Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
eröffne die 175. Sitzung des Deutschen Bundestages.
Man könnte das für eine Jubiläumsveranstaltung halten,
der wir vielleicht in der Art der Debattenführung Glanz
verleihen könnten.
Ich beginne mit dem wichtigen Hinweis, dass der
Kollege Wolfgang Börnsen heute seinen 70. Geburtstag
feiert.
({0})
Wäre er hier, hätte ich die Glückwünsche jetzt in Plattdeutsch vorgetragen. So muss das gegebenenfalls im
Kulturausschuss nachgeholt werden. Daran habe ich
auch keinen Zweifel. Jedenfalls übermittle ich ihm, sicher auch in Ihrem Namen, unsere besten Wünsche.
Ich weise darauf hin, dass es eine interfraktionelle
Vereinbarung gibt, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT
zu der Antwort der Bundesregierung auf die
Fragen 15 und 16 auf Drucksache 17/9351
({1})
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 40
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef
Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe
- Drucksache 17/9390 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Klaus-Peter Flosbach, Dr. Michael Meister,
Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk,
Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund und der
Fraktion der FDP
Rechtssicherheit beim Zugang zu einem
Basiskonto schaffen
- Drucksache 17/9398 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verantwortung für die entwicklungspolitische Dimension der EU-Fischereipolitik
übernehmen
- Drucksache 17/9399 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Ergänzung zu TOP 41
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Präsident Dr. Norbert Lammert
Anpassung der Marktprämie - Mitnahmeeffekte streichen
- Drucksache 17/9409 ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Auswirkungen des deutsch-schweizerischen
Steuerabkommens auf die grenzüberschreitende Steuerhinterziehung
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen und Risiken ergebnisoffen bewerten Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Bau einer festen Fehmarnbeltquerung aufnehmen
- Drucksache 17/9407 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Stabilisierungsmechanismusgesetzes
- Drucksache 17/9145 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({6})
- Drucksache 17/9435 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({7})
Dr. Dietmar Bartsch
Priska Hinz ({8})
ZP 7 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:
Konjunkturprognose bestätigt: Deutschland
weiterhin im Aufschwung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 21 b und
21 d abgesetzt.
Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 29. März 2012 ({9}) überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({10}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus ({11})
- Drucksache 17/9048 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({12})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die am 30. März 2012 gemäß § 80 Abs. 3 GO überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich
dem Haushaltsausschuss ({13}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationales Reformprogramm 2012
- Drucksache 17/9127 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat die Parlamentspräsidentin Litauens, die Präsidentin des Seimas, Frau Irena Degutienė, mit ihrer
Delegation Platz genommen. Im Namen aller Mitglieder
des Bundestages begrüße ich Sie ganz herzlich hier in
unserem Parlament.
({15})
Wir hatten bereits gestern Gelegenheit - Sie werden
heute weitere Gelegenheit haben -, die in den vergange-
nen Jahren sehr intensivierten Kontakte zwischen unse-
ren Ländern, insbesondere zwischen unseren Parlamen-
ten, zu würdigen und weitere Kooperationen zu
vereinbaren. Für Ihren Besuch in Berlin, aber auch an
anderen Plätzen wünschen wir Ihnen einen angenehmen
und interessanten Aufenthalt. Alle guten Wünsche für
die weitere Arbeit!
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur NeuausPräsident Dr. Norbert Lammert
richtung der Pflegeversicherung ({16})
- Drucksache 17/9369 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({17})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Senger-Schäfer, Diana Golze, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Pflege tatsächlich neu ausrichten - Ein Leben
in Würde ermöglichen
- Drucksache 17/9393 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({18})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({19}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff einführen Chancen zu nötigen Veränderungen nutzen
- Drucksachen 17/2480, 17/7082 Berichterstattung:
Abgeordneter Willi Zylajew
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister für Gesundheit, Daniel Bahr.
({20})
Guten Morgen, Herr Präsident! Sehr verehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lebenserwartung in Deutschland steigt erfreulicherweise.
({0})
Jeder Dritte von uns, so sagen die Statistiken, wird jenseits des 80. Lebensjahrs auf Pflege angewiesen sein.
Der demografische Wandel bedeutet aber auch, dass
immer mehr Ältere künftig immer weniger Jungen gegenüberstehen. Das ist eine Herausforderung für das Gesundheits- und Pflegewesen. Derzeit sind 2,4 Millionen
Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Diese Zahl
wird weiter deutlich steigen. Viele Menschen arbeiten
bereits heute in der Pflege. Sie leisten tagtäglich eine
vorzügliche Arbeit und sorgen dafür, dass in Deutschland eine gute Pflege für Pflegebedürftige geleistet wird.
({1})
Für Union und FDP ist dabei klar: Ein Altern in Würde,
ein selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter müssen
auch weiterhin möglich sein.
Bei der Pflege geht es uns um den Zusammenhalt in
den Familien und damit um den Zusammenhalt in der
Gesellschaft. Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, wie
es Ihnen die Koalition hier vorlegt, stärkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Menschen wollen so lange
wie möglich zu Hause bleiben. Zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause, in den Familien, von Angehörigen und ambulanten Pflegediensten gepflegt. Die
Hauptlast der Pflege tragen von daher die Familien und
Angehörigen. Diese Koalition will daher die Mehreinnahmen aus der Beitragssatzerhöhung zum 1. Januar
2013 nicht mit der Gießkanne austeilen, sondern diese
zusätzlichen Mittel ganz gezielt zur Unterstützung von
Familien und Angehörigen nutzen. Wir kümmern uns.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Jahr
2011 viele Dialoge mit Bürgerinnen und Bürgern sowie
Experten geführt. Wir haben uns ein Bild davon gemacht, wo dringender Handlungsbedarf besteht, und
Konsequenzen daraus gezogen. Wir kümmern uns um
Demenzkranke. Wir erweitern das Leistungsangebot der
ambulanten Pflegedienste um häusliche Betreuungsleistungen. Demenzkranke, die bisher keine oder kaum
Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung erhalten
haben, erhalten nun erstmals Leistungsansprüche oder
höhere als bisher. Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz in der sogenannten Pflegestufe 0,
das heißt diejenigen, die bisher keine Leistung erhalten
haben, erhalten nun erstmals Leistungen in Höhe der
Hälfte der Pflegestufe I; das sind 225 Euro pro Monat
für Pflegesachleistungen oder 120 Euro an Pflegegeld.
In den Pflegestufen I und II werden Pflegesachleistungen und Pflegegeld für Pflegebedürftige mit erheblich
eingeschränkter Alltagskompetenz entsprechend erhöht.
Das heißt, ein Grundgedanke, der in der Diskussion
um einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff enthalten
war, nämlich Demenz endlich bei der Bewertung der
Pflegebedürftigkeit zu berücksichtigen und eine differenziertere Einstufung bei der Pflegebedürftigkeit zu erreichen,
({3})
wird mit diesem Gesetz im Vorgriff auf einen neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriff umgesetzt.
({4})
Von diesen Leistungsverbesserungen profitieren etwa
500 000 Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Damit
können es sich Familien, die bisher keine Unterstützung
erhalten haben, beispielsweise leisten, einmal in der Woche Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Die Angehörigen - das wissen wir - sind der größte
Pflegedienst der Nation. Sie sind besonders starken Belastungen ausgesetzt. Daher richtet diese Koalition die
volle Aufmerksamkeit darauf, Angehörige und Familien
zu unterstützen.
Künftig wird es so sein, dass bei Inanspruchnahme
von Leistungen der Kurzzeit- und Verhinderungspflege
das hälftige Pflegegeld weiter gezahlt wird. Damit ermöglichen wir pflegenden Angehörigen Auszeiten. Von
ihnen haben wir nämlich häufig gehört, dass sie belastet
sind und gerne einmal eine Auszeit nehmen wollen.
Wir stärken durch gesetzliche Klarstellungen die
Möglichkeiten der Vorsorge und Rehabilitation.
Wichtig ist uns auch: Wer mehr Pflegebedürftige
pflegt, darf bei der Rente nicht schlechtergestellt werden. Das wird künftig berücksichtigt.
({5})
Wir stärken auch die Angehörigen, indem wir die
Selbsthilfegruppen in der Pflege mit 10 Cent pro Versichertem und Jahr besser als bisher fördern.
Um ihre Rechte wahrnehmen zu können, brauchen
Pflegebedürftige und ihre Angehörigen mehr gezielte
Beratung und Information, möglichst bei sich zu Hause.
Schaffen die Pflegekassen das nicht oder können sie das
nicht innerhalb von 14 Tagen sicherstellen, gibt es einen
Beratungsgutschein für eine externe, qualitätsgerichtete
Beratung.
Die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst
der Krankenversicherung - diesen erleben ja viele Betroffene, wenn es um die Begutachtung eines Angehörigen geht - wird durch dieses Gesetz servicefreundlicher
gestaltet; eine fristgerechte Begutachtung und Leistungsentscheidung der Pflegekassen werden sichergestellt.
In dieser Woche ist ein neuer Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zur Qualität in
der Pflege vorgelegt worden. Wir wissen: Vieles ist bei
der Pflege besser geworden, aber noch nicht alles ist so,
wie es sein sollte. Hier sind die Selbstverwaltung, die
Krankenkassen und die anderen Partner, gefordert, für
mehr und bessere Qualität in der Pflege zu sorgen. Auch
mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz verbessern wir
die Qualität in der Pflege.
Die medizinische Versorgung in Heimen wird deutlich verbessert, indem zusätzliche Gelder zur Verfügung
gestellt werden, damit sich der Haus- und Facharzt auch
im Heim um die medizinische Versorgung kümmert und
die Pflegekräfte nicht den Krankentransport rufen und
den Pflegebedürftigen ins Krankenhaus einweisen müssen.
({6})
Wir sehen vor, dass künftig Zeitkontingente vereinbart werden können, sodass verschiedene Leistungen der
Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung
und Betreuung individuell und zielgenau entsprechend
den Bedürfnissen selbst gewählt werden können. Pflege,
meine Damen und Herren, ist menschliche Zuwendung
und keine Akkordarbeit. Deswegen sorgen wir für mehr
Flexibilität, um von einem starren Minutenkorsett in der
Pflege wegzukommen.
({7})
Wir fördern neue Wohnformen, weil es der Wunsch
der Menschen ist, so lange wie möglich zu Hause zu
bleiben. Allein die Alternative zu haben, entweder allein
in der Wohnung zu sein oder ins Pflegeheim zu gehen,
ist nicht das, was sich die Menschen angesichts des demografischen Wandels wünschen. Deswegen fördern wir
Pflegewohngruppen und alternative, neue Wohnformen
mit zusätzlichen Mitteln.
({8})
Wir stärken die private Vorsorge; denn die Pflegeversicherung ist eine Teilkostenabsicherung. Keine Fraktion
hier im Deutschen Bundestag stellt das infrage.
({9})
Somit ist, wie wir wissen, ein erheblicher Eigenanteil zu
schultern. Deswegen fördern wir erstmals auch private
Vorsorge der Menschen im Bereich Pflege. Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, seinerzeit haben
Sie die Riester-Rente eingeführt, um die private Eigenvorsorge zu stärken, weil Sie sich bewusst waren, dass
durch die Umlage allein nicht alle Herausforderungen
des demografischen Wandels geschultert werden können. Ich verstehe nicht, warum Sie nun bei der Pflege so
kritisch sind. Auch bei der Pflege wird der demografische Wandel zu finanziellen Herausforderungen führen.
Deswegen brauchen wir neben der umlagefinanzierten
sozialen Pflegeversicherung auch eine kapitalgedeckte
Eigenvorsorge. Wir legen dazu erstmals etwas vor. Die
Beratungen finden noch statt. Ein Entwurf wird dann
vorgelegt.
({10})
An all den Maßnahmen, die diese Koalition im
Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz vorgelegt hat, gibt es
wenig Kritik; sie werden als richtig bezeichnet. Wir nehmen zur Kenntnis, dass die Opposition mehr fordert,
aber alle hier im Plenum wissen: Es waren Union und
FDP, die Mitte der 90er-Jahre die Pflegeversicherung
überhaupt erst geschaffen haben.
({11})
Alle hier im Plenum wissen, dass Rot-Grün in seiner Regierungszeit nicht eine einzige Verbesserung im Bereich
der Pflege auf den Weg gebracht hat.
({12})
Sie haben nichts getan. Es ist erneut eine christlich-liberale Koalition, die eine Verbesserung für die Menschen
in der Pflege erreicht.
({13})
Wir sorgen dafür, dass Menschen mit Demenzerkrankung, die bisher keine oder kaum Leistungen aus der
Pflegeversicherung erhalten haben,
({14})
endlich eine Unterstützung für den besonderen Betreuungsaufwand, den eine Demenzerkrankung erfordert, erhalten. Das ist ein Vorgriff auf den neuen PflegebedürfBundesminister Daniel Bahr
tigkeitsbegriff, den wir noch genauer zu bestimmen
haben; in diesem Zusammenhang sind nämlich noch
mehrere Fragen zu klären. Meine Vorvorgängerin von
der SPD, Frau Schmidt, hat doch selbst gesagt, dass es
noch drei bis vier Jahre Zeit braucht, um diese Fragen zu
klären.
({15})
Wir werden keine Zeit verlieren. Die Menschen werden
schnell die Verbesserungen spüren.
({16})
Das vorliegende Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz
stellt also keinen Menschen schlechter, sondern es stellt
viele Menschen in Deutschland besser. Wir rücken die
Familien, die Angehörigen in den Mittelpunkt, weil sie
es sind, die die Pflege zu Hause leisten. Ihnen gilt unsere
Aufmerksamkeit. Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz
stärkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft und ist deswegen ein gutes Gesetz, meine Damen und Herren.
({17})
Das Wort erhält nun der Kollege Lauterbach für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben gehört, dass der
Minister mit seinem Gesetz zufrieden ist. Das Problem
ist nur, dass das eine Einschätzung ist, die außer ihm
kaum jemand teilt.
({0})
Ich darf Sie zum Beispiel daran erinnern: Das am
häufigsten gebrauchte Wort in der Presse im Zusammenhang mit dieser Reform war der Begriff „Reförmchen“,
Herr Bahr. Das ist auch zutreffend; denn mehr ist es
nicht. Es ist nichts anderes als ein kleines Reförmchen
im dritten Jahr der Regierungszeit dieser Koalition mit
einem Gesamtvolumen von 1 Milliarde Euro.
({1})
Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie in den ersten Tagen Ihrer Regierungszeit dreimal so viel für Hoteliers
getan haben wie jetzt in Ihrem dritten Regierungsjahr für
alle zu Pflegenden zusammen? Das ist doch die Wahrheit!
({2})
Herr van Essen, das ist einer der Gründe, weshalb Sie
nicht mehr akzeptiert werden. Das ist so. Der Bürger ist
nicht so dumm, als dass er sich hier täuschen ließe. Von
wegen großartige Reform.
Bringen Sie sich bitte in Erinnerung: Wer gehört denn
zu den wichtigsten Kritikern der Reform? Es ist Norbert
Blüm, der Vater der Pflegeversicherung, wenn man so
will. Sie werden doch derzeit aus den eigenen Reihen
von den Gründern der Pflegeversicherung zum Teil
schärfer kritisiert als von der Öffentlichkeit. Das sollte
Ihnen zu denken geben.
Ein paar Worte zu Ulla Schmidt, die Sie ja auch erwähnt haben: Ulla Schmidt hat vor sechs Jahren gesagt,
dass die Definition des Pflegebegriffs in drei Jahren fertig ist. Das ist richtig. Der Pflegebegriff ist fertig. Er
hätte umgesetzt werden können, aber Sie machen es
schlicht deshalb nicht, weil Sie die Kosten scheuen,
({3})
weil Ihnen dieses Projekt nicht wichtig genug ist,
({4})
weil Sie stattdessen die private Pflege fördern wollen
und nichts für die Menschen tun wollen, die die Pflege
dringend benötigen.
({5})
Sie haben beiläufig den Qualitätsbericht zur Pflege
erwähnt, Herr Bahr. Ich darf Sie daran erinnern: Hier
wurde festgestellt, dass ein großer Teil der pflegebedürftigen Menschen an Schmerzen leidet, die, weil sie nicht
diagnostiziert sind, nicht behandelt werden. Die Menschen liegen sich wund, liegen durch. Sie erkranken an
Dekubitus und versterben an der dann folgenden Infektion. Die Menschen leiden zum Teil unter Freiheitsberaubung ohne richterlichen Beschluss. Mit einem
Halbsatz gehen Sie über diese beschämenden Qualitätsdefizite hinweg. 20 bis 40 Prozent der zu Pflegenden erleiden eine Qualität, die nicht angemessen und unseres
Wohlstands nicht würdig ist. Und dann ist das alles, was
Sie uns vorlegen. Das ist eine Schande, meine sehr verehrten Damen und Herren!
({6})
Ich will Ihnen sagen, was Sie bei einer wirklichen
Reform hätten machen müssen:
Sie hätten den Pflegebegriff reformieren müssen. Wir
haben einen komplizierten bürokratischen Pflegebegriff,
der dazu führt, dass die Pflege im Prinzip Abläufen folgt,
aber nicht der Bedürftigkeit der Menschen. Das hätte
reformiert werden müssen. Das haben Sie nicht gemacht.
Sie hätten die langfristige Finanzierung der Pflege
sicherstellen müssen. Sie erwähnen die demografische
Herausforderung, die dadurch entsteht, dass wir alle älter
werden - das hat, nehme ich einmal an, niemanden hier
im Saal überrascht -, aber Sie bringen hierfür keine
Lösung, keine Reform.
Als FDP haben Sie nichts zur Entbürokratisierung
vorgetragen.
({7})
Jedes zweite Wort bei der FDP lautet doch „Steuern runter“ oder „Entbürokratisierung“. Hier hätten Sie doch die
Gelegenheit dazu gehabt. Herr Bahr, ich erinnere Sie
daran, Sie sind noch der Minister.
({8})
Ich glaube nicht, dass Sie noch viel Gelegenheit haben
werden, die Entbürokratisierung, die Sie immer fordern,
selbst einzuführen.
({9})
Abschließend komme ich zum dem, was Sie auch hätten machen müssen: Eine deutliche Stärkung der ambulanten Pflege - nicht nur für die Pflegestufe 0, sondern
auch für die hohen Pflegestufen - wäre dringend notwendig gewesen. Ich darf daran erinnern - ich nehme an,
Herr Spahn wird das gleich vortragen -, dass wir in der
Großen Koalition bei der ambulanten Pflege zusammen
ein großes Stück weitergekommen sind. Wir haben die
ambulante Pflege finanziell deutlich bessergestellt. Darüber gehen Sie schlicht und ergreifend hinweg. In der
Großen Koalition haben wir mehr erreicht, als Sie im
dritten Jahr erreichen konnten.
Sie speisen uns hier mit einer Reform ab, bei der de
facto, wenn man ehrlich ist, um jeden Euro gefeilscht
wird. Ich kann Ihnen auch sagen, woran das liegt. Der
Bürger versteht das ganz genau. Es liegt daran, dass es
für die Pflege keine ausreichende Lobby gibt. Die zu
Pflegenden haben nicht die Lobby, die sie benötigen, um
von dieser Regierung bedient zu werden. Das ist die
Wahrheit.
({10})
Es liegt auch nicht am Geld. Wir wissen, dass Sie für die
Nichterziehung von Kindern oder für die Vergabe von
Rentenansprüchen, die auch der Millionärsgattin für frühere Geburten zugutekommen, bis zu 10 Milliarden
Euro ausgeben wollen. Manche von Ihnen kritisieren das
doch selbst. Ihnen sind demnach die Millionen zu Pflegenden nicht ein Zehntel dessen wert, was Sie jetzt für
die Wahlkampfunterstützung von Horst Seehofer in Bayern ausgeben wollen. Das spielt sich hier ab.
Sie haben die Menschen, die alt und krank sind und
möglicherweise ihre letzte Wahl vor sich haben - deren
Lebenserwartung beträgt ja im Durchschnitt noch zweieinhalb Jahre -, enttäuscht. Sie haben das Jahr der Pflege
ausgerufen. Die FDP hat die Chuzpe besessen und vom
Jahr der Pflege gesprochen. Nichts ist passiert. Jetzt wird
hier ein Gesetz vorgelegt, das im Prinzip eine Ohrfeige
für die pflegenden Angehörigen und die schwerkranken
Menschen ist.
({11})
- Das ist die Wahrheit, es ist keine Unverschämtheit.
Das Gesetz ist die Unverschämtheit. Unverschämt ist
nicht, wie ich es beschreibe. Das ist die Wahrheit.
({12})
Herr Bahr hat eine Unverschämtheit vorgetragen - nicht
ich habe das getan.
Es gibt hier keine Veränderung, es wird um jeden
Euro gefeilscht. Diese 1 Milliarde deckt nicht einmal
den Kostenanstieg, den es bei der Pflege in den letzten
Jahren gegeben hat.
Somit sage ich Ihnen voraus: Sie werden auch für
diese Reform die Quittung bekommen; denn unterschätzen Sie nicht, dass die Menschen ein Gespür dafür
haben.
({13})
- Drei Jahre ist nichts passiert, Herr Spahn. Drei Jahre
reden Sie über die Pflege, und nichts ist passiert.
({14})
Diese Regierung lässt die Alten und die Kranken - diejenigen, die mit Schmerzen in den Heimen liegen -, weil
sie keine Lobby haben, im Stich und zurück. Das ist aus
meiner Sicht die Schande. Dies wird auch nicht mehr
lange so weitergehen.
Hilde Mattheis wird nachher unsere Gegenkonzepte
vorstellen.
({15})
Wir haben ein umfangreiches Papier. Es soll nicht der
Eindruck entstehen, wir hätten keine Gegenvorschläge.
({16})
- Auch ich habe zur Sache gesprochen; ich habe davon
gesprochen, dass es eine Schande ist, dass Sie die
Reform drei Jahre lang angekündigt und nichts auf die
Reihe bekommen haben. Ich habe Ihnen beschrieben,
wie die Reform hätte aussehen sollen. Wie sie konkret
aussehen wird, wenn wir wieder regieren, wird Ihnen
später beschrieben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes
Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es war die christlich-liberale Koalition, die 1995
das Fundament für das Haus der Pflegeversicherung
gelegt, die ersten Geschosse gebaut und die Zimmer eingerichtet hat.
({0})
Heute stocken wir um ein Geschoss auf und bauen viele
neue Zimmer.
({1})
- Hören Sie genau zu!
500 000 Demenzkranke - das sind so viele, wie die
Stadt Nürnberg Einwohner hat - erhalten erstmals Leistungen. Pflegebedürftige entscheiden künftig selbstbestimmt, was für sie beste Hilfe und Pflege ist. Der Grundsatz „Wiederherstellung vor Pflege“ wird nachhaltig
umgesetzt. Neue Wohnformen entstehen. Pflegebedürftige und Pflegekräfte werden künftig mitreden, auch bei
der Bewertung und Einstufung der Pflege. Die Selbsthilfe
erhält mehr Geld. Beim Medizinischen Dienst wird der
Dienstleistungscharakter in den Vordergrund gestellt.
Versicherte werden nicht alleingelassen, sondern frühzeitig beraten - mit verbesserter Rechtssicherheit. Wer in
der Familie selber pflegt, soll nun erstmals Erholungsmöglichkeiten bekommen. Familienangehörige werden
künftig Pflegegeld und Verhinderungspflege gleichzeitig
erhalten. Angehörige, die pflegen, erhalten eine höhere
Rente, und in Pflegeheimen wird die ärztliche und zahnärztliche Versorgung auf eine neue, sichere Grundlage
gestellt. Das kostet genau 1 100 Millionen Euro. Diese
sind gut angelegt, und sie werden nicht mit der Gießkanne verteilt, sondern schwerpunktmäßig dort eingesetzt, wo wir das Geld am dringendsten brauchen.
({2})
Jeder von uns kann plötzlich pflegebedürftig werden.
Viele machen sich Gedanken: Was wird dann sein?
Eines wissen wir alle gemeinsam sehr genau: Aufgrund
der demografischen Entwicklung wird die Zahl der
Demenzkranken in den nächsten Jahrzehnten steigen.
Schon heute leisten vor allem die Familienangehörigen
in der ambulanten Versorgung Demenzkranker eine
großartige Arbeit. Die Familienangehörigen, die die
Pflege bewerkstelligen, sind letztlich die Heldinnen und
Helden. Deshalb wird der Schwerpunkt auf die ambulante Versorgung der Demenzkranken gelegt.
({3})
Um ein Gespür dafür zu bekommen, worum es dabei
geht - sind das Peanuts, oder geht es um die Substanz? -,
nenne ich zwei Zahlen: Ab Januar nächsten Jahres sollen
erstmals für die ambulante Versorgung Demenzkranker
nicht 20, nicht 100, nicht 200, sondern 225 Euro im Monat gezahlt werden.
Neben den Demenzkranken wollen wir eine Vielzahl
anderer Gruppen Pflegebedürftiger stärken.
Herr Kollege Singhammer, darf der Kollege Seifert
Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Aber gerne.
Herr Kollege Singhammer, Sie haben gerade besonders betont, dass Ihre sogenannte Reform die häusliche
Pflege - das ist das, was die Familienangehörigen tun am meisten stärkt. Warum, bitte schön, setzen Sie die
Geldleistungen dann nicht endlich mit den Sachleistungen gleich? Sie sorgen doch dafür, dass weiterhin für
einen fremden Dienst, der beauftragt wird, viel mehr
Geld bezahlt wird, als für die Pflege durch eigene Angehörige. Sie widersprechen sich in Ihrer Rede damit
selbst. Wo ist die Konsistenz in Ihrem Konzept, in Ihrer
Arbeit?
Herr Kollege Seifert, wir nehmen nicht nur Verbesserungen im Bereich des Pflegegeldes, sondern auch im
Bereich der Pflegesachleistungen vor. Beides sind unterschiedliche Arten der Pflegehilfe. In dem einen Fall
müssen Sie direkt etwas ausgeben für die Leistungen,
die bezahlt werden müssen. In dem anderen Fall können
Sie mit dem Pflegegeld im Sinne eines Budgets agieren.
Das ist der Unterschied. Wir bleiben bei dem System,
aber die Ansätze für beide Leistungen werden deutlich
erhöht. Ich denke, das muss man hier einfach einmal
festhalten.
Wir werden neben den Demenzkranken einer Vielzahl
von Gruppen Pflegebedürftiger helfen. Das Thema
Minutenpflege hat die Diskussion über viele Monate
hinweg bestimmt. Jeder hat festgestellt, dass diese Art
der Pflege renovierungsbedürftig ist. Wir ändern das
jetzt. Wir beschreiten einen neuen Weg: Die Minutenpflege wird von einer flexiblen Zuwendungspflege abgelöst. Was heißt das? Der einzelne Pflegebedürftige kann
sich erstmals aussuchen, wie viel Grundpflege, wie viel
hauswirtschaftliche Versorgung oder Betreuung er in
Anspruch nimmt. So kann er für sich selber ein individuell maßgeschneidertes Paket schnüren. Das ist ein
Fortschritt. Wer dies kritisiert und nicht will, der soll
dem Pflegebedürftigen in die Augen schauen und sagen:
Ich möchte, dass es bei der Minutenpflege bleibt; ich bin
gegen die Einführung der Zuwendungspflege.
({0})
Wir wollen sie.
({1})
Viele Pflegebedürftige leiden unter einer schwierigen
Entscheidung: Die Versorgung zu Hause wird zunehmend schwieriger, aber in eine stationäre Einrichtung
möchte man nicht. Deshalb schaffen wir eine neue Möglichkeit für all diejenigen, die zu Hause nicht mehr versorgt werden können, aber auch nicht in ein Heim wol20610
len. Wir geben Pflegebedürftigen ein Stück mehr
Freiheit, indem jeder Pflegebedürftige 2 500 Euro als
Gründungszuschuss für eine ambulant betreute Wohngruppe bekommt, in der er selbstständig Pflegekräfte
beschäftigen kann.
Wir sehen vor allem auch für die Pflegenden in der
Familie, die einen großartigen Dienst leisten, eine eigene
Regenerationsmöglichkeit vor. Das heißt, dass die Pflegenden auch einmal in Kur gehen können. Wer täglich
pflegt und dadurch stark beansprucht wird, braucht auch
einmal eine Auszeit für sich selbst. Er soll die pflegebedürftigen Angehörigen aber mitnehmen können, wenn er
zur Kur fährt. Wir wissen, dass viele, die das Angebot
bekommen, eine Kur zu machen, in Sorge sind, was in
der Zeit mit den pflegebedürftigen Angehörigen
geschieht. Deshalb soll er sie mitnehmen können, natürlich nicht, um sie während der Kur zu pflegen, sondern
einfach, um sie in der Nähe zu wissen und den Kontakt
halten zu können. Das ist ein Stück mehr Menschlichkeit, auf das viele schon lange gewartet haben.
({2})
Wir werden auch im stationären Bereich etwas tun.
Wir haben 77 Millionen Euro vorgesehen, damit Menschen, die sich in einem Pflegeheim befinden, dort künftig eine gute ärztliche und zahnärztliche Versorgung
garantiert bekommen. Wir haben mit dem Versorgungsstrukturgesetz begonnen - 20 Millionen Euro für die
zahnärztliche Versorgung -, und setzen dies jetzt fort.
Das ist richtig; das macht Sinn.
Ich sage an dieser Stelle aber auch: Das Haus der
Pflege wird noch weitere Stockwerke benötigen.
({3})
Ich denke zum Beispiel an die demografische
Reserve. Die demografische Entwicklung ist nichts Klinisches, das wir im Reagenzglas beobachten können,
sondern etwas, das Deutschland in einer Weise umformen wird, wie wir es uns, glaube ich, noch gar nicht vorstellen können. Ich sage an dieser Stelle auch: Alle
Zuwanderung der Welt wird das Problem nicht lösen,
wenn wir in unserem Land nicht wieder mehr Kinder
bekommen. Was werden wir tun? Wir wollen eine private zusätzliche Vorsorge, für die steuerliche Erleichterungen vorgesehen sind; zugleich brauchen wir für diejenigen, für die steuerliche Erleichterungen nicht attraktiv
sind, einen Zuschuss. Wir brauchen beides. Wir wollen
diese beiden neuen Stockwerke synchron in das Gesetzgebungsverfahren einbringen.
({4})
Ich möchte noch einmal auf das Stockwerk „Pflegebedürftigkeitsbegriff“ eingehen.
({5})
Der Begriff der Pflegebedürftigkeit bedarf noch einer
Nachjustierung. Wenn wir die Gruppen der Pflegebedürftigkeit neu bewerten - 0 bzw. I bis V -, muss bei
2,3 Millionen schon jetzt Pflegebedürftigen - das ist
doch klar - vorher exakt festgelegt werden, wie wir das
gestalten. Wann beginnt die Begutachtung? Wie viele
Fachkräfte brauchen wir dazu? Mit welcher Gruppe
beginnen wir? Diese Fragen muss verantwortungsvolle
Politik vorher klären.
({6})
Ich danke dem Kollegen Wolfgang Zöller, dass er die
schwierige Aufgabe übernommen hat, den Beirat weiter
zu begleiten, um bald zu einem Ergebnis zu kommen.
({7})
Wir schieben das nicht auf die lange Bank. Die jetzige
Einstufung gerade der Demenzkranken ist die Stufe 0 in
dem neuen Katalog. Das heißt, das ist nicht weiße Salbe,
sondern wirksame Therapie. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff kommt nicht erst in Zukunft, sondern er
wird schon jetzt ein Stück weit umgesetzt und wird
damit zur Realität.
({8})
Lassen Sie mich zum Schluss einen weiteren wichtigen
Punkt ansprechen. Gute Pflege braucht vor allem Pflegefachkräfte. Pflegefachkräfte brauchen eine gerechte Entlohnung, einen gerechten Gegenwert für ihre aufopferungsvolle Arbeit.
({9})
Sie brauchen eine gute Qualifikation; auch das ist wichtig. Was wir aber nicht brauchen, ist eine verpflichtend
vorgeschriebene Akademisierung des Pflegeberufs mit
der Folge, dass jeder, der in der Pflege tätig sein will,
noch vor der Ausübung der Fachpflege eine Hochschulzugangsberechtigung nachweisen muss. Das brauchen
wir nicht.
({10})
- Das will die EU, Frau Ferner. Wir kämpfen hoffentlich
gemeinsam dafür, dass das nicht Realität wird.
Was Pflegekräfte vor allem brauchen, ist ein großes,
weites Herz.
({11})
Das, was sie tun, ist praktizierte Nächstenliebe.
({12})
Deshalb, Herr Kollege Lauterbach, ist es wichtig, in
einer solchen Debatte all denjenigen, die beruflich oder
ehrenamtlich in ihrer Familie jemanden pflegen, ein
herzliches Dankeschön zu sagen.
({13})
Sie verdienen dafür große Anerkennung und großen
Respekt. Herzlichen Dank all denen, die diese wunderbare Nächstenliebe jeden Tag praktizieren!
Danke schön.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Senger-Schäfer für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Gute Pflege ist ein Menschenrecht. Für die
Linke steht fest: Eine diskriminierungsfreie, menschenwürdige Pflege ist für alle Menschen zu sichern.
({0})
Das Haus der Pflege - Sie bemühten diesen Begriff vorhin so trefflich - ist morsch und droht einzustürzen. Die
Angehörigen und die zu Pflegenden drohen unter den
Trümmern begraben zu werden. Das ist die Wahrheit.
Das ist das, was Sie mit Ihrem Gesetz anrichten.
({1})
Eine tatsächliche Neuausrichtung der Pflegeversicherung ist längst überfällig. Alle unmittelbar Betroffenen,
also die Angehörigen und die Beschäftigten der Pflegeberufe, müssen Berücksichtigung finden. Niemand darf
Nachteile erleiden. Die Politik hat die Rahmenbedingungen für eine Neuausrichtung der Pflegeversicherung zu
setzen, ohne Wenn und Aber.
({2})
Seit Jahren besteht Konsens, dass es dringenden
Handlungsbedarf gibt; das haben, wie ich glaube, mittlerweile alle begriffen. Trotzdem ist der große Wurf bisher nicht gelungen. Die gesetzgeberischen Maßnahmen
der vergangenen Jahre ändern nichts an der Tatsache,
dass es nach wie vor gravierende Missstände gibt. Wir
haben ja schon öfter vom dritten Pflegebericht des Medizinischen Dienstes gehört, dem zu entnehmen ist, dass
bei sagenhaften 40,7 Prozent der Pflegebedürftigen, bei
denen das Risiko des Wundliegens besteht, Versäumnisse bei der Vorbeugung festgestellt wurden. Das ist ein
Skandal.
({3})
Weil aufgrund von zu wenig Pflegepersonal gerade
bei Menschen mit Demenz zu wenig Zeit für die Betreuung vorhanden ist, bleibt oft nichts anderes übrig, als
diese Menschen mit Medikamenten ruhigzustellen. Das
ist medikamentöse Freiheitsberaubung.
({4})
Im Klartext gesprochen: Pflegenotstand, Fachkräftemangel und Unterfinanzierung gipfeln in unhaltbaren
Zuständen. Diese Zustände schreien geradezu nach Veränderung und nicht nach Beschönigung. Wir brauchen
Strukturen, welche die bedarfsgerechte Versorgung von
älteren Menschen und jüngeren pflegebedürftigen Menschen sicherstellen und gleichzeitig vor Armutsrisiken,
Überforderung und Überlastung des Umfeldes schützen.
Eines steht für die Linksfraktion fest: Um dem Menschenrecht auf gute Pflege gerecht zu werden, sind
Selbstbestimmung und Teilhabe zu ermöglichen.
({5})
Die Minutenpflege muss beendet und eine neue Bedarfsermittlung geschaffen werden. Dafür steht der neue Pflegebegriff. Auch wenn es immer wieder anders dargestellt wurde: Dieser liegt nun - man kann es kaum
glauben - seit gut drei Jahren vor. Obwohl es zu Beginn
des Jahres 2011 ein großspuriges Bekenntnis zum Jahr
der Pflege aus dem Munde von Herrn Rösler gab, schafft
es Herr Minister Bahr bis heute nicht, eine politische
Entscheidung zur Umsetzung des neuen Pflegebegriffs
zu fällen.
({6})
In der Systematik bleibt im Grunde alles, wie es ist - es
werden nur Stockwerke aufgebaut, wie wir gehört haben -, auch wenn behauptet wird, dass ein paar Hundert
Euro ein Vorgriff auf den neuen Pflegebegriff seien.
Wäre dem so, dann wäre es doch auch möglich gewesen,
sich mit einem neuen finanziellen Rahmen auf die
Umsetzung des neuen Pflegebegriffs festzulegen.
({7})
Aber eine Entscheidung im Rahmen des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes scheut der Herr Minister wie der
Neoliberalismus das Urteil von Ratingagenturen. Ich
sage: Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz der schwarzgelben Bundesregierung verdient schlicht seinen Namen
nicht.
({8})
Bei allem Respekt vor den Verbesserungen, die die
Pflegeversicherung mit sich gebracht hat:
({9})
Der Geburtsfehler der Pflegeversicherung liegt ja
gerade darin begründet, dass Menschen mit Demenz von
Anfang an ausgeklammert wurden, da sich der Fokus
allein auf den somatischen Bereich gerichtet hat, und
zwar - das ist der eigentliche Skandal - aus Kostengründen. Das Gebot der Stunde ist ein fundamentaler Wandel. Die Zeit der Flickschusterei muss in der Pflege ein
für allemal vorbei sein.
({10})
Dafür setzt sich die Linke mit dem heute vorliegenden Antrag „Pflege tatsächlich neu ausrichten - Ein
Leben in Würde ermöglichen“ ein. Ich kann es nicht oft
genug betonen: Es gilt, endlich den neuen Pflegebegriff
umzusetzen. Dafür gibt es gute Gründe: Der derzeitige
Pflegebegriff ist pflegewissenschaftlich nicht mehr vertretbar, und der veraltete Pflegebegriff ist schlicht ungerecht.
Ich möchte Ihnen auch sagen, warum: Wenn ein
Mensch aufgrund eines Schlaganfalls körperlich nicht
mehr in der Lage ist, sich selbst zu waschen, dann gilt er
als Pflegefall. Aber die Situation, dass beispielsweise
meine Nachbarin aufgrund ihrer Demenz hilflos und verwirrt mitten in Berlin auf einer Straßenkreuzung steht
und nicht mehr weiß, wie sie wieder nach Hause kommt,
ist unter Umständen lebensgefährlich, wird allerdings
bis heute in der Pflegeversicherung nicht ausreichend
berücksichtigt. Genau das müssen wir ändern.
({11})
Unfähigkeit oder aber eine bloße Hinhaltetaktik hilft den
Betroffenen nicht.
Noch ein Wort zur Finanzierung: Über Monate hinweg eierte die Koalition in Sachen verpflichtende kapitalgedeckte Pflegezusatzversicherung herum, weil das
FDP-geführte Gesundheitsministerium offenbar ein Problem hat: Einerseits soll die Versicherungsindustrie ihr
liberales Zubrot bekommen, andererseits scheint der
Koalitionspartner, hier insbesondere der bayerische
Ableger, zu ahnen, dass ein solch ungerechtes, unsoziales und zudem unsicheres Finanzierungsmodell bei den
Menschen nicht ankommt.
Anstatt die Finanzierung endlich auf eine solide und
gerechte Grundlage zu stellen und das nicht mehr zeitgemäße und ungerechte Nebeneinander von sozialer und
privater Pflegeversicherung zu beenden, fällt Ihnen
nichts Besseres als eine Beitragserhöhung und eine Aussicht auf eine Riester-Rente ein.
({12})
Über Riester-Renten haben wir in der Vergangenheit ja
genug gehört. Es bleibt zu befürchten, dass diese RiesterPflege am Ende doch nur die Versicherungswirtschaft
pflegt.
({13})
Auch für die Beschäftigten in den Pflegeberufen sind
keine Verbesserungen in Aussicht gestellt. Vielmehr
wird mit der Aushebelung der ortsüblichen Vergütung
dem Lohndumping auch noch Vorschub geleistet. Das
bringt für mich das Fass zum Überlaufen. Besinnen Sie
sich doch auf das, was uns die Menschenwürde vorgibt,
und orientieren Sie sich am heute vorliegenden Antrag
der Linken! Richten Sie die Pflege tatsächlich an den
Bedürfnissen der Menschen aus!
({14})
Die Kollegin Aschenberg-Dugnus ist die nächste
Rednerin für die FDP-Fraktion.
({0})
- Entschuldigung. Das können wir ohne Kollision rechtzeitig korrigieren. - Frau Kollegin Künast, bitte schön,
Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Bahr, Sie haben in Ihrer Rede behauptet, der
Gesetzentwurf enthalte tatsächlich eine Pflegeneuausrichtung. Aber wenn wir in den Entwurf hineinschauen,
stellen wir fest: Ihre Rede war nichts anderes als viel
Schönrederei, Herr Bahr.
({0})
Die Schönrederei ist durch Sie, Herr Singhammer,
noch getoppt worden,
({1})
als Sie vorhin sagten: Pflegekräfte brauchen ein großes
Herz, und wir danken ihnen.
({2})
Tausende von Pflegekräften in diesem Land leisten in
ihrem miserabel bezahlten Job Schwerstarbeit, zum Beispiel in Pflegeheimen. Sie stehen jetzt da, schauen auf
ihre Hand und denken: Diese Koalition hat nicht mehr
als einen lauwarmen Händedruck für mich übrig. - Das,
Herr Singhammer, ist nicht in Ordnung.
({3})
- Das ist nicht in Ordnung.
({4})
Wer öfter in Heimen ist, weiß, wie sich Pflegekräfte
aufreiben.
({5})
- Dazu komme ich gleich. - Die Pflegekräfte lernen in
ihrer Ausbildung, dass der Mensch körperliche Pflege,
die Zuführung von Nahrungsmitteln und Flüssigkeit
braucht, dass aber zu seiner Existenz eben auch soziale
Zuwendung und Nähe gehören. Die Pflegekräfte in
Deutschland haben dafür so gut wie überhaupt keine
Zeit. Wegen solcher Defizite können Menschen sterben.
Weil der Job so schwer ist und so schlecht bezahlt
wird und weil es auch psychisch schwer ist, all dieses
Leid und die Sorgen zu sehen, ist die Wahrheit: In
Deutschland gibt es längst Altersheime, bei denen die
Aufsicht sagen muss: Wir schließen bei euch Stationen,
weil ihr kein ausreichendes Personal mehr habt. - Sie,
Herr Singhammer und Herr Bahr, reagieren aber nur mit
einem warmen Händedruck. Denn Ihr Pflege-NeuausRenate Künast
richtungs-Gesetz richtet nichts neu aus und löst diese
Probleme nicht.
({6})
Schauen Sie sich die Situation einmal an: Wir haben einen demografischen und einen sozialen Wandel. Wir wissen, dass der Wandel in den Familienstrukturen - weniger
Großfamilien, verschiedene Generationen leben an verschiedenen Orten - und der Wandel der Krankheitsbilder
im Ergebnis eine wirkliche Neuausrichtung erfordern,
wenn wir mit alten Menschen solidarisch umgehen wollen.
Es ist gerade von meiner Vorrednerin gefragt worden:
Was ist denn in Heimen los? Selbst der Medizinische
Dienst hat festgestellt, wie oft durch nicht ausreichende
Behandlung ein Wundliegen, ein Dekubitus, zustande
kommt. Jeder, der das einmal bei einem Menschen erlebt
hat, weiß: Das geht oftmals nicht mehr weg, wenn man
einmal bettlägerig ist. Das verschlechtert den Allgemeinzustand und schränkt die Möglichkeiten der Menschen immer weiter ein bis hin zu dem Punkt, dass die
Menschen allein in ihren Zimmern oder auf den Fluren
ohne Zuwendung sitzen und sich stundenlang niemand
mit ihnen beschäftigt. Für all das bräuchte man eine
wirkliche Qualitätsoffensive in der Pflege. Das haben
Sie nicht einmal ernsthaft angepackt, Herr Bahr.
({7})
Sie werden - das gebe ich zu - die Situation der
Demenzkranken ein klein wenig verbessern. Aber das ist
auch nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Ihre geplante Beitragssatzerhöhung ist auch kein finanzielles Konzept, um die Pflege zukunftsfest zu machen.
Sie hätten den Mut haben müssen, zu sagen: Jetzt gehen
wir einen großen Schritt. - Der hätte die Reform des
Pflegebedürftigkeitsbegriffes sein müssen. Der Beirat
hat Bedarfsstufen entwickelt. Warum sind sie in diesem
Gesetzentwurf nicht enthalten? Das ist doch die Frage.
({8})
- Es ist klar, dass das nicht so einfach geht. Lassen Sie
mich aber einschieben: Dass diese Koalition schwierige
Probleme nicht lösen kann, davon war ich sowieso überzeugt.
({9})
Das können Sie weder bei den Kindern noch bei den alten Menschen, weil es immer nur um Machterhalt geht.
Wenn es so schwer ist - drei Jahre sind eigentlich eine
lange Zeit -, dann sagen Sie doch einfach, dass Sie einen
Monat länger brauchen. Aber machen Sie es richtig!
({10})
Sie reparieren nur an dieser Geschichte herum.
Wenn wir den Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht reformieren und nicht konkret sagen, welche Leistungen man
bei welchen Krankheiten bekommt, dann werden wir der
heutigen Situation nicht gerecht. Nehmen wir die Demenzkranken; wir könnten auch jemanden nehmen, der
einen Schlaganfall hatte. Wenn Sie nur messen wollen,
ob jemand rein physisch in der Lage ist, die Hand in den
Waschlappen zu stecken und sich zu waschen, dann haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, dass Personen,
die dement sind oder einen Schlaganfall hatten, schlicht
und einfach vergessen, welche Funktion ein Waschlappen hat und was sie damit machen wollten. Es entspricht
aber nicht unserer Vorstellung von einem Alter in
Würde, dass man die Menschen mit diesen Problemen
alleinlässt. Sich zu waschen, für Sauberkeit zu sorgen,
sich anzuziehen, ausgehen zu können und Kontakte zu
haben, all das gehört halt dazu. Sie kümmern sich aber
darum nicht.
({11})
- Nein, Sie kümmern sich darum nicht wirklich. Sie
müssten dann tatsächlich den Pflegebedürftigkeitsbegriff
ändern.
Auch was Sie über pflegende Angehörige gesagt haben, war nichts anderes als Schönrederei.
({12})
In Wahrheit ändern sich ein paar Begriffe, aber es ändert
sich nichts Wesentliches für pflegende Angehörige.
({13})
Das betrifft insbesondere die Frauen. Die Frauen übernehmen die Pflege. Sie werden aber durch Ihre finanziellen Regelungen nicht sozial abgesichert, kommen nach
Jahren nicht wieder in ihre Jobs hinein und geraten
direkt in die Altersarmut. Das ist nicht in Ordnung. Das
ist keine Neuausrichtung der Pflege.
({14})
Ein letzter Gedanke, meine Damen und Herren: Ich
habe dem neuesten Stern entnommen, wie sehr Frau von
der Leyen jetzt wieder kämpft - da müssen Sie sich wehren -, weil eine Frau, die in irgendeinem Kaufhaus arbeitet, einen schlechten Arbeitsvertrag hat. Vielleicht können wir eines Tages einen Artikel schreiben, in dem
steht: Gegen Sie, Frau von der Leyen und Herr Bahr,
müssen sich die Pflegekräfte wehren. Denn Sie lassen
die Pflegekräfte, viele davon aus Osteuropa, mit
800 Euro im Monat nach Hause gehen. Sie machen Vorschläge, damit mehr Ärzte ins Altersheim kommen, und
geben denen dann noch eine Extravergütung. Das ist
anscheinend nötig. Aber in der Pflege, in der im Wesentlichen Frauen arbeiten, reduzieren Sie die Löhne noch,
({15})
weil Sie die Zulassung von Heimen nicht mehr von der
Bezahlung des ortsüblichen Lohns abhängig machen. So
geht keine gute Pflege.
({16})
Wir glauben, dass man zwei Punkte angehen muss.
Erstens muss der Pflegebedürftigkeitsbegriff reformiert
werden, damit auch die psychischen Gegebenheiten mitberücksichtigt werden.
({17})
Zweitens brauchen wir - das ist die einzig sinnvolle
Lösung - eine Bürgerversicherung.
Frau Kollegin.
Nur mit einer Bürgerversicherung in der Pflege können Sie den zukünftigen Kostensteigerungen entgegenwirken und für eine würdevolle Pflege in Deutschland
sorgen.
({0})
Aber da trauen Sie sich nicht heran.
({1})
Nun erhält tatsächlich die Kollegin AschenbergDugnus das Wort.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich würde jetzt gerne zu einer seriösen
Sachdebatte zurückkommen. Ich denke, das können wir
gut gebrauchen.
({0})
Die Menschen, die uns zuhören, haben einen
Anspruch darauf, dass wir die Herausforderungen des
demografischen Wandels in der Pflegeversicherung annehmen. Denn dafür haben uns die Menschen gewählt.
Wir müssen deshalb die Pflegeversicherung zukunftsfest
machen und dafür Sorge tragen, dass alle Menschen in
diesem Lande auch weiterhin würdevoll alt werden können.
Eine Neudefinition der Pflegebedürftigkeit - darin
sind wir uns alle in diesem Hause einig - ist deshalb gerade im Hinblick auf Demenzerkrankungen absolut notwendig. Daran arbeiten wir bereits intensiv. Denn die
Demenzkranken haben unter den Vorgängerregierungen
schon lange genug gewartet.
Wir schaffen mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz
schon vorab, also vor der umfangreichen Neudefinition,
ganz konkrete Verbesserungen.
({1})
Zwei Kernelemente des eingebrachten Gesetzentwurfs
sind: zum einen Leistungsverbesserungen für Demenzkranke und ihre Familien und zum anderen die immer
angemahnte Flexibilisierung der Leistungsinanspruchnahme. Sie müssen den Gesetzentwurf nur lesen.
Im Vorgriff auf eine Neudefinition der Pflegebedürftigkeit wird es nun erstmals richtige Leistungen aus der
Pflegeversicherung für Demenzkranke geben. Heute erhalten Menschen, die an Demenz erkrankt sind, lediglich
100 oder 200 Euro für niedrigschwellige Angebote. Wir
sorgen jetzt dafür, dass bereits in der Pflegestufe 0 Leistungen zur Verfügung stehen. Das heißt konkret, statt
null Euro wie bisher gibt es in der Pflegestufe 0 nun
225 Euro im Monat für Sachleistungen und 120 Euro
Betreuungsgeld. Auch in den folgenden Pflegestufen
wird es mehr Geld geben.
({2})
Das sind zusätzliche Leistungen, die den Demenzerkrankten ab dem 1. Januar 2013 zur Verfügung stehen.
Das können Sie nicht schlechtreden.
Ein weiterer Punkt sind die starren Pflegekomplexe.
Diese wollen wir durch eine Flexibilisierung des Leistungsrechts weiter verbessern. Das ist dringend notwendig; denn das hilft insbesondere den Demenzkranken,
die nicht unbedingt klassische hauswirtschaftliche oder
pflegerische Leistungen benötigen, sondern ganz individuell betreut werden müssen. Das entlastet übrigens
auch die pflegenden Angehörigen, die wirklich eine
unglaublich schwierige, anerkennenswerte und verantwortungsvolle Tätigkeit ausüben.
Was wir nicht wollen, sind starre, festgelegte und unflexible Angebotsstrukturen; denn solche Strukturen helfen niemandem vor Ort. Wir wollen die Eigenständigkeit, die Entscheidungsfreiheit und die Berücksichtigung
individueller Bedürfnisse stärken. Was höre ich da von
der Frau Kollegin Reimann? Ich zitiere: Das ist ein typischer FDP-Ansatz. Die Betroffenen bekommen mehr
Geld und müssen sich dann selbst kümmern. - Meine
Güte! Natürlich ist das der richtige Ansatz. Es darf aber
nicht heißen „Sie müssen sich dann selbst kümmern“,
sondern es muss heißen „Sie dürfen sich endlich selbst
darum kümmern“. Das entspricht genau dem, was die
Menschen vor Ort brauchen.
({3})
Die Menschen wollen für sich bzw. für ihre Angehörigen aus verschiedenen Alternativen selbst aussuchen
können und nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Sie wollen mehr Wahlmöglichkeiten. Sie wollen
mehr Eigenverantwortung und ein selbstbestimmtes
Leben, auch wenn die Alltagskompetenz eingeschränkt
ist. Was sie nicht wollen, ist, dass ihnen von Politikern
vorgeschrieben wird, wie die Pflege aussehen soll.
Deshalb enthält unser Gesetz eine Verbesserung der
frühzeitigen Beratung der Versicherten - das ist das, was
die Menschen brauchen ({4})
und des Weiteren eine Verbesserung der Beteiligung der
Betroffenen sowie eine finanzielle Förderung der Selbsthilfe.
Ich komme jetzt zu einem Punkt, der mir persönlich
sehr am Herzen liegt. Das sind die alternativen Wohnformen. Diese Wohnformen - zum Beispiel Pflege-WG werden nun durch unser neues Gesetz spürbar gestärkt.
Wir waren erst in der letzten Woche in der Pflege-WG
„habitas“ im schleswig-holsteinischen Hammoor, und
ich sage Ihnen: Was wir dort gesehen haben, ist wirklich
beeindruckend; denn was dort angeboten wird, entspricht genau den individuellen Wünschen und Bedürfnissen der Pflegebedürftigen. Dort finden Menschen mit
unterschiedlichen Einschränkungen zueinander und organisieren sich einen schönen und wirklich würdevollen
Lebensherbst.
Man kann beispielsweise als Demenzkranker mit
Pflegestufe 0 dort einziehen und auch dort bleiben, wenn
man irgendwann Pflegestufe 3 erhält. Die Bewohner
müssen dann nicht in eine andere Einrichtung umziehen,
sondern können bis zu ihrem Lebensabend dort bleiben,
wo sie sich in der Gemeinschaft wohlfühlen. Die Menschen fühlen sich dort auch deshalb so wohl, weil besonders die Mitarbeiter hervorragende Arbeit leisten. Sie
nehmen nämlich die Demenzkranken so an, wie sie sind.
Es gibt zum Beispiel keine festen Frühstückszeiten.
Vielmehr wird auf den individuellen Lebensrhythmus
der Mieter - so werden die Menschen dort genannt - eingegangen. Das ist einfach toll, und das muss man hier
auch einmal sagen.
({5})
Es gibt viele gute Beispiele für unterschiedliche
Pflege vor Ort. Ich kann allen Kollegen nur raten, sich
einmal umzuschauen. Ein weiteres Beispiel ist die
„Pflege LebensNah“ in Rendsburg. Dort werden nicht
nur Pflegebedürftige betreut. In einem angeschlossenen
Café kümmern sich die Mitarbeiter aufopferungsvoll
auch um das Thema Demenz. Es ist besonders wichtig,
dass die Angehörigen im Umgang mit Demenzerkrankten geschult werden, beraten werden und Hilfestellung
erhalten. Das ist ganz besonders wichtig.
Mit der Stärkung neuer Wohnformen greifen wir genau das auf, was den tatsächlichen Bedürfnissen der
Menschen entspricht.
Niemand soll behaupten: Mit der Reform X oder Y
machen wir das Leben eines schwerstpflegebedüftigen
Menschen wieder so unbeschwert wie das eines 20-Jährigen. Darum geht es auch nicht. Es geht bei der Organisation des Lebensherbstes darum, das Leben so angenehm, so erträglich und so würdevoll wie möglich zu
gestalten, für die Pflegebedürftigen und für die Angehörigen. Genau das ermöglicht unser Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was erleben wir heute hier in diesem Hohen Hause? Das
ist ein typisches FDP-Muster: Es wird zwei Jahre immer
wieder groß angekündigt, und dann wird etwas vorgelegt, was milde mit dem Wort Flickschusterei bezeichnet
werden kann. Es geht um ein Pflege-NeuausrichtungsGesetz, das diesen Namen nicht verdient.
({0})
Zwei Jahre hat die FDP damit zugebracht, immer wieder
zu vertrösten und immer wieder auf ein Gesamtkonzept
zu verweisen. Jetzt liegt ein Flickenteppich vor. Einzelne
Facetten von dem, was uns die Fachwelt immer wieder
gesagt hat, sind zwar aufgegriffen worden,
({1})
aber ein Gesamtkonzept ist nicht zu erkennen.
Das FDP-geführte Ministerium hat angekündigt,
1 Milliarde Euro ausgeben zu wollen, und gefragt, was
dafür zu bekommen sei. Dann wurde gesagt, es solle
etwas für Menschen mit Demenz und etwas für Angehörige getan werden, und vielleicht solle eine Unterstützung für alternative Wohnformen gegeben werden. Sie
haben versucht, die 1 Milliarde Euro irgendwie auf diese
Bereiche zu verteilen. Das aber hat nichts mit den wirklichen Herausforderungen im Bereich der Pflege zu tun.
Sie, Herr Zöller, wissen genau, dass der Fachbeirat, der
schon vor drei Jahren einen Bericht vorgelegt und Umsetzungsvorschläge gemacht hat, uns und den Akteuren
im Bereich der Pflege fachlich fundierte Hinweise gegeben hat.
Was aber macht diese Regierung? Sie verschiebt permanent die Umsetzung. Sie besitzt auch noch die Unverfrorenheit, zu sagen: Wir greifen alles auf und sorgen für
die größten Verbesserungen für Menschen mit Demenz. Dabei wissen Sie, Herr Bahr - da verkaufen Sie sich
wirklich unter Wert; das sollten Sie nicht tun -, dass mit
dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz von CDU/CSU
und vor allen Dingen SPD schon längst die richtigen
Weichen für Verbesserungen für Menschen mit Demenz
gestellt wurden.
({2})
Menschen, die Hilfe brauchen, nur mit Mantras abzuspeisen, kann man nicht als seriös bezeichnen.
({3})
Ich will anhand einiger Punkte - Herr Kollege
Lauterbach hat das freundlicherweise angekündigt - auf
unser Konzept eingehen.
Erstens. Wir haben uns längst zu Anfang dieser
Legislaturperiode auf den Weg gemacht. Wir fordern
vehement, dass eine fundamentale Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs erfolgen muss. Die Einsetzung eines zweiten Fachbeirats, die Sie damit begründen, dass
eine fachlich fundierte Arbeit vorgelegt werden soll, ist
ein Schlag ins Gesicht aller, die sich im ersten Fachbeirat
massiv engagiert haben.
({4})
Jetzt sollen all diese Menschen, die einen guten Bericht
abgegeben und die das Fundament für eine neue Ausrichtung gelegt haben,
({5})
sich noch einmal zusammensetzen
({6})
und all das, was sie bereits gesagt haben, noch einmal
formulieren - und das nur, weil Herr Zöller auf einmal
der Vorsitzende ist. Das geht nicht. Vielmehr muss der
Pflegebedürftigkeitsbegriff jetzt reformiert werden; denn
Menschen, die pflegebedürftig sind, haben einen
Anspruch auf Selbstbestimmung und Teilhabe. Das ist
unser vordringliches Ziel: Selbstbestimmung und Teilhabe.
({7})
Zweitens. Wir wollen die Unterstützung von Pflegepersonen. Sie sagen zu Recht, dass Angehörige eine hervorragende Arbeit leisten. Wenn wir diese Angehörigenarbeit in unserem System nicht hätten, sähe es ganz
schlecht aus; wirklich wahr. Aber die Angehörigen brauchen auch wirkliche Unterstützung: mehr Unterstützung
durch Kurzzeit- und Verhinderungspflege, Verbesserungen bei der Reha, aber auch Lohnersatzleistungen für die
Pflegezeit.
({8})
Wo ist denn dieser Vorschlag? Den vermisse ich bei
Ihnen. Wer kann sich denn die Freistellung leisten? Die
Verkäuferin? Nein! Wir wollen, dass die Pflegezeit, dieses halbe Jahr - 1 000 Stunden für die Pflege -, nicht nur
flexibler genommen werden kann, sondern auch mit
Lohnersatzleistungen unterlegt wird.
Drittens. Das ist, glaube ich, etwas, das Sie sich tatsächlich noch einmal überlegen sollten. Sich hier hinzustellen und zu sagen: „Auch Fachpflegekräfte sind ein
wichtiges Potenzial“, alles Mögliche dazu auszuführen,
wie groß etwa der Dank der Gesellschaft für diese
Berufsgruppe sei, und dann den ortsüblichen Tarif einfach mal wegzurasieren
({9})
und das dann zu begründen mit - man höre und staune! Bürokratieabbau, das ist nicht nur schräg; das ist
zynisch. Was diese Pflegefachkräfte brauchen, sind eine
ordentliche Bezahlung und eine ordentliche ganzheitliche Ausbildung.
({10})
Deswegen fordern wir eine generalistische Ausbildung,
Gebührenfreiheit für die Ausbildung und vor allen Dingen auch gute Bezahlung.
Wenn Sie nicht mit dieser Botschaft in die Debatte
hineingehen, dann - das kann ich Ihnen sagen - wird
Ihnen alles das nicht gelingen, was Sie vielleicht versuchen, etwa Arbeitskräfte aus dem europäischen Ausland
hierherzuholen. Wir brauchen viele Bausteine, um die
Akzeptanz für die Pflegeberufe zu erhöhen, und gute
Bezahlung ist ein solcher Baustein.
({11})
Genauso zynisch finde ich die Unterstützung für
Wohngruppen. Soll das ein Wettbewerb um diese
30 Millionen Euro werden? Soll sich eine an Demenz
erkrankte Witwe, Pflegestufe I, auf die Wettbewerbsstraße begeben und für diese 2 500 Euro Schlange stehen?
({12})
Sie wollen dafür 30 Millionen Euro ausgeben und verkünden das als den großen Wurf. Dabei ist diese Entwicklung „Unterstützung alternativer Wohnformen“
etwas, das wir schon längst auf den Weg gebracht haben.
Die Unterstützung muss ausgebaut werden - ja, richtig -,
({13})
aber nicht mit einem Wettbewerb der Pflegebedürftigen
untereinander, sondern verstetigt, ordentlich organisiert
und mit einer Beratungsstruktur,
({14})
die sich nicht nur auf die §§ 7 und 7 a SGB XI, sondern
auch auf die Pflegestützpunkte bezieht.
({15})
Pflegestützpunkte - das ist mein letzter Punkt - kommen bei Ihnen mit keinem Wort vor. Dabei haben sie
sich dort, wo sie etabliert und gut gemacht sind - ich
nenne da nur Rheinland-Pfalz -, wirklich bewährt; denn
so kann man Menschen weit im Vorfeld von Pflegebedürftigkeit erreichen. Die Antwort, die Sie am 16. April
auf eine Kleine Anfrage von uns gegeben haben, spricht
da Bände. Sie bestätigen: Wichtig ist ein Case Management. Auf die Frage 26, in der es darum geht, ob Sie die
Pflegestützpunkte ausbauen, antworten Sie: Nein. - Das
haben Sie also nicht vor. Interessant, kann ich da nur
sagen.
Frau Kollegin.
Das, was Sie hier vorgelegt haben, sind Versatzstücke. Herr Bahr, ich erwarte mehr von Ihnen; denn das ist
nicht ein kleines x-beliebiges Reförmchen; das ist die
Pflegereform, und da geht es um Menschen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Jens Spahn für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem der Kollege Lauterbach und dann noch einmal
die Frau Kollegin Mattheis angekündigt haben, sie würden das Konzept der SPD vorstellen, warte ich immer
noch darauf.
({0})
Sie haben sich an irgendwelchen Kampfbegriffen abgearbeitet, aber von Ihrem Konzept haben wir, bis jetzt
wenigstens, noch kein Wort gehört, und das ist schade.
({1})
Das ist deswegen schade, weil die Pflege im Grunde das
große gesellschaftspolitische Thema dieses Landes ist,
({2})
und zwar für jeden Einzelnen in den Familien wie auch
für uns als Gesellschaft insgesamt.
Nicht jeder hat Kinder; aber jeder hat Eltern, und
jeder wird sich mit Sicherheit im Laufe seines Lebens
intensiv in der eigenen Familie mit dieser Frage auseinandersetzen müssen. Das ist eine Frage, die auch viel
mit Emotionen zu tun hat, mit gegenseitigen Erwartungen von Kindern und Eltern, ohne Zweifel auch mit Enttäuschungen und Frustrationen. Dabei handelt es sich
um eine Debatte, die schwer zu führen ist. Auch der
Gedanke, dem eigenen Vater Windeln anlegen oder die
eigene Mutter füttern zu müssen, und aus Sicht der
Eltern der Gedanke der eigenen Unzulänglichkeit, Dinge
nicht mehr tun zu können, vielleicht aufgrund von
Demenz die eigene Familie nicht mehr erkennen zu können, das alles ist schwierig. Das ist schwierig für jede
einzelne Familie und für jeden einzelnen Betroffenen.
Genauso schwierig, wie es für den Einzelnen und für
jede Familie ist, ist es natürlich für uns insgesamt in der
Gesellschaft, diese Debatte zu führen. Wir können uns
gerne immer wieder über einzelne Euro-Beträge auseinandersetzen. Das müssen wir auch; das gehört dazu.
Ein bisschen mehr zur gesellschaftspolitischen Dimension dieser Debatte, etwas mehr Grundsätzliches hätte
ich mir in dieser Diskussion aber auch gewünscht. Bei
dem, was Sie bisher hierzu vorgetragen haben, hat das
leider kaum eine Rolle gespielt.
({3})
Lassen Sie mich dazu Folgendes feststellen - es
wurde vorhin in diesem Zusammenhang das Wort
„Schönrederei“ benutzt -: Wissen Sie, ich habe großen
Respekt - ({4})
- Ja, aber dann bezeichnen Sie es nicht so. Frau Kollegin
Künast hat es gerade Schönrederei genannt. - Ich habe
großen Respekt vor jedem, der einen Angehörigen
pflegt, vor jedem, der ehrenamtlich in diesem Bereich
tätig ist und sich dort einbringt,
({5})
und auch vor jeder Pflegekraft in einer Einrichtung, die
ohne Zweifel einen sehr harten Job leistet. Davor habe
ich großen Respekt.
Sie haben vorhin viel über Schande geredet, Herr
Kollege Lauterbach. Diese Menschen haben es einfach
nicht verdient, dass mit Pauschalverdächtigungen, wie
Sie sie hier geäußert haben, hantiert wird.
({6})
Die eigentliche Schande ist, wie Sie hier geredet haben.
({7})
- Es ist gut, dass Sie den Bericht über die Qualität insbesondere in den Pflegeeinrichtungen ansprechen, der in
dieser Woche diskutiert worden ist.
Um eines vorneweg klarzustellen: Es gibt schwarze
Schafe. Da muss hart durchgegriffen werden. Jeder Fall
von ungerechtfertigtem Freiheitsentzug, schlechter,
mangelnder Ernährung oder zu wenig Trinken ist einer
zu viel. Darüber brauchen wir nicht lange miteinander zu
diskutieren.
Ich würde mir übrigens manchmal wünschen, dass die
Behörden vor Ort dann auch durchgreifen.
({8})
- Das ist keine Frage von Gesetzen, sondern eine Frage
der Umsetzung von Gesetzen,
({9})
manchmal auch vor Ort. Es ist notwendig, dass dann,
wenn es entsprechende Zustände gibt, Einrichtungen
geschlossen werden.
Eines gehört zur Wahrheit aber auch dazu - anscheinend ist es Ihnen ja nicht möglich, eine differenzierte
Diskussion zu führen -: Ich will einmal aus dem gestern
vorgestellten Bericht zur Qualität in der Pflege den Vergleich zwischen 2007 und 2010 zitieren. Sie können sich
ja noch daran erinnern, wie in den Jahren vor 2007 die
Zusammensetzung in der Bundespolitik war. Ich will
diesen Punkt aber gar nicht immer wieder aufgreifen,
auch wenn Sie mit Blick auf den Mai offensichtlich
gerade Wahlkampf machen. Also, Vergleich der Situation in den Einrichtungen von 2007 und der von 2010:
Hilfe bei Essen und Trinken: deutlich besser geworden.
Angebote an demente Heimbewohner: deutlich besser
geworden. Situationsgerechtes Handeln der Pfleger bei
akuten Ereignissen: deutlich besser geworden. Inkontinenzversorgung: deutlich besser geworden. Es gibt
andere Bereiche, in denen die Qualität gleichgeblieben
ist und sie noch besser werden muss. Der Trend ist aber
eindeutig.
Nicht zuletzt durch das, was wir in der Großen Koalition in Bezug auf die Qualitätsberichte und die Kontrollen in den Einrichtungen eingeführt haben, wird die
Qualität besser. Sie muss noch weiter steigen. Aber
reden Sie diesen Trend doch nicht klein, sondern erkennen Sie an, was da von den in diesem Bereich tätigen
Menschen geleistet wird.
({10})
Außerdem wird hier in der Diskussion immer behauptet, wir täten zu wenig, auch finanziell. Wissen Sie, jeder
von uns würde gern deutlich mehr Geld ausgeben; das ist
überhaupt keine Frage. Sie vergessen nur immer den
zweiten Teil: dass es am Ende auch irgendwie finanziert
werden muss.
Wir haben eine zusätzliche Leistung im Volumen von
über 1 Milliarde Euro geschaffen. Das ist übrigens
immer noch viel Geld: 1 000 Millionen Euro.
({11})
Das ist eine Leistungsverbesserung von 5 Prozent. Die
Pflegeversicherung hat heute ein Gesamtvolumen von
etwa 20 Milliarden Euro. Nennen Sie mir ein anderes
soziales Sicherungssystem, bei dem wir in jüngster Zeit
Leistungsverbesserungen in diesem Umfang - 5 Prozent vorgenommen haben. Reden Sie diese Summe doch
nicht klein.
({12})
Dann stellen Sie sich hier hin und sagen: 6 Milliarden
Euro wären schöner. - Wir wüssten auch, was wir mit
6 Milliarden Euro anfangen könnten. In Ihrem Konzept,
das Sie leider nicht vorgetragen haben, ist vorgesehen,
6 Milliarden Euro auszugeben.
({13})
Nur leider sagen Sie nicht viel über die Finanzierung.
Ich weiß nicht, ob Sie wahrgenommen haben: Ganz
Europa spart gerade. Schauen Sie sich einmal an, was
bei den sozialen Sicherungssystemen insbesondere in
den südeuropäischen Ländern gerade passiert - in Griechenland, in Italien, in Spanien, in Portugal und in vielen
anderen Ländern mehr.
({14})
Das passiert nicht zuletzt deswegen, weil über Jahre
Geld ausgegeben wurde, das nicht vorhanden war. Wir
handeln verantwortlich, indem wir so viel Geld zur Verfügung stellen, wie es im Moment möglich ist, und keine
Luftschlösser bauen. Ordnen Sie die Situation doch einmal in eine Gesamtdebatte ein.
({15})
Es ist gerade heute wieder zu lesen - auch das ist
spannend; auch das sagen Sie den Menschen nicht -,
dass wir nach Belgien das Land mit der zweithöchsten
Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sind. Dies liegt nicht zuletzt an den Sozialversicherungsbeiträgen, die zu zahlen sind. Sie fordern hier mal eben
6 Milliarden Euro mehr. Das sind 0,6 Beitragssatzpunkte.
({16})
Nennen Sie diesen Teil der Wahrheit vielleicht auch einmal.
({17})
Es hat ja einen Grund, warum Sie zu Ihrem Konzept
nicht besonders viel sagen.
Dann kommt die Allzweckwaffe: die Bürgerversicherung. Die löst alle Probleme.
({18})
Sie lassen aber immer einen Teil der Wahrheit weg: Die
Menschen, die Sie in diese Versicherung mit einbeziehen
wollen, die Privatversicherten, sind nicht alle Millionäre.
Ich weiß nicht, ob Sie es wissen: Der größte Teil der Privatversicherten sind Beamte, Pensionäre und viele
kleine Selbstständige. Sie tun immer so, als würde die
Bürgerversicherung per se dazu führen, dass auf einmal
wahnsinnig viel Geld für alle zur Verfügung steht. Das
ist Augenwischerei. Das sagen Sie in jeder Debatte. Das
löst aber die Probleme am Ende des Tages nicht, die wir
in Zukunft bei der Finanzierung zu lösen haben.
({19})
Zum Pflegebedürftigkeitsbegriff. Frau Kollegin
Künast ist umfänglich darauf eingegangen. Frau Künast,
so einfach ist es aber am Ende nicht. Sie haben recht damit, dass es schon einen Pflegebeirat gegeben hat, der
gearbeitet hat.
({20})
Dieser Beirat hat Frau Bundesministerin Schmidt am
Ende der Legislatur noch etwas vorgelegt. Aber es ist
doch bezeichnend, dass Ulla Schmidt - ich weiß nicht,
ob Sie sich noch an sie erinnern; Sie wollen ja am liebsten mit dem, was Ulla Schmidt entschieden hat, heute
nichts mehr zu tun haben; das haben wir schon zur
Kenntnis genommen ({21})
in einem Interview im Dezember letzten Jahres gesagt
hat: Wer den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff seriös
umsetzen will, muss die Dinge mindestens zwei bis drei
Jahre vernünftig vorbereiten und dann Schritt für Schritt
umsetzen.
({22})
Mit dem, was bisher vorliegt, geht es nicht. Diesen Teil
vergessen Sie immer. Sie tun immer so, als ob wir das
morgen machen könnten. Es ist schön, dass zumindest
Ulla Schmidt weiß, dass mehr als Überschriften dazu
gehört, wenn man vernünftige Politik machen will.
({23})
Wir sind dankbar dafür, dass unser Kollege Wolfgang
Zöller wie auch Herr Voß und fast alle bisherigen Mitglieder - bis auf einen, wenn ich es richtig in Erinnerung
habe - des Pflegebeirates mit Vertretern aus der Wissenschaft und aus den Verbänden gesagt haben: Wir arbeiten wieder mit, weil wir wissen, dass es nicht ohne
unsere Arbeit geht und wir noch mehr Vorarbeit leisten
müssen.
Sie können sich nicht einfach hier hinstellen und
sagen: Das alles wäre gar nicht nötig. - Jeder, der ein
bisschen Kenntnis hat, weiß, dass diese Arbeit zu leisten
ist, um den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff umzusetzen, was eine große Herausforderung ist. Sie müssen das
System für viele Millionen Menschen anders gestalten;
das muss vorbereitet werden.
({24})
Deswegen sind wir sehr dankbar dafür, dass Wolfgang
Zöller, Herr Voß und die anderen diese Arbeit übernommen haben.
({25})
Auch die Debatte zur Bezahlung der Pflegefachkräfte
nehme ich mit Interesse zur Kenntnis. Ich weiß nicht,
was das bedeuten sollte: Wollen Sie, Frau Künast, Frau
Mattheis, jetzt per Gesetz die Bezahlung festlegen?
({26})
Wollen Sie etwa die Tarifpartner herauslassen? Die Entwicklung bei den Pflegefachkräften geht übrigens eindeutig nach oben. Wenn es Bedarf nach Fachkräften
gibt, steigt der Lohn Schritt für Schritt. Das tut er in diesem Bereich.
Bei den Pflegehilfskräften gibt es ein Problem. Auch
da ist eine differenzierte Betrachtung Ihrerseits offensichtlich nicht möglich. Deswegen haben wir als Koalition bei den Pflegehilfskräften einen Mindestlohn auf
den Weg gebracht und für eine entsprechende Bezahlung
gesorgt.
Bei den Pflegefachkräften ist aber nicht die Bezahlung das Problem; das ist doch nicht das eigentliche
Thema.
({27})
Das Problem sind die Arbeitsbedingungen und die
Belastungen, die es in diesem Bereich gibt. Nicht zuletzt
gibt es auch ein Problem mit der Bürokratie; dies wurde
gerade angesprochen.
({28})
Was alles muss man tatsächlich nachhalten? In diesem
Gesetzgebungsverfahren legen wir stärkere Akzente auf
die Ergebnisqualität und weniger auf die Prozessqualität.
({29})
Ein anderes Thema ist die gesellschaftliche Anerkennung dieser Berufe. Da können Sie sich doch nicht ernsthaft - ich sage es noch einmal - hier hinstellen, Frau
Senger-Schäfer und Herr Lauterbach, und mit einem Generalverdacht gegen die Pflegekräfte arbeiten, wie Sie es
hier getan haben.
({30})
Sie zeichnen ein Bild von der Pflege in Deutschland, das
den tatsächlichen Zuständen in den Einrichtungen und
der Arbeit, die dort geleistet wird, einfach nicht gerecht
wird. Das ist einer der Gründe, warum dieser Job für
viele Menschen unattraktiv ist. Sie reden ihn immer
schlecht; das ist doch das eigentliche Problem.
({31})
Herr Kollege.
Das Gleiche gilt abschließend, Herr Präsident, für die
neuen Wohnformen. Sie sagen: Die neuen Wohnformen
wollen wir nicht; wir wollen sie nicht fördern. Wir sehen
übrigens eine dauerhafte Förderung der neuen Wohnformen vor, gerade weil die Menschen sich eine Zwischenlösung zwischen dem Zuhausewohnen, was manchmal
nicht mehr geht, und einer stationären Einrichtung wünschen. Es geht um ambulant betreute Wohnformen. Es
ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, wie Sie gerade
über diesen Wunsch geredet haben. Wir werden ihn umsetzen; denn im Interesse der Menschen brauchen wir
mehr Flexibilität.
({0})
Lieber Kollege Spahn!
Wir haben sicherlich um jeden Euro gefeilscht, aber
diese 1 Milliarde Euro mit den Schwerpunkten Demenz
und pflegende Angehörige sind gut eingesetzt im Interesse der Menschen.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Ilja Seifert für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herr Spahn, Sie erwarten
grundsätzliche Aussagen. Die hätte ich von Ihnen und
Ihrer Regierung auch erwartet. Herr Singhammer, Sie
haben ein Bild benutzt. Das ist immer sehr gefährlich.
Sie wollen noch zwei Stockwerke auf das Haus bauen.
Ich sage Ihnen: Legen Sie erst einmal ein ordentliches
Fundament.
({0})
Ich kann Ihnen auch sagen, wie das Fundament aussehen muss: Das Fundament muss zum einen darin bestehen, den bereits erarbeiteten Pflegebegriff umzusetzen.
Das heißt, Teilhabe ermöglichen, wenn man pflegebedürftig ist; das heißt auch assistierende Begleitung. Das
zweite Grundelement für das Fundament ist eine vernünftige Finanzierung. Das ist eine Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung und kein Pflege-Riester und Ähnliches.
({1})
Über diese Punkte haben Sie überhaupt nicht ernsthaft
geredet, sondern Sie haben lediglich das Reförmchen,
das in einem dicken Papier angekündigt wird, verteidigt.
Was die Menschen wirklich brauchen, ist, dass sie
selbst dann, wenn sie Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung haben - wenn sie inkontinent oder ein wenig
verwirrt sind -, als Teil der Gesellschaft inmitten der Gesellschaft leben und teilhaben können. Das heißt, sie
brauchen Begleitung; sie brauchen jemanden, der neben
ihnen steht, und zwar nicht als bevormundender Begleiter, sondern als Assistent, der die Bedürfnisse, die Wünsche und die Lebensweise der Betroffenen kennt und auf
sie eingeht. Es braucht jemanden, der die verwirrte Frau,
die auf der Straße steht - das Bild wurde benutzt -, von
der Kreuzung herunterholt, damit sie nicht überfahren
wird.
Das sind die Probleme, die es zu bewältigen gilt; da
können Sie darum herumreden, wie Sie wollen, Herr
Minister. Sie haben nun den Pflegebeirat erneut eingesetzt, und Herr Zöller leitet ihn.
({2})
Ich habe alle Achtung vor Herrn Zöller als Person, aber
er leitet den Beirat, weil Herr Gohde, der wirklich weiß,
wovon er redet, es abgelehnt hat, noch einmal eine Art
Alibiveranstaltung durchzuführen. Das ist ein mutiger
Schritt von Herrn Gohde - der ist immerhin Pfarrer und
noch nicht einmal aus meiner Partei. Ich will trotzdem
darauf hinweisen, dass derjenige, der wirklich Ahnung
von der Materie hat, gesagt hat: Ich lasse mich nicht vor
den Karren spannen, nur damit diese Regierung nichts
tun muss.
({3})
Herr Zöller, in allen Ehren: Sie wollen im Sommer
nächsten Jahres etwas vorlegen, also anderthalb Monate
vor der Wahl. Sie sagen damit klipp und klar: Wir machen in dieser Wahlperiode nichts mehr. Diejenigen aber,
die auf ein Handeln angewiesen wären, sind Neese.
Muss das sein? Nein! Ein neuer Pflegebegriff existiert;
er besagt klipp und klar: Es geht um Teilhabeermöglichung; es geht um die Persönlichkeitsentfaltung, auch
dann wenn man verwirrt ist; es geht um die Selbstbestimmung. All diese Punkte sind im jetzigen Pflegebegriff überhaupt nicht enthalten. Sie benutzen den alten
Pflegebegriff, obwohl Sie und Ihre Regierung genau
wissen, dass es bessere Pflegebegriffe gibt.
Es ist ein Konzept da. Es ist von Ihrer eigenen Regierung vorbereitet worden. Es kam nicht einmal von uns,
sondern wurde von Ihnen entwickelt. Sie setzen es nicht
um, weil Sie nicht den Mut haben, den Leuten zu sagen:
Das kostet ein paar Mark dreißig. Die Menschen, die das
brauchen, sind uns das wert. Wir speisen sie nicht mit
1 Milliarde ab. - Hinzu kommt, dass man befürchten
muss, dass die entsprechenden Mittel am Ende bei den
Körperbehinderten weggenommen werden. Sie sollten
sagen: Wir nehmen so viel Geld in die Hand, wie gebraucht wird - und nicht nur so viel, wie wir gerade noch
übrig haben.
Lassen Sie uns so herangehen: Teilhabe ermöglichen,
auch wenn man pflegebedürftig ist, Assistenz und Begleitung gewähren, wenn man sie braucht. Dann wird die
Selbstbestimmung wirklich funktionieren.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Elisabeth
Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz. Hut ab, Herr Minister: Da braucht es
schon viel Fantasie, um überhaupt auf solch einen Namen zu kommen. Und ehrlich: Wir brauchen hier im
Saal viel Fantasie, um in diesem Gesetz überhaupt eine
Neuausrichtung zu entdecken.
({0})
Nichts an diesem Gesetz bringt uns einer Neuausrichtung in der Pflege näher, und das, obwohl wir eine Neuausrichtung so dringend bräuchten. Der Reformbedarf in
der Pflege ist riesengroß: die Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, eine gerechte und verlässliche Finanzierung durch eine Pflegebürgerversicherung, die
Entlastung pflegender Angehöriger, der Ausbau ambulanter und quartiersorientierter Versorgungsangebote,
Maßnahmen gegen den Personalmangel in der Pflege.
Sie haben uns gestern hier in der Regierungsbefragung Ihre Demografiestrategie vorgestellt. Herr Minister
Friedrich sagte, wir dürften nicht warten, bis die Dinge
zum Problem würden. Ich muss sagen: Da hat er recht.
Diese Demografiestrategie enthält durchaus richtige
Dinge, zum Beispiel, dass ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff entwickelt werden muss, der sich - ich zitiere - „künftig stärker an der Selbstständigkeit orientiert
und damit insbesondere Demenzkranken zugutekommt“.
Ebenso lesen wir, dass wir eine „Stärkung der Fachkräftebasis“ brauchen. All das haben Sie, Herr Minister
Bahr, doch in Ihrer Einführung angesprochen. Nicht nur
wir hier fragen uns: Warum machen Sie es dann denn
nicht endlich? Sie legen uns hier ein Gesetz vor, und
nichts davon steht darin.
({1})
Schlimmer noch: Das Gegenteil ist der Fall. Es wurde
hier schon angesprochen, aber ich denke, wir können es
gar nicht oft genug ansprechen: das Beispiel der Fachkräfte. Wir finden in diesem Gesetz eine Anleitung zur
rechtlich legitimierten Lohndrückerei. Künftig soll nämlich nicht mehr die Zahlung einer ortsüblichen Vergütung, sondern die Zahlung des Pflegemindestlohns für
die Zulassung einer Pflegeeinrichtung ausreichend sein.
Natürlich brauchen wir einen Mindestlohn; aber er darf
doch nicht zum Normlohn werden. Das, meine Damen
und Herren, ist ein Schlag ins Gesicht der Fachkräfte, die
Sie angeblich sichern wollen. Sie wollen Billigpflege;
das ist Ihnen die Arbeit der Pflegekräfte wert.
({2})
Herr Singhammer, Sie sprechen hier vom „großen, weiten Herzen“ der Pflegekräfte; aber davon werden die
Pflegekräfte nicht satt, dadurch können sie ihr Leben
nicht unterhalten.
Für andere Zwecke sitzt das Geld dann aber locker:
höhere Vergütungen für die medizinische Versorgung in
Pflegeheimen für die Ärzte, Förderung freiwilliger Pflegezusatzversicherungen durch den sogenannten PflegeBahr.
({3})
Klar ist auch hier: Das ist kein Beitrag zu einer nachhaltigen Finanzierung. Menschen, die wenig verdienen oder
keine Steuern zahlen, werden davon überhaupt nichts
haben. Profitieren werden hier die Gutverdiener. Profitieren wird auch die private Versicherungsindustrie. Sie
kann nämlich ihre Produkte mit staatlicher Unterstützung besser verkaufen.
