ gewesen, obsolet. In diesem Kontext bewirkte Außenminister
Joschka Fischer außerdem, dass Fritz Kolbe 2004 als
Widerstandskämpfer anerkannt und auf der Gedenktafel
im Auswärtigen Amt geehrt wurde.
Nun fordert die Linke in ihrem Antrag, der uns heute
vorliegt, dass Ilse Stöbe auf die Ehrentafel der Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer im Auswärtigen Amt aufgenommen wird. Sie war Mitarbeiterin
in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amts und
wurde am 22. Dezember 1942 im Rahmen der Aktion
„Rote Kapelle“ von den Nazis hingerichtet.
Wir unterstützen dieses Ansinnen auf der ganzen Linie. Die Erkenntnisse der Studie „Das Amt“ über Ilse
Stöbe stützen die Forderung, und die Autoren bemängeln, dass sie nicht auf der Ehrentafel steht. Auf Seite
569 heißt es: „Ilse Stöbe, Schelihas Mitarbeiterin in der
Informationsabteilung, die am gleichen Tag mit ihm verurteilt und in Plötzensee hingerichtet wurde, fehlt nach
wie vor auf der Tafel. Sie hatte keine Verwandten mehr,
die sich für sie einsetzen konnten, ihre Mutter war in Ravensbrück ermordet, ihr Halbruder in BrandenburgGörden hingerichtet worden.“
Mehrere Historikergruppen unterschiedlicher Forschungseinrichtungen prüfen den Fall intensiv. Wir gehen fest davon aus, dass sie im Ergebnis empfehlen werden, Ilse Stöbe zu ehren.
Ich möchte aber noch auf zwei weitere Punkte eingehen, die mir wichtig sind:
Erstens. Die Panzerschränke müssen geöffnet werden. Joschka Fischers Ansinnen - und das unterstreichen wir nach wie vor - war die lückenlose Aufarbeitung der Geschichte des Amts. Wenn nun die Autoren der
Studie „Das Amt“ in der FAZ vom 5. Mai 2012 beklagen, dass das politische Archiv des Amts die Forschungsarbeit behindere, kann etwas nicht stimmen. Die
Autoren sprechen von vernichteten Akten, verschwundenen Dokumenten und Beitrag zur Vertuschung. Es muss
endlich freien und ungehinderten Zugang für unabhängige Forscher zum Politischen Archiv geben. Hier muss
sich die historisch-politische Kultur des Archivs des
Auswärtigen Amts ändern. Transparenz sollte selbstverständlich zum Ethos des Archivs geworden sein.
Zweitens. Wir sollten über eine veränderte Gedenkund Ehrenpraxis nachdenken. Ilse Stöbe war Widerstandskämpferin. Dafür muss sie geehrt werden. Aber
Ilse Stöbe war auch das Opfer eines verbrecherischen
Regimes, gegen das sie sich in Ausübung ihrer Tätigkeit
auflehnte. Im Auswärtigen Amt gab es viele Opfer des
Nationalsozialismus. Es gab jüdische Diplomaten und
homosexuelle Diplomaten, die verfolgt und getötet wurden. Ihrer muss ebenfalls gedacht werden.
Ich würde mir wünschen, dass ein modernes Geschichtsverständnis endlich auch zur dezidierten Hauspolitik des Auswärtigen Amts wird.
Es wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache
17/7488 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie wiederum einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung. Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen
Einsichten.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 11. Mai 2012, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.