Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/27/2012

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Der Zusatzpunkt 7, die von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP verlangte Aktuelle Stunde mit dem Titel „Konjunkturprognose bestätigt: Deutschland weiterhin im Aufschwung“, wird heute abgesetzt. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union - Drucksache 17/8682 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 17/9436 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({1}) Memet Kilic b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Kolbe ({3}), Rüdiger Veit, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Programm zur Unterstützung der Sicherung des Fachkräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts - zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fachkräfteeinwanderung durch ein Punktesystem regeln - Drucksachen 17/9029, 17/3862, 17/9436 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff ({4}) Memet Kilic Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch das beschlossen. Dann eröffne ich jetzt die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich das Wort. ({5})

Dr. Hans Peter Friedrich (Minister:in)

Politiker ID: 11003124

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch niemals zuvor waren so viele Menschen in Deutschland in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Die Wirtschaft in unserem Lande ist - trotz des schwierigen konjunkturellen und gesamtwirtschaftlichen Umfelds in der Welt und in Europa - leistungs- und wettbewerbsfähig. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass das so bleibt. Da gibt es eine Reihe von Herausforderungen. Eine davon hat in dieser Woche eine besondere Rolle gespielt, auch bei der Kabinettssitzung: die demografische Entwicklung. Die Menschen in Deutschland werden weniger, vor allem die jungen Menschen werden weniger. Ein Rückgang der Zahl der Auszubildenden und Studenten heute bedeutet weniger Fachkräfte morgen. Wir brauchen Fachkräfte: Schon heute haben wir in einigen Bereichen die Situation, dass sich der Fachkräftemangel wachstumshemmend auswirkt. Deswegen hat sich die in dieser Woche vorgestellte Demografiestrategie auch mit der Frage beschäftigt: Wie können wir unter diesen Bedingungen die Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufrechterhalten? Wichtigste Antwort: indem wir dafür sorgen, dass sich die Menschen entfalten können, dass das Potenzial, das wir im Lande haben, ausgeschöpft wird. Ich glaube, da sind wir alle in diesem Haus uns einig: Die Bildung unserer jungen Menschen, die Fort- und Weiterbildung, die Gestaltung einer Arbeitswelt, in der sich jeder optimal nach seinen persönlichen Möglichkeiten einbringen kann, das ist die wichtigste Antwort überhaupt. ({0}) Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Menschen in diesem Lande einbringen können, auch in die Gestaltung der Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft. ({1}) Zweitens. Deutschland ist attraktiv, als Land, als Lebensstandort, als Arbeitsmarkt, attraktiv für viele junge Menschen in Europa. Wir haben in Europa eine durchaus heterogene Situation: Die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien liegt über 45 Prozent, in Italien liegt sie über 35 Prozent. In anderen Ländern, zum Beispiel Portugal, gibt es viele Hochschulabsolventen, die nach Arbeitsstellen, nach angemessener Beschäftigung suchen. Denen sagen wir: Wir müssen Europa als eine gemeinsame Einheit sehen. Es muss innerhalb Europas selbstverständlich sein, von einem Land zum anderen zu ziehen, so wie es heute selbstverständlich ist, in Deutschland von einem Bundesland zum nächsten zu ziehen. Diese Möglichkeit müssen wir schaffen und attraktiv halten. Ich bin sehr froh, dass sich sowohl die Bundesanstalt für Arbeit, Frau Kollegin von der Leyen, als auch die Arbeitgeberverbände sehr bemühen, insbesondere den jungen, qualifizierten Menschen überall in Europa zu sagen: Ihr werdet gebraucht. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass unser Euro, dass das Euro-Land wettbewerbsfähig bleibt. Jeder junge Mann und jede junge Frau, der oder die sich in Deutschland in den Arbeitsmarkt einbringen kann, statt in Italien arbeitslos zu sein, ist eine Entlastung für den Euro, ist ein Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit Euro-Lands. Drittens. Deutschland ist immer schon ein weltoffenes Land gewesen. Wir sind Exportweltmeister, keine Frage. Handel und Wandel rund um den Globus, das ist schon immer - man kann fast sagen: seit Jahrhunderten deutsches Prinzip gewesen. Es ist normal, dass junge, qualifizierte Menschen aus Deutschland ihr Glück in der Welt suchen. Von Kanada bis Australien gibt es deutsche Männer und Frauen, die ihr Glück suchen, und sie finden es auch. Umgekehrt wird es immer junge und auch alte Menschen geben, die ihr Glück in Europa, in Deutschland suchen wollen. Deswegen ist es notwendig und richtig, dass wir uns um das Thema Bevölkerungswanderung in der Welt kümmern. Heute geht es um die Frage: Wie gewinnen wir für unser Land die Hochqualifizierten, die wir brauchen? Was können wir dafür tun, damit sie zu uns kommen? Erstens. Wir müssen sicherstellen, dass sie qualifiziert sind, also leistungsfähig, und dass sie auch Leistung bringen wollen. Zweitens. Wir müssen für attraktive Bedingungen für ihre Lebensgestaltung sorgen, damit sie zu uns kommen wollen. Deswegen kommt in der Umsetzung der Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union, die wir heute beraten, deutlich zum Ausdruck: Wenn jemand 45 000 Euro Gehalt geboten bekommt, dann ist das zum einen ein klares Zeichen dafür, dass er von einem Arbeitgeber gebraucht wird, und zum anderen, dass er leistungsfähig ist; denn sonst würde man ihm ein solches Angebot nicht machen. Bei Mangelberufen geht man sogar von einem geringeren Mindestlohn von 35 000 Euro aus, wobei das nicht heißt, dass dieser Mindestlohn der Preis ist, zu dem Ingenieure und Ärzte zu uns kommen, sondern es ist eine in der Richtlinie festgelegte Untergrenze; ich glaube, das muss man dazusagen. Was bieten wir den jungen Menschen, die zu uns kommen? Wir bieten ihnen nach drei Jahren - bei guter Integration nach zwei Jahren - eine unbefristete Niederlassungserlaubnis in Deutschland. Wir bieten ihnen - das ist in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen -, dass sie ihre Familien, ihre Frauen, ihre Männer, ihre Kinder, mitbringen können. Ich glaube, das ist ein wichtiges Kriterium. ({2}) Ein Ingenieur aus Indien hat keine Lust, seine Kinder zurückzulassen und alleine nach Deutschland zu kommen. Deshalb müssen wir ihm eine entsprechende Perspektive bieten. Auch das ist im Gesetz vorgesehen. Wir haben im Gesetz also folgenden Dreiklang für Deutschland vorgesehen: Geringqualifizierte erhalten eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Hochqualifizierte erhalten nach drei Jahren, manche nach zwei Jahren, ein Aufenthaltsrecht und Niederlassungsrecht. Höchstqualifizierte - also Nobelpreisträger - unterliegen keinen Einschränkungen; sie erhalten sofort die unbefristete Niederlassungserlaubnis. ({3}) Ich komme zu Ihren Anträgen, die sich mit dem Punktesystem auseinandersetzen. Welche Systematik hat das Gesetz, welche Systematik hat unser Ansatz? Wir sagen: Du kannst kommen, wenn du einen konkreten Arbeitsplatz in Aussicht hast. - Mit dem Punktesystem, das viele Experten diskutieren und loben und das in vielen Ländern funktioniert, verfolgt man einen anderen Ansatz: Wir holen Menschen, die bestimmte Eigenschaften haben, und geben ihnen für diese Eigenschaften Punkte. Die Frage ist, nach welchen Kriterien das geschieht. Ich habe gelernt: Es gibt eine zentrale Planungskommission, die diese Kriterien festlegen soll. Wenn die Menschen die Punkte haben, dann kommen sie. Die in dieser Woche behandelte Demografiestrategie zeigt aber, dass das nicht bedeutet, dass die Menschen da hingehen, wo wir sie zwingend brauchen. Sie steigen erst einmal in München, Stuttgart oder Frankfurt aus dem Flugzeug, und dann ist noch lange nicht gesichert, dass sie im Erzgebirge, im Bayerischen Wald oder im Harz, wo sie in den mittelständischen Unternehmen gebraucht werden, ankommen. Deswegen ist für uns der entscheidende Ansatz: Für die Möglichkeit, hierherzukommen, muss ein konkreter Arbeitsplatz mit einem bestimmten Mindesteinkommen nachgewiesen werden. Wir steuern die Zuwanderung nach Deutschland also nicht durch eine zentrale Planungskommission, sondern jeder Arbeitgeber, jeder, der einen Betrieb unterhält und Fachkräfte braucht, hat die Möglichkeit, diese Leute zu holen. ({4}) Das bedeutet natürlich nicht, dass der Mittelständler nur in der Welt herumfährt, zum Beispiel nach Ägypten oder Indien, und nach Ingenieuren sucht, sondern das muss durch die Wirtschaft, die über ihre Verbände viele internationale Kontakte hat, organisiert werden. Zudem wollen wir die Möglichkeit schaffen, dass junge Männer und Frauen - damit sie nicht mit einem Drei-MonatsTouristenvisum hier herumfahren und nach einem Arbeitsplatz suchen müssen - ein halbes Jahr Zeit haben, zu schauen, ob sie in diesem Land gebraucht werden bzw. ob ihnen jemand ein Angebot macht und bereit ist, für das, was sie bieten und leisten können, 45 000 Euro zu zahlen. Es ist also ein sechsmonatiges Visum zur Arbeitsuche vorgesehen. Auch das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt in diesem Gesetz. ({5}) Ich komme zum letzten Punkt: Hochschulabsolventen. Wenn jemand in Deutschland mit deutschen Steuergeldern eine Universität besucht hat, dort ausgebildet wurde, gut integriert ist, Deutsch kann und einen Hochschulabschluss hat, müssten wir verrückt sein, wenn wir dem sagen würden: Jetzt gehst du aber bitte wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist. Vielmehr brauchen wir diese Leute. Wir wollen sie für unseren Arbeitsmarkt auch haben. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir in diesem Gesetz auch Erleichterungen für diejenigen vorsehen, die hier studiert und ihren Abschluss gemacht haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt geht es jetzt darum, dass auch die Arbeitgeber aktiv werden. Die Zeiten sind vorbei, in denen man alles auf dem Silbertablett geliefert bekam. Vielmehr muss man etwas tun. Man muss sich darum kümmern, dass man die Menschen, die man für seinen Betrieb, für sein Unternehmen braucht, auch bekommt. Wir schaffen die rechtlichen Voraussetzungen bzw. den Rahmen dafür. Ich denke, dass das ein guter Ansatz ist, und ich hoffe, dass dieses Gesetz hier mit großer Mehrheit angenommen wird. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Daniela Kolbe von der SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Fachkräftesicherung auch durch Zuwanderung, das ist ein immer wichtiger werdendes Thema für unsere Volkswirtschaft. Das hat auch die Koalition erkannt. Dazu erst einmal herzlichen Glückwunsch - und fast noch mehr dazu, dass Sie sich bei diesem Thema tatsächlich zusammengerauft haben. Zur Ehrlichkeit gehört aber dazu, dass Sie erst durch die Bluecard-Richtlinie der Europäischen Union zum Handeln gezwungen worden sind. Sie haben Anfang März mit einem Jahr Verspätung ein Gesetz zur Umsetzung vorgelegt. Man kann sagen: Die Europäische Union hat hier ein gutes Werk getan und Schwarz-Gelb zum Jagen getragen. ({0}) Ein Teil des Lobes geht also an die Europäische Union. Wenn man den Gesetzentwurf, der hier am 1. März beraten worden ist, mit dem heute hier vorgelegten Gesetzentwurf vergleicht, kann man sagen: Glücklicherweise hat das Struck’sche Gesetz Wirkung gezeigt. Das Struck’sche Gesetz - für die, die es nicht kennen - lautet: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es in ihn hineingekommen ist. Das hat dem Entwurf wirklich gutgetan. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist ein anderer und besserer als der vom 1. März. ({1}) Bevor ich zum Gesetz selber komme, erwähne ich einen mindestens genauso wichtigen, wenn nicht sogar noch wichtigeren Aspekt: Es lohnt sich, die Wirkmächtigkeit dieses Gesetzes anzuschauen und sie einzuschätzen. Was kann ein solches Gesetz beitragen, um den Fachkräftemangel in unserem Land wirklich abzumildern? Wenn man Herrn Friedrich zuhört, hat man den Eindruck, dass die gutqualifizierten Fachkräfte draußen vor dem Tor stehen und nur warten, dass die Bundesregierung endlich ein Gesetz einbringt, damit sie alle zu uns kommen können. Ich meine, dass die Erwartungen, die die Bundesregierung weckt, deutlich überzogen sind. Die Änderungen des bestehenden Zuwanderungsgesetzes sind moderat. Sie sind zum Großteil wirklich begrüßenswert, aber eine Revolution ist das beileibe nicht. Um einem Fachkräftemangel vorzubeugen, wäre es wichtig, die Potenziale, die wir im Lande haben, zu heben, zum Beispiel im Bereich des Bildungssystems. Herr Friedrich, Sie haben dieses Thema zwar angesprochen, aber auf Aktivitäten, die dazu beitragen, dass in diesem Land wirklich jeder einen Schulabschluss macht, gegebenenfalls im zweiten oder dritten Anlauf, müssen wir lange warten. Im Gegenteil: Sie marschieren in die andere Richtung. Daniela Kolbe ({2}) Zur Vorbeugung eines Fachkräftemangels gehört auch, die Potenziale der hier lebenden Migrantinnen und Migranten in den Blick zu nehmen. Man darf nicht immer nur auf die gut Ausgebildeten im Ausland schielen. ({3}) Auch in dieser Hinsicht gilt bei Ihnen bisher: komplette Fehlanzeige. ({4}) Noch wichtiger ist Folgendes: Wenn das Gesetz Wirkung entfalten soll, wenn Hochqualifizierte wirklich nach Deutschland zuwandern sollen, dann brauchen wir eine lebendige Willkommenskultur. Das wird auch von Ihnen häufig angesprochen. ({5}) Zu einer Willkommenskultur gehört aber mehr als ein Sektempfang für die neue Kollegin aus Kanada. Aufgrund dieses Gesetzes sollen Menschen aus der ganzen Welt zu uns kommen. Eine Willkommenskultur wäre eine Kultur, die Vielfalt als Bereicherung begreift, eine Kultur, die Einwanderung als Bereicherung begreift, und zwar unabhängig von der ökonomischen Verwertbarkeit der Menschen, die zu uns kommen. Dabei geht es zum Beispiel auch um die Familienangehörigen. Es bedarf einer Kultur, die Andersartigkeit als gleichwertig begreift. ({6}) Es bedarf einer Kultur weit ab von jeder Leitkulturdebatte. „Willkommenskultur“, das ist ein Wort, das gerade Sie sehr häufig im Munde führen. ({7}) Wir werden das in der heutigen Debatte von Ihrer Seite noch häufig zu hören bekommen. ({8}) Ehrlich gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: Damit geben Sie wirklich ein reichlich schräges Bild ab. Hier hören wir Willkommenskulturforderungen en masse. Auf der anderen Seite haben wir einen Herrn Kauder, der über den Islam dampfplaudert, dass man vor lauter Kopfschütteln ein Schleudertrauma bekommt, ({9}) und einen Innenminister, der uns jenseits aller Fakten erklärt, wie schlimm die muslimische Jugend sei, und als Wahlkampfhilfe für Sarkozy gleich die europäischen Grenzen innen und außen dichtmachen will. Hinzu kommen unsägliche Debatten über die doppelte Staatsangehörigkeit. ({10}) Das ist absurdes Theater, das hier zur Aufführung kommt. ({11}) Das Klima, das die Bundesregierung produziert, schadet der Sache viel mehr, als drei solcher Gesetze wiedergutmachen können. Ich finde, Herr Friedrich alleine schadet der Sache mehr, als es dieses Gesetz gutmachen kann. Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften nach Deutschland ist längst kein Selbstläufer mehr. Die gutqualifizierten Menschen entscheiden selbst, ob sie nach Deutschland kommen wollen. Max Frisch sagte einst, als wir schon einmal Fachkräfte nach Deutschland gerufen haben, den wunderbaren und emotionalen Satz: Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen. - Wenn aus diesem Satz nicht werden soll: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kam niemand“, dann haben gerade Ihre Parteien noch ein ganz schön großes Stück Arbeit vor sich. ({12}) Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der sich seit der ersten Lesung verbessert hat. Es freut uns, dass der Gesetzentwurf sich ein ganzes Stück dem SPD-Antrag genähert hat. ({13}) Der Gesetzentwurf sieht vor, die Situation für Bildungsausländer, gerade für Studierende aus Drittstaaten und Azubis, zu verbessern ({14}) - natürlich; lesen Sie unseren Antrag - und ihre Arbeitsuche in Deutschland zu erleichtern. Grundsätzlich positiv ist, dass eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche eingeführt wird. Wir hätten gerne ein Punktesystem zur Zuwanderung eingeführt bzw. ein entsprechendes Modellprojekt aufgelegt, weil ein solches Modell aus anderen Ländern bekannt ({15}) und potenziellen Zuwanderern daher leichter zu vermitteln ist. Ein solches Modell sendet das ganz klare Signal aus, dass wir Einwanderung wollen. Die von Ihnen vorgesehene Erlaubnis zur Arbeitsuche ist aber ein Schritt in die richtige Richtung. Ausdrücklich loben möchte ich, dass Sie einen ganz pragmatischen Vorschlag aus unserem Antrag übernommen haben, nämlich dass ein Antrag auf Vorrangprüfung für einen Arbeitnehmer, der bereits einen Arbeitsplatz in Deutschland gefunden hat, nach einer gewissen Zeit als genehmigt gilt, Daniela Kolbe ({16}) ({17}) auch wenn die zuständige Behörde noch nicht beschieden hat. Genau diese Prüfung ist in der Tat für viele Unternehmen und viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein ganz langwieriges Prozedere, das sie nicht einschätzen können. Daher stellt sie ein großes Hindernis bei der Zuwanderung dar. Diese Entscheidungsfiktion ist richtig. Sie setzen dafür einen Zeitraum von zwei Wochen an. Das ist aus unserer Sicht allerdings ein wenig zu kurz. Insgesamt haben wir also relativ viel Übereinstimmung hinsichtlich des Gesetzentwurfs. In einem Punkt widersprechen wir aber, und dieser betrifft das Herz Ihres Gesetzentwurfs: die Umsetzung der Bluecard-Richtlinie. Es geht um die Frage, wie viel ein Zuwanderer mindestens verdienen muss, um eine Bluecard zu erhalten. Für Mangelberufe schlägt die Bundesregierung eine Schwelle von etwa 34 000 Euro Jahresverdienst vor. Da können wir aus zwei Gründen nicht mitgehen: Erstens ist dies europarechtswidrig niedrig. Ich habe das in der ersten Lesung hier vorgetragen, und in der Anhörung wurde dem wenig Stichhaltiges entgegengesetzt. Ich möchte uns warnen, ein Gesetz, das möglicherweise europarechtswidrig ist, zu verabschieden. Zweitens ist diese Schwelle arbeitsmarktpolitisch zu niedrig. Wir sprechen über Fachkräfte, über Ingenieure, über Physikerinnen und Physiker, über Mathematikerinnen und Mathematiker. 34 000 Euro Jahresgehalt bedeutet in diesen Branchen auch für Berufseinsteiger Lohndumping. Zum Vergleich: Das Einstiegsjahresgehalt im öffentlichen Dienst beträgt in TVöD 13 etwa 40 000 Euro. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Die SPD will qualifizierte Zuwanderung, aber wir wollen kein Lohndumping. ({18}) Ich fasse zusammen: Der Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. Er enthält viele positive Aspekte. Die angesetzte Mindestverdienstgrenze halten wir jedoch politisch und rechtlich für zu niedrig angesetzt. Deshalb werden wir uns in der Abstimmung über den Gesetzentwurf enthalten. Damit dieses Gesetz, dem wir in der Grundintention zustimmen, wirklich wirkt, damit also qualifizierte Menschen nach Deutschland kommen, muss sich an ganz anderer Stelle etwas ändern. Zugewanderte müssen wissen, dass sie - das muss gelebte Realität sein - in deutschen Unternehmen, Behörden und auf der Straße erwünscht und willkommen sind und wertgeschätzt werden. Bis wir diese Haltung durchgesetzt haben, ist es noch ein weiter Weg, gerade für diese Koalition. Vielen Dank. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Volker Kauder.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kolbe, Sie hatten wohl den Eindruck, Sie müssten eine Aussage von mir in einer Art und Weise qualifizieren, die ich in aller Form zurückweise. Bevor Sie eine solche Qualifizierung vornehmen, sollten Sie einmal ein bisschen nachdenken. ({0}) Ich habe wörtlich gesagt, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, dass aber Muslime zu Deutschland gehören. ({1}) Diese Aussage wurde von prominenten Personen unterstützt, die Sie ebenfalls der Dampfplauderei bezeichnen, obwohl sie geistig wahrscheinlich schon mehr geleistet haben, als Sie aufgrund Ihres Alters bisher leisten konnten. ({2}) - Sie alle sollten die neueste Ausgabe von Cicero lesen, in der sehr schön beschrieben wird, dass es in dieser Republik einige gibt, die meinen, wir seien eine Rechthaberrepublik. ({3}) Ich habe das Recht, meine Meinung klar und deutlich zu formulieren. Jetzt möchte ich noch etwas sagen, und zwar in aller Ruhe. Wissen Sie, auch das zeichnet Leute, die so argumentieren wie Sie, aus: Sie nehmen für sich in Anspruch, die Wahrheit zu sagen, aber hören anderen gar nicht mehr zu. Das ist nicht in Ordnung; das muss man einmal klar und deutlich sagen. ({4}) Meine Aussage wurde von Martin Mosebach, Dampfplauderer, Monika Maron, Dampfplauderer, und Heiner Geißler unterstützt. ({5}) Dass die Zustimmung in der Bevölkerung riesengroß ist, wird Sie wahrscheinlich nicht erstaunen. Ich möchte trotzdem noch einmal klar und deutlich sagen: Dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, hat etwas mit Tradition und Identitätsbildung in diesem Land zu tun. Die Menschen gehören zu uns. Von dieser Aussage habe ich nichts zurückzunehmen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung, bitte, Frau Kolbe.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege Kauder, nichts liegt mir ferner, als Ihnen Ihr Recht auf freie Meinungsäußerung zu nehmen. Ich nehme mir jedoch das Recht heraus - auch in meinem jungen Alter, auf das ich sehr stolz bin -, ({0}) Sie darauf hinzuweisen, dass Ihre Aussagen natürlich auch eine Wirkung entfalten. Sie können sagen, was Sie wollen. Aber: Sie sind Vorsitzender einer großen - leider der größten - Fraktion dieses Hauses. Sie haben mit Ihren Aussagen einen gravierenden Einfluss auf die Stimmung in diesem Land, auf das Zusammenleben in diesem Land. Ich möchte diesen Hinweis auch an Herrn Friedrich adressieren, der im Hinblick auf die Studie zu jungen Muslimen in diesem Land Aussagen getroffen hat, die für unser Zusammenleben schädlich sind. ({1}) Das ist für die Menschen, die hier leben, ein Problem, und es ist im Zusammenhang mit der Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte ein Problem. In ein Land, in dem man immer wieder als andersartig bezeichnet wird, möchte man eben nicht gerne einwandern. In Ländern, in denen jeder, welcher Religion auch immer er oder sie angehört, herzlich willkommen ist, aufgenommen wird und leben darf, wie er oder sie es möchte, ({2}) ist das eine ganz andere Geschichte. Fahren Sie einmal in die USA - Sie waren sicherlich schon dort -, und überlegen Sie, warum so viele Menschen gerade in dieses Land, das die rigideste Einwanderungspolitik macht, wollen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist sinnvoll, dass wir zum Thema zurückkommen. ({0}) Es ist nämlich nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Sozialdemokraten den großen Erfolg der Koalition gerade in diesem Bereich niederreden wollen, indem sie einen Nebenkriegsschauplatz eröffnen. ({1}) Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ist, die Chancen der Zuwanderung für unser Land besser zu erschließen und den Zusammenhalt unserer durch Zuwanderung bereicherten Gesellschaft zu stärken. Wenn wir heute gemeinsam den vorliegenden Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen verabschieden, dann vollenden wir das hochambitionierte Programm, das wir uns in der christlich-liberalen Koalition vorgenommen haben. ({2}) Am Anfang dieser Wahlperiode, im Herbst 2009, habe ich an dieser Stelle gesagt: Deutschland verändert sich. Die neue Bundesregierung wird diese Veränderung gestalten. Migration und Integration stellen Deutschland vor neue Herausforderungen. Sie bieten aber auch neue Chancen. Die Koalition hat sich auf eine konsequente Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine aktive Integrationspolitik geeinigt. Heute wird diese neue Zuwanderungssteuerung im Bundestag verabschiedet. Wir verbinden die wirksame Integration mit der aktiven Steuerung von Zuwanderung, ökonomische Vernunft und Fairness, Offenheit und Klarheit, Fördern und Fordern. Dieser rote Faden zieht sich durch die christlich-liberale Integrations- und Migrationspolitik. Man schaue sich die schon erreichten Erfolge an: Wir haben die Visa-Warndatei eingeführt. Wir erleichtern so den für ein weltoffenes Industrieland wie Deutschland unverzichtbaren internationalen Reiseverkehr und stärken zugleich die Sicherheit unseres Landes, ohne ausufernde Datenerfassung und unter Wahrung der Bürgerrechte. ({3}) Wir haben den Einstieg in eine dauerhafte bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung geschaffen. Erstmals wurde für minderjährige, heranwachsende geduldete Ausländer ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Das ist humanitäre Rechtssicherheit. Wir haben die Übermittlungspflichten zugunsten von Kindern abgeschafft und die Residenzpflicht für die Ausbildung und Bildung gelockert. Wir haben die Stabilisierungszeit für Opfer von Menschenhandel auf drei Monate ausgedehnt und sind damit einem Petitum von Opferverbänden und der Polizei gefolgt. Wir haben die Bedingungen für die Abschiebehaft signifikant verbessert. Und wir haben ein eigenständiges Wiederkehr- und Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen geschaffen und den eigenständigen Straftatbestand der Zwangsheirat eingeführt. Das ist aktiver Opferschutz, verbunden mit dem klaren Appell, unsere freiheitliche Werteordnung zu achten. Hartfrid Wolff ({4}) Andere reden, meine Damen und Herren, wir haben es gemacht. Die Koalition aus Union und FDP hat tatsächlich eine neue Zuwanderungs- und Integrationspolitik auf den Weg gebracht, die sich vom ideologischen Ballast links-rot-grüner Utopien befreit hat. Eine effiziente und interessengeleitete Steuerung von Zuwanderung ist das Gebot der Stunde. Statt bürokratische Hemmnisse aufzubauen, wollen wir die Zuwanderung sinnvoll und interessengeleitet steuern. Die EURichtlinie zur Zuwanderung von Hochqualifizierten und zur Blauen Karte bietet jetzt Anlass, den nächsten, weitergehenden Schritt zur Umsetzung des Konzepts der Koalition zu tun, und wir gehen deutlich über die Richtlinie hinaus. Die Einstellung von ausländischen Hochqualifizierten und Fachkräften sorgt für weitere Investitionen in Arbeitsplätze und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen wichtig. ({5}) Deutschland braucht qualifizierte Fachkräfte, Forscher und Entwickler und auch Unternehmer aus dem Ausland. Diese brauchen klare, transparente und einfache Regeln. Diese schaffen wir mit dem vorliegenden Gesetz. Wichtig ist zudem, dass im Ausland für den Ausbildungs-, Forschungs- und Wissenschaftsstandort Deutschland geworben wird. Auch deshalb müssen die aufenthalts- und arbeitsmarktrechtlichen Hürden zum Beispiel für Studenten aus Drittstaaten oder eben auch für Hochqualifizierte deutlich abgebaut werden. Dabei stehen die EU-Mitgliedstaaten gegenseitig in einem starken Wettbewerb um die klügsten Köpfe. Diesen Wettbewerb nehmen wir heute mit einer verbesserten Zuwanderungssteuerung auf. Wir werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Zuwanderung von Hochqualifizierten entbürokratisieren, beschleunigen und vereinfachen. Wir wollen zugleich zusätzliche Integrationsanreize schaffen. Wir modernisieren das deutsche Zuwanderungsrecht und passen es den Bedürfnissen einer global vernetzten Gesellschaft an. Schnelle behördliche Entscheidungen schaffen Klarheit. Dabei achten wir darauf, dass die Öffnung für Hochqualifizierte nicht missbraucht wird. Zusätzlich zielt der Gesetzentwurf darauf ab, die Möglichkeiten zur Beschäftigungsaufnahme von ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen und den dauerhaften Zuzug von Fachkräften, für die auf dem deutschen Arbeitsmarkt ein Bedarf besteht, zu erleichtern. Die bürokratische Vorrangprüfung entfällt in wesentlichen Bereichen. Um den dauerhaften Zuzug von Hochqualifizierten nach Deutschland attraktiver zu gestalten, senken wir die Gehaltsschwelle deutlich. Für Beschäftigte aus Mangelberufen ist der Zuzug signifikant vereinfacht worden. Entscheidend ist zudem: Wir schaffen den Paradigmenwechsel in der Arbeitsmigration. Wir kommen ausländerrechtlich von einer Nachfrage- hin zu einer Angebotsorientiertheit. Der befristete Zuzug zur Arbeitsuche, also ohne bestehenden Arbeitsvertrag, ist ein wesentlicher Schritt, der dies deutlich macht. ({6}) Anders als es manchmal in der Öffentlichkeit dargestellt wird, hat diese Koalition zu einem sehr konstruktiven und sehr fortschrittlichen Verhandlungsprozess in der Zuwanderungspolitik gefunden. Lieber Reinhard Grindel, wir machen noch weiter, nicht? ({7}) Diese Koalition hat einen entscheidenden Kurswechsel in der Zuwanderungspolitik umgesetzt: mit Fördern und Fordern, ohne ideologische Scheuklappen, integrationsund arbeitsmarktorientiert. ({8}) Die Koalition setzt Zug um Zug eine konsequente Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine aktive Integrationspolitik um. Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. ({9}) Wir halten es nicht, wie die Grünen oder die Linken, für unzumutbar, Deutsch zu lernen, sondern wollen Anreize dafür setzen. ({10}) Statt des Verzichts auf Integrationsanforderungen muss Deutschland in der Integrationspolitik endlich positiv und aktiv denken. Ich erwarte - Frau Kollegin Andreae, das ist damit gemeint -, dass wir durch serviceorientierte Behörden auch im Vollzug vor Ort, zum Beispiel bei Frau Öney in Baden-Württemberg, die in unserem Gesetz angelegten Anforderungen in täglich gelebte Willkommenskultur umsetzen. ({11}) Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft, die ganze Nation, wird durch Zuwanderung bereichert. Wissen ist längst international. Arbeit ist längst international. Forschung und Entwicklung machen eben nicht vor Grenzen halt. Die deutsche Wirtschaft ist auf allen Märkten der Welt aktiv. Der Arbeitsmarkt für Fachkräfte ist längst international. Zuwanderung von Hochqualifizierten schafft Arbeitsplätze und weitet gesellschaftlich den Horizont. Deutschland verändert sich. Wir gestalten mit der christlich-liberalen Bundesregierung diese Veränderungen - ohne ideologischen Ballast und vorurteilsfrei. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um eines vorweg klarzustellen: Die Linke war schon immer für Einwanderungserleichterungen, allerdings nicht, wie es in dem vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen ist, ausschließlich nach Nützlichkeitserwägungen der reichen Industrienationen, ({0}) sondern im Sinne von Menschenrechten und im Interesse der Menschen. Wir möchten keine Politik unterstützen, die Menschen zu trennen versucht nach denen, die uns nützen, und denen, die uns vermeintlich ausnützen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieses Anwerben von Fachkräften aus dem Ausland schon so ein bisschen in die Nähe von Neokolonialismus kommt. ({1}) Wir bedienen uns nicht nur der Rohstoffe von Drittländern, sondern auch ihres „Humankapitals“, wie es ein Sachverständiger in der Anhörung am Montag ausdrückte; ein Wort, das ich ausgesprochen schrecklich finde; es war im Übrigen auch Unwort des Jahres 2004. Neben diesen grundsätzlichen Bedenken gibt es im Detail weitere Defizite im Gesetzentwurf. Ich möchte auf zwei eingehen: Zunächst - das ist schon angesprochen worden - die mangelhafte Umsetzung der EU-Richtlinie in einem zentralen Punkt. Ich sage Ihnen: Die Berechnung der Gehaltsschwellen für Fachkräfte aus dem Ausland unter Einbeziehung der Löhne von Menschen in Teilzeit und in prekärer Beschäftigung verstößt eindeutig gegen die EU-Vorgaben. ({2}) Das haben in der Anhörung am Montag auch gleich drei Sachverständige bestätigt. ({3}) Die anderen haben sich dazu nicht konkret geäußert. Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie muss die Erteilung der Bluecard davon abhängig gemacht werden, dass die Gehaltshöhe dem 1,5- bzw. 1,2-Fachen des durchschnittlichen Bruttojahresgehalts des betreffenden Mitgliedstaates, also in diesem Fall Deutschland, entspricht. Das ist das Mindestniveau. Ich unterstelle einfach einmal, dass die Bundesregierung weiß, dass sie die Richtlinie in diesem Punkt falsch umsetzt. Wie anders ist zu erklären, dass im Gesetzentwurf jede nachvollziehbare Darlegung der Berechnung des Bruttojahresgehalts fehlt? Selbst auf Nachfrage meiner Fraktion wurden die Zahlen verweigert. Das wundert nicht; denn selbst wenn man die Zahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zugrunde legt - dies ist ja nach Auskunft von unserem Staatssekretär Ole Schröder die einzig mögliche und von der Bundesregierung gewählte Bezugsgröße -, werden die Vorgaben der Richtlinie nicht erfüllt. Wir müssen auch nicht groß rechnen, um den Trick der Bundesregierung zur möglichst effektiven Absenkung der Mindestgehaltsschwelle zu durchschauen. Dieser besteht, wie gesagt, darin, nicht nur die Gehälter der Vollzeitbeschäftigten heranzuziehen, sondern auch die Löhne von Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten, Minijobbern, Schülern, Rentnern mit Aushilfstätigkeiten usw. Ich bitte Sie: Es geht hier um die Beschäftigung von Hochqualifizierten, und Sie berechnen deren Mindestgehalt mithilfe der häufig nicht einmal existenzsichernden Löhne in prekären Beschäftigungen, für deren zahlenmäßige Vermehrung Sie im Übrigen verantwortlich sind! Wenn Hochqualifizierte teilzeitbeschäftigt werden sollen, finde ich das okay. Dann können sie sich mehr um die Familie kümmern; ich bin ja auch Familienpolitiker. Dann ziehen Sie aber auch nur für diese die Löhne der Teilzeitbeschäftigten heran. Warum bezieht sich die Bundesregierung nicht auf die Zahlen von Eurostat, wie es in der Richtlinie vorgesehen ist? Einfach deshalb, weil sich diese Zahlen auf Vollzeitarbeitskräfte beziehen. Das Statistische Bundesamt hat Eurostat deshalb zuletzt einen Wert von 42 100 Euro Bruttojahresgehalt geliefert. Das anderthalbfache davon sind 63 150 Euro. Das müsste nach der Richtlinie das Mindestgehalt sein. Das sind aber fast 20 000 Euro mehr, als von der Bundesregierung vorgesehen. Sehenden Auges nimmt diese Regierung lieber ein Vertragsverletzungsverfahren in Kauf, als von dem durchsichtigen Versuch, die Löhne zu drücken, abzulassen. Zu den maßgeblichen Hintergründen wird nachher meine Kollegin Krellmann noch Stellung nehmen. Der zweite Punkt betrifft die Verhinderung des sogenannten Braindrain, also des Talentschwunds in den Ländern, aus denen die Fachkräfte kommen. Auf die Frage, ob eine Verordnung geplant ist - das ist ja vorgesehen -, um ein Ausbluten der Herkunftsländer bezüglich der von ihnen ausgebildeten Fachkräfte zu verhindern, und welche Kriterien eine solche Verordnung oder Liste haben müsste, konnte die Bundesregierung am Montag in der Anhörung keine Antwort geben. Vielleicht kann im Verlauf dieser Debatte noch jemand dazu Auskunft geben. Denn ansonsten gehe ich davon aus, dass es eine solche Verordnung nicht geben wird und diese Bestimmung ein bloßes Feigenblatt darstellt. Aber selbst wenn es eine solche Vorschrift geben sollte, bestünde nach wie vor noch die Möglichkeit, Fachkräfte über § 18 Aufenthaltsgesetz einwandern zu lassen, ohne auf die möglichen negativen Folgen in den Herkunftsländern zu achten. Von all dem abgesehen gilt - das ist schon angesprochen worden; Sie und ich wissen das auch -, dass die Fachkräfte im Ausland, egal welche Gesetze wir hier erlassen, gewiss nicht nach Deutschland strömen werden, solange wir ein gesellschaftliches Klima haben, welches nicht gerade der Migration zuträglich ist. ({4}) Wir konnten es gerade wieder live erleben, was für ein Klima hier in Deutschland herrscht. Hören Sie endlich auf, von Integrationsverweigerern und Einwanderern in die Sozialsysteme zu schwadronieren! Wenn das aufhört, würde das die Bereitschaft von Fachkräften, nach Deutschland zu kommen, in der Tat fördern. Dann könnten wir wirklich eine vernünftige Einwanderungspolitik machen. ({5}) Diesen Gesetzentwurf müssen wir ablehnen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Memet Kilic von Bündnis 90/Die Grünen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Zuwanderungsgesetz hat sich zu einem Paragrafendschungel entwickelt. Anstatt den Paragrafendschungel zu lichten, wurschtelt die Bundesregierung darin weiter und erreicht nur eine Verdunkelung. Die Bundesregierung hat in der ersten Plenardebatte zur Hochqualifizierten-Richtlinie reumütig angekündigt, ihren mangelhaften Gesetzentwurf zu verbessern. Allerdings hat sie mit ihren Änderungen nur für mehr Verwirrung und weniger Transparenz gesorgt. Die Einwanderungsmöglichkeiten für Hochqualifizierte hat sie teilweise sogar verschlechtert. Der Teufel steckt hier im Detail, Herr Bundesinnenminister. ({0}) Spezialisten und leitende Angestellte sollen in Zukunft nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erhalten. Bisher haben diese Personen eine Niederlassungserlaubnis, also ein unbefristetes Aufenthaltsrecht, bekommen. Glaubt die Bundesregierung ernsthaft, dass sie mit einem befristeten Aufenthaltsrecht die klugen Köpfe aus dem Ausland locken kann? Denken Sie wirklich, dass diese Leute mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis ihre Zukunft in Deutschland planen werden? Natürlich werden sich die Hochqualifizierten lieber einen Staat aussuchen, der ihnen einen sicheren Aufenthaltsstatus gibt. Die Bundesregierung verpasst hier leider Chancen. Das geht nicht an. ({1}) Der Regierungsvorschlag, die Vergabe einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis für Hochqualifizierte von den Deutschkenntnissen abhängig zu machen, ist fatal. Ein Informatiker, für dessen Tätigkeit die englische Sprache entscheidend ist, sollte nicht aufgrund geringer deutscher Sprachkenntnisse ausgeschlossen werden. Ansonsten kann Deutschland nur noch auf die klugen Köpfe aus Österreich und der deutschsprachigen Schweiz hoffen. Allerdings verlieren wir gerade selbst hochqualifizierte Fachkräfte an diese Nachbarstaaten. Das ist doch hirnrissig, meine Damen und Herren. ({2}) Die Frist für die Umsetzung der Bluecard-Richtlinie lief am 19. Juni letzten Jahres aus. Die Bundesregierung ist nicht nur im Verzug, sondern setzt manche Vorgaben der europäischen Richtlinie gar nicht um. Ein Beispiel dafür ist die Festlegung der Gehaltsgrenze für hochqualifizierte Fachkräfte. Diese bemisst sich nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung an der Beitragsbemessungsgrenze der allgemeinen Rentenversicherung. Hierzu ist zum einen festzustellen, dass wir in Deutschland zwei Beitragsbemessungsgrenzen haben, nämlich für Ost und West, und zum anderen, dass die europäische Richtlinie vorschreibt, dass die Gehaltsgrenze sich am durchschnittlichen Bruttojahresgehalt im jeweiligen Land orientieren muss. Sie haben insofern einen mangelhaften Gesetzentwurf vorgelegt, den Sie lieber zurückziehen sollten. Wer die Blaue Karte EU so schlecht und schlampig umsetzt wie die Bundesregierung, der verdient nur eine Rote Karte, meine Damen und Herren. ({3}) Schwarz-Gelb beschränkt den Kreis der Begünstigten auf Hochschulabsolventen. Menschen mit langjähriger Berufserfahrung, deren Niveau mit einem Hochschulabschluss vergleichbar ist, werden nicht berücksichtigt. Das sorgt für Streit innerhalb der Koalition. Der Gesundheitsminister Daniel Bahr gibt sich mit den geplanten Änderungen nicht zufrieden. Er fordert, die Einwanderungsbedingungen für Pflegekräfte zu lockern. Während sich die Koalition streitet, entgeht uns das großen Potenzial an Fachkräften. Wenn die Bundesregierung es ernst meint mit der Anwerbung von klugen Köpfen aus dem Ausland, muss sie endlich umdenken. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusammen: Bei dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist der große Wurf leider ausgeblieben. ({5}) Trippelschritte im Zuwanderungsrecht reichen nicht aus, zumal es auch teilweise Rückwärtsschritte sind. Der Gesetzentwurf ist nicht nur kleinteilig und bürokratisch, sondern enthält sogar Vorschriften zur Verschärfung der derzeitigen Rechtslage. Insgesamt ist dieses halbherzige Vorgehen ein falsches Signal an diejenigen Fachkräfte, denen man angeblich attraktive Einwanderungsbedingungen bieten möchte. Im Gegensatz zur Bundesregierung arbeiten wir konstruktiv. Deshalb haben wir zu unseren Kritikpunkten einen sinnvollen und lösungsorientierten Entschließungsantrag eingebracht. Hier kann die FDP endlich über ihren eigenen Schatten springen, eine letzte gute Tat tun und unserem Antrag zustimmen. Wir müssen dringend das deutsche Einwanderungsrecht grundlegend und umfassend reformieren. Die Leitgedanken sollten dabei sein: erstens Vereinfachung, zweitens mehr Systematik und Transparenz sowie drittens weniger Bürokratie. Das kann man am besten mit der Schaffung eines sogenannten Punktesystems realisieren. Dazu haben wir bereits einen Antrag eingebracht, der heute auch zur Abstimmung steht. Neben dem DGB, den Arbeitgeberverbänden und der Wissenschaft streben auch SPD und FDP ein Punktesystem an. Die Linke spielt dabei mit der Union die Dagegenpartei und blockiert die notwendige Modernisierung. Dafür bekommen beide null Punkte. ({6}) Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es für notwendig erachtet, diese Debatte zu einem Angriff auf unseren Fraktionsvorsitzenden zu nutzen. ({0}) Ich finde, Sie sollten darüber nachdenken, ob man nicht ausländische Mitbürger auch dadurch verunsichert, dass man Äußerungen des politischen Gegners bewusst fehlinterpretiert. ({1}) Unsere Mitbürger muslimischen Glaubens gehören zu uns und zu unserem Land. Wir führen mit ihnen den Dialog. ({2}) Aber wer den Dialog führt, der muss seine eigene Identität, seine eigene Geschichte und seine eigene Herkunft kennen. Sonst kann kein ehrlicher Dialog geführt werden. ({3}) Dazu hat sich Volker Kauder geäußert. Sie sollten nicht mit Fehlinterpretationen unsere ausländischen Mitbürger verunsichern und damit politische Spielchen treiben. So erreichen Sie genau das, was Sie meinten, Volker Kauder vorwerfen zu müssen. Das ist nicht in Ordnung, Frau Kollegin. ({4}) Mit unserem Gesetzentwurf kommen wir einem immer wieder gerade auch von der Wirtschaft vorgetragenen Wunsch nach, nämlich den Zugang von ausländischen Fachkräfte zu erleichtern, ohne allerdings auf eine notwendige Steuerung der Zuwanderung zu verzichten. Wir beseitigen bürokratische Hürden und erleichtern es den Unternehmen gerade aus dem Mittelstand, gegen den Fachkräftemangel anzugehen. Ich will jedoch gleich eines festhalten: Beim Kampf um die klugen Köpfe reicht es nicht aus, allein für eine transparente und nachvollziehbare rechtliche Grundlage zu sorgen. Jetzt ist die Wirtschaft gefragt, selbst substanzielle Beiträge zu leisten und Deutschland attraktiver für kluge Köpfe zu machen, die aus aller Welt zu uns kommen sollen. Eines müssen wir uns ja vor Augen führen: Leider verlassen Deutschland immer noch mehr Fachkräfte, als neue zu uns kommen. Das kann ersichtlich nicht am Ausländerrecht liegen. ({5}) Seit der Öffnung der Grenzen für Arbeitskräfte aus den zehn neuen EU-Beitrittsländern sind gerade einmal 60 000 Arbeitnehmer aus diesen Staaten zu uns gekommen. Mit bis zu einer halben Million hatte man gerechnet. Deutschland muss insgesamt attraktiver werden. Das geht über die rechtlichen Rahmenbedingungen hinaus. Ausländischen Fachkräften muss schlicht und ergreifend eine bessere Bezahlung angeboten werden. Ausländische Studienabsolventen, in die wir gerade viel investiert haben, dürfen nicht mit Praktika oder kurzfristigen Zeitverträgen abgespeist werden, sondern sie müssen eine ordentliche Anstellung bekommen. Und unsere Unternehmen müssen mehr in die Sprachkompetenz ihrer Mitarbeiter investieren. Das ist genau das, was wir mit Willkommenskultur meinen. Es müssen diejenigen, die nicht zuletzt zu unserem Wohlstand beitragen, die notwendigen Rahmenbedingungen vorfinden, um sich in unserem Land wohlfühlen zu können. ({6}) Ich will deutlich hervorheben, dass die Koalitionsfraktionen substanzielle Veränderungen des ursprünglichen Gesetzentwurfs der Bundesregierung vorgenommen haben. Unsere Änderungen haben das Gesetz besser gemacht. Das ist uns in einer bei dieser ausländerrechtlichen Thematik ungewöhnlichen Breite von den Sachverständigen bei der Anhörung am Montag bestätigt worden. Deswegen wird sich die SPD, auch wenn man es nach der Rede von Frau Kolbe kaum glauben kann, heute hier wie im Innenausschuss enthalten. Wenig Verständnis habe ich angesichts dieser Diskussionslage dafür, dass ausgerechnet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag größter Kritiker unseres neuen Gesetzes ist, noch dazu mit Argumenten, die von Sachkenntnis völlig ungetrübt sind. Ich will hier eines deutlich betonen: Es wäre auch Aufgabe des DIHK mit seinen Außenhandelskammern gewesen, also den Vertretungen in den Ländern, in denen die klugen Köpfe sind, die zu uns kommen sollen, mehr zu tun, um Fachkräfte für den Arbeitsplatzstandort Deutschland zu interessieren. Da hat es in der Vergangenheit erhebliche Versäumnisse gegeben. Ich rufe uns alle auf, Politik, aber auch Wirtschaft, gemeinsam mehr zu tun, wo immer wir können, gerade auch im Ausland, um dafür zu werben, hier in Deutschland sein Glück zu machen und hier seinen Arbeitsplatz zu wählen. Die notwendigen Rahmenbedingungen haben wir dafür jetzt geschaffen. ({7}) In Zukunft gibt es einen einheitlichen Aufenthaltstitel für ausländische Fachkräfte. Wer sagt, lieber Herr Kollege Kilic, wir hätten den Dschungel noch vergrößert, ({8}) der rennt als Schwarzmaler mit einer Sonnenbrille durch den Dschungel. Das kann man so nicht stehen lassen. Nach drei Jahren Beschäftigung gibt es jetzt für alle eine Niederlassungserlaubnis. Wir glauben, dass man in der Tat von einer Integration in den Arbeitsmarkt ausgehen kann. Wenn der betroffene ausländische Arbeitnehmer besonders gute Deutschkenntnisse nachweist, dann kann er schon nach zwei Jahren die Niederlassungserlaubnis erlangen. Ich will hier - auch der Bundesinnenminister hat das dankenswerterweise schon getan - noch einmal besonders hervorheben: Erstmals verknüpfen wir im Aufenthaltsrecht eine Integrationsleistung mit einer Verbesserung des Aufenthaltsstatus. Das ist der eigentliche Paradigmenwechsel in diesem neuen Gesetz: Die aufenthaltsrechtliche Situation des Ausländers verbessert sich, je mehr er selbst für seine Integration leistet. Das halte ich für die wegweisende Neuorientierung. Wir sollten überlegen, das auch an anderen Stellen des Ausländerrechts zu machen. Wer Ja zu unserem Land sagt, wer sich selbst um die Integration bemüht, wer gute Sprachkenntnisse erwirbt, ({9}) der bekommt auch schneller einen gesicherten Aufenthaltsstatus. Das ist kluge Integrationspolitik. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kilic?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn er nicht wieder irgendwelche Karten zeigt und Noten gibt, ja.