Meine Damen und Herren, das ist die Neuausrichtung, über die wir heute reden. Aber brauchen wir diese
Klientelpolitik der Neuausrichtung? Ich sage ganz klar:
Was wir brauchen, ist eine solidarische Politik für die
Schwachen in dieser Gesellschaft. Was wir brauchen, ist
die solidarische Pflegebürgerversicherung. Gute Pflege
kostet Geld, auch mit einer Pflegebürgerversicherung;
aber mit der Bürgerversicherung ist eine überschaubare
Beitragssatzentwicklung möglich, und das bei verbesserten Leistungen.
Herr Spahn, bei einer Pflegebürgerversicherung profitieren im Übrigen auch heute Privatversicherte mit kleinen Einkommen.
({4})
Eine Pflegebürgerversicherung ist solidarisch und keine
Einbahnstraße.
({5})
Es gibt die Chance auf ein wirklich neues Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, aber diese Chance hat SchwarzGelb leider nicht genutzt. Seien wir ehrlich: Das jetzt
vorgelegte Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ist eine Aneinanderreihung verpasster Chancen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Willi Zylajew ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Thema, das uns heute früh beschäftigt, ist ausgesprochen
wichtig;
({0})
denn es ist täglich von Bedeutung für rund 10 Millionen
Menschen in unserem Land, nämlich für diejenigen, die
auf pflegerische Hilfe angewiesen sind, für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und für Angehörige. In der Tat ist
es sinnvoll, dass wir über den bestmöglichen Weg in dieser Auseinandersetzung streiten und den Versuch zu unternehmen, die finanziellen Mittel, die uns zur Verfügung stehen, zielgenau und optimal einzusetzen. Dies
soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geschehen.
({1})
Aber ich bitte, zu bedenken, dass die Anforderungen an
Staat und Gesellschaft bezüglich der Hilfe für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen einem permanenten Veränderungsprozess unterliegen.
Die Gesellschaft ändert sich. Wir Menschen sind so
programmiert, dass wir am Anfang des Lebens und die
meisten auch in der letzten Lebensphase auf die Hilfe
von Mitmenschen angewiesen sind. Die Anforderungen
verändern sich. Das hängt damit zusammen, dass wir
eine höhere Lebenserwartung haben - Minister Bahr hat
es angesprochen -, dass wir heute bei vielen Menschen,
gerade bei an Demenz erkrankten, längere Phasen erleben, in denen sie Hilfe benötigen - auch eine andere
Form der Hilfe -, als in früheren Jahren. Wir haben
wirksame medizinische Behandlungsmöglichkeiten, die
ebenfalls dazu führen, dass Erkrankungen erfolgreich
behandelt werden können; aber daraus ergibt sich eine
anspruchsvollere Anforderung an den Bereich Rehabilitation und Pflege, als das früher der Fall war.
Die geringere Zahl der Nachkommen ist ein Thema.
Wir können nicht darüber hinweggehen: Die Pflegeleistung wurde und wird auch weiterhin in erster Linie in
der Familie erbracht. Wenn weniger Nachkommen vorhanden sind, wenn sich die Familienstrukturen ändern,
müssen wir auch hier entsprechend reagieren.
Insofern behaupte ich, dass das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz ein logischer Bestandteil eines ständigen
Prozesses zur Weiterentwicklung der Pflege ist.
({2})
Wir machen hier - Herr Minister Bahr hat es dargestellt einen sehr vernünftigen Schritt.
({3})
Die uns zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel setzen wir absolut zielgerichtet und punktgenau ein. Wir
müssen bedenken, dass es Mitverantwortliche gibt: die
Familien, die Leistungserbringer und Träger, die Versicherungen und die Pflegekassen sowie die Kommunen
und die Länder.
Es ist eben mehrfach angesprochen worden, was alles
wir beispielsweise im Bereich Ausbildung tun müssen.
Aber ohne Mittun der Länder können wir nichts erledigen. Es wäre sinnvoller, wenn gerade die Kolleginnen
und Kollegen der SPD, die dies hier anmahnen, dafür
sorgen würden, dass wir in der Kooperation mit den
Ländern weiterkommen.
Es gibt also viel zu tun. 1995 hatten wir einen guten
Start. Leider gab es danach keine Weiterentwicklung.
Von 1998 bis 2005 ist nichts geschehen.
({4})
Ich muss Ihnen das immer und immer wieder vorhalten:
Es gab einen Stillstand bei der Weiterentwicklung der
Pflegeversicherung.
({5})
- Die waren reichlich vorhanden. Wir müssen jetzt doch
letztendlich, verehrter Kollege Lauterbach, Ihre Versäumnisse aufholen.
({6})
Das, was Sie nicht entwickelt haben, müssen wir jetzt
ein Stück weit vorantreiben.
({7})
- Die Probleme gab es damals auch. Schauen Sie bei
klugen Professoren nach, was die schon zwischen 1998
und 2005 Vernünftiges dazu geschrieben haben.
({8})
Sie haben einen ersten Ansatz geschaffen, indem Sie
ganz wenig Geld für die Betreuung von Demenzkranken
zur Verfügung gestellt haben.
({9})
Wir brauchen - das machen wir sehr vernünftig - eine
Weiterentwicklung bei der Unterstützung der Angehörigen. Dass wir jetzt das Pflegegeld bei Kurzzeit- und Verhinderungspflege durchzahlen, ist aus unserer Sicht ein
Schritt zu einer handfesten und zielgenauen Hilfe.
Wir sagen, dass wir eine Stärkung im Bereich der
Wohnumfeldverbesserungen wollen. Das ist ein wichtiger Schritt. Wir wollen die Rechte der betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen gegenüber den MDK
stärken. Viele Menschen fühlen sich vom MDK bevormundet, missverstanden und schlecht behandelt. Hier
gehen wir mit der Neuausrichtung aus meiner Sicht
einen sehr vernünftigen Schritt. All das, was wir machen, ist zielführend und stellt eine gute Weiterentwicklung der Blüm’schen Pflegeversicherung dar.
Wir stärken die Hilfen für das Verbleiben im gewohnten gesellschaftlichen Umfeld. Die Kollegin AschenbergDugnus hat es angesprochen. Selbstbestimmte Versorgungsformen sind eine Chance. Ich weiß nicht, was Sie
für ein Menschenbild haben.
({10})
Weder Ihre Einschätzung der Pflegebedürftigen noch
ihre Einschätzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
die dort ihre Arbeit erledigen, ist richtig. Sie kritisieren
deren Arbeit immer nur, und dies aus vordergründigen
politischen Überlegungen.
({11})
Ich will kurz auf den 3. Pflege-Qualitätsbericht eingehen. Er zeigt auf, dass es eine Reihe von Verbesserungen
gibt. Der zweite Bericht von 2007 kam ein paar Monate
zu spät. Der Berichtszeitraum ging bis 2005, betraf also
die Zeit von Rot-Grün. Im jetzigen Qualitätsbericht wird
deutlich gesagt, dass es Defizite gab, es in den letzten
Jahren da jedoch eine gute Weiterentwicklung gab.
({12})
Ich bin schon ein Stück weit darüber verärgert, dass
auch dieser Bericht wieder so spät vorgelegt wurde. Er
hätte eigentlich schon im letzten Jahr vorgelegt werden
müssen. Er kam diesmal zwei Tage vor unserer heutigen
Beratung.
({13})
Damals wurde er zehn Tage vor dem Referentenentwurf
von 2007 vorgelegt. Es ist die billige Strategie einiger
Spitzenleute beim MDS und bei den gesetzlichen Krankenversicherungen, die die Pflegebranche insgesamt mit
Negativdarstellungen treffen wollen, welche die anständige und gute Arbeit der Pflegekräfte im stationären und
ambulanten Bereich nicht würdigen. Da werden einige
Dinge medienbegleitet sehr stark in Szene gesetzt, die so
nicht gegeben sind.
({14})
Mit diesem Gesetzentwurf sind wir in der Lage, die
erwarteten Verbesserungen zu ermöglichen.
({15})
Wir können nur alle, die in diesem Bereich guten Willens sind, ganz herzlich einladen, mit uns noch den einen
oder anderen Punkt zu präzisieren. Wir sagen, dass diese
Neuausrichtung deshalb notwendig ist, weil sich die
Gesellschaft insgesamt verändert hat. Wir wollen eine
Neuausrichtung hin zu selbstgewollten Betreuungsformen, indem wir die pflegenden Angehörigen mit der
Ermöglichung von Rehamaßnahmen und mit der Weiterzahlung des Pflegegeldes in bestimmten Lebenssituationen stärken. Ich denke, dass wir da auf einem guten Weg
sind. Die Blüm’sche Pflegeversicherung erfährt durch
diesen Gesetzentwurf durchaus eine konsequent positive
Weiterentwicklung.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Wenn man die Unionsredner hört, gewinnt man den Eindruck, dass sie einen Blackout haben, was die letzte
Wahlperiode angeht.
({0})
Das, was wir in der letzten Wahlperiode in der Großen
Koalition gemeinsam auf den Weg gebracht haben, war
definitiv mehr als das, was jetzt Schwarz-Gelb auf den
Weg bringt. Für die Verbesserung der Leistungen haben
wir immerhin drei Zehntel Beitragssatzpunkte aufgebracht, also 3,3 Milliarden Euro, und Sie kommen jetzt
mit 1,1 Milliarden Euro. Herr Zylajew, ich kenne Sie ja
als engagierten Pflegepolitiker; Begeisterung über einen
Gesetzentwurf hört sich für meine Begriffe aber anders
an als das, was Sie hier gerade geboten haben.
({1})
Was haben wir im letzten Jahr nicht alles von Herrn
Rösler und später von Herrn Bahr gehört. Das Jahr der
Pflege wurde ausgerufen. Die Pflege sollte besser finanziert werden. Die pflegerische Betreuung, insbesondere
die von demenziell Erkrankten, sollte grundlegend,
durchgreifend verbessert werden. Durch die Einführung
des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sollte die leidige
Minutenpflege abgelöst werden. Dem Mangel an Pflegekräften sollte begegnet werden, und dem Grundsatz
„Prävention vor Reha bzw. Pflege“ sollte endlich Geltung verschafft werden.
Was ist passiert? Nicht viel. Was uns heute hier vorliegt, ist ein Reförmchen. Manche reden auch von einem
Schlückchen aus der „Mini-Bahr“. Ich sage: Das ist eine
Mogelpackung. Man könnte auch sagen: Das ist ein Plagiat, und das ist das, was man von dieser Koalition
erwartet.
({2})
Herr Spahn hat eben angesprochen, dass die Umsetzung unseres Konzepts viel mehr Geld kostet. Es ist
wahr: Mit 0,6 Beitragssatzpunkten müsste man die ganzen Maßnahmen, die notwendig sind, finanzieren. Ein
großer Unterschied besteht nicht nur bei der Antwort auf
die Frage, was ich ausgebe, sondern mehr noch bei der
auf die Frage, um die es geht: Was ist uns in unserer
Gesellschaft eine menschenwürdige Pflege wert?
({3})
Es geht auch um die Frage: Wie setze ich Prioritäten?
Ich kann die Prioritäten so setzen: Ich werfe den Hotelketten das Geld hinterher,
({4})
und ich führe ein Betreuungsgeld ein, das niemand will.
Oder ich nehme das Geld, um eine menschenwürdige
Pflege zu ermöglichen.
({5})
Ich sage Ihnen auch: Wenn man nur auf den Beitragssatz schaut, springt man zu kurz. Man muss eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung vornehmen. Was passiert
denn, wenn wir es nicht schaffen, den Bereich der Häuslichkeit zu stärken? Was passiert denn, wenn wir es nicht
schaffen, eine wohnortnahe Infrastruktur zu organisieren, wenn wir es nicht schaffen, bezahlbare Angebote für
die Häuslichkeit zu organisieren? Dafür werden die
Kommunen bezahlen müssen, weil viel mehr Menschen
in die stationären Einrichtungen gehen müssen, obwohl
sie das gar nicht wollen, und das ist am Ende sehr viel
teurer. Vor allen Dingen aber wollen die meisten Men20624
schen das überhaupt nicht. Sie wollen so lange es geht in
der Häuslichkeit bleiben.
({6})
Schauen wir uns einmal die Sache mit dem Pflegebedürftigkeitsbegriff an. Sie haben gesagt, dass Ulla
Schmidt darauf hingewiesen hat, dass man Zeit braucht,
um das umzusetzen. Das bestreitet niemand von uns. Sie
können aber auch nicht bestreiten, dass Sie das Thema
Pflegebedürftigkeitsbegriff seit 2009, seit Ihrer Regierungsübernahme, in Ihrer Schublade liegengelassen
haben und überhaupt nichts getan haben. Das sind fast
drei Jahre, die man hätte nutzen können, um in dieser
Frage endlich voranzukommen.
({7})
Was aus meiner Sicht nur noch peinlich ist, ist, dass
Sie jetzt auf billige Weise versuchen, Zeit zu schinden,
um über diese Wahlperiode hinauszukommen, um in dieser Wahlperiode nichts mehr entscheiden zu müssen,
weil die mit einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff
erforderlich werdenden Veränderungen natürlich zusätzlich Geld kosten. Jetzt setzen Sie den Pflegerat erneut
ein. Dass Jürgen Gohde, der bezüglich der Frage der
Pflege wirklich die Koryphäe ist, dieses Theater nicht
mitmacht, ist eine Klatsche für Sie, Herr Minister, und
die haben Sie auch verdient.
({8})
Das, was Sie hier machen, ist nichts anderes als der Versuch, den Satz von Karl Kraus umzusetzen: Bei sinkender Sonne werfen auch die Kleinen lange Schatten.
({9})
Ich sage Ihnen: Sie können noch so oft behaupten,
dass Sie erstmals etwas für Demenzerkrankte tun; das ist
und bleibt gelogen. Sie tun mehr - das ist wahr -, aber
Sie können nicht sagen, dass es „erstmals“ zusätzliches
Geld für Demenzerkrankte gibt. Das stimmt doch nicht.
Schauen Sie doch einmal in das bestehende Gesetz.
({10})
Lesen bildet. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Kollegin, war
ich in der letzten Wahlperiode bei der Reform dabei, als
wir hier erstmals Leistungen für demenziell Erkrankte in
Höhe von 100 bzw. 200 Euro im Monat eingeführt
haben,
({11})
indem wir den Einrichtungen zusätzliches Geld für
Betreuungspersonal zur Verfügung gestellt haben. Das
sollten Sie anerkennen. Man kann ja der Meinung sein,
dass das nicht genug ist, aber so zu tun, als ob das alles
auf Ihrem Mist gewachsen ist, ist unredlich.
({12})
Sie wollen das Problem des Fachkräftemangels lösen,
indem Sie die Grenzen öffnen. Pflege hat aber auch mit
Sprachkompetenz, mit Verständigung und mit Zuwendung zu tun. Ich sage Ihnen: Erstens halte ich es für den
falschen Weg, unsere Probleme zulasten der an die EU
angrenzenden osteuropäischen Länder zu lösen, und
zweitens glaube ich nicht, dass Sie genügend Pflegefachkräfte mit entsprechender Sprachkompetenz finden
werden, die bereit sind, hier zu arbeiten.
({13})
Wir müssen unsere Probleme selber lösen. Wir brauchen
eine bessere Ausbildung. Wir brauchen attraktivere
Arbeitsbedingungen und vor allen Dingen eine bessere
Bezahlung, damit junge Menschen sich entschließen,
diesen Beruf auszuüben.
Ich sage Ihnen: Mit Ihrer kapitalgedeckten Vorsorge,
mit dem sogenannten Pflege-Bahr, werden Sie scheitern.
Was passiert denn hier? Hier werden wieder die Versicherungswirtschaft und deren Renditen bedient. Sie
mögen zwar vielleicht einen Kontrahierungszwang vorsehen - die Details sind ja noch unklar -, aber was wird
passieren? Die Versicherungswirtschaft wird doch nicht
darauf verzichten, eine Prüfung der Risiken durchzuführen. Das wird dazu führen, dass diejenigen, die eigentlich schon jetzt eine Zusatzversicherung bräuchten, beispielsweise ältere Menschen oder Personen mit
Krankheiten wie MS, gar keine bezahlbare Versicherungspolice bekommen werden, auch nicht mit dem
Minizuschuss, den sie von Ihnen noch erwarten können.
Ich sage Ihnen: Das, was Sie hier vorlegen, ist Stückwerk. Damit werden Sie keine Lorbeeren gewinnen. Es
geht an den Problemen vorbei.
({14})
Wir werden im Verfahren die Gelegenheit haben, über
unsere Vorschläge zu diskutieren. Am Ende werden Sie
sich entscheiden müssen: Was ist Ihnen eine menschenwürdige Pflege wert? Vor allen Dingen müssen Sie die
Frage beantworten, wie wir heute die Strukturen schaffen können, die wir in 20 Jahren brauchen, damit die
Kosten beherrschbar sind und die Menschen in ihrer
gewohnten Umgebung alt werden können.
Schönen Dank.
({15})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Man muss sich in einer solchen Debatte natürlich die Frage stellen: Wie baut wer
diese Debatte auf? Ich bin dem Bundesgesundheitsminister dafür dankbar, dass er die wesentlichen Inhalte des
Gesetzentwurfs noch einmal präzise und klar dargestellt
hat. Ich bin Jens Spahn dafür dankbar, dass er die
Dimension deutlich gemacht und darauf hingewiesen
hat, dass wir in diesem Gesetzentwurf eine LeistungsRudolf Henke
verbesserung um 5 Prozent vorsehen. Dies kann sich im
Vergleich zu den anderen Sozialkassen blicken lassen.
Man muss sich mit der Art, wie die SPD versucht,
diese Leistungen madig zu reden, auseinandersetzen.
({0})
Man muss sich mit der Frage auseinandersetzen: Wie
glaubwürdig ist eigentlich die SPD mit ihrer Argumentation? Weil sowohl Kollege Lauterbach als auch Kollegin
Ferner hier jetzt ein weiteres Mal betont haben, dass das
Geld für die Hotellerie ausgegeben worden wäre
({1})
- das ist ein zentraler Punkt, der immer wiederkehrt -,
zeige ich Ihnen jetzt einen Antrag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aus dem Bayerischen Landtag
aus dem Jahr 2006.
({2})
Darin steht:
Die Staatsregierung wird aufgefordert, ihren Einfluss dahin gehend geltend zu machen, dass der
Bund für die Hotellerie den reduzierten Mehrwertsteuersatz in Höhe von 7 % einführt.
Das hat die SPD 2006 von der Bayerischen Staatsregierung gefordert. 2009 ist es dann passiert. Heute sagen
Sie: Wer diese Forderung der SPD erfüllt, der macht falsche Politik. Das ist die Art, wie Sie Demagogie ins
Land tragen.
({3})
Verehrte Befürworter eines Mehrwertsteuersatzes von
7 Prozent in der SPD, das ist genau die Art, in der Sie
jetzt versuchen, die Neuausrichtung der Pflege madig zu
machen und schlechtzureden.
({4})
Das hat bei Ihnen Methode. Erst behaupten Sie etwas,
was nicht wahr ist, und anschließend kloppen Sie drauf.
({5})
Da Sie immer vom Pflegebedürftigkeitsbegriff reden,
sage ich Ihnen Folgendes: Ich persönlich war Mitglied
einer Enquete-Kommission des nordrhein-westfälischen
Landtags, die sich in den Jahren 2003 bis 2005 mit der
Frage auseinandergesetzt hat: Wie sieht die Zukunft der
Pflege aus? Damals haben wir in dieser Enquete-Kommission parteiübergreifend, unter Einbeziehung der SPD
und der Grünen, einstimmig Aussagen zum Pflegebedürftigkeitsbegriff getroffen. In unserem Abschlussbericht ist zum Beispiel zu lesen:
Nach Auffassung der Enquête-Kommission ist der
Pflegebedürftigkeitsbegriff des SGB XI zu somatisch ausgerichtet, weil der besondere Betreuungsbedarf von Menschen mit demenzbedingten Funktionsstörungen, mit geistigen Behinderungen oder
psychischen Erkrankungen nicht ausreichend berücksichtigt wird.
Wie gesagt, im Landtag von Nordrhein-Westfalen
herrschte hier Übereinstimmung zwischen den Kollegen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU und FDP.
Dann kommt folgende Aussage:
Deshalb sollte durch eine umfassende Definition
des … Pflegebegriffs verdeutlicht werden, dass
Pflegebedürftigkeit für die betroffene Person zu einem qualitativ und quantitativ weiteren Bedarf führen kann, als bisher in § 14 SGB XI zum Ausdruck
kommt.
Dieser Forderung wird nun inhaltlich Genüge getan. Sie
wird jetzt praktisch aufgegriffen. Es wird einen Leistungsanspruch geben, der sich auf demenziell erkrankte
Menschen erstreckt. Diese werden ab Januar 2013 mehr
und bessere Leistungen erhalten.
Für Sie ist die Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs eine Art Fetisch, mit dem Sie sich befassen. Der
entscheidende Punkt ist doch, dass konkrete Konsequenzen gezogen werden.
({6})
Die praktische Konsequenz wird jetzt gezogen,
({7})
noch bevor all die akademischen Debatten über die Qualität des Pflegebedürftigkeitsbegriffs beendet sind.
({8})
Wir handeln also, noch bevor die theoretische Diskussion beendet ist. Sie kaprizieren Ihre Kritik aber immer
nur auf die theoretische Diskussion.
Ich bin dankbar dafür, dass es uns gelungen ist, die
Leistungen um 5 Prozent zu erhöhen, bei den Hilfen für
Demenzkranke, bei der Stärkung neuer Wohn- und Betreuungsformen und bei der Erleichterung der Organisation der pflegerischen Versorgung in Wohngruppen voranzukommen und dafür zu sorgen, dass pflegende
Angehörige, die eine Vorsorge- oder Rehamaßnahme in
Anspruch nehmen, dies in einer Einrichtung tun können,
in der der Pflegebedürftige betreut und gepflegt werden
kann; denn das erleichtert die Inanspruchnahme.
Sie denunzieren all das als „Pflegereförmchen“.
({9})
- Ja, ja. Wieso denn?
({10})
- Herr Lauterbach, die SPD hat eine Pressemitteilung
veröffentlicht. Diese Pressemitteilung hat die Überschrift: „Bahrs Pflegereförmchen ohne jegliche Substanz“.
({11})
Wenn Zeitungen diese Kritik dann nachdrucken, weil die
SPD sie vorgetragen hat, sagen Sie anschließend: Das
steht in allen Zeitungen. - Das ist Quatsch.
({12})
Das ist die Art, in der Sie vorgehen. Das ist nicht glaubwürdig. Es ist aber schön, wenn auch Sie einmal zitiert
werden.
({13})
Natürlich gibt es weitere notwendige Schritte, die wir
machen müssen. Es stellt sich beispielsweise die Frage,
ob die Ergebnisse der Tarifverhandlungen für die in der
Pflege Tätigen gut sind. Ich würde mir wünschen, die
Pflegekräfte in Deutschland wären so gut organisiert wie
beispielsweise die Ärztinnen und Ärzte. Dann kämen für
sie bessere Ergebnisse heraus.
({14})
Ich würde mir auch wünschen, wir kämen bei der zusätzlichen Absicherung voran. Ob es Kapitaldeckungsbeiträge oder ob es lohnbezogene Beiträge sind: Am Ende
müssen sie durch die Arbeit erwirtschaftet werden, die
die Menschen leisten, weil ihr ganzes Einkommen - also
auch der Arbeitgeberbeitrag und der Arbeitnehmerbeitrag - immer durch ihre Arbeit erwirtschaftet werden
muss. Deswegen ist im Grunde nicht der Finanzierungsweg entscheidend, sondern die Antwort auf die Frage:
Wie viel sind wir bereit, für eine Herausforderung zu
leisten, die wir im Alltagsleben gerne verdrängen?
Deshalb ist auch diese Diskussion über die Bedeutung
von Demenz und über die Tatsache, dass Demenz etwas
ist, was uns alle im Alltag betrifft, ein wesentlicher und
wichtiger Beitrag in dieser Gesellschaft dazu, die gesellschaftspolitische Bedeutung der Pflege, von der Jens
Spahn gesprochen hat, weiter nach vorne zu bringen.
Ich finde, dafür sollten wir uns gemeinsam anstrengen, statt in dieser billigen Weise parteipolitische Polemik zu betreiben, wie Sie sie hier heute betrieben haben.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/9369 und 17/9393 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit zum Antrag der SPD-Fraktion
mit dem Titel „Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ein-
führen - Chancen zu nötigen Veränderungen nutzen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf der Drucksache 17/7082, den Antrag der SPD-Frak-
tion abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Das
Erste war die Mehrheit. Damit ist die Beschlussempfeh-
lung angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jährige abschaffen
- Drucksache 17/9070 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen im
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch abschaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechte der Arbeitsuchenden stärken Sanktionen aussetzen
- Drucksachen 17/5174, 17/3207, 17/6391 Berichterstattung:
Abgeordnete Katja Kipping
Über Beschlussempfehlungen zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke und zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen werden wir später namentlich abstimmen. Ich mache also schon jetzt darauf aufmerksam,
dass wir nach der Debatte zu diesem TagesordnungsPräsident Dr. Norbert Lammert
punkt zwei namentliche Abstimmungen durchführen
werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die
Linke.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einigen Wochen wandte sich Birgit P. an mich, weil sie von
einer Sanktion bedroht war. Zur Erläuterung: Sanktion
bedeutet, dass das ohnehin niedrige Arbeitslosengeld II
in Schritten von 30 Prozent bis hin zum kompletten Entzug gekürzt wird.
Birgit arbeitet als Ersatztagesmutter, das heißt, wenn
eine reguläre Tagesmutter erkrankt, dann springt sie ein.
Diese Arbeit macht ihr Spaß, und die Kinder schätzen
sie. Zum Leben reicht es aber nicht. Dafür kommen zu
wenige Stunden zusammen, in denen sie einspringen
muss. Deswegen ist sie auf aufstockende Hartz-IV-Leistungen angewiesen.
Ihr Fallmanager hat sie nun angewiesen, Bewerbungen für Stellen zu schreiben, auf denen sie mehr verdient. Das hat sie auch getan. Allerdings hat sie in diesen
Bewerbungen wahrheitsgemäß angegeben, dass sie erst
im Sommer eine neue Stelle antreten kann, da sie mit
dem Verein, bei dem sie einspringt, auch einen Vertrag
mit Kündigungsfristen hat.
Der Fallmanager unterstellt ihr nun, mit diesem Hinweis sei sie selbst schuld daran, keinen neuen Job gefunden zu haben. Im Behördendeutsch heißt das: fehlende
Mitwirkung. Ist die erst einmal unterstellt, dann ist
Hartz IV schnell gekürzt.
Zum Glück hat sich Birgit P. Unterstützung gesucht.
Die drohende Sanktion konnte in letzter Minute noch abgewendet werden. Es zeigt sich also: Es lohnt sich, sich
zu wehren.
({0})
Birgit P. ist kein Einzelfall. Immer wieder werden in
unserem reichen Land arme Menschen durch Sanktionsandrohungen in Existenzangst gestürzt. Die Linke meint:
Kein Mensch hat es verdient, in Existenznot zu geraten.
Deswegen wollen wir die Sanktionen abschaffen.
({1})
Beim Verhängen der Sanktionen unterlaufen immer
wieder Fehler. Davon zeugt zum Beispiel folgende Zahl:
40 Prozent der Widersprüche gegen Sanktionen werden
in Gänze oder teilweise stattgegeben. Hier wird Menschen also selbst nach den strengen Gesetzesregelungen
zu Unrecht das Arbeitslosengeld II gekürzt. Wir reden
hier von Menschen, die kein finanzielles Polster haben
und wirklich ins Nichts stürzen, wenn ihnen das ALG II
gekürzt wird.
Ein klassischer Einwand gegen die Sanktionsfreiheit
wurde von einem FDP-Redner präsentiert, als wir dieses
Thema vor einem Jahr diskutierten. Herr Kober sagte:
Man muss auch an die denken, die mit ihrer Hände Arbeit Sozialleistungen erwirtschaften. Solidarität ist keine
Einbahnstraße.
({2})
Das klingt, als ob die FDP in tiefer Sorge um die Beschäftigten entbrannt sei. Tatsache ist jedoch: Die Beschäftigten erwirtschaften mit ihrer Hände Arbeit zuallererst einmal eines, die Gewinne der Konzerne und die
Boni der Topmanager.
({3})
Dass die Beschäftigten zum großen Teil auch für das
Steueraufkommen verantwortlich sind, liegt nicht an den
Hartz-IV-Betroffenen. Das ist Ergebnis einer verfehlten
Steuerpolitik, auf deren Grundlage Geschenke für Superreiche ermöglicht werden und die Mittelschicht zur
Kasse gebeten wird.
({4})
Wer möchte, dass die Mittelschicht mehr Geld in der
Tasche hat, der muss nicht Erwerbslose schikanieren,
sondern der muss einfach für Steuergerechtigkeit sorgen.
({5})
Wer meint, die Verkäuferin oder der Kfz-Mechaniker
hätte auch nur einen Cent mehr in der Tasche, wenn wir
weiterhin Erwerbslose mit Sanktionen schikanieren, der
irrt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Hartz-IV-Sanktionspraxis übt Druck auf die Löhne aus. Selbst ein der
Bundesagentur nahestehendes Institut, das IAB, hat bestätigt: Allein die Existenz von Sanktionen führt dazu,
dass die Bereitschaft, niedrigere Löhne und familienunfreundliche Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, zugenommen hat. - Im Gegensatz zur FDP wollen wir Lohndumping nicht befördern, sondern beenden. Auch deswegen
muss die Situation von Erwerbslosen verbessert werden.
({6})
Ein zweiter Grund. Werden Sanktionen verhängt, so
stürzt das den Betroffenen in existenzielle Not bis hin
zur Wohnungslosigkeit. Hier unterscheidet sich der linke
Freiheitsbegriff vom schwarz-gelben Freiheitsbegriff.
Die Freiheit, die wir meinen, meint immer auch die Freiheit von Existenznot und Wohnungslosigkeit.
({7})
Wir meinen, die Sanktionspraxis ist mit dem Grundrecht
auf ein menschenwürdiges Existenzminimum und auf
Teilhabe unvereinbar. Dieses Grundrecht gehört für uns
zum Kern eines zeitgemäßen, ja eines demokratischen
Sozialstaates.
Was meint das? In Vorbereitung auf die heutige Debatte habe ich mich mit Menschen unterhalten, die die
Auswirkungen der Sanktionen in der Praxis erleben, sei
es als Gewerkschaftssekretär, Sozialpädagogin, Erwerbslose. Die Ergebnisse sind in Filmspots zusammen20628
gefasst und auf meiner Webseite einzusehen. Darin kommen die Betroffenen selbst zu Wort.
Eine Erwerbslose zum Beispiel sagt: Auf dem Jobcenter bin ich keine Bürgerin. Da werde ich entmündigt
und bevormundet. - Ein Rechtsanwalt erklärt: Für
Rechtsanwälte ist Hartz IV ein Vollbeschäftigungsprogramm. Aber für die Betroffenen ist es ein kolossales
Verarmungsprogramm und muss deswegen abgeschafft
werden.
({8})
Für eine Erwerbslosenberaterin ist das SGB II - das
meint das Sozialgesetzbuch - sogar ein Strafgesetzbuch.
Das klingt sehr hart. Aber zu beobachten ist tatsächlich, dass Menschen, die auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, immer wieder öffentlich unter Generalverdacht gestellt werden. Davon zeugt auch die Sprache der
offiziellen Dokumente. Nur ein Beispiel. Wer einen Antrag auf Grundsicherung stellt, der muss eine Belehrung
unterschreiben, dass er sofort meldet, wenn ihm zum
Beispiel Betriebskosten gutgeschrieben werden. Dann
heißt es: Erfolgt dies nicht, ist die Arge verpflichtet, ein
Ordnungswidrigkeitsverfahren einzuleiten oder die Sache wegen Verdachtes des Betruges gemäß § 263 StGB
der Staatsanwaltschaft zu übergeben. - Da hat jemand
gar nichts getan, und schon wird mit der Staatsanwaltschaft gedroht. Es ist doch kein Wunder, wenn Erwerbslose in einer solchen Situation das Gefühl haben, sie hätten ein Kainsmal auf der Stirn.
Ich meine, wer von Arbeitslosengeld II, das ohnehin
zu niedrig ist - das hat gestern auch das Berliner Sozialgericht so entschieden -, leben muss und immer wieder
Absagen auf Bewerbungen bekommt, der ist bereits doppelt gestraft und den müssen Politik und Ämter nicht
noch zusätzlich verbal schikanieren.
({9})
Die Linke hat beantragt, namentlich abzustimmen.
Wir wollen das Abstimmungsverhalten veröffentlichen.
Jeder soll erfahren können, wie der Abgeordnete, die
Abgeordnete seiner Region abgestimmt haben, und zwar
aus gutem Grund. Zum einen offenbart sich in der Frage
„Wie hältst Du es mit den Sanktionen?“ auch: Wie ernst
meinen wir es wirklich mit dem Grundrecht auf Teilhabe? Zum anderen ist die Frage der Sanktionen für die
Betroffenen eine zutiefst existenzielle und sehr persönliche Frage. Ich finde, bei einer so gleichermaßen grundsätzlichen wie persönlichen Frage muss es möglich sein,
dem eigenen Gewissen zu folgen. Die Fraktionsspitzen
sollten hier wirklich von dem Druck zur Fraktionsdisziplin absehen.
({10})
Im Bereich Hartz IV hat der Druck zur Fraktionsdisziplin viele Fehler verursacht und uns immer wieder zu
Regelsätzen geführt, die vor Gericht scheitern. Machen
Sie Schluss damit! Geben Sie sich einen Ruck!
Es geht bei der Sanktionsfreiheit um nicht weniger als
die Beendigung von Existenzangst. Ich bitte um Ihre Zustimmung.
({11})
Carsten Linnemann ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kipping, nachdem ich gehört
habe, wie Sie heute Morgen über die Vermittlung in
Deutschland, das Kontrollsystem und die Betreuung gesprochen haben, denke ich: Es wird höchste Zeit, dass
wir die Dinge geraderücken.
({0})
Wir sollten uns an dieser Stelle einmal bei den vielen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den deutschen Jobcentern bedanken, die eine hervorragende Arbeit machen. Sie sind in einem sehr sensiblen Bereich tätig;
denn sie haben es mit arbeitslosen Menschen zu tun, die
sich in einer sehr schwierigen persönlichen Situation befinden, und sie müssen sich individuell auf diese Arbeitslosen einstellen. Das ist für beide Seiten nicht einfach.
({1})
- Frau Kipping, hören Sie mir doch bitte erst einmal zu. Das ist für beide Seiten nicht einfach. Aber nehmen Sie
bitte auch zur Kenntnis, Frau Kipping, dass wir in
Deutschland eine Situation haben, die man nicht verhehlen kann.
Wir haben die Situation, dass wir mit dieser Regierung zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Sockelarbeitslosigkeit in Deutschland abbauen. Viele Menschen
haben gesagt, diese Sockelarbeitslosigkeit sei naturgegeben. Das ist aber nicht so. Das sehen wir heute: Im letzten Monat gab es 130 000 Arbeitslose weniger als im
vergangenen Jahr. Das sind nicht die Menschen, die aus
der Kurzzeitarbeitslosigkeit gekommen sind - das sind
noch mehr -, sondern aus der Langzeitarbeitslosigkeit.
Das ist der Rede wert.
Herr Kollege Dr. Linnemann, Frau Katja Kipping
möchte eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die?
({0})
Das kann sie gerne machen.
Bitte schön.
Lieber Kollege, Sie haben zu Recht auf die Situation
der Beschäftigten in den Jobcentern hingewiesen, die in
der Tat nicht leicht ist. Sie müssen ausbaden, was ihnen
der Gesetzgeber eingebrockt hat. Wenn Ihnen aber diese
Situation so am Herzen liegt, könnte ich Sie dann für
eine gemeinsame Initiative gewinnen, die dafür sorgen
wird, dass die Bundesagentur genügend Geld hat, um
alle Stellen entfristen zu können, damit die dort Beschäftigten mehr Sicherheit haben?
({0})
Frau Kipping, die Arbeitslosenquote in Deutschland
ist nicht mehr so hoch wie vor vielen Jahren.
({0})
Die offizielle Arbeitslosenquote geht ebenso wie die inoffizielle zurück.
Sie haben einen Antrag zu den Sanktionen für unter
25-Jährige vorgelegt. Die Arbeitslosenquote bei den unter 25-Jährigen ist zurückgegangen. Dementsprechend
werden die Beschäftigten so eingestellt, wie es dem
neuen Bestand an Arbeitslosen entspricht. Ich nenne Ihnen die Zahlen der unter 25-Jährigen, die wir frisch von
Eurostat bekommen haben. Wir liegen keineswegs irgendwo im hinteren Bereich, sondern wir liegen vorne.
In Spanien und Griechenland sind mehr als 50 Prozent
der jungen Menschen arbeitslos. In Europa ist jeder
vierte Jugendliche arbeitslos, Frau Kipping. Nehmen Sie
das bitte zur Kenntnis.
({1})
Wir liegen mit 8 Prozent vorne. Das ist immer noch
hoch. Es ist aber durchaus der Rede wert.
({2})
Der Erfolg hat natürlich viele Väter. Ein wichtiger Vater sind die Arbeitsmarktreformen, die wir in den letzten
Jahren in Deutschland durchgeführt haben und die meine
Fraktion konstruktiv begleitet hat. Diese Politik führen
wir weiter fort.
Die europäischen Länder - das lesen wir jeden Tag wollen unsere Politik nachmachen. Die Politik des Forderns und Förderns wird in anderen Ländern nachgemacht. Diese Politik wollen Sie abschaffen. Das heißt,
die anderen Ländern steigen ein, und Sie wollen aussteigen, indem Sie die Sanktionen bzw. den Kontrollmechanismus abschaffen wollen.
Wir haben in der gesamten gesellschaftlichen Breite
überall Kontrollmechanismen: in der Schule, im Verkehr
und auch in der Politik wie hier im Deutschen Bundestag.
Übrigens hat es auch mit Fairness, Gerechtigkeit und Verantwortung zu tun, dass wir ein solches Sanktionssystem
haben, nicht nur gegenüber den Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die diesen Sozialstaat erst ermöglichen, sondern auch - das wird oft vergessen - gegenüber den arbeitslosen Menschen, die sich regelkonform verhalten.
({3})
Frau Kipping, gegen 97 Prozent werden keine Sanktionen verhängt. Sie reden hier über 3 Prozent und tun so,
als ob Sie damit Politik für die Mehrheit dieses Landes
machen. Sie machen Politik vom Rand aus. Frau
Kipping, es ist in Ordnung, dass Sie das machen; das ist
legitim. Aber Sie erwecken in der Öffentlichkeit den
Eindruck - auch heute und in Ihren Anträgen -, dass Ihre
Auffassung die Mehrheitsmeinung ist. Das ist falsch.
Das ist nicht die Mehrheitsmeinung. Es gibt nämlich
eine schweigende Mehrheit in Deutschland. Das sind sowohl die Grundsicherungsempfänger, die sich an die Regeln halten, sowie viele Familien und Arbeitnehmer, die
vielleicht zu normal und zu langweilig für eine Schlagzeile in der Zeitung sind. Aber das sind Menschen, die
sich an die Regeln halten, die Steuern zahlen und die arbeiten gehen. Auch denjenigen gegenüber haben wir
eine Verantwortung. Deswegen sagen wir: Unsere Politik ist nicht fokussiert auf einen bestimmten Rand. Wir
nehmen die gesamte Gesellschaft in den Blick. Das ist
unsere Politik. Sie orientiert sich am Gemeinwohl und
nicht an irgendwelchen Rändern. Dafür stehen wir.
({4})
Ich gehe gerne noch auf zwei Punkte ein, die Sie monieren. Sie sagen, die rechtliche Situation gebe das nicht
her. Das stimmt nicht. Sie gibt es her. Es gibt Studien,
die empirisch belegen, dass unsere Politik so in Ordnung
ist. Frau Kipping, Sie kennen sicherlich die Studie des
Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, ZEW.
Sie können dem ZEW sicherlich vieles vorwerfen, nicht
aber Lobbyismus. Das ZEW hat 150 Jobcenter und
15 000 Personen in seiner Studie berücksichtigt und ist
zu dem Schluss gekommen, dass die Jobcenter, die sich
an das Regelwerk halten, bessere Vermittlungserfolge
erzielen als diejenigen, die sich weniger an die Regeln
halten. Der empirische Tatbestand ist also da.
Zur rechtlichen Situation gibt es zwei Urteile. Diese
sprechen - da gibt es nichts darum herumzureden - eine
klare Sprache. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts
aus dem Sommer 2010 heißt es explizit:
Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung von
bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen.
Mit anderen Worten: Sozialleistungen sind in diesem
Land immer an Bedingungen geknüpft.
Im Zusammenhang mit dem prominenteren Urteil aus
Karlsruhe vom Februar 2010 hat der Deutsche Richterbund festgestellt: Die geltenden Sanktionsregeln einschließlich der schärferen Sanktionen für unter 25-Jährige werden nicht als unvereinbar mit dem in diesem
Urteil aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit
dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums angesehen.
Wir orientieren unsere Politik an der gesamten Breite
der Gesellschaft. Das ist unsere Politik. Deshalb lehnen
wir Ihre Anträge, meine Damen und Herren von der Linken, ab, genauso wie den Antrag der Grünen, in dem
eine Aussetzung der Sanktionen gefordert wird.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächste Rednerin ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Frau Gabriele Hiller-Ohm. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über zwei
Anträge der Linken und einen Antrag der Grünen, die
sich mit den Sanktionsregelungen für Hartz-IV-Bezieher
befassen. Das Arbeitslosengeld II kann zum Beispiel
drastisch gekürzt werden, wenn sich die Betroffenen wiederholt nicht an Vereinbarungen mit den Jobcentern halten. Die Linken fordern wieder einmal die völlige Abschaffung der Sanktionen. Sie wollen eine sanktionsfreie
Mindestsicherung, also ein bedingungsloses Grundeinkommen.
({0})
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist mit uns nicht
zu machen. Wir lehnen die Anträge der Linken deshalb
ab.
({1})
Für uns gilt der Grundsatz „Fördern und fordern“.
({2})
Wer Sozialleistungen erhält, muss alles dafür tun, was
ihm oder ihr möglich ist, um aus dem Leistungsbezug
wieder herauszukommen und sich auf eigene Beine zu
stellen. Geschieht dies mutwillig nicht, so müssen Konsequenzen möglich sein.
({3})
Man kann darüber streiten, wie Sanktionen aussehen
sollen. Das Urteil der Bundesverfassungsrichter vom Februar 2010 gibt hier allerdings klare Hinweise. Es besagt: Das physische Existenzminimum muss gesichert
bleiben. - Das bedeutet, dass Kürzungen bei Wohnen,
Essen, Trinken, Kleidung und medizinischer Versorgung
tabu sind. Der Spielraum für Leistungskürzungen ist somit begrenzt.
Alle Sanktionen müssen darauf überprüft werden, ob
sie in das Existenzminimum eingreifen. Es ist deshalb
richtig, die Sonderregelungen für Jugendliche unter
25 Jahren genau unter die Lupe zu nehmen. Hier sind
heute drastische Kürzungen der Sozialleistungen ganz
schnell bis auf null möglich. Das geht nicht; denn das
entspricht nicht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
({4})
Wir haben deshalb schon 2010, also vor zwei Jahren,
gefordert, dies zu ändern und die Sanktionen insgesamt
auf den Prüfstand zu stellen. Wir fordern erstens, dass
für junge Erwachsene dasselbe Sanktionsrecht wie für
alle anderen gilt. Dies muss natürlich verfassungsfest
sein. Also: Weg mit den Sonderregelungen! Zweitens.
Wir wollen, dass Sanktionen nicht Pi mal Daumen verhängt werden; es muss auf den jeweiligen Einzelfall eingegangen werden. Drittens. Ganz wichtig ist uns, dass
Kürzungen schnell wieder zurückgenommen werden,
wenn sich Sozialhilfebezieher besinnen und sich doch an
die Vereinbarungen mit dem Jobcenter halten. Viertens.
Wir fordern darüber hinaus, dass das physische Existenzminimum, vor allem Unterkunft und Heizung, auf
jeden Fall von Kürzungen ausgenommen bleibt; denn alles andere wäre verfassungswidrig. Fünftens. Wir wollen, dass Kürzungen vorher schriftlich angekündigt werden und eine verständliche Rechtsfolgenbelehrung
erfolgt. Dies wurde von Schwarz-Gelb geändert - aus
unserer Sicht ein schwerer Fehler.
({5})
Frau Ministerin, ich fordere Sie auf: Setzen Sie das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010
endlich um! Unsere Vorschläge liegen seit langem auf
Ihrem Tisch. Schaffen Sie endlich verfassungsfeste Regelsätze und Sanktionsregelungen, die das Existenzminimum nicht antasten!
Bestimmte Zeitungen fordern in regelmäßigen Abständen immer wieder härtere Strafen für Hartz-IV-Empfänger, weil es angeblich einen so großen Missbrauch in
diesem Bereich gibt. Die Wirklichkeit ist: Nur ein sehr
kleiner Anteil, gerade einmal 3 Prozent, aller Hartz-IVEmpfänger handelte sich 2011 tatsächlich Sanktionsmaßnahmen ein. Die meisten von ihnen hatten es versäumt, sich beim Jobcenter zu melden. Nur sehr wenigen
wurde die Leistung gekürzt, weil sie sich geweigert haben, eine Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme anzunehmen. Tatsache ist auch, dass die Zahl der Arbeitsverweigerer in den letzten Jahren beständig gesunken ist. Das
zeigt ganz klar: Fast alle Arbeitsuchenden halten sich an
die Vereinbarungen, wollen arbeiten und wären froh,
wenn sie einen Arbeitsplatz finden würden.
({6})
Da müssen wir ansetzen. Aufgabe der Politik ist es,
Perspektiven zu schaffen. Die Arbeitslosigkeit ist in
Deutschland trotz der Krise in den letzten Jahren deutlich gesunken. Darauf hat der Kollege Linnemann hingewiesen. Er hat aber versäumt, zu sagen, dass sich trotzdem die Situation vieler Menschen verschlechtert hat.
Besonders betroffen sind junge Menschen und Frauen.
Mehr als 65 000 Schülerinnen und Schüler verlassen allGabriele Hiller-Ohm
jährlich die Schule ohne einen Abschluss. Das entspricht
der Einwohnerzahl von Wedel und Itzehoe in SchleswigHolstein, meinem Bundesland. 1,5 Millionen junge Erwachsene sind ohne jeden Berufsabschluss. Das entspricht der Einwohnerzahl von München. Fast jeder
dritte Erwerbstätige unter 35 Jahren befindet sich in
Deutschland in einem prekären, also unsicheren und
schlecht bezahlten Job. Hiervon sind besonders die
Frauen betroffen. Wie sieht es bei den Leiharbeitern aus?
Sogar fast jeder Zweite ist unter 30 Jahre alt.
Das dürfen wir nicht zulassen.
({7})
Diese Zahlen sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, und besonders Ihre Arbeitsministerin - Sie ist jetzt leider nicht mehr da wachrütteln.
({8})
Was aber tut die Bundesregierung? Sie kürzt ausgerechnet bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten
und raubt den Jugendlichen das Recht auf eine zweite
Chance beim Schulabschluss oder bei einer Berufsausbildung. Das, meine Damen und Herren, ist der falsche
Weg.
Wir fordern hingegen: Niemand darf in Deutschland
ohne Schul- und Berufsabschluss bleiben. Schluss mit
unsicheren und mies bezahlten Jobs!
({9})
Wenn wir das hinbekommen, schaffen wir die Perspektiven, die vor allem junge Menschen brauchen, um gar
nicht erst in Hartz IV zu fallen. Debatten über Sanktionen können wir uns dann sparen.
Zu den Anträgen.
Sie wissen aber, was das Licht vor Ihnen bedeutet?
Wir werden die Anträge der Linken ablehnen. Bei
dem Grünen-Antrag werden wir uns enthalten. Wir finden bedenklich, dass die geltenden Sanktionen ohne gesetzliche Grundlage ausgesetzt werden sollen. Das ist
aus unserer Sicht rechtlich nicht möglich. Wir werden
uns bei diesem Antrag enthalten.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Bevor ich dem Kollegen Kober das Wort gebe, erteile ich das Wort zu einer
Kurzintervention unserer Kollegin Katja Kipping. Bitte
schön, Frau Kollegin Katja Kipping.
({0})
Tut mir leid, aber Frau Hiller-Ohm hat unterstellt, es
würde bei unserem Antrag um ein bedingungsloses
Grundeinkommen gehen. Nun würde ich persönlich hier
sehr gern für ein bedingungsloses Grundeinkommen
werben,
({0})
aber - das möchte ich doch richtigstellen - zu meinem
großen Bedauern hat sich die Linksfraktion bisher mehrheitlich nicht für ein bedingungsloses Grundeinkommen
ausgesprochen.
({1})
Es gibt einen Unterschied - insofern muss man hier
schon noch einmal aufklären - zwischen einer sanktionsfreien Mindestsicherung, bei der es keine Sanktionen,
aber weiterhin eine Bedürftigkeitsprüfung gibt, und einem bedingungslosen Grundeinkommen. Die genauen
Unterschiede kann man sich auf der Internetseite des
Netzwerks Grundeinkommen anschauen. - Das wollte
ich richtigstellen.
Dann will ich noch eine Sache deutlich machen: Es
gibt einen Unterschied zwischen Bedürftigkeitsprüfung
und Sanktionsfreiheit. Auch das vom Kollegen
Linnemann zitierte Urteil stellt nicht auf die Richtigkeit der Sanktionen ab, sondern darin geht es darum,
dass die Bedürftigkeitsprüfung zumindest verfassungsmäßig gedeckt ist, und das ist ein zentraler Unterschied. - Das wollte ich klarstellen.
Ebenso muss man klarstellen, dass der Richterbund
sich in der Anhörung sehr wohl sehr kritisch gegen Kürzungen ausgesprochen hat, die mehr als 30 Prozent betragen.
Danke schön.
({2})
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben das Wort.
Frau Kollegin Kipping, es freut mich sehr, wenn Ihre
Fraktion sich besonnen hat und jetzt nicht mehr das
bedingungslose Grundeinkommen fordert.
({0})
Sie haben uns das im Bundestag ständig wieder auf den
Tisch gelegt. Wenn das jetzt vom Tisch ist, ist es gut.
Sie sagen in Ihrem Antrag aber ganz klar, dass Sie
eine - ich zitiere - „sanktionsfreie Mindestsicherung“
wollen. Das fordern Sie.
({1})
Das ist mit uns nicht zu machen. Wir sagen, dass es
Sanktionen geben muss. Diese Sanktionen müssen allerdings - das ist überhaupt keine Frage; ich habe es ausgeführt - verfassungsfest sein. Das Existenzminimum darf
nicht angetastet werden. Dazu haben wir uns auch klar
positioniert.
Sie gehen in eine andere Richtung. Wir wollen, dass
den Menschen, die in Not geraten, sofort Sozialleistungen gewährt werden, dass den Menschen sofort geholfen
wird. Aber diese Menschen müssen auch alles dafür tun,
dass sie wieder auf die Füße kommen und sich von der
Sozialleistung schnell wieder lösen, um dann wieder auf
eigenen Beinen zu stehen. Das ist uns wichtig.
Das geht aus unserer Sicht am besten mit dem Grundsatz, mit dem Prinzip „Fördern und Fordern“. Das Fördern und Fordern muss aber gleichwertig sein. Es muss
gefordert werden können, aber natürlich muss auch die
Förderung da sein, und daran hapert es aus unserer Sicht
deutlich. Es passt nicht zusammen, wenn auf der einen
Seite gefordert wird, aber bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gekürzt wird und jungen Menschen
damit die zweite Chance auf einen weiterführenden Bildungsabschluss genommen wird. Es wird einseitig beim
Fördern gekürzt - das wollen wir nicht. Wir wollen fördern und fordern. Das muss im Gleichgewicht sein, und
dann ist das auch eine gute Sache.
({2})
Vielen Dank. - Wir fahren in unserer Rednerliste fort.
Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Pascal Kober. Bitte schön, Kollege Kober.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Kipping, Sie sind in Ihrer Rede so tief in
die Grundsätze linksparteilichen Denkens eingetaucht,
dass man fast den Eindruck gewinnen könnte, es habe
sich um eine Bewerbungsrede zum Bundesvorsitz Ihrer
Partei gehandelt.
({0})
Liebe Kollegin Kipping, daneben haben Sie mit der
Schilderung einer ganzen Reihe von Einzelschicksalen
versucht, hier Betroffenheit herzustellen. Ich sage Ihnen
ganz offen: Auch ich kenne solche Einzelfälle. Diese
Fälle können vielfach auch betroffen machen.
Sie können aber nicht leugnen, dass auch Sie diejenigen Einzelfälle kennen, bei denen beispielsweise Arbeitgeber berichten, dass ihnen Menschen zugewiesen werden, einen Arbeitsplatz anzunehmen, die dann die
entsprechende Motivation nicht mitbringen. Sie kennen
gleichfalls Beispiele von Jobcentermitarbeitern und -mitarbeiterinnen, die Ihnen von einer, sagen wir einmal, ausbaufähigen Motivation von Arbeitsuchenden berichten
können.
Ich glaube, dass dieses Aufrechnen oder Gegenüberstellen von Einzelschicksalen uns alle nicht weiterbringt.
Hier muss es vielmehr um die Grundsätze unseres Sozialstaates gehen. Diese Grundsätze beruhen auf einem
ganz spezifischen Solidaritätsgedanken.
Sie haben mich zu Recht aus einer meiner vergangenen Reden zitiert - allerdings nicht vollständig. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Solidarität ist eine Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Partnern.
Das sind auf der einen Seite natürlich diejenigen, die
arbeitsuchend sind, die keine Arbeit bekommen, die arbeiten könnten, die arbeiten wollen und die darauf angewiesen sind, dass dieser Sozialstaat ihnen Leistungen
gewährt, sie unterstützt und ihnen bei der Arbeitsuche
hilft. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen - das
haben Sie zu Recht zitiert -, die mit ihrer Hände Arbeit,
aber auch mit ihrer Köpfe Arbeit diese Leistungen durch
ihre Steuergelder finanzieren und diese Leistungen des
Sozialstaates überhaupt erst möglich machen. Beide
Gruppen sind sich zu Solidarität verpflichtet.
Dann gibt es aber noch eine dritte Personengruppe,
nämlich diejenigen, die nicht arbeiten können, beispielsweise aufgrund von Krankheit oder aufgrund einer Behinderung. Diese Personengruppe ist ebenfalls auf Leistungen des Sozialstaates angewiesen. Sie ist auch darauf
angewiesen, dass diejenigen, die selber etwas dazu beitragen könnten, aus der Bedürftigkeit herauszukommen,
dies auch tun, damit mehr Leistungen für diejenigen zur
Verfügung stehen, die sich selber weniger helfen können.
({1})
Das ist der Sozialstaatsgedanke, den wir hier leben
wollen. Das ist der Sozialstaatsgedanke, auf dem das
Prinzip „Fördern und Fordern“, das Sie mit Ihren Anträgen außer Kraft setzen wollen, beruht.
Liebe Kollegin Kipping, Sie haben hier aus meiner
Sicht - darauf hat der Kollege Linnemann schon zu
Recht hingewiesen - ein völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit wiedergegeben. Zunächst einmal handelt es sich
bei denjenigen, die von Sanktionen betroffen sind, nur
um eine kleine Gruppe. 3,4 Prozent der Arbeitsuchenden
sind im Jahr 2011 mit Sanktionen belegt worden. Auf
der anderen Seite sind also fast 97 Prozent nicht von
Sanktionen betroffen. Das bedeutet, dass das Zusammenspiel zwischen Arbeitsuchenden und Jobcentern einwandfrei funktioniert.
Dort, wo es Verbesserungen geben sollte, arbeitet die
Arbeitsagentur intensiv daran, beispielsweise durch
Schulung ihrer Mitarbeiter.
Aber auch wir als Politiker haben etwas getan, wir
haben den Betreuungsschlüssel verbessert. So ist der
Betreuungsschlüssel für Arbeitsuchende unter 25 Jahren
so verbessert worden, dass von einem Mitarbeiter des
Jobcenters heute nur noch 75 Personen zu betreuen sind.
Das ist der richtige Weg. Wir müssen den Betreuungsschlüssel verbessern; denn dadurch entsteht mehr Freiraum für die Jobcentermitarbeiter, gezielt auf die BePascal Kober
dürfnisse der Arbeitsuchenden einzugehen. Das hat
diese Bundesregierung getan.
Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass alle
Bemühungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik nur dann
erfolgreich sein können, wenn entsprechende Arbeitsplätze auch zur Verfügung stehen. Man muss feststellen,
dass keine Bundesregierung in diesem Bereich so erfolgreich war wie die jetzige Bundesregierung. Liebe Kollegin Kipping, auch Sie sollten das anerkennen und nicht
immer nur über das Verteilen sprechen, sondern auch
über das Erwirtschaften und vor allen Dingen darüber,
wie Menschen selbstbestimmt leben können.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Kollege Kober. - Nächste Rednerin in
unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Brigitte Pothmer. Bitte
schön, Frau Kollegin Pothmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
in der bisherigen Debatte den Eindruck gewonnen, dass
es Sinn macht, noch einmal auf die Ziele hinzuweisen,
die mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitslose verbunden waren. Da hieß es: Wir wollen einen diskriminierungsfreien Zugang zur Grundsicherung schaffen. Es hieß weiter: Wir wollen die Sozialhilfeempfänger
vom arbeitsmarktpolitischen Abstellgleis herunterholen.
Und es hieß: Wir wollen Integrationschancen für alle
schaffen. Statt sich an diesen Zielen zu orientieren, trägt
die Koalition ihre eigenen Konflikte zunehmend auf dem
Rücken der SGB-II-Bezieherinnen und -Bezieher aus.
Das jüngste, aber nicht das einzige Beispiel ist das Betreuungsgeld. Mit Ihrem Vorschlag, den SGB-II-Beziehern den Zugang zu verwehren, grenzen Sie diese
Gruppe ein weiteres Mal aus. Sie stempeln sie ab und
machen sie zu den Parias dieser Gesellschaft. Sie treiben
die gesellschaftliche Spaltung damit weiter voran.
({0})
Was auf der großen politischen Bühne geschieht, setzt
sich Tag für Tag in den Jobcentern fort. So darf und kann
es nicht weitergehen. Das Verhältnis von Arbeitsuchenden zu Fallmanagern muss auf eine grundlegend neue
Basis gestellt werden. Dazu müssen die Jobcenter materiell entsprechend ausgestattet werden. Die Kürzungen
in der aktiven Arbeitsmarktpolitik müssen zurückgenommen werden. Es müssen aber auch die Rechte der
Arbeitsuchenden gestärkt werden. Es muss Schluss
damit sein, dass die Arbeitsuchenden immer wieder in
die Rolle des Bittstellers gedrängt werden. Es muss ein
Verhältnis auf Augenhöhe geschaffen werden. Dazu haben wir Ihnen einen umfassenden Katalog vorgelegt. In
diesem Katalog fordern wir auch, dass die verschärften
Sonderrechte für junge Menschen aufgehoben werden.
({1})
Diese Sonderregelungen, Herr Kolb, waren von Anfang
an ein Fehler.
({2})
Frau Hiller-Ohm, Ihr Arbeitsminister in der Großen
Koalition hat diesen Fehler bis zum Anschlag verschärft.
Bei unter 25-Jährigen können Sanktionen, die bis zur
Wohnungslosigkeit führen, verhängt werden. Wenn sie
aus dem Elternhaus ausziehen und selbstständig werden
wollen, dann benötigen sie eine Genehmigung des Jobcenters.
({3})
Ich weiß nicht, wer sich an die damalige Debatte erinnert. Ich erinnere mich gut, dass hier ein Schreckgespenst an die Wand gemalt wurde. Es wurde damals
behauptet, dass es ganze Auszugslawinen gäbe. Es
wurde so getan, als ob die 18-Jährigen ihren Geburtstag
quasi im Jobcenter feierten und nichts anderes im Sinn
hätten, als sich auf Kosten der Allgemeinheit eine eigene
Bude zu organisieren. Belege dazu: Fehlanzeige. Wir
haben diese Regelung schon damals insbesondere deswegen kritisiert, weil sie dafür sorgt, dass sich diejenigen, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben,
aus dem System generell abmelden. Ich sage eines: Wer
untertaucht, dem kann man nicht mehr helfen. Das kann
am Ende dazu führen, dass die Kleinkriminalität steigt,
dass Schwarzarbeit zunimmt und dass die Verschuldung
dieser jungen Leute zunimmt. Das wollen wir nicht.
({4})
Ich frage Sie: Kann unter diesem Sanktionsreglement
tatsächlich ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen
Fallmanagern und Jobsuchenden aufgebaut werden? Ich
sage Ihnen: Die Beschäftigten in den Jobcentern plädieren mit Verve dafür, dass die Regelung für die unter
25-Jährigen abgeschafft wird. Die Beschäftigten dort
wissen genauso wenig wie ich, wie junge Erwachsene
unter diesen Umständen die Verantwortung für ihr eigenes Leben in die Hand nehmen können und sollen.
Was wir brauchen, ist Unterstützung. Was wir nicht
brauchen, ist Bestrafung. Anknüpfen statt Abkoppeln
muss die Devise sein.
Ich danke Ihnen.
({5})
Vielen Dank, Frau Kollegin Pothmer. - Nächster Redner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Dr. Peter Tauber. Bitte schön, Kollege Dr. Tauber.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Worum geht
es in dieser Debatte eigentlich? Um einen ganz einfachen Punkt, nämlich um die Frage, ob Menschen, die
Solidarität erfahren, auch etwas zurückgeben und sich an
Regeln halten, die man allgemein vereinbart hat.
Sie nennen das „Sanktionen“. Wir können deswegen
jetzt über die Frage diskutieren, ob Sanktionen zumutbar
sind, wen Sanktionen treffen - vielleicht aber auch darüber, wie die Situation wirklich ist. Und wir können
auch darüber reden, was uns in dieser Debatte leitet, welche Grundüberzeugungen wir teilen und welche nicht.
Schauen wir uns zunächst die Zahlen an: Es gibt
4,4 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte. Davon erfüllen 96,6 Prozent alle Voraussetzungen, um die
Leistungen, die ihnen die Solidargemeinschaft gewährt,
ohne Abstriche in Anspruch zu nehmen. 3,4 Prozent dieser Menschen hingegen tun das aus den unterschiedlichsten Gründen offensichtlich aber nicht.
Es ist in der Tat eine Frage von Solidarität und auch
von Gerechtigkeit, dass man denjenigen, die sich nicht
an die Spielregeln halten, das ab und zu nicht nur sagt,
sondern sie im Zweifel auch darauf hinweist, dass das
Nichteinhalten von Regeln meistens nicht folgenlos ist,
auch für einen individuell nicht.
({0})
Deswegen ist es nicht unsozial, wenn man das Einhalten
der Spielregeln einfordert und wenn man gegebenenfalls
konsequent Handlungen ableitet, wenn sich Menschen
nach einer wohlmeinenden Begleitung von fachlicher
Seite nicht eines Besseren belehren lassen.
Entscheidend ist, dass Sanktionen Gott sei Dank kein
Massenphänomen sind - die Kolportierung dieses Gedankens muss man Ihnen an dieser Stelle vorwerfen -,
({1})
was die weitverbreitete und leider auch durch manche
Boulevardmedien immer wieder transportierte Unterstellung, dass Hartz-IV-Empfänger es sich am liebsten
gemütlich machen würden, widerlegt. Eigentlich ist es
eine positive Nachricht, dass sich nur eine so geringe
Zahl von Menschen diesen Sanktionen gegenübersieht.
Trotzdem: Obwohl Sanktionen kein Massenphänomen sind, bleibt der Grundsatz bestehen - in dem sind
wir uns hoffentlich alle einig -, dass jeder, der unverschuldet in Not gerät, der arbeitslos wird, Hilfe von der
Solidargemeinschaft erfahren muss. Auch das muss man
an dieser Stelle sagen, weil Sie ein völlig falsches Bild
zeichnen.
Sie zeichnen noch an einer weiteren Stelle ein völlig
falsches Bild: Sie erwecken den Eindruck, wir Parlamentarier würden diese sozialen Leistungen gewähren
oder die Sanktionen festlegen. Wir machen das als
Gesetzgeber. Aber die Solidargemeinschaft besteht nicht
aus Abgeordneten und SGB-II-Empfängern, sondern sie
besteht aus denjenigen, die mit ihrer Arbeitskraft und
ihrem Steueraufkommen dafür sorgen, dass wir überhaupt die entsprechenden Gesetze machen können,
damit den Menschen, die in Not sind, geholfen wird.
({2})
Das sind die beiden Gruppen, die in unserer Gesellschaft zusammengebracht werden müssen, damit die
einen bereit sind, Solidarität zu üben, indem sie etwas geben, und damit die anderen Hilfe erfahren, um im Idealfall irgendwann der anderen Gruppe anzugehören und
sagen zu können: Ich habe Hilfe bekommen, jetzt bin ich
gerne bereit, selbst Hilfe zu geben. - Das ist der Grundgedanke und nicht das, was Sie teilweise suggerieren.
Die Ministerin hat, wie so oft, einen Satz gesagt, der
mir sehr gut gefällt und den ich an dieser Stelle zitieren
möchte:
Gerechtigkeit betrifft immer zwei Seiten: den, der
es bezahlt, und den, der es bekommt.
({3})
Dieser Satz ist und bleibt richtig.
Wir wissen, dass nur 3,4 Prozent der Leistungsbezieher überhaupt von Sanktionen betroffen sind. Wenn man
dann hört, wie Sie über dieses Thema diskutieren, dann
müssen Sie sich angesichts der Pauschalität Ihrer Aussagen den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie - der Kollege
Linnemann hat das ausgeführt - alle Leistungsbezieher
darunter subsumieren und dadurch ein völlig falsches
Bild der Realität zeichnen.
Auch den Popanz, den Sie aufbauen, dass Jobcenter
willkürlich Leistungsbezieher abstrafen würden, kann
man so nicht stehen lassen. Ich weiß sehr wohl, dass die
Arbeit, die dort geleistet wird, nicht leicht ist. Es ist eben
ein Kennzeichen unseres Rechtsstaats, dass der Leistungsbezieher die Möglichkeit hat, die Leistung, die ihm
gewährt wird, gerichtlich überprüfen zu lassen, wenn er
glaubt, dass er einen Anspruch auf mehr hat. Da zeigt
sich, dass da Menschen für Menschen arbeiten, keine
abstrakten Systeme. Dass es zu Überprüfungen kommt,
ist ein Ausdruck des Funktionierens des Systems; das
widerlegt nicht das Funktionieren des Sozialsystems. Sie
verkehren die Verhältnisse völlig. Auch das kann man
aus meiner Sicht so nicht stehen lassen.
({4})
Wir haben es an anderer Stelle immer wieder gesagt
- ich wiederhole es heute gerne -: Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, leuchtet es mir ein, zu fordern, dass mehr
Mittel bereitgestellt werden, um Menschen, die arbeitslos sind, vielleicht auch gerade denen, die langzeitarbeitslos sind, zu helfen. Wenn die Arbeitslosigkeit aber
sinkt und auch die Langzeitarbeitslosen nachweisbar von
dieser Entwicklung profitieren, zu fordern, die Mittel zu
erhöhen, ist eine sozialistische Dialektik, die sich mir
intellektuell leider verschließt. Das müssen Sie mir vielleicht an anderer Stelle erklären. Das ist bis zum heutigen Tage keine logische Forderung. Deswegen halten
wir es für falsch und lehnen es ab.
({5})
Ich will noch einige Sätze zum Antrag der Linksfraktion zur Abschaffung der Sonderregelung für unter 25Jährige sagen. In der Tat ist es um jeden jungen Menschen schade, der an dieser Stelle auf unsere Solidargemeinschaft angewiesen ist; denn wir wünschen uns, dass
junge Menschen selbstbestimmt ihr Leben aufbauen
können,
({6})
etwas in die Hand nehmen können, etwas schaffen können. Die spannende Frage ist aber, ob man jungen Menschen hilft, wenn man sagt: „Weißt du was, mach du
mal!“, wenn es keinen gibt, der irgendwie hinschaut - die
Eltern nicht, auch die Solidargemeinschaft nicht -, wenn
man sagt: Du kannst dich da ausleben, wie du willst. Ganz ehrlich: Sie sind vielleicht in Ihrer Jugend solch
vorbildliche Menschen gewesen; ich war es nicht. Ich
habe an zwei, drei Stellen durchaus den berühmten Tritt
in den Hintern gebraucht, Gott sei Dank nur im übertragenen Sinne, bildlich gesprochen.
({7})
- Durch Dazwischenschreien wird es meistens nicht
richtiger, Herr Kollege. Ich habe in Demut zugehört.
({8})
- Frau Kipping, auch Ihrer liebreizenden Stimme lausche ich an jeder Stelle sehr gerne. Nur haben Sie heute
schon so viel geredet, dass ich fast wieder geneigt bin,
Ihnen den Schweigefuchs zu zeigen. Das mache ich
heute aber nicht, weil ich keine unnötige Schärfe in die
Debatte bringen möchte.
Es bleibt dabei: Junge Menschen brauchen genauso
wie andere, vielleicht manchmal einen Tick mehr, den
richtigen Schubs. Deswegen ist es genau das falsche Signal, zu sagen: Nein, da darf es erst recht keine Form
von Hilfestellung, von Sanktionen etc. geben. - Wie gesagt: Sie sind vielleicht die besseren Menschen, die so
selbstreflektiert durch diese Welt gehen, dass sie das
können.
({9})
Ich erlebe in meiner Umgebung, dass wir genau das
brauchen: Menschen, die einander helfen, die einander
sagen, wo Grenzen sind, die dann versuchen, gemeinsam
etwas zu erreichen. Wir schaffen gerade das, was Sie
wollen: dass junge Menschen selbstbewusst sind und
ihre eigenen Fähigkeiten entdecken.
({10})
Wir sagen nicht: Wisst ihr was, wir haben da ein System
geschaffen, das euch einfach an die Hand nimmt; ihr
braucht euch um die vielen weiteren Dinge nicht zu
kümmern; wenn ihr daheim ausziehen wollt - den Zwischenruf nehme ich gerne auf -, zahlt euch die Solidargemeinschaft eine Wohnung.
Für die Fälle, in denen ein Zusammenleben aus verschiedenen Gründen nicht mehr möglich ist, gibt es Instrumente. Aber ich finde es etwas schräg, die Solidargemeinschaft in Anspruch zu nehmen, wenn einer nur sagt:
Ach, weißt du was, Mama und Papa mag ich nicht mehr
sehen, eine eigene Bude wäre ganz schön.
({11})
Das will ich Ihnen an dieser Stelle sagen.
({12})
Deswegen bleibt es dabei - damit komme ich zum
Schluss, Herr Präsident -:
({13})
Natürlich können Menschen in diesem Land nach wie
vor auf die Solidargemeinschaft bauen. Wir tun alles
dafür, dass das so bleibt. Dazu gehört - ich habe es vorhin bereits gesagt -, dass wir die, die durch ihrer Hände
Arbeit dafür sorgen, dass wir als Gesetzgeber diesen
Rahmen überhaupt schaffen können, mitnehmen. Das
vermisse ich bei jedem Beitrag, der von der linken Seite
des Hauses kommt. Sie reden nur über diejenigen, die
Leistungen beziehen. Wir reden über beide: über diejenigen, die die Leistung erwirtschaften, und über diejenigen, die sie beziehen.
Herr Kollege Tauber, Sie haben eben etwas versprochen.
Das ist echte Solidarität.
({0})
Vielen Dank, Kollege Tauber. - Nächste Rednerin ist
für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin
Katja Mast. Bitte schön, Frau Kollegin Katja Mast.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Worum geht es in dieser Diskussion? Es geht darum,
dass es im Sozialgesetzbuch II unterschiedliche Sanktionsregelungen gibt: für Jugendliche unter 25 - von denen hören uns heute hier einige zu - und für über 25-Jährige. Meine Fraktion sagt ganz klar: Das wollen wir so
nicht.
({0})
- Frau Pothmer, es ist gut, dass Sie gleich dazwischenrufen. Sie haben recht: 2007 haben wir das mitbeschlossen.
Im Übrigen haben die Grünen damals nach dem Vermittlungsausschuss die Zumutbarkeitsregelungen für das
Arbeitslosengeld II, die sie heute nicht mehr wollen,
mitbeschlossen.
({1})
Es ist wichtig, dass man versteht, dass eine Regierungskoalition einem auch Kompromisse abverlangt, die
einem so nicht über die Lippen gekommen wären, wenn
man die eigene Politik zu 100 Prozent hätte durchsetzen
können.
({2})
Koalitionen sind immer Bündnisse auf Zeit und ein Aufeinanderzugehen von zwei Koalitionspartnern. Das war
damals auch für die Grünen so. Für uns ist es dort, wo
wir in Verantwortung sind, heute noch so.
Mir ist wichtig, festzuhalten: Warum diskutieren wir
über dieses Thema? Wir diskutieren über die Regelungen für jugendliche Langzeitarbeitslose, nämlich für die,
die gemäß SGB II Arbeitslosengeld II beziehen. Für
meine Fraktion stelle ich fest: Wir wollen beides - fordern und fördern. Wir sagen: „Wir unterstützen dich,
damit du den Übergang in Ausbildung, den Übergang in
Arbeit hinbekommst“ - das ist das Fördern -, aber wir
sagen auch: „Wenn du nicht immer mitmachen willst,
dann gibt es an der einen oder anderen Stelle nicht so
viel Unterstützung.“
Mein Vorredner hat darauf bestanden, dass auch darüber diskutiert wird, wer diese steuerfinanzierte Leistung bezahlt.
({3})
Es sind diejenigen, die jeden Morgen aufstehen: die
Bäckereifachverkäuferin, die Krankenschwester, der
Facharbeiter, der Polizist.
({4})
Das sind die ehrlichen Steuerzahler in unserer Republik.
({5})
Sie bezahlen mit ihren Steuermitteln die Transfersysteme. Es ist richtig, dass wir mit ihnen diskutieren müssen. Das tue ich als Abgeordnete oft vor Ort in meinem
Wahlkreis in Pforzheim und im Enzkreis. Ich bekomme
dort die Rückmeldung, dass die Bürger es nicht verstehen würden, wenn es plötzlich gar keine Sanktionen
mehr gäbe.
({6})
Natürlich dürfen wir nicht alle Lasten auf die fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abwälzen.
Das ist Ihr Problem angesichts der derzeitigen politischen Großwetterlage. Wir dürfen die Kosten der Krise
nicht nur auf die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die jeden Morgen um acht, manchmal um sechs
oder um vier Uhr aufstehen und arbeiten gehen, abwälzen.
({7})
Wir finden vielmehr, dass auch die Profiteure der Krise
ihren Beitrag dazu leisten müssen. Deshalb gibt es zwischen uns Unterschiede bei der Finanzmarkttransaktionsteuer, bei der Vermögensteuer und bei vielen anderen
Punkten.
Lassen Sie mich auf das Thema Jugendarbeitslosigkeit zurückkommen. Was brauchen Jugendliche eigentlich? Ist es wichtig, dass wir uns heute Morgen zwei
Stunden über die Sanktionsmaßnahmen im SGB II
unterhalten? Oder wäre es nicht viel wichtiger, dass sich
die Bundesregierung darüber unterhält, wie sie mit den
1,5 Millionen Jugendlichen in unserer Republik umgehen will, die zwischen 20 und 30 sind und keine Berufsausbildung haben?
({8})
- Wir nicht.
({9})
Deshalb ist mir wichtig, dass wir uns überlegen: Wie
schaffen wir es, dass jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz bekommt? Wie schaffen wir es, dass Jugendliche nach der Ausbildung nicht in Zeit- und Leiharbeit
landen?
({10})
Wie schaffen wir es, ihnen Perspektiven zu geben? Ich
frage mich, was diese Bundesregierung dafür tut.
Im Spiegel dieser Woche gab es zwei große Artikel
über die Sozialpolitik in Deutschland, die entlarvend waren. Bei einem Artikel ging es um das Betreuungsgeld.
Da sind Sie nicht gut weggekommen. Bei dem anderen
Artikel ging es um die Spaltung am Arbeitsmarkt.
({11})
Ich habe mich darüber gewundert, Kolleginnen und Kollegen, dass die Bundesarbeitsministerin von der Leyen
in dem Artikel über die Spaltung am Arbeitsmarkt überhaupt nicht vorgekommen ist. Das ist so, weil sie dazu
nämlich gar nichts sagt, obwohl es sich bei der Frage,
wie wir mit der Spaltung des Arbeitsmarktes und dem
wachsenden Niedriglohnsektor in Deutschland - das betrifft gerade Jugendliche ganz besonders - umgehen, um
eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen
handelt. Sie sollten sich einmal überlegen, warum Sie
von Ihrer Koalition bei diesen gesellschaftlichen Diskussionen keine Rolle spielen: Fehlanzeige beim Thema
Mindestlohn; Fehlanzeige bei der Frage Regulierung
von Praktikumsverhältnissen; Fehlanzeige bei der Frage:
„Wie finanzieren wir mehr Berufsausbildung für die Jugendlichen?“; Fehlanzeige bei vielen weiteren Themen.
Meine Kollegin Hiller-Ohm hat vorhin betont, dass es
darum geht, sich in der aktiven Arbeitsmarktpolitik - also
beim Fördern, nicht beim Fordern - denjenigen zuzuwenden, die langzeitarbeitslos sind. Das betrifft eben auch die
800 000 Jugendlichen unter 25 Jahre, die erwerbsfähig
sind und Arbeitslosengeld II beziehen. Wie kriegen wir
es hin, dass die eine dauerhafte Perspektive haben und
nicht dauerhaft - ohne Schulabschluss und ohne Ausbildung - vom Arbeitsmarkt abgehängt sind?
An dieser Stelle müssen wir einfach mehr - und nicht
weniger - Geld in die Hand nehmen. Was machen Sie?
Sie kürzen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik bis 2015
um 28,5 Milliarden Euro. Das ist für die Jugendlichen,
über die wir gerade diskutieren, Chancenklau.
({12})
Den Jugendlichen nehmen Sie die Perspektive, in dieser
Gesellschaft eine gute Arbeit zu bekommen. Sie diskutieren nicht über deren Probleme und gehen nicht an
wichtige Themen heran. Wenn ich mit den Menschen
diskutiere und sage: „Es ist eine Unverschämtheit, dass
es keine Regulierung von Praktikumsverhältnissen für
junge Leute gibt“, bekomme ich immer Applaus, egal in
welcher Veranstaltung ich bin oder mit wem ich rede.
Sie tun da überhaupt nichts, obwohl 70 000 Jugendliche
im Bundestag eine Petition dazu abgegeben haben und
der Petitionsausschuss votiert hat, dass wir fraktionsübergreifend etwas daran ändern müssen. Fehlanzeige in
Ihrer Politik!
({13})
Deshalb sage ich Ihnen: Sie können sich hier nicht nur
hinstellen und darüber philosophieren: Brauchen wir
Sanktionen, ja oder nein? Meine Fraktion sagt: Fördern
und Fordern. Ihre Politik muss es leisten, dass wir den
jungen Menschen beim Übergang von der Schule in den
Beruf und beim Übergang von der Ausbildung in eine
gute Arbeit helfen. Dazu habe ich von Ihnen noch keine
Konzepte gehört, Kolleginnen und Kollegen von der
Union und von der FDP.
({14})
Vielen Dank, Frau Kollegin Mast. - Nächster Redner
in unserer Aussprache für die Fraktion der FDP ist unser
Kollege Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege
Dr. Kolb.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Antrag 17/5174 der Linken, der heute hier zur Beratung
ansteht, heißt es unter Punkt 3:
Es liegt in der Verantwortung des Staates, Rahmenbedingungen für ausreichend gute, existenzsichernde Arbeitsplätze zu schaffen, um Erwerbslosigkeit wider Willen entgegenzuwirken.
Herr Kollege Ernst, der Antrag datiert vom März 2011.
Ich kann Ihnen sagen: Wir sind den Forderungen dieses
Antrags in den letzten zwölf Monaten in hervorragender
Weise nachgekommen.
({0})
Auch wenn die deutsche Wirtschaft derzeit eine
kleine Schwächephase durchläuft, muss man sagen: Der
deutsche Arbeitsmarkt zeigt sich davon völlig unbeeindruckt. Er ist in einer hervorragenden Verfassung. Die
Erwerbstätigkeit und die sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung nehmen saisonbereinigt weiter kräftig zu.
Wir haben Rekordzahlen zu vermelden: über 41 Millionen Erwerbstätige und fast 29 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Von diesen Zahlen hätten
Sie und auch wir vor zwei Jahren nicht zu träumen gewagt. Das, was diese Koalition am Arbeitsmarkt vorzuweisen hat, ist eine einzigartige Erfolgsbilanz.
({1})
Folgerichtig - das ist der Blick aufs Ganze, der nötig
ist; denn die Kollegin Mast hat sich ja wieder sehr am
Klein-Klein abgearbeitet - werden sowohl im Rechtskreis SGB II als auch im Rechtskreis SGB III im Vergleich zum Vorjahr weniger Leistungen fällig. Es kann ja
auch gar nicht anders sein. Wenn Sie sich die Kurven der
beiden Rechtskreise anschauen, stellen Sie fest, dass es
einen ungebrochenen Abwärtstrend gibt. Das heißt: Wir
sind der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nachhaltig auf
der Spur. Keine Regierung ist dabei so erfolgreich gewesen wie die jetzige.
({2})
Das Bild, das ich hier gezeichnet habe, gilt für ausnahmslos alle Bundesländer und, wie gesagt, für beide
Rechtskreise. Auch die Langzeitarbeitslosen - das ist
uns ganz wichtig - sind in diesen Trend eingebunden.
Dass wir im europäischen Vergleich einen der größten
Rückgänge bei der Erwerbsarbeitslosigkeit zu verzeichnen haben, will ich der Vollständigkeit halber erwähnen.
Ich bitte Sie, sich die entsprechenden Grafiken einmal
anzuschauen. Dann erkennen Sie nämlich, dass die europäischen Länder bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise im
Jahr 2009 annähernd im Gleichklang waren. Sie erkennen ferner, dass die Arbeitslosigkeit nach 2009 in den
Ländern der EU-27 und in den 17 Ländern der EuroZone gestiegen ist, nur nicht in Deutschland. In Deutschland ist diese Zahl erfreulicherweise im Sinken begriffen.
Das zeigt, dass die Maßnahmen, die wir hier teilweise gegen heftigste Kritik der Opposition durchgesetzt haben,
gegriffen haben. Sie haben dazu geführt, dass mehr Menschen in Beschäftigung gekommen sind.
({3})
Und das ist auch gut so, weil ein Arbeitsplatz - Sie
wollen das nicht hören, aber das gilt, und diejenigen, die
die positive Erfahrung, wieder in Beschäftigung zurückzukehren, machen konnten, werden das nachhaltig unterstreichen - die beste Sozialpolitik ist. Mit einem Arbeitsplatz kann man Menschen am besten in die Lage
versetzen, wieder selbstverantwortlich und mündig für
sich selbst zu sorgen und vorzusorgen. Diese Bemühungen verfolgen wir. Mit diesen Bemühungen - das räume
ich ein - sind wir noch nicht am Ziel angekommen, auch
wenn sich die Etappenergebnisse in diesem Bereich
wirklich sehen lassen können.
Wir haben eine schmerzhafte Wirtschafts- und Finanzkrise hinter uns, aber dank der schwarz-gelben Koalition sind die richtigen Entscheidungen getroffen worden. Wir haben die Krise großartig gemeistert. Das ist
einzigartig in Europa. Nicht ohne Grund wird überall
vom „German Jobwunder“ gesprochen. Diesen Kurs
werden wir weiter fortsetzen, allen Anfeindungen der
Opposition zum Trotz.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und freue
mich auf die Verkündung der Arbeitslosenzahlen für
April in wenigen Tagen. Sie werden das, was ich hier gesagt habe, nachdrücklich bestätigen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Yvonne Ploetz. Bitte schön, Frau Kollegin
Yvonne Ploetz.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Immer wieder wird behauptet, Jugendliche seien politikverdrossen. Ich kann Ihnen heute bestätigen, dass das so
nicht der Fall ist.
({0})
Es ist andersherum: Die Politik ist schon seit Jahrzehnten komplett jugendverdrossen.
({1})
Sie kümmert sich ausschließlich darum, welche Probleme junge Menschen machen, und nicht darum, welche sie haben, Herr Tauber.
({2})
Die Hartz-IV-Gesetzgebung für junge Menschen ist
dafür wirklich das beste Beispiel. Ich will heute gar nicht
darüber reden, dass die Einführung von Hartz IV ein
historischer Fehler war. Das haben wir oft genug betont.
({3})
Gestern wurde noch einmal gerichtlich untermauert,
dass es menschenunwürdige Bestandteile gibt.