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Grindel, stimmen Sie mir zu, dass Sie in § 19 Abs. 2 Nr. 3 eine Regelung streichen? Bisher bekommen die dort genannten Spezialisten und leitenden Angestellten eine Niederlassungsgenehmigung. Sie werden im Zuge der Bluecard-Regelung jetzt in den neu geschaffenen § 19 a geschoben. Dadurch erreichen Sie nur Verwirrung. Stimmen Sie mir auch zu, dass die Hochqualifizierten gemäß § 19 ihre Ehegatten nachziehen lassen und mitnehmen konnten, ohne dass sie deutsche Sprachkenntnisse hatten, und diese eine eigenständige Niederlassungsgenehmigung und Arbeitsgenehmigung bekommen haben, jetzt aber, wo sie in den § 19 a geschoben werden, die Ehegatten die Niederlassungsgenehmigung nicht automatisch bekommen, es sei denn, sie sind Bluecard-Inhaber oder Pflegekräfte, und sie ihre Ehegatten nur dann mitnehmen können, wenn die Ehe bereits bestanden hat, aber nachziehende Ehegatten dann doch deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen? Ist das eine Vereinfachung, oder wie soll man das verstehen? Können Sie mir erklären, wieso ich mich angesichts dessen wie mit einer Sonnenbrille im Dschungel bewegen soll? ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was meinen Sie wohl, was die Zuschauer, die uns jetzt über Phoenix zuschauen, bei Ihrer Frage eben gedacht haben? Die haben nichts verstanden. ({0}) Ihre Frage zeigt, dass Sie das Gesetz nicht verstanden haben. ({1}) Es gibt jetzt einen einheitlichen Aufenthaltstitel für alle und damit natürlich auch für die Gruppe, die Sie angesprochen haben. Es wäre doch völlig widersinnig, wenn wir einen Aufenthaltstitel für Bluecard-Inhaber und dann noch einen Aufenthaltstitel für leitende Angestellte und Spezialisten hätten. Wir schaffen eine einheitliche Regelung beim Ehegattennachzug; das haben wir Ihnen gesagt. Die Spezialisten und Fachleute werden jetzt genauso behandelt wie alle anderen Bluecard-Inhaber. Sie werden eine dauerhafte Perspektive in Deutschland haben, wenn sie so qualifiziert sind, wie sie es nach der gesetzlichen Grundlage sein müssen. Das ist ja gerade, wenn Sie so wollen, das Anti-Dschungel-Instrument dieses Gesetzes: ein Aufenthaltstitel für alle ausländischen Fachkräfte, die zu uns kommen wollen. Ich halte das für transparent, für nachvollziehbar, und das wird hoffentlich erfolgreich sein, wenn man nicht mit solchen verwirrenden Zwischenfragen Unruhe und Unfrieden stiftet, Herr Kollege Kilic. ({2}) Ich will nur noch auf einen Punkt hinweisen, bei dem es um eine Frage der inhaltlichen Sichtweise von Politik geht. Sie haben im Innenausschuss einen Änderungsantrag zu der Regelung eingebracht, die ich gerade genannt habe: Rund drei Jahre guter Aufenthalt mit Beschäftigung in Deutschland führt zur Niederlassungserlaubnis; wenn man gute Deutschkenntnisse hat, gibt es die Niederlassungserlaubnis schon nach zwei Jahren. Das wollten Sie streichen. Sie schreiben zur Begründung Ihres Änderungsantrages - das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen -: Mit dem Änderungsantrag wird darüber hinaus die Pflicht, Deutschkenntnisse nachzuweisen, gestrichen. ({3}) Das ist der Unterschied zwischen Grünen und CDU/ CSU: Wir prämieren, wenn man Deutsch lernt. Sie wollen prämieren, wenn man nicht Deutsch lernt. ({4}) Das ist der Unterschied in der Integrationspolitik. Ich halte den Weg, den Sie da beschreiten, Herr Kollege Kilic, für einen ziemlichen Irrweg. ({5}) Ich kann auch beim besten Willen nicht nachvollziehen, wie Sie uns hier Lohndumping vorhalten können; denn gerade Lohndumping und ausbeuterische Arbeitsbedingungen werden mit dem Bluecard-Gesetz verhindert. Die von uns gewählten Einkommensgrenzen sorgen gerade dafür, dass tatsächlich nur qualifizierte Fachkräfte in unser Land kommen. Kein einheimischer Arbeitsloser muss befürchten, durch das Bluecard-Gesetz ins Hintertreffen zu geraten. Gleichzeitig sehen wir bei den Mangelberufen, bei denen die Einkommensgrenzen etwas niedriger liegen, sogenannte Vergleichbarkeitsprüfungen vor, die eben für faire Arbeits- und Entlohnungsbedingungen sorgen. Unser Gesetz sorgt gerade nicht dafür, dass Arbeitslosen in Deutschland Konkurrenz durch willige und billige Arbeitskräfte aus dem Ausland entsteht. Das wollen wir als CDU/CSU gerade nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({6}) Wir wollen auch, dass es dabei bleibt, dass derjenige, der als Deutscher oder Ausländer bei der Bundesagentur als Arbeitsloser gemeldet ist und in genau der gleichen Weise qualifiziert ist wie eine ausländische Fachkraft, die in unser Land kommen soll, grundsätzlich Vorrang hat, wenn es darum geht, einen Arbeitsplatz zu besetzen. Daran wird nicht gerüttelt. Es bleibt beim Vorrang unserer einheimischen Arbeitslosen. Es gibt jetzt die Verpflichtung - Kollege Wolff hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass die Bundesagentur innerhalb von zwei Wochen entscheidet; sonst gilt die Zustimmung als erteilt. Aber es bleibt eben beim Vorrang. Schlusssatz, Herr Präsident: Mit unserem Gesetz zur Zuwanderung von ausländischen Fachkräften machen wir den Arbeitsplatz- und auch den Studienstandort Deutschland attraktiver. Die Politik hat die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen. Jetzt ist die Wirtschaft an der Reihe, ihren Beitrag zu leisten, damit unser Land den Kampf um die klugen Köpfe gewinnt. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Swen Schulz von der SPDFraktion. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland muss ein offenes Land werden - offener, als es heute bereits ist, ein Land, das Menschen einlädt, zu uns zu kommen und hier mitzuhelfen, mitzutun. Es ist wichtig, dass Deutschland ein Land wird, das Menschen Chancen gibt, auch Anerkennung gibt - unabhängig von ihrer Herkunft. ({0}) Das ist wichtig für unsere Gesellschaft. Das ist wichtig für die Entwicklung von Wirtschaft und Arbeit und auch für die Finanzierung von sozialer Sicherheit. Die gute Nachricht von heute - bei allen Unterschieden in der Debatte - ist, dass alle Fraktionen bekundet haben, dass sie das vom Grundsatz her genauso sehen. Das war aber in der Vergangenheit mitnichten immer der Fall. Wir erinnern uns noch sehr genau daran, wie es war, als Rot-Grün unter Bundeskanzler Gerhard Schröder ein Zuwanderungsgesetz vorgelegt hat. Es wurde insbesondere von der CDU/CSU nachgerade mit dem Messer zwischen den Zähnen bekämpft. Wir wissen das noch sehr genau. ({1}) Aber Sie sind inzwischen ein gutes Stück weit auf uns zugekommen. Das will ich hier auch einmal positiv hervorheben. Dies zeigt sich auch bei der Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union. Es hat lange gedauert; es war mühsam; es bedurfte des Anschubs der Europäischen Union. Aber jetzt gab es immerhin dann doch den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Was mich heute Morgen ganz besonders milde stimmt, ist Folgendes: Die Koalitionsfraktionen sind auf Verbesserungsvorschläge eingegangen. Wir haben unter Swen Schulz ({2}) anderem beantragt, dass die Zuverdienstmöglichkeiten ausländischer Studierender verbessert werden und dass die Frist für die Arbeitsplatzsuche von Absolventen verlängert wird. Dem sind Sie gefolgt. ({3}) Die Beratungen haben also etwas gebracht. Das will ich hier auch einmal ausdrücklich loben, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({4}) Bevor Sie jetzt aber vor lauter Komplimenten von meiner Seite rot werden, will ich doch noch auf einige Fehlstellen hinweisen. Im Gesetz werden beruflich Qualifizierte schlechter gestellt als Akademiker. Das ist ein Problem. Auch bei der Definition der Angemessenheit der Arbeit hätte es Vereinfachungen geben sollen. Grundsätzlich wäre es besser gewesen, ein reformiertes Zuwanderungsrecht zu schaffen, anstatt an einzelnen Stellen herumzuschrauben. Erst mit einem neuen Punktesystem aus einem Guss kommen wir wirklich auf einen internationalen Standard, der uns voranbringt. Aber da waren offenbar die Einwände und die Vorbehalte bei der Union zu groß. Es gibt noch andere Themen, die die Koalition nicht im Blick hat. So ist die Frage der Fachkräfte eine Thematik nicht nur des Zuwanderungs- und des Aufenthaltsrechts. Da braucht es eine Politik, in der die Zahnräder ineinandergreifen und sich sozusagen ergänzen. Das lässt die Koalition leider schmerzlich vermissen. Ich will hierzu nur einige Stichworte aus dem Bereich der Bildungspolitik nennen. Nach einer aktuellen Studie bekunden 80 Prozent der ausländischen Studierenden, dass sie nach ihrem Abschluss hierbleiben wollen; aber nur 26 Prozent schaffen das tatsächlich. Das ist selbstverständlich auch eine Frage des Aufenthaltsrechts, aber eben nicht nur. Da geht es auch um weitere Rahmenbedingungen. An dieser Stelle will ich auf einige Punkte hinweisen. Menschen, die hier arbeiten wollen und Familie haben, nützt eine Diskussion um das Betreuungsgeld überhaupt nichts. Sie brauchen Betreuungsangebote, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) Sie brauchen gute Schulen mit den entsprechenden Ganztagsangeboten. Für ausländische Absolventen benötigen wir auch mehr Studienplätze. Da ist eine Aufstockung der Mittel des Hochschulpaktes erforderlich. An allen diesen Stellen herrscht bei der Regierungskoalition leider Fehlanzeige. Ganz wichtig ist, dass natürlich auch und vor allem die Menschen, die bereits hier leben, in der Bildung und im beruflichen Bereich unterstützt und gefördert werden. Da ist das Betreuungsgeld genau falsch; es ist kontraproduktiv. Außerdem brauchen wir endlich bessere Schulen. Da muss der Bund dann auch den Ländern helfen. ({6}) Aber Sie von der Regierungskoalition verweigern sich ja der Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich. ({7}) Zudem brauchen wir mehr Studienplätze. Aber die Finanzplanung der Bundesregierung sieht nach der Bundestagswahl 2013 eine Kürzung im Bildungsbereich vor. CDU/CSU und FDP setzen den Rotstift an der Bildung an, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das ist genau der falsche Weg. ({8}) - Schauen Sie sich doch die mittelfristige Finanzplanung Ihrer Bundesregierung an. Was passiert denn nach 2013? 2014 bis 2016 sind über eine halbe Milliarde Euro weniger vorgesehen. Das ist die bittere Wahrheit. Sie sollten sich einmal mit Ihren eigenen Vorlagen beschäftigen, liebe Kollegen. ({9}) Bei allem Lob, das ich Ihnen zu Beginn der Rede für Verbesserungen an dem Gesetzentwurf gezollt habe, fällt die Bilanz insgesamt also ziemlich durchwachsen aus. Ordentlich voran kommen wir wohl erst bei einem Regierungswechsel nach den nächsten Wahlen. ({10}) Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich glaube, es ist heute ein guter Tag; denn wir brauchen in Deutschland dringend mehr Zuwanderung. Ich bin froh darüber, dass hierin offenbar zwischenzeitlich Einigkeit besteht. Die Lage ist klar. Schauen wir uns die demografische Entwicklung an: Im Jahr 2025 werden wir in Deutschland 6,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter weniger haben als heute. Negative Auswirkungen sind schon heute absehbar. Wenn ich mit mittelständischen Johannes Vogel ({0}) Unternehmen meines Wahlkreises im Sauerland rede, zum Beispiel mit Unternehmen der Automobilzulieferindustrie, dann sagen die Unternehmer: Wenn wir in Zukunft Ingenieurstellen nicht mehr besetzen können, dann wird das auch die Arbeitsplätze der Angestellten in der Produktion gefährden. Umgekehrt gilt: Wenn wir gute und hochqualifizierte Ingenieure finden, dann ist sichergestellt, dass wir auch in Zukunft innovative Produkte entwickeln und weitere Arbeitsplätze schaffen können. Deswegen müssen wir alles tun, um auf den demografischen Wandel zu reagieren. ({1}) Das heißt zuvorderst, sich den inländischen Potenzialen zu widmen. Es geht natürlich um die Älteren am Arbeitsmarkt, um Frauen am Arbeitsmarkt, um Weiterbildung, Qualifikation und lebenslanges Lernen, um die Anerkennung von Abschlüssen und um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. All diesen Themen widmet sich die christlich-liberale Koalition bereits sehr erfolgreich. Aber all das zusammen wird nicht reichen. Auch wenn in allen Bereichen alles gelingt: Ohne mehr Zuwanderung wird es nicht gehen. Deshalb ist es richtig, dass wir uns auf die erfolgreiche Zuwanderungstradition in Deutschland berufen. Man muss noch einmal klar sagen: In Deutschland ist die Zuwanderung eine Erfolgsgeschichte. Vor 300 Jahren sprach ein Viertel der Einwohner in Berlin fließend Französisch. Vor 100 Jahren sprachen eine halbe Million Menschen im Ruhrgebiet fließend Polnisch. Heute sprechen zwei Millionen Menschen in diesem Land fließend Türkisch, weil sie türkische Wurzeln haben. All diese Zuwanderer in der Vergangenheit haben nicht nur unsere Gesellschaft bereichert, sondern auch die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte in Deutschland mitgeschrieben. Das muss man klar sagen. ({2}) Deshalb müssen wir uns auf diese Tradition besinnen; denn heute - das müssen wir ehrlich anerkennen - sind wir nicht gut im Wettbewerb um die klugen Köpfe auf dem globalen Arbeitsmarkt. Das hat Gründe. Diese liegen auch in unserem Zuwanderungssystem. Wir müssen uns folgende Situation vergegenwärtigen: Wenn sich beispielsweise ein gut ausgebildeter junger Mensch von den Philippinen überlegt hat, sein Land zu verlassen und in Deutschland zu arbeiten, dann musste er Deutsch sprechen lernen - das ist richtig und muss auch so bleiben -, weil hier nicht allein die Weltsprache Englisch gesprochen wird. Aber außerdem musste dieser junge Mann, der sich vom Ausland aus auf eine Stelle bewarb, in Deutschland eine langwierige Vorrangprüfung durch die Bundesagentur für Arbeit durchlaufen, oder er musste sehr viel verdienen, was für die meisten Berufseinsteiger völlig unrealistisch ist. In Kanada beispielsweise kann jemand innerhalb weniger Minuten im Internet ermitteln, ob er zuwandern darf. Ist das der Fall, dann bekommt er die Genehmigung zur Einreise. Danach kann er sich innerhalb eines Jahres in Ruhe um einen Arbeitsplatz kümmern. Man muss sich also nicht wundern, dass das bisherige System in Deutschland nicht wettbewerbsfähig war. Es ist gut, dass sich die christlich-liberale Koalition die Aufgabe stellt, das zu reformieren. Das ist ein Erfolg für unser Land. ({3}) Schauen wir uns an, was durch den Gesetzentwurf erreicht werden soll. Die Vorrangprüfung für Mangelberufe wird ausgesetzt. Eine Genehmigungsfiktion bei der Vorrangprüfung wird eingeführt. Die Gehaltsgrenzen für Mangelberufe werden auf ein realistisches Maß zurückgeführt. Wir geben den Menschen, die hier studiert haben und sich danach einen Arbeitsplatz suchen wollen, bessere Voraussetzungen als bisher. Hier wünsche ich mir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, angesichts dieses Paradigmenwechsels mehr Anerkennung. ({4}) Ich habe mich über Ihr Lob gefreut. Aber eines haben Sie unterschlagen: Durch die Einführung des Arbeitsuchvisums kommen wir erstmalig von der zwingenden Voraussetzung des Vorliegens eines Arbeitsplatzes weg, auf den man sich vom Ausland aus bewerben muss. Das ist ein entscheidender Paradigmenwechsel. Diese Systemveränderung leiten wir ein. Das ist gut für unser Land. Das ist die entscheidende Reform, über die wir uns heute alle freuen können. ({5}) Richtig ist natürlich: Es kann nicht nur bei einem System bleiben. Ein wettbewerbsfähiges modernes Zuwanderungssystem ist ein entscheidender Faktor im Wettbewerb um die klugen Köpfe. Das ist aber nicht der einzige. Wir brauchen drei Dinge, drei Ws: Zunächst benötigen wir ein wettbewerbsfähiges System; das führen wir heute ein. Hiermit schaffen wir den entscheidenden Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen - und da wird die Wirtschaft in der Tat besonders gefordert sein - die deutschen Unternehmen um die klugen Köpfe im Ausland werben; sie müssen eine ganz konkrete Anwerbungspolitik betreiben. Außerdem - ich freue mich, dass auch darüber heute Konsens herrscht brauchen wir eine Willkommenskultur. Das halte ich im Übrigen für eine überparteiliche Aufgabe. In der Vergangenheit ist hier in allen politischen Bereichen viel schiefgelaufen. Wir - das heißt die deutschen Behörden, wir als Politiker und die deutsche Gesellschaft - brauchen eine gemeinsame Willkommenskultur. Ich will mit gutem Beispiel vorangehen und möchte in diesem Zusammenhang den neuen Bundespräsidenten Gauck zitieren. Zum Thema Willkommenskultur hat nicht nur der vorherige Bundespräsident kluge und wichtige Dinge gesagt, sondern gestern in der Paulskirche in Frankfurt auch der neue Bundespräsident Gauck. Er sprach zu jungen Migrantinnen und Migranten, also Menschen mit ausländischen Wurzeln, die im Rahmen Johannes Vogel ({6}) eines Stipendienprogramms, das vor zehn Jahren eingeführt wurde, gefördert werden. Er hat etwas gesagt, was der Grundsatz einer Willkommenskultur sein sollte und was wir denjenigen Menschen, die noch nicht in Deutschland leben, ebenfalls sagen sollten. Ich zitiere den Bundespräsidenten: Wir glauben an Euch! Nicht nur als Fachkräfte von morgen, sondern als Bürger, Menschen an unserer Seite, hier in diesem unserem Land! Dem ist nichts hinzuzufügen. Das ist der Geist unserer Politik. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Krellmann von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich auf die Zuwanderung von vielen Menschen aus dieser Welt. Allerdings finde ich, dass dieser Gesetzentwurf nichts anderes ist als wieder einmal der Versuch, Lohndumping in dieser Republik zu befördern. ({0}) Sie wollen die Mindestgehaltsgrenzen für die Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung von Beschäftigten aus außereuropäischen Ländern deutlich unter den bestehenden Tarifentgelten ansetzen. ({1}) - Jetzt rede ich, danach dürfen Sie. - Das ist unverantwortlich, sowohl gegenüber den zuwandernden wie auch gegenüber den einheimischen Arbeitskräften. Die Beschäftigten werden gegeneinander ausgespielt. Der Wert von Tarifverträgen für Hochqualifizierte wird von der Politik infrage gestellt. Wo bleibt eigentlich Ihr Aufschrei bei diesem politischen Angriff auf die Tarifautonomie? ({2}) Sie präsentieren sich an anderer Stelle, insbesondere wenn es um Mindestlöhne geht, als die großen Hüter. Und jetzt? Anscheinend gilt Ihre Sorge um die Tarifautonomie nur dann, wenn Sie die Interessen von Arbeitgebern schützen können. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Bundesland, aus Niedersachsen: Nach den Vorstellungen der Koalition soll ein hochqualifizierter Ingenieur aus einem Nicht-EU-Staat in Zukunft hierzulande für ein Entgelt von 34 000 Euro im Jahr arbeiten können. Derzeit beläuft sich dieser Schwellenwert auf 66 000 Euro pro Jahr. Ein Ingenieur oder eine Ingenieurin mit Fachhochschulausbildung verdient in Niedersachsen nach Tarifvertrag 47 000 Euro pro Jahr, ein Diplomingenieur oder eine Diplomingenieurin 53 000 Euro. Es liegt auf der Hand, dass bei der beabsichtigten Absenkung der Mindestgehaltsgrenze Ingenieure und Ingenieurinnen aus dem Nicht-EU-Ausland dazu missbraucht werden können, um das derzeitige Einkommensniveau der heutigen Ingenieure unter Druck zu setzen. ({3}) Das ist nicht hinnehmbar! ({4}) Die Linksfraktion lehnt diesen Gesetzentwurf deshalb entschieden ab. Wir lehnen es ab, dass sich die Unternehmen hemmungslos auf dem weltweiten Arbeitsmarkt günstig bedienen können, statt für gute Jobs, für Qualifikation ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und für genügend Ausbildungsplätze zu sorgen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, schieben den Fachkräftemangel doch nur vor. Es gibt erhebliche Zweifel über das Ausmaß des Fachkräftemangels. Ich erinnere nur daran, dass beispielsweise das DIW, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, einen nennenswerten Ingenieurmangel bestreitet. Für meine Region kann ich nicht behaupten, dass es keine Probleme gäbe. Bei uns klagen Betriebe durchaus über Ingenieurmangel, insbesondere im Bereich Elektrotechnik. Die Unternehmen klagen aber nicht über die Höhe des Schwellenwertes, sie fordern auch nicht die Absenkung, sondern ihr Ziel ist die Einstellung von Fachkräften. Sie bieten freiwillig gute Bedingungen und gutes Geld. ({5}) Wenn Sie etwas gegen den Fachkräftemangel in diesem Land tun wollen, dann erweisen Sie diesem Anliegen mit Ihrem Gesetzentwurf regelrecht einen Bärendienst. Lohndrückerei hat mit nachhaltiger Beschäftigungspolitik und Qualitätssicherung nichts zu tun. Was wir eigentlich brauchen, ist ein umfassendes Maßnahmenpaket. Wir brauchen gute Tarifverträge, gute Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen, den Abbau von Bildungshürden und die langfristige Förderung und Weiterbildung der Menschen hier in diesem Land. ({6}) Die IG Metall, Bezirk Niedersachsen und SachsenAnhalt, hat am vergangenen Montag ein solides Konzept mit Maßnahmen für die Fachkräftesicherung im Ingenieursbereich vorgelegt. Ich kann Ihnen die Lektüre dieses Konzepts nur wärmstens empfehlen. Die Linke fordert: Streichen Sie die Anstiftung zum Lohndumping aus diesem Gesetzentwurf. Das wäre ganz einfach: Sie müssten einfach nur die Vorgaben der EURichtlinie umsetzen. ({7}) Mein Kollege Wunderlich hat das hier schon dargelegt. ({8}) Orientieren Sie die Mindestgehaltsgrenze am durchschnittlichen Bruttojahresgehalt eines Vollzeitbeschäftigten und lassen Sie uns dann darüber sprechen, wie wir die Fachkräftesituation verbessern können, und zwar im Interesse der zuwandernden und der einheimischen Beschäftigten. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort die Kollegin Kerstin Andreae.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wichtigste Ressource unserer Wirtschaft sind die Köpfe gut ausgebildeter Fachkräfte. Der VDI sagt: Uns fehlen derzeit 110 000 Ingenieure; damit einher geht ein Wertschöpfungsverlust von 8 Milliarden Euro. Deutsche Schlüsselindustrien wie Maschinenbau, Elektrotechnik, Fahrzeugbau und Telekommunikation sind massiv betroffen. Aber auch in anderen Branchen fehlen Fachkräfte; etwa im Pflegebereich gibt es 42 000 offene Stellen. Deshalb brauchen wir eine bessere Aus- und Weiterbildung von Jugendlichen und von älteren Beschäftigten und natürlich die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt. Darüber hinaus sind deutlich attraktivere Bedingungen für qualifizierte Spezialisten und Hochschulabsolventen aus dem Ausland und deren Familienangehörige vonnöten. Ich betone: Es bedarf deutlich besserer Bedingungen. Diese beiden Aspekte - Bildung hier, Zuwanderung dort - dürfen wir nicht gegeneinander ausspielen; wir brauchen beides. ({0}) Die Umsetzung der EU-Hochqualifizierten-Richtlinie wäre eine Chance für eine neue Willkommenskultur. Aber Sie verstecken sich hinter dieser Richtlinie, anstatt sie als Türöffner zu nutzen. Viele Regelungen in diesem Gesetzentwurf sind kleinteilige Ausnahmen, die manches eher erschweren. Damit bauen Sie Hürden auf. Die in Sonntagsreden geforderte Willkommenskultur wird genau damit nicht geschaffen. Sie verstecken sich. Sie springen halb, aber keineswegs ganz, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition. ({1}) Ich möchte ein Beispiel nennen. Herr Vogel hat von der arbeitsplatzunabhängigen Einwanderung von Hochschulabsolventen gesprochen. Gute Idee! Hochschulabsolventen können für sechs Monate - nach unserer Auffassung wäre ein Zeitraum von einem Jahr besser gewesen - hierherkommen; das ist okay. Um kommen zu dürfen, müssen sie keinen Job vorweisen, sondern es reicht, wenn sie sich darum bemühen. Wunderbar! Warum steht im Gesetzentwurf, dass diese Regelung nach vier Jahren ausläuft? Das ist doch keine Willkommenskultur, mit der Sie signalisieren: Klar, wir machen etwas für euch. Stattdessen schaffen Sie eine weitere Hürde. Wovor haben Sie denn Angst? ({2}) - Natürlich können Sie nach vier Jahren eine bessere Regelung schaffen. ({3}) Entschuldigung, Gesetze verabschiedet man nicht mit der Absicht, irgendwann einmal bessere zu verabschieden. Stattdessen bringt man das Bestmögliche auf den Weg, und wenn man weiß, wie es besser geht, dann setzt man es gleich um. Mit dem, was Sie tun, signalisieren Sie nur - darauf bezieht sich doch der Streit zwischen Ihnen -, dass Sie nicht wirklich wollen, dass wir uns hier als offene, moderne Gesellschaft präsentieren. ({4}) Immer wieder tragen Sie Scheuklappen, und immer wieder nähern Sie sich der Sache mit Angst vor zu viel Zuwanderung. ({5}) Stattdessen sollten Sie einfach sagen: Ja, ausländische Hochschulabsolventen, wir sehen es gern, dass ihr zu uns kommt. - Das ist die Botschaft, die Sie senden sollten. Wovor haben Sie eigentlich Angst? ({6}) Dass uns jetzt eine große Anzahl von ausländischen Fachkräften Arbeitsplätze wegnimmt, das ist doch nicht die Realität. ({7}) Wir müssen eine Willkommenskultur schaffen und den ausländischen Hochschulabsolventen sagen: Ja, kommt zu uns! Unser Fachkräftemangel ist allein national nicht zu bewältigen. ({8}) Um damit fertigzuwerden, brauchen wir auch Hochschulabsolventen aus dem außereuropäischen Ausland. ({9}) Dann müssen Sie aber vor allem auch bessere Rahmenbedingungen für die Familienangehörigen schaffen. ({10}) Herr Vogel, der von Ihnen erwähnte Philippiner ist doch vielleicht ein junger Mann, der Familie hat. Für ihn wird relevant sein: Was ist mit meinen Familienangehörigen? Können sie mitkommen? ({11}) Wir müssen uns fragen: Was müssen wir ihnen anbieten? Wie sind die Regeln für einwanderungswillige Fachkräfte? Wie werden ihre Familienangehörigen hier aufgenommen? Mit dem vorliegenden Regelwerk bauen Sie keine Brücken; Sie haben Hindernisse aufgestellt. Das Entscheidende ist, dass wir bessere Rahmenbedingungen für Familienangehörige schaffen. ({12}) - Nein, das steht leider auch noch im neuen Entwurf. Sie könnten aber auch andere Sachen machen: die Vereinfachung der Einreisebürokratie. Laut Normenkontrollrat dauert es sechs Wochen und länger, bis ein Visum erteilt wird. Die reine Bearbeitungszeit beträgt einen halben Tag. Sie könnten außerdem ein zentrales Informationsportal auf Deutsch und Englisch ins Internet stellen. Jetzt noch die Sache mit den Deutschkenntnissen: Die Sprache der Wirtschaft wird mehr und mehr Englisch. Wenn wir hier immer wieder sagen, dass Deutschkenntnisse für die Vergabe einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis verpflichtend sind, dann sind wir nicht am Weltmarkt und an einer modernen Zukunft orientiert, dann sind wir nicht an einer Wirtschaft orientiert, die auf dem Weltmarkt bestehen muss. Die Bindung der Aufenthaltserlaubnis an Deutschkenntnisse ist realitätsfremd. Das sollten Sie hier ändern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Andreae. Sie sind schon anderthalb Minuten drüber.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Fazit: Wir kommen an einer grundlegenden Neuausrichtung der Zuwanderungspolitik nicht vorbei, aus humanitären Gründen, aber auch weil wir sonst nicht nur den Kampf um die kreativsten Köpfe, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft verlieren. Hören Sie mit diesem ideologischen Klein-Klein auf und entwickeln Sie eine Willkommenskultur, die tatsächlich ihren Namen verdient. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Das Gesetz, das wir heute debattieren, ist in einem Gesamtzusammenhang zu sehen. Es ist in dem Gesamtzusammenhang zu sehen, dass wir aufgefordert sind, den sich weiterhin zuspitzenden Fachkräftemangel zu bekämpfen. Eines muss aber auch klar sein: Der Schwerpunkt muss weiterhin auf der Pflege und der Hebung des inländischen Potenzials liegen. Es geht auch in Zukunft darum, mehr für die Sicherung der Beschäftigung für die schon aktiv im Arbeitsleben stehenden Menschen zu tun. Es wird in Zukunft verstärkt darum gehen, mehr für die Integration von Arbeitsuchenden, auch für die Integration von Arbeitsuchenden mit Handicaps, in den ersten Arbeitsmarkt zu tun. Wir müssen weiterhin die Bildungschancen auch der Benachteiligten von Beginn an erhöhen. Es wird in Zukunft verstärkt darum gehen, mehr in die Qualifizierung von Jugendlichen und Arbeitsuchenden zu investieren, insbesondere in die Aus- und Weiterbildung. Es wird, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch darum gehen, sich noch mehr der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zuzuwenden. Dazu gehören Dinge wie der vollkommen richtige Ausbau von Kinderkrippen und Kinderbetreuungseinrichtungen für unter Dreijährige. Hier investiert die christlich-liberale Koalition insgesamt 4 Milliarden Euro. Das ist richtig und gut. Genauso richtig ist, dass auch das Betreuungsgeld kommt. Das eine schließt das andere nicht aus. Der Staat hat hier nicht die Aufgabe und auch nicht das Recht, eine Lebensform der anderen vorzuziehen und sie vorzugswürdig zu behandeln. Wir müssen beides tun - nicht das eine tun und das andere unterlassen -: sowohl in den Bereich der Kinderkrippen und Kinderbetreuungseinrichtungen investieren als auch denjenigen etwas zuteilwerden lassen, die nicht von den Kinderkrippen Gebrauch machen, aus welchen Gründen auch immer. Der Staat hat nicht das Recht, hier diskriminierend vorzugehen. ({0}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das Gesetz, das heute verabschiedet wird, schafft kein grundlegend neues Zuwanderungsrecht; aber es ist eine zeitgemäße und moderne Anpassung an die Bedürfnisse der Arbeitswelt und an die wirtschaftliche Situation. Ich kann durchaus verstehen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dass Sie sich echauffieren; denn Sie sind orientierungslos. ({1}) Die SPD - liebe Frau Kollegin Kolbe, Sie haben es angekündigt - wird sich kraftvoll enthalten. Allein dies zeigt schon: Es klappt nicht mehr, mit den alten Stig20896 Stephan Mayer ({2}) mata, Klischees und Allgemeinplätzen zu agieren, die Sie uns bei derartigen Diskussionen immer um die Ohren hauen wollten. Es heißt dann, wir seien rückwärtsgewandt, wir wollten nur einer Wagenburgmentalität Vorschub leisten, wir wollten die Schotten dichtmachen. Wir handeln tatsächlich. Sie haben in Ihrer Regierungszeit immer nur geredet. Aber wir tun mehr für die Zuwanderung von Hochqualifizierten nach Deutschland. ({3}) Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, auch Sie haben sich im Innenausschuss kraftvoll enthalten. Lieber Herr Kilic, liebe Frau Andreae, Sie müssen schon einmal erklären, was denn nun gilt. Gilt die Aussage von Herrn Wieland im Innenausschuss, der klargemacht hat, dass sich die Grünen enthalten werden? Oder gilt Ihre Rote Karte, Herr Kilic? Ich war zunächst erschrocken, als Sie uns die Rote Karte gezeigt haben; als überzeugter Anhänger des FC Bayern München habe ich sofort gedacht: Nicht noch eine Sperre für das Champions-League-Finale; es reicht schon, wenn drei Stammspieler am 19. Mai gesperrt sind. Aber wir haben dann festgestellt: Ihre Rote Karte, Herr Kilic, ist vollkommen wirkungslos. ({4}) Wir werden weiterhin erfolgreich regieren. Wir werden im September oder Oktober nächsten Jahres eine Vertragsverlängerung von den Wählerinnen und Wählern in Deutschland bekommen. Wir werden trotz Ihrer Roten Karte wieder aufgestellt, weil wir handeln und nicht nur reden. ({5}) Der Grundsatz im Bereich der Zuwanderung Hochqualifizierter muss sein, dass wir uns verstärkt denjenigen zuwenden, die sich bereits in Deutschland befinden. Es ist leichter, diejenigen zum Bleiben zu bewegen, die bereits in Deutschland sind, als diejenigen, die noch nicht in Deutschland sind, zu motivieren, nach Deutschland zu kommen. Es mag durchaus sein, dass viele ausländische Hochschulabsolventen bisher den abstrakten Wunsch hatten, in Deutschland zu bleiben. Aber wir mussten feststellen, dass nur etwa 25 Prozent von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. 75 Prozent der ausländischen Hochschulabsolventen haben Deutschland nach dem Abschluss wieder verlassen. Interessanterweise sind die meisten nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, sondern in andere, vermeintlich attraktivere Länder wie die USA, Frankreich, Großbritannien oder die skandinavischen Länder gegangen. ({6}) Es gilt, sich diesem Personenkreis in Zukunft verstärkt zuzuwenden. Es ist deshalb richtig, dass wir die Frist für die Suche nach einem Arbeitsplatz von 12 auf 18 Monate verlängern. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt in Richtung der so vielzitierten Willkommenskultur. ({7}) Es ist auch richtig, dass wir die Frist für einen Aufenthalt von Hochschulabsolventen aus Nicht-EU-Ländern von drei auf sechs Monate verlängern. Voraussetzung dabei ist, dass sie nachweisen können, dass ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Dies ist aber - auch das möchte ich vermerken - kein Einstieg in das Punktesystem. Das Visum, das in Zukunft für sechs Monate ausgereicht wird, ist wie bisher nachfrageorientiert, das heißt, es muss ein konkreter und der geforderten Qualifikation entsprechender Arbeitsplatz bei der späteren Arbeitsaufnahme nachgewiesen werden. Das Verfahren ist wesentlich unkomplizierter und unbürokratischer als ein Punktesystem und macht dieses aus meiner Sicht schon allein deshalb überflüssig. Ein Punktesystem wäre ein bürokratisches Monster, starr und unflexibel, weil nur irgendwelche abstrakten, möglicherweise gar nicht benötigten Qualifikationen ohne einen konkreten Arbeitsplatznachweis bewertet werden müssten. Ich möchte auf das Beispiel Kanada, insbesondere auf die Provinz Quebec verweisen, die immer als Beispiel einer Vorzeigeprovinz herangezogen wird. Fahren Sie einmal dorthin. Die Arbeitslosigkeit in Quebec ist höher als in Deutschland. Die Begeisterung über das dort praktizierte Punktesystem ist beileibe nicht so groß, wie uns hier von mancher Seite weiszumachen versucht wird. Ein Punktesystem ist starr, unflexibel, und es bedeutet, dass jeder, der die Punkteanzahl einfach nur von der Quantität her erfüllt, eine Niederlassungserlaubnis in Kanada erhält, ohne dass er einen konkreten Arbeitsplatz nachweisen muss, was zur Folge hat, dass viele entweder sofort oder zumindest sehr schnell in die Arbeitslosigkeit rutschen. ({8}) Es ist außerdem richtig, dass die Neuregelung auf drei Jahre befristet ist, aber das heißt nicht, dass sie nicht fortgesetzt wird; das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen, Frau Kollegin Andreae. Wenn ein neues Instrument eingeführt wird, dann ist es aus meiner Sicht richtig, drei Jahre abzuwarten, die Erfahrungen zu evaluieren und dann ganz offen darüber zu debattieren, ob es richtig ist, die Regelung nach Ablauf der drei Jahre fortzusetzen. ({9}) Genauso richtig ist es, dass die Niederlassungserlaubnis zunächst nicht als unbefristete, sondern als befristete Aufenthaltsgenehmigung gewährt wird. Dadurch besteht die Möglichkeit, Anreize zu schaffen. Wer einen entsprechenden Nachweis über Deutschkenntnisse der Stufe B 1 erbringen kann, erhält einen Bonus von einem Jahr, das heißt, dass schon nach zwei Jahren die unbefristete Niederlassungserlaubnis in Deutschland gewährt wird. Das zeigt, dass wir Ernst machen mit einer erfolgStephan Mayer ({10}) reichen Politik der Integration in die deutsche Gesellschaft. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, es hat überhaupt nichts mit Zwangsgermanisierung und Deutschtümelei zu tun, wenn wir Anreize schaffen, Deutsch zu lernen. ({11}) Es ist nun einmal so, Frau Kollegin Andreae: Wenn man sich in Deutschland aufhält, muss man Deutsch können und sich in der deutschen Gesellschaft bewegen können, obwohl die Lingua franca im Wirtschaftsleben mittlerweile Englisch ist. Lieber Herr Kollege Beck, Sie haben gerade auf mein Idiom Bezug genommen. Ich möchte dazu sagen, dass es eine neue Studie im Zusammenhang mit der Evaluation aller 16 Bundesländer gibt, was die Deutschkenntnisse, das Sprachverständnis, die Orthografie usw. anbelangt. Erstaunlicherweise hat Bayern - für die kundigen Thebaner ist das aber gar nicht so erstaunlich - am besten abgeschnitten. ({12}) Wenn die Baden-Württemberger zu Recht behaupten: „Wir können alles, außer Hochdeutsch“, dann kann Bayern mittlerweile sagen: Wir können alles, auch Hochdeutsch. ({13}) Abschließend darf ich noch sagen, dass wir einen deutlichen Fortschritt in Sachen Entbürokratisierung und Schaffung von Rechtssicherheit erreichen, indem wir einen langgehegten Wunsch der Wirtschaft in die Tat umsetzen, dass nämlich bei der Vorrangprüfung mit einer Genehmigungsfiktion gearbeitet wird. Nach zwei Wochen gilt die Vorrangprüfung als erfüllt. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, insgesamt kann man festhalten: Wir schaffen mit dieser Neuregelung ein intelligentes und interessengeleitetes Zuwanderungsrecht, das auch dem Gedanken des Humanismus und des christlichen Menschenbildes Rechnung trägt. Derjenige, der verfolgt wird, dessen Leib und Leben bedroht sind, hat immer die Möglichkeit, in Deutschland Zuflucht zu finden. Betonen möchte ich zuletzt: Nach der Beschlussfassung über dieses Gesetz sehe ich die Wirtschaft verstärkt in der Verantwortung, dieses Gesetz sinnvoll anzuwenden und aktiv mehr für die Anwerbung von ausländischen Fachkräften zu tun, damit diese nach Deutschland kommen. Herzlichen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller. ({0})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die SPD-Fraktion möchte ich Herrn Kollegen Mayer und anderen sagen: Wir bleiben trotz einiger Ihrer Wortbeiträge bei Enthaltung. Das fällt uns nach anderthalb Stunden Debatte mit Positionierungen, die teilweise kaum zu ertragen waren, jedoch ein wenig schwerer. Ich will das begründen. Worum geht es uns? Wir haben schon jetzt die Sorge, dass wir zu wenig Fachkräfte haben. Der Bedarf wird möglicherweise steigen. Wir werden ihn aber nur schwer decken können. Nach den anderthalb Stunden frage ich mich angesichts der Themen, die wir hier behandelt haben: Wie würden es eigentlich Interessierte, die aus dem Ausland zu uns kommen wollen, einschätzen, wie willkommen sie sind, wenn sie hören, wie wir hier debattieren? Ich glaube, da war mehr Abschreckung im Spiel als tatsächliche Einladung. ({0}) Wie würden Menschen, die schon hier sind und einen Migrationshintergrund haben und deren Motivation und Potenziale durch Ihre Politik überhaupt nicht abgeholt werden, diese Debatte von anderthalb Stunden verstehen? Weiter frage ich: Wie verstehen eigentlich die Bildungsverlierer, von denen wir in Deutschland viele haben, unsere Diskussion? ({1}) Wenn wir über Fachkräfte und Bedarfssicherung reden, brauchen wir einen Dreiklang von Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Innenpolitik. Wenn ich auf Ihre Politik schaue, gibt es da keine Harmonie. Ich höre da einen Missklang nach dem anderen. ({2}) Denn wir tun zu wenig für die Menschen in Deutschland, die wir entwickeln wollen, damit sie gute Fachkräfte werden. Wir haben Bildungsverlierer ohne Ende. ({3}) Wir sind stolz darauf - jedenfalls einige von Ihnen -, dass wir jährlich nur noch 53 000 Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss haben. Was machen wir mit über 7 Millionen funktionalen Analphabeten, die erwerbsfähig sind? Wir lassen sie allein. Es gibt bei uns auf dem Arbeitsmarkt Potenziale ohne Ende, die aber nicht Ihr Interesse für politische Aktion auslösen. Deshalb sage ich: Wir erkennen die Schritte an, die Sie jetzt auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts unternommen haben. Seien Sie aber ehrlich: Wären Sie ohne die EU-Richtlinie da hingekommen? Ich gehe gerne noch einmal auf den ausgezeichneten Wortbeitrag meiner Kollegin Kolbe ein. „Mit großer Verspätung“ und „zum Jagen getragen“, das waren ihre Worte. Dazu kann ich nur sagen: Das unterschreiben die Sozialdemokraten sofort, weil sie leider recht hat. ({4}) Kommen wir zu dem Thema gute Arbeit: Ist es eigentlich attraktiv, zu uns zu kommen, wenn man weiß, dass wir mehr Teilzeit- und befristete Stellen als Vollzeitstellen und unbefristete Arbeitsverhältnisse haben? Steht das auf der Einladungskarte als Plus? Steht als Plus auf der Einladungskarte an diejenigen, die wir haben wollen: „Wir machen Betreuungsgeld statt Krippenausbau“? Ist es einladend, wenn wir sagen: „Ja, wir kümmern uns auch um diejenigen, die in der Grundsicherung sind. Wir erhöhen die Hinzuverdienstgrenzen, aber, ehrlich gesagt, um existenzsichernde sozialversicherungspflichtige Beschäftigung kümmern wir uns nicht“? Ist das einladend? Kommen die Leute aufgrund dieses Klimas gerne nach Deutschland? Man gewinnt den Eindruck, dass Sie sich geradezu wehren müssen, weil Millionen von Menschen an unseren Grenzen darauf warten, endlich nach Deutschland kommen zu können, dass sich dort regelrecht Schlangen bilden. Und dann sagen wir ihnen noch: Sie sind uns willkommen, wenn Sie hochqualifiziert sind. Dann können Sie gerne - allerdings mit vielen Einschränkungen, über die heute schon gesprochen wurde - Ihre Familie mitbringen. - Wissen Sie, das ist ein wenig halbherzig. Ich glaube, diese Halbherzigkeit spüren alle, um die wir eigentlich werben. Wir sind doch nicht die einzige Nation, die um Hochqualifizierte wirbt. Viele Staaten, nicht nur europäische, sagen: Wir brauchen das für unsere Entwicklung. Herr Kollege Mayer, die kanadische Provinz Quebec ist ein schlecht gewähltes Beispiel. Ihre Sachkenntnis scheint nicht tief genug zu gehen. In dieser Provinz, in der Französisch gesprochen wird, wird Kompetenz in französischer Sprache besonders hoch bepunktet. Die von Ihnen angesprochene Schieflage ist typisch für diese eine Provinz. Deshalb taugt Quebec nicht als Beispiel. Ich habe leider recht, auch wenn Sie mit dem Kopf schütteln. ({5}) Ich komme auf unseren Antrag zurück, den ich wesentlich zukunftsweisender finde. Wir sagen: An einem Punktesystem ist vermutlich viel Gutes. Es lohnt, es auszuprobieren. Es lohnt, die Sache zu überprüfen und sie nicht gleich in Bausch und Bogen abzulehnen. Denn eines ist klar: Neben den mangelhaften Regelungen, die Sie zur Umsetzung der Richtlinie vorschlagen und die wir heute den Bundestag passieren lassen, haben Sie nichts im Köcher, was echte Zuwanderung möglich macht. Deshalb werden die in Deutschland lebenden Ausländer sagen: Die Willkommenskultur ist noch mächtig ausbaufähig. - Dafür sollten wir eine Menge tun. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Tankred Schipanski von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute vorliegende Gesetzespaket bezieht sich auf eine typische Querschnittmaterie zwischen den Bereichen Inneres, Bildung und Arbeit. Ein ganz herzliches Dankeschön an die involvierten Arbeitsgruppen. Ein herzlicher Dank an die vielen Abgeordneten, die an der Vorbereitung dieses Gesetzespakets mitgearbeitet haben. Im Bildungsbereich waren das unser Sprecher Albert Rupprecht und von der FDP Patrick Meinhardt. Im innenpolitischen Bereich waren das der Kollege Grindel und der Kollege Wolff. Als Forschungs- und Bildungspolitiker der Koalition kann man nur sagen: Es hat sich gelohnt. Die Anhörung am 23. April dieses Jahres hat von allen Sachverständigen viel Lob und Anerkennung gebracht. ({0}) Die Sachverständigen der Bundesagentur für Arbeit, des sächsischen Innenministeriums, des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, ein Richter vom Verwaltungsgericht in Darmstadt und die Sachverständigen unserer Verbände, des Wirtschaftsrats, des BVMW, des Hochschulverbands und der BDA, alle waren sich einig: Dieses Gesetz ist ein großer Wurf. ({1}) Der Kollege Stephan Mayer hat zu Recht festgestellt: Das Verhalten der SPD, ihre Enthaltung heute, ist einfach nicht nachvollziehbar. ({2}) Die SPD hat, wie bei der ersten Lesung, keine einheitliche Position. Frau Kolbe schürt hier gemeinsam mit den Linken Angst vor Lohndumping. Das ist billiger Populismus. ({3}) Im Kern dieses Gesetzespakets geht es um Hochqualifizierte; daran möchte ich in dieser Debatte noch einmal erinnern. Heinrich Alt von der Bundesagentur für Arbeit hat in der Anhörung ebenso wie Reinhard Grindel heute hier im Plenum richtigerweise festgestellt: In Deutschland haben wir bei den Hochqualifizierten immer noch eine negative Wanderungsbilanz. Das heißt, es gibt mehr Hochqualifizierte, die Deutschland verlassen, als solche, die zuziehen. ({4}) Genau da setzt die christlich-liberale Koalition, insbesondere in der Bildungspolitik, an, und zwar nicht nur mit diesem Gesetz, sondern auch, wie gestern Abend hier behandelt, mit einem Antrag zum wissenschaftlichen Nachwuchs, mit dem sehr ambitionierten Berufsanerkennungsgesetz, das wir im September 2011 hier beschlossen haben, ({5}) und mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz, über welches wir in Kürze in diesem Hohen Hause debattieren werden. ({6}) Heute sprechen wir über Änderungen des Aufenthaltsgesetzes und der damit verbundenen Verordnungen. Das alles sind ganz konkrete Maßnahmen, die die Willkommenskultur in Deutschland etablieren. Es ist schon verwunderlich, welche Seiten des Hohen Hauses heute die Willkommenskultur etabliert haben möchten. Frau Kolbe, Sie haben versucht, diesen Begriff zu interpretieren. Ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht nötig; denn wir, die Koalition, haben diesen Begriff bereits klar besetzt. Wir setzen mit diesem Gesetz nicht irgendwelche Forderungen aus einem SPD-Antrag um, sondern Forderungen der Bologna-Konferenz des vergangenen Jahres. Wir setzen Ideen um, die wir durch intensive Gespräche mit den Studierenden und den Lehrenden an den Hochschulen entwickelt haben, ({7}) aber auch durch Gespräche mit Unternehmern vor Ort. Diese Koalition ist eben nah an den Menschen und kann zuhören. ({8}) Blicken wir einmal auf die neuen Regelungen für ausländische Studenten. Ich nenne dazu immer die entsprechenden Paragrafen, damit Kollege Kilic die Systematik dieses Gesetzes versteht. § 16 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz: Die Begrenzung der Beschäftigung in einem Nebenjob wird von bisher maximal 90 Tagen auf 180 Tage pro Jahr erweitert. ({9}) § 16 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz: Ausländische Hochschulabsolventen, die in Deutschland ihren Abschluss erworben haben, konnten bislang nur zwölf Monate bei uns bleiben, bevor sie eine Anstellung gefunden haben mussten. Diese Orientierungsphase verlängern wir auf 18 Monate. Ähnliches gilt für einen neuen Aufenthaltstitel, § 18 c Aufenthaltsgesetz, den wir für ausländische Absolventen eingeführt haben. Das sind wirkungsvolle Maßnahmen. Es geht auch darum, junge Unternehmer zu gewinnen. Wir erleichtern Unternehmungsgründungen bzw. Selbstständigkeit über § 21 des Aufenthaltsgesetzes und ergänzen somit die Entrepreneurship-Studiengänge an den Hochschulen. Sie sollten also keine Schwarzmalerei betreiben. Wenn Sie an die Hochschulen gehen, werden Sie feststellen, dass man sich dort über das Gesetz freut. In Gesprächen an meiner Heimathochschule in Ilmenau - dort gibt es etwa 800 ausländische Studierende - wurde deutlich, dass die ausländischen Studierenden begeistert von diesem Gesetz und dankbar dafür sind. Wir gehen weit über die Umsetzung der EU-Richtlinie hinaus. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schipanski, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kilic?

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich habe nur noch eine halbe Minute Redezeit.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Redezeit wird dafür angehalten.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Er kann ja nach meiner Rede eine Kurzintervention machen. Ich darf gerade den Grünen noch ein Sahnehäubchen präsentieren; dies haben sie wahrscheinlich nicht gesehen. § 3 der Beschäftigungsverfahrensverordnung wird ebenfalls geändert. ({0}) Die Ehepartner ausländischer hochqualifizierter Fachkräfte dürfen in Deutschland künftig eine Beschäftigung ausüben, ohne dass dies zuvor von der Ausländerbehörde genehmigt werden muss. Für die Betroffenen ist dies ein Meilenstein. ({1}) Abschließend darf ich sinngemäß die Aussage eines Sachverständigen der Universität Konstanz wiedergeben, der am Montag feststellte: Man hat mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für die betroffenen Gruppen alles gemacht, was man machen kann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Dr. Matthias Zimmer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Arbeitsmarktpolitiker muss ich sagen: Für den deutschen Arbeitsmarkt ist die Umsetzung der Hochqualifiziertenrichtlinie eine gute Nachricht. Die vorgeschlagenen Maßnahmen helfen uns, Arbeitsplätze zu sichern und Arbeitsplätze neu zu schaffen. Das betrifft nicht nur den Bereich der Hochqualifizierten, sondern ich sehe auch indirekte positive Wirkungen für die weniger Qualifizierten, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben. Damit kommen wir unserem Ziel näher, gerade auch diesen Menschen eine Arbeitsperspektive zu bieten. Sosehr ich diese Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verstehe - sie ist richtig -: Es geht auch um den Erhalt und Ausbau von Beschäftigungschancen derjenigen, die nicht unter diese Richtlinie fallen. Das hat Kollege Vogel in aller Deutlichkeit gesagt. Ich sage sehr deutlich: Das darf keine isolierte Maßnahme sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anzahl derjenigen abnimmt, die ohne Schulabschluss und Ausbildung sind. Wir müssen die Erwerbsbeteiligung Älterer fördern und für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. Diese unterschiedlichen Bausteine gehören zusammen und ergänzen sich. ({0}) Besonders gefreut hat mich - der Kollege Schipanski ist darauf eingegangen -, dass wir die Anreize für ausländische Studenten, neben dem Studium zu arbeiten, verbessert haben und ihnen auch eine längere Frist eingeräumt haben, nach dem Studium hier eine Arbeit zu finden. Ich habe es immer als widersinnig betrachtet, junge Menschen aus dem Ausland hier bei uns zum Studium zuzulassen und es ihnen nach dem Studium so schwer zu machen, bei uns eine dauerhafte Perspektive zu finden. Seien wir ehrlich: Wir können doch um jeden guten Studenten froh sein, der nicht in die USA oder nach Kanada geht, sondern sich für eine deutsche Universität entscheidet. ({1}) Die neue Regelung erleichtert den beruflichen Einstieg in Deutschland und ist auch ein Stück praktischer Integrationspolitik. Die Kollegin Kolbe hat ein Zitat von Max Frisch angeführt: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.“ Wir sind es den Menschen, die wir rufen, schuldig, sie nicht nur als Arbeitskräfte anzusehen. Dazu gehören meines Erachtens zwei Dinge: dass wir ihnen auf der einen Seite sehr deutlich sagen, was wir von ihnen erwarten, etwa was Sprachkenntnisse oder die Bereitschaft angeht, sich mit unserer Gesellschaft und unserer Kultur auseinanderzusetzen, dass wir auf der anderen Seite aber gleichzeitig eine Willkommenskultur der ausgestreckten Hand praktizieren. Hier können wir von klassischen Einwanderungsländern wie Kanada und Australien einiges lernen; die Kollegin Lösekrug-Möller hat das richtigerweise angesprochen. Meine Damen und Herren, wir sind aber auch im Wandel zu einer Arbeitnehmergesellschaft. Die Knappheit von Arbeitskräften führt dazu, dass wir auch in der Arbeitswelt über ein neues Miteinander nachdenken müssen. Ich finde deshalb die Idee sehr reizvoll, durch einen Ausbau der Mitarbeiterbeteiligung den Graben zwischen Kapital und Arbeit zu überbrücken und neue Formen des partnerschaftlichen Arbeitens zu etablieren. Das könnte ein Alleinstellungmerkmal werden, das uns für hochqualifizierte Arbeitskräfte auch international attraktiv macht. Gute Standards für gute Arbeit durch mitarbeiterorientierte Personalpolitik und eine gute Unternehmenskultur sind dabei auch eine Bringschuld der Wirtschaft. Die Forderung nach olympiareifen Arbeitnehmern, die billig sind, ist ein Irrweg. Der Mensch kommt nicht als Produktionsfaktor zur Welt, und er verlässt sie auch nicht als solcher. Nichts rechtfertigt die Annahme, er könne dazwischen darauf reduziert werden. ({2}) Wer in Arbeit nur einen Produktionsfaktor sieht, vergrault am Ende vielleicht diejenigen Menschen, die dringend gebraucht werden. Dann sucht sich der Produktionsfaktor nämlich eine Umgebung, in der er als Mensch ernst genommen wird und besser gedeihen kann. ({3}) Deutschland für Fachkräfte attraktiver zu gestalten und Abwanderung zu stoppen, ist also nicht nur eine Frage des Zugangs und der guten Bezahlung, sondern es bedarf auch einer neuen Form des Miteinanders, am Arbeitsplatz wie in der Gesellschaft. Dies zu leisten, ist häufig jenseits unserer Möglichkeiten als Gesetzgeber. Es ist aber in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie der Europäischen Union. Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9436, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8682 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. ({0}) Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9437. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschlie- ßungsantrag ist abgelehnt. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 17/9436 fort. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- fiehlt der Innenausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9029 mit dem Titel „Programm zur Unterstützung der Sicherung des Fach- kräftebedarfs mit Mitteln des Aufenthaltsrechts“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen und der Linken gegen die Stimmen von SPD und Grünen. Schließlich empfiehlt der Innenausschuss unter Buch- stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- sache 17/3862 mit dem Titel „Fachkräfteeinwanderung durch ein Punktesystem regeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist an- genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Grü- nen und Enthaltung der SPD-Fraktion. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 a bis c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Praxisgebühr abschaffen - Hausärztinnen und Hausärzte stärken - Drucksache 17/9189 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten jetzt abschaffen - Drucksache 17/9067 - c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zusatzbeiträge aufheben, Überschüsse für Abschaffung der Praxisgebühr nutzen - Drucksache 17/9408 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der SPD-Fraktion. ({1})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist Teil der Wahrheit: Die Praxisgebühr, die wir heute besprechen, ist damals von uns mit Unterstützung der Union, die im Vermittlungsausschuss den Vorschlag durchgesetzt hat, eingeführt worden. Wir müssen feststellen, dass wir, die SPD, die Praxisgebühr damals für richtig gehalten haben. Der Hintergrund ist ganz klar: Wir haben uns davon erwartet, dass es zu einer Reduktion der Zahl der Arztbesuche kommt. Wir haben damals erwartet, dass die hausärztliche Versorgung im Vergleich zur fachärztlichen Versorgung besser angesteuert werden kann, und wir haben damals ebenfalls davon erwartet, dass es ein höheres Kostenbewusstsein geben wird. Alle drei Erwartungen haben sich nachweislich nicht erfüllt: Die Zahl der Arztbesuche ist nicht gesunken. Nach dem, was wir wissen, gilt dies insbesondere auch für die Zahl der überflüssigen Arztbesuche. Es konnte nicht erreicht werden, dass Hausärzte im Vergleich zu Fachärzten einfacher angesteuert werden können, und es gibt auch kein gestiegenes Kostenbewusstsein, wie jeder der täglichen Praxis, den Studien und der Berichterstattung entnehmen kann. Somit kann man sagen: Die Praxisgebühr hat enttäuscht. Sie hat, wenn man so will, versagt und gehört daher abgeschafft. ({0}) Das ist insbesondere deshalb so, weil die Praxisgebühr auch unerwartete Nebenwirkungen mit sich bringt. Wir wissen, dass die Praxisgebühr Obdachlose, Einkommensschwache, Arbeitslosengeldempfänger und Menschen mit Migrationshintergrund und mit geringen Einkünften auch dann vom Arztbesuch abhält - oft im Übrigen ohne tatsächlichen Grund; denn oft sind sie von der Zuzahlung der Praxisgebühr gar nicht direkt betroffen -, wenn er sinnvoll ist. Das ist natürlich eine gravierende Nebenwirkung. ({1}) Ich spitze es zu: Man kann sagen, die Praxisgebühr ist ungerecht, weil sie Arme und Einkommensschwache belastet. Sie hat keine positive Wirkung. Eine Nebenwirkung ist, dass sie Einkommensschwache von nötigen Arztbesuchen abhält. Sie ist im Prinzip eine Arznei nur mit negativen Wirkungen und keiner positiven Wirkung und gehört daher vom Markt genommen. Es muss sozusagen der Rote-Hand-Brief verschickt werden, meine lieben Genossinnen und Genossen. ({2}) - Ich glaube, dass wir in dieser Frage, Herr Zöller, alle hier im Saal Genossinnen und Genossen sind; denn hier kann ja nicht über die Inhalte gestritten werden. Selbst Herr Bahr stimmt mir in dieser Sache ausnahmsweise zu. Jetzt muss man sich die Frage stellen: Wieso lehnt die Union weiterhin die Abschaffung der Praxisgebühr ab? Sie ist heute hier im Plenum die einzige Partei, die die Praxisgebühr weiter verteidigt. Ich kann es Ihnen sagen: Es geht um Ideologie. Es kann keine Sachgründe geben, sondern ihre Ideologie ist: Je mehr Zuzahlungen und je mehr direkte Belastungen es für den Versicherten und für den Patienten gibt, desto besser ist das Gesundheitssystem. ({3}) Hier zeigt sich noch einmal die alte Zuzahlungsideologie der Union. Diese Ideologie wird heute von den Bürgern, von den Patienten und von allen anderen Fraktionen hier im Saal abgelehnt. ({4}) Es ist eine konservative Ideologie, die darauf hinausläuft, dass man Dinge macht, auch wenn man weiß, dass sie nicht richtig sind, weil man glaubt, damit eine alte konservative Idee verteidigen zu können. Wir erleben das Gleiche derzeit beim Erziehungsgeld, oder, genauer gesagt, beim Nichterziehungsgeld. Mit dem Nichterziehungsgeld soll ein Anreiz gegeben werden, damit Einkommensschwache ihre Kinder nicht in die Kita bringen. Das ist Unsinn! ({5}) Bei der Praxisgebühr soll ein Anreiz gesetzt werden, damit Einkommensschwache nicht zum Arzt gehen. Auch das ist Unsinn. Somit ist es nichts anderes als eine Bestrafung und im Prinzip eine Sanktion gegen die Bedürftigen und aus meiner Sicht somit eine Politik gegen Vorbeugung und gegen Prävention. Wir müssen daher heute gemeinsam betonen, was wir gelernt haben. Wir werden gleich von den Kollegen von der Linkspartei das hören, was wir immer hören: Die Linkspartei hat das schon immer gewusst, zum Beispiel bei der Finanzkrise. ({6}) Es gibt kein Thema, bei dem Sie es nicht vorher schon besser gewusst haben; das wissen wir. ({7}) - Ja, ganz genau. Aber nichtsdestotrotz ist der Punkt heute der, dass wir aus gemachten Fehlern lernen. Wir sind gewählt, um zu regieren, um etwas gebacken zu bekommen. Was wir derzeit bei der Regierungskoalition sehen, zeigt: Die Regierungskoalition bekommt nichts gebacken. Es gibt kein noch so kleines Thema, bei dem Sie etwas gebacken bekämen. Selbst bei der Praxisgebühr sind Sie zerstritten. Minister Bahr von der FDP hat recht, wenn er sagt: Die Praxisgebühr hat keinen Wert. Auch die FDP kann einmal recht haben. ({8}) Nur weil die FDP einen Vorschlag unterstützt, ist er nicht automatisch falsch. ({9}) Aber was immer gilt, ist: Diese Regierung bekommt nichts mehr gebacken. Es gibt kein Thema, bei dem noch etwas entschieden werden könnte. ({10}) Daher sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich zurück. Beachten Sie: Der Wähler kann das nicht mehr ertragen. Der Wähler will, dass wir handlungsfähig sind. Der Wähler will, dass wir in der Sache streiten, nicht über Ideologien. Der Wähler will nicht, dass wir mit jeder Sachfrage Wahlkampf machen. ({11}) Das ist eine Tatsache. Wenn es so ist, dass Sie eine Position nicht verteidigen können, dass Sie keinen einzigen Vorteil für die Praxisgebühr anführen können, dann, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen und Nicht-Genossen von der Union, sage ich Ihnen: Nehmen Sie davon Abstand. Machen Sie das, was der Bürger will. Machen Sie das, was uns die Sachverständigen sagen. Machen Sie, wofür Sie gewählt sind. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort der Kollege Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genosse Lauterbach, ich erinnere mich an die Debatten, die wir vor zwei Jahren geführt haben, übrigens auch vor einer Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Sie verliefen damals nach dem Motto Und täglich grüßt das Murmeltier, und genau so machen Sie es jetzt sitzungswöchentlich auch. Wir haben damals übrigens - das ist ganz spannend regelmäßig in Aktuellen Stunden über Ihren Vorwurf diskutiert, wir würden im Gesundheitswesen nicht genug sparen. Das haben Sie 2010 gesagt: Wir sollten mehr sparen. Bei Ärzten, Krankenhäusern, Apothekern und der Pharmaindustrie sollten wir endlich einmal richtig hinlangen. Nun - zwei Jahre später - kann Ihnen, der Opposition insgesamt, das Geldausgeben nicht schnell genug gehen. ({0}) Sie wollen alle Zuzahlungen - das sind 5 Milliarden Euro - abschaffen. ({1}) Sie wollen mehr Geld für die Krankenhäuser. Frau Kollegin Bunge hat gestern angedeutet, sie könne sich bis zu 600 Millionen Euro mehr für die Apotheker vorstellen. Sie wollen also mehr für Ärzte und Krankenhäuser und im Zweifelsfall die Zuzahlungen streichen, ohne auch nur einen Satz darüber zu sagen, wie das gegenfinanziert werden soll. Das macht, wie übrigens Ihre ganze Rede, einmal mehr den Unernst deutlich, mit dem Sie diese Diskussion führen. ({2}) Ihnen geht es an dieser Stelle nicht um die Sache, sondern schlicht und ergreifend um die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Es ist bemerkenswert, dass nach dem Spruch „Currywurst ist SPD“, den ich für den Höhepunkt des Unernstes im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen gehalten habe, Frau Kraft und Frau Löhrmann vor dem Landtag in Nordrhein-Westfalen, einem Ort, an dem eigentlich über die Fragen der Landespolitik diskutiert werden müsste - in Nordrhein-Westfalen gäbe es viel zu diskutieren, was die Verschuldung angeht; das kann ich als Westfale sagen -, plakatieren: Die Praxisgebühr muss weg. Wenn es noch eines Beispiels bedurfte, dass es Ihnen nicht um die Sache, sondern um Klamauk und Wahlkampf geht, dann ist das an dem Tag deutlich geworden. ({3}) Schade ist daran, dass Sie es am Ende nicht mehr hinbekommen, zu dem zu stehen, was Sie selber beschlossen haben, und zwar aus guten Gründen. Sie sind in Ihrer ganzen Rede, die auch von Klamauk und Witzemachen geprägt war, nicht bereit gewesen, sich ernsthaft mit den ganzen Fragen auseinanderzusetzen. ({4}) SPD und Grüne haben 2004 aus guten Gründen die Praxisgebühr zusammen mit anderen Zuzahlungen mit unserer Zustimmung eingeführt. ({5}) Zuzahlungen und Eigenbeteiligung sind nämlich auch ein Ausdruck von Solidarität. Wir haben eines der besten Gesundheitswesen der Welt. ({6}) Wir bieten flächendeckend in allen Regionen des Landes eine Gesundheitsversorgung auf einem Niveau, wie es das in keinem anderen Land der Welt gibt, und jeder hat unabhängig vom Einkommen Zugang dazu. Ich behaupte, wir haben das beste Gesundheitssystem der Welt. Wir haben 2004 gemeinsam gesagt, dass sich derjenige, der von diesem hervorragenden Gesundheitssystem profitiert - das auch ein teures ist, aber wir wollen das -, im Rahmen seiner Möglichkeiten mit der Eigenbeteiligung auch ein Stück weit mit einbringen soll. Das ist auch Solidarität damit, dass wir ein so tolles System zur Verfügung stellen, auf das man auch unabhängig vom Einkommen und dem, was man nötig hat, zugreifen kann. ({7}) Bei der Eigenbeteiligung durch Zuzahlungen und Praxisgebühren gibt es aber Einkommensgrenzen. Ein chronisch Kranker muss nicht mehr als 1 Prozent seines Einkommens insgesamt für Zuzahlungen und Praxisgebühr aufbringen, die anderen nicht mehr als 2 Prozent. Das sind bei 800 Euro Rente oder Einkommen im Monat 8 Euro monatlich, die man im Fall der Fälle maximal an Zuzahlungen aufbringen muss. ({8}) Ich finde, das ist am Ende ausgewogen und ein Ausdruck von gegenseitiger Solidarität. Es bringt zum Ausdruck, dass man bereit ist, für den Nutzen des guten Gesundheitssystems auch etwas mit einzubringen, dass aber gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass niemand überfordert wird. Sie machen sich nicht einmal die Mühe, auch nur ansatzweise zu erklären, warum das 2004 eingeführt worden ist und warum auch das einen vernünftigen Kern hatte. Sie geben sich nur dem Wahlkampf hin, weil es viel einfacher ist, alles zu vergessen, was man einmal für richtig gehalten hat. ({9}) Hinzu kommt die Frage der Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung. ({10}) Ihnen kann es mit Hinweis darauf, dass unsere Finanzlage so gut ist wie seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten nicht mehr, nicht schnell genug gehen, das Geld schnellstmöglich auszugeben, ohne zu sagen, wie das mittel- und langfristig sauber finanziert werden soll. ({11}) Es ist erst einmal etwas Schönes - ich jedenfalls freue mich darüber -, dass es die Politik dieser christlich-liberalen Koalition geschafft hat, dass wir zum ersten Mal seit vielen Jahren in der Gesundheitspolitik nicht über Defizite, Sparmaßnahmen und Kostendämpfungen reden müssen, wie noch 2004, als wir etwa Brillen aus der Erstattung ausgegliedert haben. Wir haben aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung und der Spargesetze dieser Koalition für 2011und 2012 ({12}) für Solidität und eine gute Finanzlage in der gesetzlichen Krankenversicherung gesorgt, wie es sie seit vielen Jahren nicht mehr gegeben hat. Ich finde, wir sollten uns zuerst einmal über die gute wirtschaftliche und finanzielle Lage freuen. ({13}) Sie erwecken den Eindruck, als wäre nun alles egal, weil es gut läuft. Mehr Geld für Krankenhäuser, Ärzte und Apotheker sowie Abschaffung der Zuzahlungen, jeder bekommt das, was er sich wünscht. ({14}) Sie können mir glauben: Wir würden das ebenfalls gerne machen. Aber wir sind der Meinung, dass wir auch Verantwortung für die langfristige Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung haben. Wir alle wissen, dass sich die Gesundheitsversorgung in einer älter werdenden Gesellschaft und in einem System, in das wir medizinischen Fortschritt integrieren wollen - wir wollen doch, dass die Menschen auch in Zukunft von dem profitieren, was die Medizin ermöglicht - verteuern wird. ({15}) Daher macht es doch Sinn, in guten Zeiten Rücklagen aufzubauen und diese dann in den Zeiten, in denen es teurer wird und wirtschaftlich nicht mehr so gut läuft wie im Moment, zu nutzen. Jedenfalls wäre es fatal, in einer beginnenden Wirtschaftskrise wie in den Jahren 2004, 2005 oder 2008 als Erstes die Krankenversicherungsbeiträge erhöhen oder ein massives Sparprogramm auflegen zu müssen; das wäre das Schlechteste. Alles, was wir vorschlagen und worüber wir diskutieren - zum Beispiel zusätzliche Leistungen oder geringere Einnahmen -, muss dauerhaft finanziert sein. Das ist es nicht, wenn man wie Sie kurzfristig auf 5 Milliarden Euro verzichtet. Sie machen die Praxisgebühr nicht umsonst zum Thema in einem Landtagswahlkampf; denn Sie wissen, dass man für die Forderung nach Abschaffung dieser Gebühr zuerst Applaus erntet. ({16}) Aber wir meinen, dass es zwar unpopulär, aber der Sache wert ist, sachlich zu argumentieren und darauf zu verweisen, dass die Praxisgebühr eine Komponente der Solidarität und der zukünftigen finanziellen Tragfähigkeit darstellt. Wir wollen deshalb an der Praxisgebühr festhalten und die Rücklagen in der gesetzlichen Krankenversicherung für schlechte Zeiten aufheben. Das ist zwar nicht populär, liegt aber im Interesse der Menschen und ist für eine medizinische Versorgung auch in Zukunft das Richtige und das Verantwortbare. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat für die Fraktion Die Linke der Kollege Klaus Ernst. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Anträge, mit denen wir uns heute befassen, sind höchst erfreulich. Aber ich kann nicht glauben, Herr Lauterbach, ({0}) dass ihr die unerwünschten Nebenwirkungen der Praxisgebühr erst nach sechs Jahren bemerkt haben wollt. Da hättet ihr ein wenig schneller sein sollen. ({1}) Sie alle haben die bundesrepublikanische Bevölkerung eigentlich einem Feldversuch ausgesetzt. Dieser ist gründlich gescheitert. Es ist erfreulich, dass Sie, meine Damen und Herren von der SPD, nun zur Vernunft kommen. Von Ihnen, Herr Spahn, kann man das nicht behaupten. ({2}) Die Praxisgebühr war von Anfang an grober Unfug. Es war von Anfang an klar, dass es den Menschen an die Geldbörse geht und dass Arztbesuche nicht mehr in dem Maße stattfinden, wie es notwendig wäre. Die Bürokratie wurde aufgebläht, und das ausgerechnet durch Sie, die Sie sich sonst immer gegen Bürokratie wenden. Die Parität bei der Finanzierung der Gesundheitsversorgung wurde weiter ausgehöhlt. Im sogenannten Zuzahlungsbericht des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen heißt es - das müsste Ihnen wirklich zu denken geben, auch Ihnen Herr Spahn, der Sie über alles Mögliche reden, nur nicht über die Patienten - zur Praxisgebühr: ({3}) Allerdings hat sie insbesondere bei einkommensschwachen Versicherten zu einer Verzögerung oder Vermeidung von subjektiv notwendigen Arztbesuchen beigetragen. Das sagen nicht wir, sondern die gesetzlichen Krankenkassen. Wenn Sie sich weiterhin weigern, die Praxisgebühr abzuschaffen, sind Sie persönlich für den sich verschlechternden Gesundheitszustand dieser Menschen mitverantwortlich, Herr Spahn. ({4}) Jetzt könnte man sagen: Die FDP macht es richtig. Fünf stellvertretende Ministerpräsidenten der Länder haben sich gegen die Praxisgebühr ausgesprochen. Es waren Heiner Garg, Martin Zeil aus Bayern - bei dem hat es mich besonders gewundert -, Jörg-Uwe Hahn, Jörg Bode und Sven Morlok. Alle sagen, dass die Praxisgebühr als Steuerungsinstrument versagt hat. Das Zahlungsausfallrisiko liegt bei den Ärzten, die Belastung für die Praxen ist hoch, und es gibt weitere Argumente. Das ist vollkommen richtig. In der gemeinsamen Erklärung der FDP-Minister heißt es dann - ich zitiere -: Die stellvertretenden Ministerpräsidenten der FDP erwarten von der Bundesregierung, dass die Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht länger mit der Erhebung einer Praxisgebühr belastet werden. Richtig. Da haben sie ausnahmsweise einmal recht. Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn. ({5}) Nur, ich sage Ihnen: Wir müssen uns natürlich die Frage stellen, warum wir die Praxisgebühr noch haben, wenn die Oppositionsparteien und auch die FDP gegen die Praxisgebühr sind. Warum existiert sie eigentlich noch? ({6}) Wir kommen nicht daran vorbei, dass die Linke im Jahr 2006 die Abschaffung der Praxisgebühr gefordert hat. Wer hat die Abschaffung der Praxisgebühr durch sein Nein hier im Bundestag verhindert? Das waren die CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Im Jahr 2011 haben wir erneut einen Versuch unternommen, die Praxisgebühr abzuschaffen. Wer war dagegen? Die CDU/CSU, die SPD, die FDP und die Grünen. Wir waren die Einzigen, die die Abschaffung gefordert haben. Jetzt wird es spannend. Was treiben Sie von der FDP eigentlich hier? Wir haben im Jahr 2012, vor kurzem, hier einen Vorschlag zur Abschaffung der Praxisgebühr vorgelegt und gesagt: Lasst uns sofort darüber abstimmen. - Wie haben Sie sich verhalten? Bei der Abstimmung darüber hat die CDU/CSU natürlich mit Nein gestimmt, auch die SPD hat mit Nein gestimmt - im Jahr 2012, wohlgemerkt -, auch die FDP hat mit Nein gestimmt. Jetzt machen Sie den doppelten Rittberger und stellen sich an die Spitze der Bewegung. Das glaubt Ihnen von der FDP doch kein Schwein mehr in diesem Land, um das einmal deutlich zu sagen. ({7}) Die Grünen haben schon richtigerweise mit uns gestimmt. Die Gründe sind spannend. Die SPD hat ihre Ablehnung immer damit begründet, die Abschaffung sei nicht finanzierbar. Die Grünen sagten früher, es fehle an Belegen, die eine Abschaffung rechtfertigten. Die FDP argumentierte, es fehle an Alternativen, wie die Anzahl der Arztbesuche begrenzt werden könne. Das waren Ihre Argumente. Es hat sechs Jahre gedauert, von 2006 bis 2012, bis einige zur Vernunft kamen - einige. Die CDU/ CSU ist noch weit von der Vernunft entfernt. Herr Spahn hat das gerade unter Beweis gestellt. Aber was Sie, Kolleginnen und Kollegen von der FDP, zurzeit treiben, ist der Hammer. Weshalb? Weil wir heute über einen Antrag der Linken entscheiden und die Praxisgebühr abschaffen könnten, wenn Sie nicht im Ausschuss die Behandlung unseres Antrags verhindert hätten, sodass er heute nicht zur Abstimmung steht. ({8}) Das ist die Wahrheit. ({9}) Ich kann Ihnen nur sagen: Was Sie treiben, schlägt dem Fass wirklich den Boden aus. ({10}) Sie rennen durch die Gegend, Ihre Vizeministerpräsidenten machen schöne Erklärungen, und wenn es zum Schwur kommt, dann machen Sie den schlanken Hasen. Sie laufen doch schneller rückwärts, als Sie nach vorne denken können. Das ist Ihr Problem, wenn es konkret wird. ({11}) Deshalb sage ich Ihnen: Was wir brauchen, ist eine Gesundheitspolitik im Interesse der Bürger. Sie führen die Leute hinter die Fichte. Sie tun so, als ob Sie etwas ändern wollten, aber in Wirklichkeit verhindern Sie die Abschaffung der Praxisgebühr. Das ist die Wahrheit. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus das Wort. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über zwei Anträge zur Praxisgebühr. Ich habe schon beim letzten Mal gesagt: Es ist doch schön, dass wir hier solche Luxusdebatten führen können; denn es geht auch darum, dass wir Überschüsse im System der gesetzlichen Krankenversicherung haben. Herr Lauterbach, ich bin richtig begeistert. Allein dieser Debatte heute zu folgen, war es schon wert, hier zu sein. ({0}) Sie als reumütigen, irregeleiteten Menschen zu erleben, der endlich zugibt, dass er unrecht gehabt hat, ist ein Grund, das heutige Datum im Kalender anzustreichen. Aber das nimmt Ihnen hier in diesem Saale überhaupt niemand ab. ({1}) Das Konzept der Praxisgebühr geht nämlich auf einen Vorschlag des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen zurück. In dem Vorschlag heißt es: In diesem Zusammenhang steht auch die Erhebung einer sog. Praxisgebühr … zur Diskussion. Dann werden viele Worte über die positiven Effekte einer finanziellen Schwelle gegenüber sogenannten Bagatell-Inanspruchnahmen geschrieben. Also, es wird die Praxisgebühr befürwortet. Nun dürfen Sie mal raten, wer einer der Sachverständigen war, der diesen Vorschlag verfasst und unterschrieben hat! ({2}) Na? ({3}) Richtig! Es war Karl Lauterbach, Institut für Gesundheitsökonomie, Universität Köln. ({4}) All die Jahre haben Sie so getan, als stünden Sie dahinter, lieber Herr Kollege Lauterbach, und jetzt auf einmal tun Sie so, als hätten Sie es schon immer gewusst. Das nimmt Ihnen niemand ab. ({5}) - Das haben Sie gesagt, und das kann auch niemand wegschieben. ({6}) Tatsache ist: Rot-Grün hat diese Praxisgebühr eingeführt. Nicht die FDP, sondern Rot-Grün war es, und das kann man hier gar nicht oft genug wiederholen. ({7}) Wenn Sie jetzt im NRW-Wahlkampf die Abschaffung der Praxisgebühr fordern, dann ist das absolut unglaubwürdig und unredlich. Es ist unseriös, weil Sie nämlich für diese Praxisgebühr verantwortlich sind. Wir werden nicht müde werden, das immer und immer wieder zu wiederholen. Ich sage es noch einmal: Ihren Sinneswandel jetzt nimmt Ihnen sowieso niemand ab. ({8}) Sicher ist es müßig, darüber zu streiten, wer wann zuerst geahnt hat, dass mit der Praxisgebühr vielleicht nicht das erreicht werden kann, was erreicht werden sollte. Aber ich finde es ganz wichtig, dass wir hier Erkenntnisse darüber gewinnen, was die Praxisgebühr ausmacht, was sie anrichtet, und diese Erkenntnisse dann in unsere Beratungen einzuführen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Lauterbach?

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber gern doch, Herr Kollege.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Dugnus, erinnern Sie sich daran, dass wir die Abschaffung der Praxisgebühr bereits gefordert haben, als noch gar nicht klar war, ({0}) dass Ihnen durch ein Missgeschick die Neuwahl in NRW droht? ({1}) Wir waren keine Hellseher. Ein Blick auf die Termine wird Ihnen zeigen: Nur die Linkspartei hat möglicherweise schon gewusst, dass es zu Neuwahlen kommt, und auch die Grünen. ({2}) Stimmen Sie mir somit zu, Frau Dugnus, dass wir dies schon gefordert haben, als wir von der Neuwahl noch nichts wussten, und dass Ihr Vorwurf daher nicht redlich ist? Wir haben Ihnen nicht vorgeworfen, dass Sie sich dieser Forderung jetzt im Wahlkampf NRW anschließen. ({3}) Das habe ich der FDP nicht vorgeworfen, weil ich das auch nicht unterstellen möchte. Wieso - das ist meine Frage - werfen Sie uns etwas vor, was nachweislich so nicht stimmen kann, derweil Sie sich selbst diesem Verdacht doch aussetzen? Das ist unredlich. ({4})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Lauterbach, Sie meinen sicher Scheinanträge wie die, die heute vorliegen, in denen es überhaupt nicht um die Praxisgebühr, sondern um andere Dinge geht, zum Beispiel um die Bürgerversicherung. Das nimmt Ihnen ja auch niemand ab. Wir werden in der Koalition ganz in Ruhe darüber diskutieren. Wir legen hier unsere Argumente auf den Tisch und werden im Gesundheitsausschuss mit unserem geschätzten Koalitionspartner diskutieren und die Argumente austauschen; dafür sind wir da. ({0}) Daran lassen wir die Öffentlichkeit teilnehmen. Wir hatten immer eine klare Positionierung zur Praxisgebühr. Insofern haben wir uns da nichts vorzuwerfen. Aber ich kann den Ball an Sie zurückgeben. Bei Ihnen sieht das, glaube ich, ein bisschen anders aus. ({1}) Ich würde jetzt gern in meiner Rede fortfahren und auf die Sachargumente zu sprechen kommen. - Die Steuerungseffekte, derentwegen die Praxisgebühr eingeführt wurde, sind - das wissen wir alle; das wurde bereits erwähnt - überhaupt nicht eingetreten. Die Gebühr hat die Zahl der sogenannten Bagatell-Inanspruchnahmen - darum geht es ja - nicht nennenswert verringert. Wo die Praxisgebühr allerdings unschlagbar ist - das ist unser Credo als FDP -, ist der unnötige Bürokratieaufwand, der dadurch erzeugt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Praxisgebühr in Höhe von 10 Euro wurde nach Angaben der KBV, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, im Jahr 2010 156 Millionen Mal erhoben. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Dugnus, es gibt einen weiteren Wunsch, eine Frage zu stellen oder eine Zwischenbemerkung zu machen, nämlich vom Kollegen Harald Weinberg.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jetzt würde ich gern meine Ausführungen zu Ende bringen,

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gut.

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- und nachher können wir gern weitermachen. Geht man bei der Praxisgebühr von einem Bearbeitungsaufwand von nur vier Minuten aus, kommen wir im Jahr auf stolze 624 Millionen Minuten administrativen Aufwand insgesamt. Das entspricht über 10 Millionen Stunden, die in deutschen Arztpraxen für die Erhebung der Praxisgebühr aufgewendet werden. ({0}) Bei 87 000 Arztpraxen macht das pro Jahr und Praxis einen Durchschnittswert von ungefähr 119 Stunden, die einfach so für die Erhebung der Praxisgebühr draufgehen. Hinzu kommen 1,4 Millionen Mahnverfahren. In der Summe sprechen wir von Verwaltungskosten in Höhe von 360 Millionen Euro. Wen wir auch nicht vergessen dürfen, sind die Patienten. Sie haben ebenfalls einen Aufwand, etwa wenn sie sich von der Praxisgebühr befreien lassen wollen. Sie müssen Belege sammeln und das Ganze einreichen. Und wenn sie die 10 Euro nicht in der Tasche haben, müssen sie noch einmal in die Praxis gehen und die Praxisgebühr nachbezahlen. Im Ergebnis ist klar: Die Praxisgebühr ist ein Bürokratiemonster, und zwar eines, das keinerlei Steuerungswirkung entfaltet hat. ({1}) Jetzt komme ich zu den lieben Kolleginnen und Kollegen der Opposition. Wie ich eben schon angedeutet habe, ist in den Überschriften Ihrer Anträge die Forderung nach Abschaffung der Praxisgebühr natürlich teilweise enthalten. Sie versuchen hier heute vergeblich, einen vermeintlichen Widerspruch zwischen unserer Ablehnung Ihrer Anträge und unserer Forderung nach Abschaffung der Praxisgebühr herzustellen. Die Wahrheit ist aber, dass Ihre Anträge Mogelpackungen sind; denn Ihnen geht es doch gar nicht um die Abschaffung der Praxisgebühr. Im Kern wollen Sie alle auf der linken Seite eine, wie auch immer geartete, Bürgerversicherung einführen ({2}) - sehen Sie; Sie geben es ja zu -; eine Bürgerversicherung, in die jede noch so kleine Sparbucheinlage und jede noch so kleine Mieteinnahme einfließen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Aschenberg-Dugnus, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Klaus Ernst?

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, danke; ich würde gerne zu Ende kommen. ({0}) - Jetzt geht es nämlich gegen Sie. Das müssen Sie sich erst noch einmal anhören. Im Gewand eines Antrags auf Abschaffung der Praxisgebühr präsentieren Sie uns nämlich in drei unterschiedlichen Varianten den gleichen Unsinn der Bürgerversicherung. Deswegen werden wir Ihre Anträge auch ablehnen. Die FDP plädiert für die Abschaffung der Praxisgebühr. Wir plädieren aber auch für eine sachliche Debatte über den Weg, auf dem wir dahin kommen. Wir widmen uns den tatsächlichen Herausforderungen des Gesundheitssystems. Wir haben es in der Koalition in kürzester Zeit geschafft, die Finanzen auf eine stabile Grundlage zu stellen. Wir haben dafür gesorgt, dass die Menschen auch im ländlichen Raum beste medizinische Versorgung erhalten. Jetzt sorgen wir dafür, dass die Pflegeversicherung zukunftsfest gemacht wird. Zudem haben wir noch ein Plus in den Kassen. Ich denke, dass sich das alles sehen lassen kann. Stellen Sie ruhig weiter Ihre Schaufensteranträge. Wir arbeiten ganz in Ruhe an der Sache. Wir führen diese Sachdebatte da, wo sie hingehört, nämlich im zuständigen Gremium des Deutschen Bundestages, also im Gesundheitsausschuss. ({1}) Was wir nicht tun, ist, Ihren Schaufensteranträgen und Ihren Mogelpackungen zuzustimmen. Danke sehr. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Weinberg das Wort.