Ich will mich auf die konkrete Situation von jungen
Menschen beziehen und dabei auf drei Punkte: das Konstrukt Bedarfsgemeinschaft, das Auszugsverbot und die
verschärften Sanktionsregelungen.
({4})
Das sind drei diskriminierende Sonderregelungen, die
umgehend zurückgenommen werden müssen.
({5})
Seit 2006 werden unter 25-jährige Volljährige, also
junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, der Bedarfsgemeinschaft der Eltern zugerechnet. Sie sehen
junge Menschen also als ein Anhängsel der Eltern und
nicht als hilfebedürftige Einzelpersonen, die ganz eigene
Bedürfnisse und ganz eigene Probleme haben. Weil Bedarfsgemeinschaft auch heißt, im gleichen Haushalt zu
leben, heißt das nach Ihrer Logik, dass einem jungen
Menschen nur 80 Prozent der Regelleistung zustehen.
Das hat mit einer bedarfsorientierten Sozialleistung
überhaupt nichts zu tun.
({6})
Mit 18 ist man volljährig. Man ist voll geschäftsfähig.
Spätestens mit der Volljährigkeit sollten jedem
Menschen alle sozialen Unterstützungsleistungen voll
zustehen.
({7})
Zum zweiten Punkt. Jugendliche - das haben wir
heute schon öfter gehört - werden wesentlich stärker
nach SGB II bestraft als Erwachsene. Ihnen dürfen nach
einem Verstoß - es ist ein Verstoß immer aus Sicht der
Behörde - 100 Prozent der Regelleistungen für drei
Monate gekürzt werden. Das heißt: drei Monate 0 Euro.
Bei einem weiteren Verstoß - wiederum aus Sicht der
Behörde - erlauben Sie als Regierung, dass auch Heizkosten und Miete gestrichen werden. Kein Staat hat das
Recht, einem Menschen die Lebensgrundlage zu nehmen.
({8})
Wissen Sie eigentlich, wohin das führen kann? Zu
Verschuldung im Jugendalter, zu einem Abrutschen in
die Kriminalität, zu einem völligen Verlust des Vertrauens in den Staat und vielleicht in die Demokratie, zu Perspektivlosigkeit, bis hin zu Krankheit und Armut.
({9})
Dabei muss doch gerade die Politik dafür sorgen, dass
kein junger Mensch in eine solche Abwärtsspirale gerät.
({10})
Überhaupt: Eine Regierung, die es schafft, eine Jugendarmutsquote in Höhe von 22 Prozent im eigenen Land
locker zu übersehen, hat überhaupt kein moralisches
Recht, Jugendlichen mit einem solchen Misstrauen entgegenzutreten.
({11})
Drittens. Ich komme zum Genehmigungsvorbehalt
beim Wohnungsauszug. Wenn junge Menschen das
18. Lebensjahr vollendet haben, aber im Hartz-IV-Bezug
sind, trifft sie ein faktisches Auszugsverbot.
({12})
Wenn sie ausziehen wollen, müssen sie nachweisen, dass
für sie in der Familie eine schwere Notlage besteht. Wir
finden, dass allein der Wunsch, auszuziehen, selbstständig zu werden und auf eigenen Füßen zu stehen, ein
unterstützenswerter Schritt in das Erwachsenenleben ist.
({13})
Nach Ihrer Logik müssen Behörden feststellen, dass
einem Jugendlichen in der Herkunftsfamilie zum Beispiel Gewalt droht. Mussten Sie schon einmal die persönlichsten und intimsten Facetten Ihres Lebens auf den
Tisch einer Behörde legen? Wissen Sie, was das für eine
Demütigung ist?
({14})
Schwere Schicksale und ganze Lebenswege hängen von
dem Mut eines Jugendlichen oder von der richtigen Einschätzung und der Bereitwilligkeit eines Sachbearbeiters
oder einer Sachbearbeiterin ab. Überlegen Sie doch einmal, welche Auswirkungen die Gesetze, die Sie hier machen, in der Realität haben!
Und wenn die Gründe für den Auszugswunsch nicht
als schwerwiegend anerkannt werden? Selbst wenn sich
in einer Familie ständig das Karussell von Arbeitslosigkeit, von Existenzangst, von ständigem Scheitern und
Selbstzweifel dreht, wenn aufgrund einer solchen Situation enormer Stress entsteht und immer wieder Konflikte
mit den Eltern entstehen, wenn Jugendliche nicht mehr
den Kopf freihaben, um die Schule oder die Ausbildung
anständig abzuschließen, wird oftmals gesagt, dass kein
Auszugsgrund vorliegt. Dann schlafen junge Menschen
lieber bei Freunden, mal hier und mal dort oder ziehen
sich auf die Straße zurück. Das nennt man auch Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Diese Schicksale provozieren Sie mit diesen Sonderrepressionen.
Frau Kollegin, auch wenn Sie Ihr Redemanuskript auf
die Lichtzeichen für die Redezeit gelegt haben, läuft
diese dennoch ab.
({0})
Es ist zwar für Sie sehr angenehm, die Lichtzeichen
nicht zu sehen, aber ich muss Sie dennoch an die Redezeit erinnern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Präsident, eines müssen Sie sich noch anhören. - Der griechische
Schriftsteller Ioannis Kondylakis hat einst gesagt - ich
zitiere -: „Jugend ohne Fröhlichkeit kann nicht als Jugend verstanden werden.“ Sie als Regierung müssen
endlich den Auftrag annehmen, jungen Menschen die
Steine aus dem Weg zu räumen, statt ihnen immer neue
Brocken hinzuzulegen.
({0})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege Markus
Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Bemerkenswert finde ich insbesondere bei den Koalitionsfraktionen, aber auch bei Teilen der SPD die Grundhaltung gegenüber Arbeitsuchenden nach dem Motto:
Wenn nicht sofort gespurt wird - klar, Regelverstoß -,
dann muss man sofort sanktionieren, und damit hat sich
die Sache.
({0})
Angesichts dieser Haltung musste ich an den Film
Ziemlich beste Freunde denken. Den haben vielleicht einige gesehen; er beruht auf einer wahren Begebenheit.
Es geht um einen älteren wohlhabenden Aristokraten,
der ab dem Halswirbel gelähmt ist und eine persönliche
Assistenz braucht, jemanden, der ihn pflegt, füttert, ihm
beim Verrichten der Notdurft und bei anderem hilft. Unter den Bewerbern für diese Assistenz ist ein junger
Mann mit westafrikanischem Zuwanderungshintergrund.
Er kommt aus einer prekären sozialen Situation, lebt in
einer der Vorstädte von Paris,
({1})
hatte eine eher verkorkste Jugend und ist wie das historische Vorbild auf dem besten Wege zu einer kriminellen
Karriere. Er bewirbt sich um diese Assistenz, weil er
vom Arbeitsamt dazu aufgefordert worden ist. Er sagt
aber unumwunden: „Unterschreiben Sie mir das, damit
ich mein Arbeitslosengeld kriege. Ich will die Stelle sowieso nicht.“ - Nach den deutschen Sanktionsmaßstäben
wäre dieser Mensch, wenn das Arbeitsamt davon Kenntnis gehabt hätte, sofort sanktioniert worden. Dann wäre
dieser wunderbare Film schon zu Ende.
({2})
Jetzt geschieht aber etwas ganz Besonderes: Diese
Person wird von dem Aristokraten - er stellt ihn nämlich
ein - gefordert, und zwar durch die Aufgabe und durch
Förderung, und der junge Mann entwickelt sich. Der
Aristokrat lässt ihn nicht gehen. Er sagt nicht einfach:
„Geh weg“, sondern er packt ihn bei der Ehre und fragt
ihn: „Ist das eigentlich alles, was du der Gesellschaft geben willst?“ Daraus entwickelte sich dann eine verantwortungsvolle Freundschaft und bei dem jungen Mann
auch eine verantwortungsvolle Persönlichkeit. Heute ist
er Unternehmer und Familienvater und hat drei Kinder.
Ich finde, die Grundhaltung, die in dieser Person, die erst
einmal sagt: „Nein, ich will nicht“, dann aber ernst genommen und gefördert wird, zum Ausdruck kommt,
sollte die Grundhaltung in allen Jobcentern in Deutschland sein.
({3})
Diese Grundhaltung kommt auch in unserem Antrag
„Rechte der Arbeitsuchenden stärken - Sanktionen aussetzen“, der heute ebenfalls debattiert und über den
nachher namentlich abgestimmt wird, zum Ausdruck.
Wir wollen Mitspracherechte. Wir sagen keineswegs:
Wir setzen nicht auf Solidarität und Gegenleistung. Wir
wollen aber die Möglichkeit schaffen, dass Arbeitsuchende eigene Vorschläge machen. Wir wollen zum Beispiel die Möglichkeit schaffen, dass sie zwischen verschiedenen Angeboten, wenn es denn möglich ist,
auswählen. Vor allen Dingen wollen wir, dass sie bei
Maßnahmen, bei denen sie ganz klar für sich erkennen,
dass sie sinnlos sind und sie nicht weiterbringen, widersprechen und diese ablehnen können, ohne gleich Sanktionen fürchten zu müssen. So wollen wir Eigenmotivation erzeugen und damit effektive Eingliederungs- und
Arbeitsmarktpolitik betreiben. Das tut nämlich wirklich
not.
({4})
Ich muss trotz meiner knappen Redezeit noch eine
Bemerkung zu Ihnen machen. Sie sagen immer: Nur
3,4 Prozent der Arbeitsuchenden sind im letzten Jahr
von Sanktionen betroffen gewesen. Es kommt aber nicht
nur auf diejenigen an, die von Sanktionen betroffen sind,
sondern auch auf die vielen Hunderttausende, die ihr
Verhalten aus Angst vor Sanktionen anpassen. Das muss
man mitberücksichtigen.
({5})
Das hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsuchenden und am Ende des Tages auch auf das
Lohnniveau.
({6})
Ich schildere Ihnen zwei Fälle, die am Landessozialgericht in Hessen verhandelt wurden. Jemand hatte
große Befürchtungen wegen eines Vertrags, den er bei
einer Leiharbeitsfirma unterzeichnen sollte. Er erbat
beim Jobcenter nur eine kurze Bedenkzeit, um sich den
Vertrag erklären und übersetzen zu lassen. Schon wurde
die erste Sperrzeit für das Arbeitslosengeld wegen angeblicher Verweigerung der Arbeitsaufnahme verhängt.
Das darf nicht sein.
({7})
Noch schlimmer war der Fall eines in jeder Hinsicht
vom Arbeitgeber ausgenutzten Berufskraftfahrers, der
sanktioniert worden war, weil er sich gegen schlechte
Arbeitsbedingungen gewehrt hatte, und zwar in ganz regulärer Weise.
Das sind, wie gesagt, zwei Fälle, die vor dem Landessozialgericht in Hessen verhandelt worden sind. Dort
sind die Sanktionen dann aufgehoben worden, aber erst
in zweiter Instanz. Wie viele reale Fälle, die gar nicht
erst bei Gericht landen, stehen dahinter, in denen die Betroffenen schlechte Arbeitsbedingungen oder Löhne, die
sogar sittenwidrig sind, akzeptieren, aus Angst, sonst
könnte ihnen etwa der Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II gestrichen werden? Auch das muss
man bedenken.
Ich bin der Ansicht: Bevor wir bei den Jobcentern
nicht zu einer partnerschaftlichen Praxis im eingangs geschilderten Sinne gekommen sind und bevor wir nicht
Widerspruchsmöglichkeiten geschaffen haben, sollten
Sanktionen ausgesetzt werden. Darum sind viele Mitglieder meiner Fraktion - auch ich selbst - Mitglied des
Bündnisses für ein Sanktionsmoratorium, ebenso wie
Vertreter der Kirchen, der Wissenschaft, der Kultur und
der Parteien SPD und Grüne sowie der Linkspartei. Im
Sinne dieses Sanktionsmoratoriums bitte ich um Unterstützung für unseren Antrag.
Danke.
({8})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner ist für
die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege Paul
Lehrieder. Bitte schön, Kollege Paul Lehrieder.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Erlauben Sie mir erst noch ein paar Bemerkungen zu meinem Vorredner.
Lieber Kollege Kurth, Sie haben hier mit großem Pathos das Beispiel des Aristokraten zitiert, der den Jugendlichen bei der Ehre gepackt hat. Der Jugendliche hat
Glück gehabt. Nicht jeder potenzielle Arbeitgeber ist ein
Aristokrat, der die Bestätigung ausstellt: „Jawohl, du
hast dich bei mir vorgestellt“, und danach fragt: „Bitte
schön, ist das alles, was du kannst?“ Ganz im Gegenteil:
Genau diese Aufgabe des Aristokraten erledigen bei uns
im Jobcenter die engagierten, dynamischen Fallmanager.
({0})
Zu Ihnen, Frau Kollegin Kipping: Frau Kipping, Sie
haben eingangs, bei Einführung in den Tagesordnungspunkt, das Beispiel der Frau Birgit P. ausgeführt. Ich
gehe davon aus, dass es sich um einen real existierenden
nicht Sozialismus, sondern Fall handelt. Ich bin gerne
bereit, mich mit dieser Frau Birgit P. zu unterhalten, weil
ich hier ein Verständnisproblem habe. Wenn eine junge
Frau, die in einem Tagesmutterprojekt tätig ist, ein Jobangebot bekommt, bei dem sie mehr verdienen kann,
und sagt: „Ich kann es aber erst in einem Vierteljahr annehmen“, dann hat sie sich sicherlich bemüht, vorzeitig
aus dem bisherigen Vertragsverhältnis auszusteigen, damit sie das neue Vertragsverhältnis eingehen, also den
dauerhaften Job annehmen kann. Von daher: Lassen Sie
uns doch gemeinsam daran arbeiten, dass die Langzeitarbeitslosen eine verbesserte Berufstätigkeit ausüben
können, und nicht sagen, dass sie jetzt in dem Tagesmutterprojekt bleiben muss.
Gestatten Sie mir auch, dass ich an dieser Stelle zunächst ein paar Zahlen zur derzeitigen Entwicklung auf
dem Arbeitsmarkt nenne. Die Erwerbstätigkeit und die
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nehmen
weiter kräftig zu. Ich teile den Optimismus des Kollegen
Kolb, der gesagt hat: Wenn in wenigen Stunden die
neuen Arbeitslosenzahlen vorgestellt werden, dann werden wir abermals Grund haben, uns zu freuen.
Ich will hier ausdrücklich auch ein Lob an die rotgrüne Vorvorgängerregierung aussprechen. Sie haben
mit der Agenda 2010 die richtige Weichenstellung ein
Stück weit vorgenommen, sodass wir jetzt besser dastehen als viele Länder im südlichen Europa. Wir haben das
fortentwickelt, aber Sie haben mit dazu beigetragen, dass
wir hier arbeitsmarktpolitisch so gut aufgestellt sind. Es
gehört zur politischen Wahrheit, das auch einmal zu sagen.
Meine Damen und Herren, im Zuge der einsetzenden
Frühjahrsbelebung ist die Arbeitslosigkeit vom Februar
bis März 2012 um weitere 82 000 Personen auf nunmehr
3,02 Millionen Personen gesunken. Die Arbeitslosenquote ging um 0,2 Prozentpunkte auf 7,2 Prozent zurück.
Ich habe das Glück, dass es in meinem Wahlkreis
mehrere Landkreise mit geringer Arbeitslosenquote gibt;
der Landkreis Würzburg hat eine Arbeitslosenquote von
2,9 Prozent. Der Wahlkreis von Wolfgang Zöller hat eine
Arbeitslosenquote von 2,7 Prozent. Das ist Vollbeschäftigung.
({1})
- Das ist zulässig und Vollbeschäftigung.
Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Natürlich.
({0})
Lieber Kollege Lehrieder, Sie haben die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt dargestellt.
Erste Frage. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass
bei dieser Entwicklung etwas schiefläuft, wenn trotz einer hervorragenden Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
und trotz einer guten ökonomischen Entwicklung die
Löhne stagnieren und im Niedriglohnbereich zurückgehen?
({0})
Zweite Frage. Könnten Sie sich vorstellen, dass das
vielleicht mit dem zu tun hat, worüber wir hier debattieren, dass nämlich durch die Sanktionen die Menschen in
die Situation versetzt werden - insbesondere auch die
jungen Leute -, Arbeit aller Art annehmen zu müssen,
auch die, die schlechter bezahlt wird als andere, auch
die, bei der schlechtere Bedingungen akzeptiert werden
müssen als bei üblicher Arbeit, und insbesondere auch
die, die in Form von Leiharbeit oder befristeten Arbeitsverhältnissen angeboten wird?
Zusammenfassend: Können Sie sich vorstellen, dass
die Sanktionen, über die wir hier diskutieren und die wir
abschaffen wollen, dazu beitragen, dass sich bei uns in
der Bundesrepublik Deutschland der Niedriglohnsektor
permanent ausweitet und dass trotz einer guten wirtschaftlichen Entwicklung eine negative Entwicklung bei
den Löhnen zu verzeichnen ist?
({1})
Lieber Kollege Ernst, herzlichen Dank für die Fragen.
Sie haben hier eben ausgeführt, dass die Sanktionen
dazu führen, dass insbesondere den Jugendlichen
„schlechte“ Arbeit vermittelt wird. Ich will Ihnen eines
sagen: Mir ist ein Jugendlicher, der in ein befristetes Arbeitsverhältnis vermittelt wird, lieber als ein Jugendlicher, der überhaupt kein Arbeitsangebot bekommt. Mir
ist ein Jugendlicher, der zunächst als Leiharbeiter die
Chance hat, seine Fähigkeit und seine Tüchtigkeit bei einem potenziellen Arbeitgeber unter Beweis zu stellen,
lieber als jemand, der überhaupt kein Arbeitsangebot bekommt.
Wir haben im Bereich der Leiharbeit, lieber Kollege
Ernst, vor Jahresfrist Mindestlöhne eingeführt. Wir debattieren derzeit über eine Lohnuntergrenze. Dabei tun
wir uns etwas schwerer, weil wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn für entbehrlich und für
nicht zielführend halten, weil wir die Arbeitsplätze hier
halten wollen, weil wir Möglichkeiten zur Arbeit geben
wollen.
Ich will Ihnen eines sagen: Ich habe eigentlich erwartet, dass Sie fragen, warum 26 Prozent derjenigen, die
arbeitslos wurden, direkt in den Hartz-IV-Bezug rutschen.
({0})
Das liegt daran - dazu hatten wir am Montag eine Anhörung -, dass der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt bei
den Langzeitarbeitslosen - Herr Ernst, bleiben Sie stehen, dann kann ich länger reden - ankommt.
({1})
Die stärkere Integration auch von Langzeitarbeitslosen führt zusammen mit einem Bedarf nach Niedriglohnprojekten dazu, dass diese eben tatsächlich erst einmal
zeitlich befristet oder über Leiharbeit eingestellt werden.
({2})
Aber natürlich profitieren auch sie vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufschwung.
({3})
Es ist doch so - das wissen Sie als Gewerkschafter am
allerbesten -, dass mittlerweile über die Lohnabschlüsse
deutlich wird, dass die Krise überwunden ist. Der Aufschwung kommt bei den Arbeitnehmern flächendeckend
an, auch bei den Geringqualifizierten.
({4})
Sie hätten mich ruhig noch fragen können, lieber Kollege Ernst, warum 26 Prozent der arbeitslos Werdenden
sofort Hartz-IV-Leistungen beziehen.
({5})
Das liegt daran - das haben die Sachverständigen am
Montag im Übrigen ausgeführt -, dass über 50 Prozent
derjenigen, denen gekündigt worden ist, vorher langzeitarbeitslos waren.
({6})
Mir ist es lieber, wenn jemand für drei, vier oder fünf
Monate eine Beschäftigung bekommt, als wenn er überhaupt kein Beschäftigungsangebot erhält.
Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität. Von
meinen Vorrednern wurde bereits darauf hingewiesen:
Die sozialen Leistungen sind keine Kuh, die im Himmel
frisst und auf Erden gemolken wird. Das heißt, all das,
was wir gewähren, muss durch steuerfinanzierte Mittel
von denjenigen, die in Lohn und Brot stehen, erwirtschaftet werden. Deshalb sind wir ihnen gegenüber verantwortlich. Deshalb auch die von Ihnen als Sanktionen
apostrophierten Einschränkungen. Fordern und Fördern! Das heißt, ich kann jedem zumuten, sich zu bewerben.
Ich habe die Frage erwartet - Herr Ernst, auch das
hätten Sie mich fragen können -,
({7})
warum im letzten Jahr über 900 000 Sanktionen verhängt worden sind. Natürlich ist die Anzahl der Sanktionen im letzten Jahr etwas höher gewesen. Das liegt aber
schlicht und ergreifend daran, dass durch eine florierende Wirtschaft der Jobcentermanager ein Angebot machen kann und dafür den Kunden einbestellt - es handelt
sich nicht um Fälle, Bedürftige oder Bittsteller, sondern
um Kunden des Jobcenters - bzw. zu einem Vorstellungsgespräch bittet. Wenn dann der Kunde sagt, dass er
dieses Angebot nicht wahrnehmen will, oder wenn er gar
nicht erst kommt, dann muss eine Sanktion im Interesse
der Allgemeinheit verhängt werden.
Von 912 000 im Jahr 2011 verhängten Sanktionen sind
590 000 darauf zurückzuführen gewesen, dass Termine
nicht eingehalten worden sind. Aber Termine einzuhalten
- es fängt bei Ihnen an, Frau Kipping, dass Sie zu Beginn
dieser Debatte hier im Plenarsaal des Bundestages sein
sollen -, muss jeder in seinem beruflichen Leben ein
Stück weit lernen und praktizieren. Der zweite Punkt ist
- 147 000 Fälle -, dass Vereinbarungen mit Jobcentern
nicht erfüllt werden. Der dritte Punkt ist - 138 000 Fälle -,
dass zumutbare Jobs oder Fortbildungen abgelehnt worden sind. Jetzt frage ich Sie, lieber Klaus Ernst - schwätzen Sie nicht! -: Wenn jemand einen zumutbaren Job
ablehnt - 138 000 Fälle - und deshalb weniger Geld bekommt, ist das unbillig?
({8})
Im Vorjahresvergleich ist die Arbeitslosigkeit - darauf habe ich bereits hingewiesen - in allen Bundesländern zurückgegangen. Auch die Zahl der Arbeitslosen,
die länger als zwölf Monate arbeitslos war, hat im Vergleich zum Vorjahr deutlich abgenommen. Die Chancen
für einen Langzeitarbeitslosen - hierauf habe ich bereits
hingewiesen - sind derzeit so gut wie noch nie.
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass die
überwiegende Zahl der Leistungsbezieher sehr engagiert
ist und unbedingt wieder in Arbeit kommen will. Die
hier heftig diskutierten Sanktionen betreffen - auch hierauf wurde von meinen Vorrednern bereits hingewiesen nur einen kleinen Bruchteil der Langzeitarbeitslosen.
({9})
Im letzten Jahr waren es lediglich 3,4 Prozent aller Leistungsberechtigten. In Anbetracht der Zahlen vermutet
die Bundesagentur für Arbeit, dass eine relativ kleine
Gruppe mehrfach sanktioniert wird.
Es ist mir wichtig, noch einmal klarzustellen, dass es
in der heutigen Debatte keinesfalls um die große Mehrheit der Langzeitarbeitslosen geht. Wir sprechen hier
auch nicht über die Ahndung von vorsätzlichem Betrug,
sondern von der Verletzung von Pflichten, welche der
Gesetzgeber den Unterstützten völlig zu Recht auferlegt
hat.
Liebe Frau Ploetz, Sie haben von einem Auszugsverbot gesprochen. Ein Auszugsverbot kennt unsere
Rechtsordnung nicht. Es kann jeder junge Mensch auch
unter 25 Jahren seinen eigenen Wohnsitz gründen. Die
Frage ist aber, ob ein arbeitsloser Jugendlicher unter
25 Jahren die Wohngeldkosten von der Allgemeinheit
erstattet bekommen muss. Dazu sage ich Nein.
({10})
Es hat früher einmal faktisch ein Auszugsverbot gegeben. Das hat aber ein Staat gegen seine Bürger verhängt. Davon möchte ich hier eben nicht sprechen.
({11})
Meine Damen und Herren, wir diskutieren über die
Menschen in diesem Land, die zu Recht Hartz IV beziehen, aber ihre Pflichten verletzt haben. Wer Leistungen
erhält, muss sich in Kooperation mit seinem Arbeitsvermittler bzw. Fallmanager darum bemühen, möglichst
bald wieder eine zumutbare Beschäftigung zu finden.
Die Leitphilosophie heißt Fordern und Fördern. Dahinter steht die Idee, Arbeitslose zu qualifizieren, dafür
aber auch bei der Suche nach einem Job sehr nachdrücklich Engagement und Eigeninitiative zu fordern.
Die Ausgangslage war, wie bereits erwähnt, noch nie
so gut wie zum jetzigen Zeitpunkt. Wann, wenn nicht in
einem so guten konjunkturellen Umfeld wie derzeit, sollen Leistungsbezieher sonst den Schritt aus der staatlichen Abhängigkeit schaffen? Die meisten Betroffenen
wollen dies doch auch und bemühen sich redlich, wieder
in Arbeit zu kommen. Das stellt sicherlich niemand in
Abrede.
Fast 97 Prozent aller erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger verhalten sich der Statistik der Bundesagentur
zufolge regelkonform, und zwar nicht aus Angst vor
Repressionen, sondern weil sie die Einsicht haben, dass
sie mit einer entsprechenden Mitwirkung, dem Gang
zum Vorstellungsgespräch und der Meldung bei einem
potenziellen Arbeitgeber am ehesten die Chance haben,
aus der von ihnen nicht gewollten Arbeitslosigkeit wieder herauszukommen. Das sollten wir honorieren. Wir
sollten nicht die extremen Beispiele, die Sie vorhin
zitiert haben, für eine Änderung heranziehen.
Was die Grünen angeht, halte ich von dem Moratorium nichts, lieber Herr Kurth. Sie haben damals Einsicht und Vernunft gezeigt, als Sie die Regelungen der
Agenda 2010 auf den Weg gebracht haben. Mittlerweile
ist bei einem Teil der Grünen in diesem Bereich eine kollektive Amnesie aufgetreten. Es wäre gut, wenn Sie es
weiterentwickeln, wie wir es im letzten Jahr bei den
Hartz-IV-Regelungen gemacht haben.
Ich halte beide Anträge für ablehnungsreif.
Danke schön.
({12})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Jetzt als nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Angelika Krüger-Leißner. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit einem Jahr beschäftigen wir uns mit diesem Thema, das die Linken mit ihrem Antrag eingebracht haben, in dem die generelle Abschaffung der
Sanktionen im SGB II gefordert wird, wie auch mit dem
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Wir haben dazu im
Ausschuss heftig diskutiert und Experten angehört.
Heute ziehen wir unsere Schlussfolgerungen daraus.
Der Antrag der Grünen hat viele gute Aspekte. Am
liebsten würde ich ihm zustimmen.
({0})
Denn eine Reform der Grundsicherung in Bezug auf die
Verbesserung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Betroffenen und die Stärkung ihrer Rechte ist ein guter Ansatz,
der auch unsere Unterstützung findet.
Allerdings können wir - darauf haben auch schon
meine Kollegen hingewiesen - bei der Forderung, die
Sanktionen im SGB II auszusetzen, nicht mitgehen. Ein
solches Sanktionsmoratorium ist rechtlich nicht möglich.
Heute beraten wir darüber hinaus einen neuen Antrag,
der auch durch die Linke eingebracht wurde. Darin wird
gefordert, die Hartz-IV-Sonderregelungen für unter
25-Jährige abzuschaffen. Auf den ersten Blick finde ich
das ganz geschickt, alle Achtung. Denn auch wir sind
der Ansicht, dass die verschärften Sanktionen gegen die
unter 25-Jährigen abzuschaffen sind. Es gibt nichts, das
diese Ungleichbehandlung von Arbeitsuchenden unter
25 und älteren Langzeitarbeitslosen über 25 bei den
Sanktionen rechtfertigt. Die Grenze ist willkürlich gezogen. Ein sachlicher Grund für diese Art der Altersdiskriminierung existiert nicht. Allein wegen seines Alters ist
ein jüngerer Arbeitsuchender nicht schärfer zu bestrafen
als ein älterer.
Lassen Sie mich darum deutlich sagen: Integration in
Ausbildung und Arbeit muss immer im Vordergrund stehen, und zwar gerade bei jungen Menschen. Die besonderen Sanktionsregelungen für die unter 25-Jährigen
sind dabei keineswegs motivationsfördernd. Sie bewirken eher das Gegenteil, nämlich das Herausdrängen aus
dem Integrationsprozess. Im schlimmsten Fall entziehen
sich die Betroffenen der Hilfe und der Unterstützung im
SGB-II-System und gehen dem regulären Arbeitsmarkt
auf Dauer verloren. Ich bin davon überzeugt, dass wir
uns das in unserer Gesellschaft nicht leisten können.
Anstatt den jungen Menschen eine Perspektive zu bieten, riskieren wir, dass sie sich abwenden. Das muss ein
Ende haben.
Die angesprochenen Sonderregelungen verstoßen zudem gegen das Gleichbehandlungsgebot. Die verfassungsrechtlichen Bedenken haben uns die Sachverständigen in der Anhörung bestätigt. Man könnte meinen,
damit wäre Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Fraktion der Linken, nun zustimmungsfähig.
Aber weit gefehlt! Die Linke wäre nicht die Linke, wenn
sie nicht wieder ein Sammelsurium an Forderungen im
Antrag hätte, die zum Teil recht abenteuerlich sind. Ich
halte das für konzeptionsloses Agieren. Ich will Ihnen
das an einem Beispiel des Antrags erläutern. Sie wollen
unter anderem, dass Grundsicherungsleistungen zu gewähren sind, soweit die Ausbildungsförderung gemäß
BAföG bzw. die Berufsausbildungsbeihilfe die Sicherung des Existenzminimums nicht erfüllt. Das besondere
System der Ausbildungsförderung schließt aber einen
Leistungsanspruch gemäß SGB II für junge Menschen in
der Ausbildung aus. Wenn Sie daran etwas ändern wollen, ist nicht das SGB II zu ändern, sondern Sie müssen
an die Ausbildungsförderung herangehen und sie gesetzlich neu regeln. So wie jetzt von Ihnen beantragt, geht es
nicht. Das kann unsere Unterstützung nicht finden,
obwohl wir mit Ihnen bei den Forderungen zur Abschaffung der verschärften Sanktionsregelungen für unter
25-Jährige übereinstimmen.
Lassen Sie mich deutlich sagen: Eine generelle Abschaffung der Sanktionen im SGB II lehnen wir ab. Ein
Freibrief, wie Sie ihn in einem Ihrer beiden Anträge fordern, ist unserem Rechtssystem fremd. Auf allen Rechtsgebieten gibt es Sanktionsregelungen bei Fehlverhalten
oder Missbrauch. Das ist auch im SGB II sinnvoll und
gerechtfertigt. Wer sich in betrügerischer Absicht durch
Vorspiegelung falscher Tatsachen oder durch wahrheitswidrige Angaben Leistungen erschleicht, ist im System
der Grundsicherung nicht schutzwürdig.
({1})
Aber wovon reden wir? Zum Glück - das möchte ich
hier besonders betonen - ist die Zahl der Fälle von Sozialbetrug verschwindend gering. Aber natürlich bleibt
es dabei: Für Missbrauch und anderes Fehlverhalten
müssen wir vorsehen, dass es auch geahndet wird. Der
generelle Wegfall der Sanktionen im SGB II wäre aus
meiner Sicht ein falsches Signal. Die ganz große Mehrheit der Leistungsbezieher im Rechtskreis des SGB II
verhält sich rechtstreu und korrekt. Wir können diesen
Menschen doch nicht ernsthaft sagen: Selbst schuld,
wenn ihr euch rechtstreu verhaltet! - Nichts anderes aber
würde es bedeuten, wenn wir die Sanktionsregelungen
generell streichen würden.
Ich will aber an dieser Stelle eines ganz deutlich
machen: Die SPD-Fraktion sieht durchaus Änderungsbedarf bei den geltenden Regelungen. Ich will drei Beispiele nennen - darüber sollten wir in der nächsten Zeit
nachdenken und diskutieren und gegebenenfalls zu
Änderungen kommen -:
Erstens. Das Fehlen oder die Unverständlichkeit von
Rechtsfolgenbelehrungen ist völlig inakzeptabel. Da
unterstütze ich ganz klar den Antrag der Grünen, der fordert, hier unbedingt nachzubessern. Natürlich müssen
Rechtsfolgenbelehrungen in schriftlicher Form erfolgen. Sie müssen verständlich und einzelfallbezogen formuliert sein.
Zweitens. Wir wollen eine aktive Mitwirkung des
Hilfeempfängers bei der Arbeitsuche durch einen Stopp
der Sanktionen belohnen. So sind Art und Umfang einer
Sanktion abzustufen, und eine Sanktion müsste leichter
zurückgenommen werden können als bisher.
Drittens. Ein weiteres Problem ist das Fallmanagement bei Beratung, Betreuung und Vermittlung arbeitsuchender Menschen. Das klappt nicht in jedem Fall so,
wie wir uns das wünschen. Hier muss individueller auf
die einzelnen Arbeitsuchenden eingegangen werden.
Ich finde, wir sollten auch noch einmal über den
Betreuungsschlüssel nachdenken. Wir haben ihn mithilfe
auch meiner Fraktion so verändert, dass für die unter
25-Jährigen die gute Relation von 1 : 75 gilt.
Bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.
Aber vielleicht ist es gerade bei diesem Personenkreis
wichtig, darüber nachzudenken, ob wir für bessere Beratung, Betreuung und Vermittlung nicht den Betreuungsschlüssel nachbessern sollten.
Sie sehen, wir setzen uns mit der Problematik der
Sanktionen ehrlich auseinander und machen Änderungsvorschläge zur Verbesserung für die Betroffenen. Ich
lade Sie dazu ein, mitzumachen.
Danke.
({0})
Nächster Redner in unserer Debatte ist für die Fraktion der FDP unser Kollege Sebastian Blumenthal. Bitte
schön, Kollege Blumenthal.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Die bestehenden Möglichkeiten der stufenweisen
Kürzung von Leistungen halte ich für ausreichend.
Das hat die ehemalige Berliner Sozialsenatorin
Carola Bluhm von den Linken geäußert. Heute legt die
Bundestagsfraktion der Linken uns unter anderem einen
Antrag vor, in dem offenkundig diese Einschätzung ihrer
eigenen Fachpolitikerin nicht mehr geteilt wird. Die
Linke fordert nämlich die komplette Abschaffung sämtlicher Sanktionen im SGB II und im SGB XII.
Grundsätzlich verhält es sich so, dass die Verhängung
von Sanktionen kein Alleinstellungsmerkmal des SGB II
oder des SGB XII wäre. Ich kann als Beispiel dafür das
SGB I nennen. Dort ist in § 66 ausdrücklich vorgesehen,
den Antragstellern bei fehlender Mitwirkung die Transferleistungen entweder anteilig zu streichen oder auch
komplett zu entziehen. Ein anderes Beispiel betrifft den
Wirkungsbereich des SGB III. Nach § 148 ist es möglich, das Arbeitslosengeld zu sperren, wenn Mitwirkungspflichten verletzt werden.
Die Verhängung von Sanktionen ist somit kein Alleinstellungsmerkmal, und es gibt sie auch nicht erst seit
Einführung der Hartz-Gesetze. Im alten Bundessozialhilfegesetz, das durch das SGB II und das SGB XII
abgelöst wurde, hat es den einschlägigen § 25 gegeben.
In § 25 hieß es unter der Überschrift „Ausschluß und
Einschränkung der Leistung“:
Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder
zumutbaren Maßnahmen nach den §§ 19 und 20
nachzukommen, hat keinen Anspruch auf Hilfe
zum Lebensunterhalt.
Insofern ist die Behauptung, man habe durch die
Hartz-Gesetze Verfassungsgrundsätze verletzt, nicht zutreffend. Wir haben es vom Grundsatz her mit der gleichen Rechtslage zu tun, die auch schon vor den HartzIV-Gesetzen bestanden hat. Bei nahezu jeder Leistung,
die der Sozialstaat in Deutschland bereitstellt, müssen
die Antragsteller in einer bestimmten Form mitwirken.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
Fraktion Die Linke, das, was Sie in Ihren Redebeiträgen
heute gesagt haben, macht die Debatte nicht einfacher.
Sie unterstellen uns, wir würden Transferleistungsempfänger pauschal diffamieren; ich habe in Ihren Redebeiträgen, Frau Kipping, ein ähnliches Verhaltensmuster
entdeckt. Wie Sie über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter gesprochen haben, ist nicht akzeptabel. Das trifft auf keinen Fall den richtigen Ton.
({0})
Wir alle besuchen in unseren Wahlkreisen mit Sicherheit die Jobcenter. In meine Sprechstunden kommen
Bürgerinnen und Bürger, die Probleme bei der Leistungserteilung haben und Sanktionen unterworfen sind.
Aber Ihre pauschale Darstellung wird dem Anspruch
einer sachgerechten Debatte nicht gerecht. Insofern
haben wir von der FDP-Fraktion gute Gründe, Ihre
Anträge abzulehnen, was wir auch tun werden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wir kommen jetzt zu unserer letzten Rednerin.
Ich darf Sie herzlich bitten, ihr die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Bitte schön, Frau Kollegin Heike
Brehmer für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Hartz-IV-Sonderregelung für unter 25-Jährige abschaffen“, „Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränken im Zwölften
Buch Sozialgesetzbuch abschaffen“, „Rechte der Arbeitsuchenden stärken - Sanktionen aussetzen“, so lauten
die Themen unserer heutigen Debatte.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie bezeichnen in Ihrem Antrag die Einführung von
Hartz IV als einen historischen Fehler.
({0})
An dieser Stelle möchte ich Sie noch einmal daran erinnern, dass die Hartz-IV-Reform im Jahr 2005 - von RotGrün damals auf den Weg gebracht - das Ziel hatte,
Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen und
Leistungen aus einer Hand anzubieten. Vor der Reform
- jetzt bitte ich Sie, noch einmal genau zuzuhören - lebten circa 2,9 Millionen Bürgerinnen und Bürger von
Sozialhilfe. Der Sozialhilfesatz lag damals unter den jetzigen Regelsätzen von Hartz IV. Die Betroffenen hatten
kaum Chancen, in den ersten Arbeitsmarkt integriert zu
werden. Mit der Hartz-IV-Reform hat sich dies für die
Betroffenen grundlegend geändert.
({1})
Im gleichen Augenblick erhöhten sich die Regelsätze der
Sozialhilfe um 16 Prozent.
({2})
Noch eine Zahl zum Vergleich: Im April 2005 hatten wir
insgesamt circa 5 Millionen Arbeitslose. Heute beträgt
die Zahl der Arbeitslosen circa 3 Millionen.
Meine Damen und Herren, solche Zahlen fallen doch
nicht einfach vom Himmel. Sie sind begründet in der
nachhaltigen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, für die wir
die Weichen gestellt haben.
({3})
Zum Thema Sanktionsregelungen bei Hartz IV hatten
wir in unserem Ausschuss am 6. Juni 2011 eine öffentliche Anhörung. Der Sachverständige Dr. Markus
Schmitz hat ausgeführt, dass circa 97 Prozent der jungen
Hartz-IV-Bezieher nicht von Sanktionen betroffen sind.
Es mussten lediglich 3 Prozent mit Sanktionen belegt
werden. Glauben Sie wirklich, dass diese Quote ohne die
geltende gesetzliche Regelung auch so Bestand hätte?
Die Anhörung verdeutlichte ebenso, dass das Arbeitslosengeld II eben nicht als bedingungsloses Grundeinkommen konzipiert wurde.
({4})
Mit Ihren Forderungen nach einer Abschaffung von
Sanktionen im SGB II setzen Sie eindeutig Fehlanreize.
Wir wollen keine Fehlanreize zur dauerhaften Inanspruchnahme von staatlichen Transferleistungen für
Jugendliche unter 25 setzen. Wir als CDU/CSU wollen,
dass alle Jugendlichen die bestmögliche Schulbildung
erhalten und die Schule mit einem Schulabschluss verlassen. Wir als CDU/CSU wollen, dass die Jugendlichen
eine Berufsausbildung oder ein Studium absolvieren unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.
Ich möchte hier noch einmal darauf verweisen, dass
die unionsgeführte Bundesregierung in den letzten Jahren viele Maßnahmen zur Förderung von Langzeitarbeitslosen auf den Weg gebracht hat,
({5})
zum Beispiel den Beschäftigungszuschuss für Langzeitarbeitslose, das Programm „JobPerspektive“ sowie den
Qualifizierungs-Kombi „Job-Bonus“ zur Verbesserung
der Qualifizierung von jüngeren Menschen unter 25.
In der christlich-liberalen Koalition haben wir mit
dem Beschäftigungschancengesetz die Berufswahl
erleichtert und die Berufsausbildungschancen verbessert.
Für Langzeitarbeitslose und junge Menschen mit
schweren Vermittlungshemmnissen im Rechtskreis des
SGB II haben wir die Erprobungsphasen auf bis zu
zwölf Wochen verlängert.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie herzlich
bitten, der Rednerin die notwendige Aufmerksamkeit zu
geben. Es sollte nicht sein, dass die Rednerin hier stört.
({0})
Frau Kollegin Brehmer, Sie haben das Wort. Bitte
schön.
Wir haben die investive Förderung von Jugendwohnheimen ermöglicht.
Mit der Jobcenterreform haben wir ein Gesetz auf den
Weg gebracht, welches die Betreuung und Vermittlung
in den Jobcentern qualitativ verbessern soll.
({0})
In vielen Regionen zeichnet sich bereits heute ein
Fachkräftebedarf ab. Junge Menschen haben - wie
schon lange nicht mehr - gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
({1})
Die Bundesagentur und die Jobcenter können freie Stellen und auch freie Lehrstellen anbieten. In einigen Regionen gibt es schon jetzt nicht ausreichend Bewerber.
Wir sollten überlegen, ob wir Jugendliche nicht noch
besser unterstützen und fördern können, wenn sie sich
entscheiden, eine Ausbildung in einer anderen Region
aufzunehmen, und auf eine Wohnung, Fahrkostenerstattung etc. angewiesen sind.
({2})
Im Hinblick auf die demografische Entwicklung
brauchen wir in den nächsten Jahren alle Jugendlichen.
Wir sind als Gesellschaft daher gefordert, sie nach ihren
Fähigkeiten und Fertigkeiten bestmöglich auszubilden.
Damit ebnen wir ihnen den Weg in ein eigenständiges
Leben. Dazu gehört, dass möglichst alle Jugendlichen
eine Lehre oder ein Studium beenden. Das erreichen wir
nur mit dem Prinzip des Förderns und Forderns.
({3})
Ihre Anträge sind daher völlig kontraproduktiv. So etwas
schadet den jungen Menschen und hilft ihnen nicht.
Deswegen, es geht nicht ohne Sanktionen. Jeder
kennt das doch aus seinem persönlichen Alltag. Herr
Dr. Tauber hat vorhin ein anderes Beispiel angeführt. Ich
nenne Ihnen eines, das Sie alle kennen. Wenn sich ein
Kind einmal an einer heißen Herdplatte verbrannt hat,
wird es sie so schnell nicht wieder anfassen.
({4})
Sehr geehrte Damen und Herren, uns geht es nicht
darum, Leistungsempfänger unter großen Druck zu setzen und ihnen Unmögliches abzuverlangen. Es geht vielmehr darum, den Betroffenen die potenzielle Gefahr
einer Langzeitarbeitslosigkeit deutlich zu machen und
ihnen den Weg in die Erwerbstätigkeit zu eröffnen.
({5})
Insbesondere junge Leute unter 25 Jahren benötigen
neben einer Qualifizierungsförderung auch Hilfe in anderen Bereichen, um den Weg in die Beschäftigung zu
gehen. An dieser Stelle denke ich beispielsweise an eine
bedarfsgerechte Kinderbetreuung für junge Familien.
Von daher ist es wichtig, dass Arbeitsagenturen, Jobcenter und Kommunen vor Ort eng zusammenarbeiten,
um mögliche Probleme und Hemmnisse aufzuzeigen
und gemeinsam mit den Betroffenen nach Lösungen zu
suchen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam sollten
wir aber auch überlegen, wie wir den Betroffenen die
Antragstellung und das Verständnis der Bescheide erleichtern können. Viele sind mit der Bürokratie überfordert und sind überrascht, wenn sie Sanktionen erhalten.
Die meisten Sanktionen werden ausgesprochen, weil
Betroffene ihrer Meldepflicht nicht nachgekommen sind.
Dabei sollten wir das Prinzip des Förderns und Forderns
aber trotzdem nicht außer Acht lassen.
({6})
Meine lieben Kollegen von den Grünen, Sie haben die
Hartz-IV-Reform seinerzeit mit auf den Weg gebracht
und fordern jetzt die Streichung bzw. Aussetzung der
Sanktionen. Als es um die Änderung der Regelsätze und
die Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes ging,
haben Sie sich aus der Verantwortung gestohlen. Mit
dem Bildungs- und Teilhabepaket haben wir erstmals
Kindern und Jugendlichen aus Geringverdienerfamilien
die Chance eröffnet, an gesellschaftlichen Aktivitäten
und Bildungsangeboten teilzunehmen. Für uns sind
Investitionen in Bildung Investitionen in die Zukunft.
({7})
Wir wollen, dass junge Menschen eine berufliche Perspektive erhalten und nicht auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Die Fraktion der CDU/CSU wird Ihren
Anträgen daher nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin Brehmer. - Ich schließe
nun die Aussprache, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9070 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/6391.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5174 mit dem
Titel „Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
und Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch So-
zialgesetzbuch abschaffen“. Wir stimmen nun über den
Buchstaben a der Beschlussempfehlung auf Verlangen
der Fraktion Die Linke namentlich ab.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im Anschluss
noch eine weitere namentliche Abstimmung durchführen
werden.
Zur ersten namentlichen Abstimmungen liegen zahl-
reiche schriftliche Erklärungen zur Abstimmung vor, die
zu Protokoll gegeben werden.1)
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind die Plätze
an den Urnen alle besetzt? - Noch nicht. Vorne bei mir
auf der linken Seite sind die Urnen noch nicht besetzt. -
Ist jetzt alles komplett? - Ja, es ist komplett. Somit er-
öffne ich die namentliche Abstimmung über den Buch-
staben a der Beschlussempfehlung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Wir sind noch nicht
so weit. Es gibt auf der linken Seite oben einen kleinen
Stau.
Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme
abgegeben? - Das ist der Fall. Ich schließe die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen.2)
Wir kommen nun zur zweiten namentlichen Abstim-
mung. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/3207 mit dem Titel „Rechte
der Arbeitsuchenden stärken - Sanktionen aussetzen“.
Wir stimmen nun über den Buchstaben b der Beschluss-
empfehlung auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehen Plätze einzunehmen. - Das ist der Fall; alle
Plätze an den Urnen sind besetzt. Ich eröffne die na-
mentliche Abstimmung über den Buchstaben b der Be-
schlussempfehlung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.
Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
werden Ihnen später bekannt gegeben.3)
Wir setzen die Beratungen fort. Bevor ich weiterma-
che, darf ich Sie bitten, wieder die Plätze einzunehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, teile ich Ihnen
mit, dass sich die Fraktionen verständigt haben, den
Zusatzpunkt 3 a - es handelt sich um die erste Beratung
des Gesetzentwurfs der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zur Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe -
von der Tagesordnung abzusetzen. Sie sind mit der
Vereinbarung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 a bis f sowie den
Zusatzpunkt 3 b und c auf:
40 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2012 zur Einrichtung des
Europäischen Stabilitätsmechanismus
- Drucksache 17/9370 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus ({1})
- Drucksache 17/9371 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesschuldenwesengesetzes
- Drucksache 17/9372 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 2
2) Ergebnis Seite 20656 D 3) Ergebnis Seite 20659 A
Vizepräsident Eduard Oswald
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März
2011 zur Änderung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren Währung
der Euro ist
- Drucksache 17/9373 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vorschlag der EU-Kommission zum Klimaschutz im Kraftstoffbereich unterstützen
- Drucksache 17/9404 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Markus Kurth, Daniela Wagner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Barrieren abbauen - Mobilität und Wohnen
für alle
- Drucksache 17/9406 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 3 b)Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausPeter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, Dr. Birgit Reinemund und der Fraktion
der FDP
Rechtssicherheit beim Zugang zu einem Basiskonto schaffen
- Drucksache 17/9398 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Cornelia Behm, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Verantwortung für die entwicklungspolitische
Dimension der EU-Fischereipolitik übernehmen
- Drucksache 17/9399 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 a bis c sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 41 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung der Arbeitszeit von selbständigen Kraftfahrern
- Drucksache 17/8988 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({9})
- Drucksache 17/9258 Berichterstattung:
Abgeordnete Kirsten Lühmann
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/9258, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8988 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen mit
Ausnahme der Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Fraktion Die Linke.
Somit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten,
Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - NieVizepräsident Eduard Oswald
mand. Enthaltungen? - Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist somit angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Eurojust-Gesetzes
- Drucksache 17/8728 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({10})
- Drucksache 17/9434 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Burkhard Lischka
Marco Buschmann
Raju Sharma
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9434, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/8728 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die
Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenstimmen? - Linksfraktion.
Enthaltungen? - Keine. Somit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Die
Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist
angenommen.
Tagesordnungspunkt 41 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({11})
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Stärkung der Rechte kommunaler Spitzenverbände im Gesetzgebungsverfahren ({12})
- Drucksache 17/9387 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Christian Lange ({13})
Jörg van Essen
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({14})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das
sind alle Kolleginnen und Kollegen des Hauses. Vorsichtshalber die Gegenprobe! - Keine. Enthaltungen? Auch keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 4:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJosef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Anpassung der Marktprämie - Mitnahmeeffekte streichen
- Drucksache 17/9409 Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linksfraktion. Wer stimmt
dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Keine. Der Antrag ist abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Auswirkungen des deutsch-schweizerischen
Steuerabkommens auf die grenzüberschreitende Steuerhinterziehung
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat unser Kollege Joachim Poß für die Fraktion der Sozialdemokraten
das Wort. Bitte schön, Kollege Joachim Poß.
({15})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen hier im Plenum, ob sitzend oder stehend! Das
Steuerabkommen mit der Schweiz ist ein weiterer deutlicher Beleg, Herr Bundesfinanzminister, für die von Ihnen zu verantwortende ungerechte Steuerpolitik,
({0})
die unser Land in den letzten Jahren weiter gespalten
hat.
({1})
Sie und auch die Bundeskanzlerin versuchen, ein Abkommen, das Steuerkriminelle im Dunkeln verschwinden lässt, als Beleg für eine solide Finanzpolitik zu
etikettieren. Das, was Sie da machen, ist aber Etikettenschwindel.
Wer das deutsch-schweizerische Abkommen allein
danach beurteilt, dass es zusätzliches Geld in die öffentlichen Kassen bringt, offenbart zudem ein äußerst fragwürdiges Verständnis von Steuerpolitik und Steuergerechtigkeit.
({2})
Ein Bundesfinanzminister und auch eine Bundeskanzlerin dürfen elementare Fragen der Steuermoral und der
Steuergerechtigkeit nicht so ignorieren, wie es Herr
Schäuble und auch Frau Merkel im Zusammenhang mit
diesem Abkommen tun. Ich finde, das ist mit Ihren Regierungsämtern eigentlich nicht vereinbar. Wir können
doch nicht akzeptieren, dass massive Steuerhinterzie20650
hung in der Vergangenheit legalisiert und in Zukunft
weiterhin ermöglicht wird.
({3})
Genau das ist das Ergebnis des von Ihnen unterzeichneten Abkommens, egal, Herr Schäuble, was Sie dazu
gleich noch erklären werden.
Der Anwendungsbereich des Abkommens bleibt auch
mit dem Ergänzungsprotokoll vom 5. April lückenhaft.
Über Familienstiftungen und Trusts können zum Beispiel auch weiterhin Schwarzgelder und Kapitalvermögen vor dem deutschen Fiskus versteckt werden. Einige,
auch aus manchen Parteien, die hier vertreten sind, haben mit diesen Möglichkeiten in der Vergangenheit
durchaus Erfahrungen sammeln können - das möchte
ich einmal in Klammern hinzufügen.
Der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft,
Herr Eigenthaler - ich glaube, ein vormaliger Leiter eines Finanzamtes aus Baden-Württemberg -, kommt deshalb zu einer klaren Bewertung: Das Abkommen sei
löchrig wie ein Schweizer Käse und nur eine Scheinlösung.
({4})
Die Schweizer Regierung und die Schweizer Finanzwelt sind hochgradig nervös. Das liegt am Druck,
den die USA zur Aufdeckung von Steuerhinterziehung
und Geldwäsche ausüben, und auch an den Steuer-CDs.
Natürlich war es vom damaligen Bundesfinanzminister Steinbrück richtig, verbal etwas härter zuzugreifen,
({5})
um der Schweiz klarzumachen, dass es so wie bisher
nicht weitergehen kann,
({6})
und es gab ja auch Bewegung, aber eben nicht genug.
Aber seit der Regierungsübernahme durch SchwarzGelb und unter dem neuen Bundesfinanzminister
Schäuble wurden die Gänge im Kampf gegen die Steuerhinterziehung wieder zurückgeschaltet. Das ist ein Unding für unser Land, auch gesellschaftspolitisch.
({7})
Das Ergebnis ist heute zu besichtigen. Manches
würde sicherlich, wenn das Abkommen zustande käme,
in die Kassen von Bund und Ländern fließen. Schauen
Sie aber in den vom Kabinett beschlossenen Entwurf.
Darin steht die Summe, die sicher fließen würde. Sie
läge im Bereich von 2 Milliarden, und nicht im Bereich
anderer, viel höherer Zahlen und Ableitungen, die von
Ihnen genannt werden.
({8})
- Franken.
({9})
Aber viel mehr entgeht dem Fiskus jetzt und auch in der
Zukunft; denn die Steuerbetrüger bleiben auch nach diesem Abkommen weiterhin im Dunkeln. Die geltende
Anonymität wird durch das Abkommen kaum angekratzt. Das ist ein großer Sieg für die Schweizer Finanzbranche, was wir auch den Schweizer Medien entnehmen konnten: Als im letzten Jahr die erste Paraphe
getätigt war, also vor den Nachverhandlungen, da knallten die Champagnerkorken, und das wohl nicht ohne
Grund.
Der amtierende Bundesfinanzminister - Herr
Schäuble, das habe ich Ihnen von dieser Stelle aus schon
einmal gesagt - hat offensichtlich von vornherein das
Ziel gehabt, der Schweizer Regierung und den Schweizer Banken entgegenzukommen. Von vornherein wurde
zu lasch und zu nachgiebig verhandelt.
({10})
Das zeigt auch die Tatsache, dass dann doch noch ein Ergänzungsprotokoll zustande gekommen ist, nachdem es
im Bundesrat bei den von SPD und Grünen geführten
Ländern Widerstand gab.
({11})
- Ohne diesen Druck hätte es das doch gar nicht gegeben, Herr Kauder. Es waren doch Herr Schäuble und die
Schweizer Regierung, die erklärt haben: Es gibt nichts
nachzuverhandeln. Wir haben gesehen: Es gab doch
noch etwas nachzuverhandeln.
({12})
Das hätte von vornherein und konsequenter geschehen
müssen.
({13})
Im Übrigen, Herr Schäuble, als die Haftbefehle für
deutsche Steuerfahnder ausgestellt wurden, hätte man
schon erwarten können, dass Sie nicht von vornherein
Verständnis für das nationale Recht der Schweiz äußern,
sondern sich klar und eindeutig hinter die deutschen Finanzbeamten stellen, und zwar sofort.
({14})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist der
Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble.
Bitte schön, Kollege Dr. Wolfgang Schäuble.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Zusammenarbeit in den Bereichen
Steuern und Finanzmarkt stellen wir die effektive Besteuerung von Vermögenswerten deutscher Steuerpflichtiger in der Schweiz für die Vergangenheit und für die
Zukunft sicher.
({0})
Kommt das Abkommen nicht zustande, bleibt es bei
dem jetzigen Zustand.
In der Zukunft gibt es keinen Unterschied mehr: Ab
Inkrafttreten des Abkommens werden Kapitalanlagen
deutscher Steuerpflichtiger völlig gleich behandelt,
unabhängig davon, ob sie auf einer Schweizer oder auf
einer deutschen Bank sind. Der entscheidende Fortschritt, den wir erreichen, ist eine völlige Gleichbehandlung. Wir haben - das ist der entscheidende Punkt - die
Abgeltungsteuer. Ohne dieses Abkommen hätten wir sie
nicht. Die Schweizer Banken werden genauso wie deutsche Finanzinstitute die Abgeltungsteuer einbehalten
und an den deutschen Fiskus abführen.
Darüber hinaus haben wir einen gegenüber dem
OECD-Standard erweiterten Anspruch auf Informationen aus der Schweiz. Wir haben in dem Abkommen weiterhin die Vereinbarung, dass in Erbschaftsfällen entweder die Erbschaftsbesteuerung durchgeführt oder der
höchste Erbschaftsteuersatz nach deutschem Recht erhoben wird. Darüber hinaus wird ab Inkrafttreten des
Abkommens eine Verlagerung von Vermögenswerten
deutscher Steuerflüchtiger aus der Schweiz ohne Versteuerung oder Meldung nicht mehr möglich sein. Das
ist eine hundertprozentig befriedigende Regelung für die
Zukunft.
({1})
Hinsichtlich der Vergangenheit treffen wir eine Regelung, dass unversteuerte Vermögenswerte einer pauschalen Besteuerung von 21 bis 41 Prozent - je nach Fallgestaltung - unterworfen werden. Dazu muss man sagen:
Steueransprüche - übrigens auch Strafverfolgungsansprüche - verjähren in der Regel nach zehn Jahren. Was
mehr als zehn Jahre zurückliegt, ist verjährt. Das bezieht
sich sowohl auf die Strafverfolgung als auch auf die Besteuerung.
Wenn wir diese Regelung für die Vergangenheit treffen, gibt es für die Steuerpflichtigen folgende Alternativen: Die Banken werden eine Pauschalbesteuerung für
die Vergangenheit durchführen, die deutschen Steuerpflichtigen werden eine Bescheinigung ihres zuständigen Finanzamtes vorlegen, dass sie eine ordnungsgemäße Besteuerung durchgeführt haben, oder die
Schweizer Bank wird ihre Geschäftsbeziehung mit ihrem Kunden beenden.
Meine Damen und Herren, diese Veränderung für die
Vergangenheit stellt für die Schweiz einen Systemwechsel dar. Die Schweiz nimmt Stück für Stück von ihrem
Bankgeheimnis Abschied. Daher ist es schon angemessen, darauf hinzuweisen: Der Schutz des Bankgeheimnisses ist eine Regelung, die einem Rechtsstaat zusteht.
Dass ein Rechtsstaat eine Regelung, die er getroffen hat,
nicht rückwirkend aufhebt, entspricht rechtsstaatlichen
Prinzipien. Bisher habe ich gedacht, dass auch die Sozialdemokraten das nicht anders sehen.
({2})
Die Schweiz könnte ihre Gesetze gar nicht rückwirkend ändern. Sie würde durch ihre Rechtsprechung genauso daran gehindert wie wir durch unsere unabhängige
Justiz. Dabei geht es um die Grenzen dessen, was der
Gesetzgeber machen kann. Also müssen wir für die Vergangenheit eine entsprechende Regelung finden.
Herr Kollege Poß, Sie sind schon eine ganze Weile
Mitglied des Bundestags.
({3})
Angesichts Ihrer Rede, die Sie gerade hier gehalten
haben, frage ich mich, ob Sie eigentlich noch den
Anspruch haben, ernst genommen werden zu wollen.
({4})
Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder
hat im Jahre 2003 ein Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit vorgelegt. Da waren Sie schon im Bundestag
und haben die Finanzpolitik mitgetragen. Ich zitiere aus
der Begründung dieses Gesetzentwurfes:
Die Besteuerungsgerechtigkeit gebietet, dass alle
Steuerpflichtigen nach Maßgabe der Steuergesetze
gleichmäßig an den allgemeinen Lasten beteiligt
werden. Dies stößt in der Praxis jedoch an rechtliche und tatsächliche Grenzen.
({5})
Der Gesetzentwurf soll dazu beitragen, durch eine
attraktive Regelung für die Vergangenheit einen
Anreiz zu bieten, in die Steuerehrlichkeit zurückzukehren und damit einen Beitrag zum Rechtsfrieden
zu leisten.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
wenn Sie noch wüssten, dass Willy Brandt als Bundeskanzler einmal gesagt hat: „Wir wollen gute Nachbarn
sein“, dann würden Sie nicht so über die Schweiz reden,
wie Sie das in den letzten Monaten gemacht haben.
({7})
Täuschen Sie sich nicht: Es wird in Europa sehr beachtet, wie Deutschland als das größte und wirtschaftsstärkste Land mit kleineren Nachbarn umgeht.
({8})
Die Art, in der Sie in den letzten Wochen über die Tatsache gesprochen haben, dass die Schweiz zu ihren rechtsstaatlich übernommenen Verpflichtungen steht, ist unverantwortlich. Das stärkt das Ansehen Deutschlands
nicht. Damit verhöhnen Sie das Prinzip, dass wir gute
Nachbarn in Europa sein wollen. Ich sage: Lassen Sie
uns respektvoll mit der Schweiz umgehen.
({9})
Die Schweiz hat mit diesem Abkommen einen großen
Schritt getan. Sie wirkt daran mit, dass wir für die Zukunft eine bessere Regelung haben, als wir sie in der
Vergangenheit hatten. Der Zustand bezogen auf die Vergangenheit ist unbefriedigend. Nur: Wer kein Abkommen zustande bringt - Sie haben keines zustande gebracht -, der ändert an diesem unbefriedigenden Zustand
nichts. Dieses Abkommen ändert den Zustand für die
Zukunft hundertprozentig, und für die Vergangenheit
schafft es eine bessere Lösung, als jeder, der sich jemals
ernsthaft mit der Sache befasst hat, für denkbar gehalten
hätte.
({10})
Noch eine letzte Bemerkung: Die Europäische Union
hat ausdrücklich erklärt, dass dieses Abkommen mit den
bestehenden europäischen Abkommen vereinbar ist.
Großbritannien hat nach deutschem Vorbild ein entsprechendes Abkommen mit der Schweiz abgeschlossen.
Österreich hat in diesen Wochen ein Abkommen mit der
Schweiz abgeschlossen, das nicht ganz so günstige Regelungen für den österreichischen Fiskus enthält. Darauf
will ich aber gar nicht eingehen. Jedenfalls wird unser
Abkommen von vielen Ländern als Vorbild genommen,
entsprechende Abkommen abzuschließen.
({11})
Um die Sache auf die Spitze zu treiben: Der Europäische Rat hat beschlossen, zu empfehlen, dass die
Schweiz auch mit Griechenland ein solches Abkommen
abschließt.
({12})
- Entschuldigung, Herr Kollege. Die USA hatten überhaupt kein solches Abkommen für die Vergangenheit abgeschlossen; null Komma gar nichts. Die USA sind in
diesen Tagen übrigens von dem Bundesverwaltungsgericht in der Schweiz darauf hingewiesen worden, dass
man bestehende rechtliche Zusagen in dem Rechtsstaat
Schweiz genauso wenig rückwirkend ändern kann wie in
dem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. Das gilt
für alle.
({13})
Ich sage es noch einmal: Dass die Europäische Kommission und der Europäische Rat empfehlen, dass auch
andere Länder solche Abkommen mit der Schweiz abschließen, zeigt deutlich, dass Deutschland in den Verhandlungen mit der Schweiz ein gutes Ergebnis erzielt
hat. Ich werbe dafür, dass wir zustimmen und dieses Abkommen ratifizieren.
({14})
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schäuble, Ihre grundlegende Aussage, dass mit diesem Abkommen die Probleme der Steuerhinterziehung
in der Vergangenheit und in der Zukunft gelöst sind,
stimmt nicht. Das werde ich Ihnen hier nachweisen.
Ihr Abkommen ist ein Affront gegen alle ehrlichen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
({0})
Das ist so. Anscheinend sind Sie auf diesen Zustand immer noch stolz - leider. In beiden Regelungsbereichen
haben Sie versagt.
Die größte Frechheit ist, dass Sie letztendlich der
Opposition vorwerfen - das werden die nächsten Redner
sicher tun -, auf Geldeinnahmen zu verzichten.
({1})
Wir sollen einem schlechten Abkommen zustimmen,
weil sonst Geld verloren geht.
Wir reden hier über 130 bis 180 Milliarden Euro, die
schwarz in die Schweiz gebracht wurden. Es geht um
hartnäckige Steuerhinterziehung, um begangene Straftaten, die Sie letztendlich noch belohnen wollen. Der
Maßstab für eine Nachbesteuerung muss doch wohl sein,
was passieren würde, wenn diese Menschen das Geld
wenigstens im Nachhinein ordentlich, zum Beispiel
durch eine Selbstanzeige, versteuern lassen würden. Die
Pauschalregelung, die Sie auch in dem Zusatzprotokoll
vorsehen, wird genau dafür nicht sorgen. Das haben Ihnen Finanzwissenschaftler wie Professor Hechtner vorgerechnet. So geht es nicht. Der Steuersatz von 41 Prozent ist fiktiv. Er wird eher bei 21 Prozent liegen. Zudem
haben deutsche Finanzbehörden dann keine Möglichkeit
einer Nachprüfung; denn jeder kann sozusagen einen
Persilschein vorlegen und sagen: Ich habe ja nachversteuert; alles ist prima. Das geht so nicht.
({2})
Sie laden weiterhin förmlich zur Steuerhinterziehung
ein. Wenn man sich anschaut, wann das Abkommen unterzeichnet wurde und wann die Regelungen in Kraft treten, sieht man, dass über ein Jahr dazwischen liegt. Das
heißt, Steuerhinterzieher, die bisher schon kriminelle
Energie entwickelt und ihr Geld in die Schweiz geschafft
haben, haben bis 2013 die Möglichkeit, das Geld zum
Beispiel ganz einfach von der Schweizer Mutterbank auf
eine Tochterbank in einem Steuerparadies zu verlagern.
Was verlangen Sie? Sie verlangen nur eine Liste der
Staaten, in die es gebracht wird. Mehr verlangen Sie
nicht.
({3})
Sie verlangen keine Namen von Steuerhinterziehern und
keine konkreten Angaben zu Banken. Das ist eine Einladung zur Steuerhinterziehung. Das ist ein Skandal.
({4})
Ausgeschlossen von der Nachbesteuerung sind weiterhin - dies wurde hier schon erwähnt - Stiftungen,
Trusts, zwischengeschaltete Personenvereinigungen und
Vermögenseinheiten. Dies sind beliebte Konstruktionen,
die zum Zweck der Steuerhinterziehung geschaffen wurden und von denen alle wissen, wie sie funktionieren.
Diese sind im Abkommen nicht wirklich rechtssicher
erfasst. Was ist denn das für ein Rechtswert, wenn Sie
dies nicht ordentlich regeln? Auch hier lassen Sie die
Steuerhinterzieher weiterhin schalten und walten, wie sie
wollen.
Dem sollen wir zustimmen? Das ist eine Unverschämtheit. Letztendlich fordern Sie uns damit auf,
gegen den Grundsatz der gleichmäßigen und gerechten
Besteuerung zu verstoßen. Das ist mit der Linken nicht
zu machen und, ich hoffe, auch mit den anderen Oppositionsparteien nicht.
Herr Schäuble, Sie haben behauptet, in der Zukunft
sei alles gesichert. In der Zukunft wird so lange nichts
gesichert sein, solange wir keinen automatischen Informationsaustausch in Europa haben. Ich frage Sie: Warum haben Sie im Abkommen einen Passus, der besagt,
dass selbst die Auskunftsersuchen, also die potenziellen
Fragen deutscher Finanzbehörden gegenüber Schweizer
Banken, zahlenmäßig begrenzt werden? Für die ersten
zwei Jahre auf 999 Fälle, dann auf 1 200 Fälle; später ist
ein entsprechender Schlüssel, der sich an einer Quote
von 15 Prozent orientiert, vorgesehen.
({5})
Warum soll dies begrenzt werden? Es bleibt bei dem
Prinzip begrenzter Anfragen ins Blaue hinein. Man kann
nur höflich fragen: Gibt es von dem Betroffenen ein
Konto bei der Bank oder nicht? Das ist Fischen im Trüben. Das geht überhaupt nicht.
({6})
Wir brauchen in Europa einen automatischen Informationsaustausch.
Natürlich war es ein langer Prozess. Er hat in den
90er-Jahren begonnen. Wir könnten hier ein Spiel spielen und fragen, wer es zuerst gefordert hat. Das bringt
uns aber nicht weiter. Die Diskussion hatte sich schon
relativ weit entwickelt. Aber das Abkommen zwischen
Deutschland und der Schweiz hat es ermöglicht, dass die
Schweiz ein Abkommen mit Österreich abgeschlossen
hat, wodurch dieser Prozess torpediert wird. Deshalb
wirft uns das Abkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Schweiz in dieser Diskussion meilenweit zurück.
Ich muss sagen: Ein großer Skandal ist nicht nur, wie
Sie mit dem Geldargument hantieren, indem Sie letztendlich versprechen und drohen - ich nenne nur das
Stichwort Entflechtungsgesetz -, nein, ein großer Skandal ist auch, dass Sie jetzt den Verteilungsschlüssel geändert haben und dass als Abschlagszahlung nur 2 Milliarden Franken vereinbart wurden. Dies führt dazu, dass die
fünf neuen Bundesländer gegenüber der ursprünglich
geplanten Verteilung viel weniger bekommen und im
Prinzip leer ausgehen werden.
Danke.
({7})
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
({0})
Besten Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Einen Vorstoß zur Lösung der Problematik der Steuerhinterziehung mit der Schweiz gab es
schon einmal. Herr Minister Schäuble, Sie haben zu
Recht darauf hingewiesen, dass es damals die rot-grüne
Bundesregierung war, die einen Vorschlag unterbreitet
hat. Herr Kollege Poß, der heute so vehement gegen das
Abkommen wettert, wird sich sicherlich noch daran erinnern, was damals konkret vorgeschlagen wurde. Herr
Poß, Sie hatten damals zusammen mit den Grünen
gesagt: Diejenigen, die Gewerbesteuern hinterzogen haben, sollen 90 Prozent steuerfrei behalten dürfen, und
nur auf 10 Prozent sollen Steuern nacherhoben werden.
Das war Ihr Vorschlag.
({0})
Im Fall hinterzogener Erbschaftsteuer hatten die Sozialdemokraten zusammen mit den Grünen gesagt:
Wenn man 1 Million Euro Erbschaftsteuer hinterzogen
hat, dann soll man 800 000 Euro steuerfrei behalten dürfen und nur 200 000 Euro versteuern müssen. - Das war
Ihre Vorstellung von Steuergerechtigkeit im Zusammenhang mit der Lösung dieser Fälle. Das war nun wirklich
nicht zu verantworten und wesentlich schlechter als das,
was die Bundesregierung mit der Schweiz ausgehandelt
hat.
({1})
Jemand, der von Steuerhinterziehern viel weniger
Steuern einnehmen wollte, der ihnen sogar 90 Prozent
der Gewerbesteuer erlassen wollte, sollte nicht so laute
Reden halten, wie Sie, Herr Poß, es getan haben,
({2})
weil das schlicht und einfach unglaubwürdig ist.
({3})
Das, was Sie damals formuliert haben, war die reale
Finanzpolitik der Sozialdemokraten. Jetzt haben wir
einen Vorschlag gemacht, nach dem nicht, wie bei RotGrün, 90 Prozent steuerfrei bleiben sollen, sondern nach
dem 100 Prozent, also die volle Summe, zur Besteuerung herangezogen werden. Das ist Steuergerechtigkeit.
Wir sind Ihnen meilenweit voraus.
({4})
Auch die Steuersätze sind deutlich angehoben worden.
Es müssen nicht nur 20 Prozent, sondern es muss alles
versteuert werden.
Sie regen sich zwar künstlich auf und empören sich,
als wäre all das nicht hinzunehmen.
({5})
Aber schauen Sie sich die Begründung von damals doch
einmal an; Herr Minister Schäuble hat sie Ihnen ja vorgelesen. Im Grunde genommen waren Sie, was die rechtliche Beurteilung der Sachverhalte betrifft, damals wesentlich weiter als heute. Sie konnten damals nur keinen
gerechten Vorschlag, was die Höhe der Besteuerung der
Steuerhinterzieher betrifft, vorlegen.
({6})
Deswegen nehmen wir Ihre Kritik nicht wirklich ernst.
Sie verhalten sich so wie bei der Vermögensteuer: In
der Opposition fordern Sie sie. Wenn Sie regieren, wollen Sie nichts mehr davon wissen.
({7})
Auch eine Finanztransaktionsteuer fordern Sie immer
wieder lautstark. Als Sie regiert haben, wollten Sie aber
nichts davon wissen.
({8})
Da haben Sie lieber die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, was vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trifft.
Was Sie parallel zu dieser unaufrichtigen Debatte
machen, ist auch nicht schlecht.
({9})
Als wir im Deutschen Bundestag die Erhöhung des
Arbeitnehmerpauschbetrages verabschiedet haben und
Ihnen gesagt haben: „Das ist eine Frage der Steuergerechtigkeit“, haben Sie dagegen gewettert. Heute stellen
sich Ihre SPD-Finanzminister hin und fordern die Erhöhung des Arbeitnehmerpauschbetrages, und zwar aus
Gründen der Steuervereinfachung und als Beitrag zur
Herstellung von Steuergerechtigkeit. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wer den Sozialdemokraten in der Finanzpolitik noch ein Wort glaubt, der hält Grimms Märchen
für den Brockhaus.
({10})
Finanzminister Walter-Borjans aus Nordrhein-Westfalen - er wird noch zu uns sprechen - will tatsächlich,
dass Nordrhein-Westfalen auf Steuereinnahmen in Höhe
von 1,6 Milliarden Euro
({11})
verzichtet und dass das Geld in die Verjährung geschickt
wird. Herr Walter-Borjans, gleichzeitig stellen Sie sich
vor die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und sagen: Liebe Arbeitnehmer, wir wissen ja, dass euch die
kalte Progression belastet und dass sie ungerecht ist.
Aber wir haben kein Geld, um etwas dagegen zu tun. Sie machen sich doch vor der deutschen Öffentlichkeit
lächerlich!
({12})
Wie können Sie als nordrhein-westfälischer Finanzminister angesichts leerer Kassen 1,6 Milliarden Euro in
die Verjährung schicken?
({13})
Die ehrlichen Menschen in Deutschland müssen die
Finanzlöcher stopfen, die Sie durch die Ablehnung dieses Besteuerungsabkommens erst verursacht haben.
({14})
Machen Sie sich doch mal ehrlich! Sie bekommen
durch dieses Abkommen viel mehr, als Rot-Grün jemals
wollte. Sie können doch nicht Steuerforderungen des
Staates in Milliardenhöhe in die Verjährung schicken!
Dieses Geld wird niemals nacherhoben werden können.
({15})
Gleichzeitig fordern Sie Steuererhöhungen in Deutschland. Ja, was machen Sie denn für eine Politik? Soll derjenige, der morgens aufsteht und arbeiten geht, der
Dumme sein, während der Steuerhinterzieher nur zu
warten braucht, bis die Forderungen des Staates verjährt
sind?
({16})
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, so darf man
die Öffentlichkeit nicht hinter die Fichte führen. Es gab
nie ein besseres Abkommen mit der Schweiz, um diese
Fälle zu lösen, als dieses. Es ist doch lächerlich, der Öffentlichkeit vormachen zu wollen, man müsse nur abwarten; irgendwann werde die Schweiz ihr Bankgeheimnis schon rückwirkend aufheben. Auch die Schweiz ist
ein Rechtsstaat. Dort gibt es eine Verfassung. Auch wir
können nicht rückwirkend Gesetze ändern. Sie sollten
mit diesem Wahlkampfgetöse, das Sie in Anbetracht des
Landtagswahlkampfes in NRW veranstalten, aufhören.
({17})
Sie sollten Ihren Beitrag zur Steuerehrlichkeit leisten.
Sie sollten auch Ihren Beitrag zur Steuergerechtigkeit
leisten. Wir haben in Deutschland wahrlich eine angespannte Haushaltslage. Dank der klugen und entschlossenen Verhandlungsführung von Bundesfinanzminister
Schäuble liegt uns jetzt ein Steuerabkommen mit der
Schweiz vor, das die Altfälle löst
({18})
und das für die Zukunft 100 Prozent Steuergerechtigkeit
schafft. Denn - der Minister hat es gesagt - für die Beträge, die in der Schweiz verdient werden, und für die
Beträge, die in Deutschland verdient werden, fallen
gleich hohe Steuern an. Das ist Steuergerechtigkeit. Es
findet die gleiche Besteuerung statt, eins zu eins und in
voller Höhe.
Diejenigen, die Steuern hinterzogen haben, sollen ihren Beitrag dazu leisten, die leeren Kassen des Staates zu
füllen. Man sollte sie nicht verschonen. Überlegen Sie
einmal, für wen Sie hier Politik machen.
({19})
Das Wort hat nun Gerhard Schick für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Frage, wer hier die Öffentlichkeit hinter die Fichte führt,
wollen wir uns doch noch einmal ein bisschen genauer
anschauen.
({0})
Erstens. Kollege Wissing hat hier jetzt gerade mit
Zahlen hantiert und den Betrag von 1,6 Milliarden Euro
erwähnt. Wenn wir die Bundesregierung fragen, ob es
eigentlich Schätzungen zum Steueraufkommen gibt,
dann bekommen wir die Antwort: Es gibt keine seriösen
Schätzungen. - Argumentieren Sie hier also bitte nicht
mit unseriösen Zahlen!
({1})
Zweitens. Sie haben den Vergleich zu der Amnestieregelung unter Rot-Grün gezogen. Dabei unterlassen Sie
es ganz bewusst, den entscheidenden Unterschied zu
nennen. Damals musste sich jeder ehrlich machen und
persönlich alles offenlegen.
({2})
Es gab keine Amnestie in der Anonymität; vielmehr
mussten die Fakten auf den Tisch.
({3})
Das ist der entscheidende Unterschied.
Deswegen und weil damit verbunden auch ganz viele
andere Straftaten unentdeckt bleiben, bezeichnet der
Bund Deutscher Kriminalbeamter das, was Sie hier
machen, als - ich zitiere - „die größte Begnadigung
deutscher Straftäter, die die Geschichte je gesehen hat“.
({4})
Nicht nur die Steuerhinterziehung, sondern auch Geldwäsche, Menschenhandel, Korruption und andere
Delikte verschwinden damit unter dem Deckmantel der
Geschichte. Das darf nicht sein!
({5})
Ich möchte noch einmal ein wenig zurückschauen und
den Blick auf das lenken, was Sie in der Union und in der
FDP selbst gesagt haben. Das Bankgeheimnis - das
heißt, die Tatsache, dass eine Bank die Informationen, die
sie über einen Kunden erhält, nicht weitergeben darf,
auch nicht an die Steuerbehörden - ist bei der Aufarbeitung dieser Finanzkrise als eines der zentralen Probleme
diagnostiziert worden, weil mithilfe des Bankgeheimnisses viele komplexe und verbotene Finanztransaktionen
verschleiert werden können.
({6})
Deswegen gab es am 2. April 2009 in London auf
dem G-20-Gipfel ein ganz klares Commitment aller
wichtigen internationalen Staaten. Dieses Commitment
hat die Bundesregierung in Person der Kanzlerin Merkel
damals für die Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Es lautet: „The era of banking secrecy is over.“ Die Ära des Bankgeheimnisses ist vorbei. Ich messe Sie
heute an diesem Anspruch.
({7})
Sie haben gestern im Kabinett ein Abkommen unterzeichnet, das das Bankgeheimnis für die Zukunft garantiert. Damit ist dieses Amnestieabkommen mit der
Schweiz ein klarer Wortbruch gegenüber unseren internationalen Partnern,
({8})
und das ist auch ein Wortbruch gegenüber der Bevölkerung, die erwartet, dass in und nach dieser Finanzkrise
endlich einmal Konsequenzen gezogen und Klarheit und
Transparenz im Bankensektor geschaffen werden. Genau das Gegenteil dessen tun Sie gerade.
({9})
Aufgrund dieses Commitments gab es eine Situation,
in der fast alle EU-Staaten zusammengehalten und gesagt haben: Wir gehen das Thema Steuerflucht gemeinsam an. Es gab gemeinsame Initiativen von Deutschland
und Frankreich im Rahmen der OECD. Es wurde gesagt:
Wir verschärfen die Standards. Es gab Druck aus den
USA und von vielen anderen Seiten, das Bankgeheimnis
endlich aufzuweichen.
In dieser Situation hat sich die Schweizerische Bankiervereinigung gefragt: Wie können wir das Bankgeheimnis noch retten? Wie können wir das Geschäft mit
der Steuerhinterziehung noch retten? Sie hat sich überlegt: Wir könnten doch einen einzelnen Staat herauskaufen, um die Phalanx aller Staaten, die versuchen, etwas
zu ändern, zu schwächen. Sie haben einen Staat gefunden, der bereit ist, das zu tun, nämlich den Nachbarstaat
Deutschland, in dem der Bundesfinanzminister die Strategie der Schweizerischen Bankiervereinigung, den
Kampf gegen die Steuerflucht aufzubrechen, jetzt unterstützt. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen sagen gemeinsam mit den anderen Oppositionsparteien: In diesem
internationalen Kampf gegen die Steuerflucht und Steuerhinterziehung
({10})
darf Deutschland nicht der Staat sein, der das Geschäft
der Schweizer Bankiers betreibt.
({11})
Ich möchte für uns eines ganz deutlich sagen: Auch
wir wollen ein Abkommen mit der Schweiz.
({12})
Natürlich muss man verhandeln. Aber wir wollen ein
europäisches Abkommen mit der Schweiz;
({13})
denn wir wollen die gemeinsame erfolgreiche Strategie,
die wir unter Rot-Grün begonnen haben, nämlich auf
europäischer Ebene gemeinsam gegen die Steuerhinterziehung vorzugehen, weiterführen.
Was hat denn Ihr Abkommen, Herr Schäuble, bewirkt? Österreich und Luxemburg hatten sich längst darauf eingestellt, dass auch bei ihnen das Bankgeheimnis
gekippt werden muss.
({14})
In dem Moment, in dem Sie angefangen haben, zu verhandeln, ist klar gewesen: Die gemeinsame europäische
Strategie ist zerstört worden. Deswegen sagen auch wir
als Europapartei ganz eindeutig: Es darf ein solches bilaterales Abkommen nicht geben; denn es zerstört eine
gemeinsame europäische Strategie. Das dürfen wir nicht
unterstützen.
({15})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Damit komme ich zum Schluss. - Ich will eine Sache
ganz deutlich sagen. Hören Sie auf Ihre Kollegen im
Europäischen Parlament. Diese haben in diesem Monat,
unterstützt von der Fraktion der Europäischen Volkspartei, der die CDU angehört, unterstützt von der Liberalen
Fraktion, der die FDP angehört, geschrieben: Es besteht
die Notwendigkeit, einen automatischen Informationsaustausch vorzusehen, um das Bankgeheimnis effektiv
zu beenden. - Hören Sie wenigstens auf Ihre europäischen Kollegen! Es braucht einen gemeinsamen europäischen Ansatz gegen die Steuerflucht. Dieses bilaterale
Abkommen macht das alles kaputt.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischendurch will
ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der beiden namentlichen
Abstimmungen übermitteln.