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe mich zu dieser Kurzintervention gemeldet, weil die Kollegin gerade zunächst einmal sehr gute Argumente gegen die Praxisgebühr vorgebracht hat, dann allerdings an einer Stelle eindeutig die Unwahrheit gesagt hat. Unser Antrag trägt nämlich, um das ganz deutlich zu sagen, die Überschrift „Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten jetzt abschaffen“ und hat den Text: Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, unverzüglich einen Gesetzentwurf zur Abschaffung sämtlicher Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung vorzulegen. ({0}) Es geht um die Praxisgebühr und gibt keinen einzigen Hinweis auf die Bürgerversicherung, wie Sie behauptet haben. ({1}) Sie müssten auch noch einmal folgenden Widerspruch aufklären: Die FDP sammelt sowohl im schleswig-holsteinischen Wahlkampf als auch im NRW-Wahlkampf Unterschriften gegen die Praxisgebühr. Auf der Website der FDP hat sie eine Umfrage zur Praxisgebühr gestartet, an der inzwischen über 6 000 Personen teilgenommen haben. Über 80 Prozent sind übrigens dagegen, um das ganz deutlich zu sagen. Das finde ich auch sehr gut. Schaufenstersachen macht die FDP also in einer sehr ausführlichen Art und Weise. Gleichzeitig verhindert sie allerdings den Beschluss unseres Antrags. Außerdem wird sie nachher hier mit Sicherheit auch die Sofortabstimmung über die Praxisgebühr verhindern. Woher kommt diese Schizophrenie? Das müssen Sie mir einmal erklären. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort zur Erwiderung. ({0})

Christine Aschenberg-Dugnus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004003, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, ich werde versuchen, Ihnen diesen Passus zu zeigen. Sie wollen die Zuzahlung und bestimmte Dinge abschaffen. Das sind Teile der Bürgerversicherung. ({0}) Falls ich mich geirrt haben sollte, entschuldige ich mich jetzt schon einmal dafür. ({1}) Ich glaube, dass in anderen Anträgen die Bürgerversicherung erwähnt wurde. Herr Kollege, wir können uns darüber gerne noch einmal in Ruhe unterhalten. Ich sehe keinen Widerspruch. Ich habe schon wiederholt erläutert: Die FDP hat sich von Anfang an gegen die Praxisgebühr gewandt. Ich kann Ihnen viele Veranstaltungen nennen, bei denen ich das öffentlich gesagt habe. ({2}) Deswegen ist es in Ordnung, dass wir so argumentieren. Ich bin zum Beispiel seit 28 Jahren verheiratet. Was meinen Sie, wie oft ich mit meinem Mann unterschiedlicher Meinung war? Zum Wohle der Familie haben wir uns trotzdem immer geeinigt. So gehen wir auch in der Koalition vor. ({3}) Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Ich möchte im Urlaub nach Sylt fahren und mein Mann möchte nach Bayern fahren. Wir einigen uns dann auf einen Urlaub in Deutschland. ({4}) Nun kommt der Nachbar und sagt: Ich fahre mit dir nach Sylt. - Ich werde dann sicher nicht mit dem Nachbarn nach Sylt fahren, sondern mich mit meinem Mann darüber einigen, wohin wir gemeinsam in den Urlaub fahren. ({5}) Ich hoffe, Sie haben mit diesem Bild meine Intention verstanden. Über den Antrag unterhalte ich mich nach der Debatte gerne mit Ihnen. Dann können wir in den Dialog treten, auch darüber, was ich über die Bürgerversicherung behauptet habe. Ich nehme jedoch zur Kenntnis, dass Sie nicht für die Bürgerversicherung sind. ({6}) Vielen Dank, Herr Kollege. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Maria Klein-Schmeink das Wort.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte nicht gedacht, dass ich heute an dieser Stelle über Szenen einer Ehe rede statt über ein ganz klares Anliegen: über Praxisgebühr, Zuzahlung und Zusatzbeiträge. ({0}) Das ist heute das Thema. Dazu sind drei verschiedene Anträge gestellt worden. Den Antrag der Linken gab es tatsächlich schon vor der Osterpause. In diesem geht es um die Abschaffung der Praxisgebühr. Sie hätten jederzeit die Möglichkeit gehabt, der Diskussion dieser Forderung im Ausschuss tatsächlich einen angemessenen Rahmen zu geben. ({1}) Weder vor den Osterferien noch in dieser Woche ist er diskutiert worden. Dabei haben Sie gesagt, Sie wollten diesem Anliegen einen Raum verschaffen. Es war nicht einmal eine Diskussion möglich. Er wurde von der Tagesordnung gestrichen. So viel zur Seriosität, zur Redlichkeit, zur Verantwortlichkeit. ({2}) Ich muss sagen: Wir haben ganz andere Anliegen. ({3}) Dazu, dass Sie dann als Krönung der SPD und den Grünen in NRW und in Schleswig-Holstein vorwerfen, sie würden dieses Thema instrumentalisieren, sage ich Ihnen: Es ist ein legitimes Anliegen, einem Thema, das in weiten Teilen der Gesellschaft debattiert worden ist, zum Durchbruch zu verhelfen und zu verdeutlichen, dass Sie dies auf der einen Seite zum Thema gemacht, aber auf der anderen Seite Versprechungen gemacht haben, die Sie überhaupt nicht realisieren wollen. Darum geht es. ({4}) Das treibt auch die Kollegen von der Union auf die Palme. Es geht darum, dass Sie eine Forderung erheben, die erstens dem Koalitionsvertrag widerspricht und die sich zweitens in Ihrem Wahlprogramm so nicht wiederfindet. ({5}) Sie haben dort immer von einer unbürokratischen Form der Selbstbeteiligung geredet. Sie haben aber nie die Selbstbeteiligung an und für sich infrage gestellt. Es ging Ihnen immer nur um den bürokratischen Aufwand, der damit verbunden war. Das noch einmal zur Klarstellung. Dann führen Sie die Union vor und überlassen der Union die anderen Dinge, die in diesem Zusammenhang zu klären sind, ({6}) nämlich dafür sorgen, dass es für die Abschaffung der Praxisgebühr eine entsprechende Gegenfinanzierung gibt. Das ist der einzige Punkt, bei dem Jens Spahn vorhin recht hatte. ({7}) Natürlich muss man für eine Gegenfinanzierung sorgen, wenn man den Krankenkassen 2 Milliarden Euro wegnimmt. ({8}) - Ganz genau. ({9}) Aber es kommt noch mehr. Unser Antrag, der Ihnen heute vorliegt, enthält drei Elemente: Wir haben Ihnen erstens geraten, die Praxisgebühr abzuschaffen, zweitens haben wir Ihnen geraten, die Zusatzbeiträge abzuschaffen, und drittens haben wir Ihnen geraten - als wichtiges Element -, den Krankenkassen die Beitragsautonomie zurückzugeben. Das ist doch der wahre Knackpunkt in diesem Spiel. Sie haben mit der Gesundheitsreform 2010 ein System geschaffen, in dem für die Krankenversicherung zentralistisch ein Einheitsbeitrag festgesetzt wurde. Das führte dazu, dass es bei den Krankenkassen keine wirkliche Steuerung gibt, sondern diese in irgendeiner Weise mit den Beiträgen zurechtkommen müssen. In diesem Fall hatten Sie großes Glück; denn Konjunktur und Arbeitsmarktlage waren gut. ({10}) Deshalb gibt es bei den Krankenkassen und im Gesundheitsfonds einen immensen Überschuss. ({11}) Dieser Überschuss aber - das muss man ganz klar sagen - gehört den Versicherten. ({12}) Er gehört nicht den Krankenkassen. Die Krankenkassen sind zu Recht keine Sparkassen; vielmehr haben sie eine definierte Liquiditätsreserve, die aber längst überschritten ist. Darum ist jetzt der richtige Zeitpunkt, in die Diskussion über die Abschaffung der Praxisgebühr einzusteigen. Ein weiterer Punkt. Ich habe aus Ihren Reihen nichts gehört zur inhaltlichen Auseinandersetzung um die Praxisgebühr und die Zuzahlungen. ({13}) Genau darum geht es aber im Wesentlichen. Alle drei Elemente bedeuten zusätzliche unsolidarische Belastungen, die einseitig nur die Versicherten treffen. ({14}) Das führt dazu, dass die von Ihnen genannten sozial Benachteiligten eben keine gerechte Teilhabe an der gesundheitlichen Versorgung erfahren. Hier müssen wir gegensteuern. Darum geht es uns heute. Wir wissen, dass wir gegensteuern müssen. Es sind die 20 oder 25 Prozent der immer wieder beschworenen sozial Benachteiligten und der bildungsschwachen Haushalte, die gesundheitlich schlecht versorgt sind, die, wie Studien nachgewiesen haben, wegen der Praxisgebühr und wegen der Zuzahlungen nicht oder zu spät zum Arzt gehen. Das ist Ihnen bekannt; man kann das in Arzneimittelreporten oder Gesundheitsreporten nachlesen. ({15}) Das ist der Sachstand. Heute ist es an der Zeit, endlich gegenzusteuern. ({16}) - Es ist in der Tat so, dass die Grünen die Praxisgebühr im Zusammenhang mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz mit eingeführt haben, und zwar auf Betreiben der Union, das ist ja klar. ({17}) Es hat immer schon große Vorbehalte gegeben, aber man ist auch ein Stück weit dem Rat der Sachverständigen gefolgt. ({18}) - Hören Sie mir mal zu? Haben Sie keine Lust mehr, zuzuhören? Wir führen heute eine Debatte, die Sie draußen in der Bevölkerung ereilen wird. Sie werden also schon zuhören müssen. ({19}) - Ja, genau so wird es sein. - Bei genauerem Hinsehen werden Sie feststellen, dass man für die Praxisgebühr nicht wirklich weiterhin werben kann. Man kann nicht dafür einstehen, außer es geht um die Frage der Finanzierung. Dann müssen Sie sich aber fragen lassen, wie insgesamt eine nachhaltige Finanzierung in der Gesundheitspolitik aussehen soll. Sie haben mit dem Zusatzbeitrag ein Konstrukt geschaffen, angesichts dessen Sie sich heute eigentlich entsetzt abwenden müssten; denn Sie fürchten ja selbst die Folgen dieser Zusatzbeiträge. Sie müssen heute dafür sorgen, dass es auf keinen Fall zur Einführung der Zusatzbeiträge kommt. Sie müssen für eine Liquiditätsreserve sorgen, ein Sicherheitspolster, das Sie sicher über die nächsten Wahltermine und bis 2013 bringt. Darum geht es doch. Darum kämpfen Sie, Jens Spahn, für dieses Sicherheitspolster, weil Sie genau wissen, dass Sie ansonsten in die Lage geraten, die Zusatzbeiträge wirklich einzuführen. Und was wäre dann? ({20}) Es gäbe einen bürokratischen Aufwand ohne Ende. Schauen Sie sich die Regelungen im SGB V an: Sie umfassen sieben Absätze mit zahlreichen Formulierungen und Regelungen, die in den Unternehmen und anderswo zu großem bürokratischen Aufwand führen werden. So verhält es sich doch. Gleichzeitig ist es eine Tatsache: Es wird zu einer zusätzlichen Belastung ausschließlich der Versicherten kommen. Auch das ist etwas, was Sie heute, vor den Wahlen, nicht an die Oberfläche kommen lassen wollen. Darum geht es im Kern. Darum kämpfen Sie vonseiten der Union. Klar ist natürlich auch, dass Sie darüber einen Ehezwist haben. Ich hätte an Ihrer Stelle ebenfalls keine Lust, allein für die Folgen einer solchen verfehlten Politik einzustehen; auch darum geht es. Da macht sich die FDP nämlich in der Tat einen schlanken Fuß. Sie hat sich im Februar überlegt: Ach ja, die Abschaffung der Praxisgebühr, das wäre populär. Das ist ein schönes Signal an die Ärzteschaft. ({21}) Es ist gleichzeitig ein Signal, dass die FDP in der Lage ist, ein wärmendes, soziales Mäntelchen zu tragen. Darum geht es. Schauen wir uns jetzt einmal Folgendes an: Sie haben schon heute die Möglichkeit, über den Antrag der Linken abzustimmen. Sie haben in den nächsten Wochen die Möglichkeit, über die in unseren verschiedenen Anträgen enthaltenen Regelungen abzustimmen. Wir werden erleben: Nichts davon wird kommen. Aber es wird wahrscheinlich etwas anderes kommen. Es wird zu einer Art Eintrittsgebühr beim jeweiligen Arztbesuch kommen. Darüber haben Sie nämlich schon Ende letzten Jahres nachgedacht. ({22}) - Herr Lanfermann, noch Ende Dezember haben Sie davon gesprochen, dass gegen eine kleine Selbstbeteiligung, die unbürokratisch ausgestaltet ist, nichts einzuwenden ist. Ich glaube, das zeigt sehr deutlich, wessen Geistes Kind sämtliche Anliegen der FDP sind. ({23}) Ich habe jedenfalls größere Schwierigkeiten, zu glauben, dass Sie tatsächlich für Ihre Forderungen einstehen werden. Vielen Dank. ({24})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Stephan Stracke hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Klein-Schmeink, Sie setzen darauf, dass wir für jeden Arztbesuch eine Art Eintrittsgebühr einführen wollen. Sie können davon ausgehen, dass Ihre Vermutung ins Leere laufen wird. Das ist reine Spekulation. ({0}) Reine Spekulation ist auch das, was Sie uns in Bezug auf das Thema Zusatzbeiträge unterstellen. Die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Land ist so hervorragend, dass es weder in diesem Jahr noch im nächsten Jahr Zusatzbeiträge im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung geben wird. Also behaupten Sie nichts, was sich aufgrund der gegenwärtigen Lage als irreal herausstellt. Deutschland geht es gut, und die Menschen profitieren davon. Die Beschäftigung in Deutschland befindet sich auf Rekordhöhe. In Deutschland sind mehr Menschen als je zuvor in Lohn und Brot, und die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit 20 Jahren. Das ist das Ergebnis christlich-liberaler Politik, und das ist das Ergebnis einer Politik für Wachstum, Stabilität und Beschäftigung in diesem Land. ({1}) Der Rückgang der Arbeitslosigkeit und die Tatsache, dass die Effektivlöhne steigen werden, zeigen, dass der Aufschwung bei den Menschen tatsächlich ankommt. Wir sorgen dafür, dass die Menschen auf breiter Front entlastet werden. Die CDU/CSU hat dafür gesorgt, dass die Bürger ab dem Jahr 2009 um 24 Milliarden Euro entlastet wurden. Beispielsweise hat das Wachstumsbeschleunigungsgesetz durch die Erhöhung des Kindergeldes und eine Ausweitung des Kinderfreibetrags zu Entlastungen in Höhe von über 4,3 Milliarden Euro geführt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stracke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte im Zusammenhang ausführen. Danach kann Herr Ernst gern eine Zwischenfrage stellen. Das zeigt, wir entlasten die Bevölkerung hier auf breiter Front, und das gilt auch für die Sozialversicherungssysteme. ({0}) Beispielsweise sinkt der Rentenversicherungsbeitrag um 0,3 Prozentpunkte. Das ist insgesamt eine Entlastung von 3 Milliarden Euro. ({1}) Bei der Arbeitslosenversicherung hat es im Vergleich zu 2005 Entlastungen von insgesamt rund 28 Milliarden Euro jährlich gegeben; auf die Arbeitnehmerschaft ent20912 fallen dabei 14 Milliarden Euro. Das ist das Ergebnis christlich-liberaler Politik. Das trägt, und das wirkt auch in die Bevölkerung hinein. ({2}) Jetzt zum Thema Praxisgebühr. Es geht tatsächlich darum, wie die gesetzliche Krankenversicherung nachhaltig finanziert wird. ({3}) Wir haben einen Finanzierungsmix aus Beiträgen, aus staatlichen Zuschüssen und aus Zuzahlungen. Die Zuzahlungen belaufen sich auf insgesamt 5 Milliarden Euro. Ich glaube, das ist ein sozial ausgewogenes Konzept. Wenn es darum geht, wie die Gegenfinanzierung der Abschaffung der Praxisgebühr aussehen soll, dann kommt aus dem Bereich der Linken natürlich wie immer überhaupt kein Vorschlag. ({4}) Ich habe mir Ihren Antrag nämlich tatsächlich angeschaut. Sie versprechen hier wie immer den Himmel auf Erden, und in der Realität - das hat die Vergangenheit gezeigt - ist es oftmals die Hölle. Ich komme zur SPD und zu den Grünen. Wenn es um die Gegenfinanzierung geht, sagen sie zunächst einmal: Wir haben ja die Rücklagen. - Ja, wir haben die Rücklagen; aber wir wissen auch, dass diese Rücklagen nur über einen gewissen Zeitraum bestehen werden, weil es aufgrund der demografischen Entwicklung eine Steigerung der Ausgaben im Gesundheitssystem um 60 Euro pro Jahr und Versichertem gibt. Das zeigt: Seriöse Politik muss auch darauf achten, dass langfristig und gut finanziert wird. Dann wird immer das Stichwort Bürgerversicherung in den Raum geworfen. Das Stichwort Bürgerversicherung ist eigentlich das Ü-Ei, das Überraschungsei der Sozialdemokratie und vor allem der Grünen. ({5}) Da locken Sie zunächst einmal mit Verführerli und sagen: Wir schaffen die Praxisgebühr ab oder sorgen für andere Wohltaten. - Wenn man sich das Überraschungsei Bürgerversicherung genauer anschaut, wenn man es auspackt, dann findet man einen Zettel. ({6}) Dort liest man: „Ätsch, reingefallen! Ihre SPD und Grüne.“ ({7}) Das ist das Ergebnis; das macht die Bürgerversicherung tatsächlich aus. Denn die Bürgerversicherung trifft zunächst einmal in ganz breiter Front die Mittelschicht und die Leistungsträger in diesem Land. Wenn man sich beispielsweise die Vorschläge der Grünen vergegenwärtigt: Sie wollen -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stracke, könnten Sie mir ein Zeichen geben? Ich habe jetzt mehrere Meldungen zu Zwischenfragen oder -bemerkungen. ({0})

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das machen wir am Schluss.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Irgendwann ist die Redezeit um. Ich sage es Ihnen nur.

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann machen wir keine Zwischenfragen. - Welche Gegenvorschläge werden hier im Zusammenhang mit der Bürgerversicherung vorgelegt? - Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze um 47 Prozent. Das trifft vor allem 4,5 Millionen gesetzlich Versicherte, nicht, wie immer behauptet wird, vor allem die Privatversicherten. ({0}) Das trifft vornehmlich die breite Mittelschicht in diesem Lande und damit diejenigen, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Dann wollen Sie Mieten, Pachten und Zinsen einbeziehen. Das ist nichts anderes als eine zweite Einkommensteuer. Hier wollen Sie rund 4 Milliarden Euro generieren. Dann wollen Sie auch noch die beitragsfreie Familienversicherung für Ehegatten einschränken. Hier kassieren Sie noch einmal 1 Milliarde Euro ein. ({1}) Das, was Sie als vermeintliche Wohltaten in Aussicht stellen, wird also zunächst einmal an anderer Stelle einkassiert und dann verteilt. Das ist nicht seriös; die Bürgerversicherung verspricht keine seriöse Politik. Die Bürgerversicherung ist in Wahrheit ein ganz faules Ei, das Sie der Bevölkerung unterschieben wollen. Deswegen machen wir das nicht. ({2}) Wir sagen: Seriöse Politik zeichnet sich dadurch aus, dass wir die Rücklagen, die die Versicherten mit ihren Geldern angespart haben, zunächst einmal aufbewahren, weil wir ganz genau wissen, dass es aufgrund der demografischen Entwicklung Ausgabensteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung geben wird. Das ist seriöse, nachhaltige Politik; das ist die Politik der CDU/ CSU. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Klaus Ernst das Wort.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Stracke, ich möchte eine Feststellung treffen: Sie haben sich so intensiv mit dem Vorschlag der Opposition auseinandergesetzt, dass sie in den ersten zwei Minuten Ihrer Rede über den Arbeitsmarkt und die Arbeitslosenversicherung geredet haben. ({0}) Da würde ich erst einmal sagen: Thema total verfehlt. Das muss ich einfach sagen. Zweiter Punkt. Sie haben dann gesagt, wir - da meine ich die gesamte Opposition - hätten keine Vorschläge zur Gegenfinanzierung gemacht; aber dann setzen Sie sich den Rest Ihrer Rede mit der Bürgerversicherung auseinander, nicht mit dem eigentlichen Thema. Auch das ist ein interessanter Punkt. Ich möchte zudem feststellen, dass Herr Spahn von Solidarität gesprochen hat. Für Sie, Herr Spahn, und für die CDU/CSU ist es offensichtlich der stärkste Ausdruck der Solidarität, dass wir mit dem System der Praxisgebühr Menschen ganz bewusst vom Zugang zu einem Arztbesuch ausgrenzen. Das ist offensichtlich Ihr Begriff von Solidarität. ({1}) Ich finde das verwerflich. Das möchte ich in aller Klarheit sagen. Wenn wir von Solidarität sprechen, dann möchte ich einen Punkt in Bezug auf die Bürgerversicherung ansprechen. Die Bürgerversicherung ist tatsächlich eine solidarische Bürgerversicherung, und zwar deshalb, weil alle prozentual von ihren Einkommen den gleichen Beitrag in die Versicherung einzahlen würden. Die Beiträge könnten sinken, und es wäre nicht so, dass die Sekretärin letztendlich prozentual mehr für die Gesundheit ausgeben muss als ihr Chef; denn das ist zutiefst unsolidarisch. Das System muss geändert werden, deshalb wollen wir die Bürgerversicherung. Das ist übrigens unsere Finanzierung, darauf möchte ich Sie aufmerksam machen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stracke hat das Wort zur Erwiderung.

Stephan Stracke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004169, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege Ernst, Ihre Ausführungen hatten einen sehr lehrerhaften Ton. Da kann man nur sagen: Solche Lehrer brauchen wir nicht in unserem Land. ({0}) Auch in der Sache liegen Sie falsch. Die Praxisgebühr und alle Zuzahlungen sind sozial ausgewogen. Sie wissen ganz genau, dass wir beispielsweise im Rahmen der Chroniker-Richtlinie die Grenze bei 2 Prozent des Einkommens festgelegt haben, ({1}) - Bei 1 Prozent. 2 Prozent sind es bei denjenigen, die von ihrer Einkommenslage her nicht so gut gestellt sind. ({2}) Es ist also ganz klar, dass wir im Rahmen unseres Zuzahlungssystems durchaus die soziale Balance einhalten. Ein zweiter Punkt. Herr Ernst, in Ihrem Antrag beschäftigen Sie sich mit keinem Wort mit der Gegenfinanzierung. ({3}) Das ist der eigentliche Skandal: Sie stellen Versprechen in den Raum. ({4}) Sie sagen, Sie wollen die Beiträge zurückführen, aber Sie sagen mit keinem Wort, wie Sie das finanzieren wollen. ({5}) Das ist Ausdruck Ihrer Politik. Sie sagen einfach: Wir finanzieren das. Wir wissen zwar noch nicht genau wie, aber wir versprechen es schon einmal. Das ist nicht die Form von seriöser Politik, wie wir sie betreiben. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege Spahn das Wort.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte das Wort ergreifen, weil der Kollege Ernst mich direkt angesprochen hat. Er hat auch Bezug auf das genommen, was Stephan Stracke gesagt hat. Zum Thema Solidarität. Ich bin der festen Überzeugung: Die größte Solidarität, die wir leisten können, ist die, dass wir insbesondere kranken Menschen und Menschen mit geringem Einkommen ein Gesundheitssystem in der Qualität und in der Dichte auch in den ländlichen Regionen zur Verfügung stellen, wie wir es in Deutschland tun. Ein solches System, das die sofortige Teilhabe am medizinischen Fortschritt möglich macht, etwa bei neuen Medikamenten gegen Krebs, MS oder Parkinson, das die Kosten sofort erstattet, gibt es in keinem anderen Land der Welt. Das ist der größte Ausdruck von Solidarität, den es geben kann, und genau die wird in der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung gelebt. Das ist mein erster Punkt. ({0}) Zum Zweiten. Es gehört zu unserem Verständnis dazu - Solidarität ist keine Einbahnstraße -, dass man sich im Rahmen seiner Möglichkeiten ein Stück weit an den Kosten beteiligt. ({1}) Sie wissen genau, was das heißt - den Teil lassen Sie immer weg -: Ein chronisch Kranker muss maximal 1 Prozent seines Einkommens zuzahlen: für Medikamente, für Praxisgebühr und alle anderen Dinge zusammen. Diese Regelung führt dazu, dass niemand durch Zuzahlung und Praxisgebühr überfordert wird. ({2}) Wir finden schon - anders als Sie vielleicht, Sie sind groß im Verteilen des Geldes anderer Leute -, dass zur Solidarität beide Seiten beitragen müssen. Ich möchte einen dritten Aspekt nennen. Zur Solidarität gehört es auch, dafür zu sorgen, dass das Gesundheitswesen, das das beste auf der Welt ist, auch mittelfristig solide bleibt. Das Schlechteste, was wir insbesondere für kranke Menschen tun könnten, ist, ein Gesundheitssystem anzubieten, das nicht auf soliden finanziellen Beinen steht, sodass wir früher oder später über Ausgliederung, über Senkungen, über Sparmaßnahmen und über Kostendämpfung reden müssten. Das wäre das Schlechteste. Deswegen sagen wir: Gerade im Interesse von kranken Menschen wollen wir die solide finanzielle Basis der gesetzlichen Krankenversicherung beibehalten. ({3}) Da springen Sie leider zu kurz. Sie sagen an einer Stelle immer nur: Abschaffen, abschaffen, abschaffen. An anderer Stelle aber sagen Sie: Mehr Geld, mehr Geld, mehr Geld. Wie es aber finanziert werden soll, sagen Sie nicht. Da lassen wir Sie aber nicht heraus. Die größte Solidarität besteht in einer guten Finanzlage. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss jetzt erst einmal ein paar geschäftsleitende Bemerkungen machen. Bei mir wurde, was jederzeit möglich ist, eine Kurzintervention des Kollegen Spahn aus der Unionsfraktion angemeldet. Auch wenn sich hier eine muntere Debatte zwischen Kollegen entfaltet hat, die schon gesprochen haben oder noch sprechen wollen, besagt unsere Geschäftsordnung, dass nur der Kollege Stracke auf diese Kurzintervention antworten kann. Ich habe kein Signal gesehen, dass er das jetzt vorhat. Das heißt aber auch, dass die weiteren Wortmeldungen, die ich hier wahrgenommen habe, in ein anderes Format umgewandelt werden müssten. Wir haben aber noch ein wenig Debattenzeit; das bekommen wir sicherlich hin. Das Wort hat jetzt der Kollege Steffen-Claudio Lemme für die SPD-Fraktion. ({0})

Steffen Claudio Lemme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004090, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Herr Gesundheitsminister Bahr! Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz! Meine Fraktion freut sich, dass es heute hier im Haus doch eine Mehrheit für die Abschaffung der Praxisgebühr gibt. Es gibt allerdings zwei Probleme und auch zwei Verlierer bei dieser Mehrheit. Das ist zum einen die FDP, die gegen ihren eigenen Parteitagsbeschluss handelt. Zum anderen ist es die CDU/CSU, die die Patientinnen und Patienten in unserem Land nicht entlasten will. Das ist kein gutes Zeichen für unsere parlamentarische Demokratie. ({0}) Warum ist das so? Wir debattieren hier heute über ein gesundheitspolitisches Steuerungsinstrument, das einfach nicht mehr der Realität unserer Krankenversicherungslandschaft entspricht. Grundsätzlich gilt, dass jede politische Mehrheitsentscheidung auch immer Kind ihrer Zeit ist. Es ist unsere Aufgabe als politische Entscheidungsträger, Regelungen zu überprüfen und auch veränderte Rahmenbedingungen zu überdenken. Das ist nun auch im Falle der Praxisgebühr notwendig geworden. Wir müssen feststellen, dass sie klar hinter der erwarteten Steuerungswirkung zurückbleibt und nur unzureichend zur finanziellen Entlastung des Systems beiträgt. Hier müssten wir eigentlich gemeinsam handeln. Ich erinnere aber auch daran, dass es in der Vergangenheit wiederholt zu anderen Einschätzungen der Sachlage gekommen ist. Deshalb will ich uns kurz noch einmal die Entstehung und Entwicklung der Praxisgebühr ins Gedächtnis rufen. Wie mein Kollege Karl Lauterbach bereits ausgeführt hat, ist die derzeitige Ausgestaltung Kompromissen geschuldet, die wir Sozialdemokraten seinerzeit im Vermittlungsausschuss gegenüber CDU und CSU machen mussten. Die Union wollte damals mit ihrer Praxisgebühr von den Patientinnen und Patienten noch wesentlich höhere Zuzahlungen, während wir mit unserer Abgabe nur beim Facharzt die hausarztzentrierte Versorgung stärken wollten. ({1}) Hierzu stehen wir auch heute. Wir halten weiter an unserer Überzeugung der Notwendigkeit einer hausarztzentrierten Versorgung fest. Wir mussten damals, in den Jahren 2003/2004, dafür Sorge tragen, dass sich die Defizite in der gesetzlichen Krankenversicherung - damals betrug der Fehlbetrag bereits drei Jahre in Folge durchschnittlich 1 Milliarde Euro pro Jahr - nicht fortsetzten. Das ist uns damals auch gelungen. Die Praxisgebühr war nur ein Baustein von vielen zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Für uns Sozialdemokraten war, ist und bleibt es zwingend, dass gerade bei der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung sauber gearbeitet wird. Schnellschüsse zahlen sich für die Versicherten nie aus. Sie wirken sich zu einem späteren Zeitpunkt negativ aus. Die ersten Gutachten zur Praxisgebühr - etwa des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung oder des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung - zogen eine durchweg positive Steuerungsbilanz. Zweistellige Fallzahlenrückgänge bei Augenärzten, Chirurgen oder Orthopäden sprachen damals eine deutliche Sprache. Auch die Akzeptanz des immer wieder diskutierten Instruments wuchs in der Bevölkerung rasch. So sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK im Jahre 2010 annähernd 70 Prozent der Befragten dafür aus, die Gebühr unverändert beizubehalten. Nichtsdestotrotz verweisen andere Studien, zum Beispiel die Studie des Helmholtz-Zentrums München aus dem Jahr 2008, die zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung herausgegeben wurde, auf negative Steuerungseffekte. Danach würden junge und gesunde Menschen notwendige Arztbesuche dreieinhalbmal häufiger verschieben als ältere Menschen, Geringverdiener immerhin zweieinhalbmal häufiger als Besserverdienende. Hierauf machen insbesondere Sozial- und Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften aufmerksam. Sie betonen insgesamt die negativen Auswirkungen für ältere Menschen und Geringverdiener. Das sind Hinweise, die wir nicht ignorieren können; denn wir alle wissen: Präventionsmaßnahmen und die frühzeitige Behandlung von Krankheiten helfen, hohe Folgekosten zu vermeiden. Kurzum: Die Praxisgebühr wurde seit ihrer Einführung unterschiedlichen Zeugnissen unterworfen und blieb stets Gegenstand kontroverser Debatten. Letztlich macht die Gebühr nur einen Bruchteil der Finanzierungsgrundlage aus. Sie trägt nicht nachhaltig genug zur Konsolidierung der gesetzlichen Krankenversicherung bei. Hören Sie: Ich habe im Petitionsausschuss bei Entscheidungen zur Praxisgebühr wiederholt darauf hingewiesen, dass ein finanzieller Spielraum Voraussetzung für die Abschaffung der Praxisgebühr ist. Die Koalition hat sich aber allen konstruktiven Vorschlägen zur Beschaffung der notwendigen Mittel, zum Beispiel durch Einführung einer effektiveren Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln, verweigert. ({2}) Diese Wahlperiode bot bisher keine finanziellen Spielräume für Entlastungen. Aber die Rahmenbedingungen haben sich mittlerweile durch die gute Konjunktur verbessert. Wir sollten diesen Spielraum nutzen. Ich fordere Sie daher auf: Stimmen Sie der Abschaffung der Praxisgebühr zu, und sorgen Sie für eine Entlastung der Patientinnen und Patienten. ({3}) Neben der Abschaffung der Praxisgebühr wird langfristig jedoch nur eine Stärkung der Solidarität in der GKV eine umfassende Entlastung für die Versicherten bringen. Die Rückkehr zur Parität, die Abschaffung von Zusatzbeiträgen und letztendlich die Einführung der solidarischen Bürgerversicherung müssen folgen; denn nur so wird unsere gesetzliche Krankenversicherung zukunftsfest gemacht. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Heinz Lanfermann das Wort. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da haben wir sie wieder gehört, die Heilserwartungen, die mit der Bürgerversicherung verbunden werden. Aber dazu ist ja schon einiges gesagt worden. Die Aufforderung aus den Reihen der Opposition, die uns gleich mit drei Anträgen beglückt hat, die FDP möge ihrer Forderung nach Abschaffung der Praxisgebühr nachkommen, ist absolut scheinheilig. Das kann man schon an den Überschriften der drei Anträge erkennen. Das wird erst recht deutlich, wenn man die Anträge liest. ({0}) Bei den Grünen zum Beispiel geht es um Änderungen bei der Beitragssatzautonomie, dabei geht es - das haben wir ja gehört - in Richtung Bürgerversicherung. Die SPD hat gleich auch noch ihr Hausarztmodell mit dazugepackt. Das ist Ihr gutes Recht, aber dann tun Sie nicht so, als gehe es hier nur um die Praxisgebühr. Die Linken rufen in der Tat nach Abschaffung aller Zuzahlungen als Vorstufe zum Heil. Das ist sozusagen eine Eintrittskarte in den Himmel der Bürgerversicherung. Herr Weinberg, ich kann verstehen, dass man frustriert ist, wenn die selbsternannten Gesundheitsexperten der Fraktionsspitze hier sprechen. Gestern hatten wir die „hälftige Fraktionsvorsitzende“ Künast als Pflegeexpertin, die hier ihre Unkenntnis ausgebreitet hat. Heute hat Herr Ernst hier gesprochen. Ich sage: Überlassen Sie das den Fachpolitikern. Die Debatten sind dann etwas besser. ({1}) Herr Kollege Weinberg, Sie haben der Kollegin Aschenberg-Dugnus einen falschen Vorhalt gemacht und gesagt, sie hätte hier etwas Unwahres gesagt, als sie meinte, in Ihrem Antrag sei von der Bürgerversicherung die Rede, auf die Sie hinaus wollten. Sie haben hier laut gerufen: Dann zeigen Sie es mir doch einmal. - Sie hat Ihnen angeboten, sich zu entschuldigen, sollte sie sich geirrt haben. Hören Sie mir jetzt bitte genau zu, damit Sie gleich die richtigen Worte gegenüber der Kollegin finden. In Ihrem Antrag steht: Die Abschaffung der Zuzahlungen ist damit zumindest für 2012 gegenfinanziert. Jetzt kommt der Blick in die Zukunft: Langfristig ist für eine gerechte und stabile Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung einzuführen. ({2}) Sind wir nun diejenigen, die nicht lesen können, oder sind Sie es, Herr Kollege Weinberg? ({3}) Wir haben hier - das war etwas kleinkariert - gehört, dies sei eine Wahlkampfdebatte. Die Zuhörer merken, wer hier in der Sache argumentiert ({4}) und wer nervös ist.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lanfermann.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, danke. ({0}) Das Spiegelbild der Debatte sind die Umfragen. Entgegen Ihren Erwartungen steigen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen die Umfragewerte der FDP, während die Umfragewerte der Linken sinken - und das dramatisch. Auch die Grünen verlieren Wähler, und zwar an die Piraten. Inwieweit Sie daraus Schlussfolgerungen ziehen, mögen Sie unter sich ausmachen. ({1}) Wir haben gerade eine weitere Falschaussage gehört. Es wurde behauptet, wir würden gegen Parteitagsbeschlüsse verstoßen. Wenn Sie sich - ich hätte Ihnen das empfohlen - auf Phoenix den Parteitag der FDP in Karlsruhe angesehen haben, dann haben Sie gehört, wie begeistert dort die Delegierten gesagt haben: Ja, wir, die FDP - es ging bei diesem Parteitag um uns als Partei -, sind für die Abschaffung der Praxisgebühr. ({2}) Wir haben übrigens in dieser Debatte die Gründe dafür dargestellt. Kollegin Aschenberg-Dugnus hat sie aufgeführt. Alle reden davon, man soll nicht polemisch sein und Sachdebatten führen, aber wer nennt einmal die Gründe, die dafür und dagegen sprechen? ({3}) Sie hat die Gründe genannt. Kollege Spahn hat auf die finanziellen Fragen hingewiesen - völlig zu Recht. Ferner: Es hat niemals in der FDP die Auffassung gegeben, dass wir diese Gebühr behalten wollen. Sie sagen - das war eine weitere Äußerung hier -, das sei gegen den Koalitionsvertrag. Das ist natürlich wieder einmal nur so dahergeredet. ({4}) Im Koalitionsvertrag steht - ich darf wörtlich zitieren -: „Wir wollen die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbürokratisches Erhebungsverfahren überführen.“ ({5}) Erstens ist das finanzneutral ausgedrückt; denn die Finanzfrage ist wichtig. Zweitens ist der Vorschlag - er wurde übrigens im Wesentlichen von mir auf den Weg gebracht - allgemein gemacht worden und hat Fahrt aufgenommen, als die Finanzlage der Krankenversicherungen, also Gesundheitsfonds plus Rücklagen der Kassen, nach den entsprechenden Berichten in die Diskussion kam. ({6}) Dann sind in diese Diskussion auch andere eingestiegen, die sich jetzt hier als Väter und Mütter dieser Idee aufspielen. In Wirklichkeit sind sie nur Mitläufer und versuchen, einen Keil zwischen uns zu treiben, nur weil wir gesagt haben: Das ist unser Vorschlag. Jetzt lasst uns doch einmal darüber diskutieren und Argumente austauschen. Das tun wir natürlich erst einmal innerhalb der Koalition. Das hat mit Wahlkampf nichts zu tun. ({7}) Denn ich rechne nicht damit, dass sich die Union bis Mitte Mai eines anderen besinnt. Aber ich weiß, dass wir dafür werben können und dass die Argumente nach Mitte Mai vielleicht etwas mehr Gehör finden. Sie können sich selbst im Ausschuss helfen. Dass Ihre Forderungen scheinheilig und ein Trick sind, zeigt sich daran, dass in allen drei Anträgen die Praxisgebühr nur ein Nebenthema ist. In Wirklichkeit haben Sie andere Anliegen. Sie wollen über diese Anträge weder untereinander noch mit den anderen Fraktionen im Ausschuss diskutieren. Wie kämen Sie sonst auf die seltsame Idee, hier Anträge vorzulegen, die nicht einmal in allen Punkten ordentlich ausformuliert sind und zu denen es viele Nachfragen gibt? Uns werfen Sie hier vor - dabei handelt es sich um ein ganz normales parlamentarisches Verfahren -, dass wir für die Überweisung stimmen. Wir wollen heute weder Bürgerversicherung noch Zuzahlungsbefreiung ablehnen. Vielmehr wollen wir Ihnen die Chance geben, im Ausschuss darüber zu diskutieren. Verweigern Sie das nicht. Sie können auch die öffentliche Diskussion weiterführen und Ihre Argumente nennen, warum man die Praxisgebühr abschaffen oder warum man sie durch ein anderes Instrument ersetzen sollte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lanfermann, ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Sie haben gleich noch die Chance, auf eine Kurzintervention zu erwidern. Aber Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Es gibt eine breite Palette von Möglichkeiten, wie man Zuzahlungen, Eigenbeteiligungen oder Ähnliches regeln kann. Sie sind eingeladen, darüber zu diskutieren, und zwar ergebnisoffen und unvoreingenommen. Ich bitte Sie, dies zum Gegenstand und zur Richtlinie Ihrer Beiträge zu machen. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich dem Kollegen Weinberg das Wort zu einer Kurzintervention gebe, weise ich darauf hin, dass unsere Regelung in der Geschäftsordnung heißt: Der Präsident/ die Präsidentin kann das Wort zu Kurzinterventionen erteilen. - Das impliziert auch eine andere Möglichkeit. Ich werde im weiteren Verlauf der Debatte natürlich darauf achten, dass die Proportionen eingehalten werden. Bitte, Kollege Weinberg. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Spahn, auch Sie haben Ihre Redezeit durch Ihre Kurzintervention etwas verlängert. Das war meines Erachtens zumindest inhaltlich durchaus problematisch. Ich bin von Herrn Lanfermann in Bezug auf meine Bemerkung zu den Aussagen der Kollegin AschenbergDugnus angesprochen worden. Ich möchte darauf hinweisen: Die Kollegin Aschenberg-Dugnus hat auf die Anträge zur Praxisgebühr Bezug genommen - nicht auf die Anträge auf Abschaffung der Zuzahlungen, sondern auf die Anträge zur Praxisgebühr; dazu liegt auch ein Antrag von uns vor. Sie hat ausgeführt, in diesen Anträgen sei jeweils ein Bezug zur Bürgerversicherung enthalten, de facto seien es also verkappte Anträge zur Bürgerversicherung. Daraufhin habe ich gesagt: In unserem Antrag zur Praxisgebühr mit der Überschrift „Praxisgebühr abschaffen“ steht kein einziges Mal das Wort „Bürgerversicherung“. Kein einziges Mal! Insofern habe ich versucht, dies richtigzustellen. Es ist nach wie vor so, wie ich es gesagt habe, nicht anders. ({0}) - Ich kann Ihnen auch die Drucksachennummer sagen; sie lautet: 17/9031. Jetzt möchte ich noch ganz kurz auf das Argument von Herrn Lanfermann im Hinblick auf die Diskussion im Ausschuss eingehen. Wir haben in der letzten Ausschusssitzung beantragt, über diesen Antrag zu diskutieren und ihn abzuschließen. Mit den Stimmen der Koalition ist verhindert worden, dass er abgeschlossen wird und dass er heute Gegenstand im Plenum sein kann. Ich wiederhole: mit den Stimmen der Koalition, auch und gerade mit den Stimmen der FDP. Die FDP hat verhindert, dass er hier wieder zur Diskussion stehen kann. Ich habe in der Ausschusssitzung am Mittwoch dazu einen Wortbeitrag geleistet. Die Vertreter der Koalitionsparteien haben mit Hinweis auf die heutige Debatte auf Diskussionsbeiträge ihrerseits verzichtet. Also: Sie sollten nicht so tun, als sei die Diskussionskultur im Ausschuss besonders ausgeprägt, was das betrifft. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lanfermann, Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Es ist schon ein rechtes Verwirrspiel, das der Kollege Weinberg hier aufzuziehen versucht. ({0}) Ich darf es für alle vielleicht kurz erklären. ({1}) Die Linken haben, um dieses Verwirrspiel zu inszenieren, zwei Anträge gestellt. Den einen haben sie vor einigen Wochen gestellt. Über ihn ist damals hier im Plenum diskutiert worden. Er ist auch mit erstaunlicher Geschwindigkeit im Ausschuss aufgesetzt und diskutiert worden. Dann haben sie aber schon mit den nächsten Anträgen vor der Tür gestanden. Darüber diskutieren wir heute. Die Linke hat das Thema „Praxisgebühr“ sozusagen zweimal vermarkten wollen. Heute geht es um den Antrag, auf den sich Herr Weinberg gerade zu beziehen versucht hat. Der andere Antrag steht heute nicht auf der Tagesordnung. Heute steht der Antrag auf der Tagesordnung, aus dem ich zitiert habe. Darin wird auf die Bürgerversicherung verwiesen. Deswegen bleibt es nach wie vor Ihre Aufgabe, Herr Weinberg, dies gegenüber der Kollegin Aschenberg-Dugnus klarzustellen. Zum Zweiten. Ich habe Ihnen auch im Ausschuss ausdrücklich gesagt: Wir können über alles reden. - Wir haben bewusst darauf verzichtet, den Antrag, der zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit auf der Ausschusstagesordnung stand, von der Tagesordnung abzusetzen. Ich habe auf die entsprechende Frage der Vorsitzenden gesagt: Wir können heute beraten. Aber wir wollen nicht abschließen. Denn zwei Tage später kommen aus dem Plenum weitere Anträge in den Ausschuss. Alle Anträge können dann gemeinsam beraten werden. - Also: Sie haben alle Zeit der Welt, diese Anträge im Ausschuss zu beraten. Deswegen: Tun Sie nicht so, als sei hier irgendein Recht der Opposition unterdrückt worden. Mit unserem Abstimmungsverhalten wollten wir dafür sorgen, dass Sie mehr Gelegenheiten zum Diskutieren haben. Stellen Sie das hier bitte nicht anders dar. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich frage mich: Was findet hier statt? ({0}) Die Faktenlage ist eindeutig und erdrückend, aber nichts passiert. Die Praxisgebühr bringt Belastungen, sie hat keinerlei Steuerungswirkungen, und sie verursacht Bürokratie. Also in Summe: Die Praxisgebühr ist unsinnig, unsozial und ungesund. ({1}) Faktisch verstößt Deutschland mit der Praxisgebühr gegen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. In ihrem Bericht vom letzten Jahr bekräftigte die WHO - ich darf zitieren -: Direkte Zahlungen haben ernste Auswirkungen auf die Gesundheit. Menschen im Moment der Inanspruchnahme bezahlen zu lassen, schreckt sie davor ab, Leistungen in Anspruch zu nehmen. Eine Ratsuchende oder einen Hilfesuchenden eine Eintrittsgebühr zum Arzt zahlen zu lassen, macht Gesundheit zur Ware. Das widerspricht dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung, und deshalb ist die Zustimmung in der Bevölkerung dafür so groß, dass die Praxisgebühr und andere Zuzahlungen, durch die die Kranken jährlich mit insgesamt 5 Milliarden Euro belastet werden, endlich weg müssen. ({2}) Der Zeitpunkt dafür, diese Praxisgebühr abzuschaffen, war nie günstiger. Zu dem, was wir in den letzten Wochen hier in der Politik beobachtet haben, sagen mir aber viele: Das ist doch ein Schmierentheater. So empfinden wir das. - Alle Oppositionsfraktionen wollen die Praxisgebühr abschaffen, der Bundesgesundheitsminister und die FDP-Fraktion - allen voran der Fraktionschef - sprechen davon, und auch seitens der Union gibt es solche Meinungen. Der Patientenbeauftragte hat Ende März gesagt: Ich würde die Praxisgebühr gerne abschaffen. Daraufhin hat die Kanzlerin ein Machtwort verkünden lassen. Ich denke, damit hat sie die Katze aus dem Sack gelassen. Kollegin Klein-Schmeink, Sie haben völlig recht gehabt: Die Kanzlerin hat am 13. April 2012 verkünden lassen, es sei im Moment kein Thema, die Praxisgebühr abzuschaffen, es käme darauf an, das Geld der Beitragszahler zusammenzuhalten; denn künftig müssten neue Zusatzbeiträge verhindert werden. Ja, das offenbart, warum Versicherten und Kranken das Geld vorenthalten wird: Die Kanzlerin möchte das Wahljahr 2013 schonen und schützen und ein Polster aufbauen, damit es nicht massenhaft zu Zusatzbeiträgen kommt. Wir sagen dazu: Damit wird die Kopfpauschale durch die Hintertür eingeführt. Diese soziale Grausamkeit soll vom Wahljahr ferngehalten werden. Ich nenne das Angst vor dem Fluch der eigenen bösen Tat. ({3}) Aber das Machtwort ist verpufft. Wir diskutieren weiter. Natürlich erreichen wir das auch mit unseren Anträgen. Wir wollen, dass das Geld endlich zu denen fließt, denen es gehört. Es ist von den Kranken genommen worden, und dorthin muss es zurückfließen. Deshalb haben wir den Antrag heute auch ergänzt und sagen: Die Zuzahlungen müssen weg. Wenn heute abgestimmt werden würde, was Sie ja verhindern - das ist hier ausreichend erläutert worden -, dann könnte und müsste die Bundesregierung endlich handeln. Wissen Sie, wie es mir vorkommt, dass das nun verhindert wird, während die FDP trotzdem will - wir haben das auf Ihrer Internetseite gelesen, und auch der Minister wird morgen garantiert wieder davon reden -, dass die Praxisgebühr abgeschafft wird? Das ist wie ein kleiner Hund, der laut bellt, aber nur so lange, wie er an der Leine des großen Herrchens ist. ({4}) Fakt ist, dass für die Abschaffung der Praxisgebühr und der Zuzahlungen ein Zukunftskonzept für das Gesundheitssystem nötig ist. Das hat die Regierung nicht. Das beweist ja die Angst der Kanzlerin vor den Zusatzbeiträgen. Bei der Opposition sieht das mit den Modellen für eine Bürgerversicherung anders und günstiger aus. Aber Sie von CDU/CSU und FDP diffamieren all diese Alternativen nur. Unser Konzept, das konsequenteste von allen, tun Sie, Herr Spahn - ich sehe ihn jetzt gar nicht mehr -, nur als Schlagwort ab. Schauen Sie einmal auf die Internetseite unserer Fraktion. Dann werden Sie sehen, dass dieses Modell durchgerechnet ist. - Ich finde es toll, dass Herr Spahn jetzt nicht da ist. Ich wollte ihm nämlich gerade das Wesen der Bürgerinnen- und Bürgerversicherung erläutern: Wir beteiligen alle Bürgerinnen und Bürger nach ihren Möglichkeiten an der Finanzierung des Gesundheitssystems und nicht die Kranken nach ihren Möglichkeiten an den Behandlungskosten. Das unterscheidet uns in Bezug auf unser Verständnis von Solidarität. Ich denke, über diesen grundlegenden Unterschied sollten wir einmal reden. Dann werden wir hier auch weiterkommen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dietrich Monstadt hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema Praxisgebühr zum wiederholten Male in diesem Hohen Haus! Gott sei Dank, Frau Kollegin Bunge, sind wir hier nicht im Zoo. Ihre Ausführungen sprechen für sich. Die SPD begründet ihre heutige Forderung mit der aus ihrer Sicht diffusen Steuerungswirkung der Praxisgebühr und mit der aktuell positiven finanziellen Situation der gesetzlichen Krankenversicherung. Zur Praxisgebühr fällt mir spontan etwas ein, was mit ihr untrennbar verbunden ist: Einführung durch Rot-Grün, durch die damalige Ministerin Ulla Schmidt, auch wenn bei Ihnen, verehrte Damen und Herren von der SPD, die Ministerin wohl nicht mehr so bekannt sein dürfte. Aber nicht nur ich, sondern auch die Wählerinnen und Wähler im Land, vor allem die in NRW und Schleswig-Holstein, verbinden die Praxisgebühr mit Ihrer Partei, auch wenn Sie, Herr Kollege Dr. Lauterbach, Ihr Produkt jetzt nicht mehr so attraktiv finden. Sie wissen, dass wir zu Beginn dieser Legislaturperiode zunächst die Finanzlage der GKV stabilisieren mussten. Bitte erinnern Sie sich an die düsteren Zukunftsszenarien für die gesetzliche Krankenversicherung zu Beginn dieser Legislaturperiode. Damals wurden für 2011 Milliardendefizite vorausgesagt; damals kamen von der Opposition Rufe nach Spargesetzen. Mit mehreren Gesetzen, dem GKV-Änderungsgesetz, dem GKVFinanzierungsgesetz und dem Arzneimittelneuordnungsgesetz, haben wir ein Paket geschnürt, das alle Seiten an den Lasten beteiligt: Leistungserbringer, Arbeitgeber, gesetzliche Krankenkassen, die Mitglieder der Krankenkassen, pharmazeutische Industrie, Großhandel und Apotheken. Damit kann man den Unterschied zwischen der Gesundheitspolitik der SPD und der der christlich-liberalen Koalition in Euro berechnen: Das sind 30 Milliarden Euro. Denn anstelle des erwarteten Defizits von 10 Milliarden Euro schreibt der Gesundheitsfonds nun wieder schwarze Zahlen. Bei Krankenkassen und Gesundheitsfonds können wir uns über ein Plus von circa 20 Milliarden Euro freuen. Damit können wir heute feststellen: Diese Gesetze haben die erhoffte Wirkung gehabt. Durch diese Gesetze konnten erhebliche Einsparpotenziale in der gesetzlichen Krankenversicherung realisiert werden. Erstmals seit Jahren wird wieder mehr Geld für die ambulante Versorgung als für Arzneimittel aufgewendet. Ohne diese erfolgreichen Gesetze würden wir die heutige Debatte überhaupt nicht führen bzw. führen können. Ihre heute formulierten Begehrlichkeiten würden völlig ins Leere laufen. Natürlich weckt die aktuelle Situation Begehrlichkeiten bei allen, die damals einen Teil der Lasten zu übernehmen hatten, erstaunlicherweise wohl auch bei den heutigen Antragstellern. So erleben wir, dass die Linke, die SPD und die Grünen - ich räume ein, mit jeweils etwas anderer Argumentation - mit dem Füllhorn durchs Land ziehen und die Praxisgebühr als Wahlkampfgeschenk abschaffen wollen. ({0}) Interessant ist, welche Patienten von der Abschaffung der Praxisgebühr profitieren würden. Das sind jedenfalls nicht die chronisch Kranken mit niedrigem Einkommen. Beispielsweise hätte ein verheirateter, kinderloser, chronisch kranker Versicherter mit einem Jahreshaushaltseinkommen von circa 18 000 Euro eine Zuzahlungsgrenze von etwa 133 Euro pro Jahr. Als chronisch Kranker nimmt unser Patient regelmäßig Medikamente, zum Beispiel Cholesterinsenker, Betablocker oder Blutverdünner. Dafür muss er pro Verordnung im Quartal 10 Euro zuzahlen. Das wären 160 Euro im Jahr. Seine Zuzahlungsgrenze liegt aber bei 133 Euro. Es kommt für ihn also nicht mehr darauf an, ob er theoretisch beim Hausarzt pro Quartal 10 Euro Praxisgebühr oder beim Zahnarzt weitere 10 Euro zahlen müsste. Denn er zahlt sie nicht, weil sie oberhalb seiner Zuzahlungsgrenze liegt. Deshalb kann ihn die Abschaffung der Praxisgebühr nicht entlasten. Umgekehrt hätte ein verheirateter, kinderloser, gesunder Versicherter mit einem Jahreshaushaltseinkommen von 39 000 Euro eine entsprechend hohe Zuzahlungsgrenze von etwa 636 Euro pro Jahr. Ihm würde die Abschaffung der Praxisgebühr unmittelbar zugutekommen. Meine Damen und Herren von der Opposition, Herr Dr. Lauterbach, so viel zu Ihren sozialen Ungerechtigkeiten. Bei der Praxisgebühr geht es um eine Einnahme in Höhe von circa 2 Milliarden Euro. Wie soll ihre Streichung - das ist schon mehrfach angesprochen worden langfristig gegenfinanziert werden? Wer aufgrund der guten aktuellen Situation eine Einnahmequelle dauerhaft abschafft, der muss sagen, woher das Geld im Zweifelsfall kommen soll, ({1}) insbesondere dann, wenn die Rahmenbedingungen von Konjunktur und Arbeitsmarkt einmal nicht mehr so günstig sind wie heute. Dazu schweigen sich die Antragsteller - das ist nachvollziehbar - aus. ({2}) Meine Damen und Herren von der Opposition, erklären Sie bitte klar und unmissverständlich den Wählerinnen und Wählern vor allem aktuell in NRW und Schleswig-Holstein diese Politik! Sparen ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, wie es unser verehrter Herr Bundesfinanzminister vielleicht ausdrücken würde. Aber die Beitragszahler haben ein Anrecht darauf, dass die von ihnen eingezahlten Mittel sparsam und effizient eingesetzt werden. Sie haben auch Anspruch auf Nachhaltigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung, ({3}) die es erst ermöglicht, dass sie im Krankheitsfall Leistungen in Anspruch nehmen können und die Krankenkassen sie bezahlen, dass sie am medizinisch-technischen Fortschritt teilhaben und dass die Strukturen der medizinischen Versorgung zum Beispiel angesichts der demografischen Herausforderungen nachhaltig weiterentwickelt werden. Gerade die von dieser Koalition durchgeführte Konsolidierung hat den Spielraum eröffnet, sich mit den Grundsatzfragen der medizinischen Versorgung zu befassen. So gehört das Versorgungsstrukturgesetz zu den ganz wenigen Gesetzen der letzten zehn Jahre im Gesundheitsbereich, die nicht Kostendämpfung betreiben. Vielmehr befasst es sich mit der über den Tag hinaus nachhaltigen Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen in diesem Land. ({4}) In diese Richtung der Nachhaltigkeit sollten wir voranschreiten. Die vorliegenden Anträge leisten dazu leider keinen Beitrag. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Edgar Franke das Wort. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, ich kann die heutige Debatte, jedenfalls bis jetzt, folgendermaßen zusammenfassen: Wir sind uns mit Ausnahme der Union inhaltlich zumindest in der Analyse einig. Bei der FDP scheitert es wahrscheinlich ein bisschen an der Umsetzung, Frau Aschenberg-Dugnus. ({0}) Aber wir sind uns einig, dass die Praxisgebühr abzuschaffen ist, ({1}) weil sie als Steuerungsinstrument versagt hat, weil sie sozial ungerechtfertigt ist und weil man damit nur Bürokratie geschaffen hat. Darin sind wir uns hoffentlich einig, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({2}) Das wird von sehr vielen Menschen so gesehen, natürlich auch in Nordrhein-Westfalen. Denn die überwiegende Zahl der Menschen sagt: Die Praxisgebühr muss abgeschafft werden. - Deshalb sind alle Anträge, die in diese Richtung gehen, richtig und gut. Herr Ernst hat gesagt, ob eine Steuerungswirkung eintritt, hätte man schon früher sehen können. Sie haben, glaube ich, gesagt, wir hätten einen Feldversuch gemacht. Aber was wollten wir ursprünglich? Wir wollten klarmachen, dass Arztbesuche Geld kosten und sozusagen einen geldwerten Vorteil haben. Wir wollten vor allen Dingen klarmachen, dass Facharztbesuche sehr teuer sind, und zwar für die Solidargemeinschaft. Das war der Ursprungsgedanke. Man wollte vor allen Dingen das Doktorhopping vermeiden, Herr Ernst. Das sind, glaube ich, ehrenwerte Motive. Frau Ferner hat mir eben bestätigt, dass die Praxisgebühr anfangs Erfolge gezeitigt hat. Zu Beginn gab es weniger Arztbesuche. Aber in den letzten Jahren ist die Zahl der Arztbesuche nicht mehr zurückgegangen. Deswegen ist es richtig, glaube ich, die Praxisgebühr nun abzuschaffen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Franke, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Vogler?