Zunächst das Ergebnis der Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zum Antrag der Fraktion der Linken „Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und Leistungseinschränkungen im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch
abschaffen“: abgegebene Stimmen 564. Mit Ja zur
Beschlussempfehlung haben gestimmt 429, mit Nein
haben gestimmt 68, Enthaltungen 67. Damit ist die Beschlussempfehlung des Ausschusses angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 564;
davon
ja: 429
nein: 68
enthalten: 67
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({5})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({6})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({7})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({8})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({9})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({10})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({11})
Anita Schäfer ({12})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({13})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({14})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({15})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({16})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({17})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({18})
Peter Weiß ({19})
Sabine Weiss ({20})
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({21})
Gerd Bollmann
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({22})
Kerstin Griese
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({23})
Hubertus Heil ({24})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({25})
Frank Hofmann ({26})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Christine Lambrecht
Christian Lange ({27})
Burkhard Lischka
Caren Marks
Petra Merkel ({28})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Karin Roth ({29})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({30})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({31})
Werner Schieder ({32})
Ulla Schmidt ({33})
Carsten Schneider ({34})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({35})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
({36})
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({37})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({38})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({39})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({40})
Michael Link ({41})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({42})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
({43})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({44})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({45})
Nein
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({46})
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Enthalten
SPD
Steffen-Claudio Lemme
Stefan Rebmann
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({47})
Cornelia Behm
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({48})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Markus Kurth
Undine Kurth ({49})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({50})
Beate Müller-Gemmeke
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({51})
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Ergebnis der zweiten namentliche Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit
und Soziales zum Antrag der Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen „Rechte der Arbeitsuchenden stärken Sanktionen aussetzten“: abgegebene Stimmen 564. Mit
Ja haben gestimmt 308, mit Nein haben gestimmt 144,
Enthaltungen 112. Die Beschlussempfehlung des Ausschusses ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 564;
davon
ja: 308
nein: 144
enthalten: 112
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({52})
Manfred Behrens ({53})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({54})
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({55})
Dirk Fischer ({56})
Dr. Maria Flachsbarth
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({57})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({58})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({59})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Matthias Lietz
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({60})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({61})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({62})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({63})
Anita Schäfer ({64})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({65})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({66})
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({67})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({68})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({69})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({70})
Peter Weiß ({71})
Sabine Weiss ({72})
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({73})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({74})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({75})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({76})
Michael Link ({77})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({78})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
({79})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Jörg von Polheim
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Frank Schäffler
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({80})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({81})
Nein
SPD
Bärbel Bas
Willi Brase
Marco Bülow
Michael Groß
Steffen-Claudio Lemme
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Karin Roth ({82})
Werner Schieder ({83})
Ottmar Schreiner
Heidemarie Wieczorek-Zeul
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Katja Kipping
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({84})
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({85})
Cornelia Behm
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({86})
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth ({87})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({88})
Beate Müller-Gemmeke
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({89})
Manuel Sarrazin
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Enthalten
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Sören Bartol
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({90})
Gerd Bollmann
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({91})
Kerstin Griese
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({92})
Hubertus Heil ({93})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({94})
Frank Hofmann ({95})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Christine Lambrecht
Christian Lange ({96})
Burkhard Lischka
Caren Marks
Petra Merkel ({97})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({98})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({99})
Ulla Schmidt ({100})
Carsten Schneider ({101})
Swen Schulz ({102})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
({103})
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
Wir setzen jetzt die Beratung zu diesem Tagesordnungspunkt fort. Ich erteile dem Kollegen Klaus-Peter
Flosbach für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({104})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ihre Ausführungen, Herr Kollege Schick, waren in weiten Teilen nicht nur falsch, sondern sie waren auch
zutiefst demagogisch.
({0})
Am Beispiel der europäischen Zinsrichtlinie haben Sie
selbst bewiesen, dass unser bilaterales Abkommen genau der richtige Weg ist, um im Kampf gegen die Steuerhinterziehung ein Stück weiterzukommen.
({1})
Seit Jahrzehnten diskutieren Parlamentarier, wie wir
an die in die Schweiz und in andere Länder geschafften
Gelder von Deutschen - sei es Schwarzgeld oder legales,
aber nicht versteuertes Geld - herankommen können.
Dieses Abkommen mit der Schweiz ist wirklich ein Meilenstein im Kampf gegen die Steuerhinterziehung; denn
wir haben erstmals einen unmittelbaren Zugriff auf diese
Konten. Wir haben also ein Verfahren gefunden, das
sicherstellt, dass in Zukunft jeder sein Geld auch im
Ausland so versteuern muss, wie es jeder ehrliche Steuerzahler in Deutschland tun muss. Dafür vielen Dank,
Herr Finanzminister.
({2})
Die Steueramnestie, die SPD und Grüne im Jahr 2003
beschlossen haben, ist hier schon angesprochen worden.
Damals gab es einen Steuersatz von 15 Prozent, Frau
Kressl.
({3})
Lesen Sie bitte die Kommentare über das Steuerabkommen von damals nach. Das war damals nichts anderes als ein Sondertarif für Steuerhinterzieher. Es war ein
Geschenk für Steuerhinterzieher. Das war damals ein anderes Verfahren. Sie haben uns damals zugesagt, es
werde 5 Milliarden Euro in die Kasse spülen. 1,3 Milliarden Euro sind dabei herausgekommen. Sie haben in
elf Jahren als Finanzminister im Kampf gegen die Steuerhinterziehung nichts geschafft.
({4})
Wir haben ein klares Konzept, wie wir an das Geld im
Ausland herankommen können. Erstens. Wer sein Geld
im Ausland hat, kann sich eine Bestätigung der Bank holen und es dem deutschen Fiskus melden. Oder er macht
zweitens eine Selbstanzeige. Damit muss er für zehn
Jahre nachträglich die gesamten Steuern zahlen.
Oder aber wir greifen durch dieses Abkommen in sein
Konto hinein, bei Steuersätzen von 21 Prozent bis 41 Prozent je nach Struktur, Laufzeit und Höhe. Das heißt, je
100 000 Euro Kapital im Ausland rufen wir 21 000 bis
41 000 Euro von dem Konto ab.
Das ist der Meilenstein: Wir greifen in das Konto hinein. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber den ehrlichen Steuerzahlern in Deutschland. Wir holen uns das
Geld bei den Hinterziehern.
({5})
Wenn jemand beispielsweise sein Erbe nicht deklariert hat, holen wir uns 50 Prozent des gesamten Kapitals
vorab. Das ist doch der Unterschied zu Ihrem Konzept
damals: Wir holen uns das Geld der Steuerhinterzieher.
({6})
Wichtig ist für die Akzeptanz auch dieses Abkommens, dass wir - das haben Sie völlig falsch dargestellt,
Herr Schick - Geld aus Straftaten vom Schutz der
Anonymität befreien. Drogengeschäfte, Geldwäsche und
alle diese Dinge sind ausgeschlossen. Das Risiko der
Entdeckung wird dramatisch erhöht. Wir haben nicht nur
höhere Standards als die OECD, die Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern es können
auch noch jährlich 1 300 Kontenabfragen erfolgen. Jeder, der ein Konto im Ausland hat, ist damit ständig in
der Gefahr, entdeckt zu werden.
Nicht nur das: In Zukunft werden auch Transaktionen
von der Schweiz gemeldet. Das sind die herausragenden
Ergebnisse dieses Abkommens.
Wir müssen nur sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass dieses Abkommen jetzt umgesetzt wird. Der
Finanzminister hat auch deutlich darauf hingewiesen:
Wir unterliegen einem Problem. Die Straftaten verjähren
laufend. Die Steueransprüche sinken laufend durch die
Verjährung. Uns gehen Milliardenbeträge verloren. Es
gibt natürlich keine genauen Berechnungen, wie viel
Geld im Ausland liegt. Aber es gibt natürlich Vermutungen, auch seitens des Finanzministeriums.
({7})
Wir gehen mindestens von einem zweistelligen Milliardenbetrag aus. Allein die Kontovorauszahlungen betragen bereits 2 Milliarden Schweizer Franken. Das ist
doch der große Unterschied zu Ihrem Verfahren.
Auch uns stellt sich selbstverständlich die Frage:
Werden unsere Bundesländer diesem Abkommen zustimmen? Von den gesamten eingehenden Geldern gehen 70 Prozent an die Länder und Kommunen. 61 Prozent gehen allein an die Länder, 30 Prozent an den Bund.
Ich bin auch gespannt, Herr Walter-Borjans, wie das
Land Nordrhein-Westfalen mit diesem Thema umgehen
wird, ob die Schuldenkönigin Hannelore Kraft nicht
mehr nur darauf setzt, immer weiter neue Schulden zu
machen, und ob Sie die fast 2 Milliarden Euro, die Nordrhein-Westfalen zustehen, abrufen werden.
({8})
Es geht nicht nur um die 2 Milliarden Euro heute,
sondern um die laufende Besteuerung in Zukunft. Auch
das sind Hunderte Millionen Euro für Nordrhein-Westfalen.
({9})
Ich komme zum Schluss. Der Gesetzentwurf steht im
Einklang mit europäischem Recht. Großbritannien und
Österreich wollen einen ähnlichen Weg gehen. Unser
Gesetzentwurf ist Vorlage für alle anderen europäischen
Länder. Ich gehe davon aus, dass sie diese Vorlage auch
übernehmen werden.
({10})
Deswegen meine Empfehlung und Bitte an die Oppositionsparteien: Verweigern Sie sich nicht, Steuerhinterzieher endlich zur Kasse zu bitten. Wir wissen alle: Hundertprozentige Gerechtigkeit zu erreichen, ist in diesem
Bereich nicht einfach. Aber wir greifen jetzt in die Konten hinein und holen uns das Geld, das hinterzogen worden ist.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun der Minister für Finanzen des Landes Nordrhein-Westfalen, Norbert Walter-Borjans.
({0})
Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister ({1}):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Schäuble! Herr Schäuble, ich
nehme Ihnen ab, dass Sie das ehrbare Ziel haben, die Finanzbeziehungen zur Schweiz auf eine geordnete
Grundlage zu stellen.
({2})
Ich nehme Ihnen auch ab, dass Sie insgesamt das Verhältnis zur Schweiz wieder auf eine bessere Grundlage
stellen wollen als bisher, trotz vieler Kommentare, die
wir etwa von Bankenchefs in der Schweiz in der letzten
Woche lesen konnten. Es wird von einem Wirtschaftskrieg gesprochen, in dem sich die Schweiz mit Deutschland und den USA befindet, weil diese beiden Länder
dafür sorgen wollen, dass Steuerbetrüger nicht länger,
ohne mit der Wimper zu zucken, in die Schweiz entfliehen können. In einem Interview wird davon gesprochen,
dass dadurch in der Schweiz 20 000 Arbeitsplätze gefährdet seien. Einen besseren Beleg dafür, dass Steuerhinterziehung ein Geschäftsmodell von Banken in der
Schweiz ist, hat es vor diesem Interview nicht gegeben.
({3})
- Warten wir mal ab!
Ich nehme Ihnen auch ab, Herr Schäuble, dass Sie
dem deutschen Fiskus wenigstens einen Teil dessen retten wollen, was verantwortungslos handelnde Steuerbetrüger dem Gemeinwesen vorenthalten. Was ich Ihnen
aber nicht mehr abnehme, ist, dass Sie das, was jetzt ausgehandelt auf dem Tisch liegt, für einen Erfolg halten.
({4})
Sie alle wiederholen das, was so wunderschön in den
Texten steht, die verbreitet werden: Wenn das Abkommen in Kraft tritt, werden Erträge in der Schweiz und in
Deutschland steuerlich vollkommen gleich behandelt. Das stimmt. Die Erträge werden gleich behandelt.
({5})
Es handelt sich aber um Erträge aus völlig unterschiedlichen Kapitalarten, nämlich zum einen um Erträge aus
umsatz- und einkommenversteuertem Kapital, das ein
ehrlicher Steuerzahler bei einer deutschen Bank anlegt,
und zum anderen um Erträge aus unversteuertem Bruttokapital, bei dem man sogar noch Zinsen auf hinterzogene Steuern bekommt.
({6})
- Einen Moment! Herr Michelbach, Sie können doch
rechnen. Sie sind selbst Unternehmer und wissen: Wenn
jemand 1 Million Euro einnimmt und nicht die Mehrwertsteuer in Höhe von 19 Prozent draufschlägt, dann
entgehen dem Fiskus schon 190 000 Euro. Wenn ich davon ausgehe, dass jemand, der über solche Beträge verfügt, dem Grenzsteuersatz in Höhe von 42 Prozent unterliegt, dann stelle ich fest, dass der Betreffende zusätzlich
420 000 Euro hinterzogen hat. Damit sind wir bei über
600 000 Euro.
({7})
Die 190 000 Euro sind nicht eingenommen worden.
Diese Summe ist dem Fiskus auf andere Art und Weise
verloren gegangen. Aber die 420 000 Euro werden in der
Schweiz angelegt und verzinst. Sie haben recht: Das
muss demnächst versteuert werden. Das ist das Wermutströpfchen für die Steuerhinterzieher. Das ist richtig.
({8})
Herr Schäuble, ich nehme Ihnen auch nicht ab, dass
Sie mit der Regelung im Hinblick auf die Vergangenheit
zufrieden sind. Zumindest können Sie das nicht sein,
wenn es Ihnen um ein Minimum an Steuergerechtigkeit
geht.
({9})
Meine Damen und Herren von FDP und CDU/CSU,
Sie spielen immer Einnahmen und Steuergerechtigkeit
gegeneinander aus. Sie sagen: Wer pragmatisch ist und
darauf achtet, dass noch etwas in die Kasse kommt, der
darf es mit der Moral nicht ganz so ernst nehmen; der
muss auch einmal „Schwamm drüber!“ sagen können.
({10})
Ich habe nie in Abrede gestellt, dass es meinem Kollegen Bundesfinanzminister in besonderem Maße um
Steuergerechtigkeit geht. Das tue ich auch heute nicht.
Wenn man sich allerdings den Text des Abkommens vor
Augen führt, muss man sagen: An der Bereitschaft, Steuergerechtigkeit herzustellen, hat es nicht nur auf Schweizer Seite, sondern auch den deutschen Verhandlern gefehlt.
({11})
Sonst hätte dieses Abkommen nicht solch eklatante Lücken und würde Steuerhinterziehern nicht solche Sonderrabatte gewähren.
({12})
Minister Dr. Norbert Walter-Borjans ({13})
Dieses Abkommen gewährt Steuerflüchtlingen mit
Milliarden, die ihnen nicht gehören, freies Geleit in andere Steueroasen oder in andere Anlageformen. Man
muss ja noch nicht einmal die Schweiz verlassen. Daran
ändert auch das Zusatzprotokoll nichts. Dass das Ende
der Abschleichzeit vom 1. Juni 2013 auf den 1. Januar
verkürzt worden ist, damit verhält es sich ungefähr so,
als ob Sie eine sperrangelweit offen stehende Tür um
20 Zentimeter niedriger machten und dann sagten: Jetzt
habe ich den Ausgang versperrt. - Das ist der einzige
Unterschied.
({14})
- Wenn man aber acht Monate Zeit hat!
Es ist interessant, zu sehen, wie Sie damit umgehen.
Sie sprechen immer von den 10,8 Milliarden Euro, die
der deutsche Staat an zusätzlichen Einnahmen durch dieses Abkommen erhalten soll, und von den 2 Milliarden
Euro, auf die Nordrhein-Westfalen verzichtet, wenn es
diesem Abkommen nicht zustimmt.
({15})
Aber dann sagen Herr Flosbach und andere: Es gibt
keine konkreten Zahlen.
({16})
Aber Herr Röttgen und die Opposition in NordrheinWestfalen, die mit dem Rücken an der Wand steht, brauchen entsprechende Zahlen.
({17})
Natürlich wird darüber geredet, dass uns 2 Milliarden
Euro entgehen. Das ist aber nichts anderes als ein aufgeblasener Luftballon. Da bis Ende des Jahres die Türen
offen stehen, frage ich: Zweifeln Sie wirklich an der Professionalität und der Kreativität Schweizer Anlageberater? Das ist eine Beleidigung des eidgenössischen Finanzsektors. Der soll bis Ende des Jahres nicht in der
Lage sein, seinen Anlegern Wege aufzuzeigen, wie sie
ihr Schwarzgeld in Sicherheit bringen können? Davon
lebt der doch.
({18})
Die acht Personen, gegen die in Nordrhein-Westfalen
ermittelt wurde und für die eine Schweizer Großbank
150 Millionen Euro auf den Tisch geblättert hat, damit
das Verfahren gegen sie eingestellt wird, haben sich jedenfalls nicht so dusselig angestellt, wie Sie glauben,
dass sich andere anstellen werden. Die Schweizer Anlageberater haben bis Ende des Jahres Zeit und werden die
Möglichkeiten nutzen.
({19})
Wenn hier jemand hinter die Fichte geführt wird, Herr
Wissing, dann sind es - das muss man wirklich sagen die ehrlichen Steuerzahler bei uns. Wer morgens aufsteht
und arbeiten geht, der wird jetzt betrogen. Dem werden
die Steuern direkt vom Lohn abgezogen. Der geht nicht
in die Schweiz und legt dort 1 Million Euro an, die er
nicht versteuert hat.
({20})
- Es verjährt nicht alles. - Wir reden immer noch davon,
dass zum 1. Januar 2012 ein Abkommen in Kraft treten
könnte. Von Ihnen wird behauptet, dass schon jetzt Straftaten verjähren, was völliger Unsinn ist. Es war nie vorgesehen, das Abkommen vor dem 1. Januar 2013 in
Kraft treten zu lassen.
Wenn das Abkommen ein Jahr später in Kraft tritt,
dann sind nicht die von Ihnen errechneten 10,8 Milliarden Euro weg, sondern der Teil, der, weil es den Billigtarif von 20 Prozent gibt, wegfallen könnte. Das will ich
nicht. Ich will ein anständiges Ergebnis.
({21})
Wir müssen uns nicht auf diesen Punkt verständigen.
Sie wollen Nachprüfungen in Verdachtsfällen auf
1 300 in zwei Jahren beschränken. Das wäre eine einzige
Kontrolle pro Finanzamt in Deutschland pro Jahr.
({22})
Das erkennbare Ziel ist doch für die Schweiz und offenbar auch für die Betroffenen in Deutschland, also für die
Klientel, für die Sie ein Stück weit Politik machen, dass
diese vor Ermittlungen abgeschirmt werden. Das betrifft
auch den Erwerb von Daten, den wir bisher gemeinsam
als Aufklärungsinstrument, aber auch zur Abschreckung
eingesetzt haben. Es handelte sich nicht um einen Alleingang von Nordrhein-Westfalen, als eine CD gekauft
wurde, sondern wir haben das in Abstimmung und mit
Erfolg gemacht. Das hat ein Stück weit Verunsicherung
ausgelöst. Das beabsichtigte Abkommen wird aber zu einer Einladung zu mehr Transfer von unversteuertem Kapital in die Schweiz.
({23})
Das ist so, als ob Sie Schwarzfahrern erzählen, dass Sie
das Schwarzfahren bekämpfen, und heute erklären, dass
es keine Kontrollen mehr in Bussen und Bahnen gibt.
Die Verluste, die dem deutschen Fiskus mit jeder weiteren Milliarde, die in die Schweiz gebracht wird, entstehen, betragen, wenn man Umsatzsteuer und Einkommensteuer zusammenrechnet, um die 600 Millionen
Euro, die in keiner Rechnung auftauchen, die Sie aufstellen. Sie sprechen immer nur von 2 Milliarden Euro Einnahmen für Nordrhein-Westfalen. Das ist auf Dauer
Minister Dr. Norbert Walter-Borjans ({24})
nicht nur ein moralisches Fiasko, von dem wir reden, das
ist auch ein finanzielles Fiasko.
({25})
Es hat noch nie eine so pauschale, umfassende und
anonyme Amnestie zu so günstigen Konditionen gegeben.
({26})
Hier wird immer davon gesprochen, 2003 sei versucht
worden, eine Brücke in die Ehrlichkeit zu bauen. Dazu
muss ich ganz klar sagen: Das hat nicht das gebracht,
was wir uns erhofft haben.
({27})
Daraus muss man Lehren ziehen. Damals ging es wirklich darum, dass sich nur der von Strafe befreien konnte,
der seine Identität offengelegt und nachgezahlt hat und
der damit in Zukunft überprüfbar war.
({28})
Jetzt wird überhaupt nicht mehr hingeschaut. Jetzt wird
der ganze Schlamassel der Vergangenheit abgehakt, es
wird Straffreiheit versprochen, und man weiß nicht einmal, um welche Klientel es sich dabei im Einzelnen gehandelt hat.
({29})
Wir haben es jetzt mit einem Abkommen zu tun, das
für ein Linsengericht eine pauschale Billigstamnestie gewährt, das Steuerhinterzieher in der Zukunft wieder ruhig schlafen und so weitermachen lässt wie bisher. Das
Ganze wird mit einem Beitrag zur Imagepflege der
Schweizer Banken verbunden. Das wollten die; denn sie
haben ein großes Problem. Sie möchten, dass sie ein besseres Image bekommen. Es ist für viele ehrliche Unternehmer in Deutschland nicht besonders schön, als Bankverbindung eine Schweizer Bank auf dem Briefbogen
stehen zu haben. Das soll aber nicht um den Preis geschehen, dass das Schwarzgeld, das offenbar 20 000
Arbeitsplätze in der Schweiz sichert, verloren geht. Das
gehört zum Geschäftsmodell dazu. Deswegen muss das
kaschiert werden.
({30})
Herr Schäuble, ich meine, wir wären gemeinsam zu
dem Ergebnis gekommen, dass es ein Fehler war, dass
das vorher nicht mit den Ländern besprochen worden ist.
Ich bedaure sehr, dass seit September vergangenen Jahres mit der Unterzeichnung des Zusatzprotokolls und mit
der gestrigen Kabinettsentscheidung zwei weitere
schwere Fehler und zwei weitere Schritte in die falsche
Richtung gemacht worden sind. Das, finde ich, macht
die Sache nicht einfacher. Das macht es auch für die
Bundesregierung schwerer, gegenüber der Schweiz ihr
Gesicht zu wahren.
Die SPD- und grün geführten Bundesländer werden
sich nicht mit Zuckerbrot und Peitsche, mit aufgebauschten Zahlen, die Sie jetzt durch den nordrheinwestfälischen Wahlkampf tragen, und mit der neuesten
Idee der Verknüpfung mit den Entflechtungsmitteln auf
Ihre Position bringen lassen; denn Sie wollen dafür sorgen, dass diese Klientel von Steuerzahlern wieder ein ruhiges Leben führen kann. Das Hauptproblem dieser
Klientel und auch der Schweizer Banken ist nämlich,
dass sie im Moment wirklich damit rechnen müssen,
aufzufliegen.
({31})
Es reichen nicht 1 300 Überprüfungsmöglichkeiten
nach Diskussion in einer Kommission in zwei Jahren bei
den 650 Finanzämtern - so etwa ist die Größenordnung -, die wir in Deutschland haben.
({32})
Herr Minister, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister ({0}):
Ja, gern. - Ein Abkommen, das Zustimmung erwarten
kann, darf Lücken nicht nur geringfügig kleiner machen;
es muss sie schließen. Wenn hier gesagt wird: „Das darf
man nicht rückwirkend tun“, dann kann ich nur erwidern: Rückwirkend sämtliche Strafen für erledigt zu erklären, das geht offenbar.
({1})
Natürlich kann man darüber reden, dass man ab einem
Zeitpunkt X Daten austauscht. Da kann ich Herrn Schick
nur recht geben, der über das Bankgeheimnis gesprochen hat. Das wird ja wie eine Monstranz, wie ein Menschenrecht vor sich hergetragen. Aber das Bankgeheimnis ist ein Fehler. Es eröffnet die Möglichkeit, zu
betrügen.
({2})
Ich habe mich schon mehrfach an die Adresse der
Schweiz gewandt, weil ich selber immer für ein gutes
Verhältnis zwischen den Menschen werbe.
({3})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Dr. Norbert Walter-Borjans, Minister ({0}):
Gern. - Ich kann nur sagen: Es geht nicht um
„Schweizer gegen Deutsche“, es geht um „Anständige
gegen Unanständige“,
({1})
und die gibt es auf beiden Seiten.
Die Schweiz hat bis 1971 auch das Frauenwahlrecht
nicht gehabt.
({2})
Das hat sie irgendwann geändert. Das war bis dahin auch
eine unverbrüchliche Tradition. Die Schweiz kann darüber gern einmal nachdenken.
Tatsache ist: Ein Abkommen, das Zustimmung erwarten kann, darf Lücken nicht nur kleiner machen; es muss
sie schließen.
({3})
Es muss Ermittlungen uneingeschränkt zulassen,
({4})
und es darf vergangene Betrügereien nicht zum Schaden
der Allgemeinheit zu Sonderrabatten straffrei stellen, die
eine Ohrfeige für jeden einzelnen ehrlichen Steuerzahler
sind.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Walter-Borjans, das war schon etwas peinlich für
einen Finanzminister,
({0})
auch wenn er gerade im Wahlkampf ist.
Herr Walter-Borjans, Sie verzichten lieber auf jede
Besteuerung, als eine Nachbesteuerung von Milliardenvermögen in der Schweiz zu erhalten. Wenn Sie meinen,
dass Sie in Nordrhein-Westfalen sich das leisten können,
dann hat das vielleicht auch damit zu tun, dass es Ihnen
immer wieder gelingt, Milliarden einfach so im Haushalt
zu finden. Das gelingt nicht auf allen Ebenen.
({1})
Mit der Rhetorik, die Schweiz zu kriminalisieren, reihen Sie sich in eine schöne Reihe ein. Ich darf ein paar
Zitate bringen. Herr Poß meinte letztens: Diktatoren und
Massenmörder werden in der Schweiz nicht kriminalisiert, sondern deutsche Steuerfahnder. Herr Trittin setzte
drauf: Die Schweiz schützt Kriminelle und jagt Steuerfahnder.
Mit derartigen Aussagen gehen Sie seit Wochen durch
die Presse. Was ist das für ein Ton? Abgesehen davon,
dass es inhaltlich falsch ist: Was ist das für ein Umgang
mit einem befreundeten demokratischen Nachbarstaat?
({2})
Diese Koalition setzt auf Verhandlungen statt auf Beschimpfungen, und damit hat sie Erfolg. Das Abkommen
mit der Schweiz ist das Ergebnis langer bilateraler Verhandlungen, ein Kompromiss zweier souveräner Rechtsstaaten.
Die Schweiz hat deutlich gemacht, dass die Nachverhandlungen an diesem Punkt beendet sind. Das Bankgeheimnis rückwirkend zu verhandeln, ist nicht möglich.
Sie haben jetzt die Möglichkeit, ein Abkommen mitzutragen, das die Schweiz für Steuerhinterzieher künftig
weniger attraktiv macht und das gleichzeitig und erstmals eine Nachversteuerung von Altvermögen ermöglicht. Oder Sie blockieren im Bundesrat und zementieren
den Status quo.
Dieser Bundesregierung ist gelungen, was SPDFinanzminister während der letzten zehn Jahre nicht zustande gebracht haben. Das mag Ihnen wehtun. Da müssen Sie jetzt einfach durch. Der Kampf für mehr Steuerehrlichkeit und für die Sicherung unserem Land
zustehender Einnahmen sollte auch Ihr Ziel sein. Unseres ist es auf jeden Fall.
({3})
Was bringt uns dieses Abkommen? Zunächst einmal
schaffen wir Rechtssicherheit. Wir verlassen die rechtliche Grauzone im Zusammenhang mit dem Ankauf illegaler Daten. Dies wird in Zukunft schlicht unnötig. Ich
weiß, die SPD will das nicht - Sie schon gar nicht, Herr
Walter-Borjans. Sie haben ja angekündigt, weiterhin
Steuer-CDs kaufen zu wollen,
({4})
und setzen damit Ihre Steuerfahnder weiterhin dem Verdacht der Beihilfe zur Wirtschaftsspionage aus.
({5})
So etwas ist kein fairer Umgang mit Mitarbeitern.
({6})
Das wollen wir doch eher rechtlich regeln. Heiligt der
Zweck wirklich die Mittel in unserem Rechtsstaat?
Künftige Kapitalerträge werden unmittelbar mit einer
Abgeltungsteuer belegt. Sie entspricht exakt der deutschen Besteuerung. Bisher unversteuerte Kapitalerträge
werden mit 21 bis 41 Prozent nachversteuert.
({7})
Sie verzichten hingegen auf jede Besteuerung. Mit
der Ablehnung dieses Abkommens werden Sie über
Jahre keinerlei Besteuerung erreichen können.
({8})
Das Finanzministerium rechnet mit einmalig circa
10 Milliarden Euro und in der Folge mit rund 1,6 Milliarden Euro jährlich. Davon profitieren Bund, Länder
und Kommunen - die Länder sogar stärker als nach dem
sonst üblichen Verteilungsschlüssel. Herr WalterBorjans, wie erklären Sie den klammen Kommunen in
Nordrhein-Westfalen, dass ausgerechnet Sie darauf
großzügig verzichten wollen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, sagen wir den Menschen doch ehrlich, dass es nicht
darum geht, ein weiter gehendes Abkommen zu erstreiten. Aus diesem Stadium sind wir heraus. Es geht
schlicht und einfach darum, ein Abkommen im Bundesrat scheitern zu lassen und über Jahre hinaus keinerlei
Fortentwicklung zu erreichen.
Kein Abkommen bedeutet weiterhin Rechtsunsicherheit. Kein Abkommen bedeutet Verzicht auf Steuereinnahmen für Bund, Länder und Kommunen in Milliardenhöhe. Kein Abkommen bedeutet fortlaufende
Verjährung von Steueransprüchen, die in der Folge nie
mehr eingefordert werden können.
({9})
Kein Abkommen bedeutet auch: Diese Steuerhinterzieher der Vergangenheit kommen bei Ihnen ungeschoren davon. Der Ehrliche bleibt der Dumme.
({10})
Wollen Sie wirklich die Fortsetzung dieses sozialen
Unfriedens?
({11})
Wie verträgt sich das mit Ihrem viel beschworenen
Gerechtigkeitsempfinden? Mit Ihrer Blockadehaltung
schützen Sie die Inhaber von Schwarzgeldkonten in der
Schweiz über viele weitere Jahre.
2004 war die von Herrn Eichel angebotene Steueramnestie für Rot-Grün Mittel zum Zweck. Geboten wurden
Sonderkonditionen für reuige Steuersünder - so Ihr
O-Ton -, die weit unter dem lagen, was wir heute diskutieren.
({12})
Das war für Sie damals völlig okay. Heute soll eine faire
Verhandlungslösung mit Nachbesteuerung hingegen
ganz, ganz böse sein.
({13})
Was ist das denn für eine Haltung?
Ihr Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit - ein
toller Name für ein Amnestiegesetz - war eine Aufforderung an Steuerhinterzieher, sich ehrlich zu machen, und
wurde zum Flop.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, machen Sie sich ehrlich. Sehen Sie von einer taktischen Blockade ab!
({14})
Fachlich argumentieren können Sie hier nicht.
Dieses Abkommen mag nicht Ihren Maximalforderungen entsprechen. Doch es ist deutlich mehr, als jemals zuvor von einer deutschen Regierung in Verhandlungen mit einem anderen Staat erreicht wurde.
({15})
Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Was wir gerade gehört haben, war ein Beispiel
dafür, wie die FDP mit Steuerflucht, mit Steuersündern
und mit denen, die Geldwäsche betreiben, umgeht. Sie
haben gerade deutlich offenbart, was Sie davon halten,
wenn Steuer-CDs angekauft werden, um den Steuerbetrügern den Garaus zu machen. Was Sie hier den Menschen erzählen, ist schon ein Skandal.
({0})
Dann tun Sie auch noch blauäugig so, als ob die ehrlichen Steuerzahler nicht diejenigen sind, die in unseren
Kommunen und in unseren Ländern die Kitas, Schulen,
Universitäten, Krankenhäuser und sonstigen Infrastrukturen finanzieren.
Petra Hinz ({1})
In Bezug auf diejenigen, die erst im nächsten Jahr anonym zur Kasse gebeten werden sollen, frage ich Sie:
Glauben Sie denn wirklich, dass jemand, der straffällig
ist und ein kriminelles Denken hat, sagt: Bitte, bitte, in
einem Jahr werde ich ehrlich meine Konten öffnen und
auf den Tisch legen! Ja, wo leben Sie denn?
({2})
Reden wir einmal über Steuerehrlichkeit. Wer sind
die Menschen, die ehrlich sind? Das sind die Menschen,
die auf der Besuchertribüne sitzen. Das sind die Menschen, die der Debatte folgen. Das sind die Menschen,
die hier sitzen. Es sind aber nicht die Menschen, die in
der Schweiz anonym ein Konto haben. Das sind die
Menschen, die Monat für Monat ihre Lohnsteuer abführen müssen. Das sind die Menschen, die im Rahmen ihres Lohnsteuerjahresausgleiches Belege, Quittungen und
Rechnungen vorlegen müssen. Diese Angaben werden
geprüft. Wenn eine Angabe nicht richtig ist oder fehlt,
dann werden die Menschen mit einem Bußgeld belegt.
Was machen wir? Wir sagen: Bitte, bitte, Steuersünder,
zahl doch. - Das ist letztendlich das, was Sie hier vorlegen.
({3})
Es gibt angeblich keine Zahlen. Wenn im Finanzausschuss konkret nachgefragt wird, mit welchen Zahlen
wir zu rechnen haben, um welche Größenordnung es in
dem Bereich der Steuerhinterziehung geht, dann hören
wir vom zuständigen Staatssekretär, dazu könne er
nichts sagen, es liege nichts Konkretes vor. Wir haben
von Herrn Röttgen gehört: NRW verzichtet auf 2 Milliarden Euro. Herr Dr. Wissing hat gesagt: Es geht um
1,6 Milliarden Euro. - Sie müssen sich irgendwie einigen, wenn Sie über Zahlen reden. Es wurde gerade gesagt, dass es nur Schätzzahlen seien.
({4})
Über was reden wir denn hier? Sie verschaukeln die
Menschen und streuen denen Sand in die Augen, die tatsächlich ihre Steuern zahlen.
({5})
- Oh ja.
Um es ganz klar zu sagen: Mit dem Abkommen befördert Schwarz-Gelb Schwarzgeld und Steuerhinterziehung. Ich kann nur sagen: Ich bedaure die jetzige Situation sehr. Auch ich schätze unseren Minister Schäuble
sehr. Aber ich teile nicht das, was er gerade deutlich gemacht hat, nämlich dass wir uns gute Nachbarschaft erkaufen müssen, indem wir gegenüber Steuerhinterziehern ein Auge zudrücken.
({6})
Das kann doch keine gute Nachbarschaft sein. Ist es in
diesem Zusammenhang wirklich Gleichbehandlung,
wenn den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern jeden
Monat die Steuern abgezogen werden und alle anderen
in der Schweiz Zuflucht finden können? Aber: Wir müssen ja gute Nachbarschaft pflegen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Abkommen
ist eine staatlich geförderte Geldwäsche. Sie können den
Menschen keinen Sand in die Augen streuen.
({8})
Dieses Abkommen wird von der Kanzlerin, vom Finanzminister und dem CDU-Spitzenwahlkämpfer in Nordrhein-Westfalen unterstützt.
({9})
Diese Regierung fördert grundsätzlich Lobbyismus; denken wir an die Hoteliersteuer. Sie sind aber nicht bereit,
den hilfesuchenden Frauen von Schlecker eine Bürgschaft in Aussicht zu stellen. Sie, lieber Herr Wissing,
und auch der Wahlkämpfer Lindner haben gesagt: Die
können auf dem Arbeitsmarkt ihre Arbeitsplätze
suchen. - Aber Sie legen den Steuersündern, die auch
unsere Infrastruktur einfordern, den roten Teppich aus.
({10})
Das, was diese Bundesregierung vorlegt, ist ein fauler
Kompromiss. Alle ehrlichen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler, die jeden Monat Steuern zahlen und damit
einen Beitrag zum Ausbau unserer Infrastruktur leisten,
werden über den Tisch gezogen. Im Gegensatz dazu stehen die Menschen, die ihre Einkünfte in Millionenhöhe
im nächsten Jahr, wenn sie großzügig sind, anonym offenlegen.
({11})
Das ist der Unterschied - ich sage es noch einmal -:
Wir sind gegen Anonymität. Sie wollen das. Sie kündigen an, dass die Gelder im nächsten Jahr entsprechend
abgerufen werden. Das ist so, als wenn Sie in einem Restaurant Missstände, Kakerlaken, feststellen und dem Besitzer sagen: Wir kommen im nächsten Jahr vorbei, dann
werden Sie die Kakerlaken beseitigt haben. - So geht es
nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Steuerabkommen mit der Schweiz schaffen wir endlich einen Meilenstein in der Frage der Steuergerechtigkeit für die deutschen Steuerzahler,
({0})
Wahrheit und Klarheit für den deutschen Fiskus sowie
Wettbewerbsgleichheit für die deutschen Banken. Dies
ist ein Erfolg. All das, worüber Sie mäkeln, schlägt auf
Sie zurück. Ich bin überzeugt, dass Sie nach der Wahl in
Nordrhein-Westfalen diesem Gesetzentwurf zustimmen
werden, weil das vernünftig ist.
({1})
Illegal in die Schweiz verbrachte Gelder werden nachversteuert. Es gibt keine Schlupflöcher mehr; dafür findet eine gleiche Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit statt. Das ist Steuergerechtigkeit für alle.
({2})
Warum die Opposition hier auf Blockade macht, ist
rational überhaupt nicht zu erklären. Ich habe gut zugehört, aber ich habe keine stichhaltigen Argumente vernommen. Was ist denn Ihre Alternative? Rot-Grün hat zu
diesem Thema oft nur schwadroniert oder gegenüber der
Schweiz massiv gedroht. Der Erfolg war gleich null; Ihr
Kavalleriegeneral Steinbrück war auch nur eine Nullnummer! So stellt sich die Situation doch dar.
({3})
Wer hat denn in der Vergangenheit Steuerhinterziehung legitimiert, ohne eine Gesamtlösung anzubieten?
Das war der SPD-Bundesfinanzminister Eichel, der letzten Endes eine Steueramnestie mit 15 Prozent Höchststeuersatz erlassen hat.
({4})
Wir liegen jetzt bei einem Satz von 41 Prozent. Das ist
der große Unterschied.
({5})
Wo war denn Ihre Moral, als Sie ein Steuergeschenk
in Höhe von 15 Prozent gemacht haben? Im Gegensatz
zu Ihnen damals verlangen wir heute 41 Prozent.
({6})
Das ist ein Beweis für Ihre Doppelmoral; so sieht es
doch aus. Es hat viel Überzeugungskraft gebraucht, in
Verhandlungen mit der Schweiz neues Vertrauen aufzubauen und zu einem Ergebnis zu kommen. Dieser Kompromiss ist absolut zielführend.
Sie fordern jetzt europäische Verhandlungen. Das ist
natürlich immer eine Lösung, aber wir können doch
nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Wir brauchen jetzt ein Inkrafttreten dieses Abkommens, wenn
wir zeitnah Einkünfte aus Kapitalvermögen, die bei
Schweizer Bankinstituten angelegt sind, genauso lückenlos der Besteuerung unterwerfen wollen, wie wenn
sie bei deutschen Instituten angelegt wären.
({7})
Eine Anmeldung ist dabei nicht mehr erforderlich.
Wenn Sie das Gesetz und das Abkommen lesen, erkennen Sie: Wir haben einen direkten Kontenabzug unter
Aufsicht der staatlichen Behörden vereinbart. Das ist der
große Unterschied. Leider verschweigen Sie auch das.
({8})
Dieses Abkommen ist ein Meilenstein auf dem Weg zu
einer korrekten steuerpolitischen Zusammenarbeit mit
der Schweiz. Die Zeiten für Schwarzgeldkonten in der
Schweiz sind endgültig vorbei. Das Abkommen führt zu
mehr Steuergerechtigkeit und stärkt vor allem die Einnahmebasis von Bund, Ländern und Kommunen. Die Nachverhandlungen waren erfolgreich und beinhalten Änderungen gegenüber dem im letzten Jahr unterzeichneten
Abkommen. Das ist gut so. Bereits mit Inkrafttreten ist
kein Verschwinden von Kapital mehr ohne Meldung oder
Nachversteuerung möglich. Die Schweiz wird zusammen
mit Deutschland eine gemeinsame Verwaltungsanweisung zur Konkretisierung der Missbrauchsbestimmungen
des Abkommens erlassen.
Jeder Blockierer muss sich fragen, wie er diese Haltung insbesondere von der deutschen Öffentlichkeit verantworten will. Ihre Vorschläge laufen im Grunde auf
eine Art Steuereinnahmeverzichtserklärung hinaus.
({9})
Diese Konstellation ist wirklich einmalig. Man könnte
beim Verhalten der Opposition auch von Untreue im
Amt gegenüber dem Gemeinwohl sprechen.
({10})
Es ist nicht nachvollziehbar, dass Sie im Grunde auf
10 Milliarden Euro verzichten wollen. Das ist ähnlich
wie das Verhalten von Frau Kraft als Schuldenkönigin,
die zum einen Steuereinnahmen ausschlägt, letzten Endes aber sagt: Wir haben sowieso so viel Schulden; wir
tilgen die alten Schulden, indem wir immer neue Schulden machen. - Das ist die Schuldenpolitik, die Sie uns in
Nordrhein-Westfalen vor Augen geführt haben. So etwas
wollen wir nicht.
({11})
Deshalb sage ich Ihnen: Sie sollten Ihre generelle
steuerpolitische Blockade aus rein parteitaktischen
Gründen beenden. Sie verhindern die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung;
({12})
Sie verhindern das Gesetz zum Abbau der kalten Progression. Das ist wachstumsfeindlich, das ist arbeitnehmerfeindlich! Sie von Rot-Grün suchen Ihr Heil in immer mehr Schulden. Das werden Ihnen die Leute nicht
abnehmen; dafür werden Sie die Quittung bekommen.
({13})
Der Weg, immer mehr Schulden zu machen, um alte
Schulden zu begleichen, ist nämlich mit Blick auf unsere
Jugend, auf unsere Menschen zukunftsfeindlich.
Deswegen darf ich Sie herzlich bitten, diesem Abkommen zuzustimmen. Ich habe schon Zwischentöne
von Herrn Walter-Borjans gehört, der etwas belehrend
auf Herrn Poß eingegangen ist.
({14})
Ich bin sicher, dass die Länder in letzter Konsequenz die
Chance wahrnehmen und dem Abkommen zustimmen
werden.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Martin Gerster für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Sprache kann manchmal schon entlarvend sein. Gestern
gab es eine Pressemitteilung von der Parteizentrale der
CDU. Wenn man sich den Text durchliest, bemerkt der
aufmerksame Leser oder die aufmerksame Leserin
schon: Es ist nicht von „Steuerhinterziehern“, sondern
immer nur von „Steuersündern“ die Rede.
({0})
Ich denke, das ist deswegen entlarvend, weil es sich in
diesen Fällen nicht etwa um kleine Nachlässigkeiten
handelt, um ein kleines Stück Schokolade zu viel, das
man gegessen hat. Nein, es ist kriminell.
({1})
Es sind Betrüger. Deswegen müssen wir mit aller Härte
dagegen vorgehen.
({2})
Ich nenne einfach einmal die Argumente, die hier angeführt wurden. Einmal ging es um Österreich. Dann
sagten Sie: Es liegen keine Zahlen vor. Jedoch sagte
Herr Röttgen in NRW, es gehe um 2 Milliarden Euro.
({3})
Dann hören wir hier, es gehe um 10 Milliarden Euro,
usw. usf.
Es ist schon ein bisschen seltsam, mit welcher Akrobatik Sie argumentieren. Aber ich denke, eines wird
deutlich - egal, welche Zahl Sie, Herr Michelbach, jetzt
hier angeführt haben -:
({4})
Es geht doch auch um den Preis, den wir dafür zahlen
müssen, dass die Bundesregierung dieses Steuerabkommen abschließt und Sie dies befürworten. Der Preis lautet
nämlich: Preisgabe der Steuergerechtigkeit in Deutschland.
({5})
Herr Michelbach, wenn Sie sagen, dieses Abkommen
sei ein Beitrag zu Ehrlichkeit und Gerechtigkeit, dann
muss ich sagen: Das ist eine höchst seltsame Interpretation. Das ist höchstens die Michelbach’sche Steuergerechtigkeit.
({6})
Unter dem Strich muss man trotz aller Nachverhandlungen und den Ergebnissen ganz klar attestieren:
({7})
Steuerpflichtige, die ihr Vermögen unversteuert in der
Schweiz eingelagert haben, werden gegenüber den ehrlichen Steuerzahlern bevorzugt. Dieses Verhandlungsergebnis ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten einfach nicht hinnehmbar.
({8})
- Herr Volk, ich verstehe, dass Sie den Eindruck erwecken wollen, nach den erzielten Ergebnissen der Nachverhandlungen wäre die steuerliche Bergwelt zwischen
Deutschland und der Schweiz wieder heil. In Wahrheit
ist das Abkommen - das ist in der Debatte deutlich geworden - doch löcherig wie ein Schweizer Käse. Das
sagt auch Herr Eigenthaler, der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, ein anerkannter Experte auf
diesem Gebiet.
({9})
Es gilt, diese Einschätzung von Herrn Eigenthaler zu unterstreichen.
({10})
Herr Volk, auch die Presse und die Medien sehen es
so. Die Welt am Sonntag, wahrlich nicht das Hausblatt
der Sozialdemokratie,
({11})
hat in ihrer Beurteilung der Nachverhandlungsergebnisse ganz klar gesagt, dass das, was hier als der große
Durchbruch dargestellt wird, „wertlose Zahlenakrobatik“ ist. Denn immer noch ist es eben so - das kann man
einfach nicht oft genug sagen -, dass diejenigen, die ihre
Steuern ehrlich gezahlt haben, gegenüber denjenigen benachteiligt werden, die Gelder an unserem Finanzamt
vorbei in die Schweiz geschafft haben, dass sie hier die
Dummen sind.
({12})
Es gibt auch entsprechende Berechnungen. Herr Volk,
Sie können das im Magazin Der Spiegel nachlesen. Da
wird folgende Rechnung aufgemacht - ich zitiere sie
einfach; Sie können es gerne einmal nachrechnen -:
Wer vor zehn Jahren 1,2 Millionen Euro unversteuertes Schwarzgeld illegal in die Schweiz geschafft
hat und dort dank Zins und Zinseszins inzwischen
über 1,6 Millionen Euro verfügt, müsste nach dem
Steuerabkommen nur 21 Prozent bezahlen,
({13})
um sein Geld wieder weißzuwaschen. Er käme also
mit gut 300 000 Euro davon.
({14})
Alle Verpflichtungen gegenüber dem deutschen
Fiskus wären abgegolten - zu einem Spottpreis.
Wäre das Einkommen ordnungsgemäß in Deutschland deklariert und versteuert worden, lägen die
Abzüge bei 770 000 Euro, also mehr als doppelt so
hoch.
({15})
Herr Michelbach, da können Sie doch nicht sagen, dieses
Abkommen sei ein Beitrag zur Steuerehrlichkeit und zur
Steuergerechtigkeit. Das kann doch wohl nicht wahr
sein!
({16})
Der Ehrliche ist der Dumme. Das ist das Ergebnis des
Steuerabkommens. Deswegen lehnen wir Sozialdemokraten es ab, ganz zu schweigen von den vereinbarten
Kontrollmöglichkeiten. Der Landesminister WalterBorjans hat es dargestellt. Das ist doch ein schlechter
Witz, dass jedes Finanzamt in Deutschland im Prinzip
pro Jahr nur ein oder zwei Abfragen machen kann. Das
ist doch nicht einmal Stochern im Nebel, das ist noch
weniger. Wir sagen klar: Wir lehnen es ab. Wir werden
sehen, was die weitere Diskussion auch mit den Bundesländern bringt. Klar ist: Dieses Steuerabkommen ist bei
weitem kein Beitrag zur Steuergerechtigkeit, sondern ein
Beweis des Gegenteils.
({17})
Das Wort hat nun Olav Gutting für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor
allen Dingen von den Grünen und von der SPD! Sie
wenden sich hier mit großem Getöse gegen das Steuerabkommen mit der Schweiz. Sie sollten sich schämen,
({0})
dass Sie weiterhin Finanzbeamte und Steuerfahnder in
einen Sumpf aus Kriminalität, Selbstmord, Spitzelei und
Datenklau schicken.
({1})
Sich als Dienstherr schützend vor seine Beamten zu stellen, heißt nicht nur, die Backen in Richtung Schweiz
aufzublasen und die Strafbefehle aus der Schweiz zu
verurteilen.
({2})
Sich schützend vor seine Beamten zu stellen, heißt auch,
die Alternative zu Spitzelei, Datenhehlerei und Wirtschaftsspionage zu wählen. Diese Alternative ist das
Steuerabkommen.
({3})
Es ist betrüblich, wie Sie unser Verhältnis mit unserem Nachbarn Schweiz, einem souveränen Rechtsstaat,
mit Ihrer Kriegsrhetorik beschädigen.
({4})
Natürlich ist es ein Ärgernis, wenn die Schweiz die völlige Offenlegung des Verbleibs deutscher Steuergelder
mit dem Verweis auf das Schweizer Bankgeheimnis verweigert. Man kann es durchaus als Skandal empfinden,
({5})
dass damit deutsche Steuerhinterzieher in der Schweiz
geschützt werden. Aber dann muss man das Gespräch
suchen und verhandeln. Man darf nicht mit der Kavallerie drohen, sondern man muss sich an den Verhandlungstisch setzen.
Wissen Sie: Es gibt viele deutsche Landsleute, die in
der Schweiz leben und dort ehrlich ihr Geld verdienen.
Die werden mittlerweile in der Schweiz zum Hassobjekt.
({6})
Es gibt viele Baden-Württemberger, die tagtäglich in die
Schweiz fahren, um dort zu arbeiten. Ihre Kampfrhetorik
führt dazu, dass sie täglich gemobbt werden.
({7})
Es ist unanständig
({8})
von Rot-Grün, dass sie selbst noch im Jahr 2003, dann
geltend für 2004, mit ihrem Gesetz zur Förderung der
Steuerehrlichkeit allen Steuerhinterziehern und allen
Steuerflüchtlingen einen Steuersatz von einmalig faktisch 15 Prozent angeboten haben. Sie haben die 15 Prozent damals damit begründet, dass man sich in einem
Abwägungsprozess befand, dass man sich entscheiden
muss, was besser ist: 15 Prozent auf X oder einen höheren Prozentsatz auf nix. 15 Prozent haben Sie damals als
ausreichend angesehen. 15 Prozent - und derjenige war
frei, egal ob anonym oder nicht.
({9})
Nun haben Sie allen Ernstes heute die Stirn, sich gegen
die jetzigen Steuersätze zu wehren,
({10})
die bei 41 bzw. 50 Prozent liegen, und diese als zu niedrig abzulehnen?
({11})
Weil Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein ist, setzen Sie aus wahlkampftaktischen
Gründen lieber weiter auf Datenklau. Sie setzen lieber
auf Datenklau als auf ein rechtlich verbindliches Abkommen mit unserem Nachbarstaat.
({12})
- Meine Damen und Herren, wir leben - das müssen Sie
schon sehen - in einem Rechtsstaat.
Vor zwei Jahren, als es in Baden-Württemberg eine
Diskussion darüber gab, ob wir eine Steuer-CD ankaufen
sollen, habe ich mich ausnahmsweise dafür ausgesprochen. Steuerhinterzieher schaden uns allen. Sie müssen
zu Recht hart und unnachgiebig verfolgt werden.
({13})
Dafür darf der Staat ausnahmsweise, wenn es keine Alternative gibt, zum Schutz des Volksvermögens auch zu
Methoden greifen, mit denen man sich vielleicht am
Rande der Legalität bewegt.
({14})
Es gibt Situationen, wo man argumentieren kann, dass
der Zweck die Mittel heiligt; aber Sie wollen den
Rechtsbruch als Institut.
({15})
Sie wollen bezahlte Spitzelei und Datenklau, und Sie
wollen das Sicheinlassen mit Kriminellen als Dauerzustand einrichten.
({16})
Das geht nicht. Wir sind in einem Rechtsstaat. Wir haben
eine Alternative, und zwar dieses Steuerabkommen.
({17})
Schlussendlich, meine Damen und Herren: Es ist beschämend, dass Sie den ehrlichen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern in Deutschland nach Schätzungen bis zu
18 Milliarden Euro vorenthalten. Ländern und Kommunen können bis zu 12 Milliarden Euro zufließen.
({18})
Sie sagen, das alles seien Zahlen aus Schätzungen. Ich
nehme zur Kenntnis, liebe Freunde von der SPD, dass
Sie offensichtlich der Meinung sind, dass es in der
Schweiz überhaupt kein deutsches Schwarzgeld gibt.
Wir glauben, dass es viele Milliarden gibt und dass bis
zu 18 Milliarden Euro nach Deutschland fließen können.
({19})
Es ist nicht hinnehmbar, dass gerade Ländern und Kommunen Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für
Monat Milliarden an Geldern verloren gehen, nur weil
Verjährung eintritt.
({20})
Sie wissen das. Deswegen nehme ich Ihnen auch nicht
ab, dass Sie sich an anderer Stelle - zum Beispiel beim
Abbau der kalten Progression - hinstellen und sagen:
Wir können das aus Sorge um die Staatsfinanzen nicht
machen. Ihre Wahlkämpfer in Nordrhein-Westfalen und
Schleswig-Holstein und Sie sind dafür verantwortlich,
dass den Kommunen und den Ländern Milliarden an
Steuereinnahmen entgehen, die beim Kindertagesstättenausbau und bei wichtigen Infrastrukturprojekten fehlen.
Es ist ein übles Spiel, das Sie hier spielen, und ich bin
froh, wenn Steffen Kampeter in Nordrhein-Westfalen
endlich Finanzminister sein wird und Sie endlich abgelöst sein werden.
({21})
Dann hat dieses Abkommen endlich eine Chance.
({22})
Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Aktuelle
Stunde heute ist nicht deswegen aktuell, weil Sie ein Abkommen mit der Schweiz verhandelt haben, sondern
weil die Nachverhandlung gestern im Kabinett auch
noch als Erfolg verkauft worden ist.
({0})
Das ist absolut unverständlich, wenn man sich die Details anschaut. Das ist bereits angesprochen worden, man
muss es aber noch einmal wiederholen.
Angeblich wurden die Höchstsätze bei der Besteuerung erhöht. Ich frage Sie aber: Wer zahlt die denn? Die
zahlt doch kein Mensch. Dann wurde die Zahl der Prüfungen - von 999 auf 1 300 in zwei Jahren - erhöht. Es
wurde schon gesagt, dass das 1,1 Prüfungen pro Finanzamt sind. Das sieht fast so aus, als ob man da irgendjemandem in die Tasche hinein prüft. So ist es nicht. Es
wird über ein Bundeszentralamt Anfragen geben und
dann ein Amtshilfeverfahren. Ich frage Sie: Wer macht
das denn? Das ist völlig nutzlos.
({1})
Es wird weiterhin ein Bleiben in der Anonymität geben.
({2})
Es wird ein „Abschleichen“ geben. Egal wie viel jemand
hinterzogen hat: Wir haben es hier mit kriminellen, aber
nicht mit dämlichen Mitbürgern zu tun.
({3})
Es wird doch keiner hier sitzen und abwarten, bis das
Jahr herum ist, damit er am 1. Januar endlich seine hinterzogenen Steuern nachzahlen kann. Es ist doch völlig
blödsinnig, so etwas anzunehmen.
Das Argument der Verjährung ist schon angesprochen
worden. Bei diesem Abkommen geht es in der Regel um
Altvermögen bzw. Erträge, die wir nachbesteuern wollen. Hier fängt die Steuergerechtigkeit an. Die Leute, die
im Moment arbeiten und Steuern zahlen müssen, sehen
nicht ein, warum andere Menschen, die momentan Erträge erzielen, überhaupt nichts bezahlen sollen und die
Möglichkeit haben, sich dem zu entziehen.
({4})
Dem Minister Dr. Schäuble ist vor allem wichtig, dass
man mit der Schweiz ein gutes Verhältnis hat und dass
die Befindlichkeiten nicht gestört sind.
({5})
Das ist schon schlimm genug. Aber das, was der Kollege
Gutting hier verbreitet hat,
({6})
war teilweise wirklich unverschämt. Auch Schweizer
Bürger zahlen Steuern. Schweizer Bürger haben sehr
großes Verständnis dafür, wenn die Deutschen, die in ihrem Land Geld geparkt haben, zur Steuerzahlung herangezogen werden.
({7})
Der Datenklau - auch das möchte ich Ihnen sagen ist von Gerichten im Nachhinein legitimiert worden. Wir
schicken niemanden, der Steuer-CDs ankauft, in den
Sumpf oder in die Kriminalität.
({8})
Die Schweiz hat deutsche Steuerbeamte kriminalisiert,
und zwar völlig zu Unrecht. Das sollten Sie hier einmal
thematisieren.
({9})
Ich möchte noch etwas zu den Summen sagen, die
hier im Raum stehen. Ich kann Ihnen ja einmal in der
Steigerung darlegen: Herr Wissing sprach von 1,6 Milliarden Euro, die dem deutschen Staat entgehen würden.
Die Kanzlerin hat in den letzten Tagen von 1,8 Milliarden Euro gesprochen. Der Spitzenkandidat der CDU in
Nordrhein-Westfalen, Norbert Röttgen, redet von 3 Milliarden Euro.
({10})
- Ich habe „drei“ gelesen. - Das ist ein reichlich naives
Wunschdenken. Wir wissen alle, dass wir die genaue
Zahl überhaupt nicht kennen.
Gehen wir jetzt einfach einmal von 3 Milliarden Euro
aus;
({11})
denken wir positiv. Wenn wir berücksichtigen, dass der
NRW-Anteil 10 Prozent beträgt, würde das bedeuten,
dass wir insgesamt mit einer Steuernachzahlung von ungefähr 30 Milliarden Euro rechnen könnten.
({12})
Das würde bedeuten - ausgehend von einem Nachbesteuerungssatz von 25 Prozent -, dass auf Schweizer
Konten ein Kapitalbestand in Höhe von 120 Milliarden Euro liegt.
({13})
Die Besitzer dieser 120 Milliarden Euro warten jetzt darauf, dass dieses Jahr zu Ende geht und das neue Jahr beginnt, damit dieses Geld endlich versteuert werden kann.
Das ist doch völlig idiotisch.
({14})
Minister Schäuble hat in anderen Verlautbarungen sogar
von 10 Milliarden Euro gesprochen. Die Schweizer sichern uns für 2013 1,6 Milliarden Euro zu. Vielleicht
wissen die das besser als wir. Das kann ja sein.
({15})
Alle Fachleute - Herr Eigenthaler, der Vorsitzende der
Deutschen Steuer-Gewerkschaft, ist schon zitiert
worden - sind sehr unzufrieden mit diesem Abkommen.
Da Sie immer so tun, als gebe es nur die Alternative
zwischen diesem Abkommen oder gar keinem Abkommen, möchte ich sagen: Man hätte dieses Abkommen
auch anders verhandeln können. Es ist einfach unsäglich,
dass Sie immer so tun, als ob es keine Alternative zu diesem schlecht verhandelten Abkommen gab.
({16})
- Nein, aber man hat mit der Schweiz ein gutes, partnerschaftliches Verhältnis, und die Schweizer sind bestrebt,
weiterhin ein gutes Verhältnis zu uns zu haben. Die
Schweizer haben ein Imageproblem, wenn sie kriminalisiert werden und wenn sie von uns nicht mehr so behandelt werden, wie man Freunde behandelt. Ich glaube, es
ist überhaupt nicht ernsthaft versucht worden, vernünftig
zu verhandeln.
({17})
Ich kann Sie nur warnen: Unter diesen Umständen
werden wir nicht zustimmen. Nutzen Sie die Möglichkeit, über eine Nachverhandlung nachzudenken.
({18})
Wir alle brauchen das Geld, das kriminell hinterzogen
worden ist. Darüber sind wir uns einig. Aber wir wollen
es in Gänze haben. Schließlich müssen wir auch den
Steuerzahlern, die keine Steuern hinterzogen haben, die
Steuerbelastung in Gänze zumuten. Deswegen möchten
wir das auch den kriminellen Bürgern, die Steuern hinterzogen haben, zumuten. Ich kann Ihnen nur empfehlen,
nachzuverhandeln.
({19})
Ansonsten bitte ich Sie: Hinterlassen Sie uns nicht zu
viele Baustellen. Sonst müssen wir auch das nach der
Regierungsübernahme machen. Doch auch dafür wären
wir uns nicht zu schade.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Als letzte Rednerin in dieser Debatte
möchte ich
({0})
die wichtigsten Punkte ein wenig zusammenfassen.
({1})
Der Staat muss das Problem der Steuerhinterziehung
lösen.
({2})
Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit des Staates, der
Steuergerechtigkeit und der finanziellen Notwendigkeit.
Der Staat muss sich die Einnahmen sichern, die ihm gesetzlich zustehen.
({3})
- Ich freue mich über Ihren Beifall; denn er zeigt, dass
diese ganze Diskussion über die Zahlen eigentlich überflüssig ist. Wir müssen die Einnahmen sichern, die uns
gesetzlich zustehen.
({4})
Kollege Gutting hat darauf hingewiesen: Der Ankauf
von Steuer-CDs darf nicht zu einem dauerhaften Instrument des Staates werden. Das ist abzulehnen. Der Staat
darf nicht zum Hehler werden.
({5})
Der SPD ist es in früheren Jahren nicht gelungen, dieses Problem zu lösen.
({6})
Herr Poß, ich habe mich sehr gewundert, dass Sie den
Ausspruch von Herrn Steinbrück zur Kavallerie noch
einmal zitiert haben;
({7})
denn dieser Ausspruch von Herrn Steinbrück war nichts
anderes als eine Erklärung, dass man in der Verhandlung
nicht weiterkommt.
({8})
Ich unterstelle: Jeder in diesem Hause wünscht sich, dass
die Steuerbürger steuerehrlich sind und ihre Steuern in
die Staatskasse zahlen. Aber wir müssen die Fakten betrachten, und die Fakten sind eben anders.
Ich nenne noch ein paar Punkte zur Steuerhinterziehung an sich. Für mich wurde in dieser Diskussion sehr
stark schwarz-weiß gemalt. Sicherlich sind viele Leute,
die Steuern hinterziehen, kriminell.
({9})
Gleichwohl muss man sehen, auf welche Weise und warum Steuerhinterziehung geschieht.
({10})
Steuerhinterziehung kann auf verschiedene Weise geschehen. Sie kann geschehen, indem der Bürger erklärt,
({11})
dass er sich dem Zugriff des Staates entziehen will. Nehmen Sie beispielsweise das Thema Tanktourismus. Man
hat das gute Recht, in ein Nachbarland zum Tanken zu
fahren, weil der Steuersatz dort geringer ist; dadurch
zahlt man aber auch weniger in die Kasse des eigenen
Staates.
({12})
Ich bitte, dies in der ganzen Diskussion zu bedenken.
Das Thema Bankgeheimnis wurde angesprochen.
({13})
Ich habe mich sehr gewundert, wie leichtfertig man hier
die Forderung erhebt, das Bankgeheimnis aufzugeben.
({14})
Im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland und des Standortes Europa muss man
zum Thema Kapitalexport sagen: Wir müssen alles daransetzen, den Kapitalexport zu stoppen; denn der hohe
Kapitalexport hat die Euro-Krise mit verursacht.
({15})
Wir müssen alles daransetzen, das Kapital im Inland zu
halten, es entsprechend zu besteuern und Investitionen in
Deutschland anzuregen.
Noch ein paar Worte zu NRW. Statt Steuerhinterziehung zu bekämpfen, ist man in den letzten Wochen lieber auf den Solidarpakt losgegangen. Dies schürt Neid
und ist auf Spaltung ausgerichtet. Gleichzeitig lenkte es
vom Versagen der SPD-geführten Regierung in NRW
ab.
({16})
Wertvolle Zeit geht verloren, und Millionen an Einnahmen gehen verloren, wenn das Abkommen jetzt nicht
unterzeichnet wird. Das von Bundesfinanzminister
Schäuble ausgehandelte Steuerabkommen mit der
Schweiz ist gut, richtig und notwendig.
Jetzt noch ein paar Worte zur Haltung der europäischen Institutionen.
({17})
Gerade vor dem Hintergrund der Staatsschuldenkrise
und der notwendigen verbesserten europäischen Regelungen zur Bewältigung dieser sollte man das Subsidiaritätsprinzip nicht aushöhlen. Wenn die Bürger dem Nationalstaat Steuern entziehen, betrifft dies in erster Linie
ihren Staat. Ein Nationalstaat hat bessere Möglichkeiten,
Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Die deutschen Steuerbehörden sind einfach näher am Steuerzahler. Die Finanzbehörden müssen die Steuergesetze umsetzen und
dem Staat die Einnahmen verschaffen, die ihm gesetzlich zustehen.
({18})
Die bisherigen DBA-Abkommen sind zwar wichtig,
aber mit diesen kann man das Problem der Steuerhinterziehung nicht abschließend lösen.
Es gibt auch einen Motivationseffekt. Der Nationalstaat, dem das Geld entzogen worden ist, hat eine große
Motivation, es sich zurückzuholen. Deswegen müssen
bilaterale Abkommen zwischen den europäischen Staaten weiter möglich sein.
Noch ein letzter Punkt: die Einhaltung der Schuldenbremse.
Frau Kollegin, nur noch einen Satz. Sie haben Ihre
Redezeit schon deutlich überzogen.
Bund und Länder brauchen das Geld aus dem Steuerabkommen, um die Schuldenbremse auch im Hinblick
auf den Fiskalpakt einhalten zu können.
Vielen Dank.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2012
({0})
- Drucksache 17/9040 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär im Finanzministerium Steffen
Kampeter das Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Nachtragshaushalt der Bundesregierung,
mit dem wir uns heute in erster Lesung befassen, ist eine
Investition in die Stabilität Europas. Stabilität bedarf gemeinsamer Anstrengungen, nicht nur in Deutschland,
sondern auch in allen anderen Ländern der Europäischen
Union. Der deutsche Beitrag zu dieser Stabilisierung ist
substanziell. Er sollte es auch sein; denn Stabilität in Europa ist vor allen Dingen für uns Deutsche ein vordringliches politisches Anliegen. Deswegen glaube ich, mit
guten Gründen für den Nachtragshaushalt, den wir hier
und heute in die parlamentarische Beratung einbringen,
werben zu können.
({0})
Der Nachtragshaushalt schafft die finanziellen Voraussetzungen für den Europäischen Stabilitätsmechanismus, in der Technokratensprache kurz „ESM“ genannt. Wir werden in einer ersten Tranche 8,7 Milliarden
Euro Eigenkapital einzahlen. Diese Brandmauer, die
auch dem Schutz der Deutschen dient, werden wir in den
nächsten beiden Jahren bis zu ihrer vollen Wirkungsfähigkeit weiterentwickeln. Es wird weitere Anpassungen durch den Nachtragshaushalt geben, beispielsweise
beim Bundesbankgewinn. Auch die erfreuliche Entwicklung bei den Steuereinnahmen in der Bundesrepublik
Deutschland und die erfreuliche Entwicklung bei den
Zinsausgaben bilden sich in diesem Haushalt ab.
({1})
Die beiden letzten Positionen sind eine besondere Stabilitätsdividende, die Deutschland zur Kenntnis nehmen
kann. Das niedrige Zinsniveau beispielsweise bildet
Respekt und schafft Vertrauen in die Wirtschafts- und
Finanzpolitik dieser Bundesregierung.
({2})
Im Rahmen der Beratungen werden wir bis Ende Mai
dieses Jahres sicherlich noch bei zwei Positionen weitere
Anpassungen vornehmen. Erstens werden wir das deutsche Parlament über die Auswirkungen des Tarifabschlusses für den öffentlichen Dienst unterrichten, der
vor wenigen Wochen für die Angestellten gefunden
wurde und den wir eins zu eins auf die Beamten übertragen wollen; er wird sich nämlich in diesem Haushalt
widerspiegeln. Zweitens erwarten wir noch Anpassungen, die sich aus der Steuerschätzung im Mai dieses Jahres ergeben. Unser Ziel ist es, die Nettokreditaufnahme
auf dem im Nachtragshaushalt festgelegten Niveau zu
halten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser
Haushalt macht nochmals deutlich, dass die Bundesrepublik Deutschland kraft politischen Willens nicht nur
die nationale Schuldenbremse einhalten kann, sondern
auch ihre Verpflichtungen gegenüber Europa einhält.
Wir werden das gesamtstaatliche Defizit im Jahre 2014
nahezu ausgeglichen haben, zwei Jahre früher, als es
rechtlich erforderlich ist. Wir wollen diesen Sicherheitsabstand. Dies ist ein Erfolg unserer wachstumsfreundlichen Konsolidierungspolitik. Diese Politik werden wir
mit dem Nachtragshaushalt weiter fortentwickeln.
Es gibt eine europaweite Debatte über den Zusammenhang zwischen Haushaltskonsolidierung und wirtschaftlichem Wachstum. Die G-20-Staaten haben in
Toronto verabredet, ihre strukturellen Defizite bis 2013
halbieren und ihre Schuldenstandsquoten senken zu
wollen. Das deutsche Beispiel, das Beispiel der christlich-liberalen Koalition, zeigt, dass wirtschaftliche Konsolidierung und wirtschaftlicher Erfolg keine Gegensätze, sondern zwei Seiten der gleichen Medaille
erfolgreicher christlich-liberaler Politik sind. Deswegen
werden wir an diesem Kurs auch festhalten.
({3})
Genauso deutlich möchte ich feststellen, dass schuldenfinanziertes Wachstum kein Zukunftskonzept ist.
({4})
Schulden lösen kein Problem. Vielmehr sind viele Staaten in Europa und im Übrigen auch viele Länder im
föderalen Deutschland in Schwierigkeiten, weil sie zu
viele Schulden haben. Wer Schulden mit Schulden
bekämpfen will, der begeht einen gefährlichen Irrweg.
Dieser Irrweg führt nicht zu Stabilität, sondern in den
Abgrund.
({5})
Ich will auch mit der fehlerhaften Behauptung aufräumen, die deutsche Position sei auf Konsolidierung
beschränkt. Die wachstumsfreundliche Politik dieser
Bundesregierung beschränkt sich eben nicht nur auf die
Haushaltspolitik. In vielen anderen Bereichen haben wir
nicht nur als christlich-liberale Koalition, sondern auch
als Bundesregierung in unterschiedlichen Zusammensetzungen stets darauf geachtet, dass unser Land zukunftsfähiger wird, beispielsweise durch Arbeitsmarktreformen,
die von einer rot-grünen Regierung mit Unterstützung aus
dem bürgerlichen Lager vorangetrieben worden sind,
oder jetzt durch eine Energiepolitik, die den Industriestandort Deutschland weiterhin leistungsfähig bleiben
lässt.
({6})
Das sind Beiträge, die das Wachstum in und für
Deutschland stärken sollen. Wenn ich im Gegenzug
höre, dass beispielsweise die nordrhein-westfälische
Landesregierung ein fast schon fertiggestelltes Kohlekraftwerk, einen Beitrag zur sicheren Energieversorgung
im industriellen Kern Nordrhein-Westfalen, aus ideologischen Gründen nicht fertigstellt,
({7})
dann weiß ich, warum die Haushaltszahlen in NRW zum
gegenwärtigen Zeitpunkt so mies aussehen.
({8})
Ich höre von den Sozialdemokraten an dieser Stelle
das Wort „Wachstumsförderung“. Meine sehr verehrten
Damen und Herren nicht nur hier im Hause, sondern
auch auf den Besuchertribünen, wenn die Sozialdemokraten, die SPD, von Wachstumsförderung reden, dann
meinen sie Schuldenmachen. Das ist deren Konzept der
Wachstumsförderung. Dieses Konzept ist gescheitert.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
SPD, ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass das
deutsche Direktoriumsmitglied bei der Europäischen
Zentralbank, Jörg Asmussen, Angehöriger Ihrer Partei
- zumindest wenn ich den Medien glauben darf -, darauf
hingewiesen hat, dass es jetzt nicht darum geht, in dieser
Debatte irgendein Jota am Fiskalpakt und an der festen
Zusage zu ändern, mit dem Geld auszukommen, das man
hat, sondern dass man budgetneutrale Wachstumsimpulse setzen soll. Das Geld muss dort eingesetzt werden,
wo es am meisten zum Wachstum beiträgt.
({10})
Er hat auch daran erinnert, dass Deutschland mit der
Agenda 2010 eine Strukturreform durchgeführt hat, die
mittelfristiges Wachstumspotenzial hervorruft,
({11})
und dies als Beispiel dafür genannt, wie auch andere
Staaten budgetneutrale Wachstumsimpulse setzen können. Sie wollen sich an die Agenda 2010 heute aber
nicht mehr erinnern.
({12})
Sie verstehen Wachstumsförderung als Lizenz zum
Schuldenmachen.
({13})
Sie haben ein ungeklärtes Verhältnis zur Inflation. Hören
Sie lieber auf diejenigen in der Sozialdemokratie, die
wirtschaftspolitischen Sachverstand haben und jetzt die
deutschen Interessen bei der EZB, wie ich finde, gut vertreten.
({14})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bewältigung der Herausforderung, eine Konsolidierung durchzuführen, ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Deswegen
haben wir nicht nur im Bundeshaushalt eine Ausgabendiät einzulegen, sondern wir müssen diese Ausgabendiät
auch in allen Bundesländern durchhalten. Ich appelliere
an die Bundesländer, hier ihre gesamtstaatliche Verantwortung wahrzunehmen.
Der modernisierte Stabilitäts- und Wachstumspakt
bindet ja nicht nur den Bundeshaushalt, sondern ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe. Wir haben im Finanzausschuss des Bundesrates in dieser Woche erste Gespräche
geführt. Man darf Finanzpolitik nicht nur vor dem Hintergrund des Datums 2016 betreiben, sondern man muss
auch die Situation im Jahre 2020 im Blick haben. Lassen
Sie mich hierzu zwei Beispiele aus unserem föderalen
Staat nennen: Sachsen beispielsweise orientiert seine
Haushaltspolitik an den Einnahmen und hat unter allen
Flächenländern in Deutschland die niedrigste Pro-KopfVerschuldung, weil nicht jede politische Aufgabe mit
einer Staatsausgabe beantwortet wird. Länder wie
beispielsweise Nordrhein-Westfalen geben Mittel aus
mehr Steuereinnahmen durch mehr Ausgaben sofort
wieder aus.
Man muss die derzeitige Dividende der Konjunktur
zu einer Stabilisierung auch in den Länderhaushalten
nutzen. Wer da versagt, versagt vor der Herausforderung
der nächsten Generationen.
({15})
- Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, Herr
Kollege, bin ich gerne bereit, sie zuzulassen.
({16})
Aber Sie als nordrhein-westfälischer Sozialdemokrat,
der nach dem Zweiten Weltkrieg über 40 Jahre in diesem
Land Verantwortung getragen hat, der für das Debakel
bei der WestLB politische Mitverantwortung trägt,
({17})
der dafür Verantwortung trägt, dass Norbert WalterBorjans gerade vorhin gesagt hat: „Wir verzichten in
Nordrhein-Westfalen auf Einnahmen aus dem Abkommen mit der Schweiz“, aber im nordrhein-westfälischen
Haushalt mit die höchste Neuverschuldung machen will,
sollten sich wegen solcher Zwischenrufe schämen
({18})
und erst einmal Ihre Hausaufgaben in Nordrhein-Westfalen erledigen. Dazu bietet sich Zeit und Gelegenheit.
Der Bund ist auf jeden Fall bereit, am Konsolidierungskurs festzuhalten.
({19})
Der Nachtragshaushalt setzt unsere wachstumsfreundliche Konsolidierung fort. Ich finde, von der Bundesrepublik Deutschland geht ein vertrauensbildender Impuls aus:
({20})
nach Europa, aber auch in unsere föderale Gemeinschaft.
({21})
Das Wort hat nun Carsten Schneider für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatte war als die Einbringung des Nachtragshaushaltes durch die Bundesregierung angekündigt. Ich hatte
mehr den Eindruck, der Staatssekretär hat das Plenum
mit dem Marktplatz von Minden verwechselt.
({0})
Wir sind hier, sehr geehrter Herr Kampeter, im Deutschen Bundestag.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Ihnen bewusst war,
was Sie im Kabinett beschlossen haben; denn das, was
Sie gesagt haben, stimmt überhaupt nicht mit dem überein, was Sie uns hier vorlegen.
({1})
Da Sie 2011 - das ist das vorherige Jahr gewesen - in
Deutschland für den Bund knapp 17 Milliarden Euro
neue Schulden gemacht haben - neue Schulden! ({2})
und im Jahr 2012 mit dem Nachtragshaushalt, den Sie
jetzt hier einbringen sollten, über 34 Milliarden Euro
neue Schulden machen - Sie haben in Ihrer Rede gar
nicht gesagt, wie hoch die Neuverschuldung ist, deshalb
habe ich die Zahl genannt -,
({3})
ist das, was eine Verheißung sein sollte, nämlich dass Sie
in NRW Finanzminister werden sollen, für die Menschen eher eine Drohung. Ich glaube, das Ergebnis wird
deutlich ausfallen.
({4})
Ich kann gut verstehen, dass man, wenn man einer
Regierung angehört, die nur noch verwaltet und sich
streitet, aber nicht mehr wirklich handelt, darüber nicht
reden will, sondern sich über die Kuppel des Reichstags
erhebt und gesamteuropäische Ansätze vertritt, dass man
mit dem Finger auf andere zeigt und sie zum Sparen auffordert, selbst aber in Deutschland das genaue Gegenteil
tut. Von daher kann ich den Duktus Ihrer Rede gut verstehen.
({5})
Das ist ein Armutszeugnis dieser gerade noch zusammengehaltenen Regierung; das muss man leider so sagen. Noch immer tragen Sie - das glaubt man fast nicht,
auch wenn man sich die Parteivorsitzenden anschaut die Verantwortung für dieses Land. Aber der Haushalt,
den Sie hier vorlegen, ist verantwortungslos: über
34 Milliarden Euro neue Schulden in 2012! Das legen
Sie dem Deutschen Bundestag vor und wollen es
beschließen lassen. Das ist der Verzicht auf gestaltende
Finanzpolitik. Das ist vor allen Dingen der Verzicht
darauf, zukünftigen Generationen finanziellen Spielraum zu geben.
Eines ist doch klar: Wir haben derzeit eine sehr gute
ökonomische Lage.
({6})
Sie haben auf die Ursachen hingewiesen. Ich hoffe auch,
dass diese gute Konjunktur anhält. Die Zeichen stehen
nicht schlecht. Aber dass wir uns dauerhaft und für immer auf einem Wachstumspfad befinden und immer
mehr Steuern einnehmen - in diesem Jahr haben wir ReCarsten Schneider ({7})
kordsteuereinnahmen und eine Entlastung bei den Sozialausgaben -, gibt es nicht. Die Wirtschaftswissenschaftler haben viele Fehler gemacht. Aber dass es in der
Wirtschaft ein Auf und Ab und ein Hoch und Runter
gibt, ist ziemlich klar. Deswegen wäre jetzt in der Phase
des höchsten Wachstums, das wir in Deutschland jemals
hatten, mit den höchsten Steuereinnahmen, die es jemals
gab, die Gelegenheit ({8})
- nicht an die Ausgaben ranzugehen, Herr Kollege Fricke;
das hätten Sie mit Hilfe Ihres Sparbuchs, das Sie hier vorlegen wollten, machen können, aber das haben Sie eingemottet -,
({9})
die absurd hohe Verschuldung des Bundes in Deutschland herunterzufahren und so schnell wie möglich auf
null zu kommen.
Sie haben als FDP über Ostern ein interessantes
Schauspiel geliefert. Vor Ostern wollten Sie mit der
Pendlerpauschale die Subventionen erhöhen, aber ohne
Gegenfinanzierung. Ich bin zwar bereit, über alles zu reden, aber dann bitte mit einer entsprechenden Gegenfinanzierung statt mithilfe neuer Löcher.
Nach Ostern wollten Sie bzw. Ihr Parteivorsitzender
den gerade beschlossenen Finanzplan wieder korrigieren. Auf dem Parteitag sollte das dann beschlossen werden: 2014, in zwei Jahren, soll die Neuverschuldung auf
null sinken. Das ist dann nicht beschlossen worden, weil
auf dem FDP-Parteitag dafür keine Zeit mehr war. Jetzt
machen Sie 34 Milliarden neue Schulden.
({10})
Ich weiß nicht, wo Ihre Prioritäten liegen. Aber es war
jedenfalls ein Misstrauensbeweis des Koalitionspartners
gegenüber dem Bundesfinanzminister.
({11})
Ich meine, damit haben Sie recht gehabt. Denn die Finanzpolitik, die Sie vorgelegt haben und die insbesondere mit dem Nachtragshaushalt ihre Fortsetzung findet,
ist auf Schuldenbergen gebaut, nicht auf Solidität. Dafür
unternehmen viele andere Länder in Europa derzeit
große Anstrengungen. Sie tun das Gegenteil.
({12})
Der Punkt Subventionsabbau, den wir im Steuer- und
Finanzkonzept der SPD mit 50 Prozent der Gesamtkonsolidierung berücksichtigen, kommt nicht vor. Im Gegenteil: Ich will nicht noch einmal die Hoteliersvergünstigungen ansprechen, aber Sie haben die Subventionen
ausgeweitet, statt zielgerichtet in die Zukunft zu investieren.
Diese Woche haben Sie, zumindest der Fraktionsvorsitzende der CDU, ein besonderes Schauspiel geliefert.
Das Betreuungsgeld soll 2014 1,2 Milliarden Euro zusätzliche Kosten verursachen, bezahlt aus neuen Schulden. Eine Gegenfinanzierung haben Sie nicht.
({13})
Die Zustimmung dafür soll jetzt mit langfristigen Zusagen für höhere Rentenzahlungen erkauft werden.
Damit bringen Sie zwei ungedeckte Schecks vor die
Öffentlichkeit, nur um den Koalitionsfrieden durchzusetzen. Das ist keine Zukunftsgewandtheit, sondern ein
Blankoscheck dieser Koalition, für den die Steuerzahler
zu zahlen haben.
({14})
Der Herr Staatssekretär hat positive Punkte wie die
Steuereinnahmen erwähnt. Er hat auch die Bundesbank
angesprochen. Nur für das Publikum: Der Bundesbankgewinn, der dem Bundeshaushalt zufließt, wird deutlich
niedriger sein, und zwar etwa um 2 Milliarden Euro. Das
liegt daran, dass die Bundesbank Rückstellungen für Risiken aus dem Euro-System bildet. Das heißt, wir sehen
diesmal nicht nur mit der Überweisung der 8 Milliarden
Euro an den Stabilitätsmechanismus, sondern auch bei
dem um 2 Milliarden Euro geringeren Bundesbankgewinn, dass die Finanz- bzw. Euro-Krise im deutschen
Bundeshaushalt ankommt. Bisher haben Sie immer gesagt, die Krisenreaktion koste kein Geld. Hier sehen wir:
Es werden real über 2 Milliarden Euro fehlen.
Entscheidend ist, dass wir uns noch in der Großen
Koalition im Rahmen der Finanzkrise intensiv für
Wachstumspakete und Wachstumsstimuli eingesetzt haben. Das haben Sie jetzt verdammt.
({15})
Wir haben das damals klug gemacht. Es hat dazu geführt, dass wir 2011 kaum zusätzliche Arbeitslose hatten. Es hat funktioniert.
({16})
Wir haben damals darauf Wert gelegt, dass alles in ein
Sondervermögen kommt und dass diese konjunkturell
bedingten Schulden wieder getilgt werden, wenn bessere
Zeiten kommen. Wir haben jetzt bessere Zeiten, und der
Bundesbankgewinn sollte eigentlich dort hineinfließen.
Das ist aber nicht der Fall. Ich erwarte - das werden wir
als SPD auch vorschlagen -, dass wir im Rahmen der
Beratungen die Schulden, die aufgenommen wurden, um
in der Wirtschaftskrise gegenzusteuern, zurückführen.
Auch darauf gibt es von Ihnen keine Antwort.
({17})
Nein, es geht immer nur um höhere Schulden. Es gibt
keine Zukunftsorientierung und keine Rückstellungen
für zusätzliche Risiken, die es wegen des Engagements
in Griechenland und anderen Ländern natürlich gibt.
Carsten Schneider ({18})
({19})
Von daher ist das auf Sand gebaut, meine Damen und
Herren. Der Kitt der Koalition ist das Geld und die hohe
Verschuldung, die gemacht wird, um noch irgendwie zusammenzubleiben.
({20})
Es wäre nicht nur gut für dieses Land, sondern auch
für die dauerhafte Tragfähigkeit unserer öffentlichen Finanzen, dass wir einen leistungsfähigen Staat erhalten
können, von der Neuverschuldung herunterkommen und
dadurch in der Zukunft geringere Zinsausgaben haben.
Das wird nur gelingen, wenn dieses Land wieder handlungsfähig ist. Dazu müssen Sie abtreten.
({21})
Das Wort hat nun Jürgen Koppelin für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach deiner Rede, lieber Carsten Schneider, grüße ich
erst einmal die Bürgerinnen und Bürger in Minden.
Deine Rede war jedenfalls für den Marktplatz von Erfurt
nicht geeignet, um das einmal festzuhalten.
({0})
Wir nehmen mit dem Entwurf des Nachtragshaushaltes notwendige Korrekturen im Bundeshaushalt 2012
vor. Damit können die Bürgerinnen und Bürger erkennen, dass diese Koalition auf Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit Wert legt.
({1})
Staatssekretär Steffen Kampeter hat schon darauf hingewiesen: Dieser Nachtrag zum Bundeshaushalt 2012
wurde notwendig, um unseren Beitrag zur Eindämmung
der Krise in einigen Euro-Staaten zu leisten. Der deutsche Beitrag wird nicht umsonst gewährt; das will ich
hier festhalten. Wir verlangen dafür, dass andere europäische Staaten nach deutschem Vorbild zu einer soliden
Haushalts- und Arbeitsmarktpolitik zurückkehren.
({2})
Die Alternative zu diesem Nachtragshaushalt hat der
Kollege Schneider nicht aufgezeigt. Wenn Sie in der Regierung wären und das umgesetzt hätten, was Sie - nicht
nur Carsten Schneider, sondern auch andere - in den Debatten mehrfach vorgetragen haben, dann müssten Steuererhöhungen beschlossen werden - das müssen die Bürger wissen - und Euro-Bonds eingeführt werden. Das
hieße Vergemeinschaftung von Schulden und Zinsen auf
Staatsanleihen. Das alles hätte eine weit höhere Belastung für unseren Bundeshaushalt zur Folge. Dazu sind
wir nicht bereit.
({3})
Mir fiel schon bei den Reden in der Aktuellen Stunde
auf: Mir fehlt bei allen notwendigen politischen Auseinandersetzungen, dass wir alle gemeinsam erklären,
dass wir stolz auf unser Deutschland sein können. Wir
können stolz auf unser Land sein. Ich jedenfalls bin stolz
auf das, was wir und die Menschen hier in Deutschland
leisten. Die anderen europäischen Länder schauen auf
Deutschland. Ich sage ausdrücklich: Ich bin auch stolz
darauf, in dieser Zeit in Deutschland zu leben.
({4})
Weniger Arbeitslose, kaum Jugendarbeitslosigkeit
und eine nach wie vor gute Konjunktur, das alles zusammen bringt dem Bundeshaushalt Mehreinnahmen. Daran
können wir uns erfreuen. Das haben die Menschen in unserem Land erarbeitet. Das haben sie sich verdient. Den
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sei an dieser
Stelle gedankt für das, was sie geleistet haben, genauso
der deutschen Wirtschaft, den Gewerkschaften und den
vielen mittelständischen Unternehmen. Allerdings war
es diese Koalition, die die entsprechenden Rahmenbedingungen und Voraussetzungen geschaffen hat. In diesem Zusammenhang nenne ich das Wachstumsbeschleunigungsgesetz als Beispiel. Auch dieses Gesetz hat dazu
geführt, dass wir heute da stehen, wo wir sind, und dass
wir stolz sein können. Gestern schrieb selbst die Süddeutsche Zeitung: „Der Aufschwung hält an“. Darauf
können wir stolz sein. Dass die Arbeitslosenzahlen sinken, darauf können wir stolz sein. Die Bundesregierung
stapelt noch tief. Die Prognosen der Experten sind teilweise viel besser. Ich finde es auch in Ordnung, dass wir
etwas tiefer stapeln. Wir sollten uns jedenfalls freuen.
Die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten einen viel
stärkeren Wirtschaftsaufschwung als die Bundesregierung.
Ich sage Ihnen aufgrund der Zurufe sehr deutlich:
Wenn Sie damals unter Rot-Grün eine solche Bilanz hätten vorweisen können, dann hätten Sie dafür gesorgt,
dass in jedem kleinen Kaff, in jedem Dorf und in jeder
Stadt rot-grün angestrichene Denkmäler für Joschka
Fischer und Gerhard Schröder aufgestellt worden wären.
Aber Sie haben eine solche Leistung wie diese Koalition
nicht erbracht. Wir sind stolz auf das, was wir geleistet
haben.
({5})
Den Medien können Sie entnehmen - das ist das Ergebnis unserer Politik -: Deutschland ist die Lokomotive
beim Wachstum in Europa. - Darauf müssen wir doch
gemeinsam stolz sein. Das hat diese Regierung geleistet.
({6})
- Ich habe extra eine kleine Pause gemacht, weil in meinem Manuskript „Zurufe von der Opposition“ steht. Ich
bleibe bei meiner Meinung: Sie sind der Auffassung,
dass wir in Deutschland so toll dastehen, weil Sie eine so
gute Opposition sind. - Bitte bleiben Sie weiterhin in der
Opposition, wenn das Ihr Verdienst ist. Ich möchte nämlich, dass der Aufschwung anhält.
({7})
Noch ein Wort zu Nordrhein-Westfalen. Die dort betriebene Haushaltspolitik sieht wie folgt aus: Hannelore
Kraft setzt in Nordrhein-Westfalen auf vorsorgende Sozialpolitik, die sie mit Schulden finanzieren will. Peer
Steinbrück, auch aus Nordrhein-Westfalen, hat Steuererhöhungen gefordert, um den Haushalt zu sanieren. Ihr
Konzept bedeutet höhere Steuern und höhere Schulden,
nichts anderes. Das wollen wir nicht. Das ist nicht unsere
Politik. Wir möchten, dass Deutschland die Wachstumslokomotive in Europa bleibt. Gestern war in den Zeitungen zu lesen - auch daran sollten Sie sich erfreuen -:
Berlin erfüllt Maastricht-Kriterien - Konsolidierung
schneller als von Brüssel vorgeschrieben. - Dafür sage
ich der Bundesregierung, dem Finanzministerium und
dem Wirtschaftsministerium, aber auch der Bundeskanzlerin Dank, die hart für unser Land verhandelt.
({8})
Das Wort hat nun Dietmar Bartsch für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Jürgen Koppelin, die Rede hat mich doch ein bisschen
an eine Zeit erinnert, in der der Regierung und allen
Menschen gedankt worden ist. Ich glaube, das ist bei
dieser Bilanz hier wahrhaftig nicht angesagt.
({0})
Herr Kampeter, ich will Sie an die Haushaltsberatung
für das Jahr 2012 erinnern; die ist noch nicht sehr lange
her. Einige Redner der Opposition haben darauf aufmerksam gemacht, dass es vielleicht einen Nachtragshaushalt geben könnte. Erinnern Sie sich an Ihre Reaktion? Niemals, hier ist genügend Luft, dass wir das
hinkriegen, haben Sie gesagt. Jetzt ist eine andere Situation. Nun frage ich Sie hier und heute - vielleicht kann
Herr Barthle darauf eingehen -: Wird das denn angesichts der Risiken, die wir haben - Zinsen, europäische
Entwicklung, Konjunktur -, der letzte Nachtragshaushalt
in diesem Jahr sein? Beantworten Sie einfach diese
Frage.
Der Bundestag soll heute - das will ich deutlich
sagen - 8,7 Milliarden Euro weitere Schulden beschließen. Nun klingt das angesichts der Milliardenbeträge,
über die wir hin und wieder reden,
({1})
nicht einmal so sehr viel. Ich will das aber einmal mit
meinem Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern, vergleichen. Der Gesamthaushalt dieses Bundeslands beträgt 7,1 Milliarden Euro. Sie schlagen heute weitere
8,7 Milliarden Euro vor. Zur Wahrheit: 34,8 Milliarden
Euro neue Schulden will die Bundesregierung in diesem
Jahr machen.
({2})
Die Schulden der Regierung in dieser Legislaturperiode nach dem bisherigen Verlauf und nach dem, was
Sie planen, belaufen sich auf 142 Milliarden Euro. Es
hat noch keine Legislaturperiode gegeben, in der so viele
Schulden aufgenommen worden sind. In diesem Jahr,
2012, sind es 34,8 Milliarden Euro. Das gab es nur zweimal, 1996 und im Jahr 2010, als Herr Schäuble auch
schon Verantwortung getragen hat. Jeweils waren der
Kanzler und der Finanzminister von der Union. Das ist
Ihre Bilanz. Sie reden von Konsolidierung, aber das Gegenteil ist richtig.
({3})
Sie verschulden das Land. Das ist das, was Sie vorzuweisen haben.
Herr Schäuble will sich offenbar das Abonnement auf
den Titel „Schuldenminister“ reservieren. Das ist die reale Bilanz. Sie verspielen die Zukunft in diesem Land.
Deutschland hat vor allen Dingen kein Recht, sich mit
dieser Schuldenpolitik als Vorbild in Europa darzustellen. Ich sage es klar und deutlich: Niemand in der Linken findet die Verschuldung der öffentlichen Haushalte
in Deutschland in irgendeiner Weise unproblematisch
oder gar gut. Aber es kommt natürlich darauf an, wofür
man neue Schulden macht.
({4})
Wir haben seinerzeit Konjunkturprogrammen sehr wohlwollend gegenübergestanden und es für richtig gehalten,
zum Beispiel den Kommunen zu helfen. Sie aber wollen
mit den Schulden die Märkte beruhigen, das Vertrauen
der Märkte zurückgewinnen und andere psychotherapeutische Maßnahmen finanzieren. Nicht wenn die Märkte
nervös reagieren, sondern wenn Arbeitsplätze verloren
gehen, wenn Kinder in Armut sind, dann sollte Politik
reagieren, aber nicht bei nervösen Märkten.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Ich gestatte eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke.
Herr Kollege Bartsch, man kann politisch unterschiedlicher Ansicht sein, und die Frage, was richtig
oder falsch ist, werden spätere Generationen beantworten. Aber wenn es um Zahlen geht, sollten wir Haushälter immer genau sein. Habe ich Sie richtig verstanden,
dass Sie gesagt haben, dass die Koalition in dieser Legislaturperiode, also in den Jahren 2010, 2011, 2012 und
2013, neue Schulden in Höhe von 142 Milliarden Euro
machen wollte? Könnten Sie mir sagen, wie Sie zu dieser Summe kommen? Vielleicht habe ich irgendetwas
nicht mitbekommen und Sie können mich schlaumachen. Mir ist nicht ganz klar, wie die Summe von
142 Milliarden Euro in den Jahren 2010 bis 2013 zustande kommt.
Das sind vier Jahre, und zu der Zahl komme ich, Kollege Fricke, durch Addition der vier Jahre.
({0})
Ihre Partei schlägt in dieser Situation sogar Steuersenkungen vor.
({1})
- Nein, wenn man die Jahreszahlen addiert, kommt die
Summe nicht heraus. Die Frage habe ich eben beantwortet. - Sie schlagen weitere Steuersenkungen vor, womit
Sie das Haushaltsdefizit offensichtlich noch vergrößern.
Sie haben nie Geld, wenn es um sozial Benachteiligte
geht, wenn es um gute Arbeit geht, von der man leben
kann, wenn es um die finanziell ausgebluteten Kommunen geht. Dafür haben Sie nie Geld. Sie setzen seit Jahren die Interessen des Geldkapitals durch und nicht die
Interessen der Menschen. Letztere stehen nicht ganz
oben auf Ihrer politischen Agenda. Ihre Versuche zur
Therapie der Finanzmärkte sind der falsche Weg. Es ist
eben nicht so, dass das Stabilität in Europa gebracht hat.
Wir haben in Deutschland ein Einnahmeproblem. Warum denken Sie in dieser Situation nicht einmal darüber
nach, die Einnahmen in diesem Land zu erhöhen?
({2})
Warum ist es absurd, über eine Millionärsteuer nachzudenken? Warum kann man in dieser Situation nicht mal
den Spitzensteuersatz erhöhen? Der war zu Ihrer Zeit bei
53 Prozent, und Helmut Kohl war doch kein Linksradikaler. Warum denken Sie darüber nicht nach? Warum ist
eine Anhebung der Erbschaftsteuereinnahmen nicht
möglich? Bis 2020 werden in Deutschland 2,6 Billionen
Euro vererbt. Davon sind über 43 Prozent Geldvermögen. Warum ist das nicht möglich? Warum können wir
nicht den Steuervollzug verbessern und so zu höheren
Steuereinnahmen kommen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Barthle?
Ich gestatte auch eine Zwischenfrage des Kollegen
Barthle.
({0})
- Nein. Gern!
Herr Kollege Bartsch, ich wollte einfach noch einmal
nachfragen, ob die Additionen nach den Grundregeln
von Adam Riese stattfinden. Ich führe mir einmal die
Zahlen vor Augen: Wir haben im Jahr 2010 44 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. Wir haben im Jahr
2011 17 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. Das
macht nach meiner Rechnung zusammen 61 Milliarden
Euro. Wenn ich dann noch dazurechne, was wir vielleicht - vielleicht! - im Jahr 2012 laut Finanzplan an
neuen Schulden machen könnten - maximal sind das
34,8 Milliarden Euro inklusive Nachtragshaushalt -,
dann komme ich immer noch auf eine Zahl von unter
100 Milliarden Euro. Allerdings muss man hinzufügen,
dass das Jahr 2012 noch nicht zu Ende ist.
({0})
Das ist die maximal mögliche Nettokreditaufnahme. Die
Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass wir jedes
Jahr weniger Schulden gemacht haben, als wir hätten
machen können.
Also: Nach welchem Rechenmodus haben Sie gerechnet? Das würde mich interessieren.
({1})
Wie Ihrem Kollegen Fricke antworte ich auch Ihnen:
durch Addition.
({0})
Sie waren für drei Jahre bei knapp 100 Milliarden Euro.
Es gibt aber noch ein Jahr davor, für das Sie auch schon
die Bilanz vorgelegt haben. Wenn Sie das addieren,
kommen Sie auf die von mir genannte Zahl.
({1})
Ich fordere Sie auf, die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin, vor allen Dingen die von Ihnen gemachten
Versprechen einzulösen, nämlich die Finanzmärkte endlich spürbar zu kontrollieren und zu regeln. Das wäre die
richtige Maßnahme. Ich will Ihnen eine Zahl sagen: AlDr. Dietmar Bartsch
lein der Handel mit unregulierten Finanzprodukten betrug im ersten Halbjahr 2011 708 Billionen Dollar. Das
ist fast das Zehnfache der gesamten Weltwirtschaftsleistung. Das steigt weiter an. Da müssen Sie etwas tun. Es
ist doch einfach irre, was da passiert. Das Kasino muss
geschlossen werden. Frau Merkel hat im Deutschen
Bundestag gesagt, dass sie sich dafür einsetzt, aber faktisch ist nichts passiert.
Die Linke hat den ESM abgelehnt und lehnt logischerweise auch den Nachtragshaushalt ab.
({2})
- Sie wird ihn ablehnen, Kollege Fricke.
({3})
Die Rettungsschirme dienen fast ausschließlich den Banken. Es ist nicht so, Herr Kampeter, dass mehr Stabilität
in Europa eingetreten ist. Gucken Sie sich doch einmal
die Entwicklung in Griechenland an: das fünfte Jahr Rezession, Wirtschaftswachstum: minus 7 Prozent, Arbeitslosigkeit bei fast 20 Prozent, Unruhen.
({4})
Da sprechen Sie von Stabilität in Europa? In Griechenland ist die siebte Regierung in eine Krise gekommen und das dank der Politik von Sarkozy und Merkel. Und
da sprechen Sie von Stabilität in Europa? Wir gefährden
mit dieser Politik die Demokratie.
({5})
Herr Monti und Herr Papademos haben sich niemals
einer Wahl gestellt. Sie sind faktisch in Brüssel ernannt
worden. Was ist denn das für eine Entwicklung? Und da
sprechen Sie von Stabilität in Europa? Dieser Kurs hat
Instabilität in Europa gebracht. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik!
({6})
Nicht nur dieser Nachtragshaushalt ist falsch, sondern
Ihr gesamter europapolitischer Kurs ist falsch. Wenn Sie
nicht endlich die Finanzmärkte regulieren, wenn Sie
nicht endlich die Banken an die Kandare nehmen, wenn
Sie nicht dafür sorgen, dass endlich für die Schwächeren
in Europa etwas getan wird, dann wird dieser Kurs
scheitern, und wir werden noch viel größere Probleme
bekommen als bisher.
Ich bedanke mich.
({7})
Priska Hinz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Was von den vielen Sachen?
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Nachtragshaushalt ist vor allen Dingen notwendig, weil
die Einzahlungen in den europäischen Rettungsfonds getätigt werden müssen. So weit, so gut. Für diesen ständigen Rettungsschirm sind wir auch, und wir sind auch dafür, dass Einzahlungen geleistet werden. Nur muss man
ganz deutlich sagen, dass vonseiten der Regierung und
der Koalition in den letzten Jahren keine Vorsorge dafür
getroffen wurde, dass man auch in Deutschland für die
Euro-Rettung aufkommen muss, und das schlägt sich in
diesem Zahlenwerk nieder.
({1})
Sie haben sich doch die ganze Zeit - und machen es
weiterhin - auf der guten Konjunktur ausgeruht und haben keine Vorsorge dafür getroffen, dass die Nettokreditaufnahme gesenkt werden muss und jetzt, mit der Zahlung der Tranche, nicht steigen darf.
Wenn ich erinnern darf: Im Haushalt 2012 hat die Koalition noch einmal 1 Milliarde Euro gegenüber dem
Entwurf des Finanzministers draufgelegt und die Nettokreditaufnahme erhöht. Dann hat Kollege Barthle Anfang des Jahres noch groß gesagt: Wenn wir die Tranchen für den ESM einzahlen, dann muss das im Rahmen
dieser Nettokreditaufnahme stattfinden.
({2})
- Ja, aber selbst wenn Sie damals von einer ausgegangen
sind, so hätten Sie jetzt nicht einmal die eine aus der vorhandenen Nettokreditaufnahme finanzieren können.
Nein, Sie legen 8,7 Milliarden Euro obendrauf. Das sind
genau die zwei Tranchen. So ist das mit den Ankündigungen der Koalition.
({3})
Wenn man zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme und
Korrektur dieses Haushalts für 2012 kommen will, dann
muss man auch eine ehrliche Bilanz der Risiken ziehen,
die auf uns zugekommen sind und noch auf uns zukommen werden. Auch das versäumen Sie mit dem Nachtragshaushalt.
Es gibt mit der Umschuldung Griechenlands jetzt die
Notwendigkeit, dass man 9 Milliarden Euro im SoFFin
abschreibt. Dafür ist er aber ursprünglich überhaupt
nicht vorgesehen gewesen.
({4})
Priska Hinz ({5})
- Nein, diese Abschreibung erfolgt wegen der Umschuldung Griechenlands und ist eine Folge der Staatsschuldenkrise.
Deswegen sind wir der Meinung: Dies muss sich auch
im Nachtragshaushalt abbilden; denn es gehört Ehrlichkeit in die Debatte. Die Euro-Rettung kostet uns etwas,
und es macht keinen Sinn, das in Schattenhaushalte zu
stecken. Das hätten Sie nämlich gerne, dass über Schattenhaushalte hier nicht diskutiert wird. Wir sind der Meinung: Das muss hier ehrlich auf den Tisch.
({6})
Zur ehrlichen Bilanz gehört auch, dass die Privatisierungserlöse von 5 Milliarden Euro, die Sie etatisiert haben, wahrscheinlich überhaupt nicht kommen werden.
Was ist denn mit dem Verkauf des Duisburger Hafens?
Dort passiert doch gar nichts.
({7})
5 Milliarden Euro stehen als Privatisierungserlöse als
Einnahmen im Haushalt, und interessanterweise hat der
Ankündigungsmeister, der Bundesvorsitzende der FDP,
gesagt, Sie wollen die Nettokreditaufnahme null in 2014
schaffen, vor allem auch mit weiteren Privatisierungserlösen.
So, dann gucken wir uns doch den Nachtragshaushalt
einmal an! Was steht drin? Eine höhere Verpflichtungsermächtigung von 600 Millionen Euro für den Ankauf
von EADS-Anteilen für das Wirtschaftsministerium.
Wirtschaftsminister ist Herr Rösler. So weit ist es dann
mit den Privatisierungslösen. Das ist weder marktwirtschaftlich sinnvoll, noch dient es dazu, die Nettokreditaufnahme null hinzukriegen. Nein, das sind Mehrausgaben für weitere Ankäufe von bisher privatisierten
Anteilen.
Zu einer ehrlichen Bilanz gehört auch, festzustellen,
dass die Energiewende nicht finanziert ist.
({8})
Über den EKF sind Sie vorhin so nonchalant hinweggegangen, Herr Kampeter. Sie sagten: In Energie wird investiert. - Ja, aber in Energie wird lange nicht das investiert, was notwendig wäre, um diese Herkulesaufgabe zu
schaffen. Es fehlen nämlich fast 330 Millionen Euro im
Energie- und Klimafonds.
({9})
- Wenn man noch mehr in die Energiewende investieren
will, wie es die Grünen zum Beispiel fordern, dann fehlt
noch mehr Geld. Aber gemessen an der Rechnung der
Bundesregierung fehlt fast das Vierfache dessen, was Sie
als Liquiditätsdarlehen in den Nachtragshaushalt einstellen. Davon kann man eine Energiewende nicht finanzieren.
({10})
Es ist auch ein Problem, dass wir es so versäumen,
nachhaltiges Wachstum zu generieren und damit mehr
Steuereinnahmen zu erhalten, Fachkräfte im Land zu
halten und somit eine strukturelle Verbesserung des
Haushalts zu schaffen. Sie ruhen sich auf der derzeitigen
konjunkturellen Lage aus und sind nicht bereit, strukturelle Reformen zu machen, weder im Haushalt 2012
noch mit diesem Nachtragshaushalt.
({11})
Darüber hinaus sind Sie vollends in den Wahlkampfmodus gefallen und sind uns nicht gefolgt. Mit unseren
Vorschlägen für den Bundeshaushalt 2012 wäre die Nettokreditaufnahme um 5 Milliarden Euro gesunken. Sie
machen jetzt, wie gesagt, keine strukturellen Reformen.
Und: Es fallen gerade alle Hemmungen, was weitere
Versprechen angeht. Das Betreuungsgeld wurde schon
angesprochen: Im nächsten Jahr sind es 400 Millionen
Euro, im Jahr 2014 sind es 1,2 Milliarden Euro. Deckung? Keine vorhanden. Ich möchte wissen, woher das
Geld bei all den Risiken, die wir noch vor uns haben,
kommen soll. Das Betreuungsgeld soll mit einer Verbesserung bei den Rentenanwartschaften für die Kindererziehungszeiten erkauft werden. Das kostet zwischen
8 Milliarden Euro und - nach den neuesten Berechnungen des Finanzministeriums - 13 Milliarden Euro. Aber
wir haben weder die 8 Milliarden noch die 13 Milliarden
Euro, um sie für ein Betreuungsgeld auszugeben, das die
Eltern zu Hause lässt, anstatt ihnen die Möglichkeit zu
geben, dass sie als Fachkräfte hier in Deutschland arbeiten. Wir brauchen sie - angesichts der demografischen
Entwicklung und auch angesichts der Tatsache, dass wir
die Bildungsbenachteiligung und auch die soziale Ausgrenzung von Kindern in diesem Land zurückdrängen
müssen. Es ist das Gegenteil von dem, was wir brauchen, was im Zahlenwerk des Nachtragshaushalts zu finden ist.
({12})
Frau Kollegin, Sie kommen zum Ende, bitte.
Ich komme zum Schluss. - Sie haben im Wahlkampfmodus in Nordrhein-Westfalen mit dem Spitzenkandidaten Röttgen Versprechungen zur Pendlerpauschale gemacht.
Frau Kollegin.
Hier wünsche ich Ihnen eine gute Verrichtung, was
ich nicht hoffen möchte, Herr Kollege Kampeter; denn
das müssten die Länder und Kommunen tragen. Deswegen kann ich nur sagen: Auch das werden wir nicht mitmachen, genauso wie die Beschlussfassung des Zahlenwerks, das Sie uns vorgelegt haben.
Priska Hinz ({0})
({1})
Der Kollege Bartholomäus Kalb hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich will auf das, was der Kollege Bartsch
und auch die Kollegin Hinz gesagt haben, eingehen. Sie
sagten, wir hätten erklärt, es gebe keinen Nachtragshaushalt. Im Laufe der Beratungen konnten wir uns durchaus
vorstellen, dass wir, wenn - wie ursprünglich vorgesehen - eine Rate in den europäischen Stabilitätsmechanismus eingezahlt werden sollte, dies im Haushaltsvollzug
hätten darstellen können. Die Verhandlungen waren seinerzeit noch nicht abgeschlossen. Dann hat man sich
- wie ich meine, begrüßenswerterweise - dazu durchringen können, dass man schon in diesem Jahr zwei Raten,
also einen Betrag von 8,7 Milliarden Euro, einzahlt, um
den ESM, den Europäischen Stabilitätsmechanismus,
schneller funktionsfähig zu machen. Da war von vornherein klar - das ist von uns und der Bundesregierung immer wieder gesagt worden -, dass das nur im Rahmen eines Nachtragshaushalts darzustellen sei.
Ich will den Linken nicht zu viel Ehre antun, Herr
Kollege Bartsch: Es ist schon auffallend, wenn bis zum
26. April um 14.50 Uhr nur Forderungen nach Mehrausgaben, neuen Schulden und weniger Sparmaßnahmen
kommen und wenn Sie dann um 14.57 Uhr Vorwürfe erheben, wir würden zu viele Schulden machen. Irgendwo
passt das alles nicht zusammen.
({0})
Ich habe schon darauf hingewiesen: Wir begrüßen es,
dass der ESM - der Europäische Stabilitätsmechanismus - schneller seine Funktionsfähigkeit erlangen soll.
Deswegen machen wir diesen Nachtragshaushalt. Auch
wenn wir in diesen Tagen unzählige Mails erhalten, die
uns auffordern, dem nicht zuzustimmen, kann ich nur sagen: Niemand kann uns die Verantwortung abnehmen.
Wir aber tragen die Verantwortung für die Stabilität unserer Währung und damit auch für den Wohlstand der
Menschen in der Euro-Zone sowie für die wirtschaftliche Entwicklung in Europa und darüber hinaus.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Nachtragshaushalt werden richtigerweise auch alle notwendigen zwischenzeitlich eingetretenen oder zu erwartenden
Veränderungen dargestellt. Kollege Barthle hat schon in
einem Zwischenruf darauf hingewiesen, dass wir von einer Vertrauensdividende profitieren, weil unsere Zinsausgaben deutlich niedriger kalkuliert werden können
und die Finanzmärkte, die Anleger und alle Partner großes Vertrauen in Deutschland und seine Regierung haben. Wir stellen immer wieder fest, dass die Bundesregierung mit Angela Merkel an der Spitze und mit
Bundesfinanzminister Schäuble mittlerweile einen unglaublich guten Ruf genießt, in Europa, aber auch weit
darüber hinaus. Ich war letzte Woche in den USA. Dort
ist bestätigt worden, dass man gerade auf diese Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel setzt.
({1})
Kollege Schneider hat darauf hingewiesen, dass die
Überweisung des Bundesbankgewinns geringer ausfällt.
Die Bundesbank lässt das Vorsorgeprinzip walten,
({2})
und sie handelt in absoluter Unabhängigkeit, was wir
gestern im Haushaltsausschuss, lieber Kollege Fricke,
noch einmal deutlich zum Ausdruck gebracht haben.
Ich will darauf hinweisen, dass die Erhöhung der Nettokreditaufnahme ausschließlich dadurch begründet ist,
dass wir die erwähnte höhere Einzahlung vornehmen.
Das hat aber keine Auswirkungen auf die Entwicklung
des strukturellen Defizits oder auf die Einhaltung der
Maastricht-Kriterien, ganz im Gegenteil: Wir werden
alle Anforderungen der Schuldenbremse, wie sie im
Grundgesetz verankert sind, schneller und konsequenter
erfüllen, als das vorauszusehen war. Wir haben den Ehrgeiz, bis 2016 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt
vorlegen zu können. Jedenfalls werden wir alle verfassungsmäßigen Vorgaben der Schuldenbremse exakt erfüllen. Unser Ziel ist es jedoch, bis 2016 keine neuen
Schulden mehr für den Bundeshaushalt aufzunehmen.
({3})
Damit werden wir in der Lage sein, den Bundeshaushalt nachhaltig und dauerhaft zu konsolidieren. Das ist
wichtig für Deutschland, aber auch für Europa und darüber hinaus. Wir alle wissen - Staatssekretär Steffen
Kampeter hat es sehr eindrucksvoll dargestellt -, dass
die Ursache für die Krise die übermäßigen Defizite und
die übermäßigen Anstiege der Staatsverschuldung waren. Das kann niemand mehr bezweifeln.
({4})
Wir müssen zurück zu einer Stabilitätskultur in Europa. Das haben wir mit dem Fiskalpakt eingeleitet.
Auch aus diesem Grunde werben wir für Ihre Zustimmung. Sie sollten hier mitmachen und nicht das gleiche
Spiel betreiben, das Sie in Ihrer Regierungsverantwortung betrieben haben, nämlich die Stabilitätskultur zu
unterminieren und die Stabilitätskriterien aufzuweichen.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brauchen darüber hinaus in Europa Wachstumsimpulse. Hier
ist auch die europäische Politik gefordert, neben der
Konsolidierung die richtigen Anreize zu setzen. Das
sollte nicht zu sehr im konsumtiven Bereich geschehen,
sondern eher im strukturellen und im investiven. Hier
kann man mit Multiplikatoreffekten mittel- und langfristig die Leistungsfähigkeit der europäischen Volkswirt20686
schaften dauerhaft stärken. Wir haben in Deutschland
diese strukturellen Reformen durchgeführt, auch im vergangenen Jahrzehnt - das will ich überhaupt nicht bestreiten -, und werden sie notwendigerweise weiter
durchführen. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht: Heute haben wir eine Arbeitslosigkeit, die so
niedrig ist, wie wir es uns gar nicht vorstellen konnten.
Herr Kollege.
Die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ist so
hoch, wie wir gar nicht erwarten konnten. Auch die öffentlichen Einnahmen sind besser, als zu erwarten war.
Das hat auch etwas damit zu tun, dass die Hausaufgaben
von uns erfolgreich gemeistert wurden.
Herzlichen Dank.
({0})
Der Kollege Johannes Kahrs hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Kollege Kalb hat eben seine Rede dankenswerterweise mit den Worten beendet, dass die Hausaufgaben gemacht worden sind, dass deswegen die Einnahmen steigen, dass deswegen die Lage in Deutschland
stabil ist, dass wir der Stabilitätsanker in Europa sind.
({0})
Diesen Dank an Rot-Grün, an Gerhard Schröder und
Joschka Fischer nehmen wir dankend an. Das Problem
ist: Ihre Politik hat leider nichts dazu beigetragen.
({1})
Ihre Politik, über die wir heute hier reden, hat zu diesem
Ergebnis, das Sie hier gelobt haben, nichts beigetragen.
Der Staatssekretär Kampeter ist der, der das heute am
deutlichsten gesagt hat. Er hat sich bei zehn Minuten Redezeit anderthalb Minuten beim Nachtragshaushalt aufgehalten, bevor er dann in den Landtagswahlkampf in
Nordrhein-Westfalen eingestiegen ist. Wenn man sich
anguckt, was der Kollege Kampeter zum Besten gegeben hat, wird man feststellen können, dass er auch als Finanzminister von Nordrhein-Westfalen nichts taugt,
nicht als Staatssekretär, aber schon gar nicht als Finanzminister.
({2})
Das Land hat Probleme genug. Wenn man sich überlegt,
wie die Verschuldung unter einer CDU-FDP-Regierung
in Nordrhein-Westfalen ausgesehen hätte, dann weiß
man, was für ein Segen Rot-Grün für Nordrhein-Westfalen ist.
({3})
Dann weiß man aber auch, warum dieser Staatssekretär
nicht über den Nachtragshaushalt geredet hat.
Ganz besonders dankbar bin ich dem Kollegen
Bartsch, der in Teilen eine sehr sozialdemokratische
Rede gehalten hat. In Teilen! Also nicht übermütig werden.
({4})
Er hat einmal aufgelistet, wie die Verschuldung dieser
Bundesregierung aussieht. Wir gehen von den Dingen
aus, die Sie hier aufgezählt haben: 44 Milliarden Euro
Neuverschuldung in 2010, 17 Milliarden in 2011; in diesem Jahr landen wir bei 34 Milliarden.
({5})
- Sie haben gleich vier Minuten Redezeit; das sind drei
Minuten zu viel.
({6})
Aber in vier Minuten Redezeit können Sie alles sagen,
was Sie sagen wollen, Herr Kollege.
Im Ergebnis muss man einfach feststellen, dass Sie
ohne Ende Schulden machen, sich dann hinstellen und
ständig von „Stabilität“ reden und erklären, wie toll Sie
sind und was Sie alles getan haben; aber selbst Ihre eigenen Redner sagen, dass Sie damit nichts zu tun haben,
weil die Grundlage dafür zu rot-grünen Zeiten gelegt
wurde. Da wäre es schön - das muss man einfach einmal
sagen -, wenn Sie Danke sagen, ein bisschen Abbitte
leisten und sich eine Runde schämen würden.
({7})
Es wird dann immer gesagt - das ist der Lieblingssatz
des Kollegen Kampeter -: Die Sozis wollen nur neue
Schulden machen. - Man kann ja einmal die Schulden
addieren und sich angucken, was hier alles versprochen
wird, zum Beispiel bei der Pendlerpauschale. Das ist
auch so ein lustiger Wahlkampfgag. Wir haben das ebenfalls bei der FDP in Schleswig-Holstein erlebt, die neuerdings auch für Steuererhöhungen ist.
Wir haben uns einmal angeschaut, was wir zum
Thema Betreuungsgeld zu hören bekamen. Das kann
man in der Zeitung lesen. Ich lese relativ selten die
Frankfurter Rundschau, aber manchmal lese ich sie
gern. Da steht ein wunderbarer Satz.
({8})
- Ja, ganz ruhig bleiben. Trotzdem ist es wahr. - Wenn
man sich anguckt, was die Zeitung geschrieben hat, dann
versteht man, wie es zu dem Betreuungsgeld gekommen
ist: Auf der einen Seite musste die CSU entschädigt werden. Jetzt kommt man hier mit höheren Ausgaben bei
der Rente, die man auch wieder nicht gegenfinanziert.
Das heißt, man hat auf der einen Seite ein nicht finanziertes Versprechen, das Teile der Koalition ablehnen.
Dann kommt ein anderes nicht finanziertes Versprechen,
mit dem man die Finanzierung des anderen ermöglichen
will. Wir reden aber immer noch von Geld, das gar nicht
da ist.
({9})
Natürlich fallen uns allen viele Dinge ein, die schön
wären; bei der Pendlerpauschale ist Ihnen ja auch noch
etwas eingefallen. Aber im Ergebnis wissen wir doch,
dass wir nicht nur bei einem Nachtragshaushalt landen,
sondern bei mehreren und dass die Zahl, die der Kollege
Bartsch genannt hat, am Ende vielleicht sogar richtig
werden kann, wenn das, was Sie wollen, Realität wird.
({10})
Wir wissen, dass die Zahl so nicht gestimmt hat; das haben wir inzwischen alle festgestellt, bis auf die Linken.
Im Ergebnis muss man zur Kenntnis nehmen, dass die
Politik, die Sie hier machen, erstens dazu führt, dass Sie
langfristig die Grundlage für neue Schulden legen.
Zweitens. Mit der soliden Grundlage, die Rot-Grün gelegt hat
({11})
- weswegen dieses Land mit seinen fleißigen Bürgern
und den Unternehmen funktioniert, die Ihnen Jahr für
Jahr Steuermehreinnahmen ins Konto spülen -, wollen
Sie fahrlässig umgehen und im Nachtragshaushalt überhaupt keine Vorsorge treffen. Das ist doch alles absurd.
Sie stellen sich hier dar als Hort der Stabilität. Ich meine:
Der Kollege Kampeter ist wirklich humorvoll; ich mag
ihn. Er ist ein feiner Kerl, aber auf der Sachebene ist er
manchmal ein bisschen schwach.
({12})
Das haben wir heute gesehen. In der Sache muss ich leider sagen: Setzen, sechs! - Er sitzt ja auch.
({13})
Wenn wir die Situation noch einmal genau betrachten,
stellen wir fest: Im Vergleich zu 2011 haben sich die
Schulden verdoppelt. Nun wird das hier nicht erklärt,
sondern man geht nach einer lapidaren Bemerkung ganz
schnell zu den Landtagswahlkämpfen über, die Sie verlieren werden. Das ist doch peinlich! Ich weiß gar nicht,
warum wir hier eigentlich sitzen und solchen Reden zuhören.
({14})
Das kann man vielleicht in Minden oder anderswo tun
- nebenbei bemerkt: auch dort würde ich es den Bürgern
nicht zumuten wollen -, aber klar ist: Im Ergebnis muss
man zumindest auf der Sachebene stark sein. Das ist hier
nicht der Fall, das ist nicht gegeben.
Wenn man das alles durchdekliniert, stellt man fest,
dass selbst diejenigen, von denen Sie normalerweise
glauben, dass sie auf Ihrer Seite sind - lesen Sie sich die
Presseerklärung der Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände oder des BDI durch -, Ihnen sagen:
({15})
So, wie Sie das machen, ist es nicht richtig, nicht solide.
Dazu kommt noch die erhöhte Neuverschuldung. Ganz
ehrlich: Ich glaube, dass diese Debatte, wie wir sie hier
führen, nicht zu mehr Vertrauen der Wähler in uns oder
in die Politik insgesamt beiträgt. Der Einzige, der das erwähnt hat, war der Kollege Kalb, ein braver Parteisoldat
von Angela Merkel.
({16})
Am Ende muss man leider feststellen: Es ist schwer
zu verantworten, was Sie hier tun. In Zeiten, in denen
Sie Steuereinnahmen haben wie noch nie, leisten Sie weder Vorsorge, noch legen Sie etwas zurück. Sie tun
nichts dafür, um die wirtschaftliche Grundlage in diesem
Land zu stärken. Sie geben Geld aus und behaupten dann
dröhnend das Gegenteil. Das ist unsolide, das ist unzuverlässig. Abtreten, sechs!
({17})
Otto Fricke hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Abtreten, sechs“, sagte der Kollege Kahrs und trat ab. So
sollte und muss es sein.
({0})
Zu Beginn möchte ich auf etwas eingehen, Herr Kollege Kahrs, bei dem Sie ausdrücklich recht haben: Was
Rot und Grün in der Agenda 2010 machen mussten,
nachdem man einsah, dass es so mit dem Haushalt nicht
weitergehen konnte, war richtig.
({1})
Der Unterschied ist nur, dass all das Gute, das gemacht
worden ist, in keiner Debatte - außerhalb von Haushaltsdebatten - von irgendeinem Sozialdemokraten noch gutgeheißen wird. Das ist doch mit einer der Gründe, warum die Linken existieren.
({2})
Sie laufen den Linken jetzt wieder hinterher und stehen
nicht mehr zu dem Guten, das gemacht worden ist. Ich
habe überhaupt kein Problem damit. Ich glaube doch
nicht, dass nur wir gute Sachen machen - ihr seid doch
auch nicht blöd, das ist doch klar -, aber was ihr jetzt
macht, das ist schon bemerkenswert.
Der Haushalt - das sage ich denjenigen, die jetzt der
Debatte zuhören -, das ist das Thema mit den Zahlen,
das heißt, am Ende sind die Zahlen das Maßgebliche.
Der Kollege Bartsch hat Zahlen genannt. Wenn man ihn
fragt, ob die denn stimmen, dann versucht er auszuweichen und muss erkennen, dass sie nicht stimmen. Dann
nennt der Kollege Kahrs eine Zahl zur Neuverschuldung
2010, die er eigentlich auswendig können müsste, und
verrechnet sich mal eben um ein paar Milliarden. Das ist
dann eben so.
({3})
Herr Kollege Kahrs, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, man sollte den Bürgerinnen und Bürgern draußen schon sagen: Haushalt und
Verschuldung kann man an zwei Dingen messen, nämlich erstens daran, wie viel ich ausgebe, und zweitens an
der Frage: Wie sieht eigentlich die Neuverschuldung
durch so eine Koalition in vier Jahren aus? Es ist schon
bemerkenswert, wie Sie hier agieren.
Wir könnten einfach Folgendes machen: Wir nehmen
vier Jahre Rot-Grün, dann nehmen wir vier Jahre Große
Koalition, und schließlich nehmen wir vier Jahre dieser
Koalition.
({4})
- Jetzt kommt das Schöne. Es wird sofort gesagt: Milchmädchenrechnung. Das ist genau das, was die Opposition nicht hören will, nämlich dass die Koalition einen
guten Haushalt vorlegt. Ihnen ist es zu Zeiten der rotgrünen Koalition in keiner der Legislaturperioden gelungen, unter den von uns maximal angesetzten 34,8 Milliarden Euro zu bleiben. Sie haben das kein einziges Mal
in Ihrer rot-grünen Zeit geschafft.
({5})
Sie lagen mit der Neuverschuldung immer darüber.
Schauen Sie sich die Zahlen an.
({6})
- Welche Zahlen? Herr Kollege, ich kann das gerne machen. Nehmen wir doch die Haushaltskennzahlen. Wollen wir das jetzt wirklich alles an dieser Stelle Stück für
Stück machen?
({7})
- Das hättet ihr gerne. Schaut euch die Zahlen an der
Stelle genau an.
({8})
- Stellt eine Zwischenfrage,
({9})
ich habe damit gar kein Problem.
({10})
Auch das muss man den Bürgern draußen sagen. Dann
kann sich der Bürger die Haushaltskennzahlen in Ruhe
im Internet und an anderer Stelle angucken.
({11})
Ich komme zum nächsten Punkt. Die Opposition kritisiert - so wie es jede Opposition tut - immer, dass die
Regierung zu viel ausgibt. Es ist ihr Recht, das zu tun.
({12})
Ich bitte jeden Bürger, der diese Rede hört, die Frage zu
stellen: Wie wollt ihr es denn konkret selber machen?
Wenn ein Politiker ihm sagt, dass er mehr sparen will,
hat er zwei Möglichkeiten.
({13})
Entweder gibt er weniger aus. Dann muss er sagen, wo
er weniger ausgibt. Das heißt, er muss dem Bürger ehrlich sagen: Ich tue dir da oder dort weh, ich gehe an
diese oder jene Förderung heran.
({14})
Die zweite Möglichkeit für den Politiker ist, zu sagen:
Ich nehme dir mehr Geld weg, und zwar über diese
Steuer oder jene Abgabe. Das sind die zwei Wege, die
Politik hat.
({15})
Wenn die Opposition den Bürgern sagt, dass man sparen will,
({16})
dann müssen die Bürger fragen: „Wo wollt ihr die Steuern erhöhen?“, oder: „Wo wollt ihr etwas wegnehmen?“
({17})
Eine Opposition - das gilt für jede Opposition, egal welche Partei sie bildet -, die sparen will, aber nicht sagt,
wo, will in Wirklichkeit nicht sparen, sondern nur kritisieren.
({18})
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Wir haben für
Europa Vorsorge zu treffen; denn - das ist das Wichtige,
was vergessen wird - wenn Europa nicht funktionieren
sollte, wird es für uns alle viel schwieriger.
({19})
Ich sage das noch einmal, weil das Thema Europa im
Augenblick für einen Politiker das schwierigste Thema
ist.
({20})
Derjenige Bürger, der zu einem kommt und sagt, dass
man Europa kein Geld mehr geben soll, ist gleichzeitig
derjenige, dem man erklären muss: Wenn wir Europa so
nicht mehr haben, ist dein Arbeitsplatz gefährdet, ist die
Ausbildung gefährdet, ist die Stabilität unseres Landes
gefährdet.
({21})
Wenn Sie all dies einer gut funktionierenden Koalition
nicht glauben wollen
({22})
und sagen: „Das stimmt nicht, und das, was in Deutschland läuft, ist schlecht“, dann frage ich: Ist dies nicht typisch deutsche Mentalität?
({23})
Ich empfehle Ihnen: Hören Sie sich einmal an, was
unsere Nachbarn sagen. Ich kenne keinen Nachbarn, der
nicht sagt: Ich hätte so gerne die deutschen Arbeitslosenzahlen.
({24})
Ich kenne niemanden in der Welt, der nicht sagt: Ich
hätte gerne das deutsche Wirtschaftswachstum, ich hätte
gerne die deutschen Arbeitsplätze.
({25})
Das alles basiert auf vernünftiger, vorausschauender und
ehrlicher Politik sowie auf haushalterischer Stabilität, zu
der auch gehört, rechtzeitig Nachtragshaushalte zu liefern.
({26})
Wenn ich die Zwischenrufe höre, merke ich: Man hat
sich geärgert, dass das so ist.
({27})
Sie werden aber die gute Politik nicht ändern. Es wird
mit diesem Land - auch dank einer guten Koalition und
einer schlechten Opposition - weiter aufwärts gehen.
Herzlichen Dank.
({28})
Der Kollege Norbert Barthle hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Eines fällt mir schon auf: Ich würde
mir wünschen, dass die Opposition einmal die Größe
hätte, die erfolgreiche Konsolidierungspolitik der Bundesregierung und dieser Regierungskoalition zu würdigen und zu loben. Das würde ihre Argumente wesentlich
glaubwürdiger und schlagkräftiger machen.
({0})
Leider haben Sie diese Größe nicht. Ich will das an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Sie werfen uns
hier vor, wir würden zu wenig sparen. Draußen in Europa und in der Welt wird uns von allen vorgeworfen,
wir würden zu viel sparen. Angela Merkel wird ein Spardiktat vorgeworfen. Wir gehen mit gutem Beispiel für
unsere europäischen Nachbarn voran. Das werfen uns
andere vor. Sie sollten einmal mit ihren sozialdemokratischen Kollegen woanders reden und sich dann besinnen,
ob es nicht besser wäre, den Konsolidierungskurs unserer Bundesregierung auch einmal zu würdigen.
Lassen Sie mich etwas zum Nachtragshaushalt sagen.
Es ist grundsätzlich - das ist unbestritten - immer wenig
erfreulich, wenn man Nachtragshaushalte machen muss.
Wodurch aber kam er zustande? Nicht weil unsere Annahmen über die Einnahmen falsch waren, weil wir neue
Ausgaben beschlossen haben oder weil das Steueraufkommen anders als erwartet war: Nein, er kam zustande,
weil wir auf europäischer Ebene eine Vereinbarung getroffen haben, im Rahmen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus gleichzeitig zwei Tranchen in einen
Kapitalstock einzuzahlen. Das bedeutet: Wir geben das
Geld nicht für Konsum oder Ähnliches aus, sondern es
wird auf ein anderes Konto transferiert, und dort bleibt
es als Guthaben bestehen. Das ist ein Transfer, keine
Ausgabe.
({1})
Sie sollten einmal bedenken, weshalb dieser Nachtragshaushalt zustande gekommen ist. Er unterscheidet
sich fundamental von den Nachtragshaushalten, die unter rot-grüner Regierung Jahr für Jahr vorgelegt wurden.
Es war ja schon fast ein Ritual unter Rot-Grün, Nachtragshaushalte aufzulegen. Und warum? Weil Sie sich
immer verrechnet haben, weil Sie bessere Annahmen zugrunde gelegt haben, als hinterher eingetreten sind. Sie
haben 2002 einen Nachtragshaushalt mit einer Erhöhung
der Nettokreditaufnahme vorgelegt - Herr Kollege
Kahrs, ich liefere Ihnen jetzt die Zahlen -: statt 21 Milliarden Euro 35 Milliarden Euro, übrigens unter Verletzung der Maastricht-Kriterien. Im Jahr 2003 haben Sie
einen Nachtragshaushalt vorgelegt, der eine Erhöhung
der Nettokreditaufnahme von 19 auf 43 Milliarden Euro
vorsah, unter Verletzung der Maastricht-Kriterien.
({2})
2004 haben Sie wieder einen Nachtragshaushalt vorgelegt: Erhöhung der Nettokreditaufnahme von 29 auf
43 Milliarden Euro. Wieder kam es zu einer Verletzung
der Maastricht-Kriterien.
({3})
Das unterscheidet uns fundamental. Mit dem Nachtragshaushalt, den wir jetzt vorlegen, verletzen wir die
Maastricht-Kriterien nicht. Im Gegenteil: Wir halten sie
ein. Wir halten auch die Vorgaben der Schuldenbremse
ein. Wir unterschreiten sie sogar. Wir legen diesen Nachtragshaushalt aus ganz anderen Gründen vor. Damit sind
wir schon bei unseren Zahlen: 2010 sind wir gestartet
mit einer vorgesehenen Nettokreditaufnahme von
86 Milliarden Euro. Herausgekommen sind 44 Milliarden Euro. 2011 sind wir gestartet mit einer vorgesehenen
Nettokreditaufnahme in Höhe von 48 Milliarden Euro.
Das Ergebnis waren 17 Milliarden Euro.
({4})
In das Jahr 2012 starten wir, inklusive Nachtragshaushalt, mit einer Nettokreditaufnahme von 34 Milliarden Euro. Wo wir herauskommen werden, wissen wir
noch nicht. Das wird sich am Jahresende erweisen. Dann
folgt für die Jahre 2013, 2014, 2015 und 2016 eine absteigende Linie der Nettokreditaufnahme bis zum ausgeglichenen Haushalt 2016. So sehen unsere Zahlen aus.
Sie unterscheiden sich fundamental von den Zahlen aus
der Zeit von Rot-Grün. Das muss man einfach noch einmal festhalten.
({5})
- Nein, das war es noch nicht, im Gegenteil.
({6})
Lassen Sie mich auf einen zweiten Aspekt zu sprechen kommen. In den vergangenen Wochen haben alle
drei Kanzlerkandidaten der SPD erklärt, dass sie Steuererhöhungen wollen, selbst Herr Steinbrück, was nicht
nur mich, sondern auch die Presselandschaft verwundert
hat. Ich halte das für einen sehr erfreulichen Vorgang;
denn jetzt wissen die Bürgerinnen und Bürger, die Wählerinnen und Wähler draußen ganz genau, wie die Alternative aussieht: Wir sind für Konsolidieren und für eine
Beschränkung der Ausgaben. Nach unseren Planungen
wird das Ausgabenniveau sogar um 0,27 Prozent bis
zum Jahr 2016 zurückgehen. Die SPD ist für höhere
Steuereinnahmen und für höhere Ausgaben.
Herr Kollege, möchten Sie denn eine Zwischenfrage
des Kollegen Schneider zulassen?
({0})
Vom Kollegen Schneider immer. Gerne. Darauf habe
ich doch gewartet.
Herr Kollege Barthle, Sie haben eben zu Recht darauf
hingewiesen, dass die SPD für eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes ist. Wir fordern einen Spitzensteuersatz
von 49 Prozent ab einem Bruttojahreseinkommen von
100 000 Euro. Ich bin mir gewahr, dass Sie in der Debatte in Ihrer Koalition genau diesen Vorschlag persönlich begrüßt und einen eigenen Vorschlag zur Erhöhung
des Spitzensteuersatzes eingebracht haben.
({0})
Ich frage mich jetzt, ob Sie unsere Position teilen. Haben
Sie das von mir begrüßte Vorhaben, mehr Steuergerechtigkeit herzustellen, aufgegeben, oder verfolgen Sie es
immer noch?
Ich bin dankbar für diese Zwischenfrage, Herr Kollege Schneider. Ich will Ihnen gerne noch einmal erklären, was ich vorgeschlagen habe - daraus können Sie
etwas lernen -: Ich habe nicht die Erhöhung des Spitzensteuersatzes vorgeschlagen. Ich habe auch keine Steuererhöhung vorgeschlagen. Ich habe gesagt: Es wäre denkbar, zwischen dem bestehenden Spitzensteuersatz und
der sogenannten Reichensteuer - dabei geht es um den
sogenannten Steuerbalkon, den wir gemeinsam eingeführt haben - eine Progression vorzusehen, um damit die
Absenkung der Steuersätze im mittleren Bereich
- Stichwort: Bekämpfung der kalten Progression - gegenzufinanzieren. Ich habe also keine Steuererhöhung
vorgeschlagen,
({0})
sondern eine Korrektur des Tarifverlaufs, um so eine
Steuersenkung zu finanzieren. Das ist ein fundamentaler
Unterschied. - Ich bedanke mich.
({1})
Jetzt komme ich zurück und halte fest: Wir beim
Bund halten die Schuldenbremse ein, und zwar konsequent, strikt und jedes Jahr. Wir unterschreiten sogar die
Vorgaben der Schuldenbremse.
Ich würde mir wünschen - leider ist der nordrheinwestfälische Finanzminister nicht mehr anwesend -,
({2})
dass auch die Länder diese Verpflichtung einhalten und
die Schuldenbremse in ihre Länderverfassungen übernehmen. Bislang steht die Schuldenbremse lediglich in
den Landesverfassungen von Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und Rheinland-Pfalz. In
meinem Heimatland Baden-Württemberg legt die CDU
einen entsprechenden Gesetzentwurf vor.
({3})
Ich bin gespannt wie die grün-rote Landesregierung darauf reagieren wird. Ich höre und lese, dass man in Baden-Württemberg jetzt das Haushaltsrecht ändern will,
um mehr Schulden machen zu können und die Verschuldungsspielräume bis 2019 auszuschöpfen.
({4})
Wenn ich weiterschaue, sehe ich, dass Haushaltssanierung auf Länderebene durchaus gelingen kann. Das
Land Sachsen - es wurde bereits angesprochen - macht
seit Jahren keine neuen Schulden. Das Land Bayern ist
an dieser Stelle ebenfalls vorbildlich. Ich will auch
Mecklenburg-Vorpommern erwähnen, das ebenfalls besser als andere dasteht. Das Negativbeispiel ist Nordrhein-Westfalen.
({5})
Das, was die Ministerpräsidentin dort innerhalb von
zwei Jahren im Landeshaushalt angerichtet hat, läuft
fundamental gegen die Regeln der Schuldenbremse.
({6})
Denn auch die Länder müssen bereits jetzt Haushalte mit
der Perspektive, ab 2020 keine neuen Schulden mehr zu
machen, aufstellen.
({7})
Dagegen wird in Nordrhein-Westfalen fundamental verstoßen.
({8})
Man hat den Eindruck: Den Schuss, den ganz Europa gehört hat, hat Frau Kraft offensichtlich überhört.
({9})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen letzten
Punkt ansprechen. Ich beobachte mit großem Interesse
die Diskussion auf europäischer Ebene. Es gab eine Äußerung von Herrn Draghi von der EZB, dass man eine
Wachstumsstrategie brauche. Dies halte ich grundsätzlich für richtig. Aber ich mache mir Sorgen, wenn ich
sehe, wie zum Beispiel die Sozialisten in Frankreich mit
Jubelgeschrei darauf reagieren, weil sie unter Wachstumsstrategie immer schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme verstehen.
({10})
Wir verstehen darunter Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
({11})
Deshalb brauchen wir - das wurde schon angesprochen auf europäischer Ebene Konsolidierung und Wachstum
als zwei Seiten einer Medaille. So hat es der Staatssekretär formuliert. Diese Formulierung gefällt mir; ich greife
sie gerne auf.
Als Letztes abschließend,
({12})
weil die Kollegen auch über das Betreuungsgeld gesprochen haben, ein leiser Hinweis an unsere ehemaligen
Koalitionspartner von der SPD: Wir haben in der Zeit
der Großen Koalition
({13})
ein Gesetz zum Ausbau der Kinderbetreuung beschlossen. Dem haben Sie zugestimmt. In diesem Gesetz steht
auch das Betreuungsgeld.
({14})
Das sollten Sie einmal nachlesen. Sie haben dem bereits
zugestimmt. Das muss man vielleicht einmal Frau
Nahles erklären; auch sie sollte es einmal nachlesen.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/9040 an den Haushaltsaus-
schuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 6 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Neuregelung der elterlichen Sorge bei nicht
verheirateten Eltern
- Drucksache 17/8601 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Dr. Diether Dehm, Heidrun Dittrich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Neuregelung des Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete Eltern
- Drucksache 17/9402 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vorgesehen ist, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Wenn sich die Jungsrunde hier vorne auflösen könnte,
könnten wir weitermachen.
({2})
Christine Lambrecht hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2010 wird
in diesem Haus - und nicht nur in diesem Haus - zu
Recht eine Debatte über eine Neuregelung des Sorgerechts von nicht verheirateten Eltern geführt. Bis zu diesem Datum, bis zum Juli 2010, konnten Eltern, die nicht
miteinander verheiratet waren, das Sorgerecht nur dann
gemeinsam vereinbaren, wenn sie sich einig waren. Sie
konnten festlegen, dass die Mutter oder der Vater die alleinige Sorge hat oder dass sie es beide gemeinsam machen wollen. Sie hatten die Entscheidungsmöglichkeit.
Gab es aber keine Übereinstimmung in dieser Frage,
dann konnte die Mutter bis zu diesem Datum die gemeinsame Sorge verweigern, egal unter welchen Umständen, also egal ob sich der Vater um das Kind gekümmert hat und seiner Verantwortung nachgekommen ist
oder vielleicht noch nicht einmal Interesse an dem Kind
hatte. Der Vater konnte sich, egal in welcher Konstellation, gegen die Verweigerung der Mutter nicht gerichtlich wehren.
Hiergegen wurde von Vätern erfolgreich geklagt.
Dem Gesetzgeber, also uns, wurde aufgegeben, eine
Neuregelung zu schaffen. Übergangsweise gilt in
Deutschland jetzt die sogenannte Antragslösung. Das
heißt, der Vater kann dann, wenn die Mutter nicht in die
gemeinsame Sorge einwilligt, beim Familiengericht einen Antrag auf gemeinsames elterliches Sorgerecht stellen. Dort wird dann der Einzelfall gerichtlich überprüft
und entsprechend entschieden.
Dem gegenüber steht die sogenannte Widerspruchslösung; auch sie ist momentan im Gespräch. Das heißt,
die Eltern haben von Geburt an die gemeinsame Sorge.
Die Mutter muss begründet und qualifiziert widersprechen, wenn sie hiermit nicht einverstanden ist und die
alleinige elterliche Sorge möchte.
Diese zwei Ansätze standen sich bisher ziemlich
unversöhnlich gegenüber. Über die Antragslösung haben
sich die Väter beschwert und gefragt: Wieso ich? Ich bin
doch der biologische Vater. Ich kümmere mich um das
Kind. Warum muss ich jetzt einen Antrag stellen?
- Über die Widerspruchslösung haben sich die Mütter
beschwert und gefragt: Wieso ich? Wieso muss ich
- vielleicht sogar als Mutter eines Kindes, von dem der
Vater nichts wissen will - einer gemeinsamen Sorge widersprechen? - Bei all dem konnte man den Eindruck
gewinnen, es handele sich entweder um ein Recht des
Vaters oder um ein Recht der Mutter; so wurde darüber
diskutiert. Völlig aus dem Blick geraten ist, dass es hier
einzig und allein darum geht, was dem Kindeswohl entspricht, was die beste Lösung für das Kind ist.
({0})
Wir von der SPD wollen, dass dieses SchwarzerPeter-Spiel so nicht weitergeht, und bringen uns mit dem
vorliegenden Entwurf in die Diskussion ein. Wir stellen
mit unserem Vorschlag das Kindeswohl absolut in den
Vordergrund, weil wir davon überzeugt sind, dass es in
der Regel immer das Beste ist, wenn ein Kind sowohl
Vater als auch Mutter erfährt, wenn sich beide um das
Kind kümmern und die Sorge gemeinsam wahrnehmen.
({1})
Von diesem Leitsatz geprägt wollen wir mit unserem
Vorschlag dazu beitragen, dass so viele Eltern wie möglich, die nicht miteinander verheiratet sind, die gemeinsame Sorge für ihr Kind ausüben; das ist das Ziel unseres
Vorschlags.
Wir wollen, dass Eltern, die sich über die gemeinsame
Sorge einig sind, bereits bei der Registrierung des Kindes beim Standesamt die gemeinsame Sorge erklären
können, sodass es keines weiteren bürokratischen Aufwands mehr bedarf. Wenn sich die Eltern einig sind,
dann können sie das bereits bei der Registrierung des
Kindes erklären. Das wäre eine deutliche Erleichterung.
Es gibt aber auch den Fall, dass sich Eltern nicht einig
sind oder sich bis zu diesem Zeitpunkt vielleicht überhaupt noch keine Gedanken darüber gemacht haben, wie
sie die elterliche Sorge ausüben wollen. Kurz nach der
Geburt eines Kindes macht man sich ja viele andere
Gedanken. Ich kann mich daran erinnern, dass ich nur
überlegt habe, wie ich ohne Schlaf überleben kann;
({2})
das war das Thema, mit dem ich mich damals beschäftigt habe. Für diese Eltern wollen wir die Möglichkeit
schaffen, dass sie direkt beim Standesamt - registrieren
lassen muss sich ja jeder - darüber informiert werden,
was das gemeinsame Sorgerecht bedeutet und welche
Konsequenzen es hat. Dann sollen die Eltern aufgefordert werden, sich dazu zu äußern.
Es gibt auch Eltern, die sich nicht einigen können,
trotz der Aufklärung, der Information und der Möglichkeiten, die ihnen geboten werden. Wir wollen die Regelung treffen, dass sich das Jugendamt dann noch einmal
einschaltet und diesen Eltern die Möglichkeit gibt, ihre
Probleme dort auszuräumen, miteinander zu diskutieren
und auf eine einvernehmliche Lösung hinzuwirken.
Denn in der Regel ist es so, dass dann, wenn ein unbeteiligter Dritter eingeschaltet ist, durchaus etwas in Bewegung kommen kann.
Nur dann, wenn am Ende dieser langen Kette immer
noch keine Einigung möglich ist, soll das Jugendamt einen Antrag auf gerichtliche Klärung stellen. Wir wollen
nicht, dass der Vater einen Antrag stellen oder die Mutter
widersprechen muss - denn beide fühlen sich in dieser
Frage besonders in Anspruch genommen -, sondern wir
wollen, dass der Antrag auf Klärung durch das Familiengericht erst dann gestellt wird, wenn wirklich alle Vermittlungsversuche gescheitert sind. Wir glauben, dass
diese Regelung das Schwarzer-Peter-Spiel beendet und
dazu beiträgt, dass viel mehr Eltern die gemeinsame
Sorge übernehmen wollen.
({3})
Meine Damen und Herren, bis heute liegt noch kein
Vorschlag der Koalitionsfraktionen oder der Regierung
vor. Sie haben sich - das konnte man den Medien entnehmen - in einem Koalitionsausschuss auf ein
Eckpunktepapier geeinigt. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann wollen Sie danach die Antragslösung,
das heißt, zuerst hat die Mutter das Sorgerecht. Wenn der
Vater einen Antrag stellt, dann muss die Mutter widersprechen. Das muss sie relativ schnell und auch relativ
qualifiziert tun. Für den Fall, dass sie das nicht tut, ist
nach Ihrem Vorschlag sogar ein beschleunigtes Verfahren vorgesehen, bei dem die Eltern noch nicht einmal
angehört werden. Ich muss sagen: Es ist völlig inakzeptabel,
({4})
dass bei einer so schwerwiegenden Frage wie der gemeinsamen elterlichen Sorge das Ganze im schriftlichen
Verfahren abgeschlossen werden soll, ohne dass man
sich die Eltern angeschaut und sich von ihnen und ihren
Argumenten ein Bild gemacht hat. Deswegen sage ich
klar: Zu dieser Position wird es von uns keine Zustimmung geben.
Ansonsten sind wir zu konstruktiven Gesprächen bereit. Ich glaube, unser Vorschlag ist ein Schritt in die
deutlich richtige Richtung.
Vielen Dank.
({5})
Ute Granold hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Lambrecht, ich denke, wir sind uns ganz
einig darüber, dass die gemeinsame elterliche Sorge
unser gemeinsames Ziel ist, weil das dem Kindeswohl
entspricht. Ich komme gleich mit weitergehenden Ausführungen darauf zurück.
Sie kennen unseren Referentenentwurf, der momentan auf dem Weg ist, noch nicht. Auf 30 Seiten wird im
Detail erläutert, worum es geht. Ich werde darauf noch
eingehen.
Sie haben den Verfahrensgang zu Recht erwähnt - insofern kann ich das abkürzen -: Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte und auch das Bundesverfassungsgericht haben dem Gesetzgeber aufgegeben,
eine Regelung für die Fälle zu finden, in denen eine gemeinsame Sorge aufgrund des Widerspruchs der Mutter
für die Väter derzeit nicht möglich ist. Wir haben hier in
diesem Haus bereits mehrfach darüber debattiert, zuletzt
über die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen. Mittlerweile liegt ein Antrag der SPD vor, und seit zwei Tagen
gibt es auch einen Antrag der Linken.
Der Referentenentwurf vom Bundesjustizministerium
- Staatssekretär Stadler ist hier - ist umfassend und zeigt
im Detail auf, welche Möglichkeiten wir sehen, hier zu
einer Regelung zu kommen. Das hat in der Tat etwas
länger gedauert, aber es geht um ein so wichtiges
Thema, dass wir meinen: Lieber etwas gründlicher recherchiert, diskutiert und beraten, um dann eine Lösung
zu finden, die den Kindern gerecht wird. Es geht nämlich
nur um die Kinder und nicht um die Eltern.
({0})
Ich möchte zunächst festhalten, dass es seit der Entscheidung, die im Sommer 2010 vom Bundesverfassungsgericht getroffen wurde, keinen rechtsfreien Raum
gab. Die ganze Zeit über konnten von Vätern Sorgerechtsverfahren eingeleitet werden. Sie hatten das auch
kurz angesprochen. Diese Verfahren wurden quer durch
die Republik bei den Familiengerichten und bei den
Oberlandesgerichten auch geführt, und man hat gesehen:
Es gab recht unterschiedliche Entscheidungen. Das lag
daran, dass die Darlegungs- und Beweislast für eine gemeinsame elterliche Sorge bei den Vätern gelegen hat
und die Hürde hierfür sehr hoch war, sodass die Väter im
Interesse der Kinder letztendlich nicht zufriedengestellt
werden konnten. Deshalb haben wir jetzt auch diese Regelung auf den Weg gebracht, von der wir meinen, dass
sie in Ordnung ist.
Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts,
die nicht konkret waren, hätten wir den Status quo festschreiben können. Wir hätten aber auch ebenso sagen
können: Es gibt einen Automatismus, wonach Väter und
Mütter von nichtehelichen Kindern ab deren Geburt das
gemeinsame Sorgerecht haben. Diesen Automatismus
wollten wir nicht. Deshalb haben wir einen Weg gefunden, der sich an einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2003 orientiert. Ich darf kurz
einen Satz daraus zitieren:
Die gemeinsame elterliche Sorge entspricht grundsätzlich den Bedürfnissen des Kindes nach Beziehungen zu beiden Elternteilen und verdeutlicht ihm,
dass beide Elternteile gleichermaßen bereit sind, für
das Kind Verantwortung zu tragen.
Ich denke, diesem Leitsatz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts können wir alle zustimmen. Das
war der Maßstab bzw. die Richtschnur für den Referentenentwurf, den wir jetzt vorgelegt haben.
Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, eine Synopse
zu erstellen, in der die Grundzüge dessen aufgezeigt
werden, was wir uns als Koalition vorgegeben haben
und was von der SPD bzw. von Bündnis 90/Die Grünen
favorisiert wird. Ich denke, beim Ziel sind wir uns alle
einig, aber der Weg dahin wird doch recht unterschiedlich gesehen. Dennoch ist es positiv zu werten, dass sich
jede Fraktion Gedanken darüber gemacht hat, welcher
Weg der beste ist, um zu diesem von uns angestrebten
Ziel zu kommen.
Die materielle Voraussetzung für eine gemeinsame elterliche Sorge ist, dass die Vaterschaft anerkannt oder
festgestellt wird und es eine gemeinsame Sorgeerklärung
gibt. Das ist das Optimale für das Kind. Ansonsten ist
eine gemeinsame Sorge, denke ich, indiziert, wenn sie
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Das heißt, es gibt
eine sogenannte negative Kindeswohlprüfung.
Bei der SPD und bei Bündnis 90/Die Grünen ist es
genau umgekehrt: Die gemeinsame elterliche Sorge soll
dann eingerichtet werden, wenn sie dem Kindeswohl
entspricht. Das ist die sogenannte positive Kindeswohlprüfung. Sie haben in Ihrem Antrag Kriterien dafür genannt, was dafür zum Beispiel ein Maßstab wäre, etwa
die Unterhaltszahlung und die Kooperationsbereitschaft.
Wir meinen, diese Hürde ist zu hoch. Deshalb gehen
wir den genau umgekehrten Weg. Weil die gemeinsame
Sorge dem Kindeswohl entspricht, ist es so, dass die
Darlegungs- und Beweislast, dass eine gemeinsame
Sorge nicht möglich sei, also der Ausnahmefall, bei der
Mutter liegt. Die Gerichtsentscheidungen, die zwischenzeitlich ergangen sind, zeigen, dass allein der Einwand,
es bestehe keine Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft der Eltern, in der Regel dazu führt, dass der
Vater kein Sorgerecht erhält. Das halten wir auch nach
dem, was die vorerwähnten Entscheidungen der höchsten Gerichte gezeigt haben, für keinen gangbaren Weg.
Die negative Kindeswohlprüfung ist für uns ein ganz
wesentlicher Maßstab.
Aber auch hinsichtlich des gerichtlichen Verfahrens
verfolgen wir nicht den gleichen Weg. Wir wollen die
Beteiligung des Jugendamtes, wie das zum Beispiel von
der SPD vorgeschlagen wird, nicht in einer solch verfestigten Stellung. Vielmehr sagen wir: Der Vater muss die
Möglichkeit haben - in der Regel ist es der Vater -,
direkt zum Gericht zu gehen, einen Antrag zu stellen und
eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Er soll
aber auch die Möglichkeit haben, zum Jugendamt zu gehen, um dort außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens zu
einer gemeinsamen Sorge zu kommen, natürlich verbunden mit einer entsprechenden Aufklärung der Mutter und
des Vaters durch das Jugendamt. Die herausgehobene
Stellung des Jugendamtes ist also nicht unser Weg.
Ein anderer Vorschlag von Ihnen ist, dass das Jugendamt dann, wenn die Mutter der gemeinsamen Sorge
nicht zustimmt oder sich nicht äußert, einen Antrag an
das Gericht stellt. Auch das sehen wir nicht als den richtigen Weg an. Das muss der Vater als der Beteiligte in
diesem Verfahren machen. Denn es ist so, dass das
Jugendamt durch die außergerichtlichen Erkenntnisse
eine Stellungnahme im Gerichtsverfahren abgibt.
Wenn das Jugendamt eine negative Empfehlung an
das Gericht abgeben würde, ist das für den Vater wieder
eine sehr hohe Hürde, diese zu entkräften, die unseres
Erachtens nicht gerechtfertigt ist. Deshalb sind wir der
Auffassung, dem Vater die Option, entweder direkt zum
Gericht oder alternativ zum Jugendamt zu gehen, zu ermöglichen; dabei ist uns die Antragstellung durch den
Vater ganz wichtig. Wir haben auch den Weg der SPD
diskutiert, dann aber letztendlich aus den Gründen, die
ich dargestellt habe, entschieden, dass wir diesen Weg
nicht gehen wollen.
Frau Lambrecht, Sie haben uns vorgeworfen: In dem
von uns vorgeschlagenen Verfahren könne das Sorgerecht sogar ohne mündliche Verhandlung, ohne dass die
Eltern gehört werden, übertragen werden. Das sei inakzeptabel. Das ist sehr verkürzt dargestellt. Wir haben
mittlerweile durch die Novellierung in § 155 FamFG ein
Vorrang- und Beschleunigungsgebot in Kindschaftssachen geregelt. Das bedeutet, innerhalb eines Monats
nach Verfahrenseinleitung muss eine gerichtliche Entscheidung möglich sein, also ein Gerichtstermin anberaumt werden. Wir möchten diese Vorschrift um einen
§ 155 a FamFG ergänzen. Das heißt, auch bei den
Verfahren um die gemeinsame elterliche Sorge soll das
Vorrang- und Beschleunigungsgebot gelten. Das heißt,
binnen vier Wochen bzw. eines Monats muss terminiert
werden.
Dann soll es so sein: Wenn sich die Mutter auf das
Schreiben des Gerichts mit dem Antrag auf gemeinsame
Sorge nicht äußert bzw. Gründe vorträgt, die mit dem
Kindeswohl überhaupt nichts zu tun haben, dann muss
es dem Gericht möglich sein, in einem sogenannten vereinfachten Verfahren ohne mündliche Verhandlung und
ohne persönliche Anhörung zu entscheiden,
({1})
und zwar in den Fällen, die ich gerade genannt habe. Es
bleibt natürlich der Kindesmutter die Möglichkeit, eine
solche Entscheidung, wie das auch in anderen Verfahren
üblich ist, anzufechten. Wir möchten also hier dem
Antragsteller die Möglichkeit geben, in einem zügigen
Verfahren zumindest eine gerichtliche Entscheidung herUte Granold
beizuführen. Wie gesagt, der Rechtsschutz für die Mutter ist gegeben.
Bei dem Thema Fristen meinen wir, dass eine sechswöchige Frist zur Stellungnahme ausreichend ist, um
eine Entscheidung herbeizuführen. In dem Fall geht man
davon aus, dass Mutter und Vater gleichermaßen befähigt sind, für das Kind zu sorgen, wenn es denn auf der
Welt ist. Sechs Wochen sind ausreichend. Sonst würde
die Zahl derer, die im Rahmen eines einstweiligen
Anordnungsverfahrens die Gerichte anrufen würden, erheblich steigen. Es gibt immer mehr Fälle, in denen bei
einer Nichteinigung der Eltern einstweilige Anordnungen beantragt werden, weil ein Kind getauft oder nicht
getauft werden soll, bei der Namensgebung oder anderen
Fragen. Um das abzukürzen, sehen wir diese sechswöchige Frist als ausreichend, aber auch als erforderlich
an. Wie gesagt, ein Automatismus bei der Reglung der
elterlichen Sorge per Geburt möchten wir nicht.
Wir meinen, dass wir mit diesen Regelungen sowohl
im materiellen als auch im Verfahrensrecht einen guten
Weg gefunden haben, einen Mittelweg zwischen den
Interessen der Mutter auf der einen Seite und den Interessen des Vaters auf der anderen Seite, aber immer unter der Maßgabe, dass das Kindeswohl an erster Stelle
steht. Wir sind uns Gott sei Dank in diesem Haus darüber einig, dass dahinter alles andere zurückstehen
muss. Ich denke, dass wir in den jetzt anstehenden Beratungen, im Rechtsausschuss und mitberatend im Familienausschuss, auch über die Anträge der Opposition,
Lösungen auf der Basis unseres Referentenentwurfs ich leite ihn Ihnen gerne zu, wenn er Ihnen noch nicht
vorliegt; er befindet sich noch im Abstimmungsverfahren, danach werden wir in die Beratungen gehen - finden werden, die dann möglichst vom ganzen Haus getragen werden. Wir haben in der Vergangenheit beim
FamFG, beim Unterhaltsrecht und vielem anderen mehr
gezeigt, dass das sehr gut möglich ist. Deshalb hoffe ich
sehr, dass wir gute Beratungen haben, um ein gutes Ergebnis zu finden.
({2})
- Die Beratungen kommen ja. - Es hat länger gedauert,
aber ich denke, dann wird es umso besser sein.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Sorgerecht ist ein höchst emotionsgeladenes Thema.
Einige - vielleicht auch etliche - haben bestimmt schon
persönliche Erfahrungen damit gemacht.
Das Sorgerecht umfasst insbesondere vor dem Hintergrund der UN-Kinderrechtskonvention das Recht des
Kindes auf Sorge durch die Eltern und das Recht und die
Verpflichtung der Eltern, Verantwortung für das Kindeswohl zu übernehmen. So ergibt es sich im Übrigen auch
aus Art. 6 unseres Grundgesetzes.
Es ist hier schon erwähnt worden: 2010 hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt, dass das
geltende Recht nichtverheiratete Väter diskriminiert, die
Verantwortung für ihre Kinder übernehmen wollen und
können. Die bis dato geltende Rechtslage ist auch schon
dargelegt worden, nämlich dass nichtverheiratete Väter,
wenn die Mutter nicht zur gemeinsamen Sorge bereit
war, keine Möglichkeit hatten, diese elterliche Sorge irgendwie gerichtlich geltend zu machen. Dieses Dilemma
war zu lösen.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Übergangslösung geschaffen, nach der Väter für den Fall bei Gericht
einen Antrag stellen können und das Gericht diesem Antrag stattzugeben hat, sofern Kindeswohlgründe nicht
entgegenstehen. Dabei kommt auch klar zum Ausdruck,
dass das Kindeswohl die zentrale Frage bei diesen ganzen Entscheidungen sein muss.
Meine Fraktion ist sich dahin gehend einig, dass sich
der Staat, solange sich Eltern hinsichtlich der Sorge einig
sind, möglichst wenig einmischen sollte.
({0})
Wenn sich die Eltern einig sind, dass die Mutter oder der
Vater die alleinige Sorge haben soll oder auch beide zusammen die gemeinsame Sorge haben sollen, dann geht
das den Staat nichts an; es sei denn, es gibt Anhaltspunkte einer Kindeswohlgefährdung. Das ist klar. Aber
vom Normalfall ausgehend sollte sich der Staat dabei
nicht einmischen.
Jetzt stellt sich die Frage: Wie ist es bei nichtverheirateten Vätern? Bei Eheleuten ist es so: Das Kind wird angemeldet, und automatisch ist der Ehemann der Vater
mit allen Rechten und Pflichten. Bei nichtverheirateten
Eltern ist es anders. Bei ihnen entstehen die Rechtsbeziehungen des Vaters zum Kind erst durch die Vaterschaftsanerkennung.
Was bedeutet eine Vaterschaftsanerkennung bezogen
auf das Kind? Nach meiner Überzeugung bedeutet sie
deutlich mehr als der Trauschein. Mit dem Trauschein
bekennt man sich nicht automatisch expressis verbis zu
dem Kind. Mit der Vaterschaftsanerkennung bekennt
man sich konkret zu einem Kind und sagt: Das ist mein
Kind. Deswegen denke ich, man könnte wie in Frankreich den Automatismus einführen, dass mit der Vaterschaftsanerkennung Sorgerecht entsteht. Das ist allerdings riskant. Denn es gibt auch Väter, die sich nicht um
das Kind kümmern wollen.
Deswegen haben wir nach langer Debatte - wir haben
es uns nicht leicht gemacht; immerhin hat es 20 Monate
gedauert, bis unser Antrag gestern in der Fraktion mehrheitlich beschlossen wurde - beschlossen, dass es noch
eine Zusatzerklärung zu der Vaterschaftserklärung geben
soll, mit der der Vater erklärt, dass er bereit und gewillt
ist, die väterliche Sorge für das Kind zu übernehmen.
Dann entsteht die gemeinsame elterliche Sorge.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Begründung die Zutaten für eine Neuregelung aufgeführt. Die
Richter haben so in den Gründen angegeben, dem Gesetzgeber bleibe es unbenommen - sie sprechen sogar
von einem automatischen Sorgerecht -, frühestmöglich
das gemeinsame Sorgerecht zuzusprechen, mit der Möglichkeit für beide Elternteile, das überprüfen und angehen zu können. Das haben wir in dem Fall, den wir
unterbreiten, vorgesehen. Wenn das gemeinsame Sorgerecht durch die Erklärung, die Sorge für das Kind übernehmen zu wollen, entsteht, dann haben beide Eltern die
gemeinsame Sorge. Wenn diese Erklärung abgegeben
wurde und es später zum Streit kommt - wir müssen uns
nichts vormachen; im Normalfall kommt es nicht dann
zum Streit, wenn die Eltern zum Standesamt oder zum
Jugendamt gehen, um die gemeinsame oder alleinige
Sorge zu erklären, sondern erst später, wenn sie sich
trennen -, dann besteht die gemeinsame Sorge, und
beide Elternteile haben wie Eheleute nach § 1671 BGB
das Recht, bei Gericht einen Antrag zu stellen, die alleinige Sorge oder Teile der gemeinsamen Sorge auf sich
zu übertragen. Diese Möglichkeit hat das Bundesverfassungsgericht vorgegeben. Daran orientiert sich unser
Antrag.
Ganz wichtig ist - ich denke, darin sind wir uns einig -, dass eine Gerichtsentscheidung Ultima Ratio sein
sollte. In der Regel gibt es vor Gericht immer Gewinner
und Verlierer. Deshalb ist es wesentlich, dass vor einer
Gerichtsentscheidung versucht wird, eine Mediation
durchzuführen. Man kann ja niemanden dazu zwingen,
aber eine Mediation muss angeboten werden, um gerade
im Interesse des Kindeswohls nach Möglichkeit eine
einvernehmliche Regelung der Eltern zu erzielen.
Mit unserem Antrag wollen wir das bestehende Dilemma beseitigen und nicht verheiratete und verheiratete
Eltern in Bezug auf das Sorgerecht weitgehend rechtlich
gleichstellen. Die vorgeschlagenen Änderungen entsprechen den Empfehlungen des Bundesverfassungsgerichts.
Bei unverheirateten Paaren sollten beide Elternteile frühestmöglich das gemeinsame Sorgerecht erhalten, mit
der entsprechenden Möglichkeit, dieses für einen allein
einzuklagen - eben wie bei verheirateten Eltern.
Kinder suchen sich ihre Eltern sowieso nicht nach
dem familienrechtlichen Status aus. Frau Granold hat zu
Recht darauf hingewiesen: Das Kindeswohl steht bei uns
allen im Vordergrund.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Der Kollege Stephan Thomae hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Die elterliche Sorge bei nicht verheirateten Eltern ist ein Thema, das viele Menschen in unserem
Land bewegt. Uns eint das gemeinsame Ziel, dass die
Bereitschaft der Eltern, die Sorge für das Kind gemeinsam zu übernehmen, gestärkt werden soll.
Wenn ich mir die Anträge der SPD und der Linken im
Detail anschaue, dann fallen mir ein paar Punkte auf, die
mich in meiner Ansicht bestärken, dass wir es besser
machen.
({0})
Im SPD-Antrag ist zu lesen: Wenn sich die Eltern vor
dem Standesamt nicht auf eine Sorgerechtsregelung einigen können, soll ihnen das Jugendamt eine Äußerungsfrist setzen. Wenn sich die Eltern innerhalb dieser Frist
nicht zur Frage der gemeinsamen Sorge äußern, soll das
Jugendamt von sich aus, also von Amts wegen, einen
Antrag beim Familiengericht stellen. In Deutschland
gibt es ja einen Justizgewährungsanspruch. Wenn sich
die Bürger nicht einigen können, dann haben sie die
Möglichkeit, Gerichtshilfe in Anspruch zu nehmen. Das
Gericht muss dann eine Entscheidung treffen. Es wird
quasi ein Vergleich geschlossen. Nun, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, was machen Sie? Sie sind
der Meinung: Immer wenn die Eltern sich nicht einigen
können, soll das Jugendamt verpflichtet werden, eine familiengerichtliche Entscheidung zu beantragen.
({1})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das ernst meinen.
({2})
Wenn die Bürger nicht von sich aus, also freiwillig, gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen, dann zwingen Sie
sozusagen die Bürger, Sie zerren sozusagen die Bürger
vor Gericht.
({3})
Ich will nicht unhöflich erscheinen, aber ich finde das
nicht gut.
({4})
Wenn sich die Eltern schon nicht streiten, Herr Kollege Lischka, dann sehe ich auch das Kindeswohl nicht
in Gefahr. Es kann immer sein, dass Eltern sagen: Das
müssen wir nicht sofort entscheiden; warten wir doch ab,
wie sich die Dinge de facto entwickeln. - Damit habe ich
gar kein Problem. Warum sollten wir aber dann die Eltern durch das Jugendamt vor Gericht zerren lassen? Damit sind wir nicht einverstanden.
({5})
Ein weiterer Punkt in Ihrem Antrag, der mich verwundert - vielleicht habe ich es auch nur missverstanden -,
({6})
ist: Den Eltern soll ermöglicht werden, durch eine gemeinsame Sorgeerklärung die gemeinsame Sorge zu erhalten. - In § 1626 a Abs. 1 Nr. 1 BGB steht das bereits.
Warum wird ein Antrag zu einem Sachverhalt gestellt,
der bereits gesetzlich geregelt ist? Das leuchtet mir nicht
ein.
({7})
So viel zum Antrag der SPD.
Beim Antrag der Linken sehe ich einen gewissen inneren Widerspruch. Dort heißt es unter II.1,
({8})
dass die Sorgeerklärung des Vaters schon ausreicht, um
die gemeinsame Sorge zu begründen. Die einseitige Erklärung des Vaters führt quasi zu einem Automatismus.
Unter II.4 heißt es dann: Wenn sich die Eltern nicht einigen können, steht der Rechtsweg offen. - Was denn nun?
Reicht schon eine einseitige Erklärung des Vaters, um
die gemeinsame Sorge zu begründen, oder bedarf es einer Einigung? Entweder - oder, beides zusammen geht
nicht. Da befindet sich ein innerer Widerspruch in Ihrem
Antrag.
Deswegen empfehle ich sehr den Referentenentwurf
des Bundesjustizministeriums zur Lektüre, den ich ausdrücklich lobe. Er ist am 28. März an Bund und Länder
verschickt worden, und es läuft eine Frist zur Stellungnahme bis zum 18. Mai. Was in diesem Referentenentwurf steht, hat die Kollegin Granold ja schon vorbildlich
erläutert. Ich will noch einige Punkte verdeutlichen.
In diesem Entwurf ist vorgesehen, dass es zunächst
zur Alleinsorge der Mutter kommt. Wenn die beiden Eltern eine gemeinsame Sorgeerklärung abgeben, dann haben wir kein Problem; wir sind uns einig, dass das das
Schönste und das ist, was wir eigentlich wollen.
({9})
Ist das aber nicht der Fall, dann hat der Vater die Möglichkeit, einen Antrag beim Familiengericht zu stellen.
Wenn nun die Mutter - das ist das, was Sie, Kollegin
Lambrecht, rügen - innerhalb einer angemessenen Frist
- nicht einer kurzen Frist - inhaltlich nicht Stellung
nimmt
({10})
oder keinerlei Gründe vorträgt, aus denen erkennbar
wird, dass es inhaltliche, und zwar kindeswohlrelevante
Gründe gibt, die gegen die gemeinsame elterliche Sorge
sprechen, dann darf doch die gesetzliche Vermutung
greifen, dass es offenbar keine gegen das Kindeswohl
sprechende Gründe gibt, die gemeinsame Sorge zu verhindern; denn sonst könnte die Mutter diese einfach vortragen. Dann ist es meines Erachtens auch völlig angemessen, richtig und sachgerecht, zu sagen, dass dann in
einem beschleunigten, vereinfachten Verfahren das Gericht darüber entscheiden können soll.