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr Kollege Franke, ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir im März dieses Jahres, als wir unseren Antrag auf Abschaffung der Praxisgebühr auf die Tagesordnung dieses Hauses gesetzt hatten, von Ihnen zu hören bekamen, diese Forderung sei populistisch und sei nicht gegenfinanziert. Deswegen war auch Ihre Fraktion damals dagegen, mittels Sofortabstimmung - diese haben Sie nun für Ihren heutigen Antrag beantragt - über unseren Antrag zu befinden. Wir hätten also schon im März dieses Jahres auf dem gleichen Erkenntnisstand wie heute mittels Sofortabstimmung die Abschaffung der Praxisgebühr beschließen können. Da Sie noch im März dieses Jahres unsere Forderung, die Praxisgebühr abzuschaffen, für nicht gegenfinanziert hielten, finde ich es erstaunlich, warum Sie heute einen Antrag vorlegen, durch den, wenn ihm gefolgt wird, noch mehr finanzielle Belastungen auf die Krankenkassen zukommen. So wollen Sie den Hausärzten mehr Geld geben, um die hausarztzentrierte Versorgung zu stärken. Mich interessiert, wie Sie das mit der Gegenfinanzierung heute sehen und warum sich Ihre Auffassung gewandelt hat. Ich war relativ überrascht, nun in Zeitungen und im Internet zu lesen, dass SPD und Grüne die Abschaffung der Praxisgebühr zum Wahlkampfthema in Nordrhein-Westfalen machen. Die Abschaffung der Praxisgebühr sollte hier im Deutschen Bundestag Thema sein. Das gehört hierhin und nicht in den Landtag von NRW. ({0}) Das sage ich, obwohl wir Linke jederzeit bereit sind, alles zu unternehmen, um diese unsinnige Gebühr abzuschaffen. ({1})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Vogler, ich beantworte Ihre Frage sehr gerne. Sie haben damals Ihren Antrag auf Abschaffung der Praxisgebühr im Zusammenhang mit einem Antrag auf Abschaffung aller Zuzahlungen gestellt. Das hätte insgesamt 5 Milliarden Euro gekostet. Sie wollten diese Summe durch eine - so haben Sie es formuliert - pauschalierte Umverteilung locker gegenfinanzieren. Das ist aus meiner Sicht ein Kritikpunkt, dem man sich stellen muss; denn die Frage nach der Gegenfinanzierung wird sich spätestens 2013 stellen. Dann ist der Überschuss in Höhe von 20 Milliarden Euro aufgebraucht. Insofern ist die Gegenfinanzierung der entscheidende Punkt. Man muss die Abschaffung der Praxisgebühr in ein seriös gegenfinanziertes Konzept einpassen. Vor diesem Hintergrund ist meine Kritik am damaligen Antrag der Linken zu sehen. ({0}) - Ich komme gleich dazu. Frau Präsidentin, ich fahre jetzt fort. - Ich möchte noch auf Herrn Monstadt und Frau Aschenberg-Dugnus eingehen, die gesagt haben, dass die Praxisgebühr unter einer SPD-Ministerin eingeführt wurde. Jeder hier im Saal, der länger dabei ist, weiß, dass die Praxisgebühr ein Ergebnis der Verhandlungen zwischen der damaligen Regierung und Horst Seehofer ist. Horst Seehofer hat damals auf einer Pressekonferenz gesagt, dass das die schönste Nacht seines Lebens war. Was wollte Horst Seehofer in dieser schönsten Nacht? Er wollte, dass jeder Arztbesuch mit einer Gebühr belegt wird. Das ist die Wahrheit; das muss man hier auch sagen. Die Praxisgebühr ist nichts anderes als ein Kompromiss, der damals geboren wurde. ({1}) Festzuhalten bleibt, dass die Praxisgebühr nur noch ein Finanzierungsinstrument und kein Steuerungsinstrument mehr ist. Dafür war sie nicht gedacht. Deshalb gehört sie abgeschafft. Des Weiteren werden Kranke und Einkommensschwache durch die Praxisgebühr besonders belastet. Ihnen steht dadurch weniger Geld zur freien Verfügung. Deswegen ist die Praxisgebühr unsozial. Sie ist auch unsozial - darin werden Sie mir zustimmen, Herr Ernst -, weil sie nicht paritätisch finanziert ist. ({2}) - Dann können Sie auch einmal klatschen. ({3}) - Ich bedanke mich für den Applaus der Linken. Ich komme ursprünglich aus dem Bereich der Prävention und der Unfallversicherung. Wenn Sie mit Zahnärzten sprechen, dann erfahren Sie, dass Kontrolluntersuchungen - Stichwort Prophylaxe - oftmals von Einkommensschwächeren nicht wahrgenommen werden, weil für solche Leute die Praxisgebühr im wahrsten Sinne eine Eintrittsgebühr bedeutet. Einen weiteren Punkt darf man nicht vergessen. Die Praxisgebühr hat zu erheblichen Bürokratie- und Verwaltungskosten geführt. Wenn man mit Ärzten spricht, dann geißeln diese in schillernden Farben die Dokumentationspflichten und die Bürokratie. Aber auch der Normenkontrollrat hat festgestellt, dass wir 300 Millionen Euro Bürokratiekosten durch die Praxisgebühr haben. Wenn wir diese abschaffen können, dann ist das vernünftig; denn das ist letztendlich nicht nur gut für die Patien20922 ten, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte profitieren, wenn sie dieses Geld einsparen. Frau Vogler, ergänzend zu dem, was ich auf Ihre Frage geantwortet habe: Die Praxisgebühr können wir nur dann abschaffen, wenn wir 2 Milliarden Euro gegenfinanzieren und eine konzeptionelle Anpassung vornehmen. Nur dann erreichen wir, dass das System sich selbst ausbalanciert, wenn die Überschüsse nicht mehr da sind und die Konjunktur nicht mehr so gut läuft. Ein Argument wird immer wieder von der Koalition vorgebracht. Ich sehe gerade, dass auch Herr Brüderle, der Fraktionsvorsitzende der FDP, da ist. Auf dem Parteitag haben Sie, Herr Brüderle, gesagt, dass Sie für die gute Konjunktur verantwortlich sind. Wer hat aber die gute Konjunktur wirklich geschaffen? Warum haben wir Rücklagen in der Krankenversicherung, Herr Brüderle? Warum haben wir so gute Arbeitsmarktzahlen? Warum haben wir so gute Wirtschaftsdaten? All das ist das Ergebnis der Strukturreformen von Rot-Grün, das ist nicht auf diese Regierung zurückzuführen. ({4}) Das muss man ganz klar sagen, um der Geschichtsklitterung, die gerne gemacht wird, entgegenzuwirken. Auch Sie, Herr Brüderle, haben das rhetorisch geschickt - das muss ich zugeben - auf dem Parteitag gemacht. Was ist zu tun? In der Gesundheitspolitik dürfen nicht allein die gesetzlich Versicherten, dürfen nicht allein die Patienten die Zeche zahlen. Das ist der entscheidende Punkt. Herr Stracke hat vorhin gesagt, wir hätten immer das Überraschungsei Bürgerversicherung. Die Bürgerversicherung ist kein Überraschungsei. Das Konzept der Bürgerversicherung besagt, dass wir eine nominelle Parität zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber brauchen. Das bedeutet die Bürgerversicherung, und das ist gerecht. Das sehen alle Menschen in unserem Land so. ({5}) Meine lieben Linken, wie wäre es mit Beifall? Der hat sich wohl an der einen Stelle erschöpft. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wissen aber auch, dass wir den Faktor Arbeit nicht so stark belasten dürfen. Das weiß die FDP anscheinend nicht; denn sie hat die Beiträge erhöht, was zu den Rücklagen in der Krankenversicherung geführt hat. Wir brauchen - das sage ich abschließend der FDP - Beitragsautonomie. Dann balanciert sich das System selber aus. Wir brauchen Effizienzsteigerungen, innovative und integrierte Versorgungssysteme und eine hausarztzentrierte Versorgung. Dann können wir unser Gesundheitssystem nachhaltig finanzieren. Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik muss immer der Patient, der Mensch stehen. Letztlich brauchen wir eine solidarisch finanzierte Versorgung für die Menschen. Ich danke Ihnen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Erwin Rüddel für die Unionsfraktion. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind für die heutige Debatte sehr dankbar, weil sie uns die Möglichkeit gibt, zwei Stunden über die Erfolge dieser Koalition in der Gesundheitspolitik zu reden. ({0}) Die Gesundheitsausgaben in Deutschland hatten im Jahr 2010 ein Rekordniveau erreicht. Sie betrugen nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes insgesamt 287,3 Milliarden Euro. Der Anstieg der Ausgaben gegenüber dem Vorjahr betrug damit 8,9 Milliarden Euro oder 3,2 Prozent. Damit entsprach der Zuwachs der Gesundheitsausgaben in 2010 in etwa dem durchschnittlichen jährlichen Wachstum zwischen 2000 und 2009 in Höhe von 3 Prozent. Warum stelle ich das an den Beginn meiner Ausführungen? Weil wir nicht so tun dürfen, als ob wir mit dem gegenwärtigen Finanzpolster in der gesetzlichen Krankenversicherung leichtfertig umgehen können, und weil wir der Versuchung widerstehen sollten, kurzfristig Beifall einzuheimsen auf Kosten einer stabilen und über den Tag hinaus soliden Finanzierung unseres Gesundheitssystems! ({1}) Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion die geforderte ersatzlose Abschaffung der Praxisgebühr ab. Wir sind uns dabei der Tatsache bewusst, dass die Praxisgebühr keine optimale Lösung ist. Ihre Steuerungswirkung ist beschränkt. Tatsache ist aber auch, dass die Gebühr für die Arztbesuche den Krankenkassen derzeit rund 1,5 Milliarden Euro im Jahr einbringt, die Praxisgebühr für Besuche beim Zahnarzt noch einmal rund 400 Millionen Euro. Zuzahlungen sind in unserem Gesundheitswesen keineswegs unüblich. Ich erwähne die Zuzahlungen im Krankenhaus, die jährlich etwa 700 Millionen Euro erbringen, und die Zuzahlungen bei Arzneimitteln, die sich 2010 auf knapp 1,7 Milliarden Euro beliefen. ({2}) Insofern fällt es nicht aus dem Rahmen, dass seit dem Jahr 2004 gesetzlich Versicherte beim ersten Arztbesuch im Quartal 10 Euro bezahlen müssen. Beschlossen wurde das - das ist schon mehrfach erwähnt worden - in Zeiten der rot-grünen Regierung. Ich betone das deshalb, weil Sie auch in anderen Fragen von Ihrem eigenen ReErwin Rüddel gierungshandeln nichts mehr wissen wollen, seit Sie in der Opposition sind. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir die Zahlung der Praxisgebühr in ein unbürokratisches Erhebungsverfahren überführen wollen. Dass die Praxisgebühr angesichts der unbefriedigenden Steuerungsfunktion überprüft werden sollte, liegt auf der Hand. Allerdings bleibt die Frage, wie diese Einnahmequelle im Gesundheitssystem - wir sprechen von 2 Milliarden Euro - ersetzt werden kann. „Wenn man die Praxisgebühr abschaffen will, muss man über eine alternative Einnahmequelle reden“, hat Frau Pfeiffer vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen festgestellt. ({3}) Dem stimmen wir zu. Ich bin der Meinung, dass wir die Gebühr nur abschaffen können, wenn wir gleichzeitig die Einnahmen sichern, eine bessere Steuerungswirkung erreichen und Bürokratie abbauen können, ohne chronisch kranke Menschen zu überfordern. Aus diesem Grund wehren wir uns dagegen, wegen eines vielleicht populären, aber nur einmaligen Effekts die finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung in Not zu bringen. Denn wer sagt uns, dass die gegenwärtig sehr positive wirtschaftliche Entwicklung über Jahre hinweg unverändert anhalten wird? Deshalb wollen wir die beim Gesundheitsfonds liegenden Rücklagen auch als Vorsorge für wirtschaftlich schlechte Zeiten betrachten. ({4}) Ich wundere mich sowieso über Ihre Spendierfreudigkeit. Wir erinnern uns noch gut daran, wie Sie in Ihrer Regierungszeit fortwährend nach zusätzlichen Einnahmequellen im Gesundheitswesen gesucht haben. Wir haben auch nicht vergessen, dass wir nach Bildung der christlich-liberalen Koalition vor der Situation standen, ein drohendes Defizit der GKV in zweistelliger Milliardenhöhe abwenden zu müssen. Verglichen mit Ihrer Regierungszeit haben wir es jetzt fast mit einem Luxusproblem zu tun, dies aber nur deshalb, weil wir erstmals seit vielen Jahren für eine mittelfristig stabile und verlässliche Finanzierung unseres Gesundheitssystems gesorgt haben. ({5}) Meine Damen und Herren, den einzelnen Kassen steht es doch frei, zumindest Teile ihrer Rücklagen in Form von Prämien oder Erstattungen an ihre Versicherten zurückzugeben. Das wäre im Übrigen durchaus systemkonform; denn wo es Zuzahlungen gibt, da sollte es auch Prämien und Erstattungen geben. Und wir sprechen nicht ohne Grund davon, dass wir im Gesundheitswesen mehr Wettbewerb wollen. Was hindert die Kassen also daran, in diesem Sinne tätig zu werden? Die CDU/CSU-Fraktion ist stolz darauf, dass unser Gesundheitssystem endlich einmal solide durchfinanziert ist. Das war - ich habe eben darauf hingewiesen in der Vergangenheit keineswegs immer der Fall. Die gute Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung ist deshalb ein wichtiger Erfolg dieser Koalition. ({6}) Sie ist das Ergebnis der überaus positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und unserer klugen Gesundheitspolitik der vergangenen zwei Jahre. Das sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist sehr gut, dass Sie so zahlreich zu dieser Debatte und auch zur nachfolgenden Abstimmung erschienen sind. Ich bitte aber die Kolleginnen und Kollegen sowohl auf der Regierungsbank als auch auf der von mir aus rechten Seite des Hauses, dafür zu sorgen, dass wir der Kollegin Karin Maag aus der Unionsfraktion jetzt auch folgen können. - Sie haben das Wort. ({0})

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ein guter Schluss sichert alles. Deswegen zitiere ich einfach einmal das Bundessozialgericht: Zuzahlungen sind ein zweckmäßiges und taugliches Mittel zur Erhaltung der Effektivität und Effizienz der Leistungen der GVK, aber auch ihrer Qualität und Finanzierbarkeit. Das ist zwar nicht mein Satz; ich habe ihm aber nur wenig hinzuzufügen. ({0}) Ich will gerne darüber reden, wie wir - das ist das Angebot an die FDP - die Praxisgebühr vereinfachen können. Dem Antrag der Linken, der SPD und der Grünen, sie abzuschaffen, werden wir natürlich auch im dritten Anlauf - und in allen weiteren Anläufen, merke ich vorsorglich einmal an - nicht zustimmen. Wir haben in dieser Koalition mit nachhaltigen Reformen - viele Redner haben es erwähnt - dafür Sorge getragen, dass unser Gesundheitssystem auch in Zukunft trägt, dass es bei einer guten medizinischen Versorgung bleibt und dass alle am medizinischen Fortschritt teilhaben können. ({1}) Wir haben mit unseren nachhaltigen Gesetzen vor allem dazu beigetragen, dass ein prognostiziertes Defizit von 9 Milliarden Euro - so haben wir das Ganze übernommen - nicht nur vermieden werden konnte, sondern dass heute die meisten Kassen - aber nicht alle Kassen; das ist mir wichtig - Rücklagen bilden konnten. Aber - jetzt bin ich bei den sehr einfachen Finanzierungsvorschlägen, insbesondere von den Linken - bei den Kassen werden keine Vermögen angehäuft, die jetzt als Spielmasse in einem Wahlkampf verschleudert werden können. ({2}) Auch wenn wir im Boomjahr 2011 einen Überschuss für alle Kassen - jetzt bin ich wieder bei allen Kassen von rund 4 Milliarden Euro hatten, muss man doch differenziert jede einzelne Kasse betrachten. Schließlich gibt es viele Kassen, die bisher noch nicht über ausreichend Betriebsmittel und Rücklagen verfügten und die ihre Finanzsituation jetzt endlich erstmals verbessert haben. ({3}) Diese Kassen würden Sie doch wieder in die Übernahmesituation treiben. Das wollen wir nicht. ({4}) Zumindest meine Fraktion erwartet von den Kassen ein nachhaltiges Wirtschaften. Wie soll das denn funktionieren, wenn wir diese Einnahmen der Kassen jetzt wieder der Beliebigkeit aussetzen? Mit uns wird so etwas nicht funktionieren. ({5}) Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, sieben Kassen haben es derzeit richtig gemacht - sieben Kassen, denen es gut geht. Sie geben nämlich ihren Versicherten einen Teil der Beitragsleistung in Form von Prämien zurück. Das ist aus meiner Sicht der einzig richtige Weg. Andere Kassen - auch das ist für mich beispielgebend - gehen in die Leistungsverbesserung. So etwas dürfen wir doch nicht verhindern. Im Gesundheitsfonds hat sich 2011 ein Überschuss von 5 Milliarden Euro angesammelt. Das sind 2 bis 3 Prozent der jährlichen Ausgaben der gesetzlichen Kassen. ({6}) Können Sie sich vorstellen, wie schnell ein solches Polster in Zeiten der zurückgehenden Konjunktur vervespert ist? Es gibt den schönen Satz: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. - Daran richten wir unsere Politik aus. Für das Jahr 2012 - das will ich auch einmal deutlich sagen liegen noch keine Abrechnungs- und Finanzdaten vor, und Sie geben die Milliarden bereits aus. Ich habe mich gestern beim Schätzerkreis informiert: Für das Jahr 2012 reden wir von einem Überschuss - Gott sei Dank - von 350 Millionen Euro. Frau Klein-Schmeink, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, nur am Rande: Wir haben mit den guten Daten der Kassen eindeutig bewiesen, dass es zu einer Konsolidierung der Finanzen sicher keiner Bürgerversicherung bedarf. ({7}) Wir haben bewiesen, dass mit der Hebung von Effizienzreserven und einer mittelguten Wirtschaftslage, für die diese Regierung auch steht, in den bestehenden Verhältnissen noch ganz gute Ergebnisse erzielt werden können. ({8}) Wenn Sie mittelfristig Ihre Bürgerversicherung als Finanzierungsinstrument anbieten: Wie finanzieren Sie die kurzfristige Abschaffung der Praxisgebühr? Das alles passt nicht zusammen. ({9}) Meine Damen und Herren von der Linken, Sie sagen, wir haben genügend Geld im System. Die Grünen und die SPD behaupten, in den kommenden Jahren sei mit einem dramatischen Anstieg der Beitragsbelastung der Versicherten zu rechnen. Hier setzen Sie uns ein großes Fragezeichen vor die Nase. Was gilt denn nun? Auf der einen Seite fallen Weihnachten und Ostern offensichtlich zusammen, und auf der anderen Seite wird bei derselben Debatte von der übrigen Opposition eine Notlage herbeigeredet. Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie den Menschen erklären wollen. ({10}) Der GKV-Spitzenverband hat jedenfalls in der Anhörung ausgeführt, ohne die Zuzahlungen fehlten den gesetzlichen Kassen rund 5 Milliarden Euro. Von diesen 5 Milliarden Euro entfallen 2 Milliarden Euro auf die Praxisgebühr. Wenn wir in Beitragssatzpunkten rechnen: Die Summe von 5 Milliarden Euro entspricht konstant 0,5 Beitragssatzpunkten. Wenn es dann tatsächlich nicht mehr reicht, was ich eingangs dargestellt habe, dann frage ich Sie: Wollen Sie dann die Beiträge entsprechend erhöhen? Oder woher nehmen Sie sonst das Geld? Uns wurde gestern in der Pflegedebatte vorgeworfen, wir hätten angeblich nur - die Betonung liegt auf: nur 1,1 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt und keine 6 Milliarden Euro, die angeblich notwendig wären. Auch das würden wir nur mit einer Erhöhung der Beiträge schaffen. ({11}) So viel Ehrlichkeit muss sein. Es ist Ihre und nicht unsere Politik. Wir versuchen eine nachhaltige Gestaltung. ({12}) Das werden uns die Wählerinnen und Wähler danken. Jetzt möchte ich noch zwei Punkte zur angeblich fehlenden Steuerungswirkung nennen: Die Begründung im Jahr 2003 für die Praxisgebühr war vor allem, dass ein Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen geleistet werden sollte. In einem zweiten Schritt sollten die Zahlen der ärztlichen Konsultationen reduziert werden. Heute schämen Sie sich offenbar dafür, dass die Versicherten zu zusätzlichen Leistungen herangezogen wurden. Das werfe ich Ihnen gar nicht vor. Damals waren Sie in der Regierung. Damals ging es darum, sich um die Bezahlbarkeit zu kümmern. Es ist Regierungsverantwortung, dass Sie Antworten auf solche Fragen geben. ({13}) Natürlich hat sich die direkte Steuerungswirkung abgeflacht. Die Versicherten haben sich tatsächlich daran gewöhnt. Dass Zuzahlungen aber generell steuern können, sieht man auf dem Arzneimittelmarkt, wo beispielsweise die Generika von der Zuzahlung befreit und deswegen auch stark nachgefragt sind. Ich möchte noch einen letzten Aspekt erwähnen. Es geht um die Bindung an den behandelnden Arzt durch die Praxisgebühr. Sie haben die Hausarztverträge erwähnt. Ich teile Ihre Ansicht nicht. Die Hausarztverträge werden mit der Praxisgebühr unterstützt. Sie setzen dies leichtfertig aufs Spiel und damit die Option, weitere Wirtschaftlichkeit ins System zu bringen. Die Hausarztverträge funktionieren nur dort, wo Versicherungen Anreize bieten. Dazu gehört die Befreiung von der Praxisgebühr.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit und kommen zum Schluss.

Karin Maag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004104, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich achte auf die Zeit und komme zum Schluss. - Es gilt das Erstgesagte: Wir werden auch künftigen Anträgen nicht zustimmen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit auch am Ende der Debatte. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Anträgen auf Drucksachen 17/9189, 17/9067 und 17/9408. Die Fraktionen der SPD, die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wünschen jeweils Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/ CSU und FDP wünschen jeweils Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss für Gesundheit und mitberatend an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, an den Ausschuss für Arbeit und Soziales und an den Haushaltsausschuss. Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über die Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen, und wir stimmen heute noch nicht in der Sache ab. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes - Drucksache 17/9145 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({0}) - Drucksache 17/9435 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({1}) Dr. Dietmar Bartsch Priska Hinz ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es enttäuscht mich jetzt ein wenig, dass sich die Reihen aus für mich nicht gerade erklärbarer Ursache so sehr lichten. Vor allen Dingen bitte ich Sie aber, wenn Sie jetzt anderen Verpflichtungen nachgehen müssen, dafür zu sorgen, dass wir hier ordnungsgemäß weitertagen können. Ich bitte Sie also, die notwendigen Gespräche vor der Tür des Plenarsaals zu führen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich nehme an, dass die Geräusche hier neben mir rechts keinen Widerspruch bedeuten. ({3}) - Zustimmung. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Norbert Barthle für die Unionsfraktion. ({4})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetz passen wir die Regelungen zur Beteiligung des Deutschen Bundestages am temporären Rettungsschirm EFSF an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts an. Die Tatsache, dass wir einen fraktionsübergreifenden Kompromiss gefunden haben, zeigt, dass wir als Parlament die Ausgestaltung unserer Rechte verantwortungsbewusst und gemeinsam in die Hand nehmen. Wir bringen damit auch unseren Respekt vor dem obersten Gericht zum Ausdruck. Ich möchte daher allen Beteiligten ganz herzlich dafür danken, dass wir das Gesetz heute so beschließen können. ({0}) Auch mit Blick auf unsere europäischen Partner sowie zur Minimierung von Unsicherheiten an den Finanzmärkten ist es meiner Ansicht nach wichtig, dass wir hinsichtlich möglicher Anwendungen des Rettungsschirms für entsprechende Rechtssicherheit sorgen. Wir geben mit diesem Gesetz nahezu alle Entscheidungsbefugnisse über die Vereinbarung neuer Hilfsprogramme an das Plenum des Deutschen Bundestages. Damit gewährleisten wir ein Maximum an parlamentarischer Mitbestimmung. Es bleibt nur eine Ausnahme: Mögliche Anträge zu Sekundärmarktaktivitäten, die einer besonders vertraulichen Behandlung bedürfen, werden zukünftig im sogenannten Neunergremium behandelt. Das Neunergremium wird dann sowohl die Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag widerspiegeln als auch dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit entsprechen. Es wird zudem in geheimer Wahl mit der Mehrheit des Bundestages gewählt und damit zusätzlich legitimiert. Außerdem erhöht die Wahl von Stellvertretern die Legitimation und Beschlussfähigkeit. Ich bin davon überzeugt, dass wir damit eine vernünftige sowie verfassungsrechtlich sichere Regelung gefunden haben. Diese Regelung ist sachlich von großer Bedeutung, um das Instrument der Sekundärmarktankäufe nicht im Vorhinein zu lähmen. Das betone ich besonders, da die einstweilige Verfügung, die erwirkt wurde, mögliche Beschlüsse durch das Neunergremium noch komplett untersagt hatte. Das Gericht hat dann aber klargestellt, dass der Grundsatz der Funktionsfähigkeit des Bundestages prinzipiell rechtfertigen kann, dass der Bundestag zumindest in Fällen besonderer Vertraulichkeit die Rechte des Plenums an ein kleineres Gremium delegieren kann. Ich will an dieser Stelle mögliche Kritikpunkte vonseiten der SPD-Kollegen vortragen, insoweit als man sie in den Protokollen der Sitzungen des Haushaltsausschusses nachlesen kann. An dieser Stelle zeigt sich, dass auch der von der SPD vorgelegte Vorschlag zur Änderung des StabMechG verfassungsrechtlich problematisch war, dass sie das Neunergremium allein aus Gründen besonderer Eilbedürftigkeit etablieren wollte. Genau diesen Grund hat das Verfassungsgericht nicht akzeptiert. Für eilbedürftige und vertrauliche Fälle wollte die SPD den Haushaltsausschuss entscheiden lassen. Wie gesagt, die Eilbedürftigkeit in diesen Fällen, so das Bundesverfassungsgericht, wird auch vom gesamten Plenum zu gewährleisten sein. Mit dem jetzt vorliegenden Entwurf eines Änderungsgesetzes legen wir etwas vor, was den Vorgaben des Verfassungsgerichts vollumfänglich entspricht. Deshalb sollten wir dieses gemeinsam erzielte Ergebnis, diesen Kompromiss, nicht zerreden, was dadurch geschieht, dass sich einzelne Fraktionen als klüger darstellen als andere. Wir sollten gemeinsam auf dieses Ergebnis stolz sein. Ich will an dieser Stelle ganz bewusst unserem Bundestagspräsidenten Norbert Lammert danken, der sich mit seiner Expertise eingebracht hat. Außerdem will ich unserem Parlamentarischen Geschäftsführer Peter Altmaier danken, der den Diskussionsprozess moderiert hat. In der Diskussion über die Ausgestaltung unserer Parlamentsbeteiligung sind wir einen guten Schritt vorangekommen. Wie so oft liegt das beste Ergebnis tendenziell in der goldenen Mitte. Wir dürfen die fundamentalen, durch die Verfassung geschützten Rechte einzelner Abgeordneter durch eine eilige Kriseninterventionspolitik nicht aufs Spiel setzen. Genauso wenig dürfen wir unseren Wunsch nach Mitsprache übertreiben; wir dürfen nicht bei allem und jedem mitbestimmen wollen. Wir müssen immer auch die Grenzen zwischen exekutiven und parlamentarischen Zuständigkeiten klar ziehen. Meine Damen und Herren, wenn wir die Parlamentsbeteiligung überziehen, blockieren wir nämlich letztlich die Funktionsfähigkeit des Rettungsschirms und behindern seinen Zweck. Dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn die eigentlichen Aufgaben des Rettungsschirms zum Beispiel von der EZB übernommen werden. ({1}) Diese Lehre sollten wir auch für die Regelung der jetzt anstehenden Parlamentsbeteiligung beim Europäischen Stabilitätsmechanismus im Hinterkopf behalten. In Bezug auf die Frage der Eilbedürftigkeit haben wir uns im Hinblick auf das StabMechG darauf geeinigt, keine gesonderte Regelung vorzunehmen. Ich kann diesen Kompromiss gut mittragen. Wir müssen uns aber auch bewusst sein, dass wir, und zwar das gesamte Haus, dann gegebenenfalls extrem schnell zusammenkommen müssen. Die Praxistauglichkeit dieser Regelung wird sich zeigen, sollte sie tatsächlich zur Anwendung kommen. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass wir mit diesem Gesetz die Möglichkeit schaffen, im Haushaltsausschuss eine Anhörung zu Anträgen und Vorlagen der Bundesregierung in Bezug auf den Rettungsschirm durchzuführen. Das gab es zu Zeiten der alten Gesetzesregelung in dieser Form nicht. Diese Neuregelung umfasst den Inhalt des Änderungsantrags, den wir gemeinsam erarbeitet haben. Wir, das Parlament, der Deutsche Bundestag, haben die Aufgabe, das Ganze zu regeln, selbst in die Hand genommen. Das war richtig so und ist gut so. Ich freue mich, dass mit dieser Änderung die Rechte der Mitglieder des Deutschen Bundestages insgesamt gestärkt werden und dass damit die Vorgaben des Verfassungsgerichts vollumfänglich erfüllt sind. Ich bitte Sie, alle Fraktionen dieses Hauses, um Zustimmung zu diesem Gesetz. Damit würden wir das Vorhandensein eines rechtsfreien Raums beenden und demonstrieren, dass wir handlungsfähig sind. Danke sehr. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz für die SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages werden grundsätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung im Plenum wahrgenommen. … Vor diesem Hintergrund ergibt sich der Grundsatz der Budgetöffentlichkeit aus dem … Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie … So das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 28. Februar 2012 zur Klagesache unserer Kollegen Dr. Peter Danckert und Swen Schulz. Meine Damen und Herren, wir beschließen heute ein Gesetz zur Parlamentsbeteiligung beim Euro-Rettungsschirm, das diesen Anforderungen endlich, und zwar im vollen Umfang, gerecht wird, und das ist gut so. ({0}) Damit findet auch ein Emanzipationsprozess des Parlaments, der sich über fast zwei Jahre hingezogen hat, sein gutes Ende. Ich will noch einmal daran erinnern. Als die Bundesregierung den befristeten Euro-Rettungsschirm, EFSF, auf den Weg gebracht hat, ging sie davon aus, dass der Deutsche Bundestag dabei genauso wenige Mitwirkungsrechte bekommen muss wie bei allen klassischen Euro-Angelegenheiten. Da wird über Finanzgipfel auf Europaebene in der Regel nur informiert, und das war es dann auch. Natürlich war klar, dass der Gewährleistungsrahmen der EFSF insgesamt per Gesetz genehmigt werden musste. Aber für das laufende Rettungsgeschehen sah das Beteiligungsgesetz vom Mai 2010 deshalb nur vor - ich darf zitieren -: Vor Übernahme von Gewährleistungen … bemüht sich die Bundesregierung, Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss … herzustellen. Zu mehr waren die Bundesregierung und die sie tragende Koalition damals nicht bereit. Das änderte sich erst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur EFSF und zur Griechenland-Hilfe. Nun war klar, dass wir auch beim laufenden Rettungsgeschehen im Kernbereich des parlamentarischen Budgetrechts sind und die Handlungen der Bundesregierung auch auf der übernationalen Ebene des Euro-Rettungsschirms der Zustimmung des Deutschen Bundestages bedürfen. Dass wir dieses Urteil nicht bereits im September 2011 mit einem adäquaten, verfassungsfesten Beteiligungsgesetz umgesetzt haben, meine Damen und Herren, ist kein Ruhmesblatt der deutschen Parlamentsgeschichte. Allerdings haben die Fraktionen daran durchaus unterschiedlichen Anteil. Das will ich ansprechen. Die Sozialdemokraten müssen sich vorhalten lassen, dass sie im Herbst letzten Jahres bei der Schlussabstimmung im Plenum unter dem Druck des Faktischen und aufgrund eines Loyalitätsgefühls gegenüber einer letztendlich an dieser Stelle falschen Staatspraxis der Forderung der Koalition nachgegeben haben und zunächst ein verfassungswidriges Beteiligungsgesetz mit beschlossen haben. Allerdings hatte die SPD zuvor im Haushaltsausschuss Änderungsanträge eingebracht, die genau die schwierigen Stellen markierten, ({1}) und die mögliche Verfassungswidrigkeit im Ausschuss thematisiert, und zwar in Bezug auf die Stellen, die später bei dem Urteil eine zentrale Rolle spielten. Das gilt für die exzessive Verweisung von Beratungsgegenständen an das damalige Neunergremium: Wir wollten schon damals, dass hier nur Sekundärmarktkäufe erfasst werden und nicht mehr. ({2}) Das gilt auch für die von der Koalition gewollte Regelvermutung der besonderen Eilbedürftigkeit: Man wollte viele Beratungsgegenstände unter diesem Rubrum erfassen, was das Verfassungsgericht später bekanntermaßen kassierte. So wie ich die Verantwortung der SPD thematisiere, will ich auch ausdrücklich sagen: Es liegt in der Verantwortung der anderen Fraktionen - die Linke, die hier anders votiert hat, ausgenommen -, dass diese Vorschläge damals im Haushaltsausschuss abgelehnt worden sind und wir erst durch eine neue Verfassungsklage hier zu einem Umdenkungsprozess gekommen sind. ({3}) An dieser Stelle, meine Damen und Herren, will ich den Kollegen Peter Danckert und Swen Schulz meinen ausdrücklichen Dank und Respekt aussprechen, die mit ihrer Verfassungsklage letztendlich den Weg zu unserer heutigen Gesetzesänderung eröffnet haben. Das ist kein leichter Gang und alles andere als eine Selbstverständlichkeit, wenn zwei Kollegen sich aufmachen und vor dem Bundesverfassungsgericht quasi ihr eigenes Parlament verklagen. Das ist für beide Kollegen nicht leicht gewesen. Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, in dem das rechtlich möglich ist. Ich finde, beide Kollegen haben Respekt für diesen Vorgang verdient. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Schwanitz, darf der Kollege Willsch Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte bitte weiter vortragen. Was wir heute am Gesetz ändern, sorgt für eine Parlamentsbeteiligung, die der Stellung des Budgetrechts als Königsrecht des Parlaments wirklich gerecht wird. Die SPD findet ihre Vorschläge, die sie hier mit eingebracht hat, nahezu vollständig wieder. Alle Entscheidungen über Hilfsmaßnahmen und ihre Änderungen werden künftig im Plenum des Deutschen Bundestages, das heißt von allen Abgeordneten und im Lichte der Öffentlichkeit, entschieden. Das gilt für Darlehen, für Ankäufe am Primärmarkt und für vorsorgliche Maßnahmen ebenso wie für Kredite zur Rekapitalisierung von Finanzinstituten; es gilt aber auch für Leitlinien und für sogenannte Hebel, über die viel diskutiert worden ist, und schlussendlich auch dann, wenn sich die Bedingungen für finanzielle Instrumente geändert haben. Im Haushaltsausschuss werden künftig auch bei Regierungsvorlagen Minderheitenrechte für Anhörungen bestehen. Damit wird der unwürdige Zustand beendet, dass die Opposition bei der Befassung und bei der Organisation fachlicher Expertise im Ausschuss von der Gnade der Mehrheit abhängig ist und dass die Koalition eine solche Anhörung mit ihrer Mehrheit schlicht und einfach verhindern kann. Damit haben wir in den zurückliegenden Monaten hinreichend Erfahrung sammeln müssen. Das Sondergremium wird sich künftig ausschließlich mit Sekundärmarktkäufen befassen. Die exzessive Zuordnung von Vorlagen und das überdimensionierte Agieren hinter verschlossenen Türen werden aus dem Gesetz gestrichen. Das Sondergremium wird durch Stellvertreter vergrößert und durch geheime Wahlen im Plenum des Deutschen Bundestages mit der Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses ordentlich demokratisch legitimiert. ({0}) Auch die Auszahlung der Hilfstranchen, also dort, wo quasi richtiges Geld fließt, wird künftig nur nach vorheriger Beteiligung des Haushaltsausschusses erfolgen. Seine Stellungnahmen müssen von der Bundesregierung berücksichtigt werden. Das ist richtig so; denn auch mit der Auszahlung von Teilbeträgen können politische Fragen von erheblicher Bedeutung verbunden sein. Deshalb ist es richtig, dass wir von einer bloßen Kenntnisnahme zu einem echten Beteiligungsrecht des Haushaltsausschusses kommen. ({1}) Mit den Änderungen im vorgelegten Gesetzentwurf in Bezug auf den befristeten Euro-Rettungsschirm EFSF wird es eine Weiterentwicklung von einer partiellen zu einer umfassenden Parlamentsbeteiligung und -entscheidung geben. Künftig gilt auch hier das Plenarprinzip: Alle wichtigen Entscheidungen können in Zukunft im Plenum von allen Abgeordneten im Lichte der Öffentlichkeit entschieden werden. ({2}) Das Budgetrecht des Parlaments wird damit faktisch auf das Agieren der Bundesregierung in Bezug auf den EuroRettungsschirm erstreckt - ein Standard, der sicherlich auch beim dauerhaften Rettungsschirm ESM nicht mehr infrage gestellt werden wird. Meine Damen und Herren, die heutige Entscheidung markiert ein gutes Stück Parlamentsgeschichte in Deutschland. Die Entscheidung ist wichtig für die Akzeptanz und Legitimation des Rettungsgeschehens und auch für die Akzeptanz und das Funktionieren unserer Demokratie in Deutschland. Deswegen bitte ich um eine breite Zustimmung. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Willsch das Wort.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schwanitz, ich hätte Ihnen gerne eine Zwischenfrage gestellt, aber nun muss ich mein Anliegen in einer Kurzintervention darstellen. Man wird mir ohne Weiteres abnehmen, dass es in meinem Interesse liegt, dass eine Verhandlung dieser Angelegenheiten im Parlament und damit in der Öffentlichkeit erfolgt. Die Union wirkt ja bei der Gesetzesänderung mit. Wenn es aber Ausweis der Bedeutung ist, die die Mitglieder des federführenden Ausschusses, nämlich des Haushaltsausschusses, dieser öffentlichen Debatte beimessen, dass heute von zehn Mitgliedern der SPD dieses Ausschusses gerade zwei anwesend sind, dann will ich meine Sorge zum Ausdruck bringen, was das für die Zukunft der Parlamentsbeteiligung in diesen Fragen bedeutet. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke für die FDP-Fraktion. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Man sollte in den Vordergrund stellen, dass für das Gesetz drei Dinge maßgeblich waren: erstens die Vorgaben des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eins zu eins umzusetzen; ich glaube, wir haben sie sogar übererfüllt; zweitens - das ist das Schwierigere die Handlungsfähigkeit der EFSF zu erhalten; und drittens die von uns gerade dargestellte interfraktionelle Übereinkunft zu erreichen. Im Einzelnen und zum Verständnis: Worum geht es heute eigentlich? Geht es heute um die Frage der EuroRettung als solche? Nein, es geht um eine Grundfrage von Demokratie, um die Grundfrage, wie wir in Staaten miteinander umgehen. Wenn man so will, geht es um Locke und Montesquieu, um Gewaltenteilung. Faktisch ist es hier doch so: Wir haben eine Regierung, die auf europäischer Ebene handeln will und muss, und wir haben ein Parlament, das die Haushaltsverantwortung hat. Übersetzt heißt das: Das Parlament hat die Verantwortung, zu bestimmen, wann und unter welchen Bedingungen die andere Gewalt, die Regierung, konkret über wie viel Geld entscheiden kann und wie weit wir dabei ins Detail gehen. Die dritte Gewalt, die Rechtsprechung, versucht auch wieder, die unterschiedlichen Gewaltenstränge einigermaßen in Übereinstimmung zu bringen. Wenn wir vor fünf Jahren - das müssen wir erkennen - gesagt hätten, dass wir in diesem Bundestag wiederholt darüber entscheiden müssen, was der richtige Weg ist, dann hätten wir Stimmen gehört - diese gibt es weiterhin -, die gesagt hätten: Eigentlich sollte das Parlament überhaupt nicht darüber entscheiden; das ist eine reine Exekutiventscheidung. - Ich glaube, dass die Lösung, die wir jetzt gefunden haben, vertretbar ist. Ob sie die richtige ist, wird die Zeit erweisen. Ich halte sie jedenfalls für eine gute. Ich sage das unumwunden: Wir alle - alle Parteien, die Regierung und übrigens auch das Verfassungsgericht haben jeweils Veränderungen unserer Positionen vorgenommen. Die Regierung hat erkennen müssen, dass es ein selbstbewusstes Parlament gibt. Sie hat erkennen müssen, dass das nicht nur im Haushaltsausschuss so ist, sondern dass das gesamte Parlament - wie auch die gesamte Bevölkerung - Interesse an diesem wichtigen Thema hat. Das ist nicht nur deshalb so, weil es um so viel Geld geht, sondern auch, weil es darum geht, wie Europa eigentlich aussehen soll. Das Verfassungsgericht hat in seiner ersten Entscheidung gesagt - das war für uns maßgeblich -: Wir haben eine Vorstellung davon, wie ihr das machen könnt. Es hat dann aber einen weiteren Satz gesagt, der für uns alle, damals übrigens auch für die SPD und die Grünen, durchaus sehr prägend war. Die ursprüngliche Entscheidung des Verfassungsgerichts - daran möchte ich immer wieder erinnern - war nämlich: In Eilfällen kann die Regierung, die exekutive Gewalt, das allein machen. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seinem neuen Urteil mit diesem Satz auseinandergesetzt hätte. Dass es jetzt anders entschieden hat, haben wir auch den beiden Abgeordneten zu verdanken, die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben. So gehört sich das auch. Ich bin nicht immer derselben Meinung wie der Kollege Danckert gewesen. Auch der Kollege Danckert - er kann heute wahrscheinlich leider nicht kommen; das ist aber okay - muss anerkennen, dass seine Vorstellung - er meinte, der Haushaltsausschuss müsse die wesentlichen Dingen entscheiden - nicht umgesetzt wurde. Vielmehr machen wir das jetzt im Plenum. Den Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Haushaltsausschuss sind, will ich eines deutlich sagen: Jeder Abgeordnete muss sich darüber klar sein, dass, wenn es für Europa notwendig ist - mit Blick auf die Stabilisierung des Kontinents, aber auch auf die Stabilisierung unseres Staates, unserer Sozialsysteme, unserer Altersvorsorge; denn wir brauchen Europa -, die gefundene Lösung notfalls bedeutet, dass am Pfingstsonntag eben nicht nur der Heilige Geist über ihn kommt, sondern auch eine notwendige Abstimmung. Für meine Fraktion sage ich: Wenn es für Europa, für unsere Bürger, für unsere Altersvorsorgesysteme usw. notwendig ist, werden wir am Pfingstsonntag hier sein. Da werden wir weitere Erfahrungen sammeln; aber nach dem, was ich erlebt habe, werden wir auch Gemeinsamkeiten finden. Wir als FDP haben an bestimmten Stellen zurückstecken müssen. Das ist der kleine Wasseranteil, den ich in den Wein gieße; Sie haben das ja auch gemacht. Aber, Kollege Schwanitz, ich muss auch sagen: Auch bei der SPD hat es durchaus kleinere Änderungen gegeben. Ich habe mir noch einmal Ihren Gesetzentwurf vom September angesehen. In dem hieß es noch: Über Eilfälle soll in einem Neunergremium beschleunigt entschieden werden; aber in Vertraulichkeitsfällen sei das eigentlich nicht notwendig. Das Verfassungsgericht hat das umgekehrt gesehen. Wir sind zu neuen Erkenntnissen gekommen, und das ist auch in Ordnung. Mit dem, was wir heute zur EFSF beschließen - dabei geht es um den temporären Schutzschild des Euro -, gehen wir sehr viele Punkte an, die mit Blick auf eine Parlamentsbeteiligung beim ESM schon die Richtung weisen. Zwei Umstände sehe ich allerdings durchaus als schwierig an. Einen hat der Kollege Barthle schon deutlich gemacht. Wenn wir unsere Parlamentsbeteiligung destruktiv wahrnehmen und nicht klarmachen, unter welchen Bedingungen der Finanzminister im Gouverneursrat handeln kann, und wenn es daraufhin zu einer Handlungsunfähigkeit der Stabilitätsmechanismen kommt, dann wird die Europäische Zentralbank, bei der wir kein Vetorecht haben, sagen: Na, dann noch eine „dicke Bertha“. Übersetzt heißt das: noch einmal 500 Milliarden Euro, und zwar ohne Bedingungen und ohne der Politik in anderen Ländern sagen zu können: Ihr müsst Reformen machen. Ich will einen zweiten Punkt deutlich ansprechen: Wenn wir das Neunergremium in der geplanten Ausgestaltung haben, sind wir uns dann sicher, dass es nur in Fällen von Sekundärmarktaktivität tätig wird, weil nur in diesen Fällen Vertraulichkeit notwendig ist, um einen Effekt zu erzielen? Deswegen will ich für meine Fraktion sagen: Die Handlungsfähigkeit wird auch davon abhängen, dass nicht gesagt wird: Da man das nicht vertraulich machen kann, müssen wir das Ganze jetzt leider über die EZB machen. - Ich bitte darum, dass wir alle uns das sehr genau anschauen; denn wir wollen doch erreichen, dass parlamentarische Beteiligung, wo sie notwendig ist, von dem richtigen Gremium wahrgenommen wird. Wir haben jetzt diese Verteilung. Wir alle werden weiter lernen. Wir alle haben schon hinzugelernt. Insofern ist dies wirklich ein guter Tag für die Gewaltentei20930 lung und für die Demokratie. Manchmal sollte es eben auch so im Parlament ablaufen. Herzlichen Dank und ein schönes Wochenende. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das schöne Wochenende wird noch einen Augenblick auf sich warten lassen müssen, aber die Wünsche können ja schwerlich zu früh kommen. Jetzt hat der Kollege Steffen Bockhahn für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Steffen Bockhahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004014, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Worum geht es heute? Wir müssen klären, wie der Deutsche Bundestag künftig bei den Maßnahmen, die im Zusammenhang mit dem europäischen Rettungsschirm notwendig sind, mitentscheiden soll. Momentan geht es noch um den temporären Rettungsschirm, also um die EFSF. De facto reden wir aber auch schon über das, was künftig mit dem ESM passieren soll. Dabei geht es dann um 700 Milliarden Euro. 22 Milliarden Euro sind von Deutschland bar einzulegen, und 168 Milliarden Euro muss Deutschland jederzeit als abrufbares Kapital zur Verfügung stellen. Wir reden also über Summen, die mehr als die Hälfte des gesamten Bundeshaushalts eines Jahres ausmachen. Nun geht es um die Frage: Bei welchen Maßnahmen wird sich das Parlament wie einbringen? Ja, es ist gut, dass geklärt ist, dass der Bundestag im Grundsatz im Plenum in Gänze zu entscheiden hat. Es gibt aber eine Ausnahme, nämlich die sogenannten Sekundärmarktkäufe. Das heißt, über den Ankauf von Staatsanleihen, die schon im Umlauf sind, die also eine Bank hat und die von anderen gekauft werden sollen, nämlich vom ESM, hat das sogenannte Neunergremium zu entscheiden. Es heißt, solche Fälle bedürften einer besonderen Vertraulichkeit, und deshalb könne man darüber nicht offen im Plenum entscheiden. In solchen Fällen soll das sogenannte Neunergremium, über das wir hier reden, aktiv werden. Es geht um Transparenz und Beteiligung. Ich gebe zu: Ich bin ein wenig irritiert ob einiger Sätze, die ich heute gehört habe. Es heißt, wenn der Deutsche Bundestag seine Rechte zu sehr in Anspruch nähme, würde er letztlich den Europäischen Stabilitätsmechanismus gefährden. ({0}) Das ist für mich unter demokratietheoretischen Aspekten eine sehr problematische Auslegung. ({1}) Ich sage Ihnen auch, warum: weil es suggeriert, dass es keine Möglichkeit gäbe, dass der Deutsche Bundestag Dinge vertraulich behandelt. Nehmen Sie das Grundgesetz: Art. 42 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes sieht vor, dass der Deutsche Bundestag im Plenum in geschlossener Sitzung tagen darf. Es liegt an uns, diese Rechte in Anspruch zu nehmen oder nicht. Ich finde, angesichts der Summen, über die wir hier reden, sind wir nicht nur aufgerufen, sondern sogar verpflichtet, diese Verantwortung wahrzunehmen. Wir reden wahrscheinlich über mehrere Milliarden Euro. Ich finde, diese Verantwortung kann man nicht Einzelnen überlassen. Dafür sind wir alle zusammen zuständig. ({2}) Schauen wir uns einmal an, was in den vergangenen Wochen und Monaten noch so alles passiert ist. Bei der Abstimmung über das zweite Griechenland-Rettungspaket war keine Kanzlermehrheit vorhanden. ({3}) Angesichts dessen verstehe ich nicht, warum SPD und Grüne diesem Gesetzentwurf jetzt zustimmen. Damit entlasten Sie die Koalition, die offensichtlich nicht mehr in der Lage ist, bei Entscheidungen, bei denen es um die europäische Stabilität geht, eine eigene Mehrheit herzustellen. ({4}) Durch Ihre Zustimmung ermöglichen Sie es, dass die Koalition treue Kolleginnen und Kollegen in das Neunergremium entsendet. Dort hat die Koalition dann eine eigene Mehrheit und ist auf Sie gar nicht mehr angewiesen. Im Plenum sähe die Sache anders aus. Dort müsste unter Umständen auch anders verhandelt werden, weil die Mehrheitsverhältnisse im Plenum offensichtlich nicht so sind, wie sie im Neunergremium schnell herzustellen sind. In das Neunergremium kann ich zwei, drei Leute schicken, auf die ich mich verlassen kann. Im Plenum habe ich es mit der Gesamtheit des Parlaments und damit mit der Gesamtheit der politischen Ansichten zu tun. Das ist zwar komplizierter, aber es ist ehrlicher, und es ist auch verantwortungsvoller gegenüber dem Haushalt. ({5}) Sie mögen das jetzt so interpretieren, dass wir eigentlich nur wieder einen Grund gesucht haben, um Nein zu sagen. Aber es ist ausdrücklich nicht so. Uns geht es darum, dass wir über Beträge reden, die sich niemand mehr vorstellen kann. Wir sprechen bei diesem Thema über Zahlen mit neun Nullen. Diese Zahlen sind jenseits von Gut und Böse, niemand versteht sie. Allein die 22 Milliarden Euro Bareinlage, die wir im ESM zu zahlen haben, über die ich persönlich sage: „Ja, wir haben hier eine Verantwortung“, sind mehr als das Doppelte der Haushaltsmittel, die das Bundesinnenministerium und das Bundesfamilienministerium im ganzen Jahr haben. Ich finde, über diese Mittel müssen wir alle zusammen transparent entscheiden. Niemand von Ihnen würde akzeptieren, dass über einen Einzelplan des Haushalts nicht im Plenum, sondern in einem Neunergremium entschieden wird. Danke. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Priska Hinz hat nun das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bockhahn, es geht heute nicht um die Parlamentsbeteiligung für den ESM, den ständigen Rettungsschirm. Heute geht es ausdrücklich um die Parlamentsbeteiligung für den vorläufigen Rettungsschirm, die EFSF. Ich finde, das muss man auseinanderhalten. ({0}) Zu dem anderen Gesetzentwurf werden wir erst noch eine Anhörung durchführen. ({1}) Im Lichte dieser Anhörung werden wir dann darüber diskutieren, wie man eine gute Parlamentsbeteiligung hinbekommen und gleichzeitig - das ist ein Balanceakt den ständigen Rettungsschirm funktionsfähig machen und halten kann. Das wird für uns alle eine schwierige Aufgabe, ({2}) wenn wir tatsächlich an der Euro-Rettung interessiert sind. Zum Zweiten. Die Parlamentsbeteiligung im Rahmen dieses Gesetzes hat sich - genauso wie das Gesetz - weiterentwickelt. Das muss man so sagen. Ich habe jetzt keine Lust auf das Schwarzer-Peter-Spiel, hin und her, wer hat was wann eingebracht. ({3}) Das kann draußen an den Bildschirmen sowieso niemand nachvollziehen. Ich glaube, wichtig ist, dass wir heute feststellen, dass wir das zweite Urteil des Verfassungsgerichts nicht nur umsetzen, sondern teilweise darüber hinausgehen. ({4}) Das will ich nachdrücklich festhalten. Deswegen werden wir diesem Gesetzentwurf heute zustimmen. Die Formulierungen des Gesetzes sind klarer geworden, und die Rechte der Abgeordneten wurden gestärkt, weil jetzt weitestgehend alle Entscheidungen vom Bundestag in Gänze getroffen werden müssen. Das ist zum Beispiel hinsichtlich der Leitlinien wichtig. Ich erinnere an den Streit, den wir über die Frage der Hebelung geführt haben. Die Koalition wollte nicht, dass wir über diese Frage hier im Bundestag diskutieren und entscheiden. Letztendlich haben wir dann hier darüber diskutiert. Insofern war die Öffentlichkeit beteiligt und die Entscheidung transparent. Künftig wird es generell so sein. Das halten wir in diesem Fall für richtig. ({5}) Das Sondergremium kann nach dem Urteil des Verfassungsgerichts für die Sekundärmarktankäufe weiter bestehen. Alle anderen Aufgaben, die das Sondergremium laut dem ursprünglichen Gesetz hatte, sind jetzt auf das Plenum übertragen worden. Ich verhehle nicht, dass ich die Stellvertreterregelung für problematisch halte. Ich bin nicht sicher, ob dies insgesamt praktikabel sein wird und das Gremium jemals tagen wird. Aber wir alle lernen mit diesen Gesetzen dazu. Die Staatsschuldenkrise dauert Gott sei Dank noch nicht so lange an, dass wir schon alle parlamentarischen Erfahrungen damit hätten machen können. Wir werden sehen, ob es sich bewährt oder ob die EZB künftig auch in dieser Frage einschreiten muss. In diesem Lichte müssen wir dann noch einmal über die Aufgaben des Sondergremiums diskutieren. ({6}) Das Gleiche gilt für die Eilfälle. Die Eilfallregelung wurde nicht mehr in den Gesetzentwurf aufgenommen, weil SPD und Grüne dagegen waren, dass die Regierung entscheidet, was ein Eilfall ist, ({7}) und weil wir auch nicht akzeptieren wollten - entschuldigen Sie bitte -, dass der Bundestagspräsident allein entscheidet, was ein Eilfall ist. Auch dies fanden wir unparlamentarisch.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Was im Übrigen, wie Sie wissen, auch nicht vorgesehen war. ({0})