({11})
- Warum denn nicht? Ich finde, das ist eine angemessene
Regelung.
({12})
Wichtig ist auch, dass es dann nicht mehr ausreichend
ist, einfach nur anzuführen, dass keine Kommunikation
zwischen den Eltern stattfinde oder dass sich die Mutter
zum Beispiel nicht in die Erziehung des Kindes hineinreden lassen wolle, sondern es muss sich vielmehr um kindeswohlrelevante Gründe handeln. Denn wir wollen,
dass eine gewisse Normalität für alle Kinder gilt, ganz
gleich, ob die Eltern den Segen von Staat und Kirche
eingeholt haben oder nicht. Es geht uns genau um das
Kindeswohl. Darum geht es ja uns allen. Deswegen müssen wir die Hürden für die gemeinsame elterliche Sorge
senken, und das gelingt mit unserem Entwurf am besten.
({13})
Ein zweiter Punkt, den Sie im Referentenentwurf
nachlesen können, ist der, dass in der jetzigen, vorläufigen Regelung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 2010 die gemeinsame Sorge
- auch das haben Sie, Frau Kollegin Granold, schon erläutert - dann ausgesprochen werden soll, wenn dies
dem Kindeswohl entspricht. Das heißt, es muss erst einmal der positive Nachweis erbracht werden, dass es dem
Kindeswohl dient. Das muss der Vater darlegen und belegen. Er muss es also beweisen. Nach dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums ist die gemeinsame Sorge dann schon auszusprechen, wenn diese dem
Kindeswohl nicht widerspricht. Die negative Darlegungslast, die schon erwähnt worden ist, soll nun der
Maßstab sein, um erneut die Hürden abzusenken. Die
Mutter muss also sagen, was dagegen spricht, wenn sie
sich dagegen wehren will. Auch damit bauen wir Hürden
ab.
Wir kommen mit diesem Entwurf einem modernen
Familienbild näher. Die zunehmende Anzahl von Kindern, die außerhalb einer gültigen Ehe geboren werden,
lässt es angeraten erscheinen, dass wir das Recht nach
der gewandelten Lebenswirklichkeit der Menschen im
Land formen. Deswegen war es gut, dass wir in der Koalition das Thema ausgiebig diskutiert und uns Zeit gelassen haben. Es hat sich gelohnt. Der Vorschlag der
Koalition ist allemal besser als die Vorschläge der Opposition.
Vielen Dank.
({14})
Katja Dörner hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich möchte versöhnlich beginnen.
Wenn ich mir die Eckpunkte der Koalitionsfraktionen
und die Anträge, die jetzt vorgelegt worden sind, anschaue, dann habe ich tatsächlich die Hoffnung, dass wir
in dieser Legislaturperiode doch noch zu einer vernünftigen und guten Lösung beim Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern kommen können.
({0})
Ich will aber auch sagen: Es ist keine Glanzleistung
der Koalitionsfraktionen, dass sie mehr als eineinhalb
Jahre brauchten, um den guten, vernünftigen und ausgewogenen Vorschlag, den wir Grüne als Erste schon im
Herbst 2010 vorgelegt haben, sozusagen zu plagiieren
und endlich in eigene Eckpunkte zu gießen.
({1})
Das sind eineinhalb verlorene Jahre für die davon betroffenen Familien. Wir wollen natürlich kein Copyright auf
das, was wir entwickelt haben;
({2})
wir erwarten aber, dass endlich ein Gesetzentwurf vorgelegt wird. So häufig, wie Herr Thomae darauf hingewiesen hat, dass es bis dato nur einen Referentenentwurf
gibt, muss man sich, glaube ich, schon Sorgen machen,
was die zeitliche Perspektive der Bundesregierung für
dieses Vorhaben angeht.
({3})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Bandbreite
der Sorgerechtsstreitigkeiten ist riesig, auch bei nicht
miteinander verheirateten Paaren. Jeder von uns kennt
aus dem persönlichen Umfeld, aus den vielen Gesprächen, die wir mit Verbänden dazu geführt haben, aber
natürlich auch aus Familiengerichtsakten die unglaublichsten Vorgänge. Weil diese Palette so breit ist, wird es
keine gesetzliche Regelung geben, die in jedem Einzelfall die optimale Lösung bringt. Ich glaube, da sollten
wir uns auch nichts vormachen. Gerade deshalb ist es
umso wichtiger, dass man ganz klare Leitentscheidungen
trifft.
Ich möchte hier ausdrücklich auf Art. 18 der UN-Kinderrechtskonvention hinweisen, in dem es heißt - ich zitiere -:
Die Vertragsstaaten bemühen sich nach besten
Kräften, die Anerkennung des Grundsatzes sicherzustellen, dass beide Elternteile gemeinsam für die
Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlich sind.
Die Kinderrechtskonvention unterscheidet zu Recht
nicht zwischen den Rechten von Kindern mit miteinander verheirateten Eltern und solchen mit nicht miteinander verheirateten Eltern. Deshalb steht für uns Grüne fest
- ich bin froh, dass alle das im Plenum heute noch einmal bekräftigt haben -, dass es um die Interessen des betroffenen Kindes geht und dass das Kindeswohl selbstverständlich im Vordergrund stehen muss.
({4})
Nicht nur die Erfahrungen mit dem gemeinsamen
Sorgerecht bei geschiedenen Eltern legen nahe, dass es
in der Regel gut ist, wenn das Sorgerecht gemeinsam bei
den Eltern liegt. Wir als Grüne wollen beim Sorgerecht
nicht miteinander verheirateter Eltern zwar keinen Automatismus, aber ausdrücklich ein sehr niedrigschwelliges
Verfahren, damit ein Vater, der das möchte, das Sorgerecht auch frühzeitig bekommen kann. Deshalb haben
wir ganz bewusst die Formulierung gewählt, dass ein
Vater, wenn das familiengerichtliche Verfahren nicht zu
verhindern ist, das Sorgerecht bekommen soll, wenn dies
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Das ist eine Formulierung, die die Koalitionsfraktionen richtigerweise in
ihre Eckpunkte übernommen haben.
Ich muss leider sagen, dass der Antrag der SPD, den
wir heute erstmals beraten, notwendige klare Leitlinien
an vielen Stellen vermissen lässt. Ich finde zwar, dass er
die Komplexität des Regelungstatbestandes sehr gut beschreibt; ich finde aber auch, dass sich dieser Vorschlag
sehr im Sowohl-als-auch verliert. Sie haben es ja eben
auch noch einmal gesagt, dass der Antrag eine Brücke
zwischen einer Antragslösung und einer Widerspruchslösung schlagen soll.
({5})
- Doch, das haben Sie eben noch einmal ausdrücklich
gesagt.
({6})
Aber wenn man ganz genau hinschaut, dann sieht man,
dass Ihr Vorschlag doch dem Vater den Schwarzen Peter
zuschiebt.
({7})
- Doch! Ich führe das gerne aus. - Woran kann man das
erkennen? Wenn die Eltern sich nicht einigen, stellt das
Jugendamt nach SPD-Vorstellung einen Antrag beim Familiengericht. Das haben Sie eben auch gesagt.
Ich verstehe das Anliegen, dass Sie über das Jugendamt einen Anwalt der Interessen des Kindes installieren
wollen, sehr gut. Das bedeutet aber auch - das wird in
Ihrem Antrag allerdings an keiner Stelle erwähnt -, dass
die Mutter zu diesem Zeitpunkt weiterhin das alleinige
Sorgerecht hat.
({8})
- Doch! Selbstverständlich! Das ist dann immer noch
der Tatbestand. Die Mutter hat weiterhin das alleinige
Sorgerecht, und damit ist der Vater nicht auf Augenhöhe
mit der Mutter. In dem Fall kann man ganz klar sagen,
dass Ihr Vorschlag ist, dass der Vater via Jugendamt zum
Familiengericht gehen muss,
({9})
und das ist aus unserer Sicht natürlich nicht niedrigschwellig.
Darüber hinaus bleiben in Ihrem Vorschlag entscheidende Fragen ungeklärt. Das gilt beispielsweise für den
Zeitpunkt, zu dem das Jugendamt sich an das Familiengericht wendet. Auch der Entscheidungsmaßstab, den
ich eben noch einmal positiv hervorgehoben habe, wird
in Ihrem Antrag nicht genau bestimmt. Das sind für unsere Perspektive einfach zu viele offene Fragen.
({10})
Es ist aus unserer Sicht allerdings dringend notwendig, dass die Koalitionsfraktionen bzw. die Bundesregierung endlich einen Gesetzentwurf vorlegen und nicht
weiter auf ihrem Referentenentwurf herumreiten. Machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben, damit wir bei diesem wichtigen Thema wirklich zeitnah weiterkommen!
Vielen Dank.
({11})
Der Kollege Thomas Silberhorn hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben uns zuletzt am 2. März 2012 hier im
Plenum über das komplexe Thema Elterliche Sorge für
nicht verheiratete Eltern unterhalten. Zwischenzeitlich
liegt der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums vor, der eine, wie ich meine, überzeugende Regelung anbietet. Wir setzen die Vorgaben des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts um, die Rechte der Väter werden signifikant gestärkt, und wir bieten auch Verfahrenssicherheit
und einen ausgeglichenen Grundrechtsschutz.
Wie die Grünen auf die Idee kommen können, dass
wir von ihnen abgeschrieben hätten, ist mir völlig schleierhaft. Ich darf darauf hinweisen, zumal heute der Tag
des geistigen Eigentums ist, dass wir das Urheberrecht
für diesen Entwurf in Anspruch nehmen, und wir erbitten Respekt vor unserem geistigen Eigentum.
({0})
Dass es sich um einen Referentenentwurf und noch
nicht um einen Gesetzentwurf handelt, Frau Kollegin,
liegt schlichtweg daran, dass dieser Vorschlag mit den
betroffenen Verbänden noch erörtert wird und wir die
Gelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen.
({1})
Wir verzeichnen mit Interesse, dass sich selbst kritische
Väterverbände wie etwa „Väteraufbruch für Kinder“ zu
diesem Referentenentwurf überwiegend positiv geäußert
haben.
({2})
Der Vorwurf der Opposition, wir würden das Thema
verschleppen, geht ins Leere. In der Tat haben wir lange
diskutiert. Es war aber bei diesem schwierigen Thema
auch eine intensive Diskussion notwendig. Wir haben
die Zeit genutzt, um eine Lösung zu finden, die ausgewogen die Interessen aller Beteiligten in den Blick
nimmt. Dieser Vorwurf trägt auch deshalb nicht, weil Sie
in Ihren eigenen Anträgen ziemlich vage bleiben. Viele
Verfahrensfragen bleiben weiter offen. Wie steht es denn
zum Beispiel mit dem zeitlichen Ablauf bei einer Sorgerechtserklärung oder Vorlage beim Familiengericht? Wie
wollen Sie denn konkret erreichen, dass es im Streitfall
zu zügigen Entscheidungen kommen kann?
({3})
Dort, wo es konkret wird, bleiben Sie die Antworten
schuldig, und ich finde, das ist zumindest, seit der Referentenentwurf vorliegt, schlicht zu wenig.
Die SPD - das wurde angesprochen - konzentriert
sich weiterhin auf die Rolle des Jugendamtes: Sofern die
Eltern kein Einvernehmen über eine Sorgerechtserklärung erzielen und Vermittlungsversuche des Jugendamtes erfolglos bleiben, soll das Jugendamt eine eigene und
von den Erklärungen der Eltern unabhängige Bewertung
vornehmen und selbst den Fall dem Familiengericht vorlegen. - Das verstehen wir, offen gestanden, nicht.
({4})
Warum dieser völlig unnötige Automatismus in diesem
Verfahren, der den Eltern die Entscheidungsgewalt aus
der Hand nimmt?
({5})
Das birgt die Gefahr, dass damit eben nicht Rechtsfrieden geschaffen wird, sondern über die Köpfe der Betroffenen hinweg Entscheidungen gefällt werden.
Nach dem Antrag der Linken genügt für das gemeinsame Sorgerecht allein die Anerkennung der Vaterschaft,
verbunden mit der Willenserklärung des Vaters zur gemeinsamen Sorge. Diese Auffassung kann man ja vertreten, aber für den Streitfall, um den es hier geht, bieten
Sie nicht mehr an als ein Mediationsverfahren und den
Hinweis, dass im Übrigen der Rechtsweg offenstehe. Ja,
was denn nun? Damit ist doch den Eltern nicht geholfen!
({6})
So sehen wir betroffen: Vorhang zu und alle Fragen offen. Mehr kann ich zu Ihrem Entwurf nicht sagen.
Wir sind als Gesetzgeber in der Pflicht, einen angemessenen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen zu
finden, und wir sind uns in der Koalition einig, dass hier
nicht das Wohl der Mutter, auch nicht das des Vaters,
sondern das Wohl des Kindes im Mittelpunkt steht. Das
ist Dreh- und Angelpunkt. Wir müssen uns daran orientieren, was für das Kind das Beste ist. Dabei ist unser
Leitbild von zentraler Bedeutung, dass ein Kind Mutter
und Vater braucht. Die Entwicklung des Kindes wird im
Idealfall durch beide Elternteile geprägt. Das hat Auswirkungen auf unseren Gesetzentwurf und findet seinen
Ausdruck im Wechsel der Beweislast, wenn ich es so
formulieren darf, den ich für wegweisend halte.
Künftig muss eben nicht mehr dargelegt werden, weshalb die gemeinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl
entspricht, sondern wir gehen als Regelfall davon aus,
dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl entspricht.
Der Vater oder auch die Mutter erhalten das Sorgerecht
nur dann nicht, wenn das dem Kindeswohl widerspricht.
Wenn also keine Gründe für eine Gefährdung des Kindeswohls bestehen, dann wird das Familiengericht den
Eltern das gemeinsame Sorgerecht zusprechen. Wir nehmen hier an einem ganz wichtigen und entscheidenden
Punkt eine Änderung vor, die das Wohl des Kindes in
den Mittelpunkt stellt und keinen Elternteil benachteiligt.
Zur Klärung der elterlichen Sorge sehen wir ein gestuftes Verfahren vor. Die Mutter erhält zunächst als
engste Bezugsperson nach der Geburt des Kindes das alleinige Sorgerecht. Natürlich haben die Eltern Gelegenheit, eine übereinstimmende Sorgeerklärung abzugeben.
Es ist erfreulich, dass immer mehr Eltern von dieser
Möglichkeit Gebrauch machen. Von meinen Vorrednern
ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Möglichkeiten der Konsensbildung ausgeschöpft werden
sollten.
Wir müssen aber schlussendlich im Gesetz eine Antwort darauf finden, was passiert, wenn keine übereinstimmende Sorgeerklärung abgegeben wird. Diesen
Streitfall müssen wir regeln.
({7})
Dafür stellen wir dem Vater zwei Handlungsalternativen
zur Verfügung:
Er kann zunächst selbst eine Sorgeerklärung beim Jugendamt in der Hoffnung abgeben, dass die Mutter der
gemeinsamen Sorge zustimmen wird.
Er kann aber auch ohne Umweg über das Jugendamt
direkt das Familiengericht anrufen. Ich denke, dieser
Weg stellt eine wichtige Möglichkeit bei von Anfang
an konfliktbehafteten Sorgerechtsstreitigkeiten zwischen
Vater und Mutter dar, um eine Entscheidung über das
Sorgerecht schnell und effizient herbeizuführen.
Schweigt die Mutter im gerichtlichen Verfahren oder
trägt sie keine Gründe vor, die gegen die gemeinsame
Sorge sprechen, und sind dem Gericht solche Gründe anderweitig nicht ersichtlich, dann soll die Entscheidung
unter Anwendung der gesetzlichen Vermutung ergehen,
dass die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl nicht widerspricht. Das Ganze soll in einem vereinfachten Verfahren geschehen, also durch schriftliche Entscheidung
und ohne persönliche Anhörung der Eltern. Das gewährleistet eine zügige Entscheidung ohne umfassende und
langwierige gerichtliche Prüfung. Die Mutter kann, anders als bisher, durch bloßes Schweigen die gemeinsame
Sorge nicht mehr verhindern oder hinauszögern. Ihr
bleibt natürlich die Möglichkeit, sich zum Sachverhalt
zu äußern und Gründe, die das Kindeswohl gefährden
könnten, vorzutragen. Das Gericht muss dieses dann entsprechend würdigen. Wir setzen der Mutter aber eine Erklärungsfrist, damit in diesem Fall zügig eine Entscheidung herbeigeführt werden kann.
Der Mechanismus unseres Verfahrens wird daran
deutlich. Wir vermeiden einen häufigen Wechsel beim
Streit um das Sorgerecht. Wir geben der Mutter von Beginn an das alleinige Sorgerecht. Wir ermöglichen es
aber dem Vater, zu einer zügigen und klärenden Entscheidung über das Sorgerecht zu kommen. Das Ganze
geschieht mit einem Wechsel der Beweislast; dabei steht
das Kindeswohl im Mittelpunkt, denn im Regelfall entspricht die gemeinsame Sorge dem Kindeswohl.
Das ist in dieser schwierigen und oft hochemotional
geführten Diskussion ein Ergebnis, das aus der Perspektive aller Beteiligten tragfähig, ausgeglichen und praktikabel ist. Der Entwurf bietet eine Regelung, die für das
gemeinsame Sorgerecht nicht verheirateter Eltern effiziente Verfahren sowie faire und vernünftige Lösungen
bietet. Wir hoffen auf eine breite Zustimmung
({8})
und sind zuversichtlich, dass wir im Anschluss an die
Beratungen mit den Verbänden einen Gesetzentwurf vorlegen und zügig verabschieden können, der dieses
Thema im Interesse unserer Kinder zufriedenstellend
löst.
Vielen Dank.
({9})
Jetzt spricht Caren Marks für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Silberhorn, Sie
haben gerade deutlich gemacht, dass es sich bei dem Ansatz von Union und FDP um eine Mogelpackung handelt. Es geht eben nicht darum, die Rechte der Väter zu
stärken. Die Väter sind wieder diejenigen, die vor Gericht gehen müssen, wenn es nicht zum Einvernehmen
kommt. Das ist unseres Erachtens der falsche Weg und
stärkt nicht die Rolle der Väter.
({0})
Während die Bundesregierung den Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes zur Neuregelung der elterlichen
Sorge bei Unverheirateten bisher nicht umgesetzt hat,
sind SPD, Grüne und auch Linke schon einen Schritt
weiter. Meine Fraktionskollegin Christine Lambrecht hat
bereits Details zu unserem Antrag ausgeführt. Dieser
Antrag bietet Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen
der Regierungskoalition, eine Lösung an. Wir machen
hier konkrete Vorschläge, wie dem Richterspruch aus
dem Jahr 2010 nun endlich Taten folgen können. Nach
monatelangem Nichtstun, Hände-in-den-Schoß-Legen
und vor allem - das ist nichts Neues, egal bei welchem
Thema - Streitigkeiten in der Regierungskoalition gibt
es mittlerweile, man glaubt es kaum, immerhin einen
Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium.
Darüber werden wir, so er denn wirklich eingebracht
wird, zu gegebener Zeit debattieren.
Ziel der parlamentarischen Beratung muss es sein, zu
einer guten Regelung im Interesse der betroffenen Eltern, vor allem aber - und das ist das Wichtigste - im Interesse der Kinder zu kommen.
({1})
Ich hoffe - jedenfalls konnte man das bei allen Rednerinnen und Rednern grundsätzlich heraushören -, dass
allen, also auch den Koalitionsfraktionen und der
schwarz-gelben Bundesregierung, daran gelegen ist und
dass sich der eine oder andere Punkt im Verlaufe der
weiteren Beratungen einspeisen lässt.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
klargestellt, dass die gemeinsame elterliche Sorge grundsätzlich den Bedürfnissen des Kindes nach Beziehungen
zu beiden Elternteilen entspricht. Eine Neuregelung
muss sich also zwingend - ich sage: völlig zu Recht und zuallererst am Kindeswohl ausrichten. Denn Kinder
fragen nicht danach, wann und wie sie gezeugt wurden,
und erst recht nicht, ob mit oder ohne Trauschein. Kinder brauchen einfach beide Eltern, und sie haben ein
Recht auf beide Eltern.
Ich will nicht bestreiten, dass Gründe des Kindeswohls auch gegen ein gemeinsames Sorgerecht sprechen
können, etwa eine fehlende Kooperationsbereitschaft
unter den Eltern. Aber Ausnahmen dürfen nicht die Regel bestimmen. Die Regel sollte sein, dass sich beide Elternteile ihrer Pflicht zur Übernahme der elterlichen Verantwortung und Sorge bewusst sind, und zwar im
Interesse des Kindes.
Ich bin sicher, dass Überlegungen von Müttern
- diese gibt es durchaus -, für den sogenannten Notfall
der Trennung lieber die alleinige Sorge behalten zu wollen, genauso der Vergangenheit angehören werden wie
die Situation, dass Vätern der einfache Rückzug aus ihrer Verantwortung ermöglicht wird. Beides ist falsch.
({2})
Der Weg zur gemeinsamen Verantwortungsübernahme sollte unverheirateten Eltern so einfach wie möglich gestaltet werden: keine großen Antragsnotwendigkeiten, keine wie auch immer erforderlichen Verfahren,
die Zeitdruck durch Fristen erzeugen, und keine anderen
denkbaren Maßnahmen. Das Verfahren sollte einfach
einfach sein.
Das Ziel der SPD-Fraktion ist es, dass der Gesetzgeber die Verantwortung beider Eltern entsprechend bekräftigt. Die Kinder jedenfalls werden davon profitieren.
Staatliche Stellen wie das Standesamt oder auch das Jugendamt können die Eltern hier entsprechend unterstützen. Sie können von Anfang an gezielt helfen, nach Lösungen zu suchen und damit Konflikte zwischen Eltern
vielleicht gar nicht erst entstehen zu lassen.
({3})
Die gemeinsame elterliche Sorge nicht miteinander
Verheirateter sollte immer mehr genauso selbstverständlich sein wie die gemeinsame Sorge von Ehepaaren. Das
spiegelt dann auch die Lebenswirklichkeit in unserem
Land wider - eine Wirklichkeit, die durch die Zunahme
der Zahl von Eltern ohne Trauschein geprägt ist.
Es muss Schluss damit sein, dass Kinder in unserer
Gesellschaft benachteiligt werden, wenn ihre Eltern
nicht miteinander verheiratet sind. Diese Ungleichbehandlung ändern wir mit unserem Antrag. Dabei stärken
wir die Vorrangstellung der Kinder, und das ist richtig
und notwendig.
({4})
Wir wollen damit das Kindeswohl nicht nur in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, sondern dafür auch
nach einer wirklichen Lösung suchen.
Die SPD versteht unter einer modernen Familienpolitik auch immer die Gleichstellung von Männern und
Frauen. Dies ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit,
auch beim Sorgerecht. Gemeinsame Sorgeverantwortung stärkt die Partnerschaftlichkeit und Chancengerechtigkeit und trägt der veränderten Lebenswirklichkeit in
unserem Land, nämlich der Zunahme der Zahl von unverheirateten Paaren, wirklich Rechnung.
Frau Kollegin.
Denn gemeinsam machen Eltern Kinder stark. Das
sollte im Interesse des gesamten Parlamentes sein.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8601 und 17/9402 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin20702
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
den. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen ({0}) von 1982 und der Resolutionen
1814 ({1}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({2})
vom 2. Juni 2008, 1838 ({3}) vom 7. Oktober
2008, 1846 ({4}) vom 2. Dezember 2008, 1851
({5}) vom 16. Dezember 2008, 1897 ({6})
vom 30. November 2009, 1950 ({7}) vom
23. November 2010, 2020 ({8}) vom 22. November 2011 und nachfolgender Resolutionen
des Sicherheitsrates der VN in Verbindung mit
der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des
Rates der Europäischen Union ({9}) vom
10. November 2008, dem Beschluss 2009/907/
GASP des Rates der EU vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der EU vom 30. Juli 2010, dem Beschluss 2010/
766/GASP des Rates der EU vom 7. Dezember
2010 und dem Beschluss 2012/174/GASP des
Rates der EU vom 23. März 2012
- Drucksache 17/9339 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Vorgesehen ist es, hierzu eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. - Auch dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das ebenfalls beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Dr. Rainer
Stinner hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort.
({11})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Mandat für die Antipiraterieoperation Atalanta ist
von all den Mandaten, die wir hier im Deutschen Bundestag verabschieden, das mit Abstand in der Bevölkerung populärste Mandat. Es ist verständlich, dass wir als
Staat nicht zulassen wollen und können, dass böse Buben zur See unsere Schiffe angreifen, kapern, Geiseln
nehmen und für ihre Freilassung Geld verlangen. Das
versteht jeder im Lande, jeder auf den Bühnen und jeder
hier im Deutschen Bundestag.
({0})
Es gibt ein jahrtausendealtes Seegewohnheitsrecht
und ein langjähriges Seevertragsrecht, das uns ermächtigt, gegen Piraten vorzugehen. Genau das tun wir. Die
Mär, die anfangs gestreut worden ist, es handele sich bei
den Piraten um arme Fischer, denen die Ernährungsgrundlage entzogen worden ist, hat sich mittlerweile
wirklich als Mär erwiesen. Spätestens jetzt, wo die
Fischbestände aufgrund der Piraterie wieder deutlich angewachsen sind, könnten diese armen Piraten wieder
Fischer werden. Das tun sie natürlich nicht. Denn hinter
der Piraterie steckt mittlerweile ein voll durchorganisiertes kriminelles Netzwerk, eine kriminelle Organisation,
die wir bekämpfen müssen und wollen.
({1})
Seit 2008 hat der Bundestag entsprechende Mandate
verabschiedet und damit die Bundeswehr ermächtigt,
sich im Rahmen einer europäischen Mission an der Bekämpfung der Piraterie zu beteiligen. Ich habe anfangs
kritisiert, dass die Bundeswehr nach meinem Dafürhalten die Ermächtigung, die wir ihr gegeben haben, nicht
vollumfänglich ausgenutzt hat; man hätte mehr machen
können. Ich bin sehr erfreut, festzustellen, dass es im
letzten Jahr auf europäischer Ebene eine Änderung des
Operationsplans gegeben hat und deshalb die Soldaten
aller beteiligten europäischen Staaten, auch unsere Soldaten, noch energischer gegen Piraten vorgehen können;
das ist richtig und wichtig.
({2})
Es gibt im Kampf gegen Piraterie natürlich Fortschritte. Die Zahl der erfolgreichen Kaperungen ist dramatisch gesunken. Ich gestehe zu bzw. erkläre: Das ist
zum großen Teil deswegen der Fall, weil die Schiffe zunehmend von bewaffneten Personen begleitet werden,
die Piratenangriffe abwehren. Die Zahl der erfolgreichen
Kaperungen ist zwar gesunken - das ist ein Erfolg -;
aber das Problem ist noch längst nicht gelöst.
Nun haben wir durch unsere Aufklärung entdeckt,
dass am Strand Boote liegen, zum Teil über Tage und
Wochen hinweg, die genutzt werden, um Piratenakte zu
begehen. Es ist für uns nicht plausibel, dass wir bei Hunderten von Schiffen, die in diesen Gewässern fahren, mit
großem Aufwand versuchen, auf See irgendetwas zu regeln und zu identifizieren, wer der Böse und wer der
Gute ist, wenn wir gleichzeitig sehen, dass sich die Piraten an Land vorbereiten und an Land liegende Boote einsetzen. Deshalb gibt es den Wunsch, dieses Mandat zu
erweitern.
Keiner von uns gibt sich Illusionen hin: Das ist nicht
der große Wurf, der die Welt total verändert. Nein, es ist
eine sinnvolle Ergänzung, weil wir gesehen haben: Da
liegt Material an Land. Wenn es uns gelingt, dieses Material unbrauchbar zu machen, dann erschweren wir es
den Piraten nachhaltig - wir beseitigen damit die Piraterie nicht -, ihrer „Arbeit“ nachzugehen. Deshalb ist eine
entsprechende Ergänzung dieses Mandates wichtig.
({3})
Der Mandatstext, den Sie alle vorliegen haben, enthält zwei geringfügige Erweiterungen. Unter Nr. 2 wird
erstens darauf hingewiesen, dass der Auftrag für die
Küste und für innere Gewässer gilt. Zweitens wird das
Einsatzgebiet zur Piratenverfolgung neu definiert, und
zwar von der Küste 2 000 Meter ins Landesinnere.
Wir haben im Rahmen der Diskussionen, die zu diesem Mandatsantrag geführt haben, Gespräche mit der
Bundesregierung geführt, in denen wir einige Bedingungen gestellt haben.
Erstens. Es darf unter keinen Umständen um Gefechte
mit Piraten gehen. Es soll also keine Kampfhandlungen
an der Küste geben. Vielmehr geht es um die Logistik,
also beispielsweise um Boote, die unbewacht und ohne
Personal am Strand liegen und unbrauchbar gemacht
werden sollen.
Zweitens. Wir haben gefordert: Keine Soldaten an
Land. Der Fachterminus ist: No boots on the ground.
Auf unsere Nachfrage, ob Flossen auch Boots sind,
wurde gesagt: Jawohl, Flossen sind auch Boots. - Das
heißt: Kein deutscher Soldat betritt somalischen Boden.
Das ist uns zugesagt worden. Es steht auch im Mandatstext eindeutig drin.
Drittens. Wir wollen die Sicherheit der Soldaten gewährleisten, das heißt, dass unseren Hubschrauberbesatzungen, die die Mission ausführen, in dem Fall, dass ihnen doch etwas passieren sollte, geholfen wird. Auch das
ist uns zugesagt worden.
Letztlich haben wir erwartet, dass die Bundesregierung ein offenes, klares und transparentes Mandat vorlegt. Wir Abgeordnete wollen nicht, dass wir aufgrund
von Geheimhaltungspflichten in Bezug auf den Operationsplan gezwungen sind, unsere Soldaten irgendwo anders hinzuschicken. Deshalb hat die Bundesregierung zu
Recht für deutsche Soldaten das Einsatzgebiet auf eine
Breite von 2 000 Metern beschränkt. Das Mandat ist offen, es ist transparent, und es ist richtig.
({4})
Wir alle aber wissen, dass auch in diesem Falle gilt,
was überall gilt: Militär löst das Problem nicht. Deshalb
ist es so wichtig, dass wir weitergehende einschneidende
Maßnahmen vornehmen. Das ist der Fall. Deutschland
beteiligt sich an weitreichenden nichtmilitärischen Maßnahmen. Wir haben eine Kooperation mit der Übergangsregierung in Somalia. Wir haben am 11. November
2011 den strategischen Rahmen für das Horn von Afrika
verabschiedet. Wir haben aktiv teilgenommen an der Somalia-Konferenz vom 23. Februar dieses Jahres in London. Wir leisten erhebliche humanitäre Hilfe in Somalia.
Wir unterstützen die Mission der Afrikanischen Union.
Wir ermöglichen im Rahmen einer Kooperation mit
UNODC die Ausbildung im Polizei-, Gerichts- und Gefängniswesen in Puntland und Somaliland.
Herr Kollege Stinner, Frau Buchholz würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich möchte Ihnen die
Möglichkeit geben, diese zuzulassen, bevor die Zeit abgelaufen ist.
Frau Buchholz? Bitte schön, gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Stinner. - Sie haben gesagt: Alles ist transparent, alles ist offen. Können Sie mir
bestätigen, dass im Operationsplan, der in der Geheimschutzstelle liegt und damit nicht allen Abgeordneten zugänglich ist, tatsächlich ausgeschlossen ist, dass es das
Ziel der Operation sein könnte, dass auch Personen zu
Schaden kommen?
({0})
Die Frage habe ich nicht verstanden.
({0})
Dann werde ich sie gerne noch einmal formulieren:
Der Operationsplan liegt in der Geheimschutzstelle aus
und ist somit der geneigten Öffentlichkeit nicht zugänglich. Damit alle wissen, worüber sie in der nächsten Sitzungswoche abstimmen müssen, wollte ich Sie fragen, ob
im Operationsplan, den Sie bestimmt kennen, ausgeschlossen ist, dass sich die Operation auch gegen Personen richtet. Ist es eventuell doch möglich - wir wissen es
nicht -, dass er sich vielleicht auch gegen Personen - konkret: gegen Piraten - richten soll?
Das Mandat, das wir heute verabschieden, ist klar und
eindeutig. Der Auftrag ist klar und eindeutig definiert,
und aus diesem Auftrag geht klar und eindeutig hervor,
was die Aufgabe der Bundeswehr ist. Daran wird sich
die Bundeswehr halten.
({0})
Es gibt einen Punkt, den wir bisher noch nicht ausführlich genug betrachtet haben: das systematische Aufspüren und Verfolgen von Hintermännern der Piraterie,
({1})
und zwar nicht nur unmittelbar in Somalia, sondern auch
in angrenzenden Ländern. Ich weiß, dass die Bundesregierung hier schon einiges macht, aber ich fordere sie
trotzdem auf, ihre Bemühungen in diesem Bereich noch
zu intensivieren; denn erst in den letzten Monaten sind
im Rahmen einer Combined-Joint-Task-Force-Organisation mit den Holländern einige wichtige Schritte unternommen worden. Das war zu spät, aber immerhin ist
dort etwas gemacht worden.
Wir fordern Sie auf, hier mehr zu machen; denn wir
alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, wissen: Wenn es
uns nicht gelingt, das kriminelle Netzwerk zu zerschlagen
und dafür zu sorgen, dass Piraterie kein Geschäft mehr ist,
werden wir langfristig - da können wir an Land und auf
See noch so effizient gegen die Piraterie arbeiten - nicht
erfolgreich sein. Deshalb ist das auch hier in diesem Fall
der Hebel für den Erfolg. Ein weiteres Mal geht es nicht
um Militär, sondern um andere Dinge, die wir machen
müssen; aber das Militär liefert einen sinnvollen und wertvollen Beitrag. Das unterstützen wir. Wir fordern auch Sie
auf, dem zuzustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Es spricht der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor fünf Monaten, am 23. November letzten Jahres, erklärte der Außenminister an diesem Pult:
Die Pirateriebekämpfung vor dem Horn von Afrika
durch Atalanta ist nicht nur breit in diesem Hause
getragen, sondern sie ist auch erfolgreich.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dieser Satz illustriert sehr gut, um was es heute geht und
was Sie ohne Not vorhaben. Sie provozieren mit einem
erweiterten Auftrag neue zusätzliche Risiken und verwirken zugleich eine breite Mehrheit in diesem Hause.
({0})
Ich finde, das, was Sie an dieser Stelle heute erläutert
haben, ist es nicht wert, auf diese breite Mehrheit zu
verzichten.
Herr Kollege Stinner, mit Verlaub: Ich weiß nicht, ob
Sie allein mithilfe der Aufklärung zu der Erkenntnis
gekommen sind, dass es am Strand Boote gibt, die von
Piraten genutzt werden. Selbst mir als Kölner fällt es
leicht, mir vorzustellen, dass das eine oder andere Boot
den Strand erreicht, was von Piraten genutzt wird.
Man hat bei Ihrer Argumentation gemerkt, wie unangenehm Ihnen dieser Punkt ist. Der entscheidende Punkt,
den Sie hier eben nicht erwähnt haben, ist aber: Die
Atalanta-Operation, die im Deutschen Bundestag immer
breit getragen wurde, hat immer mehr eine abschreckende Wirkung entfaltet. Alle Hilfskonvois des Welternährungsprogramms haben Somalia erreicht, weil sie
militärisch geschützt wurden, woran sich auch die Bundeswehr beteiligt hat. Die Schiffe, die sich Konvois angeschlossen haben, sind sicher durch die Gewässer
gefahren. Auch die Schiffe, die eigene Sicherheitsmaßnahmen ergriffen und erfahrene Besatzungsmitglieder,
die gut bezahlt wurden, eingesetzt haben, sind sicher
durch die Gewässer gekommen.
Es ist Ihnen nach dem Fazit, das man in Bezug auf
Atalanta ziehen kann, überhaupt nicht gelungen, deutlich
zu machen, warum Sie jetzt plötzlich - fünf Monate
nachdem wir ein erfolgreiches Mandat beschlossen hatten - schon wieder eine Änderung erreichen wollen. Ich
finde das weder argumentativ richtig hergeleitet noch
politisch angemessen.
({1})
Die entscheidende Frage an dieser Stelle wäre doch
gewesen: Müssen wir nicht in stärkerem Maße mit den
Reedern - sie haben teilweise eine Ausflaggung vorgenommen und bezahlen keine Steuern mehr an den Staat,
von dem sie verlangen, etwas für ihre Sicherheit zu tun darüber sprechen, dass sie beachten müssen, dass es sich
um gefährliche Gewässer handelt? Auch sie müssen zur
Kenntnis nehmen, dass ihnen militärische Maßnahmen
zur Verfügung stehen, damit sie - das war auch Ihr Fazit geschützt durch diese Gewässer kommen.
Ich finde, man sollte doch bemerken - darauf haben
auch Sie zu Recht während Ihrer Rede hingewiesen -,
dass die Anzahl der Piratenangriffe auf diese Schiffe zurückgegangen ist. Es gibt also ein erfolgreiches Mandat,
aber Sie bereiten hier im Bundestag den Weg für ein
neues Mandat. Wir sind in den bisherigen Beratungen
eben nicht überzeugt worden, dass es sinnvoll ist, diesem
neuen Mandat zuzustimmen. Das finde ich sehr leichtfertig. Diesen Vorwurf muss ich der Regierungskoalition
machen.
({2})
Ich will Sie daran erinnern: Der SPD-Fraktion wird
vorgeworfen, dass sie sich hier sozusagen aus der Verantwortung stiehlt.
({3})
Bisher haben wir als SPD-Bundestagsfraktion - das galt
auch für die letzte Abstimmung - diesem Mandat ohne
Gegenstimme immer zugestimmt. Es gab doch im
Grunde genommen Konsens in diesem Hohen Haus;
denn auch wir sind der Meinung gewesen, dass das
Atalanta-Mandat richtig ist. Wenn Sie jetzt sagen, wir
würden das alles wegen der Landtagswahlen machen,
dann fällt das auf Sie zurück. Bei der Erteilung militärischer Mandate haben wir Ihre Art zu denken in einem
ähnlichen Zusammenhang schon zweimal erlebt. Sie
hätten den Antrag zur Verlängerung des Mandats ja erst
nach den Landtagswahlen einbringen können. Das lag
doch in Ihren Händen.
({4})
Ich offeriere Ihnen an dieser Stelle ein Angebot: Stellen Sie das Mandant nicht in der nächsten Sitzungswoche zur Abstimmung, sondern erst nach den Landtagswahlen. Dennoch würden wir unsere Kritik, die wir
bereits formuliert haben - wir werden den Antrag auch
in den Ausschüssen kritisch hinterfragen -, weiterhin
aufrechterhalten.
Möchten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Stinner
zulassen?
Ja, bitte.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Mützenich. Erstens. Ich
habe Ihre Fraktion in meiner Rede bewusst nicht angesprochen, weil ich keine Schärfe und keine parteipolitische Konfrontation in die Debatte bringen wollte.
({0})
Zweitens. Ich habe in meiner Rede mit keinem Wort die
Landtagswahlen erwähnt. Die Landtagswahlen sprechen Sie in dieser Debatte als Erster an. Das ist sehr interessant.
Sehr geehrter Herr Mützenich, Sie haben angedeutet,
dass Sie den Antrag ablehnen werden. Ich glaube noch
nicht daran, dass Sie ihn ablehnen werden; aber wir werden es ja sehen. Schauen wir einmal, wie Sie sich nachher entscheiden werden. Ich möchte Ihnen Folgendes
vorschlagen: Nachdem Sie den Antrag abgelehnt haben,
was Sie hier angedeutet haben, gehen wir gemeinsam zu
den Reedern und zu deutschen Industrieunternehmen.
Dann können Sie denen erklären, warum die sozialdemokratische Partei nicht mehr bereit ist, an der Pirateriebekämpfung teilzunehmen. Dann können Sie denen sagen, dass Ihnen eine gewisse Ergänzung und
Erweiterung des Mandates nicht passt. Auf die Debatte,
lieber Herr Mützenich, freue ich mich außerordentlich.
({1})
Ein letzter Punkt - jetzt wird es ganz merkwürdig -:
Herr Mützenich, Sie haben vorgeschlagen, dass wir über
den Antrag nicht in der nächsten Woche, sondern erst
nach den Landtagswahlen abstimmen. Ich habe noch
sehr gut im Ohr, was Sie, lieber Herr Kollege Mützenich,
vor 14 Tagen oder drei Wochen gesagt haben. Sie haben
genau das Gegenteil gesagt.
({2})
Als die Obleute darüber gesprochen haben, wann der
Antrag zur Verlängerung des Mandats eingebracht wird,
haben wir zu bedenken gegeben, dass der Außenminister
an der Debatte vielleicht nicht teilnehmen kann, wenn
sie am heutigen Tag stattfindet. Damals ist von Ihrer
Seite gesagt worden: Warum? Wir erwarten, dass ihr die
Sache möglichst schnell voranbringt. - Heute stellt sich
derselbe Herr Mützenich hier hin und sagt: Nein, wir
können die Abstimmung auch verschieben.
Liebe Kollegen von der sozialdemokratischen Partei,
ich bin sehr gespannt auf Ihren Meinungsbildungsprozess. Herr Steinmeier wird sich dazu sicherlich auch einlassen. Falls Sie ablehnen, was ich nicht glaube - wir
werden es ja sehen -, werden Sie mit uns zu den Reedern
und den deutschen Industrieunternehmen gehen und
denen erklären, warum Sie sich von dem Solidaritätsprinzip und der Bekämpfung der Piraterie verabschieden. Dabei wünsche ich Ihnen viel Glück.
({3})
Ich nehme das gerne auf, Kollege Stinner. - Frau
Präsidentin, wenn ich genauso lange antworten darf, wie
der Herr Kollege Stinner gefragt hat, wird mir das bei
meiner Argumentation entgegenkommen.
Ich möchte Ihnen erstens Folgendes sagen: Nicht die
Obleute bringen einen Antrag zur Verlängerung eines
Mandats ein, sondern die Bundesregierung. Die Bundesregierung hat diesen Antrag in dieser Sitzungswoche
eingebracht, und wir unterhalten uns darüber. Wir diskutieren und wägen ab. Ich finde, das sollten Sie beachten.
Dass der Bundesaußenminister heute nicht anwesend ist,
habe ich gar nicht kritisiert. Ich habe genau darauf
geachtet, das nicht zu tun. Wenn Sie der Meinung sind,
dieses Mandat hier auf diese Weise begründen zu müssen, dann können Sie das tun.
Zweitens. Es geht doch überhaupt nicht darum, wer
wo mit wem gesprochen hat, wer zum Beispiel mit
Reedern gesprochen hat. Natürlich sprechen wir mit
Reedern. Wir bringen in dieser Woche einen Antrag ein,
der von vielen Politikern aus dem Norden, aber auch von
Innenpolitikern und Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses erarbeitet wurde und der deutlich macht, dass
wir wollen, dass die Reeder eigene Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, und zwar aufgrund der Erfahrungen, die
mit Atalanta gesammelt wurden. Deswegen verfolge ich
diese Diskussion mit großem Interesse.
Der entscheidende Punkt ist aber ein anderer - auf
diesen Punkt sind Sie nicht eingegangen -: Atalanta hat
eine abschreckende Wirkung. Das Atalanta-Mandat birgt
aber auch - das wurde in den vergangenen Jahren immer
wieder deutlich - zusätzliche Risiken. Es stellen sich
daher eine Menge Fragen.
({0})
Es ist interessant, Herr Kollege Stinner, dass Sie weder in Ihrer Frage noch in Ihrer Rede darauf eingegangen
sind, dass die anderen beteiligten internationalen Organisationen wie zum Beispiel die NATO oder einzelne Nationen, die auch die Piraterie bekämpfen, nicht an Land
gehen. Die NATO hat ausdrücklich gesagt: Wir wollen
die Pirateriebekämpfung auf See. Wenn Sie so felsenfest
hinter diesem Mandat stehen, wie Sie behauptet haben,
hätten Sie hier einmal erklären sollen, warum die EU
und insbesondere die Bundesregierung dazu eine vollkommen unterschiedliche Auffassung haben. Das gehört, glaube ich, zu einer redlichen Diskussion dazu. Sie
machen aus einem Mandat, das sich in den letzten Jahren
erfolgreich entwickelt hat, etwas, das wir nicht mittragen
können.
({1})
Das habe ich Ihnen jetzt deutlich gemacht. Wir werden
Ihnen das auch in den Ausschussberatungen noch einmal
vor Augen führen.
In der Tat, Kollege Stinner, Sie haben die Bundesregierung aufgefordert - das unterstütze ich -, mehr in den
anderen Bereichen zu tun; das würde die Operation
Atalanta noch erfolgreicher machen. Sie haben darauf
hingewiesen, dass zwar auf der einen Seite die Zahl der
Piraterieangriffe zurückgegangen ist, aber auf der anderen Seite die Höhe der Lösegeldzahlungen, die für entführte Schiffe geleistet worden sind, angestiegen ist. Nur
ganz wenig von diesem Geld ist nach Somalia geflossen;
es geht an die Hintermänner. Ich bin Ihnen dankbar, dass
Sie die Bundesregierung auffordern - Sie können in dieser Hinsicht viel mehr erreichen als die Opposition -,
hier mehr zu tun.
({2})
Es ist ein Versäumnis der Bundesregierung, dass in den
letzten Jahren zu wenig im regionalen Umfeld und insbesondere bei der Bekämpfung der Kriminalität getan
wurde.
({3})
Noch etwas kann ich Ihnen, meine Damen und Herren
von der Bundesregierung, nicht ersparen. Sie haben über
die Obleutegespräche berichtet. In den Telefonaten, die
die Obleute geführt haben, wurden von uns bezüglich
der Entwicklung des Mandates sehr kritische Fragen gestellt.
({4})
Ich kann mich daran erinnern, dass einzelne Kollegen
nach den Grenzen dieses Mandats in Somalia gefragt haben. Darauf wurde vonseiten der Bundesregierung geantwortet: Das können wir nicht sagen, weil es der Geheimhaltung unterliegt. - Das hatten wir zu dem
Zeitpunkt akzeptiert. Wir akzeptieren aber nicht, dass
Sie ausgewählte Medien hier in Deutschland noch vor
dem Parlament darüber informieren, dass es eine 2-Kilometer-Zone an der Küste geben soll, in der die Bekämpfung erfolgen kann. Dieses Vorgehen stellt eine Missachtung des Parlaments dar; dieser Umgang mit dem
Mandat ist so nicht in Ordnung.
({5})
Trotz zahlreicher Bedenken auch in Ihren Reihen
- diese wurden in Ihrer Rede deutlich - hatten Sie nicht
den Mut, den Strategiewechsel zu verhindern. Versäumnisse und Fehler haben Ihnen die Souveränität und die
Bewegungsfreiheit genommen. Sie haben den Kompromiss einer berechenbaren und angemessenen Außenund Sicherheitspolitik leichtfertig über Bord geworfen.
Mit dieser Situation werden Sie leben müssen, wenn in
der nächsten Sitzungswoche über die Verlängerung des
Mandats abgestimmt wird.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort für die Bundesregierung hat Dr. Thomas de
Maizière.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Mützenich hat daran erinnert: Vor fünf Monaten
haben wir gemeinsam über das Mandat zur Operation
Atalanta beraten. Wir haben es gemeinsam erarbeitet,
darüber entschieden und es verantwortet. Auch jetzt geht
es wieder darum, ein Stück Verantwortung zu übernehmen. Ich begründe den Antrag heute - Sie haben
darauf hingewiesen - auch im Namen meines Kollegen
Westerwelle, der im Ausland ist. Er wird in der zweiten
und dritten Lesung sprechen. Das ist, glaube ich, in
Ordnung.
Wir wollten unseren Beitrag dazu leisten, die Schiffe
der Welthungerhilfe sicher nach Somalia zu bringen. Das
ist gelungen. Wir wollten dazu beitragen, dass der für die
zivile Seefahrt wichtige Golf von Aden sicher bleibt.
Davon ist vieles gelungen. Wir waren davon überzeugt,
dass das Mandat unserer internationalen Verantwortung
entspricht, und wir sind es auch für die Zukunft.
Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben
ihren Auftrag für uns hervorragend erfüllt und zum großen Erfolg der Mission beigetragen.
({0})
Dieser Erfolg war nur möglich, weil wir von Zeit zu Zeit
die Mittel und den Umfang des Einsatzes angepasst haben. Das ist, ehrlich gesagt, das Normalste von der Welt.
Wir haben das auch letzten Sommer getan; Herr Stinner
hat darauf hingewiesen. Wir haben das Mandat robuster
gemacht, was Zustimmung gefunden hatte. Auch das
hatte Erfolg. Dabei ist es übrigens nie zu einer Eskalation gekommen, wie manche prophezeit hatten. Das
Vorgehen war geeignet und verhältnismäßig. Es ist auch
immer so gehandhabt worden.
Diesem Anspruch wollen wir auch jetzt Rechnung
tragen, wenn es um die Einbeziehung der Küstenstreifen
geht. Es handelt sich um eine kleine Ausweitung, eine
kleine sinnvolle zusätzliche militärische Option - so
habe ich es in Brüssel bezeichnet -, um die Nachhaltigkeit des Einsatzes unserer Streitkräfte zu erhöhen. Ich
sage Ihnen: Eine Option mehr ist besser als eine Option
weniger. So einfach ist das.
({1})
Interessanterweise sehen das alle Mitgliedstaaten der
Europäischen Union genauso, egal wie sie regiert werden; sonst wäre es nämlich nicht zu einem solchen Ratsbeschluss gekommen. Von daher muss sich jeder hier im
Hause überlegen, ob er klüger ist als 26 oder 27 Regierungen in Europa.
({2})
- Okay. Sie können auf dieses Argument gerne zurückkommen. Da Sie jetzt wahrscheinlich auf die Finanzkrise anspielen, will ich es etwas anders sagen: Herr
Mützenich, wenn wir uns so verhalten wie die anderen
27 Staaten,
({3})
dann können Sie nicht sagen, wir würden den Konsens
brechen. Vielmehr müssen Sie sich dann überlegen, wer
den Konsens bricht, falls Sie das tun wollen.
({4})
Wahr ist: Wir sollten nicht davon reden, dass es hier
eine neue Qualität und Intensität gibt.
({5})
Ob man ein Schiff auf dem Wasser, am Ufer oder am
Strand bekämpft, ist qualitativ das Gleiche; da sehe ich
keinen großen Unterschied.
Herr Minister de Maizière?
Sofort. Ich lasse die Frage gleich gerne zu. - Das ist
kein Luft-Boden-Krieg, und das ist kein Spiel mit dem
Feuer, wie einige gesagt haben. Auch dazu würde ich
gerne noch einen Satz sagen: Der Einsatz von Soldaten
ist nie ein Spiel mit dem Feuer; dafür ist dieses Thema
zu ernst.
({0})
- Nein. Das ist aber sehr interessant. Wenn Sie den Einsatz von Soldaten als „Spiel“ bezeichnen, dann sollten
Sie darüber wirklich noch einmal nachdenken.
({1})
Herr Kollege Bartels, bitte schön.
Herr Minister, hat denn die Bundesregierung in den
europäischen Verhandlungen über den neuen Operationsplan bzw. die neuen Möglichkeiten im Rahmen des
Atalanta-Mandats die Haltung eingenommen, dass auch
am Strand gewirkt werden soll, oder welche Haltung hat
die Bundesregierung in den europäischen Verhandlungen eingenommen?
Es war in den europäischen Verhandlungen so, dass
dieser Vorschlag von anderen gemacht worden ist. Wir
hatten durchaus das eine oder andere Bedenken; das haben wir auch öffentlich gemacht. Wir haben diese Bedenken so durchgesetzt, dass sie jetzt Gegenstand des
Mandates sind. Dann haben wir dem zugestimmt. Das
war der Gang der Verhandlungen.
Ich will auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel und
auf die Gefahren eingehen. Einige sagen: Es besteht die
Gefahr von Kollateralschäden
({0})
- Einen Moment! Hören Sie erst einmal zu, bevor Sie etwas sagen. Ich setze mich ja gerade mit dem Argument
auseinander.
({1})
Wenn Sie sagen, dass beim Wirken am Strand ein hohes Risiko von Kollateralschäden besteht, dann sage ich
Ihnen: Es gibt auch ein hohes Risiko von Kollateralschäden beim Wirken auf See.
({2})
Deswegen können Sie ganz gegen den Einsatz sein.
Aber dass es eine zusätzliche Gefahr gibt, weil wir Infrastruktur am Strand bekämpfen, ist so nicht richtig. Auch
beim Wirken auf See wissen wir beispielsweise nicht, ob
sich Unschuldige auf einem Boot aufhalten oder nicht.
Die Soldaten sind allerdings sehr verantwortlich mit dieser Situation umgegangen. Genau das werden sie auch
beim Wirken am Strand tun.
({3})
Herr Mützenich, ich will gerne zu Ihrem Vorwurf, wir
hätten mit den Medien gespielt, Stellung nehmen. Das ist
falsch. Es war die Bundesregierung, die in den europäischen Verhandlungen gesagt hat: Ihr könnt gerne etwas
in die Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages
geben. Aber es dauert keine fünf Minuten, bis von irgendwelchen klugen Leuten in Brüssel in Hintergrundgesprächen die Zahl 2 000 ins Gespräch gebracht wird. Daher war unsere Position: Lasst es uns selber offenlegen. - Genau so ist es gekommen, und genau so haben
wir es vertreten. Die Formulierung lautet übrigens „bis
zu 2 000 Meter“ und nicht „2 000 Meter“.
Ich möchte gerne meine Hoffnung zum Ausdruck
bringen, dass wir die Kraft haben, gerade bei diesem
Mandat wieder einen Konsens zu erzielen. Obwohl ich
weiß, dass dies auch bei uns ein bisschen umstritten ist,
sage ich: Eine Enthaltung ist besser als eine Ablehnung.
Aber eine Zustimmung ist das Beste, auch für die Soldaten. Darum bitte ich Sie.
({4})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kollege Jan van Aken.
({0})
Herr de Maizière, ich möchte zunächst auf drei
Punkte eingehen, zu denen Sie hier schlichtweg etwas
Falsches gesagt haben:
Erstens. Es gab hier noch nie einen Konsens über die
militärische Bekämpfung von Piraterie. Die Linke hat
das Mandat von Anfang an abgelehnt. Es war von Anfang an falsch und wird jetzt noch falscher.
({0})
Zweitens. Zu dem, was Sie über Kollateralschäden
gesagt haben: Herr de Maizière, erinnern Sie sich an
Kunduz? Spätestens seit Kunduz wissen wir alle in
Deutschland, dass Sie in dem Moment, in dem Sie aus
der Luft Ziele an Land bombardieren, immer auch die
Zivilbevölkerung gefährden. Genau das wird natürlich
auch in Somalia passieren, wenn jetzt deutsche Soldaten
aus deutschen Hubschraubern Ziele an Land bombardieren dürfen. Natürlich können sie von oben nicht erkennen, ob Menschen in der Nähe sind und wo sie sich vielleicht befinden. Sie können nicht erkennen, ob die Boote
dort unten vielleicht Fischerboote von harmlosen Fischern sind. Das kann man nicht ausschließen. Sie als
Militär wissen - das gilt für alle Ihre Militärs -:
({1})
Wenn Sie aus der Luft schießen, dann gibt es immer
auch Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung.
Drittens. Herr de Maizière, Sie haben jetzt wieder gesagt, das sei „eine kleine sinnvolle zusätzliche militärische Option“. Ich finde es nicht klein, wenn man einen
Krieg an Land trägt, und sinnvoll ist das schon gar nicht.
({2})
Was Sie mit dem neuen Mandat vorhaben, ist nichts anderes als eine Kriegserklärung an die somalische Küstenbevölkerung.
({3})
Genau so werden das die Menschen in der Küstenregion
in Somalia empfinden. Sie werden sich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Was glauben Sie
denn, wie die somalische Bevölkerung auf ein solches
Bombardement ihrer Umgebung reagieren wird?
({4})
Ich darf noch einen vierten Fehler berichtigen, der
von allen Seiten gemacht wurde, auch vonseiten der
SPD: Die Operation Atalanta, diese militärische Bekämpfung von Piraterie, war überhaupt nicht erfolgreich.
Sie alle kennen die Zahlen des Internationalen Maritimen Büros. Anhand dieser Zahlen sehen Sie, dass die
Zahl der Angriffe der Piraten Jahr für Jahr, seit diese
Operation läuft, kontinuierlich zugenommen hat. Das
heißt, Ihre militärische Bekämpfung ist durchweg gescheitert, und Sie wissen das.
({5})
Am meisten beunruhigt mich: Anstatt diesen Einsatz,
der von Anfang an falsch war, jetzt endlich zu beenden,
tun Sie genau das Gegenteil. Jedes Jahr erweitern Sie
diesen Einsatz und sein Operationsgebiet. Dieses Jahr
kommen Angriffe an Land dazu. Ehrlich gesagt fürchte
ich mich schon davor, was Sie uns in einem Jahr wieder
Neues vorschlagen.
({6})
Eines möchte ich noch zur rechtlichen Situation sagen, weil Herr Stinner gesagt hat, es gebe jahrtausendealtes Gewohnheitsrecht auf See. Herr Stinner, wir halten uns jetzt einmal an das Seerechtsübereinkommen.
Danach dürfen Sie Piratenschiffe tatsächlich aufbringen.
Sie dürfen auch das Material von Piratenschiffen beschlagnahmen, Sie dürfen es aber nicht zerstören. Schon
heute werden im Rahmen der Operation Atalanta Boote
zerstört, obwohl eine unmittelbare Gefahrenlage gar
nicht vorliegt und es keine Notwehrsituation gibt. Das ist
im Seerechtsübereinkommen nicht vorgesehen.
Wenn Sie jetzt auch noch aus der Luft irgendwelche
Tanklager beschießen, dann ist das keine Beschlagnahme nach dem Seerechtsübereinkommen. Das ist eine
illegale Zerstörung und nicht juristisch gedeckt, Herr
Stinner. Das wissen auch Sie ganz genau.
({7})
Zur Erinnerung: Piraterie ist organisierte Kriminalität.
Sie muss bekämpft werden, aber militärisch können Sie
Kriminalität nicht bekämpfen. Das wissen wir alle aus
den Erfahrungen der letzten vier Jahre.
({8})
Die Ursache der Piraterie ist uns allen bekannt. Sie
liegt natürlich in dem 20-jährigen Bürgerkrieg in Somalia, in Rechtlosigkeit, in Armut und in Hunger. Herr
Stinner, sie liegt auch darin, dass europäische Fischfangflotten jahrelang vor Ort die Fischgründe leergefischt
und viele Menschen in die Arme der Piraten getrieben
haben.
({9})
Weil die Situation so ist, lässt sie sich doch nur politisch lösen. Herr de Maizière, Ihr Kollege Westerwelle
sagt übrigens seit vier Jahren: Das muss politisch gelöst
werden. Das Problem ist doch, dass Sie seit vier Jahren
nichts, aber auch gar nichts für eine politische Lösung
tun.
({10})
Kommen Sie mir jetzt nicht mit Ihrem umfassenden
Lösungsansatz für Somalia, von dem ich hier im Bundestag seit zweieinhalb Jahren höre. Das Einzige, was an
Ihrem Ansatz für Somalia umfassend ist, ist der militärische Einsatz. Sie bilden somalische Soldaten aus, Sie finanzieren eine internationale Truppe in Somalia mit sehr
viel Geld, und jetzt rüsten Sie die Operation Atalanta
auch noch für einen immer offensiveren Kriegseinsatz
aus.
({11})
Das ist der einzige umfassende Ansatz, den Sie in Somalia haben.
Allein für die Pirateriebekämpfung wollen Sie jetzt
100 Millionen Euro ausgeben. Ich sage Ihnen: Diese
100 Millionen Euro wären viel besser in die Unterstützung der lokalen Wirtschaft in Somalia und in einen vernünftigen innersomalischen Friedensdialog investiert;
({12})
denn das ist der einzige Weg, mit dem Sie das Töten in
Somalia beenden können und mit dem Sie auch das Piraterieproblem lösen können.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte, nicht in die Region am Horn von Afrika und auch nirgendwo anders
hin.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Omid Nouripour von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
nun innerhalb eines halben Jahres das zweite Mal über
die Atalanta-Mission. Die Atalanta-Mission, über die
wir im November eigentlich alles Notwendige gesagt
hatten, ist erfolgreich gewesen und ist es bis heute. Die
Piraten sind zurückgedrängt worden. Kollege van Aken,
Sie sollten vielleicht auch die Zahl der nicht erfolgreichen Angriffe erwähnen. Das haben Sie einfach weggelassen. Die Schiffe des World Food Programme wurden
geschützt. 1 Million Menschen sind auf diese Lebensmittel angewiesen. Es gehört zur Redlichkeit dazu, auch
das zu erwähnen.
({0})
Auch das Leben der Seeleute ist unterm Strich ein wenig
sicherer geworden.
Diese Mission hat deshalb breite Unterstützung in
diesem Hohen Hause gefunden, weil das bisher eigentlich eine gute Mission war.
({1})
Die Bundesregierung aber macht aus einem guten Mandat ein schlechtes. So und nicht anders wird der Konsens
in diesem Hohen Hause aufgekündigt.
({2})
Im Übrigen ist das nicht das erste Mal. Bei der Operation Active Endeavour war das genauso - Sie erinnern
sich -: Dabei stand zur Abstimmung, dass die weltberühmten Untersee-Ausbildungslager der Terroristen von
deutschen U-Booten zerstört werden sollten. Es ist nicht
das erste Mal, dass Sie ein Mandat so versemmeln, dass
es nicht mehr möglich ist, ihm zuzustimmen.
Herr Altmaier hat neulich gesagt, es sei doch gute
Tradition, dass es für solche Missionen eine breite Mehrheit gebe. Es ist wünschenswert - das höre ich auch von
den Soldaten -, dass Missionen eine breite Unterstützung finden. Aber es gibt eine wichtigere gute Tradition,
nämlich ganz genau hinzuschauen, was in einem Mandatstext steht und ob dieses Mandat tragbar ist, ob es um
eine Anpassung geht oder ob es am Ende doch ein militärisches Abenteuer ist, was da beschlossen werden soll.
Das werden wir von Mal zu Mal und bei jeder Mission
tun. In diesem Fall kann ich nur sagen: Das Beste für die
Soldatinnen und Soldaten ist es, wenn wir diesem Mandat nicht zustimmen.
({3})
Ich komme zur Terminologie. Zuerst hieß es, der Aktionsradius der Mission solle auf den Strand ausgeweitet
werden. Dann sollte dieser Begriff präzisiert werden.
Jetzt geht es um 2 Kilometer. Das lässt für die Wirtschaftsperspektive im Fremdenverkehr hoffen. Aber leider ist das gar nicht so lustig, weil diese Grenze absolut
willkürlich gesetzt ist.
Es heißt, es gebe Aufklärung aus der Luft. Ich habe
jetzt gelesen, dass ein Staatssekretär gesagt hat, es gehe
darum, „Schiffchen“ am Strand unschädlich zu machen,
die unmittelbar vor einem Einsatz stehen. Wenn sie unmittelbar vor einem Einsatz stehen, aber kein Mensch in
der Nähe sein soll, dann verstehe ich nicht, wie das gehen soll.
Der Herr Außenminister hat letzte Woche gesagt, es
sei doch nicht sinnvoll, zwar die Waffen auf hoher See,
aber die nicht am Strand bzw. an Land zu zerstören. Ich
weiß nicht, was für eine Vorstellung er von diesen Waffen hat. Wir reden hier nicht über schweres Geschütz
oder über Artillerie. Es geht um leichte Waffen. Glauben
Sie im Ernst, die Piraten türmen ihre Maschinengewehre
an Land haushoch auf, gehen dann abends nach Hause
und lassen ihre Waffen liegen, sodass man sie über
Nacht zerstören kann? Das, was Sie hier erzählen, macht
doch überhaupt keinen Sinn. Es ist aus unserer Sicht zu20710
dem nicht möglich, aus der Luft so zuverlässig aufzuklären, dass es tatsächlich keine zivilen Opfer gibt.
Es ist aber auch hochdramatisch, zu lesen, dass jetzt
Hubschrauber bis zu 2 Kilometer in das Landesinnere
mit Waffen eindringen, die einen deutlich kleineren Radius haben.
({4})
Es ist nicht ganz klar, wie der Schutz der Soldaten an
Bord dieser Hubschrauber tatsächlich gewährleistet werden soll. Es ist auch noch immer nicht ganz klar, wie die
Schadensanalyse aussehen soll. Weil wir eben nicht an
Land sind, ist es durchaus möglich, dass die Piraten, die
auch aufmerksam Zeitung lesen, behaupten, es habe zivile Opfer gegeben. Ich sehe nicht, wie es, ohne an Land
zu sein, möglich sein soll, dem gegenzuhalten.
Sie riskieren die moralische Akzeptanz einer guten
Mission mit einer Komponente, die von vorne bis hinten
nicht durchdacht ist, und verspielen nebenbei auch noch
die Möglichkeit, über Somalia zu reden: über die regionalen politischen Ansätze, die überfällig sind, über die
Raubfischerei, die natürlich keine Legitimation dafür ist,
dass Menschen zu Verbrechern werden, die aber zu einem ernsthaften Problem an Land führt, über die Giftmüllverklappung und über die Milizen und wie wir mit
ihnen umgehen sollen.
Das Problem ist: Sie wissen es eigentlich selbst besser, aber die Bundesrepublik Deutschland hat nicht das
Gewicht und den Gestaltungsspielraum, bei der Missionserweiterung, die Sie selbst für falsch erachten, in
Brüssel zu sagen: Nein, da machen wir nicht mit.
Das ist das Dramatische an dieser Debatte. Dafür
müssen Sie selbst aufkommen. Sie müssen die Konsequenzen selber tragen. Dafür brauchen Sie unsere Stimmen nicht, und dafür werden Sie unsere Stimmen auch
nicht bekommen.
({5})
Das Wort hat jetzt der Innenminister des Landes Niedersachsen, Uwe Schünemann.
({0})
Uwe Schünemann, Minister ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Die Bekämpfung der Seepiraterie ist
eine nationale Aufgabe. Deutschland ist hierbei in ganz
besonderer Weise gefordert. Denn laut Bericht der Bundespolizei aus dem Jahr 2011 waren deutsche Reedereien neben denen aus Singapur am häufigsten von Seeräuberattacken betroffen.
Warum habe ich mich als niedersächsischer Innenminister zu Wort gemeldet?
({2})
Erstens ist Niedersachsen der zweitgrößte maritime
Standort mit 160 Reedereien, die in der Vergangenheit
häufig Opfer von Entführungen und Angriffen waren.
Dadurch, dass Niedersachsen Reedereistandort ist,
haben wir zweitens eine landespolizeiliche Zuständigkeit. Mitarbeiter des Landeskriminalamtes waren vor
Ort. Ich habe mir anschließend berichten lassen, was
dort tatsächlich passiert. Dabei ist mir völlig klar geworden: Es geht nicht nur um wirtschaftliche Interessen,
sondern auch um das Risiko für Leib und Leben.
Es ist wahr, dass in der Regel keine deutschen Besatzungen betroffen sind, aber das sollte uns in dieser Frage
nicht kümmern. Es geht darum, dass tatsächlich jeder zu
jeder Zeit damit rechnen muss, dass er entführt, verletzt
oder sogar getötet wird. Wenn man entführt wird, kommt
es zu Scheinhinrichtungen, Erpressung und vielem anderen mehr.
Deshalb ist es notwendig, dass wir alles daransetzen,
die Seepiraterie zu bekämpfen. 140 Millionen Dollar
Lösegeld wurden im Jahr 2011 gefordert. Insofern ist
klar: Wenn es so lukrativ ist, dann geht es nicht nur um
organisierte Kriminalität, sondern wir müssen befürchten, dass sich auch islamistische Terroristen dafür interessieren. Wir müssen auf jeden Fall alles daransetzen,
dass nicht mit Lösegeld von deutschen Reedereien sogar noch islamistischer Terrorismus finanziert wird.
Deshalb ist es eine entscheidende Frage, dass Sie im
Parlament geschlossen reagieren.
({3})
Worum geht es? Es geht darum, eine Resolution der
Vereinten Nationen umzusetzen.
({4})
Denn die Antipiraterieresolution der Vereinten Nationen
sagt durchaus, dass die Piraterie an Land bekämpft werden sollte.
Gespräche mit den Reedereien, und zwar nicht nur in
Niedersachsen, sondern auch in Hamburg, Herr
Dr. Stinner, haben dazu geführt, dass dies auch parteiübergreifend gewünscht wird. Auch mein Kollege in
Hamburg, Senator Neumann, hat ein robustes Mandat an
Land gefordert. Ich kann mir vorstellen, dass auch er
beim nächsten Mal an dieser Stelle steht und die SPDFraktion aufklärt, was es bedeutet, sich der Stimme zu
enthalten oder vielleicht sogar dagegen zu stimmen.
({5})
- Aber ich glaube, dass es, weil die Interessen der Reedereien in Niedersachsen und Hamburg betroffen sind,
Minister Uwe Schünemann ({6})
sinnvoll ist, daran zu erinnern, dass dies eine nationale
Aufgabe ist und dass wir uns wünschen, dass die deutsche Marine ein breites Mandat hat.
({7})
Das ist auch in unserem Interesse.
({8})
Deshalb bin ich froh, dass es bisher eine breite Zustimmung zur Operation Atalanta gibt.
Lassen Sie mich daran erinnern, dass es ein ganzheitliches Konzept geben muss. Es ist wahr: Die Reeder
müssen einen Selbstschutz organisieren. Ich bin froh,
dass es bei der Bundespolizei ein Präventionszentrum
gibt. Genauso notwendig ist es, dass wir die Möglichkeit
eröffnen, private Sicherheitsdienste zur Verfügung zu
stellen. Ich darf daran erinnern, dass der Bundesrat erst
kürzlich eine entsprechende Vorlage verabschiedet hat
und hofft, dass die Bundesregierung und dieses Parlament so schnell wie möglich einen gesetzlichen Rahmen
dafür schaffen; denn wenn private Sicherheitsdienste
eingesetzt werden, ist ein besonderer Standard wichtig.
Ich würde mich freuen, wenn hier so schnell wie möglich die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen geschaffen würden.
Herr Kollege Schünemann, einen Moment bitte. Der
Kollege Behrens von der Fraktion Die Linke möchte
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Uwe Schünemann, Minister ({0}):
Sehr gerne.
Bitte schön.
Herr Minister Schünemann, Sie haben ein Gespräch
mit Reedern in Hamburg erwähnt. Natürlich reden auch
wir als Verkehrspolitiker in Berlin mit Reedern. Sie haben gesagt, die Reeder forderten ein robustes Mandat.
Haben denn die Reeder auch den Waffeneinsatz an Land
gefordert? Forderungen in diese Richtung sind in Gesprächen mit Reedern - das letzte fand vor zwei Tagen in
der hamburgischen Landesvertretung statt - zumindest
an mich nicht herangetragen worden. Die Reeder wollen
eher das Gegenteil. Sie wollen Sicherheit und keinen
Krieg an Land.
Uwe Schünemann, Minister ({0}):
Die Reeder wollen Sicherheit und deshalb ein ganzheitliches Konzept. Von den Reedern weiß ich, welche
Bedeutung die Bewaffnung der Piraten für die Behandlung einer entführten Besatzung hat.
({1})
Es geht hier nicht um Maschinengewehre, sondern zum
Beispiel auch um Panzerfäuste. Vor diesem Hintergrund
sind gerade die Reeder daran interessiert, dass die Seestreitkräfte und insbesondere die deutsche Marine in die
Lage versetzt werden, die Piraterie nicht nur auf See,
sondern auch auf Land zurückzudrängen, wenn notwendig, innerhalb eines Streifens von bis zu 2 Kilometern
landeinwärts. Die Besatzungen und auch die Reeder sind
froh, wenn sie nicht mehr den Gefahren der Piraterie
ausgesetzt sind. Da können Sie ganz sicher sein.
({2})
Abschließend müssen wir feststellen, dass der Kampf
gegen die Seepiraterie wirtschaftliche, aber auch humanitäre Interessen und Sicherheitsinteressen beinhaltet. Es
geht hier um organisierte Kriminalität. Ich will hoffen,
dass es in Zukunft nicht auch noch um islamistischen
Extremismus und Terrorismus geht. Wir wünschen uns
jedenfalls hier breite Mehrheiten und robuste Mandate,
sodass die deutsche Marine wirken kann.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Rainer Arnold.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon wahr: Atalanta zeigt Wirkung. Atalanta hat
aber auch Schwächen. Für die Wirkung sagen wir den
Soldaten Dankeschön, die eine wirklich gute Arbeit leisten. An der Beseitigung der Schwächen sollte die Bundesregierung allerdings arbeiten. Dazu gehören die Kontrolle der Finanzströme
({0})
und das Festsetzen der Hintermänner der Piraten; diese
sitzen nicht am Strand.
({1})
Zudem müssen Atalanta und die Staatengemeinschaft
glaubwürdig sein. Die Glaubwürdigkeit wird unterlaufen, wenn auf frischer Tat ertappte Piraten nicht etwa als
Kriminelle hinter Schloss und Riegel kommen, sondern
am Strand wieder freigesetzt werden. Wo ist der deutsche Außenminister, der in New York dafür sorgt, dass
es ein internationales Strafgericht zur Behandlung von
Piraten gibt?
({2})
Der Verteidigungsminister sagt zu Recht: Die Änderung des Mandats muss geeignet sein und Wirkung haben. Dazu gehört aber noch etwas anderes. Es muss abgewogen werden, ob die Chancen einer Mandatsänderung in Bezug auf die Risiken verantwortbar sind.
Herr Minister, hier gibt es eigentlich nur zwei Szenarien,
über die wir reden müssen. Das erste Szenario ist positiv.
Das bedeutet, dass Atalanta am Strand wirkungslos
bleibt. Warum? Weil Piraten lernfähig sind. Sie werden
ihre Utensilien auf einen Lastwagen verfrachten, um sie
2,5 Kilometer landeinwärts zu bringen. Das ist überhaupt kein Problem und kostet nicht viel. Noch schlimmer ist es, wenn sie sie in urbanes Gelände bringen und
sie von der Luft aus nicht mehr erkannt werden können.
Am schlimmsten ist es, wenn sie sich in ihrem Piratencamp mit menschlichen Schutzschilden umgeben.
({3})
Auch dann ist die Mission wirkungslos.
Die negativen Szenarien sind aber ganz anders, Herr
Minister. Es stimmt einfach nicht, dass die Risiken am
Strand und auf See gleich sind. Auch Herr Schockenhoff
aus Ihrer Fraktion hat das fälschlicherweise behauptet.
Auf See wird kein Schiff nur aufgrund von Luftaufnahmen beschossen; vielmehr wird ein Schiff auf See, das
man der Piraterie verdächtigt, aufgefordert, zu stoppen,
es wird geboardet und untersucht. An Land ist es anders.
Jeder weiß, dass der Einsatz von militärischer Gewalt,
wenn er nur auf Informationen beruht, die durch Luftbeobachtung gewonnen worden sind, immer das Risiko in
sich trägt, aufgrund einer falschen Entscheidung getroffen worden zu sein. Wer die Bilder der Piratencamps
sieht, stellt ganz schnell fest, dass sie nicht anders aussehen als die Lager, in denen die Fischer ihre kleinen
Boote und Außenbordmotoren lagern. Deshalb ist das
gefährlich. Wenn es Kollateralschäden gibt und unschuldige Menschen ums Leben kommen, wird die Mandatierung des an sich richtigen Einsatzes Atalanta gefährdet
und delegitimiert.
({4})
Wenn Bilder von getöteten Zivilisten um die Welt gehen,
dann haben wir alle miteinander ein Problem. Dieses Risiko gehen Sie ein.
Herr Schockenhoff sagt, das Risiko für die Hubschrauber sei auf See genauso groß. Das ist nun wirklich
Unfug. Kein Pirat wird mit einer Handfeuerwaffe einen
Hubschrauber auf See beschießen, wenn er weiß, dass in
der Nähe eine Fregatte ist und er überhaupt keine
Chance hat. Es gibt auf See auch nicht wie an Land einen Busch, hinter dem er sich gegebenenfalls verstecken
kann. Nein, das Risiko für die Hubschrauber ist über
Land größer. Wir setzen die Soldaten Gefährdungen aus.
Wir haben auch gar nicht sauber geklärt, wie wir für ihren Schutz sorgen können und was passiert, wenn tatsächlich ein Konflikt entsteht. Was ich damit sagen will:
Diese Landkomponente birgt das Risiko einer weiteren
Eskalationsstufe, die im Kampf gegen Schwerkriminelle
nicht akzeptabel ist.
({5})
Nun wissen wir, Herr Minister, dass Sie in Brüssel
sperrig waren. Sie selbst haben einmal in einem Interview gesagt, Sie seien skeptisch. Ich glaube, Sie haben
recht mit Ihrer Skepsis. Ich habe einfach den Eindruck,
dass Ihre Zustimmung in Brüssel und das heutige Mandat etwas mit alten Fehlern zu tun haben. Sie müssen etwas wiedergutmachen, was Sie in der internationalen
Politik verbockt haben.
({6})
Weil Sie zu dem richtigen und notwendigen Mandat der
Vereinten Nationen zu Libyen Nein gesagt haben,
({7})
wollen Sie jetzt bei Atalanta keinen Konflikt mit den europäischen Partnern. Ich muss Ihnen klar sagen: Diesen
Scherbenhaufen, den Sie in der Außenpolitik hinterlassen haben, müssen Sie schon selbst zusammenkehren.
({8})
Sie müssen die Verantwortung und die Risiken für Atalanta selbst tragen. Wenn Sie gewollt hätten, dass Sozialdemokraten diesem Mandat insgesamt wieder eine breite
politische Rückendeckung verschaffen, dann hätten Sie
die Mandatserweiterung, die falsch ist und der wir nicht
zustimmen werden, nie und nimmer mit dem alten Auftrag von Atalanta verbinden dürfen. Es gibt die gute Tradition, dass eine Mandatserweiterung während eines
Mandatsjahres getrennt zur Abstimmung gestellt wird.
({9})
Dann hätten wir klar Nein zu dieser Erweiterung und
ebenso klar Ja zum Kampf gegen Piraterie auf See gesagt, so wie bisher auch. Dies würden wir gerne tun, aber
diese Möglichkeit nehmen Sie uns. Deshalb haben Sie
auch die breite parlamentarische Unterstützung vergeigt.
Das finden wir eigentlich schade.
Herzlichen Dank.
({10})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Herr Arnold, wie Ihr Ja zum Libyen-Mandat im UNOSicherheitsrat zu einem Nein zu Atalanta am heutigen
Tag passen soll, müssen Sie mir erklären. Die Abstraktionsfähigkeit, darin eine konsistente Politik zu erkennen, besitze ich einfach nicht. Unser Vorwurf an Sie ist
ganz klar: Sie versuchen, sich aus dem Staub zu machen.
In Wahrheit steckt hinter Ihrem Verhalten, dass Sie nicht
nur planen, aus diesem Mandat auszusteigen, sondern
darüber hinaus auch planen, sich der Verantwortung für
andere Mandate zu entledigen. Das ist etwas, was wir Ihnen so einfach nicht durchgehen lassen werden; das hat
nämlich mit Wahlkampf und mit nichts anderem zu tun.
({0})
Der einzige Punkt, bei dem ich mich Ihnen anschließen will, ist der Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten. Ich sage ganz klar: Sie leisten dort erfolgreiche Arbeit. Deshalb schiebe ich auch kein Aber hinterher; es
geht nur ein ganz klarer Dank an die Soldatinnen und
Soldaten, die für uns dort einen großen Einsatz leisten.
({1})
Es ist in der Debatte zu Recht angesprochen worden,
dass wir hier über etwas reden, was nicht allein von
Deutschland auf den Weg gebracht worden ist. Wir haben auf europäischer Ebene gemeinsam mit unseren
Freunden und unseren Partnern in Verantwortung darüber diskutiert, auch kritisch diskutiert, was für dieses
Mandat und für notwendige weitere Schritte der Weg ist,
den wir gemeinsam gehen können. Ich wette mit Ihnen:
Wenn das in einer anderen Regierungskonstellation diskutiert worden wäre und ein Grüner oder ein Roter als
Außenminister die Verantwortung getragen hätte,
({2})
dann wären auch Sie so verantwortungsbewusst gewesen
und hätten diesen Schritt mitgetragen - trotz aller berechtigten kritischen Fragen. Ich weise die Fragen auch
gar nicht zurück, sondern ich sage ganz klar: Wir müssen
bei einem solchen Mandat wie bei allen Mandaten diskutieren. Aber mein Vorwurf an Sie heute geht dahin, dass
Sie sich in der Parteienkonstellation, in der wir uns gerade befinden, vor der Verantwortung drücken. Deshalb:
Gehen Sie bitte noch einmal in sich! Überlegen Sie vom
heutigen Tage an noch einmal, ob Sie bei der abschließenden Beratung im Deutschen Bundestag in wenigen
Tagen nicht vielleicht doch zustimmen! Diese Bitte
möchte ich dann doch an Sie richten, meine Damen und
Herren.
({3})
Der Einsatz ist völkerrechtlich legitimiert. Er orientiert sich an unserer wertegebundenen Außenpolitik,
weil wir damit auch Afrika einen Dienst erweisen. Wir
tragen zur Stabilisierung des Kontinents bei, indem wir
uns nicht nur bei diesem Mandat, sondern auch im Rahmen der weiteren politischen Dimension dieser Diskussion natürlich vor allem auch um die Ursachen dieses
Phänomens der Piraterie und nicht nur um die Bekämpfung der Symptome kümmern.
Zu einer interessengeleiteten Außenpolitik gehört
auch, dass man seine Interessen dort, wo sie attackiert
werden, robust verteidigt. Herr Kollege Schünemann aus
Niedersachsen hat vorhin schon Ihren Senator aus Hamburg, Herrn Neumann, erwähnt. Ich lese Ihnen das gern
noch einmal vor; Kollege Rehberg war so nett, das herauszusuchen. Ich zitiere also wortwörtlich:
Meine Forderungen an die Bundesregierung sind
klar. Erstens muss unsere Marine vor dem Horn von
Afrika verstärkt werden - eine Fregatte reicht nicht
aus. Zweitens muss der Einsatz notfalls „robuster“
gestaltet werden, dabei müssen, wenn nötig, auch
Basislager der Piraten angegriffen werden.
So der hamburgische SPD-Innensenator Michael
Neumann.
({4})
Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass der Senat in
Hamburg in dieser wichtigen Frage der Pirateriebekämpfung wesentlich verantwortungsbewusster handelt - das
soll aber mein einziges Lob für den Senat bleiben -, als
das die SPD-Bundestagsfraktion an dieser Stelle tut. Ich
glaube, dass der Weg, den Sie eingeschlagen haben, einfach der falsche ist.
Wenn vitale Exportinteressen und Interessen einer
Handelsnation wie Deutschland gefährdet werden, dann
gehört es in einer erwachsenen, in einer wehrhaften Demokratie dazu, bereit zu sein, seine Interessen auch robust zu verteidigen. Das wird an dieser Stelle in hervorragender Art und Weise getan. Wir haben - auch das ist
angesprochen worden - viele kritische Diskussionen mit
Reedern hinter uns. Ich sage ganz klar: Ich danke der
deutschen Bundeswehr und der deutschen Marine vor allem dafür, dass sie sich an dieser Stelle so einbringen; es
ist eine im Kern hoheitliche Aufgabe, die Handelswege
zu sichern; das ist nicht outzusourcen. Vor diesem Hintergrund ist die schwierige Abwägungsentscheidung, die
wir bei jeder militärischen Diskussion, die wir hier führen, zu treffen haben, auch in diesem Fall richtig. Wir sagen, dass der Staat an dieser Stelle mehr Verantwortung
trägt als beispielsweise private Sicherheitsdienste. Wir
wollen, dass auch in Zukunft in erster Linie die Bundeswehr für solche Aufgaben genutzt wird, selbst wenn es
überhaupt keine leichte Mission ist, die unseren Soldatinnen und Soldaten dort bevorsteht.
Abschließend ein Aspekt zu der Frage, warum wir
glauben, dass es richtig ist, heute über die Einbringung
neuer Maßnahmen im Rahmen von Atalanta zu diskutieren. Wir bekämpfen bisher nur die Symptome. Es hat
auch kein Redner aus der Koalition für sich in Anspruch
genommen, dass dieser Einsatz die Ursachenbekämpfung dauerhaft im Mittelpunkt hat. Kein Problem, das
den Kontinent Afrika oder andere Regionen betrifft,
werden wir rein militärisch lösen; die Probleme werden
wir immer nur mit einem Gesamtansatz von diplomatischen und entwicklungspolitischen Initiativen lösen.