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Von daher gibt es jetzt im Gesetzentwurf keine Regelung für Eilfälle. Das heißt, das Plenum muss zusammentreten, wenn es einen Eilfall gibt, notfalls auch in der sitzungsfreien Zeit in der Sommerpause. Auch damit werden wir Erfahrungen sammeln müssen, um beurteilen zu können, ob das praktikabel ist oder ob man im Hinblick auf Eilfälle, in denen das nicht funktioniert, etwas im Gesetz ändern muss. Wo wir als Grüne, als es um dieses Gesetz ging, leider nicht durchgedrungen sind, ist das Thema Anhörung. Eine Anhörung zu beantragen, wird auch für eine Minderheit ermöglicht. Allerdings wollten wir gerne die Regelung, dass entweder zwei Fraktionen oder 25 Prozent der Mitglieder des Haushaltsausschusses eine Anhörung beantragen können. Die Mehrheit des Hauses wollte das nicht akzeptieren. Das finden wir bedauerlich, weil das im Zweifel natürlich uns als kleinere Fraktion betreffen würde. ({0}) Aber daran wollen wir das Gesetz nicht scheitern lassen. Priska Hinz ({1}) Sinnvoll wäre aus unserer Sicht gewesen, eine Anhörung zu diesem neuen Gesetzentwurf am 7. Mai durchzuführen, wenn auch eine Anhörung zum ESM und zum Fiskalpakt stattfindet. Aus Zeitgründen ist von der Mehrheit darauf verzichtet worden. Das finden wir wirklich nicht sinnvoll. Uns wäre es wichtig gewesen, eine Anhörung durchzuführen. Aber davon machen wir unsere Entscheidung nicht abhängig, weil wir es für sachlich gerechtfertigt halten, die starke Parlamentsbeteiligung, die im Gesetz verankert ist, jetzt zu vollziehen. Danke schön. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Bartholomäus Kalb das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als letzter Redner, der feststellen kann, dass wir uns weitestgehend einig sind, könnte ich mit Karl Valentin sagen: Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von jedem. - Aber gerade aus Gründen des Respekts vor dem Bundesverfassungsgericht und aus Gründen der Selbstachtung des Parlaments ({0}) ist es geboten, diese Debatte sehr ernsthaft und seriös zu führen. Wir tragen mit dieser Gesetzesänderung den Vorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Dieses hat mit seinem Urteil die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages gestärkt und damit auch die Zuständigkeiten des sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktaktivitäten begrenzt. Damit ist klargestellt, dass dieses Gremium, das eingerichtet werden soll, ein Spiegelbild der Mehrheitsverhältnisse sein muss. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben - dafür darf ich mich ganz herzlich bedanken - unter der Führung von Peter Altmaier, wie ich glaube, eine sehr gute Lösung gefunden, ({1}) sodass wir jetzt zu einer einvernehmlichen Regelung und Entscheidung kommen und den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in vollem Umfang Rechnung tragen können. ({2}) Ich habe bereits gesagt, dass die Zuständigkeiten des sogenannten Neunergremiums auf Sekundärmarktaktivitäten begrenzt werden. Ich halte das für dringend geboten. Denn wenn durch Indiskretionen irgendetwas herauskäme, könnten Deutschland und allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union milliardenschwere Schäden entstehen. Das Thema Eilbedürftigkeit will ich nicht weiter vertiefen. In der Zukunft hat das Plenum des Deutschen Bundestages die Gesamtverantwortung. Das heißt, dann muss das Plenum in allen Fällen entscheiden. Ich glaube, von der Kollegin Hinz ist schon gesagt worden: Das kann durchaus eine sportliche Veranstaltung für das Plenum des Deutschen Bundestages werden. Wenn wir aber die Wahrung der Parlamentsrechte bzw. des Budgetrechts in vollem Umfang gewährleisten wollen, dann gehört dazu auch, dass wir zur Stelle sind, wenn dies geboten ist.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Riegert möchte und darf offenkundig eine Zwischenfrage stellen. - Bitte sehr.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kalb, mit „sportliche Veranstaltung“ haben Sie mir gerade ein Stichwort gegeben. Sie haben ja von der Stabilität der Währung gesprochen. Unser Saaldiener Hermann Rost hat als Zeugwart für stabile Verhältnisse in der Bundestagsfußballmannschaft gesorgt. Er hat heute seinen letzten Arbeitstag, ist bis zuletzt an seinem Platz und bringt uns das köstliche Wasser. ({0}) Sind Sie nicht wie ich der Meinung, dass wir ihn mit einem herzlichen Dankeschön und dem Wunsch eines stabilen Alters und einer stabilen Pension verabschieden sollten? ({1})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Riegert, ich freue mich ganz ausdrücklich über diese Zwischenfrage, weil sie mir Gelegenheit gibt, den Dank, den Sie schon ausgesprochen haben, auch meinerseits - ich denke, auch für die vielen Kolleginnen und Kollegen - zum Ausdruck zu bringen. Ich kenne Hermann Rost schon seit 25 Jahren, und ich durfte auch einmal ein bisschen in der Fußballmannschaft des Bundestages mitspielen. ({0}) Herzlichen Dank und alle guten Wünsche an Hermann Rost! Herr Präsident, wenn Sie einverstanden sind, dann darf ich dies zum Anlass nehmen, Hermann Rost auch stellvertretend für die vielen zu danken, die uns hier im Plenum des Deutschen Bundestages, in den Ausschüssen usw. mit voller Hingabe tagtäglich treu zur Seite stehen und unsere Arbeit ermöglichen. Herzlichen Dank an alle und alles Gute für Hermann Rost im Ruhestand. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Präsidium schließt sich diesen guten Wünschen ausdrücklich und gerne an. Sie hätten auch in keiner passenderen Debatte als in dieser vorgetragen werden können. ({0}) Ich vermute, dass nur deswegen darauf verzichtet wurde, das auch in den Gesetzentwurf einzufügen, weil wir von der Sicherheit der Rechtsansprüche der Beamtenpension ohnehin fest überzeugt sind. ({1})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, es steht mir nicht zu, Ihre Worte zu kommentieren, aber wenn es notwendig gewesen wäre, dann hätten wir es tatsächlich fertiggebracht, das in diesem Gesetzentwurf auch noch festzuschreiben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin jetzt in meinem Redefluss natürlich etwas unterbrochen worden. ({0}) Ich will nun auf das Thema zurückkommen. Wir befassen uns jetzt mit der Mitwirkung und Beteiligung des Parlaments am temporären Rettungsschirm in Europa. Wir sind im Moment parlamentarisch auch dabei, den dauerhaften Rettungsschirm für Europa, den Europäischen Stabilitätsmechanismus, zu beraten. Hierbei wollen wir - ich glaube, Kollege Fricke hat es schon zum Ausdruck gebracht - die Parlamentsbeteiligung und die Parlamentsrechte ebenso stark berücksichtigt finden. Darüber beraten wir gerade. Ich bin davon überzeugt, dass uns auch das gelingen wird. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass es sich bei den Maßnahmen, die wir jetzt ergreifen, nur um Maßnahmen handelt, um unsere parlamentarischen Mitwirkungsrechte zu stärken und die Rettungsschirme funktionsfähig zu machen. Das entbindet aber keinen Mitgliedstaat in der Europäischen Währungsunion, seine Hausaufgaben zu machen, eine solide Haushaltspolitik zu betreiben und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Wir haben bereits gestern darüber debattiert. Das wird die Kernaufgabe schlechthin sein. Es wird somit auf der einen Seite darauf ankommen, dass sich alle in Europa entsprechend anstrengen, damit diese Vorgaben, die wir im Fiskalpakt vereinbart haben, eingehalten werden. Auf der anderen Seite wollen wir sicherstellen, dass kein Mitgliedsland der Euro-Zone in existenzielle Probleme gerät; denn ganz gleich, welches Land in Schwierigkeiten käme und Finanzierungs- bzw. Refinanzierungsprobleme hätte: Es würde natürlich andere mitziehen, und es würde Rückstoßeffekte für uns alle geben. Es ist also - der Kollege Fricke und der Kollege Barthle haben schon darauf hingewiesen - in unserem und im Interesse unserer Bürger, dass wir für stabile Verhältnisse in Europa, in der Europäischen Union und insbesondere in der Währungsunion sorgen. Herzlichen Dank, alles Gute, schönes Wochenende! ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ein zweites Mal hat sich der Kollege Kalb leider nicht stoppen lassen, und nach Überschreiten der Redezeit können keine weiteren Zusatzfragen angenommen werden. Bevor wir jetzt zu den Abstimmungen kommen, hat der Kollege Ströbele um eine Erklärung zur Abstimmung gebeten. Dazu hat er jetzt Gelegenheit. Danach stimmen wir über den Gesetzentwurf ab.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir ist dieses allgemeine Schulterklopfen in dieser Debatte etwas unangenehm. Deshalb habe ich mich hier zu Wort gemeldet. Bei der Verabschiedung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes habe ich damals nicht zugestimmt, weil ich die gleichen Bedenken hatte, die dann die Kollegen von der SPD beim Bundesverfassungsgericht vorgetragen haben. Ich fand es vom Kollegen Schwanitz etwas wohlfeil, hier nun die Kollegen dafür zu loben, dass sie zum Bundesverfassungsgericht gegangen sind. Ich fand das richtig, hätte es auch gerne getan. Ich war aber nicht so schnell und hatte keinen so guten Rechtsrat. Aber wir dürfen nicht vergessen: Die SPD hat damals diesem offensichtlich in Teilen verfassungswidrigen Gesetz zugestimmt. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Ströbele, Sie wollten aber eigentlich eine Erklärung zu Ihrem Abstimmungsverhalten abgeben.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, natürlich. Das ist eine Erklärung zur Abstimmung.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das muss ich allerdings entscheiden, ob es das ist oder nicht. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ich will erklären, warum ich heute wie abstimme. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Na gut.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich fange damit an, dass ich sage: Beim letzten Mal, als es um das Gesetz ging, habe ich nicht zugestimmt. ({0}) Jetzt geht es um die Änderung dieses Gesetzes. Ich kritisiere, dass fast alle Fraktionen dieses Hauses ein in Teilen verfassungswidriges Gesetz beschlossen haben, und appelliere an dieses Haus, in Zukunft vielleicht auch die Bedenken einzelner Abgeordneter schon bei der Debatte in den Ausschüssen, aber auch hier im Plenum ernst zu nehmen. Ich habe damals auch in meiner persönlichen Erklärung zur Abstimmung genau die Punkte, um die es heute geht und um die es beim Bundesverfassungsgericht ging, genannt. Ich bin deshalb auch nach Karlsruhe gefahren und habe mir dort die Verhandlung angeschaut. Ich habe auch versucht, bei der Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts mitzureden. ({1}) Den vorliegenden Gesetzentwurf mit den vorgeschlagenen Änderungen sehe ich als einen positiven Schritt an. Das Bundesverfassungsgericht hat ja geklärt, was verfassungswidrig war, nämlich dieses Neunergremium, das bei Eilbedürftigkeit und Vertraulichkeit ein sehr weitgehendes Recht hier im Deutschen Bundestag bekommen hatte. Dass das nun korrigiert werden soll, ist richtig und in Ordnung. Mir geht das aber nicht weit genug. Ich habe mir natürlich genau überlegt: Wie soll ich heute abstimmen? Ich kann nicht übersehen - das sage ich auch zur Linken -, dass in das geltende Gesetz, das nicht in Gänze aufgehoben worden ist, deutliche Verbesserungen aufgenommen werden sollen. Ich habe lange geschwankt, um deutlich zu machen, dass ich immer noch nicht zufrieden bin. Die Kollegin Hinz hat dazu einige wichtige Aspekte genannt. Ich werde aber trotzdem zustimmen, weil ich sage: Es ist besser, dass das vorhandene schlechte Gesetz nun konkret verbessert wird und die verfassungsrechtlichen Bedenken, die wir hatten und die das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, jedenfalls in Teilen aufgenommen werden, als das alte Gesetz ohne diese Änderungen fortgelten zu lassen, wenn ich Sie davon hätte überzeugen können, nicht zuzustimmen. Ich frage vor diesem Hintergrund die Linke: Warum stimmen nicht auch Sie zu? Sie sehen doch deutlich - das haben Sie offenbar auch im Haushaltsausschuss klargemacht - die Verbesserungen, die dieses Gesetz bringt. Wenn aus einem schlechten Gesetz ein besseres Gesetz wird, dann kann man eigentlich nicht dagegen sein. Deshalb werde ich heute zustimmen - trotz Bauchschmerzen. Ich appelliere aber an dieses Haus, die Verfassung in Zukunft ernster zu nehmen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Vielen Dank. - Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/9435, den Gesetzentwurf auf der Drucksache 17/9145 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Fraktion Die Linke, die dagegen gestimmt hat, angenommen. Wir rufen nun die dritte Beratung und Schlussabstimmung auf. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den gerade schon vorgetragenen Mehrheitsverhältnissen angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 37 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kampfkraft der Gewerkschaften stärken Anti-Streik-Paragraphen abschaffen - Drucksache 17/9062 ({0}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. ({1})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Gewerkschaft, die IG Metall, steht mitten in einer Tarifrunde in der Metallindustrie. Die IG Metall fordert 6,5 Prozent mehr Lohn, „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ - auch für Leiharbeitnehmer -, ({0}) den Ausbau der Mitbestimmung von Betriebsräten beim Einsatz von Leiharbeit und die unbefristete Übernahme aller Auszubildenden. Diese Forderungen sind richtig und lösen Probleme, die von dieser Regierung nicht gelöst wurden. Die Tarifverträge sind zum 31. März ausgelaufen. Eigentlich sollte in der vierwöchigen Friedenspflicht ein neuer Tarifvertrag gefunden werden. In den letzten Verhandlungen kamen die Arbeitgeber mit einem Angebot um die Ecke: Sie bieten 2,57 Prozent mehr Lohn für zwölf Monate und - man höre - eine Arbeitszeitverlängerung. ({1}) Bis zu 30 Prozent der Beschäftigten sollen künftig nach dem Vorschlag der Arbeitgeber 40 Stunden pro Woche arbeiten. ({2}) - Genau, um Gottes willen. - Das ist kein Angebot; das ist eine Frechheit. ({3}) - Wissen Sie, derzeit arbeiten sie 35 Stunden, und künftig sollen sie 40 Stunden arbeiten. Das ist der Unterschied. ({4}) Würden Sie die Tarifverträge ein bisschen kennen und sich daran erinnern, was die Forderungen und Bedingungen der IG Metall an dieser Stelle sind, dann wüssten Sie das. Ab nächster Woche wird die IG Metall versuchen, mit Warnstreiks Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Wenn das nicht klappt, sind Urabstimmung und Streik geboten. ({5}) Streik ist unsere schärfste Waffe. Dem Streik der Beschäftigten dürfen die Arbeitgeber Aussperrung entgegensetzen. So will es die Rechtsprechung. ({6}) Streikrecht ist aber ein demokratisches Grundrecht. ({7}) Aussperrung ist Richterrecht. ({8}) Mit einer Aussperrung verweigern die Arbeitgeber ihren Beschäftigten Arbeit, Lohn und Zutritt zum Betrieb. Die Gewerkschaft ist klipp und klar gegen jede Form von Aussperrung. Im Tariflexikon der IG Metall heißt es - ich zitiere -: Aussperrung ist ein willkürliches Kampfmittel der Arbeitgeber. Sie stellt das Streikrecht in Frage und muss solidarisch bekämpft werden. Sie ist Unrecht und gehört verboten. ({9}) Die Arbeitgeber hingegen können heiß und kalt aussperren. Eine heiße Aussperrung betrifft Beschäftigte, die im bestreikten Tarifgebiet in Betrieben arbeiten, die gerade nicht zum Streik aufgerufen sind. Eine kalte Aussperrung bedeutet, dass auch Beschäftigte ausgesperrt werden, die im Zweifel gar nichts mit dem Streik zu tun haben. Sie dürfen als Streik- bzw. Aussperrungsfolge nicht mehr arbeiten. Wenn Beschäftigte infolgedessen keine Arbeit haben, war das früher ein klassischer Fall von Kurzarbeit. Das wurde 1986 mit dem Anti-Streik-Paragrafen abgeschafft. Bei kalter Aussperrung stehen die Beschäftigten im Regen und bekommen nichts. Das ist ungerecht und unsozial. ({10}) Das treibt einen Keil zwischen Streikende und heiß Ausgesperrte und kalt Ausgesperrte. Die Arbeitgeber ihrerseits bekamen durch den AntiStreik-Paragrafen ein zweites Kampfmittel in die Hand. Sie können Hunderttausende Beschäftigte und ihre Familien ohne jegliche Unterstützung vor der Türe stehen lassen. ({11}) Damit muss Schluss sein. Wenn die IG Metall im Mai in einen Streik gehen sollte, dann darf es nicht sein, dass die Arbeitgeber Beschäftigte willkürlich kalt aussperren können. ({12}) Meine Damen und Herren, es ist und bleibt höchste Zeit, dieses ungerechte und undemokratische Gesetz zu kippen. Aussperrung gehört verboten. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nächste Woche ist der 1. Mai, der Tag der Arbeit. ({0}) Er ist Anlass für eine Bestandsaufnahme darüber, wie sich die Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei uns in Deutschland entwickelt. An diesem 1. Mai kann man seit langem wieder einmal feststellen: Peter Weiß ({1}) Die Bilanz für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land entwickelt sich bislang gut, und das wird in diesem Jahr voraussichtlich auch so bleiben. ({2}) Nach Zeiten der Massenarbeitslosigkeit mit über 5 Millionen Arbeitslosen im Frühjahr 2005 ist die Arbeitslosenzahl Ende März dieses Jahres auf 3,028 Millionen zurückgegangen. Das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang von 182 000; das stellt den niedrigsten Märzwert seit 20 Jahren dar. Die Konjunkturdaten mit einem prognostizierten Wachstum um 0,7 bis 0,9 Prozent in diesem Jahr machen Hoffnung, ({3}) dass sich diese Entwicklung fortsetzt. Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst sind vor diesem Hintergrund zu einem, wie ich finde, guten und befriedigenden Ergebnis gekommen. Es ist davon auszugehen, dass auch die Tarifverhandlungen im Bereich der Metall- und Elektroindustrie zu einem ähnlichen Ergebnis kommen werden, übrigens ohne Mithilfe einer Bundestagsdebatte, allein durch das engagierte Verhandeln auf Gewerkschafts- und Arbeitgeberseite. ({4}) Im Vorfeld des Maifeiertages steht nicht mehr so sehr die Sorge um den Arbeitsplatz im Vordergrund wie zu Zeiten von Rot-Grün. ({5}) Vielmehr diskutieren wir lebhaft über gute Arbeit, bessere Bezahlung und die Notwendigkeit, mehr Fachkräfte zu gewinnen. Ich finde, das ist ein Fortschritt, der sich auch im 1.-Mai-Motto, das die Gewerkschaften ausgegeben haben, widerspiegelt: „Gute Arbeit für Europa - Gerechte Löhne, Soziale Sicherheit“. ({6}) Ich finde, dieses Motto können wir auch über unser Regierungshandeln schreiben. Das ist ein gutes 1.-MaiMotto, das unsere Unterstützung hat. ({7}) Ich finde es sehr verwunderlich, dass der Linken in einer solchen Situation nichts anderes zum 1. Mai einfällt, als eine alte Klamotte aus der Kiste herauszuholen, die kaum noch jemandem in Erinnerung ist. ({8}) Seit 26 Jahren gelten die derzeitigen Regelungen zum Streikrecht. Ich gebe ehrlich zu, dass auch ich damals die entsprechenden Änderungen für problematisch gehalten habe. Aber nach 26 Jahren, in denen weder den Sozialdemokraten noch den Grünen - diese haben ja in letzter Zeit auch regiert - noch der FDP noch uns eine Initiative in den Sinn gekommen ist, die darauf abzielt, die bestehenden Regelungen zu ändern, ({9}) muss man sagen: Das Problem, das die Linken auftun, ist eigentlich keines; denn wir können feststellen, dass die Gewerkschaften unter den Bedingungen des gültigen Streikrechts sehr wohl erfolgreiche Tarifpolitik in Deutschland betreiben konnten, notfalls auch durch Wahrnehmung dieses Rechts. Ich empfinde das, was die Linke vorträgt, eigentlich als einen Angriff auf die IG Metall. ({10}) Wenn eine Gewerkschaft erfolgreich gezeigt hat, dass sie die Interessen ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchsetzen kann, dann ist es die IG Metall, die übrigens die weltgrößte Einzelgewerkschaft ist. Deswegen betrachte ich Ihre Aussage, Frau Krellmann, die IG Metall brauche die Hilfestellung der Linken in Form eines Antrags zur Änderung von bestehenden Gesetzen, um Tarifrunden erfolgreich zu bestehen, als einen Anschlag auf das erfolgreiche Verhandeln der IG Metall. Die Gewerkschafter bekommen das auch ohne Änderungsantrag der Linken sehr gut hin. ({11}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist doch nicht, wie viele Tage für ein Tarifergebnis gestreikt worden ist, sondern entscheidend ist, welche Qualität der Tarifvertrag hat, der unter dem geltenden rechtlichen Rahmen erzielt wurde. Wenn die Ergebnisse stimmen und wir zugleich in Europa zu den Ländern gehören, die die wenigsten Ausfalltage durch Streiks haben, spricht das doch letztlich für ein gutes Streikrecht und nicht für ein schlechtes Streikrecht. Die daraus resultierenden Standortvorteile der deutschen Wirtschaft sind nicht zu unterschätzen, und sie wirken sich direkt positiv auf den Arbeitsmarkt und zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Weiß, darf der Kollege Ernst eine Zwischenfrage stellen?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Weiß, danke für die Möglichkeit, Ihnen eine Frage stellen zu dürfen. Es wird wirklich eine Frage. ({0}) Erstens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsache, dass wir in der Bundesrepublik mit die wenigsten Streiktage haben - nur der Vatikanstaat und die Schweiz haben noch weniger -, etwas damit zu tun hat, dass die Löhne in der Bundesrepublik Deutschland, gemessen an unseren europäischen Partnern, prozentual in den letzten Jahren deutlich gesunken sind? ({1}) Zweitens. Können Sie sich vorstellen, dass die Tatsache, dass während des Streiks 1984 in der Metallindustrie in Hessen und in Baden-Württemberg die Regelung zum Kurzarbeitergeld verändert wurde, was zur Folge hatte, dass von kalter Aussperrung betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer plötzlich kein Kurzarbeitergeld mehr erhalten haben, maßgeblich die Stärke der IG Metall geschwächt und damit das Ergebnis der Verhandlungen negativ beeinflusst hat? Können Sie sich das vorstellen? Die dritte Frage, die ich anschließen möchte, lautet: Glauben Sie wirklich, dass die Tatsache, dass das Streikrecht unter Ihrer Regierung - Herr Blüm war damals Minister - verändert wurde und für rechtens erklärt wurde, was das Bundessozialgericht vorher moniert hatte - das Vorgehen des damaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Herrn Franke, ist ja vom Bundessozialgericht für rechtswidrig erklärt worden -, ohne Einfluss auf die Kampfkraft der Gewerkschaften geblieben ist? Ob Sie das glauben, möchte ich gerne von Ihnen hören. ({2})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege Ernst, ich finde, dass Sie Rückschlüsse ziehen, die nicht zutreffen. Umgekehrt ist es richtig. ({0}) Das Problem niedriger Entlohnung haben wir in all den Bereichen, in denen wir leider keine Tarifbindung haben oder nicht mehr haben, wo also gar nicht gestreikt wird, weil keine Tarifverhandlungen stattfinden. Da liegt das Problem. ({1}) In den Bereichen, wo wir starke Gewerkschaften haben, gerade im Metall- und Elektrobereich oder im Bereich der Chemie, haben wir in Deutschland beste Löhne, die sich auch im internationalen Vergleich sehen lassen können. Das zeigt: Meine Behauptung stimmt. Dort, wo Tarifverhandlungen stattfinden und eine Tarifbindung vorhanden ist, wo die Bereitschaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besteht, Tarifverträge zu unterschreiben, haben wir in Deutschland eine gute Entlohnung. Unser Problem ist vielmehr, dass wir in vielen Bereichen eine zu geringe Tarifbindung haben. Deswegen wäre es eigentlich notwendig, Initiativen für mehr Tarifbindung zu starten, statt eine Initiative zur Änderung des Streikrechts. ({2}) - Herr Ernst, Sie wissen, dass letztendlich die entsprechenden Klagen, die bis vor die obersten Gerichte gingen, abgewiesen wurden und die Regelung von 1986 für nicht rechtswidrig oder gar verfassungswidrig erklärt wurde. Deshalb finde ich es müßig, dass Sie solche Fragen stellen. Ich will zum Schluss zusammenfassen. Wenn man sich die Geschichte unseres Landes und die Geschichte der Tarifauseinandersetzungen anschaut, dann sieht man, dass die Fakten für sich sprechen. Wir haben ein gutes und funktionierendes Streikrecht. Das Streikrecht ist in der Tat ein Grundrecht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mit dem sie ihre Interessen kraftvoll durchsetzen können. ({3}) Unionsgeführte Bundesregierungen sind und bleiben der beste Garant dafür, dass wir in Deutschland ein faires Streikrecht, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie haben. Wir wünschen denen, die verhandeln, viel Erfolg. Wir sind uns als Politik, als Bundestag und - das darf ich auch sagen - als die die Regierung tragende Koalition einig: Wir wollen an dem bewährten Streikrecht festhalten. Wir halten an der Tarifautonomie fest. Wir glauben, das ist der beste Weg zu guten Löhnen. Dazu braucht es keine politische Einmischung. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Die Debatte erinnert sehr stark an ähnliche Vorgänge in Studentenparlamenten, wie ich sie früher gewohnt war. Dort lernt man, entweder am Thema strikt vorbeizureden oder ein Thema taktisch zu missbrauchen. ({0}) Beides kann man dort von der Pike auf lernen. Im Bundestag sollte man vielleicht nicht so umfänglich davon Gebrauch machen. ({1}) - Herr Kolb, was Sie bieten werden, kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Sie werden gleich bieten, dass das ganze Elend der Republik, soweit es noch welches geben sollte, auf Rot-Grün zurückzuführen ist. ({2}) Das ist Ihre Meisterarie, die Sie von morgens bis abends singen. Sie stehen sogar nachts um drei auf, um sie zu singen. ({3}) Insofern können Sie eigentlich sitzen bleiben und mir Ihre Redezeit zur Verfügung stellen. Ich würde sie vermutlich etwas sinnvoller gebrauchen. ({4}) Herr Kollege Weiß, Sie haben im ersten Abschnitt Ihrer Rede die Grundregel jedes Studentenparlaments meisterhaft befolgt, nämlich am Thema vorbeizureden. Sie haben den Arbeitsmarkt über den grünen, roten und gelben Klee gelobt. Sie haben gesagt, nicht mehr die Sorge um den Arbeitsplatz stehe an diesem 1. Mai bei den Menschen im Mittelpunkt, sondern möglicherweise andere Sorgen. Ich kann Ihnen sagen: Nicht nur in den Betrieben und in vielen Unternehmungen, sondern auch an den Hochschulen ist die Sorge um den Arbeitsplatz die Hauptsorge. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Ich war am Montag voriger Woche auf Einladung eines Kollegen an der Universität Mannheim und habe dort mit Studenten diskutiert. Das, was den Kern dieser Debatte ausmachte, war die Sorge der Studentinnen und Studenten, dass sie nach einem erfolgreichen Abschluss, wenn es gut geht, nur einen zeitlich befristeten Job bekommen, vielleicht für ein oder zwei Jahre, dann vielleicht eine Verlängerung oder auch nicht, und, wenn es schlecht geht, einen miserabel bezahlten Praktikantenjob bekommen. Das heißt, die Prekarisierung von Arbeit, instabile, unsichere und ungeschützte Arbeit treibt die Menschen wirklich um. Wie soll denn ein 30-jähriger junger Mann oder eine 28-jährige junge Frau sich verantwortungsvoll für Kinder entscheiden können, wenn sie nicht wissen, ob sie in zwei Jahren das Kind noch angemessen kleiden und ernähren können? ({5}) Sie können hier nicht sagen: Die Sorge um den Arbeitsplatz ist gewissermaßen aus dieser Republik vertrieben. Dem ist nicht so. Richtig ist der Hinweis, dass wir einen Rückgang der Arbeitslosigkeit haben. Das begrüßen wir; das ist auch anzuerkennen. Im Übrigen sollte man sich die Statistiken aber einmal etwas näher angucken. Nicht ganz zufällig werden ja zwei Statistiken geführt, nämlich die Arbeitslosenstatistik, die sehr stark beschönigt, und die Statistik der Unterbeschäftigung, die näher an den Realitäten ist als die erste. Dann, Herr Kollege Weiß - das kann ich Ihnen auch nicht so ganz ersparen -, wünschten Sie den Verhandelnden - ich nehme an: im Metallbereich - viel Erfolg. Wir wünschen ausdrücklich der IG Metall viel Erfolg. Das ist der Unterschied. ({6}) Es gibt einen handfesten Nachholbedarf der Arbeitnehmerschaft in Sachen Lohn. Wenn Sie sich die europäischen und die internationalen Statistiken anschauen, stellen Sie fest: In keinem anderen Land hat es eine vergleichbar zurückhaltende - um es freundlich zu formulieren - Lohnentwicklung gegeben wie in Deutschland. Wir haben über die letzten 10 oder 15 Jahre im Durchschnitt stagnierende Löhne. ({7}) Vielleicht sollten Sie mal wieder die Grundprinzipien der sozialen Marktwirtschaft studieren. Dass ich auf meine älteren Tage mal zum Fan von Ludwig Erhard werden würde, hätte ich nie geglaubt. In dem Buch Wohlstand für Alle - der Titel heißt übrigens ausdrücklich nicht „Wohlstand für wenige Reiche“, Herr Kollege Kolb, sondern Wohlstand für Alle - steht bereits auf den ersten Seiten, dass die jährliche Steigerung der Arbeitslöhne entsprechend der steigenden Arbeitsproduktivität ein unabdingbarer Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft ist. Lieber Kollege Weiß, ich würde Ihnen dringendst empfehlen, neben Ihrer üblichen Lektüre gelegentlich mal wieder Ludwig Erhard zur Hand zu nehmen. ({8}) Was den Antrag der Linkspartei anbelangt, kommt auch nicht so richtig Freude auf; denn mein Eindruck ist, dass der Antrag nicht wirklich ernst gemeint ist. Das hat jetzt nichts mit Ihrem Namen zu tun, Herr Kollege Ernst, sondern das hat mit der Art und Weise zu tun, wie Sie mit diesem Antrag umgehen. ({9}) Der Antrag wurde ja nicht ins normale parlamentarische Verfahren gebracht. Da hätte man darüber reden können, ob sich seit 1986 Dinge so geändert haben, dass möglicherweise die Bewertung der Vorgänge etwas anders ausfallen müsste, oder ob sie sich nicht geändert haben. Diesen Weg wählen Sie ja nicht. Sie wollen keine gründliche Beratung im Ausschuss. Sie verzichten auf eine Anhörung von Sachverständigen. Hier wird ein Schnellschuss abgefeuert, der den Eindruck nahelegt: Es handelt sich um ein taktisches Manöver. Es geht in erster Linie nicht um die Sache, sondern darum, irgendwo im Vorfeld des 1. Mai Punkte zu gewinnen. ({10}) - Ja, dieser Eindruck drängt sich auf. - Deshalb wird es Sie nicht verwundern, dass wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Für diese taktischen Vorgänge habe ich wenig Verständnis. In der Sache haben wir keinen Grund, unsere Position zu verändern. Es wäre hilfreich gewesen, wenn man das normale parlamentarische Verfahren angewandt hätte und wir in Ruhe hätten beraten können, um dann eine angemessene Bewertung der Vorgänge abgeben zu können. Wir werden uns deshalb der Stimme enthalten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Volksmund sagt: Alles neu macht der Mai. ({0}) Das mag im Großen und Ganzen gelten. Für die Anträge der Linken gilt es jedenfalls nicht. Sie bleiben bei ihrer Linie und bei ihrem alten Paradigma: Die Welt ist schlecht, die Unternehmen und die Arbeitgeber sind schlecht, und alles wird nur zulasten der Arbeitnehmer gemacht. ({1}) Aber dieses Paradigma ist von der Realität unendlich weit entfernt, Herr Kollege Ernst. Ich habe mich wie der Kollege Schreiner gefragt - es ist das Überraschende bei der heutigen Debatte, dass wir da durchaus zum gleichen Ergebnis gekommen sind -: Was soll dieser Antrag eigentlich? Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, die Zahlen zu den Streiks und Aussperrungen der letzten 60 Jahre heranzuziehen. Wenn Sie in die Statistik schauen, werden Sie feststellen, dass wir vor 1986 eine große Zahl aufgrund von Aussperrungen ausgefallener Arbeitstage hatten. Zur Zeit der Geltung des alten Rechts, das Sie wieder einführen wollen, gab es also viele aufgrund von Aussperrungen ausgefallene Arbeitstage. Seitdem wurde nur noch marginal von dem Mittel der Aussperrung Gebrauch gemacht. Deswegen ist auch die Frage des Kollegen Lindner berechtigt, wann überhaupt das letzte Mal ausgesperrt worden ist. ({2}) - Das ist die Statistik; Statistisches Taschenbuch des BMAS auf der Basis der Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Suchen Sie sich diese Statistik bitte heraus. Dann werden Sie feststellen: Das Phänomen Aussperrung ist in Deutschland real praktisch nicht existent. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Dr. Kolb, das ist doch jetzt wirklich nicht Ihr Ernst. Sie bemängeln, wenn ich es richtig verstehe, dass wir seit der Änderung des Streikrechts weniger Aussperrungstage haben. ({0}) - Okay; er stellt fest, dass wir weniger Aussperrungstage haben. - Wollen Sie tatsächlich behaupten, dass die Arbeitgeber doch bitte schön auch hätten aussperren können, obwohl gar nicht gestreikt wurde? Dann stellen Sie jetzt doch etwas auf den Kopf. Darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen. Sie äußern sich dahin gehend, dass Aussperrung als Angriffsaussperrung nicht mehr stattfindet. Das wäre aber nun wirklich das Letzte, was diese Republik vernünftigerweise vertragen könnte. Deshalb finde ich dieses Argument in der Debatte absolut abwegig. Sie müssten darauf hinweisen, dass insbesondere in der Metallindustrie - die IG Metall hat diese Änderung des Streikrechts ganz besonders getroffen, weniger Verdi oder andere Gewerkschaften, weil die Fernwirkung in der Metallindustrie logischerweise höher ist als in anderen Bereichen - Folgendes gilt: Man darf zwar noch streiken, tut es aber nicht, weil es für die Mitglieder problematisch wird. Ich will das mit einem Vergleich verdeutlichen: Wenn Sie den Menschen sagen, dass sie nach wie vor von einem Zehnmeterbrett ins Schwimmbecken springen dürfen, dann können sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Wenn Sie aber vorher das Wasser aus dem Schwimmbecken herausgelassen haben, empfiehlt es sich nicht, hinunterzuspringen. Genau diese Situation besteht im Zusammenhang mit dem Streikrecht in der Bundesrepublik Deutschland. ({1})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Ernst, da Sie umfassend gefragt haben, darf ich umfassend antworten. Wenn Sie sich die Zahlen noch einmal anschauen, werden Sie feststellen, dass die Veränderungen im Streikgeschehen nicht so gravierend sind. ({0}) - Das sind die gesamtwirtschaftlichen Zahlen. ({1}) Sie werden vielmehr feststellen, dass das Streikgeschehen im Verlauf der Jahre doch ziemlich gleich geblieben ist - wenngleich wir feststellen können, dass wir in den letzten Jahren doch relativ wenige Streiks in Deutschland hatten, was vielleicht auch mit der Wirtschafts- und Finanzkrise zu tun hat. Über lange Zeiträume gesehen ist meine Aussage aber richtig. Vor 1986 hatten wir viele Streiks und viele Aussperrungen. Nach 1986 hatten wir weiterhin viele Streiks, aber keine Aussperrungen. Ich versuche ja nur, Ihren Ansatz zu verstehen. Wenn das, was Sie offensichtlich umtreibt, richtig wäre, müsste man doch sagen: Nachdem 1986 das Recht geändert worden war - aus Ihrer Sicht zulasten der Gewerkschaften -, haben die Gewerkschaften irgendwann einmal versucht, zu streiken, und sind dann von flächenhafter Aussperrung der Arbeitgeber getroffen worden. Weil sie sich das nicht leisten konnten, sind sie zurückgeschreckt und haben es fortan nicht mehr probiert. Dies spiegelt sich aber nicht in den Statistiken wider. Mit der Ersetzung des § 116 AFG durch den jetzigen § 160 SGB III ist erreicht worden, dass die Spieße wieder gleich lang sind. Ich finde, dass wir eine ausgewogene Verteilung der Kampfkraft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in Deutschland vorfinden. Diese ausgewogene Verteilung hat zu entsprechenden Ergebnissen geführt. Ich möchte Ihnen noch ein Zweites sagen. Vorhin gab es einen Zwischenruf, dass wir so niedrige Löhne haben, weil die Gewerkschaften so selten streiken. Es müsste doch eigentlich umgekehrt sein: Wenn wir niedrige Löhne haben, dann müssten die Gewerkschaften doch oft streiken. Aber offensichtlich gibt es bei uns Gewerkschaften, die Gott sei Dank wissen, was gesamtwirtschaftlich geboten ist, und die sich in den letzten Jahren mit ihren Forderungen am Bereich des Möglichen orientiert haben. ({2}) - Herr Ernst, versprochen, ich schicke Ihnen die Zahlen ins Büro. Schauen Sie sich diese in Ruhe an. Wenn der 1. Mai vorbei ist und Sie in sich gehen, werden Sie feststellen, dass das, was ich gesagt habe, gar nicht so verkehrt ist. Ihre Ansätze kann man nur schwer nachvollziehen. Ich will darauf hinweisen, dass im alten wie im neuen Recht, also sowohl in § 116 AFG als auch in § 160 SGB III, der Kernsatz stand: Durch die Leistung von Arbeitslosengeld darf nicht in Arbeitskämpfe eingegriffen werden. Dazu gehört auch die Leistung von Kurzarbeitergeld. ({3}) Das ist ein wichtiger Punkt. Der Staat darf die Unternehmen nicht subventionieren, wenn sie zum Beispiel infolge wirtschaftlicher Probleme Umsatzeinbußen erleiden oder wenn sie bestreikt werden. Aber der Staat darf auch nicht mit Mitteln der Beitragszahler - das war damals die Diskussion - Unterstützung für streikende Arbeitnehmer leisten. Im Kern geht es um die Neutralitätspflicht des Staates in Auseinandersetzungen zwischen Tarifpartnern. Hier muss ich mich wiederholen: Im aktuell geltenden Recht ist es in vorbildlicher Weise gelungen, diese Neutralität zu gewährleisten. Praktisch geschieht dies auf der Basis von Richterrecht; auch das hat die Kollegin Krellmann kritisiert. Das ist einfach Ausfluss der Tatsache, dass wir im Bereich des Tarifvertragsrechts auf eine Normierung im Gesetz - unabhängig davon, wer in diesem Land regiert hat - weitgehend verzichtet haben. In Einzelfallentscheidungen zeigte sich, was geht und was nicht geht. Wir sind insgesamt auf einem guten Weg. Ich glaube, dass die Arbeitnehmer in Deutschland - in der Debatte ist der wichtige Aspekt Arbeitsplatzsicherheit genannt worden - gerade in dieser schwierigen Zeit, gerade auch im internationalen Vergleich sagen können: Wir haben eine stabile Wirtschaftsordnung und stabile Unternehmen in Deutschland. - Das kommt gerade den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugute. ({4}) - Bei guter Bezahlung. Danke für den Zwischenruf. Ich will gerne noch ausführen: Es gibt eine gute Bezahlung, weil wir gute Gewerkschaften haben. Einen anderen Aspekt will ich noch nennen: Gott sei Dank ist es so, dass entgegen vielen Unkenrufen die prekäre Beschäftigung in Deutschland nicht der Normalfall ist. Der Normalfall ist immer noch ein Vollzeitarbeitsverhältnis mit einer guten Absicherung und einer guten Entlohnung durch Tarifverträge. 60 Prozent der Arbeitnehmer sind direkt tarifgebunden, 20 Prozent sind durch Bezugnahme auf Tarifverträge tarifgebunden; das sind insgesamt 80 Prozent, also vier Fünftel der Arbeitnehmer. Das zeigt: Unser System ist gut. Den Handlungsbedarf, den Sie in Ihrem Antrag mühsam zu konstruieren versuchen, gibt es nicht. Die schon lange zurückliegende Änderung des § 116 AFG hat nicht annähernd die Folgen gezeigt, die Sie hier beschreiben. Aussperrungen sind aus anderen Gründen aus dem Rahmen des Arbeitskampfes herausgefallen. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber führen ihre Verhandlungen anders, aber immer zum Wohle unserer Volkswirtschaft. Ich hoffe, das bleibt auch so. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es waren die Streiks um die 35-Stunden-Woche, die zum Antistreikparagrafen geführt haben, und es war Norbert Blüm, der das gegen den erbitterten Widerstand der Gewerkschaften durchgedrückt hat. Der damalige schwarz-gelbe Angriff auf die Streikfähigkeit war heftig und hat insbesondere die IG Metall und die IG BCE getroffen. Aber das Vorhaben ist missglückt. Die Gewerkschaften haben sich auf die neue Situation eingestellt, und sie sind heute noch immer hervorragend organisiert. Dieser Leistung gebührt unsere Anerkennung und unser Respekt. ({0}) Heute aber kommt die Linke und zaubert diese Vergangenheit aus dem Hut. Ich bin wahrlich viel mit den Gewerkschaften im Gespräch. Ich kann jedoch keinen aktuellen Anlass ausmachen, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen, es sei denn, man möchte während der laufenden Tarifrunde und vor dem 1. Mai einen symbolischen Antrag stellen. ({1}) Das wird aber - das möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen - diesem ernsten Thema nicht gerecht. ({2}) Für uns Grüne ist die Tarifautonomie ein hohes Gut. Die Tarifautonomie funktioniert natürlich nur dann, wenn ein Gleichgewicht der Kampfmittel gegeben ist. In diesem Sinne ist die damalige Änderung natürlich unzureichend; denn mit der kalten Aussperrung - eben ohne Kurzarbeitergeld - wurde die Arbeitgeberseite zulasten der Gewerkschaften gestärkt. Herr Kolb, es stimmt einfach nicht, dass - so wie Sie es ausgedrückt haben - die Spieße gleich lang sind. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht den § 146 SGB III als „gerade noch verfassungsgemäß“ bezeichnet. Es hat zwar nicht die Rote, aber doch die Gelbe Karte gezogen. Heute fordert die Linke einfach nur die Wiedereinführung der alten Regelung. Wenn wir aber Chancengleichheit, Kampfparität und auch Neutralitätspflicht der Bundesagentur für Arbeit herstellen wollen, dann müssen wir angesichts unserer verflochtenen Wirtschaft die mittelbare Streikbetroffenheit sowie die kalte Aussperrung beurteilen und definieren. Es müssen also Kriterien entwickelt werden, die auch zeitgemäß sind. Eine solche Auseinandersetzung ist in der Tat nicht einfach. Sie müsste im parlamentarischen Verfahren ausführlich mit den Sozialpartnern, das heißt mit den Gewerkschaften und mit der Wirtschaft, geführt werden. Diese spannende Diskussion soll jedoch nach dem Willen der Linken nicht stattfinden, da wir heute sofort abstimmen werden. Ich sagte es schon einmal: Das wird diesem komplexen Thema nicht gerecht. ({3}) Der Antistreikparagraf und die veränderten Kräfteverhältnisse waren für die Gewerkschaften selbstverständlich eine große Herausforderung. Insbesondere die IG Metall musste ihre Streikstrategie verändern und zunehmend die immer stärkeren Verflechtungen, die langen Lieferketten und eventuelle Fernwirkungen beim Arbeitskampf beachten. Und doch haben gerade die IG Metall und die IG BCE stets gute Lohnabschlüsse erzielt, ({4}) aber, Herr Kolb, sie haben in den letzten zehn Jahren den verteilungsneutralen Spielraum oft nicht ausschöpfen können. Jetzt stellt sich die Frage: Liegt das ausschließlich am Antistreikparagrafen, oder gibt es auch andere Gründe? Die Antworten auf diese Fragen sind notwendig, wenn man die Gewerkschaften stärken will. Auch diese inhaltliche Diskussion können wir wegen der anstehenden Sofortabstimmung nicht führen. Wieder muss ich sagen: Eine ernsthafte Debatte sieht anders aus. Mein Fazit lautet: Für dieses Thema wäre ein normales parlamentarisches Verfahren mit Anhörung angemessen gewesen. Das Thema ist komplex und übrigens auch hochspannend, zumal der Antistreikparagraf damals gesellschaftlich extrem umstritten war und die Gemüter bewegt hat. Sie, die Linke, machen aus all dem leider nur ein Spektakel. Deshalb werden auch wir Grünen uns enthalten. Wir wollen bei diesem Spiel nämlich nicht mitmachen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Frau Krellmann, ich habe mit dem Weltbild der Linken immer wieder meine Schwierigkeiten. Sie haben in Ihrer Eingangsrede ausgeführt: Streikrecht ja, Aussperrungsrecht nein. Das heißt, bei Ihnen geht Arbeitskampf so: Der eine kämpft mit Waffen, der andere ist unbewaffnet. Wenn das ernsthaft Ihr Weltbild sein soll, liebe Frau Krellmann, dann zeigt das, wie weit Sie von einem fairen Arbeitskampf entfernt sind. ({0}) Frau Krellmann und Herr Birkwald, Sie können es nicht wissen, aber von Herrn Ernst hätte ich erwartet, dass er es weiß: Am 8. März 2006, also in der letzten Wahlperiode, hatte die Linke, ebenfalls im Vorfeld des 1. Mai, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch, Drucksache 16/856, eingebracht, wobei der Inhalt absolut gleich mit dem des heute diskutierten Antrags ist. ({1}) Und täglich grüßt das Murmeltier, sage ich da nur, Herr Ernst. Letztendlich kommt nichts dabei herum, wenn Sie spätestens alle sechs Jahre die alte Soße aufwärmen, nur um als Gewerkschafter ein Thema für eine Auseinandersetzung vor dem 1. Mai zu haben. Aus fachlicher Sicht, lieber Herr Ernst, besteht ebenfalls keine Notwendigkeit, die Regelungen zur Neutralitätspflicht der Bundesagentur im Arbeitskampf zu verändern. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1995 die geltende Regelung für verfassungsgemäß erklärt; Entscheidung vom 4. Juli 1995, Aktenzeichen 1 BvF 2/86; vielleicht möchten Sie das nachlesen. Das Gericht hat dabei gefordert, dass der Gesetzgeber Maßnahmen zur Wahrung der Tarifautonomie treffen muss, wenn sich zeigen sollte, dass in der Folge dieser Regelung strukturelle Ungleichheiten der Tarifvertragsparteien auftreten, die ein ausgewogenes Aushandeln der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht mehr zulassen und durch die Rechtsprechung nicht ausgeglichen werden können. Dafür gibt es keinerlei Hinweise. Die immer wiederkehrende Diskussion um den sogenannten Streikparagrafen - ich verweise auf Ihren heutigen Antrag - hat Züge einer ideologischen Debatte; nichts anderes ist das, was Sie heute hier aufführen. Die tatsächlichen Ergebnisse der Arbeitskämpfe seit 1986 hingegen zeigen, dass die Schlagkraft der Gewerkschaften von der gesetzlichen Regelung nicht beeinträchtigt wird. In der in erster Linie betroffenen Metall- und Elektroindustrie - Frau Krellmann, jetzt müssen Sie tapfer sein - beklagen regelmäßig die Arbeitgeber, dass die Tarifergebnisse tendenziell zu ihren Lasten gehen. Herr Schreiner, Sie sind der Auffassung, es sei zu wenig Lohn ausgehandelt worden. Auch in der Metallindustrie besteht durchaus die Tendenz, die in den letzten Jahren gemäßigte Lohnzurückhaltung zumindest zum größten Teil aufzugeben. Pünktlich zum 1. Mai - ich habe es bereits ausgeführt - präsentieren Sie uns einen Antrag, mit dem Sie von der Bundesregierung fordern, lieber Herr Ernst, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem § 146 SGB III den Wortlaut des früheren § 116 Arbeitsförderungsgesetz in der Fassung von 1969 erhält. Die 1986 von der unionsgeführten Bundesregierung beschlossene Änderung des § 116 AFG ordnet das Ruhen des Anspruchs auf Kurzarbeitergeld dann an, wenn streik- und aussperrungsbedingte Produktionsausfälle dazu beitragen, dass in einem nicht umkämpften Betrieb die Arbeit ebenfalls ruhen muss. Die Ansprüche der Versicherten ruhen also, wenn und soweit durch die Gewährung von Leistungen der Arbeitsförderung in den Arbeitskampf eingegriffen würde. Das ist unser Verständnis von Parität, von Ausgewogenheit, von Waffengleichheit im Arbeitskampf. Der Leistungsanspruch ist im Grundsatz ausgeschlossen, wenn die Arbeitnehmer erwarten dürfen, am Ergebnis des Arbeitskampfes zu partizipieren. All dies hätte Ihnen bei Durchsicht der gesetzlichen Bestimmungen durchaus auffallen können. Hierdurch sollen gerade das Gleichgewicht der in einem Arbeitskampf wirkenden Kräfte nicht gestört und die Chancengleichheit der Tarifvertragsparteien in dieser Auseinandersetzung gewahrt werden. Die Regelung des § 160 SGB III, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, ist kein weiteres Kampfmittel der Arbeitgeber zur Beschneidung der Streikmöglichkeiten der Gewerkschaften, wie Sie es gerne darstellen, sondern sie sichert vielmehr die Neutralität des Staates und der Bundesagentur für Arbeit bei Arbeitskämpfen und folgt somit dem Gebot aus Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz. Lieber Kollege Ottmar Schreiner, in diesem Fall teile ich Ihre Auffassung - sonst sind wir nicht immer einer Meinung -, dass der heute zur Abstimmung stehende Antrag, der inhaltlich gar nicht beraten werden soll, letztendlich nur dazu dient, ein Buhei um den 1. Mai zu machen. Lieber Klaus Ernst, es wird Sie nicht überraschen, dass wir diesen Antrag ablehnen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen guten Nachhauseweg. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9062 ({0}) mit dem Titel „Kampfkraft der Gewerkschaften stärken Anti-Streik-Paragraphen abschaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten - Drucksache 17/9389 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Jörg van Essen für die FDP-Fraktion das Wort. ({2})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute die erste Lesung eines Gesetzentwurfs zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten. Die Überschrift ist schon Programm: Es soll eine Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten sein. Wenn ich mir die drei Elemente des Gesetzentwurfs anschaue, habe ich das Gefühl, dass das Element der Vorbewährung in der juristischen Diskussion weitgehend unkritisch betrachtet wird. Wir haben da sehr unterschiedliche Handhabungen durch Jugendgerichte. Bei diesem Instrument, zu dem es bisher keine rechtliche Regelung im Jugendgerichtsgesetz gibt - es wird manchmal zur Abschreckung angewandt, manchmal anders -, ist es, wie wir wissen, wichtig, klare Leitlinien und Bestimmungen zu haben. Ich denke, dass das mit diesem Vorschlag erreicht wird: Es wird klargemacht, wo die Vorbewährung, von der die Jugendgerichte jetzt schon Gebrauch machen, angewandt werden kann und wo das nicht zulässig ist. Der zweite Punkt ist dann schon strittiger: die Frage der Anhebung der Höchststrafe bei Straftaten von Jugendlichen und Heranwachsenden. Eine Anhebung ist immer wieder gefordert worden, auch - das muss man sagen - von Gerichten. Insbesondere wenn bestialische Mordtaten begangen worden sind, haben die Gerichte gesagt, dass die bisherige Höchststrafe im Jugendrecht, nämlich eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren, der Schuld nicht angemessen ist. Ich glaube, dass wir mit dem, was wir hier vorschlagen, einen sehr vernünftigen Mittelweg gehen: ({0}) Wir heben die Freiheitsstrafe für die Jugendlichen nicht an; entsprechende Forderungen hat es auch gegeben. Das heißt, bei Jugendlichen bleibt es bei der bisherigen Höchststrafe von zehn Jahren. Dass das richtig ist, können Sie folgender Überlegung entnehmen: Unser jetzt geltendes Jugendrecht stammt aus den 20er-Jahren. Damals galt in Deutschland noch die Todesstrafe, und trotzdem hat sich der Gesetzgeber damals für eine Höchststrafe bei Jugendlichen von 10 Jahren ausgesprochen; er hat sie für angemessen gehalten. Wenn das schon unter den damaligen Umständen richtig und vernünftig war, dann gilt das heute sicherlich auch. Was die Heranwachsenden anbelangt, wenden die Gerichte, wie wir wissen, in vielen Fällen, in denen sie sich nicht sicher sind, wie ein junger Mensch einzustufen ist - bei Heranwachsenden kann man je nach der Entwicklung entweder Jugendrecht oder Erwachsenenrecht anwenden -, das Jugendrecht an. Ich halte auch das für richtig. Aber wenn das Jugendrecht angewendet wird, dann - darauf haben Kammern hingewiesen reicht der mögliche Strafausspruch von 10 Jahren Freiheitsentzug bei besonders schweren Taten oft nicht aus. Hier räumen wir jetzt die Möglichkeit ein, bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe zu verhängen. Das wird im Übrigen nach meiner Auffassung nicht dazu führen, dass wir jetzt ganz viele Urteilssprüche mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren haben werden, sondern es wird dazu führen, dass die Gerichte die bisherige Höchststrafe von 10 Jahren tatsächlich einmal verhängen. Bisher sehen wir, dass die Strafaussprüche in ganz vielen Fällen erheblich unter der aktuellen Höchstgrenze von 10 Jahren Freiheitsstrafe bleiben. Insofern sind wir hinter den Forderungen zurückgeblieben, die zum Teil in der Öffentlichkeit und auch von Länderseite erhoben worden sind. Ich glaube, dass das, wie gesagt, ein sehr vernünftiger Vorschlag ist. Was insbesondere in der interessierten Öffentlichkeit den meisten Widerspruch hervorgerufen hat, ist der Warnschussarrest. Das wundert mich wirklich sehr; denn wir verlassen nicht die pädagogische Ausrichtung des Jugendrechts. Es bleibt bei der bisherigen und, wie ich finde, bewährten pädagogischen Ausrichtung des Jugendrechts. Dass sie richtig, gut und vernünftig ist, sehen wir an folgendem Umstand: Ein ganz großer Teil der Jugendlichen, die vor Gericht stehen, stehen nur ein einziges Mal vor Gericht, danach nie wieder. Das zeigt: Was von den Jugendrichtern als Maßnahme ausgesprochen wird, verfehlt seine Wirkung offensichtlich nicht. Das spricht im Übrigen auch für unsere Jugend; das zeigt nämlich, dass sie lernfähig ist. Wenn jemand einmal einen Fehler gemacht hat, dann nimmt er es sich zu Herzen und begeht den Fehler nicht ein zweites Mal. Ein Problem sind die Intensivtäter; mit ihnen müssen wir uns befassen. Es hilft nicht, zu betonen, dass die Zahl der jugendlichen Straftäter zurückgegangen ist; denn es wäre auch ein Wunder, wenn es nicht so wäre. Wir haben nämlich immer weniger junge Menschen, und wenn wir weniger junge Menschen haben - wir wissen das -, dann geschehen natürlich auch weniger Straftaten. ({1}) Dieses Argument kann man also wirklich nicht anführen. Ich bin immer wieder überrascht, dass es Juraprofessoren gibt, die das an den Beginn ihrer Ausführungen zum Warnschussarrest stellen. Natürlich ist es so, dass wir weniger Jugendliche haben und damit - Gott sei Dank - weniger Straftaten. Aber die Zahl der Intensivstraftäter bleibt weiterhin hoch. Deshalb müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir mit ihnen umgehen. Ich bin in meiner Anfangszeit als Staatsanwalt in einer Gruppe gewesen, in der wir schwierige Entscheidungen mit den Jugendlichen selbst besprochen haben. Ich habe bei dieser Gelegenheit immer wieder den Vorwurf gehört, sie hätten es lieber gehabt, wenn man ihnen früher einen Warnschuss verpasst hätte; so wurde das zum Teil ausgedrückt. Das macht die Verantwortung deutlich, die wir haben. Unser Vorschlag zum Warnschussarrest beinhaltet nicht den Zwang, irgendetwas zu tun. Vielmehr ist es so: Zu der Klaviatur, auf der der Jugendrichter spielen kann, um eine pädagogisch angemessene Maßnahme zu ergreifen, fügen wir eine Taste hinzu. Nichts anderes tun wir. Ich sehe, dass meine Redezeit abgelaufen ist, daher komme ich zu meiner letzten Bemerkung. Auch die Länder tragen Verantwortung. Das ganze Vorhaben macht nur Sinn, wenn der Arrest pädagogisch vernünftig vollzogen werden kann und wenn es nicht zu lange dauert, bis jemand den Arrest antreten kann. In diesem Bereich gibt es erhebliche Fehlentwicklungen. Ich hoffe, dass die Jugendrichter von dieser zusätzlichen Taste nur dann Gebrauch machen, wenn die Länder die Voraussetzungen für den Arrest erheblich verbessern. Die tatsächlichen Voraussetzungen können nur von den Ländern geschaffen werden - sie haben den Warnschussarrest immer wieder gefordert -, wir können nur die rechtlichen Voraussetzungen schaffen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion. ({0})

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Jugendkriminalität lässt sich nicht mit dem Warnschuss bekämpfen.“ ({0}) Ein kluger Satz, aber er stammt leider nicht von mir, sondern von unserer derzeitigen Bundesjustizministerin. Gesagt hat sie ihn im Jahr 2008. Damals war sie noch nicht Bundesjustizministerin, sie saß noch in der Opposition und wusste anscheinend noch, was in der Rechtspolitik richtig und falsch ist. Noch ein paar Sätze gefällig? Am 24. September 2009, also drei Tage vor der letzten Bundestagswahl, wurde die damalige Oppositionsabgeordnete Frau Leutheusser-Schnarrenberger von einem Bürger über abgeordnetenwatch.de gefragt, was sie von einer Heraufsetzung der Höchststrafe für Jugendliche und Heranwachsende hält. ({1}) Die Antwort: Die FDP lehnt eine Verschärfung des Strafmaßes entschieden ab. Ein Strafrahmen im Gesetzbuch hat keine abschreckende Wirkung. ({2}) Einige Tage zuvor, nämlich am 16. September, führte Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Deutschlandfunk zur gleichen Thematik aus - ich darf noch einmal zitieren -: Wir halten auch nicht wirklich viel davon, … jetzt wieder über eine schon lange im Raum stehende Verschärfung von Strafrahmen nachzudenken, denn das ist nicht das eigentliche Problem. Es können heute schon hohe Strafen verhängt werden und die schrecken dumme Menschen nicht ab. Was wir heute debattieren, ist ein dummer Gesetzentwurf. Es bleibt der fade Beigeschmack, dass die Bundesjustizministerin und die FDP wieder einmal eingeknickt sind, sonst könnten wir uns nämlich die heutige Debatte ersparen. ({3}) Diese Debatte und insbesondere der vorliegende Gesetzentwurf sind vollkommen unnötig; denn sie weisen in die falsche Richtung. Die Heraufsetzung der Höchststrafe von 10 auf 15 Jahre ist reine Augenwischerei. Sie zielt in der Praxis nur auf Tötungsdelikte ab. Die sind aber in den vergangenen Jahren um 30 Prozent zurückgegangen. ({4}) Im Übrigen werden jedes Jahr nur 90 Jugendliche und Heranwachsende zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die zwischen 5 und 10 Jahren liegt. 0,09 Prozent der Jugendlichen und Heranwachsenden werden also verurteilt. Nur eine Handvoll hiervon - nämlich circa 6 bis 7 pro Jahr erhalten die Höchststrafe von 10 Jahren. Darauf zielt aber Ihr Gesetzentwurf. Sie machen in diesem Fall ein Gesetz für sechs bis sieben Heranwachsende. Das ist doch keine effektive Bekämpfung der Jugendkriminalität, sondern nur der blanke Aktionismus. ({5}) Auch der Warnschussarrest, Herr van Essen, ist nun wirklich nichts Neues. Die Idee gibt es schon seit über zehn Jahren. Übrigens wurde diese Idee in der Fachwelt schon damals einhellig abgelehnt: vom Richterbund, von den Jugendrichtern, von der Polizeigewerkschaft, von den Strafverteidigern, von den Bewährungshelfern und eben auch von Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Die gehört heute aber nicht mehr zu den Kritikern, was diesen Gesetzentwurf aber nicht wirklich besser macht. All die Argumente, die seit Jahren gegen den Warnschussarrest angeführt werden, gelten unvermindert fort. Der Jugendarrest, den wir schon heute haben und der bis zu vier Wochen dauern kann, ist das wohl wirkungsloseste Instrument, das wir überhaupt im Jugendstrafrecht kennen. ({6}) Fast 70 Prozent der Jugendlichen - damit muss man sich einmal beschäftigen, Herr van Essen - werden nämlich nach der Verbüßung eines Arrests wieder straffällig. Denn hier gilt eine alte Binsenweisheit: Wer Jugendliche für ein paar Wochen mit Kriminellen zusammensperrt, produziert keine rechtschaffenen Bürger, sondern fördert nur kriminelle Karrieren. ({7}) Viele Jugendliche kommen da doch erst so richtig mit einem Milieu in Kontakt, das ihre Läuterung überhaupt nicht fördert. Sehen Sie sich die Zahlen an: Viele Jugendliche werden im Knast nicht abgeschreckt, sondern erst richtig angesteckt. Dass man hier nach außen hin auf Härte setzt, mag auf den ersten Blick populär erscheinen; aber Herr van Essen, Sie müssten es eigentlich wissen: Beim Jugendstrafrecht geht es nicht um Milde oder Härte, sondern um Wirksamkeit. Und da hat der Warnschussarrest überhaupt nichts zu bieten. Das, was Sie hier wollen, ist kein Warnschuss, sondern ein Rohrkrepierer. So bekämpft man kriminelle Karrieren nicht. ({8}) Stattdessen ist es wichtig, dass wir das Risiko des Erwischtwerdens hochhalten. Wichtig ist, dass die Strafe der Tat auf dem Fuße folgt. Was nutzt es eigentlich, wenn jemand ein Jahr nach seiner Tat in irgendeinen Warnschussarrest einrückt? Wir müssen durch ganz klare und konsequente Interventionsmaßnahmen an das verfestigte Problemverhalten einiger krimineller Jugendlicher heran. Das ist vielleicht weniger cool und auch anstrengender als ein paar Tage Stubenarrest, aber es lohnt sich. Über solche Modelle sollten Sie nachdenken; aber Sie zeigen in der Rechtspolitik nicht klare Kante, sondern nur dicke Lippe.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auf unsere Unterstützung werden Sie dabei verzichten müssen. Danke. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, bleiben Sie noch einen Moment stehen. Sie können Ihre Redezeit verlängern, wenn Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder erlauben - eine Nachfrage in diesem Fall.

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, das mache ich.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Also, bitte schön.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, können Sie mir bitte erklären, wie ein Warnschussarrest eine kriminelle Karriere fördern kann? Sitzen in der Arrestanstalt die Schwerkriminellen oder die, die auch einen Warnschussarrest verbüßen?