Dass diese so zäh und schwierig vorangehen und die
Entwicklung Somalias eher negativ als positiv ist, was
das Phänomen der Piraterie betrifft, ist noch lange kein
Grund, deshalb bei der Symptombekämpfung aufzugeben und sich aus der Verantwortung zu ziehen, sondern
man muss an dieser Stelle seine Interessen deutlich machen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9339 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Hochschulen auf das Studierendenhochplateau vorbereiten - Allen Studienberechtigten
die Chance auf einen Studienplatz geben
- Drucksache 17/9173 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bologna-Prozess - Umsteuern für ein besseres
Studium und offene Hochschulen
- Drucksache 17/9197 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach der interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Kai Gehring vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! „Die Hochschulen
brauchen langfristige Perspektiven.“ Dies hat Bildungsministerin Schavan in einem Interview Mitte März im
Handelsblatt betont, und die Forderung ist richtig. Nur
muss diese Forderung auch in die Tat umgesetzt werden.
Eine Grundgesetzänderung, die Schwarz-Gelb zur Verstetigung der Exzellenzinitiative plant, erfüllt diesen Anspruch sicher nicht.
({0})
Wie sieht es mit den langfristigen Perspektiven für die
Hochschulen aus, wenn man auf die wichtigste Herausforderung, den Ausbau der Studienplätze, blickt? Nimmt
man die Verhandlungsposition der Bildungsministerin
aus der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, GWK,
vor einer Woche zum Maßstab, so ist die Perspektive
ziemlich düster.
Schon Ende 2013 sind die ursprünglich bis Ende 2015
vorgesehenen Mittel für den Ausbau der Studienplätze
erschöpft. Trotzdem hat Ministerin Schavan auf der
GWK-Sitzung nur zugestanden, erst im Dezember zu
prüfen, ob und wann eine Aufstockung des laufenden
Hochschulpaktes eventuell notwendig ist. Unter „langfristige Perspektiven“ schaffen verstehen wir etwas völlig anders als unverbindliche Prüfaufträge.
({1})
Ihre Regierungsrhetorik passt nicht zu Ihrer hochschulpolitischen Praxis. Der laufende Hochschulpakt
2010 bis 2015 springt zu kurz. Er ist unterdimensioniert,
und er ist klar unterfinanziert;
({2})
denn er ist nur für 335 000 Studienplätze ausgelegt. Es
ist sicherlich auch den Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP nicht entgangen, dass laut neuer
Studienanfängerprognose der Kultusministerkonferenz
vom Januar weitere zusätzliche 357 000 junge Menschen
ein Studium aufnehmen wollen. Deshalb kann man sinnbildlich nur sagen: Es geht nicht nur um einen kurzfristigen Studierendenberg, sondern es geht ganz klar um ein
dauerhaftes, langfristiges Studierendenhochplateau, und
das ist ein erfreulicher Boom.
({3})
Wie wollen Sie, Frau Ministerin oder Herr Staatssekretär, eigentlich auf diese neue Prognose reagieren?
({4})
Wir sagen, dieser zusätzliche Boom an Studienanfängern
darf die Länder und die Hochschulen nicht überfordern.
Vielmehr muss er ganz klar genutzt werden.
({5})
Deshalb sind Planungs- und Finanzierungssicherheit
seitens des Bundes innerhalb des Hochschulpaktes das
A und O für einen verlässlichen Studienplatzausbau vor
Ort und damit für die Bildungschancen der jungen Generation.
({6})
Es wäre ein schlechtes Zeichen für potenzielle Bildungsaufsteiger, wenn Zehntausende trotz Studienabsicht ohne Studienplatz blieben und so ihre Bildungschancen blockiert würden. Dazu darf es nicht kommen.
Verschärfter Studienplatzmangel wäre angesichts des
Mangels an Fachkräften und Bildungsaufstieg unerträglich. Ein Nachjustieren des Hochschulpaktes ist daher
dringend notwendig und unaufschiebbar.
({7})
Oberstes Ziel muss es sein, den Pakt zu einem wirksamen Instrument zu machen,
({8})
das ausreichend Studienplätze sowohl im Bachelor- als
auch im Masterbereich - dort fehlt es besonders - zur
Verfügung stellt und flächendeckend zu besseren Studien- und Lehrbedingungen führt und verlässliche Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs und
das Personal schafft. Das wäre ein wichtiger Beitrag für
mehr Bildungschancen und - auch vor dem Hintergrund
der heutigen Bologna-Ministerkonferenz in Bukarest auch ein Schub für eine womöglich endlich gute Umsetzung der Bologna-Reform in Deutschland.
Statt Prüfaufträge anzukündigen, brauchen wir eine
klare Ausfinanzierung des Paktes. Auch hier kommen
falsche Signale. Sehen Sie sich einmal Ihre Finanzplanung an.
({9})
Die Koalition zieht 320 Millionen Euro in das Jahr 2013
vor, die eigentlich für den Hochschulpakt in den Jahren
2015 und 2016 bestimmt sind. Hier hinterlassen Sie
große Lücken. Es ist ein abenteuerliches Manöver; denn
diese Mittel fehlen später. Die Hochschulen brauchen
keine Taschenspielertricks, sondern konkrete Finanzierungszusagen - dies gilt allein schon, wenn Personalentscheidungen zu treffen sind. Sie brauchen keine buchhalterischen Tricks und kein Vorziehen der Mittel,
sondern Sie müssen die mittelfristige Finanzplanung
verdoppeln, damit die Mittel für den Hochschulpakt verbindlich zur Verfügung stehen.
({10})
Wenn die Bundesregierung dazu nicht in der Lage ist,
sind die Regierungsfraktionen aufgefordert, hier etwas
vorzulegen.
({11})
Ich erwarte, dass Frau Grütters und andere nicht mit dem
Finger auf die Länder zeigen. Die machen ihren Job.
({12})
Das sieht man. 16 Finger und die Bundestagsopposition
zeigen sofort auf Sie zurück, wenn Sie sich weiter davor
drücken, Ihre hochschulpolitischen Aufgaben zu erledigen und den Hochschulpakt verlässlich und zukunftssicher zu machen und auszufinanzieren. Ich finde es
wichtig: Machen Sie Bildungsministerin Schavan und
Finanzminister Schäuble schleunigst klar, dass die Zukunftsfähigkeit unseres Landes davon abhängt, dass kein
Talent vergeudet wird und alle Studieninteressierten einen Studienplatz finden und durch gute Studienbedingungen Hochschulabsolventinnen und Hochschulabsolventen werden.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Die schwarz-gelbe Möchtegern-Bildungsrepublik
verwaltet sonst den Fachkräftemangel, statt ihn wirksam
zu bekämpfen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Monika Grütters von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Gehring! Bereits in der vergangenen Sitzungswoche stand dieses Thema auf der Tagesordnung.
Nun haben Linkspartei und Grüne noch einmal nachgelegt.
({0})
Das macht die Sache aber nicht besser. Inhaltlich ist bei
beiden Anträgen keinerlei Weiterentwicklung zu erkennen. Die Argumente, Herr Gehring, sind oft genug ausgetauscht worden und mittlerweile angestaubt.
Der Hochschulpakt - darin sind wir uns alle einig ist gerade wegen seiner Flexibilität ein erfolgreiches Instrument und nicht, wie Sie sagen, ein abenteuerliches
Manöver.
({1})
Die Studierendenzahlen an den deutschen Hochschulen erreichen jedes Jahr neue Rekordhöhen, und die Kooperation zwischen Bund und Ländern funktioniert hier
- anders als immer behauptet wird - einigermaßen zufriedenstellend, bis auf die Leistung, die die Länder nicht
ausreichend erbringen. Wir haben die spitz abgerechneten Zahlen gerade von den Privathochschulen vorgerechnet bekommen. Ich finde es schade, dass die Länder die
Summen, die ihnen zustehen, nicht in neue Studienplätze
investiert haben.
Die Opposition betreibt ein bisschen Panikmache:
Der Hochschulpakt sei unterdimensioniert, weil die Kultusministerkonferenz ihre Prognosen immer nach oben
korrigiert. Aber gemach: Der Hochschulpakt - das wissen Sie auch - schüttet seine Gelder nicht nach Prognosen aus, auch nicht nach Prognosen der KMK, sondern
nach der Zahl der tatsächlich geschaffenen Studienplätze.
({2})
Deshalb wird auch nachlaufend finanziert. Für die erste
Phase des Hochschulpaktes wurden nur 90 000 zusätzliche Studienplätze prognostiziert. Erforderlich waren jedoch viel mehr. Was haben wir gemacht? Wir haben
nicht weniger, sondern fast doppelt so viel ausgeschüttet,
und so konnten entsprechend viele neue Studienplätze
geschaffen werden, weil Bund und Länder prompt reagiert haben.
({3})
Das zeigt, dass der Hochschulpakt sich nicht stur an Prognosen orientiert, sondern ein flexibles Instrument ist
und nachweislich auf unerwartet starke Nachfrage reagiert hat.
Die nachlaufende Finanzierung des Hochschulpaktes
ist vernünftig. Deshalb können wir alle getrost davon
ausgehen, dass es auch künftig genug Geld gibt. Bund
und Länder haben sich darauf geeinigt, 335 000 neue
Studienplätze zu schaffen. Es ist nicht abzusehen, dass
dieser Deckel nicht ausreichen würde. Das ist überhaupt
nicht gesagt. Sollte der Deckel vor 2015 erreicht werden,
sind neue Verhandlungen notwendig.
({4})
Das hat die GWK der Bundesbildungsministerin
Schavan deutlich gesagt. Dann wird nachverhandelt. Ich
verstehe also Ihr Misstrauen nicht; denn in der Vergangenheit haben wir genau das getan, was Sie jetzt fordern.
({5})
Lieber Kai Gehring, der Fingerzeig, den Sie mir gerade in Abrede stellen wollten, muss sein. Dass jedes
Bundesland seine Pflichten tatsächlich erfüllt, ist bislang
noch nicht erwiesen. Das gilt wohl für den Bund, für die
Bundesländer bisher aber nicht. Die beiden vorliegenden
Anträge bringen uns in der wissenschaftlichen Debatte
auch nicht weiter.
({6})
Die Linkspartei lässt sich von der Realität kein bisschen stören, sondern ergeht sich in Maximalforderungen, frei nach dem Oppositionsmotto „Alles für alle, und
zwar umsonst“. Die Grünen sind zwar etwas gemäßigter;
aber auch hier hat man eher das Gefühl, der parlamentarischen Version von „Wünsch dir was“ beizuwohnen, als
einen ernsthaften Debattenbeitrag zu erhalten.
Ein buntes Ostersträußchen fröhlicher Forderungen
hat uns die Linkspartei vorgelegt. Freude kommt nur bei
der eigenen Klientel auf; seriöse Politik, mit Verlaub,
sieht anders aus.
({7})
Die Besoldung des Hochschulpersonals soll geändert
werden; die Hochschulzulassung wollen Sie neu regeln;
Sie fordern unbefristete Stellen, und die BAföG-Erhöhung, das Lieblingsthema der Linken, wird auch gleich
mit aufgenommen.
({8})
Schließlich wollen Sie noch einen Master für alle Menschen - das ist, so finde ich, eine schöne Geschichte. Der
Entertainmentcharakter Ihres Themenpotpourris ist signifikant höher als Ihre Glaubwürdigkeit.
({9})
Statt also Schaufensteranträge zu schreiben, sind gerade Sie, liebe Kollegen, dazu aufgefordert, in den Ländern, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, für
die Fortsetzung einer - das ist meiner Meinung nach das
wichtigste Thema - erfolgreichen Kooperation zwischen
Bund und Ländern zu werben, und zwar gerade im Wissenschaftsbereich.
({10})
Sie sollten das Ganze nicht gleich wieder niedermachen,
indem Sie sagen: Wenn Sie eine Grundgesetzänderung
im Bereich Wissenschaft vorlegen - weil das nachweislich gut funktioniert -, machen wir nur mit, wenn Sie
den Bildungsbereich auch noch mit einbeziehen. Entsprechend äußert sich ja die SPD. Statt wenigstens den
einen Bereich richtig zu machen, wollen Sie gleich beide
kaputtmachen.
({11})
Es wäre verdienstvoller, wenn Sie von den Grünen Ihren einzigen Ministerpräsidenten dazu brächten, ausnahmsweise über Baden-Württembergs Tellerrand hinauszuschauen und seine Blockadehaltung zu Fragen der
Bund-Länder-Kooperation im Bildungsbereich aufzugeben. Aber Winfried Kretschmann verbündet sich lieber
mit dem Steinzeitföderalisten Kurt Beck und erfreut sich
an der Forderung nach mehr Umsatzsteuerpunkten,
({12})
die mit Sicherheit weniger die Bildungs- als die Finanzpolitiker erfreuen würden.
({13})
Diese Scharade sollten wir als Bildungspolitiker nicht
mitmachen. Im Zentrum unserer Arbeit stehen nicht finanzielle Interessen, sondern bildungspolitische Inhalte.
({14})
Die Inhalte sollten die Finanzierung bestimmen und
nicht umgekehrt. Deshalb werben wir für ein neues Miteinander in der Bund-Länder-Kooperation, und zwar vor
allen Dingen im Wissenschaftsbereich. Ich erwarte, dass
gerade die Wissenschaftspolitiker - und hier geht es um
den Bereich Wissenschaft - diesen nächsten Schritt mitmachen. Der Hochschulpakt jedenfalls hat uns gezeigt,
wie es gehen kann.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Kollege Swen Schulz von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben es
gerade wieder bei Frau Grütters gehört: Es gibt bei den
Mitgliedern der Regierungskoalition eine Art Standardargumentation, wenn es um den Hochschulpakt
geht.
({0})
Sie lautet in etwa: Wir haben doch gar kein Problem, immer mit der Ruhe, wir haben alles im Griff.
({1})
Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie haben gar nichts im Griff.
({2})
Der Hochschulpakt, den wir ja gemeinsam beschlossen
haben, ist wirklich ein großer Erfolg. Gerade deswegen
muss er fortentwickelt werden.
({3})
Nur: Die Bundesregierung macht nichts, und das ist das
Problem.
({4})
Ich will an die Diskussion zur Aussetzung der Wehrpflicht erinnern. Sie haben beschlossen, dass die Wehrpflicht ausgesetzt wird. Wir haben sofort gesagt: Dann
muss es aber auch entsprechende Angebote für diejenigen geben, die nicht zur Bundeswehr gehen und auch
keinen Zivildienst ableisten. Diese jungen Leute müssen
dann die Chance haben, einen Studienplatz zu erhalten.
Das haben wir beantragt. Sie haben sich immer wieder,
bis zuletzt im Ausschuss, dagegen gewehrt und gesagt:
Nein, das geht nicht, das ist Quatsch, das müssen die
Länder machen,
({5})
bis dann die Bundeskanzlerin gegen Ihr Votum erklärt
hat: An der Argumentation ist schon etwas dran; wir
müssen am Hochschulpakt Änderungen vornehmen.
({6})
Genau so wird es auch laufen bzw. läuft es schon jetzt
bei der Diskussion über die Aufstockung des Hochschulpaktes. Wir haben in unserem Antrag seitens der SPD
schon im letzten Jahr gemahnt: Der Hochschulpakt ist zu
klein dimensioniert.
({7})
Immer mehr Leute wollen studieren, und wir müssen
entsprechend Studienplätze schaffen. Die Koalition hat
das abgelehnt.
({8})
- Hören Sie doch vielleicht einfach mal zu. In der letzten
Sitzungswoche haben Sie unseren Antrag abgelehnt.
Und was passiert jetzt in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern? Da hat Frau
Schavan nach Kampf und Krampf gesagt: Okay, wir
richten zusammen mit den Ländern eine Arbeitsgruppe
ein, um zu prüfen.
({9})
Sie zieren sich, Sie zögern und zaudern.
Dabei liegen doch die Fakten auf dem Tisch: ein offizielles Dokument von der KMK, der Kultusministerkonferenz, mit einer neuen Prognose für den Zeitraum 2011
bis 2015; da sind wir mittendrin und haben schon harte
Fakten. Über 350 000 Studienplätze müssen demnach
zusätzlich geschaffen werden.
({10})
Das ist wunderbar; das ist großartig. Das ist eine gute
Nachricht, meine sehr verehrten Damen und Herren: Die
Leute wollen studieren.
({11})
Das bestätigt unsere Prognose. Aber die Bundesregierung sagt nicht: Jawohl, wir unterstützen das; wir schaffen neue Studienplätze und machen etwas. Stattdessen
blockiert sie. Das geht so nicht.
({12})
Swen Schulz ({13})
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das kostet natürlich Geld. Dieses Geld kriegt Frau Schavan von Herrn
Schäuble nicht.
({14})
Es geht hier keine Debatte vonstatten, ohne dass sich die
Rednerinnen und Redner der Koalition wegen der
Etatsteigerungen der letzten Jahre selber auf die Schulter
klopfen, dass es kracht.
({15})
Das ist auch in Ordnung. Wir sind nicht der Meinung,
dass Sie das Geld an jeder Stelle richtig ausgeben; aber
insgesamt ist das sehr beachtlich. Nur muss diese Entwicklung natürlich weitergehen.
({16})
- Ja, Sie lachen. Das Problem ist bloß - das ist leider
traurig -, was die Finanzplanung der Bundesregierung
vorsieht, die ich hier vorliegen habe: Im Jahr 2013, im
Bundestagswahljahr, gibt es noch ein Plus,
({17})
und dann, in den Jahren 2014, 2015 und 2016, geht es
wieder herunter.
({18})
Sie kürzen: insgesamt 570 Millionen Euro weniger. Sie
wollen über eine halbe Milliarde Euro bei der Bildung
kürzen. Das ist die bittere Wahrheit, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({19})
Nach der Bundestagswahl setzen Sie den Rotstift bei
Bildung und Forschung, bei der Zukunft an. Auf diese
Art und Weise beerdigen Sie die von Ihnen beschworene
Bildungsrepublik Deutschland.
({20})
Aber für das Betreuungsgeld oder für Steuerentlastungen
fliegen die Milliarden hier nur so durch die Gegend. Das
ist der falsche Kurs.
({21})
Ich habe eine herzliche Bitte: Strafen Sie meine Worte
Lügen!
({22})
Überraschen Sie mich positiv! Fangen Sie endlich an,
unsere Vorschläge aufzugreifen.
Herzlichen Dank.
({23})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Peter
Röhlinger das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Schulz, tatsächlich können Sie zuversichtlich sein, was
die weitere Entwicklung angeht. Wir haben doch 2009
nachgewiesen, dass wir flexibel sind, dass wir in der
Lage sind, uns neuen Aufgaben zu stellen.
({0})
Die Zahlen, die Sie nicht genannt haben, will ich in diesem Zusammenhang einmal nennen: Wir haben die Mittel 2010 gegenüber 2009 um 701 Millionen Euro gesteigert,
({1})
2011 gegenüber 2010 um 783 Millionen Euro, 2012 gegenüber 2011 um 454 Millionen Euro.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist aber notwendig, das
in anderen Kategorien und komplexer zu betrachten.
({3})
- Herr Gehring, das sage ich insbesondere Ihnen: Sie
müssen sich von der Vorstellung verabschieden, dass mit
Geld alles zu machen ist. Wer strukturelle Probleme hat,
der kann sie mit Geld allein nicht lösen. Wer verpennt
hat, welch große Rolle Bildung in den Ländern und
Kommunen spielt, der holt das mit mehr Geld in den
Jahren 2012, 2013 und folgende nicht mehr ein.
({4})
Die Studierenden haben das längst verstanden und
stimmen mit den Füßen ab.
({5})
Schauen Sie sich an, welch rasante Entwicklung manche
Universitäten in den neuen Bundesländern genommen
haben: Zum Beispiel sind wir in einer Stadt, die ich jetzt
nicht nennen will, - mit 5 000 Studierenden an UniversiDr. Peter Röhlinger
tät und Fachhochschule gestartet; jetzt liegt die Zahl bei
25 000.
({6})
Wissen Sie, was der Standortvorteil ist? Wir haben
verstanden, und zwar im Stadtrat, dass die Vereinbarkeit
von Studium und Familie für die junge Generation entscheidend ist, dass das für uns im Vergleich mit den großen, traditionsreichen Universitäten in Deutschland ein
Standortvorteil ist. Wir haben den Vorteil genutzt und
auch für Nachhaltigkeit gesorgt.
Lassen Sie mich auf einen zweiten Punkt eingehen.
Wir wollen den Wettbewerb zwischen den Ländern, zwischen den Kommunen und natürlich auch zwischen den
Universitäten. Das beruht auf der engen Zusammenarbeit vor Ort zwischen Universität, Wirtschaft und Politik. Die muss erreicht werden, um der Komplexität des
Anliegens gerecht zu werden. Man kann nicht nur die
Hand aufhalten und sagen: Bund, ich brauche Geld!
({7})
Nein, man muss dann sagen: Wir schaffen Kitaplätze,
ein kulturelles Angebot und Infrastruktur, damit sich
junge Menschen bei uns wohlfühlen.
({8})
Ich gehe davon aus, dass wir das in allen Bundesländern
schaffen können. Wir können die Studierenden nicht
noch mehr zur Kasse bitten, aber wir können die Rahmenbedingungen attraktiver gestalten und jungen Leuten
eine Chance bieten.
Zum Schluss möchte ich auf Folgendes hinweisen:
Wir haben in den vergangenen Jahren nicht nur das
BAföG erhöht, sondern auch Leistungsstipendien eingeführt. Siehe da: Diese werden gerade in den neuen Bundesländern, wo nicht viele Konzerne ihren Sitz haben,
offenbar gut angenommen.
({9})
Ich sehe, der Präsident ruft mich zur Ordnung. Ich
will deswegen zum Schluss kommen. Es war mir eine
Freude, Ihnen ein paar Gedanken mitzuteilen.
Vielen Dank.
({10})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Nicole Gohlke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Wir verpflichten uns, das höchstmögliche Niveau der
Hochschulfinanzierung sicherzustellen“ - diese Formulierung wird Ministerin Schavan
({0})
wahrscheinlich morgen in Bukarest beim Treffen der
Bildungsminister der 47 Bologna-Länder unterschreiben. Ehrlich gesagt: Eigentlich dürfte Deutschland gar
nicht unterschreiben, weil jeder weiß, dass das eben
nicht sichergestellt ist.
({1})
Aber wahrscheinlich wird Frau Schavan unterschreiben,
in die Kamera lächeln und sich dann darauf verlassen,
dass Papier geduldig ist.
Von dem Glanz der internationalen Gipfel kommt in
den Hochschulen selbst nur wenig an. Kaum eines der
großen Ziele der Bologna-Reform ist erreicht. Stattdessen sind an den Hochschulen viele neue Probleme entstanden. Die Finanzierung der Hochschulen bleibt nicht
nur weit unter dem höchstmöglichen Niveau zurück,
sondern auch weit hinter dem unbedingt nötigen Niveau.
({2})
Eine Öffnung der Hochschulen ist eine Voraussetzung
für gesellschaftlichen Fortschritt. Auch das soll in der
Erklärung der Bukarester-Konferenz stehen. Man kann
das nur unterschreiben, aber wie muss ein solcher Satz in
den Ohren Tausender abgewiesener Studienbewerberinnen und -bewerber klingen,
({3})
die in diesen Tagen vor den verschlossenen Türen der
Hochschulen stehen - es sind immerhin 100 000 -,
({4})
während drinnen das Sommersemester beginnt.
({5})
Bis 2015 fehlen bundesweit mindestens 350 000 Studienplätze, eher 500 000 Studienplätze,
({6})
und der Hochschulpakt reicht bei weitem nicht aus, um
diese Lücke zu schließen.
({7})
Nun hat die Ministerin in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die bis
nächstes Jahr prüfen soll, ob man vielleicht eine Aufstockung braucht. Was gibt es da zu prüfen? Jeder weiß,
dass Studienplätze fehlen. Die Studienplätze fehlen im
Übrigen auch nicht erst nächstes Jahr, sondern jetzt.
Wenn Sie es ernst meinen mit der Aufstockung, dann
machen Sie es jetzt zu diesem Wintersemester; denn
dann brauchen es die jungen Menschen.
({8})
Wenn Sie die Hochschulen öffnen wollen, so wie es
in der Erklärung der Bukarest-Konferenz stehen soll,
({9})
also auch für diejenigen, die keine reichen Eltern haben,
dann müssen Sie das BAföG erhöhen.
({10})
Frau Grütters, ich finde es schon bezeichnend, wenn Sie
es absurd finden, dieses Thema hier überhaupt anzusprechen.
({11})
Seit Januar liegt der 19. BAföG-Bericht vor. Er macht
deutlich: Allein um das aktuelle Niveau der Förderung
an die gestiegenen Lebenshaltungskosten anzupassen,
müsste das BAföG um 5 Prozent steigen.
Das Deutsche Studentenwerk hat Sie in der vergangenen Woche dazu aufgefordert, dies unbedingt zum kommenden Wintersemester zu tun.
Um eine bedarfsdeckende Finanzierung der Studierenden zu erreichen, ist eigentlich sogar eine Erhöhung
von mindestens 10 Prozent notwendig.
({12})
Aufseiten der Bundesregierung sind aber überhaupt
keine Aktivitäten erkennbar. Wir fordern Sie auf: Legen
Sie schnellstmöglich einen Gesetzentwurf zur Erhöhung
des BAföG vor.
({13})
Bologna sollte international die Mobilität fördern: Ein
Semester in Bamberg, eins in Barcelona, der Abschluss
in London, und dann der Master in Paris. Das war eines
der großen Versprechen; aber davon sind wir weit entfernt. Das Wissenschaftszentrum Berlin hat diesen
Montag eine Studie vorgelegt.
({14})
- Nehmen Sie es doch einfach zur Kenntnis, wenn Experten Studien vorlegen. - Diese Studie zeigt: Seit zwölf
Jahren stagnieren die Zahlen zu studienbezogenen Auslandsaufenthalten. Ins Ausland gehen die Studierenden
nur dann, wenn ihnen Academia quasi bereits in die
Wiege gelegt wurde. Von den Akademikerkindern unter
den Studierenden geht jedes sechste ins Ausland, von
den Studierenden, die keine Akademiker als Eltern haben, nur jeder zehnte.
({15})
Für junge Menschen, die als Erste in ihrer Familie den
Schritt an die Hochschule wagen, ist der Auslandsaufenthalt heute sogar noch unerreichbarer als vor der Bologna-Reform. Am Sonntag erklärte Frau Schavan nichtsdestotrotz im Deutschlandradio:
Alles in allem ist es ein erfolgreicher Prozess.
Für die allermeisten Studierenden aber sieht die Realität
ganz anders aus.
({16})
Das Studium ist stressiger geworden, aber nicht besser.
Es gibt mehr Prüfungen, aber weniger Freiräume für
selbstbestimmtes Lernen. Die internationale Mobilität
stagniert, die innerdeutsche hat sogar abgenommen. Es
fehlen Studienplätze für den Bachelor wie für den Master, und wer mit dem Bachelor die Hochschule verlassen
muss, hat deutlich schlechtere Chancen auf einen guten
Job.
Reißen Sie endlich das Ruder herum für eine Hochschulreform, die den Namen verdient. Wir haben in unserem Antrag die Eckpunkte hierfür formuliert.
Vielen Dank.
({17})
Der nächste Redner ist der Kollege Florian Hahn von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Ende März hielt ich zur selben Thematik schon einmal eine Rede in meinen Händen.
({0})
Das spricht nicht gerade für den Ideenreichtum der Opposition. Dennoch beziehe ich gerne erneut Stellung zu
den gestiegenen Studierendenzahlen und zum Hochschulpakt.
Ich bin davon überzeugt, dass die Universitäten das
Studierendenhochplateau, wie Sie es nennen, meistern
werden. Erst letzten Freitag hat auch unsere Ministerin,
Frau Professor Schavan, das noch einmal deutlich gemacht. So wurde bei der GWK beschlossen, dass eine
Arbeitsgruppe aufgrund der neuen Anfängerzahlen Einzelheiten über die Möglichkeiten einer erweiterten Finanzierung aushandeln soll. Sie sehen also, wir sind vorbereitet und werden flexibel handeln, wenn gehandelt
werden muss.
({1})
Bis jetzt gibt es nur Prognosen, uns liegen noch keine
Zahlen vor, daher können wir auch nicht mit der Finanzierung beginnen.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal festhalten,
dass noch nie zuvor so viele junge Menschen in
Deutschland ein Hochschulstudium aufgenommen haben wie unter dieser Regierung. Das ist eine verlässliche
Perspektive.
({2})
Noch nie wurde so viel in die Bildung junger Menschen
investiert. Sie kennen die Zahlen: Allein im Studienjahr
2011 nahmen rund 516 000 Schulabgänger ein Studium
auf. Mit dem Hochschulpakt wurden schon in der ersten
Programmphase von 2007 bis 2010 182 000 neue Studienmöglichkeiten geschaffen. Das sind doppelt so viele
wie ursprünglich geplant.
Auch in der zweiten Phase wird die Bundesregierung
zeigen, dass sie flexibel und handlungsfähig ist und auch
auf extreme Herausforderungen - wie in der Vergangenheit doppelte Abiturjahrgänge oder die Aussetzung der
Wehrpflicht - reagieren kann. Dies sind wir den Studienberechtigten schuldig, und das ist auch ganz im Sinne
des Ziels, Deutschland als Bildungsrepublik zu festigen.
An dieser Stelle möchte ich, weil der Kollege von der
SPD darauf hingewiesen hat, noch einmal auf die finanzielle Entwicklung eingehen.
({3})
- Herr Schulz, entschuldigen Sie. Wenn Sie darauf Wert
legen, gerne. - Allein in dieser Legislaturperiode geben
wir 13 Milliarden Euro mehr in den Bereich Bildung und
Forschung hinein. Insofern ist das Schulterklopfen für
uns, denke ich, schon berechtigt.
({4})
Am Freitag wurde ganz deutlich gesagt, dass auch die
zusätzlichen Studierenden nicht vor verschlossenen Türen stehen werden. Auch das ist eine verlässliche Perspektive. Man weiß, dass man sich auf uns verlassen
kann, auch wenn Probleme entstehen. Für den Mehrbedarf wird also gesorgt. Wie schon in der ersten Phase
wird die Regierung eine Lösung für kommende Probleme finden. Schließlich hat sie damals doppelt so viele
Studienplätze mitfinanziert, als ursprünglich geplant
war. Das wird auch in der zweiten Phase gelingen, es sei
denn, die Länder können die zusätzlichen Finanzierungen nicht stemmen.
({5})
Frau Professor Schavan hat zu Recht festgestellt, dass
das zusätzliche Geld des Bundes nicht zu einer Senkung
der Landeszuschüsse für die Hochschulen führen darf.
Es ist ein Gebot der Fairness, dass der Bund und die
Länder in dieser Sache zu ihrem Wort stehen.
Zum Schluss noch ein Wort zu den weiteren Wünschen und Sehnsüchten der Linken, die in ihrem Antrag
deutlich werden. Die Abschaffung der Studiengebühren,
wie von Ihnen gefordert, hätte verheerende Folgen:
({6})
Mehr als 450 Stellen für wissenschaftliches Personal
würden wegfallen; Exkursionen mit einem Gegenwert
von rund 10 Millionen Euro könnten nicht stattfinden;
12 Millionen Euro an Sach- und Investitionsmitteln für
die Bibliotheken würden fehlen; die Studierendenberatung müsste mit 5,5 Millionen Euro weniger auskommen. Diese Maßnahmen scheinen mir nicht geeignet zu
sein, ein erfolgreiches Studium zu ermöglichen.
Zuletzt möchte ich noch etwas zu dem Appell der
Grünen zur Ausweitung der Masterkomponente auf alle
Bachelorabsolventen sagen. Es muss Ihnen doch klar
sein, dass es gerade bei den Bachelorabsolventen nicht
besonders gut ankommt, wenn Sie so tun, als sei ein Bachelorabschluss nichts wert.
({7})
Der Bachelorabschluss ist eine hochwertige akademische Qualifikation, die zum Einstieg in die meisten Berufe befähigt, und es werden eben nicht nur Berufseinsteiger mit Masterabschluss benötigt und gesucht. Insbesondere mittelständische Unternehmen suchen händeringend nach Bachelorabsolventen. So fordert beispielsweise die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, dass
mehr Bachelorstudiengänge geschaffen werden, um die
offenen Stellen besetzen zu können. Ganz abgesehen davon geht Ihre Forderung komplett am Bologna-Vertrag
vorbei. Dieser besagt eindeutig, dass der Bachelorabschluss berufsqualifizierend ist. Dies wird auch mehr
und mehr von den Arbeitgebern in Deutschland anerkannt. Den Anträgen der Opposition kann ich daher
nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ernst Dieter
Rossmann von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Weil wir uns gerne mit den Linken streiten,
will ich als Erstes eine Formulierung in Ihrem Antrag
aufgreifen. Die Aussage, dass die Hochschulen sich unter dem Zeichen von Bologna zu einem „elitären Zirkel“
entwickelt haben, wird der Wirklichkeit nicht gerecht;
({0})
denn wir haben 2,2 Millionen Studierende. Sie sollten
auch zur Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel der zusätzlichen Studienanfängerplätze an Fachhochschulen entstehen. Wenn Sie Fachhochschulen als elitär denunzieren, tun Sie den Fachhochschulen, den Studierenden und
den Fachhochschullehrerinnen und -lehrern unrecht.
({1})
Das ist das eine. Man wird der Situation an den Hochschulen aber auch nicht gerecht, wenn man tote Pferde
weiter reitet, und die Studiengebühren sind ein totes
Pferd.
({2})
Selbst Herr Röttgen in NRW sagt - dabei nimmt er sich
Herrn Koch aus Hessen zum Vorbild -, dass er sie nicht
wieder haben will. Sie werden das auch in Bayern und in
Niedersachsen erleben.
({3})
Studiengebühren lösen nicht die Probleme. Wir wollen, dass der Zugang zu den Hochschulen weiterhin allen
offensteht. Die Hochschulen brauchen eine bessere
Grundfinanzierung. Nicht ohne Grund hat eine Autorität,
der wir in hochschulpolitischer Hinsicht folgen - in
finanzpolitischer Hinsicht vielleicht nicht so sehr -, Professor Kleiner, beim Neujahrsempfang der DFG gesagt:
An den Hochschulen muss etwas in Milliardenhöhe passieren, damit sie richtig auf die Füße kommen. Er dachte
an einen Mehrwertsteuerpunkt. Damit beschrieb er die
Dimension von 6 bis 7 Milliarden Euro, die in Deutschland in diesem Bereich aufgebracht werden muss.
Ich glaube, er hat so eindringlich darauf hingewiesen,
weil er die fehlende Grundfinanzierung im internationalen Vergleich sieht, aber natürlich auch, welchen Zulauf
die Hochschulen haben, und zwar aufgrund der demografischen Entwicklung, aufgrund der veränderten Zugangsbedingungen - es kommen in zunehmendem Maße
beruflich Qualifizierte an die Hochschulen, weil es in
den Ländern endlich eine entsprechende Bewegung gibt,
die bestimmt noch stärker werden wird - und aufgrund
der Tatsache, dass sich die Gesellschaft dahin gehend
verändert, dass eine akademische Grundbildung in vielerlei Hinsicht auch der beruflichen Orientierung dient
und auch diese Tendenz sicherlich noch stärker wird.
({4})
Deshalb brauchen die Hochschulen zusätzliches Geld.
Dabei geht es um die berufliche Seite und um die Forschungsseite. Diese Dimension muss man erkennen. Das
war das Anliegen der Grünen und von Herrn Schulz.
Man kann schon jetzt weitere Konzepte vorstellen
und eine Alternative für die Zeit ab 2013 erarbeiten.
Schwarz-Gelb hat keine Alternative mehr und wird in
Deutschland - in den Bundesländern und auf Bundesebene - keine Regierung mehr stellen.
({5})
Man muss fragen, in welcher anderen Konstellation man
zu besseren Lösungen kommt. Der Weg der schwarzgelben Regierung sind sinkende Haushaltsmittel in der
mittelfristigen Finanzplanung im Bildungs- und Forschungsbereich.
({6})
Wir sagen freimütig: Unsere Alternative ist, mehr Geld
- auch über Steuererhöhungen - einzunehmen, um das
einzulösen, was Professor Kleiner fordert, nämlich eine
deutlich höhere Grundfinanzierung und Spitzenfinanzierung für die Hochschulen.
Die Schwierigkeiten des schwarz-gelben Modells
darf ich Ihnen an drei Punkten vorführen.
In der mittelfristigen Finanzplanung gehen Sie - trotz
steigender Studierendenzahlen - von sinkenden Ausgaben im Bereich BAföG aus. Wie das zusammenpassen
soll, leuchtet niemandem ein. Wollen Sie das BAföG
etwa kürzen? Das wäre die einzige Antwort darauf.
Sie gehen immer davon aus, dass Sie das große Versprechen an die Forschungsorganisationen von 5 Prozent
plus über 2015 hinaus verlängern. Dafür bräuchten Sie
Jahr für Jahr rund 300 Millionen Euro zusätzlich. Doch
laut mittelfristiger Finanzplanung wollen Sie für Forschung und Hochschulen weniger Mittel bereitstellen.
Auch das geht nicht auf.
Gleichzeitig wollen Sie - bei sinkenden Mitteln - die
Hochschulen in Bezug auf die zusätzlichen Studienanfängerzahlen von rund 370 000 über den Hochschulpakt
finanziell unterstützen. Auch das geht nicht auf.
Deshalb ist die Alternative, die Schwarz-Gelb in den
Raum stellt, hinsichtlich der mittelfristigen Finanzplanung mit vielen Fragezeichen zu versehen. Wir sagen
ehrlich: Diese Fragezeichen lassen sich nur entfernen,
wenn man die Länder und den Bund finanziell stärkt.
Das sieht unsere Alternative von zweimal 10 Milliarden
Euro für Bund und Länder zur Stärkung von Bildung
und Forschung vor. Ich glaube, unsere Alternative ist die
richtige. Sie gibt den Hochschulen Sicherheit, weil sie
die Möglichkeit schafft, die gravierenden strukturellen
Veränderungen, die unsere Hochschulen erleben, zu finanzieren, konstruktiv zu gestalten und auszubauen, und
weil sie auch an anderer Stelle Mittel für die Bildung
mobilisiert. Darüber werden wir streiten.
Über einen Punkt sollten wir vielleicht nicht streiten.
Es handelt sich um eine Bitte, die die Regierung jetzt erfüllen kann. Sie muss jetzt darauf drängen, dass die
Kompensationsmittel für die Gemeinschaftsaufgabe
Hochschulbau tatsächlich für die Hochschulen weiter
zur Verfügung stehen.
({7})
Es geht um 700 Millionen Euro. Diese könnten verschwinden. Daher sollte diese Regierung dafür sorgen,
dass von diesen 700 Millionen Euro möglichst viel für
den Hochschulbereich erhalten bleibt. Wir streiten mit
Ihnen gerne dafür. Wir wollen mit Ihnen gerne dafür
streiten, dass das Grundgesetz an die erforderliche veränderte Leistungsfähigkeit der Hochschulen angepasst
wird. Wir würden Sie gerne dafür gewinnen. Es wäre
auch im Interesse der Länder; denn sie würden durch
eine Reform der Erbschaftsteuer oder der Vermögensteuer viel Geld bekommen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Dieses Geld könnten Sie für Bildung einsetzen. Dies
sollten Sie jetzt mit vorbereiten. Das wäre im Interesse
der Hochschulen.
Danke.
({0})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Sylvia Canel von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und
Kolleginnen! Herr Dr. Rossmann, 12 Milliarden Euro
mehr als jede Farbkombination zuvor hat Schwarz-Gelb
auf den Tisch gelegt. Ich finde, das ist eine Würdigung
wert.
({0})
Ziel des Bologna-Prozesses ist es, die Mobilität und
damit auch die Internationalität europäischer Studierender zu verbessern. Ziel ist es auch, Vergleichbarkeit der
Hochschulsysteme zu schaffen, damit wir eine Basis für
einen fairen Wettbewerb und für mehr Wachstum legen.
Wir sind auf dem richtigen Weg, diese Ziele zu erreichen, wenn auch noch nicht alles erreicht wurde. Die
Linke stellt im vorliegenden Antrag vornehmlich die
Probleme fest. Sie verschließt dabei die Augen und argumentiert ausschließlich defizitorientiert, so wie sie nun
einmal ist.
({1})
Unter der Überschrift „Bologna“ nur defizitorientiert zu
argumentieren, ist zu konstruiert.
({2})
Dabei werden veraltete Datenquellen herangezogen und
einiges an Material einfach ausgeblendet. So wird der
Bologna-Bericht 2012 nicht erwähnt. Dieser bestätigt,
dass die Umsetzung des Bologna-Prozesses gut vorankommt und die Durchlässigkeit des Bildungssystems zugenommen hat. So ist die Zahl der Studienanfänger von
424 000 im Jahr 2009 auf mehr als 515 000 im Jahr 2011
gestiegen. Noch nie haben so viele Menschen bei uns ein
Studium aufgenommen. Die Hochschulzugangsquote
liegt mittlerweile bei deutlich über 50 Prozent. Das sind
20 Prozent mehr als noch 1998, und das ist noch gar
nicht so lange her.
({3})
Auch die Auslandsmobilität der Studierenden ist gestiegen und nicht gesunken. Jeder dritte Absolvent hat
ein studienbezogenes Praktikum im Ausland hinter sich.
Nur 24 Prozent der mehr als 4 000 Masterstudiengänge
waren im Wintersemester 2010/2011 mit einer Zulassungsbeschränkung belegt; das ist gut, auch wenn daran
noch gearbeitet werden muss. Zudem ist der Zugang zu
den Hochschulen heute in allen Bundesländern auch
ohne Abitur möglich. Meister, Techniker und Fachwirte
können studieren.
({4})
Es stimmt nicht, dass Bachelorstudiengänge keinen
berufsqualifizierenden Abschluss vermitteln und keine
attraktiven beruflichen Perspektiven bieten. Das habe im
Übrigen auch ich einmal gedacht. Aber mehrere Studien
haben belegt - wir nehmen die Experten nämlich wirklich ernst, Frau Gohlke -:
({5})
Absolventen eines Bachelorstudienganges finden auf
dem Arbeitsmarkt genauso schnell eine Stelle wie ihre
Kommilitonen mit Master-, Magister- oder Diplomabschluss. Zudem ist die Rate der Arbeitslosigkeit von
Absolventen eines Bachelorstudienganges mit 3 Prozent
nicht höher als die von Absolventen mit anderen Hochschulabschlüssen.
Wir haben in unserem Antrag „Bologna-Prozess vollenden - Länder und Hochschulen weiter unterstützen“
den Grundstein für eine gemeinsame und koordinierte
Anstrengung aller Bildungspartner gelegt. Meine Damen
und Herren, die Bildungsgrenzen in Europa öffnen sich.
Sie öffnen sich endlich. Wann öffnen sich endlich auch
die Bildungsgrenzen innerhalb Deutschlands, nämlich
zwischen den Bundesländern, und das nicht nur für die
Hochschulen?
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9173 und 17/9197 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausPeter Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, Dr. Birgit Reinemund, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine Sicherung der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland im Zusammenhang mit
der Überprüfung des EU-Rahmens für die Vorsorgesysteme in den Mitgliedstaaten
- Drucksache 17/9394 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Peter Weiß von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland bauen ihre Altersvorsorge auf mehreren
Säulen auf, unter anderem auf der Säule der betrieblichen Altersversorgung. Deswegen haben wir uns politisch dazu entschlossen, die betriebliche Altersversorgung deutlich zu fördern und auszubauen. Unter
anderem haben wir in der Großen Koalition beschlossen,
die Entgeltumwandlung dauerhaft steuer- und sozialabgabenfrei zu gestalten. Es ist erfreulich, dass immer
mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer diese
Chance nutzen. Unser Ziel muss sein, die betriebliche
Altersvorsorge als zusätzliche Säule der deutschen
Alterssicherung weiter zu stärken und möglichst vielen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu ermöglichen,
in diesem Rahmen Geld anzusparen.
({0})
Es ist im Grunde genommen erfreulich, dass sich die
Kommission der Europäischen Union in ihrem kürzlich
vorgelegten Weißbuch der betrieblichen Altersversorgung zuwendet, unter anderem dadurch, dass sie ankündigt, die sogenannte Pensionsfondsrichtlinie zu überarbeiten. Diese Richtlinie wurde im Jahr 2003 geschaffen, um eine Mindestharmonisierung des europäischen
Finanzaufsichtsrahmens für Einrichtungen der betrieblichen Altersvorsorge zu schaffen. In Deutschland findet
diese Richtlinie auf zwei Durchführungswegen der betrieblichen Altersversorgung Anwendung, nämlich auf
die sogenannten Pensionsfonds und auf die sogenannten
Pensionskassen. Mit der Überarbeitung sollen grenzüberschreitende Aktivitäten von Einrichtungen der
betrieblichen Altersversorgung erleichtert und die Aufsichtsregeln verbessert werden.
Die Kommission hat die Absicht, die Vorschriften
von Solvency II, die ja für das Versicherungswesen gedacht sind, auch auf die Pensionsfonds und die Pensionskassen zur Anwendung zu bringen. Allerdings wäre eine
Eins-zu-eins-Umsetzung dieser Bedingungen auf Pensionskassen und Pensionsfonds der betrieblichen Altersvorsorge gerade eben nicht sinnvoll. Die Europäische
Kommission glaubt zwar, damit werde die Sicherheit vor
Insolvenz solcher betrieblichen Versorgungssysteme erhöht, aber was nach Sicherheit klingt und Sicherheit
bringen soll, würde in Wirklichkeit zu einer Aushebelung der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland
führen.
({1})
Betroffen wären nach derzeitigem Stand rund 8 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihre
Altersvorsorgeansprüche in einem Pensionsfonds oder in
einer Pensionskasse ansparen. Wenn die sogenannten
Solvency-II-Vorschriften in vollem Umfang darauf angewendet würden, dann entstünde ein zusätzlicher Kapitalbedarf von über 40 Milliarden Euro, von dem niemand weiß, wie er aufgebracht werden sollte. Unsere
Pensionsfonds und Pensionskassen müssten nicht mehr,
wie bisher, knapp 5 Prozent der Einlagesumme, sondern
30 bis 40 Prozent, also achtmal so viel, zurücklegen. Das
wäre Kapital, das in der Liquidität der Unternehmen
fehlen würde, Kapital, das ansonsten Investitionen ermöglichen würde, Kapital, das Arbeitsplätze schaffen
könnte. Statt zu investieren und die Wirtschaft anzukurbeln, würde man zwangsweise und letztlich unnötig zusätzliche Rücklagen bilden müssen, was Investitionen
hemmen würde.
Nun müsste man das Argument der Sicherheit, das die
Europäische Kommission vorträgt, durchaus ernst nehmen, wenn die Kommission die Besonderheiten der
deutschen betrieblichen Altersvorsorge nicht schlichtweg außer Acht lassen würde:
Zum Ersten gibt es bei uns nämlich ausgesprochene
Schutzvorschriften. Die Betriebsrenten in Deutschland
sind im Prinzip meist schon doppelt abgesichert. Einerseits haften die Arbeitgeber auch dann für die Erfüllung
eines Pensionsanspruchs, wenn eine Pensionskasse oder
ein Pensionsfonds die Rentenzahlungen nicht oder nicht
vollständig erbringen kann. Fällt der Arbeitgeber auch
aus, dann sorgt der Pensions-Sicherungs-Verein dafür,
dass die Betriebsrenten ausbezahlt werden können.
Andererseits gibt es noch eine ganze Reihe von Schutzvorschriften des Betriebsrentengesetzes, damit der Arbeitnehmer quasi als Verbraucher nicht übervorteilt wird
und die Betriebsrente garantiert erhält. Da Deutschland
also schon einen doppelten Schutz dieser Betriebsrenten
gewährleistet, brauchen wir nicht noch zusätzliche
Schutzvorschriften durch die Europäische Kommission.
({2})
Peter Weiß ({3})
Zum Zweiten verkennt die Kommission, dass die betriebliche Altersversorgung bei uns in Deutschland eine
freiwillige Leistung ist. Gott sei Dank haben sich viele
Betriebe dazu entschlossen, und hoffentlich entschließen
sich noch viele weitere Betriebe dafür, eine betriebliche
Altersversorgung auch durch einen eigenen Beitrag des
Betriebs, des Arbeitgebers, anzubieten, aber sie sind
nicht dazu gezwungen. Sie sind auch nicht auf dem
freien Markt aktiv, sondern sie unterstützen mit ihren
Einrichtungen, den Pensionsfonds und den Pensionskassen, lediglich ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es gibt auch keine Gewinnerzielungsabsicht.
Deshalb muss klar sein, dass wir Regelungen, die
letztlich dazu führen würden, dass die Betriebe eher Abschied von der betrieblichen Altersversorgung nehmen
würden, anstatt neu einzusteigen, mit aller Entschiedenheit zurückweisen müssen.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, statt dort, wo es
bereits genügend Schutzregelungen gibt, zusätzliche
Regelungen zu schaffen, sollte die Europäische Kommission eher Maßnahmen und Initiativen ergreifen, um
all die Staaten in der Europäischen Union, in denen es
keine betriebliche Altersversorgung gibt, dazu anzuhalten, eine betriebliche Altersversorgung einzuführen.
Kurzum: Wir brauchen europaweite Initiativen für mehr
Altersvorsorge und keine Regelungen, die letztlich zum
Abbau einer betrieblichen Altersversorgung führen
würden.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Josip Juratovic von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor meiner Zeit im Bundestag war ich zunächst am Fließband und dann im Betriebsrat eines großen Automobilunternehmens beschäftigt. Wir haben uns
damals intensiv mit der betrieblichen Altersversorgung
beschäftigt, um für unsere Arbeitnehmer im Alter möglichst gute Bedingungen zu schaffen.
Auch in der Politik haben wir viel zugunsten der
betrieblichen Altersversorgung getan. Es ist klar, dass
die gesetzliche Rente die wichtigste Säule der Altersvorsorge bleibt. Klar ist aber auch, dass weitere Säulen
notwendig sind, insbesondere die zweite Säule, die
betriebliche Altersversorgung.
Die betriebliche Altersversorgung ist ein Modell, das
für viele Arbeitnehmer und Arbeitgeber attraktiv ist.
2001 hat die SPD dafür gesorgt, dass Beschäftigte einen
Teil ihres Gehalts zugunsten einer betrieblichen Altersversorgung umwandeln können, um später eine Betriebsrente zu erhalten. Diese Entgeltumwandlung ist bei der
Einzahlung sozialversicherungsfrei.
Gewerkschaften und Arbeitgeber haben gemeinsam
viele Systeme der betrieblichen Altersversorgung geschaffen. Bereits heute erhalten mehr als 1 Million
Menschen eine Betriebsrente. Weitere 6,3 Millionen
Menschen sind im System der betrieblichen Altersversorgung, um später eine Betriebsrente zu erhalten.
Das deutsche System der Betriebsrenten ist deshalb ein
Erfolg!
({0})
Kolleginnen und Kollegen, auch in der Finanzkrise
waren unsere Betriebsrenten sicher. Mit Freude können
wir feststellen, dass kein einziges deutsches Betriebsrentensystem kaputtgegangen ist, übrigens anders als in
anderen Ländern, wie in den USA oder Großbritannien.
Das zeigt: Unser Sicherungssystem für die Betriebsrenten funktioniert. Erstens ist gewährleistet, dass der
Arbeitgeber bei einer Finanzierungslücke haftet. Somit
ist die Leistung für die Beschäftigten in jedem Fall gesichert. Zweitens gibt es strenge Anlagevorschriften,
wodurch ein Wertverlust quasi ausgeschlossen ist. Drittens gibt es den Pensions-Sicherungs-Verein, der die
Ansprüche bei einer Insolvenz eines Unternehmens
sichert. Dieses Modell der drei Sicherungssysteme hat
sich gerade in der Krise bewährt. Deshalb sehe ich keine
Notwendigkeit, an diesem System etwas zu verändern.
({1})
Grundsätzlich ist die Zielrichtung der Kommission
richtig: Für Betriebsrenten braucht man eine möglichst
hohe Sicherheit, damit die Beschäftigten keine Ansprüche verlieren. Jedoch sollte die Kommission vorsichtig
sein, den Mitgliedstaaten etwas zu empfehlen, was letztendlich ein sicheres System im jeweiligen Staat zerstören würde. Das ist der Fall hier in Deutschland: Die
Sicherheit unserer Betriebsrenten besteht nicht nur auf
dem Papier, sondern hat den Praxistest während der
Finanzkrise bestanden. Mehr Eigenkapital der Betriebsrentensysteme würde dagegen das deutsche System
infrage stellen. Viele Betriebsrenten wären nicht mehr
finanzierbar.
Es ist selten der Fall, dass eine so große Einigkeit
herrscht, nicht nur bei uns im Bundestag, sondern auch
bei Arbeitgebern und Gewerkschaften. Dies ist ein wichtiges Signal nach Brüssel. Ich hoffe, dass wir gemeinsam
für ein Umdenken bei der Kommission sorgen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Björn
Sänger das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat beschleicht mich das Gefühl, dass wir
heute etwas besprechen, das wir am Ende in großer Einigkeit beschließen können. Warum ist das so? Die betriebliche Altersvorsorge ist eine tragende Säule in unserem Sozialsystem. Neben der gesetzlichen Rente und der
privaten Vorsorge ist sie eine wichtige Säule, die es weiter auszubauen gilt, insbesondere vor dem Hintergrund
der demografischen Entwicklung.
Die betriebliche Altersvorsorge ist insbesondere in
kleinen und mittleren Unternehmen noch unterentwickelt. Dabei geht es nicht um Pensionsfonds und Pensionskassen, sondern in der Regel um die Entgeltumwandlung, die, wie bereits angesprochen wurde, von der
Vorgängerregierung richtigerweise eingeführt wurde.
Pensionsfonds und Pensionskassen haben ihre Heimat
traditionell in großen, international aufgestellten Unternehmen, weil es dort eine kritische Masse an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gibt. Es ist eine lange
Historie sozial engagierter Unternehmerinnen und Unternehmer, die schon im 18. oder 19. Jahrhundert diese
Sozialsysteme in ihren Unternehmen eingeführt haben.
Ich denke beispielsweise an die Familie Krupp oder an
Sophie Henschel aus meiner Heimatstadt Kassel.
Die betriebliche Altersvorsorge ist seit jeher eine Sozialleistung im Unternehmen. Sie bietet auch einen Anreiz. Unternehmen können damit werben, dass es diese
Sozialleistung gibt, und sich damit erfolgreich dem
Fachkräftemangel entgegenstellen. Sie wird im Arbeitsvertrag geregelt. Bereits 8 Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer kommen in den Genuss dieser Sozialleistung.
Auch die Unternehmen profitieren davon; ich sagte es
bereits. Sie werden dadurch attraktiver. Sie können die
Finanzmittel zum Teil im eigenen Unternehmen verwenden und haben dadurch einen Finanzierungsvorteil.
Der Ansatz der EU-Kommission an dieser Stelle ist
richtig und wichtig, grenzüberschreitende Unternehmen
zu betrachten und für eine entsprechende Portabilität zu
sorgen. Das trägt den Anforderungen der Globalisierung
Rechnung. Auch die christlich-liberale Koalition hat diesen Gedanken aufgegriffen und das Pension Pooling auf
den Weg gebracht. Dadurch erhalten die Anleger, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, eine höhere Rendite, wenn die Anlagen von international tätigen Unternehmen gebündelt verwaltet werden. Wir stärken damit
auch den Finanzplatz Deutschland und ziehen das Ganze
unter deutsche Aufsicht.
Aber eine betriebliche Altersvorsorgeeinrichtung ist
kein Finanzprodukt. Sie ist in dem Sinne auch nicht mit
Versicherungen vergleichbar. Die Unternehmen haften
für die entsprechenden Zusagen. Es gibt den PensionsSicherungs-Verein. Wir haben aktuell 130 Milliarden
Euro Deckungsmittel zur Verfügung.
Wir sprechen in der Tat über Großunternehmen mit
einer sehr langen Tradition. Diese Unternehmen gehören
in der Regel zu den 6 Prozent der Unternehmen in
Deutschland, die älter als 100 Jahre sind. Das heißt, es
gibt eine gewisse Sicherheit für diese Anlagen und bisher auch keine nennenswerten Probleme. Die Probleme
würden erst dann kommen, wenn wir die Solvency-IIRegeln auch für dieses Instrument anwenden würden.
Denn die Eigenkapitalanforderungen, die dort vorgesehen sind, können die Unternehmen in der Regel nicht
mit eigenen Mitteln erfüllen. Die Attraktivität dieser Sozialleistung würde folglich leiden.
Natürlich ist auch vollkommen klar, dass eine Vergangenheitsbetrachtung nicht viel weiterhilft. Wir können
nicht sagen: Weil in der Vergangenheit nichts passiert ist,
wird auch in der Zukunft nichts passieren. - Insofern ist
es logisch, dass sich die EU-Kommission Gedanken darüber macht, wie man zu einer gewissen Sicherheit
kommt.
Aber es gibt, wie gesagt, schon Sicherungssysteme.
Wir haben den Pensions-Sicherungs-Verein. Auch das
muss in die Überlegungen mit einfließen und eine Würdigung finden, dass es diese Sicherungssysteme gibt.
Auf gar keinen Fall kann man diese Regeln auf den Bestand anwenden. Das wäre nicht im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Denn sie müssten mit
einer niedrigeren Rente rechnen. Ich denke, das wollen
wir allesamt in diesem Hause nicht.
Insofern ist der vorliegende Antrag der dokumentierte
Wille der christlich-liberalen Koalition, der Bundesregierung ein Mittel an die Hand zu geben, zu sagen: Der
gesamte Deutsche Bundestag sieht das so; bitte verhandelt in Brüssel entsprechend, damit diese Probleme bei
der betrieblichen Altersvorsorge nicht auftreten.
Ich denke, das werden wir heute in großer Einmütigkeit beschließen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Koch von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ganz so groß ist die Einhelligkeit nun doch nicht.
Ich muss leider ein bisschen Salz in die Suppe streuen.
Der Antrag von Union und FDP ist an Scheinheiligkeit
nicht zu überbieten. Die aktuelle Regierung sowie die
Vorgängerregierungen bis zu Rot-Grün haben sich in der
Rentenpolitik vor allem durch zwei Punkte ausgezeichnet: durch Rentenklau und Vergrößerung der Altersarmut. Dämpfungsfaktoren und die Rente ab 67 sind ganz
klare Rentenkürzungen. Die seit Jahrzehnten versprochene Angleichung des Rentenwertes Ost an den Rentenwert West ist bis heute nicht erfolgt. Die Inflation
frisst zu zaghafte Rentenerhöhungen fast immer komplett auf, selbst die jetzige - wie Sie meinen: übergroße Rentenerhöhung.
Die Linke möchte dagegen eine Rente, die den Lebensstandard sichert und armutsfest ist.
({0})
Das Leistungsniveau in der gesetzlichen Rente muss angehoben, der Solidarausgleich ausgeweitet und eine ergänzende Mindestrente von 900 Euro im Monat garantiert werden. Man muss auch über die Ausgangswerte
reden. Für eine wirklich gute Rente sind gute Löhne und
gute Arbeit entscheidende Stellschrauben. Daher fordern
wir den Abbau prekärer Beschäftigung, einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro sowie
eine sanktionsfreie Mindestsicherung.
({1})
Nun bringen Union und FDP einen Antrag ein, mit
dem sie eine Schwächung der betrieblichen Altersvorsorge im Rahmen der Überarbeitung der EU-Pensionsfondsrichtlinie verhindern wollen. Es geht darum, dass
auf EU-Ebene diskutiert wird, Solvency-II-Vorschriften
auf Einrichtungen der betrieblichen, kapitalgedeckten
Altersvorsorge zu übertragen. Dies soll über eine Neufassung der Pensionsfondsrichtlinie geschehen. Solvency II führt unter anderem strengere Vorschriften zur
Eigenkapitalausstattung von Versicherungsunternehmen
ein. Die Linke ist der Auffassung, dass eine unreflektierte Übertragung aller Solvency-II-Vorschriften auf die
betriebliche Altersvorsorge bedenklich ist. Generell
muss der Versicherungsmarkt strikt, aber umsichtig reguliert werden. Bei übertriebenen Eigenkapitalanforderungen besteht die Gefahr, dass die Unternehmer auf
Dauer ein immer geringeres Leistungsniveau durchdrücken, dass Betriebsrenten gekürzt werden müssen oder
dass dies bei der Entgeltumwandlung zu höheren Beiträgen führt. Hier gilt es, die Versicherten und ihre Betriebsrenten zu schützen.
({2})
Der Antrag von Union und FDP ist aber allzu durchsichtig. Sie wollen der Versicherungslobby und Arbeitgeberverbänden willfährig Folge leisten, weil diese mehr
Aufsicht wie der Teufel das Weihwasser fürchten. Die
Linke will nicht, dass betriebliche Altersvorsorge zu einer Art Regulierungsoase wird. Die meisten Durchführungswege der betrieblichen Altersvorsorge in Deutschland setzen eher auf risikoarme Anlagen. In diesem Fall
sollten die Eigenkapitalanforderungen ohnehin nicht
total überfordernd wirken. Durch eine zu niedrige Regelungsdichte flüchtet aber noch mehr Kapital zum
Beispiel in Pensionsfonds. Diese sind durchaus Finanzmarktakteure und würden sich aufblähen. Immer mehr
renditesuchendes Kapital käme so auf die Finanzmärkte,
wo sich neue Spekulationsblasen bildeten. Alle Sicherungsmechanismen, die Sie aufgebaut haben, können generell nicht greifen, weil sie sich an Einzelfällen orientieren.
Wenn Sie tatsächlich befürchten, dass die Eigenkapitalanforderungen fast alle Träger der betrieblichen Alterssicherung überfordern, scheint Ihre vielgerühmte betriebliche Altersvorsorge doch nicht auf so sicheren
Füßen zu stehen. Gerade wenn Ihre Befürchtungen zutreffen sollten, ist es Ihre Pflicht, eine lebensstandardsichernde Alterssicherung wieder komplett im Rahmen
der gesetzlichen Rentenversicherung über ein Umlageverfahren zu organisieren. Diese ist und bleibt für die
Linke die tragende Säule. Sie ist der beste Schutz für
Versicherte.
Ich komme zum Schluss. Die betriebliche Altersvorsorge kann höchstens noch als Zuckerle obendrauf kommen. Als einzige Fraktion hier im Hause lehnten und
lehnen wir die Privatisierung der Altersvorsorge ab. Ihr
Rentendumping kommt Versicherungskonzernen und
Großunternehmen zugute. Beenden Sie deshalb Ihre
Rentenpolitik, die den meisten Menschen Angst im Alter
macht!
Danke schön.
({3})
Jetzt hat der Kollege Wolfgang Strengmann-Kuhn
von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ehrlich gesagt, ich bin ein bisschen überrascht über den
Antrag. Die bisherige Debatte hat gezeigt, dass wir uns
weitgehend einig sind: Die betriebliche Alterssicherung
ist eine wichtige Säule der Alterssicherung. Wir alle wissen, was wir an der betrieblichen Alterssicherung in
Deutschland haben.
Soweit ich weiß, laufen die Verhandlungen zwischen
der Bundesregierung und der EU noch, und es ist bisher
unklar, wie die konkreten Folgen der Überlegungen der
EU für Deutschland tatsächlich sind. Also warum eigentlich dieser Antrag? Wenn es darum geht, ein breites
Votum des Bundestags zu bekommen, dann frage ich
mich, warum Sie nicht auf uns zugekommen sind, damit
wir einen gemeinsamen Antrag stellen. Das wäre ein
noch stärkeres Signal gewesen.
({0})
Wenn es darum geht, zu zeigen, dass wir alle die betriebliche Alterssicherung wichtig finden, diese als notwendige und sinnvolle Säule der Alterssicherung schätzen und dass wir keine Schwächung der betrieblichen
Alterssicherung wollen und ihr keine unverhältnismäßig
neuen Lasten aufbürden wollen, hätte man sich schnell
einigen können. Stattdessen gibt es jetzt einen schwarzgelben Antrag, über den heute im Hauruckverfahren abgestimmt werden soll. Warum dieses Verfahren?
So, wie der Antrag jetzt ist, sind wir nicht ganz zufrieden. Wir müssen uns nämlich schon die Frage stellen:
Wie wollen wir auf die Finanzkrise reagieren, und wie
wollen wir erreichen, dass alle - ich wiederhole: alle Produkte, die auf den Kapitalmärkten gehandelt werden,
auf ihre Risiken sowohl für die Anlegerinnen und Anleger als auch, wie uns die Finanzkrise auch gezeigt hat,
für die Allgemeinheit überprüft werden können? Die Finanzkrise, die noch lange nicht ausgestanden ist, hat
deutlich gemacht, dass das Risiko von kapitalgedeckten
Altersvorsorgeprodukten thematisiert werden muss. Ich
finde, das gilt auch für die betriebliche Altersvorsorge.
Sie ducken sich in diesem Antrag jedoch weg, als ob es
nie eine Finanzkrise gegeben hätte.
Ich bin der Auffassung, dass sowohl aus finanzmarktpolitischer als auch aus sozialpolitischer Sicht - das darf
nicht vergessen werden - eine risikoadäquate Betrachtung der Anlagen auch bei Betriebsrenten wichtig und
richtig ist. Klar ist - da sind wir uns völlig einig -, dass
Solvency II nicht eins zu eins auf die Betriebsrenten angewendet werden kann und auch nicht angewendet werden soll. Aber auch bei den Betriebsrenten müssen wir
die Frage stellen, wo das Kapital angelegt ist, wie sicher
es ist und wie gut die Risiken abgesichert sind. Klar ist
aber auch, dass die Besonderheiten bei den deutschen
Betriebsrenten berücksichtigt werden müssen, damit
nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden.
Wir alle wissen, dass die Betriebsrenten in Deutschland gut gesichert sind. Das soll auch so bleiben, und die
betriebliche Altersvorsorge darf nicht durch unnötige
und unsinnige Vorschriften überfordert werden. Für Verhandlungen mit dieser Stoßrichtung hat die Bundesregierung unsere Unterstützung. Wir Grünen bekennen uns
ausdrücklich zu den Betriebsrenten. Wir sind jedoch
auch der Auffassung, dass die Finanzkrise uns gelehrt
hat, dass geprüft werden muss, ob alle Anlageformen
und damit auch die Betriebsrenten risikoadäquat durch
Eigenkapital gesichert sind. Das ist in Ihrem Antrag
nicht enthalten. Wir werden uns deswegen der Stimme
enthalten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Jetzt hat der Kollege Ralph Brinkhaus von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
das Thema von der finanziellen Seite betrachtet, dann
muss man sagen: Die Frage der Altersversorgung ist die
zentrale Zukunftsfrage für unser Land. Ich möchte im
Zusammenhang mit dem System der gesetzlichen, umlagefinanzierten Rentenversicherung darauf hinweisen,
dass wir momentan 20 Millionen Rentenempfänger und
circa 30 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte haben und der Bundeszuschuss circa 80 Milliarden Euro jährlich beträgt. Das Verhältnis von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zu Rentenempfängern wird bald eins zu eins sein. Sie sehen, welche
Zeitbombe trotz aller Strukturanpassungen, die die
christlich-liberale Regierung, aber auch die CDU/CSU
zusammen mit der SPD vorgenommen haben, hier tickt.
Umso wichtiger ist es, dass wir mit der betrieblichen Altersversorgung und der privaten Altersversicherung weitere Säulen der Altersversorgung haben.
Es ist gut und richtig, dass sich die EU-Kommission
mit diesem Thema beschäftigt. Es ist auch deswegen gut
und richtig, weil wir gesehen haben, dass diese Probleme
nicht nur uns in Deutschland betreffen, sondern auch andere EU-Länder. Deswegen ist es legitim, dass die EU
dieses Thema aufgreift.
Das ist nicht nur deswegen legitim, weil es um
enorme Summen geht, sondern auch deswegen, weil die
finanzielle Solidität der Altersversorgung, ganz speziell
der betrieblichen Altersversorgung - darüber unterhalten
wir uns ja heute -, für die Menschen sehr wichtig ist.
Wenn ich mich als junger Mensch darauf verlasse, dass
ich eine bestimmte Betriebsrente bekomme und mit 65
feststelle, dass dieser Plan nicht aufgegangen ist, habe
ich keinerlei Möglichkeiten mehr, das zu korrigieren und
wiedergutzumachen. Deswegen steht der Staat, nicht nur
der deutsche, sondern auch der europäische Gesetzgeber,
in der Verantwortung, hier einzugreifen.
({0})
Was hat die Europäische Kommission nun gemacht?
Sie hat sich gedacht: Na ja, wir haben da doch schon
etwas, was die Solidität von Altersversorgung betrifft,
und das ist das Regulierungswerk von Solvency II. Vielleicht übertragen wir dieses Regelungswerk auch auf die
betriebliche Altersversorgung. - Wenn man Solvency II
betrachtet, stellt man fest: Da gibt es drei Säulen. Die
erste Säule sind die quantitativen Anforderungen an das
Eigenkapital. Die zweite Säule ist das Risikomanagement. Die dritte Säule ist das Berichtswesen.
Wenn man sich die erste Säule anguckt, dann stellt
man fest: Wenn das, was in Solvency II vorgesehen ist
- das ist noch nicht in deutsches Recht umgesetzt -, eins
zu eins auf die betriebliche Altersversorgung übertragen
würde, dann würden Pensionsfonds und Pensionskassen
Nachschusspflichten haben. Die einen sagen: 30 Milliarden Euro; andere sagen: 40 oder 50 Milliarden Euro. Das
würde das System der betrieblichen Altersversorgung in
die Knie zwingen.
Unsere betrieblichen Altersversorger sagen uns: Halt!
Wir haben doch ein System, das immer funktioniert hat,
bei dem es nie Probleme gegeben hat. Sie sagen: Halt!
Wir haben doch ein System, das schon früher reguliert
worden ist, gut reguliert worden ist. Sie sagen: Halt! Wir
sind doch keine Versicherung; wir wollen keinen Gewinn machen. Wir haben ein ganz anderes Risikoprofil.
Und sie sagen: Halt! Wir haben noch Hosenträger und
Gürtel; das ist der Pensions-Sicherungs-Verein, und das
ist die Nachschusspflicht der Unternehmen, die hinter
der betrieblichen Altersversorgung stehen.
Also könnte man zu dem Schluss kommen: Es ist
nichts zu tun. Da sage ich dann: Halt! Und: Nein! Dass
in der Vergangenheit nichts Schlimmes passiert ist, ist
natürlich kein Beweis dafür, dass auch in Zukunft nichts
passiert. Das haben wir in der Finanzkrise gelernt. Ich
sage ferner: Nein! Wir müssen angesichts der enormen
Summen, die dort investiert werden, angesichts der Gefährlichkeit des Finanzmarkts - wir alle wissen heute
kaum noch, wo man Geld sicher anlegt - schon genau
betrachten, was mit diesem Geld geschieht. Wir müssen
natürlich auch die demografische Entwicklung im Auge
behalten. Bei der Kombination - auf der einen Seite werden die Menschen immer älter; auf der anderen Seite
haben wir Unsicherheit von Finanzanlagen - haben wir
durchaus die Pflicht, immer wieder zu schauen: Ist das,
was da geschieht, alles richtig? Wir müssen zudem - auch
das gehört zur Wahrheit dazu - immer wieder schauen:
Ist der Pensions-Sicherungs-Verein noch vernünftig aufgestellt?
({1})
Wie sieht es mit den Unternehmen aus, die diese Nachschusspflicht haben?
Also doch Solvency II? Nein! Wir sollten das Solvency-II-Werk differenziert betrachten. Ich hatte schon
davon gesprochen, dass es drei Säulen gibt. Die eine
Säule ist das Berichtswesen. Gegen Berichtswesen hat
niemand etwas. Ich glaube, es ist richtig und gut, dass
auch die Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung gut berichten, sodass die Aufseher und auch wir als
Politik wissen, was dort passiert.
Die zweite Säule ist das Risikomanagement. Es ist gut
und richtig, dass es auch dort Risikomanagement gibt,
dass bestimmte Anforderungen an die Personen gestellt
werden, die das Geld verwalten. Insofern haben wir auch
dagegen nichts.
Es sind also die quantitativen Anforderungen, die uns
Sorgen bereiten. Meine Vorredner haben schon gesagt,
dass das dazu führen kann, dass das komplette System
der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland infrage steht. Das wollen wir nicht. Nichtsdestotrotz, Herr
Strengmann-Kuhn, müssen wir immer schauen: Ist das
Deckungskapital hoch genug? Wir müssen auch quantitative Anforderungen stellen, aber nicht so, wie das Solvency II vorsieht, weil wir hier einfach andere Bedingungen haben. Deswegen stellen wir den Antrag, der
heute vorliegt.
Zu Ihrer Frage „Warum stellen Sie diesen Antrag
jetzt, zu diesem Zeitpunkt, wo doch auf europäischer
Ebene eigentlich erst in acht oder zwölf Monaten eine
konkrete Vorlage von der Kommission kommen wird?“
muss ich sagen: Gut so! Gut so, dass wir es jetzt
machen! Wir reagieren eigentlich immer viel zu spät auf
europäische Entwicklungen. Ich muss auch sagen, dass
die Branche, die Vertreter der Pensionskassen und Pensionsfonds, gut gehandelt hat. Sie haben uns sehr frühzeitig auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Sie
haben uns sehr frühzeitig die Zahlen geliefert. Und sie
haben uns sehr frühzeitig gesagt: Wir brauchen die Hilfe
und Unterstützung des Deutschen Bundestages.
Insofern ist gerade dies ein gelungenes Beispiel dafür,
wie man frühzeitig auf europäische Entwicklungen
reagiert, wie sich der Deutsche Bundestag frühzeitig
positioniert, wie man der Bundesregierung frühzeitig ein
Verhandlungsmandat mit auf den Weg gibt. Das ist gut;
das ist richtig. Deswegen bitten wir um Unterstützung
für diesen Antrag.
Danke schön.
({2})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Petra Hinz von der SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben gemeinsam an Veranstaltungen
teilgenommen, lieber Kollege Weiß. Dort hat man uns
die Sorgen vorgetragen. Alle Redner sind zu Recht darauf eingegangen, und ich denke, es ist wichtig, dass das
Parlament insgesamt die Wichtigkeit der Betriebsrenten
hervorhebt.
Ich möchte trotzdem gern noch einmal zur Finanzkrise zurückkommen, um deutlich zu machen, dass in
der Tat Solvency II für die Betriebsrenten nicht greifen
kann. Wir erinnern uns an die Finanzkrise 2007 und
2008. Wir sind aufgeschreckt. Es wurde deutlich, welch
erheblichen Handlungsbedarf es gab, aber nicht in
Bezug auf die Betriebsrenten, sondern auf ganz andere
Elemente der Finanzmarktregulierung.
Die Diskussion hat uns verdeutlicht: Wir müssen hinschauen - genau das ist auch gesagt worden. Das, was zu
verbessern ist, müssen wir immer im Auge behalten und
versuchen, das, was bei uns national, in Deutschland,
richtig ist, möglicherweise bei unseren Nachbarinnen
und Nachbarn in Europa einzuführen. Das ist richtig.
Aber ich möchte darauf abheben, dass bereits im Rahmen von Solvency I erhebliche Anforderungen an die
Betriebskassen sowie die Betriebsfonds gestellt wurden.
Dies ist auf nationaler Ebene in Deutschland bereits umgesetzt worden. Im Rahmen des Risikomanagements
sind risikoreiche Anlagenteile klar festgelegt. Also trifft
das, was wir üblicherweise von Versicherungen kennen,
bei der Betriebsrente überhaupt nicht zu.
Eine Spekulation, wie wir sie von den Versicherungen
kennen, ist fast ausgeschlossen, da dieser Bereich gedeckelt ist. Darum lehnen wir die viel strengeren Eigenkapitalvorschriften - es sind bis zu 40 Prozent, die hier gelten sollen - ab. Solvency II darf für die betriebliche
Altersvorsorge nicht greifen.
({0})
In vielen Gesprächen - dies sagte ich gerade - ist uns
genau dieses Bild vermittelt worden. Wenn diese Vorschriften greifen, würden möglicherweise Betriebskassen pleitegehen oder die Ausschüttungen würden sehr
stark zurückgehen, und letzten Endes würde sich dies für
diejenigen, die über Jahre hinweg angespart haben, nicht
lohnen.
Wir sollten unser Drei-Säulen-System, vor allem die
eine Säule, die Betriebsrenten, viel stärker auf EU-Ebene
kommunizieren und die Vorteile darlegen, denen wir es
zu verdanken haben, dass wir unsere betriebliche Altersvorsorge gut durch die Finanzkrise gebracht haben.
Petra Hinz ({1})
Auch wir werden diesem Antrag zustimmen, und ich
möchte noch einmal betonen: Da wir gemeinsam an
Gesprächen teilgenommen haben, hätten wir uns sehr
gewünscht, einen gemeinsamen Antrag zu stellen.
Sicherlich: Hätten wir ihn geschrieben, hätte er möglicherweise einen etwas anderen Duktus erhalten, und es
wären noch andere Aspekte hineingekommen.
Aber die Tendenz und die Notwendigkeit sind richtig,
dass wir unsere Regierung beauftragen, gegenüber der
EU-Kommission nachdrücklich für unsere betriebliche
Altersvorsorge einzustehen und zu kämpfen; denn unser
Drei-Säulen-System und die Säule der betrieblichen
Altersvorsorge sind richtig. Solvency II darf nicht für die
Säule der betrieblichen Altersvorsorge greifen. Die
Sicherungen, die Stützen der betrieblichen Altersvorsorge sind richtig sowie notwendig und nachhaltig im
Rahmen von Solvency I geändert worden.
In diesem Sinne wünsche ich der Regierung und uns
gemeinsam, dass wir die richtigen Worte und Argumente
finden, damit wir unser Modell sehr deutlich machen.
Allen, die es bisher nicht kennen, sollten wir seine Vorzüge deutlich machen. Ich weiß, dass gerade auch die
Gewerkschaften, der DGB, auf europäischer Ebene mit
den Kolleginnen und Kollegen unser Modell diskutieren,
damit Solvency II nicht zum Tragen kommt.
Ich wünsche uns viel Kraft sowie die richtigen Argumente, weil unsere betriebliche Altersvorsorge - ich
wiederhole es, da ich davon überzeugt bin -, eine der
drei Säulen im Rahmen der Altersvorsorge, das richtige
Element ist.
Für Ihre Aufmerksamkeit vielen Dank und für die Gespräche in unserem Sinne viel Erfolg!
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/9394 mit dem Titel „Für eine Sicherung der betriebli-
chen Altersversorgung in Deutschland im Zusammen-
hang mit der Überprüfung des EU-Rahmens für die Vor-
sorgesysteme in den Mitgliedstaaten“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Lin-
ken und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Konversion gestalten - Kommunen stärken
- Drucksache 17/9060 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konversion - Zwischen Verwertungsdruck
und nachhaltigen Konzepten
- Drucksache 17/9405 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Hans-Joachim Hacker von
der SPD-Fraktion das Wort.
({4})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei dem Thema „Standortkonzept der Bundeswehr“
wird es für die Kommunen ernst. Nachdem der ehemalige Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg ein
ungeordnetes Konzept für die Reform der Bundeswehr
hinterlassen hat, hat Bundesverteidigungsminister
de Maizière Entscheidungen zur Aufgabe von 31 Standorten und Reduzierungen bei 90 Standorten verkündet.
Hieraus erwachsen für die betroffenen Kommunen gravierende Konsequenzen. Der Bund darf die Kommunen
dabei nicht alleine lassen. Was im Moment fehlt, ist ein
schlüssiges Gesamtkonzept des Bundes. Dies ist der
Kern der Forderung im Antrag der SPD-Bundestagfraktion „Konversion gestalten - Kommunen stärken“. Dies
ist kein Geschenk an die Standortgemeinden, sondern
entspringt einem ganzheitlichen Ansatz, den die SPDBundestagsfraktion hierbei verfolgt.
Es ist auch klar, dass die Auswirkungen auf die einzelnen Länder und Kommunen unterschiedlich sein werden. In der Region Hamburg mit ihrer dynamischen
Entwicklung sind die Folgen andere als in den strukturschwachen Gebieten von beispielsweise Brandenburg
und Mecklenburg-Vorpommern. Die Erlöse aus diesen
Veräußerungen müssen gerecht verteilt werden.
In meinem Wahlkreis stehen die Bürgerinnen und
Bürger und die Kommunalpolitiker der Stadt Lübtheen
nach einer jahrelangen Hängepartie vor der enormen
Herausforderung, dass der örtliche Truppenübungsplatz
geschlossen wird. Die Entscheidung ist in der Sache
auch richtig; das will ich hier sagen. Enttäuschung ist
schon jetzt eingekehrt - nicht nur in Lübtheen, sondern
auch anderswo -, da sich die großmundigen Ankündigungen des Bundesverkehrsministers Dr. Ramsauer,
einen sogenannten Finanzierungskreislauf „Konversion“
zu etablieren, in Luft aufgelöst haben. Auf eine Kleine
Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung am 16. Januar 2012 geantwortet. Die Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion „Künftige Stationierung der Bundeswehr“ hat die Bundesregierung zu
diesem Punkt so beantwortet, dass die Ankündigung von
Dr. Ramsauer vom 8. November 2011 in der Rheinischen Post sich in Luft auflöst. Das war also eine Luftnummer und keine Hilfe für die Kommunen.
({0})
Die SPD-Bundestagsfraktion verharrt bei diesem
Thema nicht in Wehklagen und Resignation. Wir wollen, dass dieser Prozess, der sich über Jahre erstrecken
wird - wir werden erst in den Jahren 2013/2014 mit diesen Aufgaben richtig beginnen -, ganzheitlich gestaltet
wird. Wir meinen, ein Ansatz ist zum Beispiel das Programm „Stadtumbau West“, in dem solche Maßnahmen
etabliert sind. Wir fordern ein eigenständiges Programm
„Konversion“ für das gesamte Bundesgebiet. Die Mittel,
die im Rahmen der Städtebauförderung einzustellen
sind, müssen angepasst werden. Unabhängig von der
Konversionsproblematik besteht bei der Städtebauförderung ein Bedarf, der sich auf ungefähr 700 Millionen
Euro pro Jahr bemisst. Das muss Maßstab für die Bewertung sein.
Wir können auch Synergieeffekte erzielen. Erfahrungen, die der Bund oder Bundesbehörden in den letzten
Jahren bei anderen Prozessen gesammelt haben, können
auf die Kommunen übertragen werden. Strukturschwache Kommunen werden bei der Planung, auch bei der
Bewertung von Umweltfolgen nicht das nötige Knowhow haben. Hier ist der Bund gefordert, eine entsprechende inhaltliche Unterstützung zu geben. Ich will
deutlich sagen, dass die SPD-Bundestagsfraktion den
Antrag aus Nordrhein-Westfalen unterstützt, der dem
Bundesrat vorliegt und der eine Erweiterung der Aufgabenstellung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben,
der BImA, fordert, damit diese strukturpolitische Ziele
verfolgen kann.
Dieser Antrag liegt dem Bundesrat vor. Es handelt
sich um einen formellen Akt, den Auftrag der BImA in
diesem Punkt zu präzisieren. Das wäre eine ganz konkrete Hilfe für strukturschwache Regionen.
({1})
Wir meinen, dass die BImA mehr sein muss als der Immobilienmakler des Bundesfinanzministers. Das gilt für
die Konversionsimmobilien genauso, Herr Staatssekretär, wie für die Immobilien der TLG Wohnen GmbH,
über die wir in dieser Woche auch diskutiert haben.
Der Prozess der Umgestaltung der bisherigen Bundeswehrstandorte, die aufgegeben werden, kann auch
eine Chance für eine moderne Regionalplanung sein.
Wir streben die Reduzierung der Inanspruchnahme von
Flächen für bauliche Nutzung an; sie soll auf 30 Hektar
pro Tag verringert werden. 30 Hektar pro Tag - das ist
ein hehres Ziel. Im Moment liegen wir ungefähr bei
90 Hektar. Wir können diese Immobilien auch für die
Reduzierung der Flächeninanspruchnahme nutzen, indem wir die Flächen zurückbauen und sie beispielsweise
in den nationalen Naturfonds einstellen.
Um es auf den Punkt zu bringen: Für die SPD-Fraktion steht nicht eine Einzelmaßnahme im Vordergrund,
sondern wir wollen ein Gesamtkonzept. Das kann aber
nicht allein darin bestehen, dass die BImA Veranstaltungen hier in Berlin durchführt und allgemeine Erklärungen abgibt. Das kann nicht der Weg sein. Die Veranstaltung vom Februar dieses Jahres hat bei den betroffenen
Kommunen unterschiedliche Resonanz gefunden. Es
kann sich hier nur um einen ersten Schritt handeln. Wir
brauchen ein Gesamtkonzept. Hier ist die Bundesregierung gefordert, Herr Staatssekretär.
Ich appelliere an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Koalitionsfraktionen: Machen Sie es sich nicht
so leicht. Stimmen Sie die beiden Anträge nicht einfach
nieder. Gehen Sie mit uns in eine inhaltliche Diskussion,
damit wir am Ende zu guten Ergebnissen kommen für
die Kommunen, die von den Standortschließungen betroffen sind.
Vielen Dank.