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, aber da sitzen Jugendliche, die meist schon einiges an Kriminalitätserfahrung haben. ({0}) Es ist so, dass jemand, der zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wird, schon einiges hinter sich hat. Der hatte übrigens auch schon seinen Warnschuss; er hat ihn nur überhört. Deshalb frage ich mich, was da ein zweiter Warnschuss soll, Herr Kauder. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Lischka, die Bundesjustizministerin mag es möglicherweise bedauern, dass die FDP nicht nur aus ihr besteht, sondern eben auch aus vielen anderen Kolleginnen und Kollegen ({0}) und dass bei uns in der Regierungskoalition die Welt bunter ist als in der SPD. Jedenfalls haben wir innerhalb der Koalition in den letzten Wochen sehr fruchtbare Diskussionen geführt. Insbesondere haben wir uns darüber auf Berichterstatterebene mehrfach mit dem Herrn Kollegen van Essen, der gerade gesprochen hat, unterhalten. Ich kann nur sagen: Über das Ziel waren wir uns recht einig. ({1}) Ich finde, es ist ein sehr einfacher Weg, hier einzelne Personen herauszugreifen. ({2}) Ich glaube, auch die SPD besteht aus mehr Personen und nicht nur aus Ihnen. Aber vielleicht sehen Sie ja auch das anders. Interessant ist, dass Sie die Wirkung eines Instruments, das es noch gar nicht gibt, schon kennen. ({3}) Sie haben sehr deutlich gesagt, was das Ergebnis der Einführung des Warnschussarrests sein wird. Ich bin da interessierter und offener. Wenn wir das Instrument haben, werden wir es irgendwann bewerten können und sicherlich auch bewerten müssen. Die dafür notwendige Zeit sollten wir uns aber nehmen. Es wirkt geradezu wie ein unglaublicher Zufall, dass vor einigen Tagen im Fernsehen des Westdeutschen Rundfunks eine Talkshow zum Thema „Berufe und Berufung“ ausgestrahlt wurde. Darin kam ein pensionierter Polizeibeamter zu Wort, der zu seiner Berufung zum Polizeibeamten sinngemäß erklärte, er sei zur Polizei gekommen, weil er selbst als Jugendlicher einmal im Arrest gesessen habe. Die Geschichte, die er dazu erzählte, war diese: Er sei wegen einer Rauferei unter Jugendlichen vom Gericht verurteilt worden. ({4}) - Herr Kollege Montag, es ist ja schön, dass Sie versuchen wollen, mich zu verstehen. Hören Sie aber am besten zu. Dann mag das auch gelingen. ({5}) Er sagte, er sei wegen einer Rauferei unter Jugendlichen vom Gericht verurteilt worden, eine Geldstrafe zu zahlen. Damit sei seine Mutter nicht einverstanden gewesen. Sie habe beim Richter vorgesprochen und ihn gefragt, ob das nicht in einem Arrest münden könne. Dieser habe der Bitte entsprochen, und nach ein paar Tagen habe er sich gesagt: Da will ich nie mehr hin. - Statt einer Karriere als Krimineller wurde er also Kriminaler. ({6}) Das ist eine beinahe unglaubliche Geschichte, die einen schmunzeln lässt, selbst den Kollegen Montag. Vor mehr als 50 Jahren war es offensichtlich einfacher möglich, mit mütterlichen Bitten vor Gericht durchzudringen. ({7}) Nun hat sich das Jugendstrafrecht in den letzten Jahrzehnten richtigerweise weiterentwickelt. Es ist gut, dass der Erziehungsgedanke ganz deutlich im Vordergrund steht. - Warum sind Sie jetzt so still, Herr Montag? ({8}) Es ist gut, dass mit Freiheitsentziehung im Jugendstrafrecht eher restriktiv umgegangen wird. Aber wir müssen auch sehen, dass wir es mit unterschiedlichsten Täterpersönlichkeiten zu tun haben und sich die Persönlichkeitsstrukturen der jugendlichen Täter mit der Zeit ebenfalls gewandelt haben. Zunehmende Aggressivität und Brutalität sind ein Ausdruck davon, und das ist kein quantitatives Merkmal. Wir wollen deshalb die bestehenden jugendstrafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten ergänzen. Damit reagieren wir auf eine Entwicklung, die sich bei immer mehr jugendlichen Tätern beobachten lässt. Eine Bewährung wird oftmals als Freispruch zweiter Klasse empfunden. Spürbare Konsequenzen sind mit einer Verurteilung nicht verbunden. Ja, mancher Täter sieht sich sogar bestätigt und erlangt Anerkennung bei seinen Freunden, die vor dem Gerichtssaal warten. Damit sendet der Rechtsstaat aber völlig falsche Signale an die Jugendlichen und ihr Umfeld. Es kann nicht sein, dass kriminelle oder gar gewalttätige Jugendliche mit ihren Straftaten auch noch prahlen können. Dem wollen wir durch die ergänzende Möglichkeit des sogenannten Warnschussarrests begegnen. Wir geben damit den Jugendgerichten eine weitere Sanktionsmöglichkeit bei kriminellen Jugendlichen an die Hand. Damit schaffen wir eine weitere erzieherisch wirkende Maßnahme im Jugendstrafrecht. Ich bin mir sicher, dass die Jugendgerichte mit dieser neuen Möglichkeit sehr verantwortungsvoll und zielgenau umgehen werden. In der Regel kennt der Jugendrichter seine - ich sage es einmal salopp - Pappenheimer und deren Umfeld sehr genau. Sie können gut einschätzen, ob vorherige Verwarnungen einen jungen Menschen nicht erreicht haben. Bevor ein jugendlicher Straftäter für mehrere Monate in die Haft geht - auch das sieht das Jugendstrafrecht vor -, sind maximal vier Wochen Arrest sicherlich ein effektives Mittel, um dem jungen Menschen die Konsequenzen seines Handelns vor Augen zu führen. Die Geschichte des Polizisten ist dafür ein Beispiel. Klar ist, dass dieses Mittel allerdings nur Sinn macht, wenn der Warnschuss tatsächlich rasch zum Tragen kommt. Nur dann kann das Instrument seine Wirkung entfalten. Deshalb ist im Gesetzentwurf eine klare zeitliche Begrenzung vorgesehen, in welcher Zeit der Warnschussarrest angetreten sein muss. Klar ist auch, dass sich die Jugendstrafvollzugseinrichtungen auf den Warnschussarrest erst noch einstellen müssen. Das wird eine ganze Reihe von Veränderungen mit sich bringen; das steht außer Frage. Aufgrund der Länderzuständigkeit sind die Bundesländer für den Vollzug zuständig; auch sie müssen sich sicherlich noch darauf einrichten. Aber ich bin sicher, dass dies den Landesjustizbehörden gelingen wird und sie einen guten und sinnvollen Weg finden werden, den Warnschussarrest praktisch und erfolgreich mit Leben zu füllen. Natürlich wird es uns mit dem Instrument des Warnschussarrests nicht gelingen, alle jugendlichen Straftäter passgenau zu erreichen. Aber mit jedem Einzelnen, den wir vor einer weiteren kriminellen Karriere bewahren und dem wir eine Perspektive für die Zukunft geben, gehen wir einen Schritt in die richtige Richtung. Das lohnt sich; das wollen wir mit diesem Gesetzentwurf erreichen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mal wieder so weit: Die Debatte über die Verschärfung des Jugendstrafrechts ist nicht neu, zuletzt haben wir hier 2008 darüber debattiert. Geändert hat sich an den Grundlagen allerdings nichts. Zum sogenannten Warnschussarrest - leider hat mir Herr Lischka schon all die entsprechenden Zitate von Frau Leutheusser-Schnarrenberger geklaut -: ({0}) Selbst in der Problemschilderung zum vorliegenden Gesetzentwurf wird beschrieben - ich zitiere einmal -: „… wird seit längerem immer wieder die … Möglichkeit zur Verhängung eines Jugendarrests … gefordert.“ Ja, es wird immer wieder gefordert, aber dort steht nicht, wer das fordert. Die am Jugendstrafverfahren Beteiligten, also Verteidiger, Rechtspfleger, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshelfer, Jugendstaatsanwälte und -richter, fordern das jedenfalls nicht. ({1}) Die Lösung des Problems besteht auch nicht in höheren Strafen oder im Warnschussarrest. Darüber besteht doch unter allen Fachleuten Einigkeit. Zum Warnschussarrest in Verbindung mit der Jugendstrafe - ich habe es schon einmal gesagt -: Es gibt Erziehungsmaßnahmen und Zuchtmittel, zum Beispiel Rasenmähen, Einkaufshilfe, gemeinnützige Arbeit, Geldauflagen, das Verbot des Zutritts zu bestimmten Gaststätten oder des Kontakts zu bestimmten Personen. Das Spektrum ist groß. All diese Maßnahmen sind kombinierbar, auch mit Zuchtmitteln, auch mit dem Arrest. Wenn das alles nicht mehr wirkt, wenn das alles nicht mehr ausreicht, um auf den Jugendlichen einzuwirken, dann kommt die Jugendstrafe. Jetzt soll also die Jugendstrafe mit einer Maßnahme kombiniert werden, die eigentlich nicht mehr ausreicht. ({2}) Das kann kein Mensch nachvollziehen. Jedenfalls ist es nicht logisch, juristisch auch nicht; dies ist ja meist identisch. Im Übrigen sind Arrest und Jugendstrafen nach wie vor die Maßnahmen, bei denen es die höchsten Rückfallquoten gibt. Diese liegen bei 60 bis 70 Prozent. ({3}) - Genau, Herr van Essen. Jetzt sollen aber zwei Maßnahmen, die schlecht sind, kombiniert werden, damit etwas Besseres dabei herauskommt. Großartig! ({4}) Ich dachte, Sie waren Oberstaatsanwalt. ({5}) - Das wollen wir nicht vertiefen. - Die Idee, zwei schlechte Maßnahmen zu kombinieren, damit etwas Gutes dabei herauskommt, kann - ich versuche, höflich zu bleiben - nur einem schlichten Gemüt entspringen. ({6}) Für erfolgreiche Maßnahmen wie Täter-Opfer-Ausgleich, Trainingskurse und Antiaggressionskurse fehlen die Mittel und das Personal. Auch das ist schon angesprochen worden: Es bringt doch nichts, wenn man einen Arrest verhängt, und diese Strafe erst nach einem Jahr angetreten wird. Es muss in Personal investiert werden. Mittel müssen investiert werden, damit Maßnahmen überhaupt umgesetzt werden können. Man muss hier präventiv tätig werden und nicht mit Strafen drohen. ({7}) Die Anhebung der Jugendstrafe von 10 auf 15 Jahre ist auch nicht sinnstiftend. Aber na gut, wann kommt hier schon einmal etwas Sinnstiftendes? Die Verhängung der Höchststrafe von 10 Jahren ist bei weniger als 0,1 Prozent der zu Jugendstrafe Verurteilten erfolgt. Dazu hat Frau Leutheusser-Schnarrenberger im Spiegel 2008 gesagt - dies wurde noch nicht zitiert -: Das bedingt überhaupt keinen Änderungsbedarf. - Da hat sie recht; diese Äußerung gilt nach wie vor. ({8}) Insoweit freue ich mich - wie auch schon zuvor - auf die Beratungen im Rechtsausschuss. Dort sitzen vernünftige Kollegen. Ich bin gespannt, wann dieser Gesetzentwurf auf den berühmt-berüchtigten guten Weg der Regierung gebracht wird, auf dem er dann im Nirwana verschwindet, wie schon so viele Male zuvor. Und mit was? Mit Recht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über den Entwurf eines Gesetzes zur Verschlechterung des Jugendstrafrechts. ({0}) Ich kann nur wiederholen, was die Kollegen vor mir schon gesagt haben: Praktisch alle namhaften Kriminologen in Deutschland lehnen den Warnschussarrest ab. Praktisch alle Jugendstrafrechtler lehnen ihn ab, von Professor Ostendorf über Professor Kreuzer bis hin zu Professor Pfeiffer. Praktisch alle Bewährungshelfer lehnen ihn ab. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Der Deutsche Richterbund, die größte Organisation der Richter und Staatsanwälte, lehnt Ihre Vorschläge ab. Der Deutsche Anwaltverein lehnt sie ab. Die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen lehnt sie ab. ({1}) Die Gewerkschaft der Polizei lehnt sie ab. Lieber Kollege Geis, auch die Katholische Bundes-Arbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe, Ihre Herz-Jesu-Sozialisten, lehnt sie ab. ({2}) Ich sage Ihnen in vollem Ernst: Unter denen, die sich mit den Problemen ernsthaft beschäftigen, gibt es niemanden, der für Ihren Gesetzentwurf streitet. ({3}) Mein größter Vorwurf im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf richtet sich an das Bundesjustizministerium. Seit 10, 15 Jahren führen wir eine Debatte über diese Vorschläge, und es findet eine angeregte und umfangreiche wissenschaftliche Diskussion darüber statt. Aber nichts davon wird in dem Gesetzentwurf referiert. Nichts, absolut nichts, nicht eine einzige Fundstelle! ({4}) Dafür gibt es gute Gründe: Sie wollen die Kritik nicht hören. ({5}) Neben einigen wenigen Fundstellen - eine gewisse Frau Werwigk-Hertneck und eine Frau Müller-Piepenkötter, die sich bisher nicht als Wissenschaftlerinnen, sondern als Exlandesjustizministerinnen hervorgetan haben gibt es nur eine Fundstelle von Belang: Herrn Professor Verrel. Seine Stellungnahme habe ich mir genau durchgelesen. Sie ist für Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, verheerend. Sie interpretieren sie zwar zu Ihren Gunsten. Aber als Erstes schreibt Verrel: Die Anhebung der Jugendstrafe auf 15 Jahre bei Mord für Heranwachsende ist ein riesiger Fehler. - Er lehnt das vollständig ab. Das ist im Übrigen auch denklogisch falsch. Wenn Sie Heranwachsende wie Jugendliche behandeln - Stichwort „Reifeverzögerungen“ - und einem 18-jährigen Mörder 15 Jahre geben können wollen, warum dann nicht auch einem 17-jährigen Mörder, der ja auch ein Jugendlicher ist? ({6}) Das ist absolut unlogisch, was Sie da sagen. Auch Verrel lehnt das ab. Was schreibt Verrel zum Warnschussarrest? Ein präventiver Effekt des Arrests ist nicht nachweisbar, obwohl sich die Wissenschaft seit Jahrzehnten um eine Evaluation bemüht. Die Rückfallzahlen sprechen eher dagegen. Der Warnschussarrest ist keine rasche Reaktion. Ein Gericht braucht zur Absetzung eines Urteils mindestens einen Monat, wenn keine Rechtsmittel eingelegt werden, also im besten Fall. Meine Fraktion hat gestern ein Fachgespräch zu diesem Problem durchgeführt. Wir haben Praktiker, Staatsanwälte und Richter, die auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts tätig sind, eingeladen und sie gebeten, uns zu informieren. Sie haben uns gesagt: Egal ob in Süd- oder Norddeutschland, man braucht mindestens drei, vier Monate, bis man überhaupt einen Platz in einer Arrestanstalt bekommt. - Bremen hat seit neuestem überhaupt keine Arrestanstalten mehr. ({7}) Aber Sie schicken einen Gesetzentwurf in den Gesetzgebungsprozess, in dem Sie sagen: Wenn der Arrest nicht spätestens drei Monate nach der Verurteilung angetreten wird, ({8}) dann kann er nicht mehr angetreten werden. - Das, was Sie uns hier vorgelegt haben, ist der organisierte Unsinn. ({9}) Verell, Ihr Kronzeuge, sagt unterm Strich: Die Zielgruppe, die überhaupt infrage kommt, ist so klein und die Gefahr der Ausdehnung der Maßnahme über diese Zielgruppe hinaus so groß, dass er davon abrät, den Warnschussarrest einzuführen. Er plädiert dafür, die anderen Möglichkeiten des Jugendgerichtsgesetzes zu fördern.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deswegen werde ich jetzt meinen letzten Satz zitieren. Es ist ein Zitat der Gewerkschaft der Polizei. Die Gewerkschaft der Polizei hat zu diesem Gesetzentwurf gesagt: Der Warnschussarrest für jugendliche Straftäter ist nicht mehr als ein bisschen politische Spachtelmasse. Damit kann der … zunehmend breiter werdende Riss zwischen Union und FDP jedenfalls nicht repariert werden. Hier hat die Gewerkschaft der Polizei recht. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Wort hat Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich beschränke mich auf die beiden Themen, die hier sehr strittig sind, nämlich auf die Vorrats - ({0}) - Nein, nein, das war eine Freud’sche Fehlleistung. - Es geht um den Warnschussarrest und die Erhöhung des Höchstmaßes der Jugendstrafe. Die Diskussion über diese Dinge existiert schon sehr lange. Wir haben diese Diskussion schon in der ersten Hälfte der 90er-Jahre geführt. Wir, die Unionsfraktion, haben dies schon damals gefordert. Als wir damals das Verbrechensbekämpfungsgesetz verabschiedet haben, haben wir auch darüber verhandelt. Das durchzusetzen, war aber nicht möglich. Wir haben diese Forderung dann weiterhin erhoben. Die Länder, die ja die Praxis zu verantworten haben, haben uns entsprechende Vorschläge gemacht und entsprechende Gesetzesanträge gestellt, die alle bislang nicht zum Erfolg geführt haben. Nun haben wir diesen Erfolg. Wir sind uns einig, und wir wollen den Warnschussarrest und die Erhöhung der Jugendstrafe einführen. ({1}) - Sie natürlich nicht, aber die Koalition ist sich einig. Darauf hat Herr Lischka ja angespielt. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, dass der Warnschussarrest eine wichtige Erweiterung des Instrumentariums ist, das einem Richter zur Verfügung stehen sollte. Reden Sie mit Jugendrichtern! ({3}) Noch heute Morgen habe ich mit einem Jugendrichter telefoniert und die Sache mit ihm besprochen. Es war ein junger Jugendrichter. Er sagte: Ich brauche die Möglichkeit einer solchen Reaktion auf jugendliche Straftäter. ({4}) Warum? Es ist doch eigentlich ganz greifbar, warum. Das ist unsere Überlegung: Erstens. Wenn Sie einen Jugendlichen verteidigen, der zu einer Jugendstrafe, aber nicht zu einem Arrest verurteilt wird, dann können Sie als Verteidiger erleben - Sie sind, so wie ich, noch im Geschäft; wir gehen auch noch vor Gericht -, dass er hinausgeht und sagt: Das ist ein Freispruch zweiter Klasse. Sein Verteidiger freut sich darüber, und seine Eltern und seine Freundin, die dabei sind, freuen sich natürlich auch darüber. Der Mann kommt nicht hinter Schloss und Riegel. Einen solchen „Freispruch“ zweiter Klasse steuern die Jugendlichen an, und sie lachen dann.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte, wenn es schnell geht. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege. Ich gebe mir Mühe. Sie sprachen gerade im Zusammenhang mit der Jugendstrafe von der Notwendigkeit eines solchen Arrests. Stimmen Sie mir zu, dass die Vollstreckung der Jugendstrafe nur unter der Voraussetzung zur Bewährung ausgesetzt wird, dass der Richter bzw. das Gericht davon überzeugt ist, dass dem Jugendlichen die Verurteilung als solche schon zur Warnung ausreicht ({0}) und er künftig auch ohne den Vollzug oder die Vollstreckung der Strafe einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist die Voraussetzung zur Aussetzung der Vollstreckung der Jugendstrafe. Jetzt sagt man aber: Ich gehe zwar davon aus, dass er keinen Vollzug braucht, aber ein bisschen Vollzug ist vielleicht doch nötig. - Ist das nicht in sich widersprüchlich?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wird da § 16 a JGG bzw. der ergänzende Absatz nicht nur eingeführt, um das ein bisschen zu kaschieren?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich kann Ihnen diese Frage beantworten. Die Jugendstrafe ist eine ganz andere Maßnahme als der Jugendarrest. ({0}) Das wissen Sie und ich. Deswegen können Sie nicht beides in den gleichen Topf werfen. ({1}) Das ist der Unterschied. Das ist meine Antwort. Zweitens. Ein weiterer Grund für den Jugendarrest ist folgender: Wenn zum Beispiel ein Täter wegen schädlicher Neigungen zu einer Jugendstrafe verurteilt wird - aber auf Bewährung -, dann geht er als freier Mann aus dem Gerichtssaal. Gegenüber einem anderen wird ein Zuchtmittel ausgesprochen, weil keine schädlichen Neigungen festgestellt werden, weil er sich also im Sinne des Strafrechts nicht so schwer schuldig gemacht hat. Der bekommt Jugendarrest und damit Freiheitsentzug. Der andere aber geht letztlich ohne Strafe aus dem Gerichtssaal. Diesen Widerspruch verstehen die Jugendlichen nicht. ({2}) Drittens. Ich möchte noch Folgendes anführen: Es ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn ein solcher Jugendlicher auch einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, aus seiner gewohnten Umgebung genommen wird, Herr Wunderlich. ({3}) - Nein, ({4}) ich bin wieder bei meiner eigentlichen Rede. - Oft ist es so: Ein Jugendlicher kommt vor Gericht, weil er in seiner Umgebung mit anderen Jugendlichen zusammen ist, die das Gesetzbuch und das Strafrecht nicht so ernst nehmen und deswegen straffällig werden. Es ist nicht schlecht, wenn ein Jugendlicher einmal aus einer solchen Umgebung für kurze Zeit von seinen Kameraden abgesondert wird und vielleicht mithilfe seines Bewährungshelfers dazu kommt, darüber nachzudenken, wohin dies weiter führen würde. Deswegen, so meinen wir, ist der Warnschussarrest die richtige Maßnahme. Ein anderer Punkt ist die Erhöhung des Höchstmaßes der Jugendstrafe; Herr van Essen hat darauf schon hingewiesen. Wir unterscheiden hier zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden. Für die Heranwachsenden sehen wir die Erhöhung des Höchstmaßes vor. Das geltende Höchstmaß für Jugendliche sind eigentlich 5 Jahre, wenn es sich nicht um Verbrechen handelt. Wenn es sich um Verbrechen handelt, sind es 10 Jahre. Für Heranwachsende gibt es dieses Höchstmaß von 5 Jahren nicht, sondern da ist von vornherein ein Höchstmaß von 10 Jahren angesetzt. Hier gibt es keine Unterscheidung. Nun wollen wir Folgendes: Wir wollen das Höchstmaß der Strafbarkeit von 10 auf 15 Jahre anheben. Das ist eine alte Forderung - so darf ich sagen - meiner Fraktion und auch einiger Bundesländer bzw. des Bundesrates. Nun sind wir uns in dieser Frage einig geworden, hier den entscheidenden Schritt zu tun. Warum? Weil ich glaube, dass der Richter die Möglichkeit haben muss, entsprechend zu reagieren, wenn es sich um eine Straftat wie Mord handelt. Genau das nehmen wir in den Fokus. Es geht hier nicht um andere Straftaten, obwohl man darüber streiten kann, ob man das nicht auch hier tun sollte. Andere Straftaten, die beim Erwachsenenstrafrecht ebenfalls mit „lebenslänglich“ bestraft werden können, nehmen wir heraus. Wir nehmen nur die schwerste Straftat, die jemand begehen kann, nämlich einen anderen Menschen zu ermorden. Ihm sagen wir: Du musst unter Umständen, wenn du Heranwachsender bist, mit einer Strafe von 15 Jahren rechnen. Ich nenne ein Beispiel: In einer Jugendbande ist der Haupttäter ein Heranwachsender, der Mitläufer, der sich genauso strafbar gemacht hat, ist über 21 Jahre alt. Letzterer bekommt wegen eines Mordes „lebenslänglich“, der andere 10 Jahre. Ich meine, das ist nicht gerecht. Hier muss ein Gleichklang hergestellt werden. Das ist unser Anliegen. Deshalb glaube ich, dass wir mit unserem Gesetzentwurf richtigliegen. Ich bitte um Ihre Zustimmung. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich kann meinen geschätzten Kollegen Vorrednern Lischka, Montag und vor allen Dingen Wunderlich nur recht geben: Der Warnschussarrest als Zugabe, Herr van Essen, zur Bewährungsstrafe für Jugendliche ist aus meiner Sicht wirklich der falsche Weg. Man hat so ein bisschen den Verdacht, dass das Symbolpolitik ist, dass man hier symbolisch etwas aussagen will. Wenn man jugendlichen Straftätern oder Intensivtätern einen Warnschuss geben will, dann muss man - das sagen nach meinen Erkenntnissen alle Praktiker - Folgendes machen: eine schnelle Verurteilung. Das ist das eigentliche Problem. ({0}) Herr Wunderlich ist - das wurde eben angesprochen 12 Jahre Jugendrichter gewesen und hat langjährige Erfahrung. Er hat gerade das Instrumentarium, das einem Jugendrichter zur Verfügung steht, anhand von Beispielen dargestellt. Das Jugendstrafrecht ist nämlich sehr breit angelegt. In meinen Gesprächen mit Jugendstaatsanwaltschaften wurde mir gesagt: Es gilt das alte Sprichwort: „Die Strafe muss auf dem Fuße folgen“. Wenn man den WarnDr. Edgar Franke schussarrest einführen würde, würde auch dieser - da müssen Sie mir recht geben, Herr van Essen - erst nach dem Urteil erfolgen. ({1}) Das heißt, der Warnschuss käme erst dann, wenn das Urteil ergangen ist. Insofern würde der Warnschuss wegen dieses zeitlichen Ablaufs aus meiner Sicht nichts bringen. Praktiker sehen ein großes Problem darin, dass die Justiz lange braucht, um Urteile zu fällen und dass die Arrestzellen voll sind, sodass die betroffenen Jugendlichen gar nicht einziehen können und man keine Möglichkeiten hat, Strafen zu vollziehen. Das ist ein rein praktisches Problem. Aus meiner Sicht muss man vor allen Dingen bei diesem Punkt ansetzen. Ein weiterer Punkt ist die Heraufsetzung der Höchststrafe für Heranwachsende von 10 auf 15 Jahre. Herr Geis hat dazu Ausführungen gemacht. Ich glaube, die Heraufsetzung der Höchststrafe würde nichts bringen. Das muss man ganz klar sagen. Ich habe meine Mitarbeiter gebeten, herauszufinden, welche Studien es in diesem Bereich gibt. Sie haben nichts gefunden. Herr Montag hat das auch gesagt. Es gibt in der Fachöffentlichkeit niemanden, der sagt: Das bringt etwas. ({2}) Herr Lischka hat von sieben Fällen pro Jahr gesprochen. Ich habe in dem Bereich auch nichts gefunden: ({3}) In den Entscheidungsgründen hat kein Gericht ausgeführt, dass die Strafe zu gering sei. Insofern ist der Gesetzentwurf vielleicht mehr als Symbolpolitik: Es ist vielleicht sogar ein Wahlkampfthema, und es ist ein Thema für den Boulevard und die Öffentlichkeit. ({4}) Der Gesetzentwurf ist aber, glaube ich, nicht zur Verbesserung der Sicherheit der Bevölkerung geeignet. Im Gegenteil, der Volksmund sagt: Wer in den Knast kommt, kommt krimineller heraus, als er hineingegangen ist. In diesem Sinne sollte man, glaube ich, diesen Gesetzentwurf ablehnen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9389 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf: Beratung des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages - zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für einen neuen Infrastrukturkonsens Schutz der Menschen vor Straßen- und Schienenlärm nachdrücklich verbessern - zu dem Antrag der Abgeordneten Gustav Herzog, Uwe Beckmeyer, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bürgerinnen und Bürger dauerhaft vom Bahnlärm entlasten - Alternative Güterverkehrsstrecke zum Mittelrheintal angehen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schutz vor Bahnlärm verbessern - Veraltetes Lärmprivileg „Schienenbonus“ abschaffen - Drucksachen 17/5461, 17/6452, 17/4652, 17/9257 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin in der interessanten Rolle, als Ausschussvorsitzender berichten zu dürfen, warum der Verkehrsausschuss die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und SPD nicht fristgerecht behandelt hat. Es geht bei diesen Anträgen um das wichtige Thema Bahnlärm. Wir haben diese Anträge mehrmals auf die Tagesordnung gesetzt, so unter anderem in der 49. Sitzung am 21. September 2011 - das ist also schon relativ lange her -, dann wieder am 26. Oktober und zuletzt am 9. November. Die Beratung der Anträge ist auf Wunsch der geschäftsführenden Mehrheit immer wieder vertagt worden. ({0}) So weit sozusagen der Bericht. Wir haben die Anträge immer wieder aufgesetzt. Aber die Beratungen darüber wurden immer wieder vertagt. Worum geht es in den Anträgen? Sowohl in den SPDAnträgen als auch im Antrag der Grünen geht es um einen besseren Schutz der Menschen vor Bahnlärm. Es geht insbesondere darum, das Lärmprivileg „Schienenbonus“ abzuschaffen. Worum handelt es sich beim Lärmprivileg „Schienenbonus“? Es handelt sich letztendlich um einen Malus für die Betroffenen. Dieses Privileg bedeutet, dass Züge um 5 dB - das macht einen erheblichen Unterschied aus; denn es handelt sich um eine logarithmische Skala - lauter sein dürfen als andere Verkehrsträger. Das hat zur Folge, dass die Menschen stark belastet sind. Das ist allerdings auch für uns von großer verkehrspolitischer Bedeutung; denn die Belastung hat an manchen Strecken solche Ausmaße angenommen, dass die Menschen massiv protestieren, in manchen Regionen überparteilich. Es gibt zum Beispiel an der Rheinschiene Regionen, in denen sich Vertreter aller Parteien massiv gegen die Lärmbelästigung vor Ort wenden. Wir müssen daher dringend etwas tun. ({1}) Warum kommt es nicht zur abschließenden Beratung über die Anträge? Der Grund ist ganz einfach - diese Bewertung nehme ich nicht als Ausschussvorsitzender, sondern als Abgeordneter der Grünen vor -: Die Koalitionsfraktionen wollen die Anträge von SPD und Grünen nicht ablehnen, weil sie den Protest vor Ort fürchten. Sie können aber auch keine eigenen Vorlagen einbringen, weil sie sich untereinander nicht einigen können, wie mit diesem schwierigen Problem umgegangen werden soll. Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Bei den Koalitionsfraktionen gibt es einen ganzen Strauß an Themen, über die sie sich nicht einigen können. Manche Themen sind prominenter, andere Themen weniger prominent in den Medien vertreten. Bahnlärm ist in den Medien lediglich regional prominent vertreten. Ich sage als Grüner: Einigen Sie sich - das wäre positiv - im Sinne der Menschen auf eine vernünftige Reduktion des Bahnlärms! Dann könnten wir die Beratungen über dieses Thema im Ausschuss endlich zum Abschluss bringen. ({2}) Wenn Sie sich aber schon nicht einigen können, dann sollten Sie wenigstens die Traute haben, die Anträge abzulehnen. ({3}) Dann können wir die Beratungen über diesen Tagesordnungspunkt abschließen. Dann muss dieses Thema nicht immer wieder aufscheinen. Dann hätten wir alle Klarheit, und dann wüssten auch die Betroffenen vor Ort, woran sie sind. ({4}) Ich bitte Sie, sich zu einigen. Das ist positiv für die betroffenen Menschen. Wenn Sie sich aber nicht einigen können, dann lassen Sie uns die Sache zum Abschluss bringen. Dann wissen die Menschen wenigstens, woran sie sind. Danke. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Steffen Bilger für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Steffen Bilger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004011, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Lärm ist derzeit in der politischen Debatte in der Tat nicht zu überhören. Ob an Flughäfen, bei der Straße oder der Schiene, landauf, landab wird bei vielen Infrastrukturprojekten gestritten und diskutiert. Auf der einen Seite stehen die Bedürfnisse der Anwohner, für die wir alle großes Verständnis haben. Auf der anderen Seite steht unser Interesse, Mobilität zu ermöglichen, eine funktionsfähige Infrastruktur zu haben und nicht zuletzt unseren Beitrag zum Erfolg unserer Wirtschaft und zum Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten. Hier müssen wir zu einem ausgewogenen Ausgleich kommen. ({0}) - Dazu komme ich noch. Heute diskutieren wir gleich über drei Anträge, die sich alle in erster Linie mit dem Thema Schienenlärm befassen. Ich habe für viele Forderungen in diesen Anträgen durchaus Sympathie. ({1}) Lärm ist wahrlich eine Plage. Sicherlich steigt heutzutage auch die Sensibilität der Bevölkerung für solche Belastungen und dadurch begründete Gesundheitsgefahren an. Daher ist das richtig, was in den Oppositionsanträgen zum Lärm an sich steht. Es ist vollkommen unstrittig, dass wir Anwohner vor Lärm schützen müssen und es unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass Lärm möglichst erst gar nicht entsteht, sondern schon an der Quelle bekämpft wird. ({2}) In den Debatten über den SPD-Antrag zum Mittelrheintal und den Koalitionsantrag zur Rheintalbahn haben wir deutlich gemacht, wie sehr wir als Unionsfraktion die Bedürfnisse der lärmgeplagten Bevölkerung zu unserem Anliegen gemacht haben. Wir stehen zu unserem Bekenntnis im Koalitionsvertrag: Mehr Schutz vor Lärm! - Besonders das gerade von Toni Hofreiter angesprochene Lärmprivileg der Schiene, das dazu führt, dass an Schienenstrecken mehr Lärm geduldet wird als an anderen Stellen, ist nicht mehr vertretbar und muss daher abgeschafft werden. ({3}) Die Abschaffung des sogenannten Schienenbonus ist erklärte Sache der christlich-liberalen Koalition. Dazu bekennen wir uns mit Nachdruck, so auch heute und in der Zukunft bei den weiteren Beratungen im Verkehrsausschuss. Wir sind die erste Regierungskoalition, die sich darauf verständigt hat, den Schienenbonus abzuschaffen, ({4}) und damit nun ernst macht. ({5}) Wie sich alle Abgeordneten, die schon unter früheren Regierungskonstellationen hier mitgearbeitet haben und die es nicht so weit gebracht haben, dieses Thema anzupacken - manche haben sich das noch nicht einmal vorgenommen -, denken können, war es nicht ganz einfach, bei der Abstimmung zwischen den verschiedenen beteiligten Politikern voranzukommen. Aber am Ende zählt das Ergebnis. Diese Woche, meine Damen und Herren von der Opposition, wurde die Ressortabstimmung zur Abschaffung des Schienenbonus förmlich eingeleitet. ({6}) - Jetzt hätte ich von der Opposition mehr Anerkennung und Applaus erwartet. Zugegeben, auch wir hätten nichts dagegen gehabt, wenn es etwas schneller zu Ergebnissen gekommen wäre. ({7}) Nicht zuletzt hatten wir mit den Stimmen der Union und der FDP bereits vor einem Jahr, im März, in Zusammenhang mit dem Thema Rheintalbahn im Deutschen Bundestag die Forderung nach Abschaffung des Schienenbonus bekräftigt und die Bundesregierung aufgefordert, die dafür notwendigen Schritte zu unternehmen. Wir stehen zu unserem Wort und nehmen die Bundesregierung in die Pflicht, den Entwurf zur Änderung des betreffenden Gesetzes und der dazugehörigen Verordnung vorzulegen. ({8}) Der Schienenbonus wird abgeschafft. Das ist erst einmal eine gute Nachricht für die Menschen in Deutschland. Wir halten Wort. Gerne können wir in einer der nächsten Verkehrsausschusssitzungen ins Detail gehen und über einen eigenen Antrag unserer Fraktion beraten. ({9}) - Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass die Ressortabstimmung bereits eingeleitet ist. Hätten Sie es hinbekommen, als Sie noch an der Regierung waren, dann brauchten Sie jetzt nicht so große Reden zu schwingen. ({10}) Wenn aber der Schienenbonus abgeschafft ist, dann heißt das nicht, dass alle Schienenlärmprobleme beseitigt wären; denn die Abschaffung des Schienenbonus betrifft die Zukunft. Für bestehende oder bereits im Bau befindliche sowie planfestgestellte Schienenstrecken brauchen wir andere Lösungen. Wichtig ist dabei, dass wir im gesamten Schienennetz durch unterschiedliche Maßnahmen die Lärmemissionen nachhaltig reduzieren. Innovative Maßnahmen am Fahrweg, andere Bremssysteme, verbesserter Lärmschutz durch bauliche Maßnahmen und auch Vereinbarungen über ein - das wird auch im Antrag der Grünen gefordert - lärmabhängiges Trassenpreissystem - das alles sind Beispiele für weitere Möglichkeiten der Lärmreduktion, die ein Lärmprivileg der Schiene endgültig unnötig machen. Das große und bedeutende Projekt Rheintalbahn, über das wir schon mehrfach im Deutschen Bundestag diskutiert haben, ist zudem ein gutes Beispiel für andere Möglichkeiten der Politik. Da haben sich alle Beteiligten Kommunen, Land, Bund, Bürgerinitiativen und Deutsche Bahn - zusammengesetzt und sind zu Lösungen gekommen. In diesem konkreten Fall gab es Zugeständnisse sowohl des Landes als auch des Bundes, vertreten durch den Staatssekretär Scheuerle, die es unnötig machen, auf die Abschaffung des Schienenbonus zu warten. Es wird vielmehr durch Vereinbarungen erreicht, dass Lärmschutz durch andere Maßnahmen umgesetzt wird, ohne dass wir die Abschaffung des Schienenbonus hier im Bundestag beschließen müssten. Dabei muss uns Politikern klar sein, dass es nicht ausreicht, immer nur nach dem Bund zu rufen; vielmehr müssen sich alle Beteiligten in die Pflicht nehmen lassen. Sie haben in Ihren Anträgen aber auch andere Themen angesprochen. Im SPD-Antrag zum Infrastrukturkonsens werden aus unserer Sicht in erster Linie Maßnahmen aus dem nationalen Verkehrslärmschutzpaket II aufgegriffen, die ohnehin realisiert werden oder in anderem Zusammenhang bereits geprüft werden. Auch hier hätte sicher manches schneller und weiter gehen können. Allerdings dürfen wir bei dieser ganzen Diskussion nicht vergessen, dass es immer um Geld geht. ({11}) Das fehlt an allen Ecken und Enden für die Infrastruktur. Dieses Geld müssen wir erst einmal zur Verfügung stellen können. Nichtsdestotrotz können wir festhalten: Es tut sich etwas. ({12}) Wir machen viel für mehr Schutz vor dem Schienenlärm. Ergänzend zu dem, was wir in Deutschland beschließen können, wäre es bei einem mittlerweile kontinenteübergreifenden Schienenverkehr sicherlich sinnvoll, wenn wir auf europäischer Ebene zu gemeinsamen Lösungen kommen könnten und die EU mittelfristig nur noch leise Güterzüge in Europa zulassen würde. Auch hier sollten wir und die Bundesregierung aktiv bleiben. Ich freue mich auf weitere Fortschritte, die wir gemeinsam erreichen können. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gustav Herzog für die SPD-Fraktion. ({0})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, insbesondere im Mittelrheintal! Herr Kollege Bilger, ich weiß nicht, ob ich mich über Ihre Rede aufregen soll ({0}) oder einfach nur Mitleid haben soll mit Ihnen, die Sie auf dieser Seite des Hauses sitzen. ({1}) Ich werde versuchen, im Laufe meiner Rede eine Antwort zu geben. Um das Groteske an der Situation deutlich zu machen, will ich noch einmal die Gemeinsamkeiten feststellen, die hier im ganzen Hause - vielleicht bis auf den Teil der Bundesregierung - bestehen. Wir stellen fest, dass Millionen von Menschen durch Lärm von Straße, Schiene und Luftverkehr beeinträchtigt sind. Hunderttausende sind schwersten Belastungen ausgesetzt. Sie erleben in der Nacht Güterzüge, die mit über 100 Dezibel an ihren Häusern vorbeifahren. Das ist wie ein Presslufthammer hier vor dem Rednerpult, vor den Reihen der Koalition. Hunderttausende von Menschen erwarten von uns eine Lösung. Auch die Volkswirtschaft wird im Umfang von über 10 Milliarden Euro im Jahr geschädigt. Wir sind uns hier im Hause darüber einig, dass wir den Schienenbonus abschaffen wollen, dass wir lärmabhängige Trassenpreise brauchen, ({2}) dass eine ganze Reihe von wirksamen Baumaßnahmen, die wir mit dem Projekt „Leiser Rhein“ oder dem Konjunkturprogramm eingeleitet haben, umgesetzt werden müssen. Wir sind uns weiter darüber einig, dass wir die Güterverkehrswagen umrüsten wollen. Diese gemeinsame Position vertreten wir auch vor Ort. Ich sehe hier den Kollegen Michael Hartmann, der das Mittelrheintal aus eigenem Erleben und eigenem Hören sehr gut kennt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten. Im rheinland-pfälzischen Landtag der letzten Wahlperiode und auch der neuen Wahlperiode wurden einstimmige Beschlüsse gefasst, also mit der Union, mit der FDP, in denen all das vom Bund gefordert wird. ({3}) Jetzt ist die spannende Frage: Warum geht es nicht voran, lieber Kollege Bilger? Weil wir hier die Koalition der Verweigerung und der Vertagung haben! Sie kriegen es nicht auf die Reihe. Jetzt ist Schluss mit lustig! Der Kollege Hofreiter hat ja schon erwähnt: Es gibt sehr viele Themen - von der Vorratsdatenspeicherung bis hin zum Betreuungsgeld -, bei denen Sie keine Problemlösung finden. ({4}) Für die Frage, um die es hier geht, die die Menschen betrifft, hätten wir eine Mehrheit im Deutschen Bundestag. Ich sage Ihnen, wo das Problem sitzt: hier auf der Regierungsbank, vielleicht noch etwas um die Ecke. Herr Kollege Bilger, ich darf zitieren, was Kanzleramtsminister Pofalla gesagt hat. Ich zitiere die Rheinische Post vom 21. April dieses Jahres: Die Bundesregierung wird nicht am Schienenbonus rütteln. ({5}) Ein weiteres Zitat: In dieser Legislaturperiode werden wir den Schienenbonus nicht anpacken. ({6}) Das sagt Ihr Kanzleramtsminister. Und was sagt die Koalition? ({7}) Haben Sie in diesen Reihen hier überhaupt noch etwas zu sagen? Ich denke, bei Ihnen muss etwas passieren. ({8}) Sie können nicht weiterhin versuchen, das Problem auszusitzen oder auf die lange Bank zu schieben. Ich weiß, dass wir ab September 2013 das Problem anpacken werden. ({9}) Aber schöner wäre es natürlich für die Menschen, wenn wir die gemeinsame Position hier vorher beschließen könnten und Sie sich nicht hinter der Entscheidung Ihrer Regierung und Ihrer Haushälter verstecken würden. Wenn ich Ihre Reihen hier sehe, frage ich mich, wo die Kolleginnen und Kollegen von der Union sind, die im Mittelrheintal immer so tun, als wären sie die großen Macher in Sachen Schienenlärm. ({10}) Wo sind die Kollegen Granold, Bleser und der General Schnieder, der Generalsekretär Schnieder? - Aber jeder hat so seine Prioritäten. ({11}) Herr Kollege Bilger, Sie haben die Kosten angesprochen. Vielleicht werden Sie sich in Ihren Reihen auch einmal darüber einig, um welche Kosten es geht. Der Bundesminister sagt: Jedes Dezibel beim Schienenbonus kostet mich 1 Milliarde Euro. Ihr Kanzleramtsminister spricht in der Rheinischen Post von 15 Milliarden Euro. Vielleicht können Sie innerhalb der Bundesregierung einmal eine Abstimmung herbeiführen. Ich sage Ihnen etwas zum Thema Geld. Es war für Sie in den ersten Tagen der Koalition doch kein Problem, den Mehrwertsteuersatz für die Hotelübernachtungen herabzusetzen ({12}) und 1 Milliarde Euro jedes Jahr zum Hotelfenster hinauszuwerfen, wo wir doch die Hotelfenster im Mittelrheintal schließen müssen, weil es zu laut ist. ({13}) Herr Kollege Döring, es ist intellektuell unwürdig, dass Sie zwar in Ihren Reihen anerkannt haben, ({14}) dass es eine falsche Entscheidung war, aber nicht genug Mumm in den Knochen haben, um diesen Fehler zu korrigieren. ({15}) Ich sage Ihnen: Die Sache mit der Mehrwertsteuer kriegen Sie bei jeder Rede von mir auf den Tisch gelegt bis zum Ende der Wahlperiode. ({16}) Es gibt eine zweite Geldquelle, die man anzapfen könnte. Sie hätten auch unsere Zustimmung, Herr Bundesminister, wenn Sie die Zwangsdividende der DB AG vielleicht auch dafür verwenden würden, dem Unternehmen beim Umrüsten zu helfen. ({17}) Es gibt klare Forderungen der SPD. Wir würden Sie auch jederzeit hier im Deutschen Bundestag dabei unterstützen, das Umrüsten der Güterwagen jetzt und nicht erst dann vorzunehmen, ({18}) wenn die LL-Sohle in zwei oder drei Jahren zugelassen ist. Das würde 10 Dezibel bringen - eine Verminderung des Lärms um die Hälfte. ({19}) Sie haben von uns eine klare Zustimmung zur Abschaffung des Schienenbonus. Als letzten Punkt will ich noch die Alternativtrasse Mittelrheintal ansprechen. ({20}) Herr Bundesminister, Sie haben auf der Verkehrsministerkonferenz Äußerungen gegenüber dem rheinlandpfälzischen Verkehrsminister gemacht, ({21}) die über die Presse unterschiedlich weitergegeben sind. Aber vielleicht kann der Kollege Holmeier, der gleich für die CSU sprechen wird, noch erklären: ({22}) Sind Sie nun dafür, dass eine solche alternative Trasse im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans geprüft wird, oder nicht? Wollen Sie nicht oder können Sie nicht den Lärm bei den Menschen reduzieren? Geben Sie darauf eine Antwort. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Werner Simmling für die FDPFraktion. ({0})

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Zuschauer! Liebe Kollegen Dr. Hofreiter und Herzog! Sie kennen alle die Sprichwörter „Gut Ding will Weile haben“ und „Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut“. ({0}) Wie vorhin schon festgestellt wurde, hat dieses schwierige Thema ja weder ein SPD-Verkehrsminister - das waren immerhin elf Jahre - noch ein grüner Umweltminister - sieben Jahre - in Angriff genommen. ({1}) Insofern sollten Sie, meine ich, auch 2013 keine Chance mehr haben, dieses Thema noch einmal aufzugreifen; denn dann ist es schon erledigt. Die christlich-liberale Koalition ist sich längst einig - das wissen Sie auch -, den Schienenbonus von 5 dB schrittweise zu reduzieren - mit dem Ziel, ihn in dieser Legislaturperiode ganz abzuschaffen. Das haben wir so in unserem Koalitionsvertrag festgelegt. ({2}) Wir haben inzwischen Schritte unternommen. Das wissen Sie auch. Wir haben im Deutschen Bundestag den Auftrag an die Bundesregierung gegeben, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzubereiten. Natürlich hätten wir uns gewünscht, dass wir schon weiter wären - das Thema ist aber, wie gesagt, sehr schwierig - und heute einen entsprechenden Entwurf hier vorliegen hätten. Manchmal sind die Dinge aber so, wie sie sind. Und auch in einer schwarz-gelben Bundesregierung kann es vorkommen, dass die Mühlen einer Ministerialbürokratie langsam - vielleicht etwas sehr langsam - mahlen. ({3}) Aber noch einmal, damit hier keine Zweifel aufkommen: Für die Koalition bleibt die Abschaffung des Schienenbonus in dieser Legislaturperiode eines ihrer zentralen verkehrspolitischen Anliegen. ({4}) Unser Ziel ist, dass alle Planfeststellungsverfahren ab 2016 ohne die einseitige und nicht mehr tragfähige Bevorteilung der Schiene geplant werden. Was wir aber nicht wollen, ist, in bestehende Planfeststellungsverfahren einzugreifen. ({5}) Deshalb wollen wir die gesetzgeberisch deutliche Linie 2016. Nur so gibt es Klarheit und Planungssicherheit für alle Seiten. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch generell Folgendes anmerken: Wir müssen den Lärmschutz an der Schiene verbessern; denn nur so erhalten wir die für den dringend benötigten Infrastrukturausbau notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung. ({6}) Wir brauchen die Schiene als modernen, leistungsfähigen und umweltschonenden Verkehrsträger. Ich kann die Menschen gut verstehen, die das Mehraufkommen von Verkehr auf der Schiene und den damit in Zusammenhang stehenden Lärm in ihren Wohnungen und Häusern nicht mehr hinnehmen wollen. Um diese Balance und Akzeptanz zu erhalten, ist die Abschaffung des Schienenbonus unerlässlich. ({7}) Der Schienenbonus ist angesichts der hohen Zuwächse beim Schienengüterverkehr und neuerer Erkenntnisse heute nicht mehr gerechtfertigt. ({8}) Von mancher Stelle hört man, dass die Abschaffung des Schienenbonus zu teuer sei und Schienenprojekte durch Umplanungen verzögert würden. Das ist nicht richtig; denn laufende Planfeststellungsverfahren, wie bereits gesagt, sind nicht betroffen. Umplanungen sind daher auch nicht erforderlich. Richtig ist aber, dass alle ab dem Jahr 2016 neu geplanten Projekte durch mehr und bessere Lärmschutzmaßnahmen teurer werden. ({9}) Dies bedeutet im Gegenzug aber nicht, dass wir wegen der Abschaffung des Schienenbonus eine höhere Haushaltslinie benötigen. Wir müssen uns immer vor Augen halten: Wenn der Schienenbonus bestehen bleibt und wir Anwohnern von zukünftigen Bahnstrecken keinen angemessenen Lärmschutz bieten können, dann werden wir bald gar nicht mehr bauen können. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wilms?

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie reden hier so vollmundig, als ob das Gesetz bis zum Ende der Wahlperiode schon in Kraft treten könnte. Sehen Sie sich einmal an, wie viel Zeit wir noch bis 2013 haben. Dann reden Sie davon, dass der Schienenbonus stufenweise abgeschafft werden soll.

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vollständig, sagte ich.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben aber vorher „stufenweise“ gesagt. Sie widersprechen sich.

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, nein, stufenweise und vollständig in dieser Legislatur.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das passt nicht zusammen. Liefern Sie endlich!

Werner Simmling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004158, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie werden sich wundern, was wir in der verbleibenden Zeit noch alles leisten können. ({0}) Beim Lärmschutz an Bahnlinien handelt es sich nicht nur um eine Einzelmaßnahme. Die Abschaffung des Schienenbonus ergänzt die Gesamtkonzeption des Bundes zur Lärmbekämpfung im Schienenverkehr. Wesentlicher Inhalt ist die Lärmreduzierung an der Schallquelle. Dies wird insbesondere durch die von der Bundesregierung bereits angestoßenen Einführung eines lärmabhängigen Trassenpreissystems und durch die Umrüstung von Güterwagen auf die lärmarme K-Sohle, genannt die Flüsterbremse, erreicht. Allein diese Maßnahme - ich glaube, Herr Herzog sagte es - führt zu einer Reduzierung des Lärms um 10 dB und damit zu einer Halbierung des subjektiven Lärmempfindens. ({1}) - Sehen Sie. Mit einem Zitat von Goethe - Sie sehen, ich will auch kritisch sein -, gerichtet an die Regierungsbank, will ich enden: Der Worte sind nun genug gewechselt, lasst uns endlich Taten sehen! Vielen herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Vor 25 Jahren hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen die damalige CDU-FDP-Bundesregierung umfassend über die schädliche Wirkung von Lärm unterrichtet. Inzwischen ist die Kernbotschaft vielfach bestätigt worden: Lärm macht krank - vor allem, wenn er den Nachtschlaf stört. Schallpegel von mehr als 60 Dezibel am Tag und 50 Dezibel in der Nacht müssen als gesundheitliche Bedrohung angesehen werden. Das heißt für unsere Bevölkerung: Fast ein Drittel ist Tag und Nacht von Straßenlärm bedroht. Beim Schienenlärm sind es tagsüber rund 9 Prozent und nachts über 20 Prozent. Wenn Sie im Rheintal unterwegs sind, dann können Sie es körperlich spüren, wie der höllische Krach alles kaputt machen kann. Die Güterzüge, die mitten durch die Ortschaften fahren, werden immer mehr. Sie fahren vor allem in der Nacht. Sie werden immer schneller und immer schwerer beladen. Oft sind die Waggons alt und die Gleise ungepflegt. 110 Dezibel - der Kollege Herzog hat es gerade geschildert - sind keine Seltenheit. Das entspricht dem Lärm von Kettensägen und Presslufthammern. Dass der Gesetzgeber, also die Mehrheit in diesem Parlament, dieser Art von fahrlässiger Körperverletzung nicht Einhalt gebietet, ist ein Skandal. ({0}) Es ist doch verrückt, dass die Straßenbahnen und Personenzüge inzwischen ziemlich leise fahren, weil die öffentlichen Auftraggeber darauf Wert legen. Aber dort, wo private Unternehmen, vor allem große Konzerne, ihre Produkte zwischen den Standorten in ganz Europa transportieren, um mehr Gewinn zu machen, bleibt es laut, ({1}) ohne Rücksicht auf Verluste. Das ist nicht akzeptabel. ({2}) Es fehlt nicht an konkreten Möglichkeiten, wie man die Anwohnerinnen und Anwohner entlasten kann, wie man eine moderne Güterbahn mit Ausbauperspektive schaffen und dabei noch die Volkswirtschaft von unnötigen, auf Lärm zurückzuführende Krankheitskosten entlasten kann. Wir haben bereits vor einem Jahr einen 14 Punkte umfassenden Antrag eingebracht. SPD und Bündnis 90/ Die Grünen reichen schon seit längerem Anträge mit sehr guten Vorschlägen ein, ({3}) und es gibt sehr kompetente Forderungen seitens der Bürgerinitiativen. Nur von der Regierungskoalition kommt fast gar nichts. Sie stellen jetzt die lärmabhängigen Trassenpreise in den Mittelpunkt und wollen die Sache damit im Grunde dem Markt überlassen. Aber der Markt wird es nicht richten, jedenfalls nicht vor dem Sankt-NimmerleinsTag. ({4}) Es geht hier um die Gesundheit und Lebensqualität von rund 16 Millionen Menschen in Deutschland. Für die muss der soziale Staat, muss eine gute Regierung und muss dieses Parlament Verantwortung übernehmen, und zwar jetzt. ({5}) Sorgen Sie dafür, dass die Graugussbremsen als schlimmste Lärmquelle verboten werden, so wie es die Schweiz vormacht. ({6}) Investieren Sie in besseren Bahnverkehr. Nicht nur an neuen, sondern auch an den bestehenden Strecken braucht es Lärmschutz. Schaffen Sie schließlich den unsinnigen Schienenbonus ab; lasten Sie alle gesellschaftlichen Kosten den Verursachern an, beim Straßen- und Flugverkehr genauso wie bei den Güterzügen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Leidig, wenn es nach Ihnen gehen würde, dann würden wir alle in Deutschland wieder zu Fuß gehen, und niemand hätte mehr ein Fahrzeug. ({0}) - Das wäre Ihnen recht. - Zunächst möchte ich allen ein herzliches Dankeschön dafür sagen, dass wir im Grunde alle der gleichen Meinung sind: Verkehrslärm ist für die Menschen ein großes Problem und eine Belastung. Darin sind wir uns einig. Damit bin ich mit meiner Freude aber leider schon am Ende. Sehr verehrte Oppositionskollegen, Sie machen mit den hier zur Debatte stehenden Anträge zwar viel Lärm, nennenswerte Lösungsansätze oder gar Vorschläge zur Finanzierung einzelner Forderungen kann ich in den Anträgen bedauerlicherweise aber nicht finden. ({1}) Stattdessen greifen Sie vielfach nur Maßnahmen aus dem Nationalen Verkehrslärmschutzpaket II auf, die bereits realisiert sind oder die sich noch in der Prüfung befinden, und satteln noch einmal drauf. Zunächst möchte ich an dieser Stelle einmal Folgendes klarstellen: Wenn wir über Lärmbelastung der Menschen sprechen, dann ist es aus meiner Sicht und aus der Sicht der christlich-liberalen Koalition vollkommen egal, von welchem Verkehrsträger der Lärm ausgeht. Ihre Oppositionsanträge widmen sich ausschließlich dem Straßen- und dem Schienenverkehrslärm. Ich sage aber ganz klar, und dazu stehen wir als Koalition: Unsere Aufgabe ist es, alles dafür zu tun, Belastungen durch Verkehrslärm jeglicher Art so gering wie möglich zu halten. Genau das tun wir. Das bereits erwähnte Nationale Verkehrslärmschutzpaket II enthält erstmals klare Vorgaben, in welchem konkreten Maß die Belastungen durch Verkehrslärm gemindert werden sollen. ({2}) - Was hat denn der Tiefensee gemacht? Nichts hat er gemacht. ({3}) In diesem Konzept ist vorgesehen, bis zum Jahr 2020 den Flugverkehrslärm um 20 Prozent zu verringern.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Willsch?

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne, ja. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Holmeier, durch den Zwischenruf des Kollegen Herzog bin ich angeregt, Ihnen eine Frage zu stellen. Da geht einem wirklich die Hutschnur hoch. Mein Wahlkreis ist der Rheingau, wo jeden Tag 250 schwere Güterzüge durchdonnern. Seit 1998, seitdem ich in diesem Parlament bin, beschäftige ich mich mit diesem Thema. Jedes Jahr gab es bei euch einen anderen Verkehrsminister. Ich habe selten eine Antwort von dem Verkehrsminister bekommen, an den ich geschrieben habe. ({0}) Weil hier die Haushälter beschimpft werden, möchte ich sagen: Wir haben in 2008 für den Haushalt 2009 durchgesetzt, dass eine Umrüstung des rollenden Gerätes aus den Haushaltsmitteln möglich ist. Dann hat Tiefensee geschlafen und das Notifizierungsverfahren nicht vorangetrieben. In 2010 ist der Bescheid endlich übergeben worden. Damit kann die Bahn umrüsten. Das muss auch endlich geschehen. Dabei muss die Bahn ein bisschen schneller werden. Meine Frage ist, ob Sie dem zustimmen. Das, was wir politisch ermöglicht haben, muss die Bahn nun endlich umsetzen. Es ist nicht akzeptabel, dass in Assmannshausen in meinem Wahlkreis jeden Tag Güterwaggons mit einer Lautstärke von bis zu 103 Dezibel vorbeifahren und die Schranke in Rüdesheim am Tag acht bis zehn Stunden heruntergelassen ist. So kann es nicht gehen. ({1})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wissen, die Koalition kümmert sich um dieses Thema. Wir wollen den Fluglärm um 20 Prozent reduzieren und den Schienenlärm um 50 Prozent. Damit ist natürlich die Umrüstung der Wägen verbunden. Wir können heute nur deutsche Wägen umrüsten. Angesichts dessen wäre es vielleicht sinnvoll, ein europäisches Förderprogramm zu schaffen, damit die Wägen in den Ländern der Europäischen Union umgerüstet werden können. - Vielen Dank, Herr Kollege.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, die Kollegin Wilms möchte eine Zwischenfrage stellen.

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Leider kann ich sie nicht beantworten. Wenn Sie meinen Flieger stoppen können, dann lasse ich auch diese Frage zu.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das erklärt Ihre Antwort.

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hinzu kommen im Koalitionsvertrag beschriebene Maßnahmen wie die Einführung einer lärmabhängigen Trassenpreisgestaltung bei der Bahn und die Änderung des Fluglärmschutzgesetzes, damit Anwohner an Militärflughäfen gleiche Ansprüche auf Erstattung von Lärmschutzkosten haben wie die Anwohner von Verkehrsflughäfen. Sie sehen: Uns geht es um die Menschen, die von Verkehrslärm betroffen sind, ungeachtet der Lärmquelle. Denn den Menschen ist es egal, woher der Lärm kommt. Mit Blick auf die lärmabhängigen Trassenpreise will ich noch einmal betonen, dass wir es waren, die dieses Thema aktiv angegangen sind. Bereits in unserem Antrag zur Rheintalbahn vom Frühjahr letzten Jahres haben wir die Bundesregierung aufgefordert, hierzu eine entsprechende Regelung zu treffen. Unser Verkehrsminister Peter Ramsauer hat angekündigt, das Trassenpreissystem noch heuer zum Fahrplanwechsel 2012/2013 einzuführen. Wir halten keine Sonntagsreden, wir handeln, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition. In dem eben erwähnten Antrag vom vergangenen Jahr haben wir im Übrigen auch die Bundesregierung dazu aufgefordert, den Schienenbonus abzuschaffen. Trotz vieler Probleme bei diesem Thema - das wurde bereits einige Male angesprochen -, gerade was den Transitverkehr auf der Schiene betrifft, ist unter CSU-Verkehrsminister Ramsauer Bewegung in diese Sache gekommen. Die Bundesregierung hat jetzt die Ressortabstimmung zur Änderung der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen eingeleitet, um den Schienenbonus tatsächlich abzuschaffen. Hier zeigt sich also wieder: Wir handeln. Die Vorgängerregierungen mit SPD-Verkehrsministern haben zehn Jahre lang nichts zustande gebracht. Wir kümmern uns natürlich auch um die Menschen im Mittelrheintal, zu dem Sie extra einen Antrag eingebracht haben. Auch hier finde ich erstaunlich, dass Sie bis Herbst 2009 über zehn Jahre lang Zeit hatten, sich unter sozialdemokratischer Regentschaft im Bundesverkehrsministerium um das Mittelrheintal zu kümmern. Nichts ist passiert. Da musste erst ein CSU-Minister in das Haus einziehen, um festzustellen, dass für den gesamten Eisenbahnkorridor Mittelrheinachse/Rhein/Main-Rhein/Neckar-Karlsruhe geeignete verkehrliche Konzeptionen fehlen. Kaum ist dies geschehen, springen Sie auf den Zug auf und machen Lärm. Auf Initiative von Verkehrsminister Dr. Ramsauer wurde nun eine entsprechende Studie für den Eisenbahnkorridor Mittelrheinachse ausgeschrieben. ({0}) Die dabei zu ermittelnden Optimierungsmaßnahmen sollen nach den Plänen des Ministers noch im Vorfeld des Bundesverkehrswegeplans 2015 angegangen werden. ({1}) Hierbei werden sicher auch alternative Streckenführungen für den Güterverkehr geprüft werden. Was die Forderung nach kurz- und mittelfristigen Maßnahmen angeht, so weise ich nur auf das Pilotprojekt „Leiser Rhein“ hin, mit dem das Verkehrsministerium die Umrüstung von bis zu 5 000 Güterwägen auf lärmarme Bremssohlen fördert. Zudem hat auch die Bahn angekündigt - hören Sie gut zu! -, mithilfe eines sogenannten Lärmbeauftragten einen Ansprechpartner für alle Fragen zu Lärmbelästigungen, Lärmbelastungen und Lärmschutz an Schienenwegen zu schaffen. Damit können Aufgaben und Kompetenzen besser gebündelt und Probleme einfacher angegangen werden. Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und Herren, die christlich-liberale Koalition packt an. Sie tut tatsächlich etwas für den Schutz der Menschen vor Verkehrslärm. Die vorliegenden Oppositionsanträge machen hingegen viel Lärm um nichts. Danke. Schönes Wochenende! ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Valerie Wilms.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Holmeier, jetzt werden Sie vielleicht doch noch Ihren Flieger verpassen. Aber kommen wir schnell zur Sache: Ich sehe beim besten Willen nicht, dass Sie da auf irgendeine Art und Weise in Gang gekommen sind. Schauen Sie sich doch einmal an, was dort bislang läuft. Die Trassenpreiskonstruktion - das lärmabhängige Trassenpreissystem, das Sie jetzt einführen wollen - funktioniert doch gar nicht. Sie setzen bei der LL-Sohle auf ein System, das nicht zugelassen ist. Niemand weiß, ob es überhaupt jemals zugelassen wird. Das, was funktioniert, was in der Schweiz vorhanden ist, können Sie mit dem lärmabhängigen Trassenpreissystem als Anreiz gar nicht finanzieren. Sie machen hier also wirklich viel Lärm um nichts. ({0}) Sie haben uns eben etwas über Fluglärm erzählt. Der steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Also tun Sie jetzt wirklich einmal Butter bei die Fische und schaffen Sie endlich den Schienenbonus ab. Denn das wäre etwas, das bei jedem neuen Projekt sofort wirksam würde, weil dann der Vorteil der Bahn - Stichwort 5 dB - endlich wegfällt. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege, wollen Sie reagieren? - Bitte schön.

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sind jetzt dabei, den Schienenbonus abzuschaffen, und bringen es auf den Weg. Die Vorgängerregierungen hatten Zeit: Die SPD hat zehn Jahre lang einen Verkehrsminister gestellt; passiert ist nichts. Die rotgrüne Regierung hatte Zeit; passiert ist nichts. Wir werden es auf den Weg bringen; wir werden ab Herbst die lärmabhängigen Trassenpreise haben. Ich glaube, das ist ein guter und richtiger Weg; das wird ein erfolgreicher Weg sein. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 38: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Thomas Jarzombek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Florian Bernschneider, Nicole Bracht-Bendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Eigenständige Jugendpolitik - Mehr Chancen für junge Menschen in Deutschland - Drucksache 17/9397 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden. Das haben folgende Kolleginnen und Kollegen getan: Ingrid Fischbach, Stefan Schwartze, Florian Bernschneider, Diana Golze, Ekin Deligöz, Peter Tauber, Sönke Rix. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/9397 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. Mai 2012, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen ein heiteres Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.