({2})
Für die Bundesregierung ergreift das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Thema Konversion begleitet uns seit dem
Jahr 1990. Das Ende des Kalten Krieges und die erfreuliche Wiedervereinigung Deutschlands machten einen
weitgehenden Truppenabbau nicht nur bei der Bundeswehr, sondern auch bei den inzwischen befreundeten
ausländischen Streitkräften in Deutschland möglich. Das
ist aufgrund der veränderten sicherheits- und europapolitischen Lage auch geboten.
In der Konsequenz waren bisher militärisch genutzte
Liegenschaften neuen Verwendungen zuzuführen und
die Wirtschaftsstruktur bisheriger Standorte fortzuentwickeln. Der bisherige Konversionsprozess ist ohne ein gesondertes Konversionsprogramm des Bundes durchgeführt worden, und zwar auch zu dem Zeitpunkt, als die
Fraktionen, deren Anträge wir heute beraten, Regierungsverantwortung trugen.
Die strukturpolitische Verantwortung des Bundes
liegt im Kern in den Instrumenten, die sich als erfolgreich erwiesen haben. Die Bewältigung der Konversionsfolgen liegt nach unserer Verfassung allerdings vor20732
rangig bei den Ländern. Der Bund unterstützt die Länder
im Rahmen bestehender Programme und Mittel in erheblichem Umfang. Im Rahmen des Eckwertebeschlusses
zum Bundeshaushalt 2013 und zum Finanzplan bis 2016
haben wir deswegen die Programmmittel für die Städtebauförderung für 2013 fortgeschrieben und die Mittel für
die regionale Wirtschaftsförderung angehoben.
({0})
Damit sind zwei wesentliche Instrumente zur Konversion und zur strukturellen Anpassung stabilisiert worden. Es ist jetzt Aufgabe der Länder, durch geeignete
Schwerpunktsetzung Lösungen zu flankieren und Strukturveränderungen mit nachhaltigen Konzepten zu unterlegen.
Die Kommunen und deren Spitzenverbände, aber
auch Kolleginnen und Kollegen in den Ländern und im
Bund haben neben der finanziellen Aufstockung bestehender Restrukturierungs- oder Förderprogramme eine
verbilligte Abgabe von ehemals militärisch genutzten
Liegenschaften an die betroffenen Städte und Gemeinden gefordert. Bei allem Verständnis, das ich als kommunalpolitisch verankertes Mitglied der Bundesregierung für solche Forderungen habe: Für die
Bundesregierung - das haben wir Finanzpolitiker heute
beispielsweise bei der Diskussion des Nachtragshaushaltes nicht nur betont, sondern auch bewiesen - hat die
Konsolidierung des Bundeshaushalts Vorrang vor konkurrierenden politischen Zielsetzungen.
Die sogenannten Verbilligungsrichtlinien, die wir alle
aus den 90er-Jahren kennen, haben zu Einnahmeausfällen und damit zu mehr Schulden beim Bund in Höhe von
2,27 Milliarden Euro geführt. Sie waren bzw. sind in ihren Nachwirkungen heute noch überaus verwaltungsaufwendig und prozessanfällig. Ihre Wirksamkeit im klassischen Sinne, hinsichtlich der Erreichung ganz konkreter,
ablesbarer regionalpolitischer Erfolge, konnte nie eindeutig belegt werden. Aus diesen Gründen - das sind
gute Gründe, liebe Kolleginnen und Kollegen - lehnen
wir die Wiedereinführung von verbilligten Grundstücksverkäufen, egal in welcher Form, ab, damit auch eine
Änderung des BImA-Gesetzes oder gar Öffnungsklauseln im Haushaltsrecht des Bundes.
Ich will mich aber ausdrücklich bei den Kollegen
Fricke und Brackmann aus dem Haushaltsausschuss bedanken, die daran mitgewirkt haben, dass das notwendige und anerkennungswürdige Interesse der Kommunen an der Gestaltung von Konversionsliegenschaften
trotzdem aufgegriffen worden ist. Der Haushaltsausschuss hat nämlich beschlossen, den Kommunen einen
Erstzugriff auf die in ihrem Gebiet vorhandenen Konversionsliegenschaften zu ermöglichen. Dies bedeutet konkret: Anstelle einer öffentlichen, überregionalen, möglicherweise europaweiten Ausschreibung wird eine
Festlegung des Kaufpreises durch die Bundesanstalt auf
Grundlage eines unabhängigen Sachverständigengutachtens erfolgen.
Die Bundesanstalt hat auf einer Konversionskonferenz in Berlin Vertreter der Kommunen und ihrer Spitzenverbände sowie Mandatsträger aus Bund und Ländern umfassend über ihre Verfahren informiert. Dazu
waren alle Mitglieder dieses Hauses eingeladen. Der
eine oder andere war da, ebenso viele Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter. Herr Hacker, wenn hier heute von Ihnen
behauptet wird, das sei lediglich eine allgemeine Unterrichtung gewesen, so teile ich diese Ansicht nicht. Die
Bundesanstalt hat vielmehr aufgezeigt, wie sie die Wertermittlung zukünftig vornehmen lassen wird, wie sie in
Zusammenarbeit, in Kooperation mit den Gemeinden
Nachnutzungen suchen und die Objekte, soweit dies planerisch erforderlich ist, sukzessive verwerten wird. Sie
steht als kompetenter, effizienter und zukunftsorientierter Dienstleister und Kooperationspartner bereit. Der
Chef der BImA, unser ehemaliger Kollege Gehb, weiß,
wie man mit parlamentarischen Entscheidungsprozessen
umgeht und mit parlamentarischen Repräsentanten kooperiert.
Die BImA ist bereit, mit allen von der Konversion betroffenen Kommunen Gespräche über die konkreten
Schritte zur zivilen Nachnutzung aufzunehmen. Dabei
wird der Abschluss von Konversionsvereinbarungen angeboten, in denen gemeinsame Ziele, das Verfahren und
die jeweiligen Verantwortlichkeiten geregelt werden sollen. Allerdings glaube ich, dass wir hier noch mehr mit
den Kommunen ins Gespräch kommen müssen; denn
hier ist die Resonanz noch ausbaufähig. Ich glaube, dass
das in den nächsten Wochen und Monaten besser werden
wird. Aus der BImA aber eine regionalpolitische Institution zu machen, würde geradezu im Widerspruch zum
eigentlichen Auftrag der BImA stehen, Bundesliegenschaften effizient zu verwerten. Die BImA hat einen klaren Auftrag, und sie wird ihn allemal erfüllen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir, die
Bundesregierung, sind uns der Verantwortung in unserem Verantwortungsbereich allemal bewusst. Wir fordern aber diejenigen, die in den Ländern und Gemeinden
in ihrem Verantwortungsbereich ebenso Verantwortung
wahrnehmen, dazu auf, in diesen Fragen mit der Bundesregierung und der BImA kooperativ zusammenzuarbeiten. Die Lösungen können aber nicht darin bestehen,
dass der Bund alles bezahlt. Es geht vielmehr um konkrete Lösungen, die im Einzelfall kooperativ und gemeinsam vor Ort identifiziert werden. Das Instrumentarium liegt vor. Der Beschluss des Haushaltsausschusses
liefert die dafür notwendigen Maßgaben. Ich glaube, wir
sind auf einem guten Weg. Wir sollten ihn weiter beschreiten.
({1})
Die Kollegin Ingrid Remmers hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Nähe meines Wahlkreisbüros, an den Bundeswehrstandorten in
Ahlen und Warendorf in Nordrhein-Westfalen, hatten
viele Menschen Sorge um eine komplette Schließung der
dortigen Kasernen. Schließlich stellen Kasernen einen
nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor dar; sie haben auch zivile Arbeitsplätze geschaffen. Gerade in Zeiten, in denen Kommunen aufgrund ihrer katastrophalen
Unterfinanzierung überall kürzen müssen, fällt nun auch
noch die Konjunkturspritze Bundeswehr weg. Deswegen
ist es aus unserer Sicht unbedingt notwendig, neben dem
Bundeswehr-Reformbegleitgesetz ein solides Konversionsgesetz zu schaffen.
({0})
Schließlich ist die zivile Nutzung bisheriger Militärstandorte ein großer Gewinn für unsere Gesellschaft und
für die Menschen vor Ort. Die Abwesenheit von Lärm,
gefährlichen Waffen und unzugänglichen militärischen
Sperrgebieten wird wohl niemand beklagen, das Fehlen
eines sinnvollen zivilen Nachnutzungsprogrammes
schon.
Viele Beispiele zeigen, dass bei kluger Planung und
bei den richtigen Rahmenbedingungen die Umwidmung
der Gelände in den Wirtschafts- und Naturkreislauf hervorragend gelingen kann. Wir haben schon mehrere Beispiele gehört. Mönchengladbach in NRW ist ebenso ein
Beispiel dafür; denn der ehemalige Bundeswehrstandort
ist mittlerweile eine erfolgreich arbeitende Schienenteststrecke.
Es ist also klar, dass Kommunen und Länder in die
Lage versetzt werden müssen, eine sinnvolle Nachnutzung planen und durchführen zu können. Dazu muss
aber aus dem Verteidigungshaushalt ein entsprechender
Fonds bereitgestellt werden. Anders als unser Parlamentarischer Staatssekretär Kampeter gerade gesagt hat, geht
es eben nicht wie bisher ohne Konversionsprogramm.
Wir brauchen einen Fonds, der unter anderem die Kosten
für Machbarkeitsstudien, für Wirtschaftsförderprogramme und für Städtebauförderung übernimmt.
({1})
Allein die finanzielle Lage der 34 Kommunen in
NRW, die in den vermeintlichen Stärkungspakt gezwungen wurden, macht die Nutzung bestehender Bundesund Landesprogramme in diesem Bereich völlig unmöglich, weil sie gar nicht in der Lage sind, den nötigen Eigenanteil dafür aufzubringen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, den Kommunen ist allein mit
dem Verweis auf die verschiedenen Förderprogramme
der EU auch nicht geholfen.
({2})
Neben der finanziellen Unterstützung sind den Kommunen ein eindeutiges Vorkaufsrecht der Immobilien
einzuräumen und dazu gegebenenfalls vergünstigte Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitzustellen.
Dass die Kommunen immer noch nicht angemessen berücksichtigt werden, wie Herr Kampeter eben behauptet
hat, zeigt der Brief eines CDU-Bürgermeisters aus Hörstel in Nordrhein-Westfalen vom 3. April an Finanzminister Schäuble mit der dringenden Bitte, auf die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben einzuwirken, damit die
Stadt den dortigen ehemaligen NATO-Flugplatz kaufen
kann. Auf ihre Anfrage bei der BImA, Herr Kampeter,
zeigte sich diese - ich zitiere - „irritiert“. Das zeigt einmal mehr,
({3})
dass für dieses Vorkaufsrecht die Geschäftsgrundlage
der BImA dahin gehend geändert werden muss, dass
künftig die Realisierung gesamtgesellschaftlicher Interessen durch die Kommunen beim Verkauf solcher Immobilien absolute Priorität haben muss.
({4})
Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund fordert die Möglichkeit einer kostengünstigen oder sogar
unentgeltlichen Übertragung von Immobilien, ähnlich
- wir haben es eben gehört - der Bundesrat. Die Kommunen brauchen zur Bewältigung der Konversion also
ausreichend finanzielle Unterstützung, das Vorkaufsrecht für die Immobilien bzw. die kostenlose Übertragung der Grundstücke und andernfalls vergünstigte Kredite der KfW, um gemeinsam mit den Kommunen und
unter breiter Bürgerbeteiligung aus den ehemaligen Militärstandorten endlich etwas Sinnvolles zu schaffen.
({5})
Zum Schluss möchte ich mir eine kleine spitzfindige
Erinnerung nicht verkneifen. In der Bundestagsdebatte
im April des Jahres 2005, also noch unter Rot-Grün,
über genau dieses Thema vertrat zum Beispiel der Kollege Brinkmann von der SPD - er ist jetzt leider nicht da noch die Position, dass die BImA, wie nach § 63 Abs. 3
der Bundeshaushaltsordnung vorgesehen, auch bei konversionsbedingten Verkäufen ausschließlich zu den
höchsten erzielbaren Marktpreisen verkaufen dürfe. Die
Kollegin Schäfer von der CDU - gerade war sie noch da hingegen forderte in der gleichen Debatte:
Nur die Bereitstellung der Grundstücke an die
Kommunen zu verbilligten Preisen fördert die
schnelle, ergebnisorientierte Konversion.
({6})
… Wenn es denn kein Geld des Bundes gibt, dann
geben Sie den Gemeinden wenigstens die Grundstücke.
({7})
Meine Fraktion und ich freuen uns, dass die SPD inzwischen zur Einsicht gelangt ist und nehmen die CDU,
liebe Kollegin Schäfer, beim Wort.
Herzlichen Dank.
({8})
Sie hat Ihnen von der Tribüne sozusagen intensiv zugehört. - Der Kollege Stephan Thomae hat das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 26. Oktober letzten Jahres hat der Bundesminister der Verteidigung bekannt gegeben, dass
31 Standorte der Bundeswehr in Deutschland geschlossen werden. Nun steht mit der Konversion, also der Umwandlung von militärischer in zivile Nutzung, eine
große Aufgabe für viele Städte und Gemeinden in
Deutschland an. Es wird eines der letzten großen deutschen Flächenprojekte sein mit großen strukturellen
Auswirkungen auf viele Städte und Gemeinden.
Dem sehen viele Städte und Gemeinden mit Sorge
entgegen, weil es mit dem Verlust von Wirtschafts- bzw.
Kaufkraft sowie von Arbeitsplätzen für Zivilangestellte
verbunden ist, wenn Soldaten mit ihren Familien abziehen. Viele Kommunen fürchten die Gefahr von Leerstand, auch von Verwahrlosung innerstädtischer Flächen.
Aber wie es bei Hölderlin heißt:
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Das sind Probleme, die die Kommunen zu gewärtigen
haben. Es stecken aber auch Chancen in dieser Konversion. Wir als Koalition wollen den Kommunen ein faires
Angebot machen, ihnen als Partner in diesem Handel
fair gegenübertreten. Aber wir wollen die Kommunen
nicht mit Heilslehren beglücken.
({0})
Schauen wir uns einmal etwa die Vorstellungen der
Grünen an, die die Kommunen mit nachhaltigen Konzepten glücklich machen wollen. Niemand hat etwas gegen Nachhaltigkeit oder langfristige Perspektiven. Der
Bund kann aber nicht von sich aus sagen: Hier baut der
Bund Naturparks auf Kasernengelände. Die Kommunen
haben das Recht, aber auch die Aufgabe, Perspektiven
für diese Flächen zu entwickeln.
({1})
Sie haben die Planungshoheit. Ihnen obliegt es, zu entscheiden, ob aus Kasernenflächen Gewerbeflächen werden sollen, ob sie für den Wohnungsbau verwandt werden sollen oder ob darauf Grünflächen entstehen sollen.
({2})
Wir wollen die Kommunen nicht bevormunden, sondern ihnen ein faires Angebot machen, auch in Übereinstimmung mit europäischen Beihilferichtlinien, die wir
zu berücksichtigen haben. Im Antrag der Grünen lese ich
Sätze oder Wörter wie: Grün bleibt grün, Renaturierung,
Aufnahme in nationales Naturerbe, Übertragungen an
Naturschutzorganisationen, Zweckbindung an den Naturschutz und dergleichen mehr. Das ist nicht grundsätzlich falsch. Man muss aber sehen: Manchmal mag Konversion eine Chance für den Naturschutz sein, manchmal
ist sie auch eine Chance für Wirtschaftsförderung bzw.
die Förderung örtlicher Unternehmen. Manchmal sind
Bundeswehrgelände optimal für die Ansiedlung von Gewerbebetrieben, von Handel und Industrie, aber auch für
Wohnungsbebauung geeignet.
({3})
Das ist eine große Chance auch für den Städtebau und
die Stadtentwicklung. Deswegen wollen wir den Kommunen im Rahmen eines Erstzugriffsrechtes diese
Grundstücke auf vereinfachtem Wege überlassen.
In dem Antrag der SPD lese ich Vorstellungen, die darauf hinauslaufen, dass man die Kommunen mit dem
Füllhorn bzw. mit neuen Förderprogrammen überschütten will. Damit scheint man sich den Beifall vieler Bürgermeister sichern zu wollen; aber sehr originell und
fantasievoll scheint mir das nicht zu sein.
({4})
Heute Nachmittag habe ich bei der Einbringung des
Nachtragshaushaltes gehört, dass uns die SPD mahnt,
doch mehr zu sparen.
({5})
Jetzt aber will sie in ihrem Antrag neue Förderprogramme. Da zeigt sich ihr wahres Gesicht. Die SPD ist
groß im Erfinden und Auffinden neuer Einnahmequellen. Sie ist auch groß im Finden neuer Ausgabemöglichkeiten.
Was will die Koalition? Wir wollen, dass wir im Rahmen der europäischen Beihilfe - da gibt es Regeln, die
wir zu beachten haben - einen fairen Umgang mit den
Kommunen pflegen. Wir wollen ihnen ein Erstzugriffsrecht gewähren; aber wir wollen auch, dass Planungsgewinne aufgeteilt werden. Auch den Kommunen steht etwas zu, wenn sie durch Planung für Flächen die
Grundlage dafür schaffen, dass Grundstücke eine Wertsteigerung erfahren. Aber auch der Bund als Eigentümer
soll nicht das Nachsehen haben, wenn er Grundstücke
zügig und auf einfachem Wege abgibt und die Kommunen ein Erstzugriffsrecht erhalten.
Wenn ich mir die Anträge der Opposition anschaue,
liebe Kolleginnen und Kollegen, ziehe ich das Fazit: Die
SPD will die Kommunen hätscheln. Die Grünen wollen
die Kommunen gängeln. Wir wollen mit den Kommunen
einen fairen Umgang.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat unsere Kollegin Daniela Wagner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Thomae, Sie haben natürlich recht: Das ist Sache der Kommunen. Wenn aber
eine Kommune in einem hochverdichteten Ballungsraum wie dem Rhein-Main-Gebiet drei Jahre lang über
den Preis einer solchen Liegenschaft verhandelt, weil sie
überhaupt nicht in der Lage ist, ihn zu bezahlen, während gleichzeitig Hunderte von jungen Leuten auf der
Straße stehen und nach preiswertem Wohnraum suchen,
dann ist an dieser Veräußerungspolitik erkennbar etwas
falsch.
({0})
Die Liegenschaften einer neuen Nutzung zuzuführen,
ist für die BImA, für die Bundesländer und für die Kommunen zweifellos eine riesige Herausforderung. Die Herausforderungen sind zwar sehr unterschiedlich, aber immer sehr groß. Dennoch hat der Bund - das ist das, was
mich ärgert - bis heute kein zukunftsweisendes Konzept
zur Nachnutzung der militärischen Liegenschaften von
Bundeswehr und alliierten Streitkräften vorgelegt. Sie
verweisen auf die sattsam bekannten städtebaulichen
Förderprogramme, sagen etwas zum Erstzugriffsrecht
und wollen eine Gewinnabschöpfung, aber ohne vorher
notwendige Preisnachlässe gewähren zu wollen, die
überhaupt erst zu einer Situation führen, Gewinn abschöpfen zu können. Wir meinen, das ist zu wenig.
An dieser Stelle muss ich Ihnen widersprechen, Frau
Kollegin Remmers. Auch wir verlangen mehr als lediglich neue Städteförderungsprogramme oder andere Programme. Wir wollen dezidiert die Änderung des
§ 1 BImA-Gesetz. Wir wollen mehr Freiheit für die
BImA. Wir wollen, dass sie in entsprechenden Situationen auch Gespräche mit Oberbürgermeistern und Planungsdezernenten vor Ort führen kann; denn wir sind
der Auffassung, die öffentliche Hand muss bezüglich ihrer Liegenschaftspolitik, bezüglich der Verwertung ihrer
Grund-stücke und Gebäude eine Vorbildfunktion einnehmen. Das gilt für den Bund genauso wie für die Länder
und die Kommunen.
Unsere Ziele sind zum Beispiel die Stärkung des
Klima- und Umweltschutzes, die Reduzierung der Flächeninanspruchnahme und eine vernünftige Stadtentwicklung, die nicht langweilige Investorenarchitektur in
die Städte bringt, sondern gewährleistet, dass anspruchsvolle Projekte wie altersübergreifende Wohngruppenund Mehrgenerationenprojekte Zugriff auf solche Liegenschaften haben. Dabei geht es nicht nur um neues
und anderes Wohnen, sondern auch darum, dass dort in
vielen Fällen das geleistet wird, was früher in Familien
geleistet wurde. Deshalb sind gerade Konversionsvorhaben in hochverdichteten Innenstadtlagen - dort ist der
Wohnungsmarkt oft besonders angespannt -, die einer
Wohnnutzung zugeführt werden sollen, ganz besonders
sensible Projekte.
({1})
Wir sind der Auffassung, dass man die Stadtentwicklungspolitik der Kommunen stärken und nicht durch
vollkommen überzogene Preise für diese Liegenschaften
konterkarieren sollte.
({2})
Herr Kampeter, ich verstehe Sie. Dass Sie als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Geld in die Kasse
bekommen wollen - das müssen Sie ja auch -, ist aller
Ehren wert, aber es ist unsere gemeinsame Aufgabe, es
ist Aufgabe der Länder, des Bundes und der Städte, zum
Beispiel dafür zu sorgen, dass auch bezahlbarer Wohnraum für diejenigen Mitglieder unserer Gesellschaft zur
Verfügung steht, die sich auf dem freien Wohnungsmarkt
in den Hochpreissegmenten, die zunehmend gebaut werden, nicht eigenständig versorgen können.
({3})
Ich kann aber keinen sozialen Wohnungsbau, der auch
nur annähernd wirtschaftlich ist, auf Grundstücken realisieren, die die Gemeinde vorher zu Höchstpreisen vom
Bund zurückerwerben musste.
({4})
Deswegen möchte ich Sie noch einmal bitten: Gehen
Sie über die Instrumentarien, die Sie hier bereits aufgezählt haben, hinaus. Lassen Sie uns gemeinsam das
BImA-Gesetz ändern. Wir haben gerade gehört, dass sowohl Sozialdemokraten als auch Christdemokraten darüber schon ganz andere Dinge gedacht und gesagt haben. Lassen Sie uns einen Konsens finden und das
Bestmögliche für unsere Städte tun; denn dort spielt sich
das Leben ab.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der
Kollege Norbert Brackmann.
({0})
Werte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Reden hier anhört, gewinnt man
leicht den Eindruck, dass wir jetzt viele Probleme unserer Gesellschaft mit dem Vehikel der Konversion angehen sollten, dass wir auf diesem Weg viele Wünsche unserer Gesellschaft erfüllten könnten. Dem ist aber nicht
so.
({0})
- Ja, aber die Chancen sind ebenso wie die Risiken überschaubar. Wir haben 1990 fast 1 Million Soldaten in
Deutschland gehabt. Jetzt reduzieren wir von 235 000
auf 185 000 Soldaten. Es geht hier um rund 120 Standorte, also um einen relativ kleinen Schritt, nachdem wir
bereits in zwei großen Konversionswellen Erfahrung gesammelt haben. Darauf komme ich gleich zurück; wir
beginnen das Ganze ja nicht neu.
Bei der letzten Konversionswelle, seinerzeit unter
Verteidigungsminister Struck, hat es überhaupt keine
Programme für die von der Konversion betroffenen Gemeinden gegeben, um solche Maßnahmen zu unterstützen. Heute befinden wir uns in der Situation - damit
müssen wir uns abfinden -, dass wir alle in einem Boot
sitzen. Warum sage ich das? In den vorliegenden Anträgen wird unter anderem die Änderung des BImA-Gesetzes gefordert - dies ist im Antrag der Grünen noch gravierender -, und es werden genaue Vorgaben gemacht,
was passieren soll. Die Planungshoheit liegt jedoch
- dies ist so geregelt - ausschließlich und exklusiv bei
den Kommunen. Ein bisschen betroffen sind noch die
Länder über die Entwicklungsplanung. An diese Planungshoheit können, wollen und dürfen wir nicht heran.
Das, was unsere Kommunen auszeichnet, ist die Selbstverwaltung vor Ort; diese müssen wir auch in Zukunft
garantieren.
({1})
- Aber die Planungshoheit. Sie wollen ihnen aber Vorgaben machen.
({2})
Was ist unser Anteil als Bund, über den wir hier jetzt
diskutieren? Das sind die Grundstücke. Die Grundstücke
haben per se, weil sie nur für Verteidigungszwecke vorgesehen sind, keinen Marktwert.
({3})
- Oho? - Allein als Verteidigungsgrundstücke, also so,
wie sie heute definiert sind, haben sie keinen Wert. Sie
haben erst einen Wertzuwachs, wenn die Kommunen sie
umwidmen und darauf eine andere Planung legen. Das
ist wie immer im Leben. Der Wind und die Wellen sind
immer bei denen, die den fähigsten Steuermann haben.
Weil wir hier zwei Akteure haben, die ins Boot müssen
- die Kommunen können nicht ohne den Bund, und der
Bund kann nicht ohne die Kommunen -, kommt es darauf an, dass sich Bund und Kommunen gemeinsam der
Probleme annehmen, die es vor Ort gibt.
Es gibt sehr unterschiedliche Probleme. Es gibt Liegenschaften, die sich mitten in Naturschutzgebieten befinden. Diese können wir nur zurückbauen. Dafür tragen
wir als Bund die Kosten. Diese Grundstücke werden
dann künftig der Natur wiedergegeben. Dies stellt in der
Regel keine besonderen Probleme für die Gemeinden
dar.
Es gibt auch Grundstücke, die mitten in Städten liegen und einen hohen Planungswert haben. Die aktiven
Kommunen nehmen sich dieser Aufgabe an. Ich selbst
habe zum Beispiel in Lüneburg und anderswo Gespräche
dazu geführt. Die Kommunen gehen das an und sagen:
Wir helfen bei dem warmen Übergang, und wir haben
ein Interesse daran, gemeinsam mit Bund und BImA dafür zu sorgen, dass wir auch in Zukunft Arbeitsplätze
und Gewerbe mitten in der Stadt haben. Sie ziehen daraus einen Vorteil. Auch hier machen wir gemeinsame
Sache. Es ist nur fair, wenn wir uns die entstehenden
Vorteile teilen. Auch dies ist kein Problem.
Die dazwischen gelagerten Fälle verursachen Probleme. Davon gibt es eine ganze Reihe. Um diese müssen wir uns gemeinsam mit den Kommunen kümmern.
Auch da ist es so: Der Abzug der Bundeswehr wird berechenbar, weil das Verteidigungsministerium sehr früh
sagt, wann und wo er stattfindet. Wenn sich eine Tür
schließt, dann dürfen wir nicht nur auf diese schauen;
denn wo sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere.
Wir müssen auf die Tür schauen, die sich öffnet, und
nicht nur auf die starren, die sich schließt. Da haben wir
ganz unterschiedliche Alternativen. Diese müssen wir
angehen.
Es ist in der Regel nicht so - das ist die eine Alternative, die Frau Wagner eben angesprochen hat -, dass Gemeinden den Preis nicht zahlen können. Selbst wenn
dies der Fall ist, bieten wir eine Alternative an. Eine Erfahrung der vergangenen Konversionsprozesse ist, dass
die BImA bereit ist, überall dort, wo am Ende ein wirtschaftlicher Erfolg zu erwarten ist, über Verträge zur
städtebaulichen Entwicklung die Planung und auch die
Umsetzung der Infrastrukturmaßnahmen vorzufinanzieren und sich hinterher mit den Gemeinden den Gewinn
zu teilen. Das heißt, wenn wir Gemeinden haben, die das
Ganze nicht selbst finanzieren können, geht die BImA
sogar so weit, es vorzufinanzieren. All diese Probleme
stellen sich dann gar nicht. Wir reden also von noch weniger Gemeinden, die demgegenüber sagen: Liebe
Leute, wir wollen das aber gerne in einer Hand haben.
Wir wollen das Ganze aus dem Gemeindesäckel mitfinanzieren.
Bisher gilt die Regelung - auch von der EU so gefordert; daran kommen wir nicht vorbei -, dass ausgeschrieben werden muss. Deswegen gab es unsere Initiative im Haushaltsausschuss, den Gemeinden ein
Erstzugriffsrecht - im Übrigen kein Vorkaufsrecht; das
sind zwei völlig unterschiedliche Sachen - auf die Flächen zu geben. Damit haben sie die Verfügungsgewalt.
Wenn sie mit den Kommunen reden, dann stellen Sie
fest, dass sich zumindest einige immer noch beschwert
fühlen. Wir versuchen aber, jeder einzelnen Kommune
zu helfen.
Wenn die Kollegin Hasselfeldt, nachdem sie mit Bürgermeistern in Bayern gesprochen hat, auf einen wegen
der Tatsache zukommt, dass zu diesem Erstzugriffsrecht
auch gehört, dass es hinterher eine öffentliche Verwendung geben muss, dann sei hier noch einmal deutlich gemacht und erklärt: Zu verhindern, dass Arbeitsplätze
wegfallen, die Wirtschaft wegbricht und die Leute, die
dort gearbeitet haben, an anderer Stelle untergebracht
werden müssen, ist natürlich eine öffentliche Aufgabe,
geradezu eine öffentliche Kernaufgabe.
({4})
Die bayerische Staatsverfassung sieht sogar ausdrücklich vor - für diejenigen, die es nachlesen wollen: in
Art. 83 -, dass der Wohnungsbau eine Kernaufgabe der
Kommunen ist. Damit sind alle Rahmenbedingungen erfüllt, um die Gemeinden vor Ort ordentlich unterstützen
zu können.
Meine Conclusio: Mit Ihren Anträgen helfen Sie den
Gemeinden nicht. Sie sind schön und fürs Schaufenster
geeignet; denn es geht um einen großen Topf, über den
man sich streiten kann. Aber Geldregen alleine führt
noch nicht zur Ernte. Unsere Position dagegen lautet:
Respekt vor den Kommunen, die die Planungshoheit
haben - sie sollen sie auch behalten; da greifen wir nicht
ein -, und Respekt vor dem Steuerzahler. Dieser gebietet
es,
Herr Kollege.
- dass wir nur dort, wo tatsächlich Probleme bestehen, eingreifen und sie anpacken. Dort wollen wir Unterstützung gewähren.
Herr Kollege, Respekt vor der Redezeit!
Herr Staatssekretär Kampeter hat darauf hingewiesen,
dass die ersten 33 Millionen Euro bereits vorgesehen
sind.
Danke schön.
({0})
Die Kollegin Kirsten Lühmann hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Verehrte Zuhörende! 1998 hatten wir eine Bundespolizeireform. Wir haben Liegenschaften entlang der
ehemaligen Grenze zur DDR aufgelöst, weil sie nicht
mehr vonnöten waren. Das ist jetzt fast 15 Jahre her.
Trotzdem sind viele dieser Liegenschaften, zum Beispiel
in meinem Wahlkreis, in Bad Bodenteich, noch nicht
verwertet. 2002 - es wurde schon erwähnt - hatten wir
eine Bundeswehrreform; sie ist noch nicht einmal ganz
zu Ende geführt. Es gibt immer noch zwölf Standorte,
die aufgrund dieses Reformschrittes aufgelöst werden.
2011 gab es eine weitere Bundeswehrreform. Es werden
31 weitere Standorte aufgelöst, der Umfang von 90 zum
Teil deutlich reduziert. 2012 beginnt der Abzug unserer
NATO-Partner. Insgesamt werden 40 Standorte in
Deutschland komplett aufgegeben.
Was bedeutet das? Ich nenne das Beispiel der Gemeinde Bergen in meinem Wahlkreis. Bergen hat etwa
17 000 Einwohner sowie 15 000 britische Soldaten einschließlich ihrer Familien. Das heißt, beginnend mit dem
Abzug wird diese Kommune etwa die Hälfte ihrer Bevölkerung und ihrer Wirtschaftskraft verlieren.
Ich nenne das Beispiel der Gemeinde Rendsburg. Der
Umfang des dortigen Standorts ist bei der ersten Bundeswehrreform reduziert worden. Auch von der zweiten
Bundeswehrreform ist der dortige Standort betroffen.
Das heißt, die Gemeinde, die die Folgen der ersten Konversion mit Mühe und Not geschultert hat, ist jetzt von
der zweiten Welle der Schließungen betroffen und muss
erneut Anstrengungen unternehmen.
Was tut die Regierung nun, um den betroffenen
Kommunen auf ihrem verantwortungsvollen Weg unter
die Arme zu greifen? Es wurde schon erwähnt: Herr
Ramsauer hat öffentlich eine zusätzliche Finanzquelle
gefordert, und zwar dergestalt, dass aus den Verkaufserlösen der BImA ein Extratopf gebildet wird, aus dem
die strukturschwachen Gebiete gefördert werden. Das ist
ein Vorschlag, den die Kommunen sehr gerne gehört
haben. Allerdings hätte Herr Ramsauer, wie so oft bei
seinen Vorschlägen, vorher vielleicht einmal sein Kabinett und seine Rechtsabteilung fragen sollen. Dieser
Vorschlag wurde kurze Zeit später nämlich wieder zurückgenommen.
({0})
Außer Spesen nichts gewesen! So etwas ist unlauter. Das
ist für uns keine Politik.
({1})
Was hat die Regierung gemacht, nachdem das vom
Tisch war? In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der
SPD wird gesagt:
Nach der föderalen Aufgabenverteilung liegt die
strukturpolitische Verantwortung für die Bewältigung der Konversionsfolgen vorrangig bei den Ländern.
Na, danke schön, meine Herren und Damen. Erst machen Sie Vorschläge, die nicht funktionieren, und wenn
Sie das festgestellt haben, dann schieben Sie die Verantwortung schnell auf die Länder.
({2})
Von Staatssekretär Kampeter wurde uns jetzt gesagt:
Ist doch super. Wir haben doch die Programme für die
Städtebauförderung. - Schauen Sie sich aber doch einmal an, was Sie mit diesen Programmen gemacht haben.
({3})
Wenn Sie sich den Bedarf angucken, den die Kommunen
an Konversion haben, dann sehen Sie, dass das schwer
betroffene Land Schleswig-Holstein auf Jahre hinaus jedes Jahr die kompletten Zuweisungen aus den Mitteln
der Städtebauförderung allein für die Konversionsgemeinden ausgeben müsste, während alle anderen in die
Röhre gucken. Das ist Ihr Konzept für die Hilfe der
Kommunen.
({4})
Das können wir so nicht machen.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, wie sehr wir, beginnend ab dem Jahre 1992, nach Möglichkeiten gesucht
haben, der Landeshauptstadt München günstig den Erwerb von militärischen Liegenschaften zu ermöglichen?
Ich nenne die Stichworte Bayern-Kaserne, Panzerwiese,
Luitpoldkaserne usw. Ist Ihnen bekannt, wie viele neue
Wohnungen versprochen wurden und wie wenig dort
bisher realisiert worden ist, obwohl die Konditionen für
die Stadt München außerordentlich günstig waren?
({0})
Frau Kollegin, wenn Sie mit Ihrer Antwort auch
gleich zum Ende kommen, dann halten Sie die Redezeit
noch ein.
Frau Präsidentin, ich bemühe mich.
Wir möchten genauso wie Sie die Kommunen nicht
aus ihrer Verantwortung entlassen, und wir möchten mit
den Kommunen zusammen etwas entwickeln. Das können wir nur entsprechend der Finanzkraft der Kommunen tun. Hier hilft es uns wenig, wenn wir den Kommunen Angebote machen, wie zum Beispiel das
Erstzugriffsrecht, obwohl die entsprechenden Kommunen gar nicht in der Lage sind, diese Programme anzunehmen.
Darum machen wir Vorschläge, die den Kommunen
wirklich helfen. Wir bitten Sie, dass wir diese
Vorschläge, die in mehreren Anträgen vorliegen, offen
diskutieren
({0})
und dass wir damit den ersten Schritt auf dem Weg zu einer echten Unterstützung der Kommunen und auf dem
schwierigen Weg zu einem erfolgreichen Strukturwandel
machen.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9060 und 17/9405 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen von
CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung
beim Haushaltsausschuss. Die Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen wünschen jeweils Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung. Wer ist für diese Überweisungsvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Überweisungsvorschläge sind damit bei Zustimmung durch die Opposition abgelehnt. Die Koalition
hat dagegen gestimmt.
Ich lasse jetzt über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
nämlich Federführung beim Haushaltsausschuss. Wer ist
dafür? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? Dann sind die Überweisungsvorschläge so angenommen, und wir werden so verfahren.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Kauder, Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster, Serkan
Tören, Pascal Kober, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Fortbestand des Klosters Mor Gabriel sicherstellen
- Drucksache 17/9185 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe
und höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die
Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir beraten heute in erster Lesung einen Antrag der
Koalitionsfraktionen, mit dem wir uns für den Erhalt des
syrisch-orthodoxen Klosters Mor Gabriel in der Türkei
einsetzen wollen. Es handelt sich um eines der ältesten
Klöster weltweit, gegründet vor 1 600 Jahren, gelegen in
der südöstlichen Türkei nahe der syrischen Grenze, das
sich aber bedauerlicherweise seit längerem juristischen
Drangsalierungen ausgesetzt sieht.
Der Orden wird beschuldigt, illegal Land besetzt zu
haben. Es gibt sogar die Befürchtung, dass das Kloster,
das erst vor wenigen Jahren mit EU-Fördermitteln restauriert wurde, enteignet und entwidmet werden soll. In
diesem Zusammenhang sind derzeit mehrere Gerichtsverfahren anhängig. Darin geht es um die Einstufung der
vom Kloster genutzten Ländereien, um den Vorwurf, der
Klostervorsteher habe widerrechtlich auf staatlichem
Land eine Mauer errichten lassen, und um eine ausstehende Entscheidung des Kassationsgerichtshofs.
Eine Verurteilung in einem der anhängigen Verfahren
würde nicht nur das Kloster gefährden, sondern zugleich
auch Religion und Kultur der syrisch-orthodoxen Minderheit in der Türkei erschüttern und wäre ein deutlicher
Rückschritt bei der Wahrung des Menschenrechts auf
Religionsfreiheit. In unserem Antrag geht es darum nicht
ausschließlich um die Sicherung der Existenz des Klosters, sondern auch um die Bewahrung und Akzeptanz
der religiösen Vielfalt in der Türkei, um den Schutz ihrer
Minderheiten und um deren Besitz.
Besonders vor dem Hintergrund, dass die syrischorthodoxe Minderheit während des vergangenen Jahrhunderts in der Türkei erheblich abgenommen hat,
verdient dieses Thema unsere Aufmerksamkeit. Von
200 000 Mitgliedern Anfang des 20. Jahrhunderts in der
Türkei hat die Zahl ihrer Mitglieder auf heute nur noch
circa 13 000 Personen abgenommen. 3 000 von ihnen
sind in der Region um Mor Gabriel beheimatet.
Auch im Interesse weiterer religiöser Minderheiten in
der Türkei sind wir verpflichtet, die Rettung des Klosters
Mor Gabriel anzumahnen;
({0})
denn mit solchen religiösen Wirkungsstätten steht und
fällt das geistliche Leben von Glaubensgemeinschaften.
Für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist es konstitutiv, dass beispielsweise traditionsreiche religiöse
Stätten erhalten werden dürfen, bzw. überhaupt Orte
existieren dürfen, um den Glauben zu pflegen.
Die juristische Auseinandersetzung um das Kloster
zeigt exemplarisch, welche Probleme für religiöse
Minderheiten bei der Durchsetzung ihrer Rechte bestehen.
Zwar garantiert die türkische Verfassung die Religionsund Gewissensfreiheit. Die individuelle Glaubensfreiheit
wird respektiert, und die individuelle Religionsausübung
ist frei möglich. Für nichtmuslimische Minderheiten bestehen jedoch noch immer Einschränkungen bezüglich ihrer kollektiven Religionsfreiheit als Gruppen, in Fragen
der Rechtspersönlichkeit, hinsichtlich der Eigentumsrechte sowie ihrer Möglichkeit, Geistliche auszubilden
und Gebetsstätten zu errichten.
Darum ist der türkische Staat aufgefordert, hier weitere Reformen anzugehen und in diesem konkreten Fall
gegenüber dem Kloster Mor Gabriel Gerechtigkeit im
Sinne des Menschenrechts auf Religionsfreiheit walten
zu lassen. In den vergangenen Jahren haben Vertreter der
Bundesregierung und des Deutschen Bundestages mehrfach auf die Probleme des Klosters hingewiesen und dies
auch in Gesprächen mit der türkischen Regierung zur
Sprache gebracht. Dies unterstreicht unser Antrag mit
der Forderung, den Erhalt des Klosters Mor Gabriel zu
sichern.
In unserem Antrag wird darüber hinaus gefordert, der
syrisch-orthodoxen Minderheit in der Türkei im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention
alle Rechte zu gewähren, die auch in der Beitrittspartnerschaft der EU mit der Türkei festgelegt sind. Unsere
Fraktion will diesen Weg der Türkei in Richtung Europa
grundsätzlich unterstützen, nicht zuletzt auch deshalb,
weil dies zugleich auch der Weg hin zu mehr Menschenrechten ist. Die derzeitigen Beitrittsverhandlungen werden ergebnisoffen geführt. Daher wollen wir Hand in
Hand mit Vertretern der türkischen Regierung darauf
hinarbeiten, dass die Verhandlungen auch eines Tages
abgeschlossen werden.
Bei aller Kritik werden in unserem Antrag darum
nicht die Fortschritte verschwiegen, die die Türkei in
den letzten Jahren gemacht hat.
Im August 2011 beispielsweise verkündete der türkische Premier Erdogan eine neue Verordnung, wonach
Stiftungen der nach dem Lausanner Vertrag anerkannten
religiösen Minderheiten wie Armenier, Griechisch-Orthodoxe und Juden Immobilien zurückerhalten sollen,
die nach 1936 enteignet wurden. Nach der neuen Verordnung können diese Stiftungen Immobilien, die sie damals registriert und infolge der Krisen an den türkischen
Staat verloren haben, zurückfordern. Die neue Verordnung kehrt zudem die Beweislast zugunsten der Stiftungen um und sieht für den Fall eines inzwischen erfolgten
Eigentumsübergangs an Dritte auch Entschädigungszahlungen durch den türkischen Staat vor.
Wir wollen auch anerkennen - das begrüße ich ausdrücklich -, dass die religiösen Minderheiten einschließlich der Vertreter der syrisch-orthodoxen Minderheit am
20. Februar dieses Jahres vor der türkischen Kommission zur Reform der Verfassung angehört wurden. Dies
verbinde ich mit der Hoffnung, dass sich die neue türkische Verfassung bei der Religionsfreiheit auf europäische Standards stützen wird. Ich möchte die Türkei ermutigen, an diesem Reformweg festzuhalten.
Die Türkei hat seit 2002 große Fortschritte gemacht.
Jedoch muss das Land auch im Bereich des Menschenrechts auf Religionsfreiheit weiterarbeiten. Dies unterstreicht unser Antrag am konkreten Fall des Klosters
Mor Gabriel. Er soll ein Signal aussenden, dass die innerstaatlichen Zustände unseres engen Bündnispartners
Türkei den Koalitionsfraktionen wichtig sind. Es macht
uns Sorgen, wenn wir feststellen müssen, dass die Zahl
der Christen, die die Türkei als ihre Heimat betrachten
und dort leben wollen, rückläufig ist.
Ich vertraue darauf und gehe davon aus, dass die Türkei weitere Anstrengungen auf dem Weg zur uneingeschränkten Achtung der Religionsfreiheit unternimmt,
um ihr und unser gemeinsames reichhaltiges religiöses
Erbe zu schützen, zu bewahren und lebendig zu halten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Die Kollegin Angelika Graf hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor über zehn Jahren, Anfang April 2001,
fuhren unsere ehemalige Kollegin Monika Brudlewsky
von der CDU/CSU und ich nach Diyarbakir, um dort einen Prozess des türkischen Staates gegen einen syrischorthodoxen Priester - Yusuf Akbulut hieß der Mann - zu
beobachten. Er stand wegen Äußerungen zum ArmenierGenozid vor Gericht. Er wurde freigesprochen, auch wegen der internationalen Aufmerksamkeit, die der Prozess
auf sich gezogen hat.
Nach dem guten Ende dieses Prozesses wurden wir
für einen kurzen Besuch nach Mor Gabriel eingeladen.
Ich habe das Bild dieses Klosters, wie es so wehrhaft auf
dem Hügel steht, immer noch vor Augen. In der Nacht
fing es dann heftig an zu schneien. In der Früh lagen
30 Zentimeter Schnee. Um es kurz zu machen: Wir sind
drei Tage geblieben; denn an ein Verlassen des Klosters
war nicht zu denken.
Ich habe viel gelernt in diesen Tagen: über die orthodoxen Riten und Gebräuche, über die aramäische Sprache, die Sprache Jesu, die so wichtig ist für das Überleben der aramäischen Kultur, über die Geschichte des Tur
Abdin, die christliche Tradition in der Region und ganz
speziell über Mor Gabriel und die Männer und Frauen,
die Nonnen und Mönche, die dort lebten. Ich habe lange
Gespräche mit dem Bischof geführt, auch über die
schwierige Zeit, die man damals überwunden glaubte,
die Zeit, als der Kampf der türkischen Republik gegen
die PKK und der Kampf der PKK gegen die türkische
Republik auch das Kloster in seiner Existenz gefährdet
hat.
Aber die Hoffnung damals war, man werde überleben. Das Kloster wurde zu einem Symbol des Überlebens der aramäischen Kultur in der Türkei. „Noch steht
das Kloster Mor Gabriel“ titelte die Journalistin Helga
Anschütz vor 20 Jahren in der FAZ und beschrieb die Situation in dieser schwierigen Zeit. Heute fragen wir uns
zu Recht: Wie lange steht dieses Kloster noch? Wie
lange ist es noch möglich, dort Mönche und Nonnen zu
besuchen, die die aramäische Sprache sprechen? Auch
heute ist das Kloster existenziell gefährdet - wieder bzw.
immer noch.
Es ist doppelt gefährdet: einerseits, weil immer weniger Menschen in diesem Kloster und den anderen Klöstern der Region leben, weil die christliche Bevölkerung
in den letzten 100 Jahren geflohen ist, und andererseits,
weil der Distrikt Midyat auf der Grundlage türkischer
Gesetze zu Grund und Boden das Kloster zu enteignen
versucht. Deswegen sind wir uns, denke ich, alle einig,
wenn wir die Türkei und ihre Repräsentanten auffordern,
dafür zu sorgen, dass dieser Prozess beendet wird und
die über 1 600 Jahre alten Rechte der aramäischen Christen respektiert werden.
({0})
Zu diesen Rechten gehören auch die Ländereien des
Klosters Mor Gabriel. Es ist ein Skandal, dass der Stiftungsvorsitzende des Klosters noch immer wegen Aneignung fremden Bodens vor Gericht steht. Gestern
wurde dieser Prozess ein weiteres Mal vertagt. Ich kann
gut verstehen, dass sich die syrisch-orthodoxe Gemeinde
in Mor Gabriel und auch bei uns in Deutschland nicht
auf den Vorschlag einlassen möchte, nach einer Enteignung die fraglichen Flächen vom Distrikt Midyat wieder
zurückzupachten. Wie würde es uns vorkommen, wenn
uns der Nachbar zwangsweise enteignet und uns dann
unseren eigenen, seit Generationen bewirtschafteten und
im Familienbesitz befindlichen Garten zur Pacht anbietet?
Wir haben uns in den letzten Jahren mehrfach mit
dem Überlebenskampf dieser alten christlichen Kultur
im Südosten des Staatsgebietes der heutigen Türkei befasst, in Anträgen und Reden. Wir haben es eigentlich
immer geschafft, deutlich zu machen, dass dies ein Anliegen der breiten Mehrheit dieses Hauses ist.
({1})
Im Jahre 2009 gab es einen Antrag zum selben Thema
mit dem Titel „Schutz des Klosters Mor Gabriel sicherstellen“. Er ging im beschreibenden Teil ausführlich auf
die kulturellen und historischen Besonderheiten ein, erwähnte insbesondere auch den Vertrag von Lausanne aus
dem Jahre 1923, auf dessen restriktiver Interpretation die
heutige Minderheitenpolitik der Türkei noch immer fußt.
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, haben diesen Antrag aus dem Jahre
2009 fortgeschrieben und die schwierigen Rechtsstreitigkeiten, in die Mor Gabriel gedrängt worden ist, in den
Vordergrund gestellt. Das kann man machen, obwohl der
Antrag dadurch etwas an der Oberfläche bleibt. Der
Blickwinkel auf den kulturellen Reichtum, der der Türkei durch ihr Vorgehen verloren geht, eröffnet sich nicht.
({2})
Eigenartig finde ich es allerdings, dass der Forderungsteil Ihres heute vorgelegten Antrags zum großen
Teil wortgleich mit den Forderungen des Antrags aus
dem Jahre 2009 übereinstimmt. Meinen Sie nicht, man
hätte die Chance nutzen können, konkreter auf die neue
Situation einzugehen, die sich durch diverse Gerichtsverfahren und Urteile ergeben hat,
({3})
zum Beispiel den Prozess gegen Herrn Ergün, den Stiftungsvorsitzenden, klar anzusprechen, die Revision der
anderen Urteile zu fordern oder den Status des Klosters
als UNESCO-Weltkulturerbe stärker ins Spiel zu bringen?
Ich denke, der Fehler, den Sie mit diesem Antrag gemacht haben, ist, dass Sie ihn nur als Koalitionsantrag
gestellt haben.
Angelika Graf ({4})
({5})
Der Antrag aus dem Jahr 2009 ist damals auch in Zusammenarbeit mit der oppositionellen FDP zustande gekommen.
({6})
Sie haben bei dem nun vorliegenden Antrag versäumt,
durch eine Einbindung der Opposition ein gemeinsames
starkes Zeichen an die Türkei zu senden, dass wir alle
sehr besorgt sind über die Entwicklung rund um Mor
Gabriel.
({7})
Ich habe lange darüber nachgedacht, warum Sie das
so gemacht haben. Ich hoffe, dass die Verfasserin des
gestern in der Frankfurter Rundschau erschienenen Artikels nicht recht hat, wenn sie unter dem Titel „Die nützliche Geschichte vom Kloster Mor Gabriel“ vermutet,
Sie wollten dieses Thema vielleicht für den Wahlkampf
nutzen. Das wäre, denke ich, fatal.
({8})
Herr Kober, Ihr Redebeitrag hat mich von diesem Trip
ein bisschen heruntergebracht. Was Sie ausgeführt haben, widerspricht dieser Vermutung. Ich bitte Sie daher,
vielleicht doch noch zu versuchen, zu einer gemeinsamen Lösung dieses Problems zu kommen.
Wenn dieses Thema mit dem Wahlkampf in Verbindung gebracht würde, wäre das fatal; denn das würde
dem Kloster und den wenigen in der Region verbliebenen Christen definitiv nicht nutzen, im Gegenteil.
({9})
Veränderungen zum Beispiel beim Bodenrecht oder in
der Auslegung des Vertrages von Lausanne wird es nur
geben, wenn es uns gelingt, unsere türkischen Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass eine moderne,
an Europa orientierte Türkei auch ein modernes Minderheitenrecht braucht
({10})
und dass die Türkei einen Vorteil daraus ziehen wird,
diese alte Kultur, Sprache und Religion in ihrem Hoheitsgebiet zu behalten und zu erhalten.
Damit sich die Türkei auf solche Veränderungen einlässt, braucht sie eine Perspektive. Ich möchte, dass
diese Perspektive trotz aller Schwierigkeiten die Europäische Union ist - nicht heute, wahrscheinlich nicht
morgen, aber vielleicht übermorgen.
Herzlichen Dank.
({11})
Die Kollegin Erika Steinbach hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Frau Graf, Sie haben sehr anrührend Ihren ersten Eindruck von und Ihre erste Begegnung mit
dem Kloster Mor Gabriel geschildert. Das hat mich richtig bewegt; das muss ich sagen. Ihr Engagement für dieses Kloster kommt aus tiefstem Herzen. Ich kann Sie beruhigen: Das Schicksal des Klosters Mor Gabriel wird
von uns nicht instrumentalisiert, wenn es um ein Ja oder
Nein zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Union
geht. Unsere Haltung kennen Sie seit vielen Jahren.
Diese hat mit dem Kloster Mor Gabriel nichts zu tun.
Wir würden eine solche christliche Einrichtung dafür
auch niemals missbrauchen wollen.
Mit der ersten Beratung unseres heutigen Antrags
zum Kloster Mor Gabriel blicken wir zwangsläufig auf
die Türkei und auf den Umgang der Türkei mit christlichen Einrichtungen. Ich freue mich sehr, dass heute Vertreter der aramäischen Gemeinde in Deutschland hier auf
der Tribüne sitzen und unserer Debatte zuhören. Herzlich willkommen!
({0})
Das Kloster Mor Gabriel ist in seiner Existenz bedroht - und das seit langem. Die Situation hat sich auch
durch noch so viele Gespräche bisher leider nicht signifikant verbessert. Im Gegenteil, sie ist eher dramatischer
geworden. Dabei wird eines deutlich: Es geht nicht nur
um dieses Kloster; vielmehr ist das Kloster geradezu zu
einem Symbol dafür geworden, wie die Türkei mit
christlichen Einrichtungen und religiösen Minderheiten
umgeht. Dieses Kloster steht für eine 1 600 Jahre währende Tradition als geistliches Zentrum der weltweit verzweigten syrisch-orthodoxen Kirche.
Wir befürchten - vieles deutet auch darauf hin -, dass
dieses Kloster im Zuge von mehreren seit Jahren anhängigen Gerichtsverfahren am Ende enteignet und entwidmet wird. Damit droht - darauf haben Sie, Frau Graf,
hingewiesen - nicht nur ein Abreißen einer klösterlichen
Tradition, sondern der Fortbestand der syrisch-orthodoxen christlichen Kultur wäre gefährdet. Es hat mich
schon sehr angerührt, als ich vor einiger Zeit eine Rede
vor Aramäern gehalten habe und sie mir am Ende das
Vaterunser - eingerahmt, sodass ich es an die Wand hängen konnte - in aramäischer Schrift geschenkt haben;
denn es handelt sich um die Sprache Christi.
Dieses Kloster ist das Symbol für die schwierige
Lage der Christen selbst in der Türkei, die doch in Teilen
so westlich geprägt ist. Auch in diesem demokratischmuslimischen Staat leben Christen heute in einer
schwierigen Situation und auch nicht ganz ungefährdet.
In der Türkei gibt es, durch die Verfassung garantiert,
zwar inzwischen offiziell Religionsfreiheit. Das Land
bekennt sich auch zu dem internationalen Anliegen, Religionsfreiheit zu gewähren. Die einschlägigen Menschenrechtskonventionen sind gezeichnet. Aber in der
Praxis haben religiöse Minderheiten - das trifft nicht nur
auf die Christen zu - nur sehr eingeschränkte Rechte.
Der Bau von Kirchen und auch deren Erhalt sind bis
zum heutigen Tage nahezu unmöglich. Christliche Geistliche schweben in Lebensgefahr. Hat Ihnen der Abt vielleicht auch erzählt, dass er sich nicht in seinem Ornat auf
die Straße wagen kann, dass das für ihn lebensgefährlich
ist? Predigten, egal wo in der Türkei, bedürfen der Genehmigung. Man kann nicht einfach eine Predigt in seiner Kirche halten, sondern man muss sich das genehmigen lassen. Selbst in den türkischen Städten - wenn wir
hinkommen, sagen wir: das sind ja ganz europäische
Städte; das ist europäische Lebensart - wird einem geraten, um den Hals doch bitte schön kein Kreuz zu tragen;
es könnte unter Umständen die Gesundheit gefährden.
Wenn man all das zusammenträgt, kommt ein ungutes
Gefühl auf. Dabei lebte in der Türkei eine stattliche Anzahl von Christen. 1915 kam es mit dem Genozid an den
Armeniern, aber auch an den Aramäern und den Assyrern - alle waren davon betroffen, nur werden meist ausschließlich die Armenier erwähnt - zum Genozid an fast
1,5 Millionen Christen. Vor 60 Jahren betrug der Anteil
der Christen in der Türkei immerhin noch 20 Prozent.
Heute sind es weniger, gerade einmal noch 0,15 Prozent.
0,15 Prozent!
Der Fortschrittsbericht der Europäischen Union zu
den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei macht, vorsichtig formuliert, die Defizite deutlich. Eigentlich kann
man erkennen, dass es im Bereich der Religionsfreiheit
nur wenige Fortschritte gibt. Wenn man sich die Praxis
anschaut, stellt man fest: Das entwickelt sich in der letzten Zeit sogar fast rückwärts, und das ist etwas, was
nicht sein darf.
Deshalb beobachten wir mit großer Sorge die juristischen Verfahren gegen das Kloster Mor Gabriel. Der Erhalt dieses Klosters ist das Symbol und der Gradmesser
für das Umgehen des türkischen Staates mit religiösen
Minderheiten überhaupt.
({1})
Das Wort für die Fraktion Die Linke hat Dr. Lukrezia
Jochimsen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Endlich gibt es in unserem Parlament eine Debatte zur
Problematik des Klosters Mor Gabriel. Wenn ich absehen könnte vom traurigen, inhumanen, menschenrechtsverletzenden Anlass - wie nämlich eine uralte, ein großes religiöses und kulturelles Erbe vermittelnde, heute
aber zahlenmäßig kleine Minderheit im europäischen
Beitrittsland Türkei gnadenlos drangsaliert und diskriminiert wird -, würde ich mich freuen, dass nach nunmehr
drei Jahren die Regierungskoalition eine Initiative von
Claudia Roth, Monika Griefahn und mir aufgreift.
Es ist mir - mit Verlaub - schon wichtig, hier festzustellen, dass die Linke die erste Fraktion war, die 2009
einen Antrag zu Mor Gabriel mit dem Titel „Dauerhaften Schutz des Klosters Mor Gabriel sicherstellen“ erarbeitet hat.
({0})
In diesem Antrag forderten wir die Bundesregierung auf,
sich in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union gegenüber der türkischen Regierung aktiv dafür einzusetzen, dass sie die Existenzgrundlage und die Lebensperspektive des Klosters Mor Gabriel dauerhaft garantiert
({1})
und die syrisch-orthodoxe Minderheit in ihrem
Land als solche im Sinne des Vertrages von Lausanne … anerkennt. Insbesondere gilt es, die Sicherheit der Klosterbewohnerinnen und -bewohner
und der syrisch-orthodoxen Bevölkerung im Alltag
zu gewährleisten.
Damals hatten wir, drei Parlamentarierinnen, die vor
Ort die bedrohten Lebens- und Arbeitsverhältnisse kennengelernt hatten, gehofft, einen fraktionsübergreifenden Antrag einbringen zu können. Die CDU/CSU war
zunächst desinteressiert, kaperte dann aber unseren Entwurf und erklärte ihn zum Antrag der Großen Koalition
und der FDP, der ohne Debatte zur Sofortabstimmung
eingebracht wurde, ganz schnell, ganz unbemerkt, ganz
lautlos.
({2})
Claudia Roth nannte dieses Verfahren in einer persönlichen Erklärung damals keinen angemessenen Umgang
in der Sache. 2009 gab es im Parlament drei inhaltlich
fast identische Anträge aus rein parteipolitischem Kalkül bei einem solchen Thema, bei einem solchen christlichen Hintergrund.
Heute nun steht Mor Gabriel endlich auf unserer Tagesordnung mit einem Antrag, der die ganze Misere dieses Falles zwar genau beschreibt und auch die Ohnmacht
der EU und der Bundesrepublik, der uns aber in der Sache nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht weiterbringt. Es heißt im Antrag selbst, dass Demarchen und
Gespräche bisher zu keiner substanziellen Verbesserung
der Sache geführt haben. Insofern verwundert es, dass
der Antrag in seinem Forderungskatalog nichts anderes
enthält als vor drei Jahren, nämlich sich weiterhin für
Mor Gabriel einzusetzen.
({3})
Das ist nach dieser ganzen Zeit und all diesen Erfahrungen einfach nicht genug.
({4})
Wenn wir also hier keine Schaufensterdebatten mit
wohlklingenden Appellen führen wollen,
({5})
aufgrund derer man sich im Kloster Mor Gabriel - das
gilt auch für die Minderheit - nichts erhoffen kann, dann
müssen wir über andere solidarische Hilfen für Mor
Gabriel nachdenken und uns dafür einsetzen.
({6})
Wie wäre es mit einem ständigen Beobachter aus dem
christlichen oder zivilgesellschaftlichen Bereich anstelle
der bisherigen sporadischen Prozessbeobachter? Wie
wäre es mit einem Arbeitsbesuch des Außenministers,
der Staatsministerin oder gar der Kanzlerin als nachdrückliches Zeichen der Unterstützung?
({7})
Mor Gabriel ist nicht nur das kulturelle Erbe der syrisch-orthodoxen, sondern auch der syrisch-katholischen
und der syrisch-protestantischen Christen. Gerade sie
kämpfen jetzt alle in Syrien ums Überleben, fliehen über
die Grenze in die Türkei - in die Nähe von Mor Gabriel.
Es geht also um ein Exempel, wie ernst dem türkischen
Staat Toleranz, religiöse und kulturelle Vielfalt ist. Es
geht auch um ein Exempel, wie viel Solidarität die Europäische Union hier ausüben kann, auch und gerade mithilfe der Bundesrepublik. Die Vergangenheit hat gezeigt:
Nur internationaler Druck hilft in diesem Fall.
Danke.
({8})
Ute Granold hat nun das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mich nicht lange mit Verfahren aufhalten.
Wir haben im Jahr 2009 hier einen Antrag, eingebracht
von CDU/CSU, SPD und FDP, sowie einen Antrag der
Grünen debattiert.
({0})
Es kann nicht sein, dass behauptet wird, dass die Linke
etwas getan hat und sonst niemand. Da irren Sie sich;
vielleicht können Sie es im Protokoll noch einmal nachlesen. So weit zum Verfahren.
({1})
In der Zeitung wurde gestern gefragt, wieso der Fraktionschef der CDU/CSU nicht einfach einmal in der Türkei angerufen hat, um das Problem Mor Gabriel zu lösen, oder warum der Außenminister nicht einfach
hingefahren ist oder einen Brief geschrieben hat: Wenn
es so einfach wäre, dann wäre dies bestimmt geschehen;
aber es ist eben nicht so einfach.
Wir haben uns 2009 eingehend mit dem Kloster Mor
Gabriel befasst und Forderungen aufgestellt, die heute
noch so offen sind, wie es damals der Fall war, weil wir
keinerlei Möglichkeit haben, auf die Gerichtsverfahren
einzuwirken. Wenn einmal ein Urteil zugunsten des
Klosters rechtskräftig ist, dann wird es einkassiert, sodass nur die Möglichkeit besteht, wie es der Erzbischof
Aktas getan hat: Er ist nach Straßburg zum EGMR gegangen, um diese Frage klären zu lassen. Inwieweit die
Türkei Entscheidungen aus Straßburg umsetzt, ist eine
andere Sache. Deshalb bleibt uns nur, immer wieder zu
fordern, dass das, was Unrecht ist, nämlich das Kloster
zu eliminieren, verhindert wird.
Ich war mehrfach im Kloster, zuletzt mit dem Kollegen Brinkhaus im Oktober letzten Jahres, und ich zitiere,
was Erzbischof Aktas, der Klostervorsteher, schon
mehrfach sagte: Ohne das ständige Insistieren aus Europa, insbesondere aus Deutschland und den skandinavischen Ländern, wären wir - damit meint er das Kloster,
die Mönche und die Nonnen - nicht mehr existent.
Er hat sich ausdrücklich bedankt, dass wir dieses
Thema nach wie vor behandeln. Deshalb bin ich froh darüber, dass wir heute, so denke ich, in der Sache große
Übereinstimmung haben, dass wir das Kloster in
Deutschland und in Europa auf der Agenda haben müssen. Ich erinnere daran: Das Europäische Parlament hat
Ende März 2012 - es ist noch gar nicht lange her - einen
Beschluss gefasst, der inhaltlich dem entspricht, was
heute hier debattiert wird: dass wir uns für die Anerkennung der religiösen Minderheiten in der Türkei einsetzen, insbesondere der Aramäer, der syrisch-orthodoxen
Minderheit, und dass wir fordern, dass sie gemäß dem
Lausanner Vertrag endlich anerkannt werden, der von
der Türkei allerdings einseitig interpretiert wird.
Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass Priester
ausgebildet werden können. Das Priesterseminar auf
Chalki ist 1971 geschlossen worden. Es muss möglich
sein, einen Gottesdienst abzuhalten. Bislang bedurfte es
hierfür einer ministeriellen Genehmigung. Ein Fortschritt - so wird es genannt - ist, dass nun der Gouverneur darüber entscheiden kann. Ich frage Sie: Was gäbe
es für einen Aufschrei in Deutschland, wenn das Ordnungsamt jeden Freitag das Freitagsgebet in den Moscheen genehmigen müsste? Nichts anderes wird mit den
Christen in der Türkei gemacht. Dagegen wehren wir
uns.
Wir möchten auch nicht, dass die Aramäer, die syrisch-orthodoxen Christen, die ins Ausland geflüchtet
sind, in den Schulbüchern als Wirtschaftsflüchtlinge und
als diejenigen bezeichnet werden, die die verbliebenen
Christen in der Türkei aufwiegeln wollen. Wir akzeptieren es nicht, dass sie diffamiert werden. Wir möchten,
dass offen und ehrlich über die Situation gesprochen
wird. Wir möchten, dass die Christen, die aus Europa zurückkommen - viele von ihnen finanzieren die Christen
in Tur Abdin -, ihren Glauben frei leben können. Das ist
unser Petitum. Dafür kämpfen wir.
Es geht nicht darum, zu glauben, wir hätten nichts anderes zu tun, als uns um ein Kloster in der Türkei zu
kümmern. Herr Kollege Brinkhaus war bei der letzten
Reise dorthin dabei. Wir haben viele Klöster besucht,
nicht nur das Kloster Mor Gabriel. In dieser Region gab
es früher 80 Klöster. In einigen Klöstern leben heute
wieder Mönche. Diese Mönche haben uns gesagt, dass
sie darauf warten, wie es mit dem Kloster Mor Gabriel
weitergeht; denn davon hängt der Fortbestand der anderen Klöster ab, weil die kleineren Klöster nicht das Geld
und die öffentliche Unterstützung haben, um diese Prozesse zu führen. Deshalb steht das Kloster Mor Gabriel
stellvertretend für alle Klöster in dieser Region.
Mesopotamien, das Zweistromland, ist die Wiege unseres Glaubens. Ich erinnere an Antiochien, 37 n. Chr.
Das ist unsere Geschichte. Wenn man in der Bibel liest,
weiß man, was das bedeutet.
Mor Gabriel ist sehr viel mehr als irgendein Gebäude.
Es soll Weltkulturerbe sein. Es wurde mit erheblichen finanziellen Mitteln aus Europa restauriert. Es geht um die
Mönche, um den Glauben und um den Anker als zweites
Jerusalem, wie es die Aramäer, die syrisch-orthodoxen
Christen, bezeichnen. Die Fortschrittsberichte der EU,
die diskutiert wurden, sind das eine Thema. Das andere
Thema ist das, was ich gerade ausgeführt habe.
Als wir mit Vertretern des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in der Türkei waren,
haben wir Gespräche mit dem Gouverneur, der Regierung in Ankara und mit zuständigen Ansprechpartnern in
Istanbul und anderswo geführt. Wir haben überall die Situation des Klosters angesprochen. Wir haben auch mit
den Personen gesprochen, die die Berichte, die die EU
verfasst, vorbereiten. Schaut man sich die Berichte der
vergangenen Jahre an, dann sieht man, dass es keinen
Fortschritt im Bereich der Menschenrechte und hier insbesondere der Religionsfreiheit gab. Es gab auch keine
Stagnation. Es gab vielmehr einen Rückschritt. Wenn
sich ein Land ernsthaft bemüht, in die EU einzutreten,
dann sollte dieses Land die Wertegemeinschaft der EU
anerkennen. Das brauche ich hier nicht weiter auszuführen. Man sollte dann alle Anstrengungen unternehmen,
damit in diesem und anderen Klöstern, über die in
Deutschland und Europa so viel debattiert wird, die
Mönche ihren Glauben frei leben und die individuelle
und die kollektive Religionsfreiheit ausüben können.
Erzbischof Aktas sagt - Frau Kollegin Steinbach hat
das schon ausgeführt -: Ich kann im Ornat nur mit einer
Waffe aus dem Kloster gehen, weil ich nicht weiß, ob ich
wieder zurückkomme, wenn ich zum Markt gehe. - Es
ist wirklich nicht einfach.
Heute Morgen habe ich mit einem türkischen Taxifahrer gesprochen. Ich sagte ihm: Wir diskutieren heute
über das Kloster Mor Gabriel im Parlament. - Daraufhin
sagte er, dass er von diesem Kloster und dem Geschehen
nichts weiß. Das ist kein Einzelfall. Viele Türken, die ihren Glauben in Deutschland leben, sagen: Das kann doch
nicht sein. Wir können hier in die Moschee gehen und
beten. Wir wollen, dass die Christen in der Türkei ihre
Religion ebenfalls ausüben können.
Darum geht es. Die Türken, die Muslime, die hier leben, sagen: Wir wollen die Religionsfreiheit, die wir hier
genießen, auch in der Türkei. Das Kloster ist ein Lackmustest. Es geht um die Frage, wie die Türkei weiter mit
dem Kloster Mor Gabriel und damit stellvertretend mit
dem Thema Religionsfreiheit umgeht.
Ich bedanke mich für die Debatte im Parlament und
hoffe, dass wir gemeinsam gute Beratungen haben und
wir gemeinsam hinter dem Kloster und der Religionsfreiheit für die Christen in Tur Abdin stehen.
Vielen Dank.
({2})
Josef Winkler hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! In dem Antrag der Koalition zum Kloster Mor Gabriel steht viel Wahres. Vieles davon können wir teilen, auch den Großteil der Forderungen. Vorhin ist bereits gesagt worden, dass diese
aus einem alten Antrag übernommen wurden, insofern
ist das nicht überraschend. Auch in unserer Fraktion sind
seit den 90er-Jahren eine ganze Reihe von Abgeordneten
über diese Thematik im Bilde gewesen und haben sich
vor Ort über die Problematik im Kloster informiert.
Es ist zutreffend, dass die Existenz des Klosters bedroht ist. Über dessen Bedeutung will ich jetzt nicht
sprechen; dazu wurde schon genug gesagt.
Ich möchte aber noch ergänzen, dass es bei den angesprochenen Gerichtsverfahren nur um die Spitze des Eisbergs geht. Die Aramäer als nicht anerkannte indigene
Minderheit sind in der Türkei einer Vielzahl von solchen
Prozessen ausgesetzt. Das ist der Grund für einen fast
biblischen Exodus der Aramäer aus dieser Gegend.
Zahlreiche Kirchen, Klöster und aramäische Ortschaften sowie viele Einzelpersonen aus dem aramäischen Bereich wurden oder werden mit Hunderten von
solchen Enteignungsverfahren überzogen. Diese sehen
ihr Eigentum bedroht oder wurden schon enteignet und
sind weitgehend frei von Rechten. Insofern ist der Fall
des Klosters Mor Gabriel nur paradigmatisch zu sehen.
Man sollte sich nicht interfraktionell darauf verständigen, dass Mor Gabriel das wichtigste und einzige Problem ist; vielmehr ist es Teil einer Gesamtproblematik.
Mor Gabriel ist das sichtbare Symbol für das Gesamtproblem, das gemeinsam angegangen werden muss.
({0})
So weit zu den Gemeinsamkeiten.
Im Hinblick auf die zweite Forderung, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, sehen wir, dass Sie - das
hat auch gerade Frau Granold gemacht - eine relativ einseitige Perspektive einnehmen, indem Sie immer nur betrachten, wie es eigentlich mit den Rechten der religiösen Minderheiten in der Türkei aussieht. Das Ganze
muss man unserer Meinung nach auch vice versa betrachten. Deshalb möchte ich kurz darüber reden, wie
sich die Situation in Deutschland darstellt.
Was Sie vollkommen zu Recht für verfolgte Christinnen und Christen in anderen Staaten, in diesem Fall in
der Türkei, fordern, sind Sie - insbesondere die Damen
und Herren von der Union - jedoch nicht bereit, den
Musliminnen und Muslimen in Deutschland zuzuerkennen. Wenn Sie von der türkischen Regierung fordern,
dass nichtmuslimische Minderheiten Rechtspersönlichkeit erlangen und als anerkannte Minderheit ihre Rechte
uneingeschränkt ausüben können, dann müssten Sie
diese Pflicht vice versa in Deutschland genauso anerkennen. Hier gibt es jedoch sehr hohe Hürden, die rechtlich
erst einmal zu überwinden sind. Wir müssten uns gemeinsam dafür einsetzen, dass diese Hürden für die Religionsgemeinschaften gesenkt werden.
Ich will Ihnen von einer aktuellen repräsentativen
Umfrage berichten, die von der Westfälischen WilhelmsUniversität in Münster für den Bereich Deutschland
durchgeführt wurde: Die Hälfte der Deutschen ist heute
der Meinung, dass nicht alle Religionsgemeinschaften
dieselben Rechte haben sollten. Das richtet sich jetzt
nicht gegen die Regierung; befragt wurde die deutsche
Bevölkerung. 42 Prozent der Deutschen finden, die Ausübung des islamischen Glaubens müsse stark eingeschränkt werden. Nur jeder vierte Deutsche befürwortet
den Bau von Moscheen; das sind übrigens weniger Befürworter als in der Schweiz.
Wir müssen daher sagen: Wenn wir einen Zeigefinger
in Richtung Türkei richten, dann müssen wir mindestens
vier Finger gegen uns selbst richten.
({1})
- Nein, das ist nicht unverschämt. Das war eine Umfrage, die ich nicht selbst durchgeführt habe.
({2})
Zurück zur Türkei. Wir fordern gleiche Rechte für die
Christen in der Türkei, wir fordern aber auch gleiche
Rechte für die Aleviten, die im Übrigen die deutlich größere Minderheit darstellen. Diese Minderheit wird genauso diskriminiert; das haben Sie ebenfalls nicht angesprochen. Die Aleviten bilden die größte religiöse Gruppe
in der Türkei neben dem sunnitischen Islam. Die Probleme der Aleviten sind ähnlich gelagert; sie werden zur
Assimilation gezwungen, beispielsweise durch zwangsweisen Religionsunterricht im sunnitischen Islam. Dieser
Problematik muss man sich ebenfalls widmen.
Fazit: Es bestehen Gemeinsamkeiten hinsichtlich der
Forderung nach der Rettung von Mor Gabriel und dem
Schutz für aramäische Christen. Die Dimensionen im
Hinblick auf die Situation in Deutschland und die Universalität der Menschenrechte müssen aber ebenfalls beachtet werden. Da ist aus unserer Sicht noch einiges zu
tun.
Danke.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9185 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Uta Zapf, Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutsche nukleare Abrüstungspolitik weiterentwickeln - Deutschlands Rolle in der Nichtverbreitung stärken und weiterentwickeln
- Drucksachen 17/7226, 17/8843 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der SPD vor.
Interfraktionell wurde verabredet, eine halbe Stunde
zu debattieren. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin Uta
Zapf für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren die Große Anfrage der SPD. Es gab
zahlreiche Antworten. Aber es bestehen noch mehr Fragen, die meines Erachtens nicht beantwortet wurden.
Wir diskutieren dies kurz vor dem NATO-Gipfel, also zu
einer Zeit, in der wir vor einer wichtigen Weichenstellung für die zukünftige Entwicklung der Sicherheitsarchitektur in Europa und darüber hinaus - nicht nur in
Europa - stehen.
Wenn sich die Hoffnungen einer Mehrheit der Menschen in der Welt im Zusammenhang mit der Abrüstungsinitiative, die aufs Engste mit der Präsidentschaft
von Obama und seiner Prager Rede vom April 2009 verbunden ist, erfüllen sollen, wird es dringend erforderlich
sein, dass die NATO in Chicago vom Denken des Kalten
Krieges Abschied nimmt. Dieses Denken drückt sich
noch immer darin aus, dass die NATO in ihrem Verteidigungsdispositiv immer noch an der alten Rolle der Nuklearwaffen festhält: „Nukes are the reminder of the
good old days.“ Frei übersetzt: Nuklearwaffen sind die
Überbleibsel der guten alten Zeit. So heißt es ironisch in
einer Studie des US Army War College, die analysiert,
dass 311 Nuklearwaffen als Abschreckungsdispositiv für
die USA völlig ausreichen würden.
Wir Sozialdemokraten würden es als Fortschritt betrachten, wenn in Chicago folgende Ergebnisse zu erreichen wären:
Erstens: die weitere Herabstufung der Rolle von Nuklearwaffen.
Zweitens: eine Erklärungspolitik der NATO, die an
die Nuclear Posture Review der USA angeglichen ist,
das heißt eine Garantieerklärung gegenüber Nichtnuklearwaffenstaaten, die sich an den Nichtverbreitungsvertrag halten, keine Nuklearwaffen gegen sie einzusetzen.
Drittens: mehr Transparenz und vertrauensbildende
Maßnahmen in Bezug auf Russland, was Nuklearwaffen
betrifft, insbesondere die taktischen Nuklearwaffen, aber
auch in Bezug auf die Kooperation bei der Raketenabwehr.
Viertens: ein Beschluss, den von Deutschland und anderen Partnern geforderten Ausschuss für die Kontrolle
und Abrüstung von Massenvernichtungswaffen in der
NATO als permanenten Ausschuss zu erhalten.
Es muss endlich mutige Schritte geben, um das Denken des Kalten Krieges hinter uns zu lassen. Ohne eine
echte Kooperation mit Russland, ohne eine echte Perspektive, in absehbarer Zeit auf Nuklearwaffen zu verzichten, ohne fortgesetzte Bemühungen um Abrüstung
und Rüstungskontrolle werden wir die notwendige Stabilität und Sicherheit in Europa nicht erreichen. Die
NATO kann und muss einen Beitrag dazu leisten.
Ich will ein paar wenige Worte des Lobes an die Bundesregierung richten. Das Bekenntnis zur völligen nuklearen Abrüstung, der Wille zum Abzug der USNuklearwaffen aus Deutschland und Europa und der
Einsatz für Abrüstung in der NATO, den sie in der Tradition der Vorgängerregierungen fortführt, finden unsere
Unterstützung.
({0})
Aber - es muss immer ein Aber folgen; darauf haben Sie
sicherlich gewartet - in der Frage der Umsetzung und
der Durchsetzung verlässt sie regelmäßig der Mut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das spiegelt sich in
vielerlei Hinsicht auch in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD wider. Der Elan,
sich bei der internationalen Abrüstung und Rüstungskontrolle insbesondere im Nuklearbereich öffentlich als
Bannerträger zu präsentieren, ist der Vorsicht gewichen.
Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen: Sie sind als
Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet.
({1})
- Ja, neben dem Bett.
Mangelnder Eifer, mangelndes Engagement und mangelnde Durchsetzungsfähigkeit sind insbesondere bei der
Frage der Entfernung der US-Nuklearwaffen von deutschem und europäischem Boden zu konstatieren. Mir
scheint, Sie haben Angst vor Ihrer eigenen Courage, die
Sie am Anfang dieser Legislaturperiode gezeigt haben.
Die Bundesregierung versteckt sich dabei hinter dem Argument, diese Fragen seien nur im Konsens aller NATOPartner zu klären. Das Argument, besonders die osteuropäischen Partner sträubten sich gegen die Entfernung
dieser Waffen, verkennt, dass dort längst ein Umdenken
begonnen hat, insbesondere in Polen. Um die Sicherheitsbedürfnisse dieser Länder zu befriedigen, sind Nuklearwaffen nicht nötig, möglicherweise sind sie sogar
kontraproduktiv. Andere, neue Strukturen wären sicher
möglich, um die Verlässlichkeit des Art. 5 des NATOVertrages zu signalisieren. Hat denn die Bundesregierung diese Diskussion jemals mit den betroffenen Ländern geführt? Ich bezweifle das.
Die Bundesregierung macht einen Rückzieher, wenn
sie die Frage der anstehenden Modernisierung der in Büchel stationierten US-Nuklearwaffen in ihrer Antwort als
- ich zitiere - „nationale Entscheidung der USA“ bezeichnet - das ist auch ein bisschen widersprüchlich,
nicht wahr? - und damit auf ein Deutschland zustehendes
Recht der Mitsprache verzichtet. Gleichzeitig argumentiert die Regierung, dass die nukleare Teilhabe unabdingbar sei, um Mitsprache bei der Planung der nuklearen
Planungsgruppe zu haben. Diese Argumentation ist
falsch und vorgeschoben; denn auch die Nichtstationierungsländer haben dieses Mitspracherecht.
({2})
Wenn die USA tatsächlich die taktischen Nuklearwaffen modernisieren, wird das Ergebnis eine völlig neue
Waffe sein: präziser, treffgenauer, flexibler und je nach
Trägermittel von größerer Reichweite. Die Tatsache,
dass der Sprengkopf kleiner sein wird und damit beim
Einsatz ein geringerer radioaktiver Fallout produziert
würde, macht diese Waffe einsetzbarer und damit möglicherweise wieder zu Kriegsführungswaffen. Das ist
nicht meiner Fantasie entsprungen, sondern das ist die
Analyse, die wir gestern im Unterausschuss von einem
Experten gehört haben.
Ich frage Sie: Sind diese Waffen dann noch politischer Natur? In ihrer Antwort auf unsere Frage zu den
Modernisierungsmaßnahmen sagt die Bundesregierung,
dass laut Nuclear Posture Review dadurch keine neuen
Einsatzzwecke oder -fähigkeiten geschaffen werden.
Unsere Anhörung im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, die ich gerade erwähnt habe, hat das Gegenteil ergeben. Diese Maßnahme steht ebenso im Widerspruch zur Absicht, die
Rolle von Nuklearwaffen herabzustufen. Sie führt zu
„saubereren“, einsetzbareren und präziseren Waffen mit
strategischem Charakter.
Sollen solche Waffen ab 2019 in Deutschland wirklich stationiert werden? Bei der Beantwortung unserer
sehr präzisen Fragen zu diesem Thema hüllt sich die
Bundesregierung in Schweigen, oder sie verweist auf
Geheimhaltung, was sie sehr häufig macht, wenn sie
nichts sagen will.
Zu den Tornados wird nichts Neues gesagt. Vielleicht
ist dies auch tröstlich, weil die alten Tornados ohne Modernisierung keine neuen US-Nuklearwaffen tragen
könnten.
Sie merken, ich bin nicht sehr zufrieden mit der Beantwortung all der vielen Fragen. Es ist sehr vieles offengeblieben. In unserem Entschließungsantrag haben
wir 21 Forderungen an die Bundesregierung gestellt.
Wir hoffen, dass Sie sich ihn einmal durchlesen und entsprechend darauf reagieren.
Ich danke Ihnen.
({3})
Jetzt hat der Kollege Robert Hochbaum das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wie weit ist der Iran mit seinem Atomprogramm? Nordkorea testet eine neue Langstreckenrakete
und steht womöglich kurz vor einem neuen Atomwaffentest. Solche Meldungen und auch andere erreichen
uns beinahe täglich.
({0})
Sie und die Proliferationsgefahren, die von Staaten wie
zum Beispiel dem Iran ausgehen, machen deutlich, welchen potenziellen Bedrohungen unsere Welt ausgesetzt
ist.
Sie machen aber vor allem deutlich, wie notwendig
- Frau Zapf, da sind wir uns einig - Abrüstungspolitik
weltweit ist. Unsere Haltung dazu haben wir bereits im
März 2010 - ich darf mich noch einmal dafür bedanken in dem interfraktionellen Antrag „Deutschland muss
deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen
setzen“ dargelegt.
({1})
Es war das erste außenpolitische Antragsprojekt, welches die Koalition in der 17. Wahlperiode in Angriff
genommen hat. Dies zeigt die Bedeutung, die das Thema
auch für uns hat. Mit dem damaligen Antrag haben wir
fraktionsübergreifend ein klares Zeichen für eine überlegte und nachhaltige Abrüstungspolitik gesetzt.
Die Bundesregierung hat sich dies ebenfalls zu eigen
gemacht. Man kann das - so sehe ich es jedenfalls durchgängig in den Antworten auf die Große Anfrage
erkennen, auch wenn Frau Zapf damit nicht zufrieden
war. Hier wird unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass aus Sicht der Bundesregierung Abrüstung,
Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung die zentralen
Bestandteile einer globalen Sicherheitsarchitektur darstellen. Die Bundesregierung steht dabei für substanzielle Fortschritte auf diesem Gebiet und unterstützt klar
und deutlich das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt.
Lassen Sie mich nun kurz auf einige konkrete Ergebnisse, die seither erzielt wurden, eingehen. Zuerst zum
neuen Strategischen Konzept der NATO. Als wir unseren Antrag im März 2010 verabschiedeten, stand es - Sie
wissen das - kurz vor seinem Abschluss. Als Mitglied
der Parlamentarischen Versammlung der NATO kann ich
Ihnen nur bestätigen, dass es auch auf den maßgeblichen
Einfluss der Bundesregierung zurückzuführen ist, dass
Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie das erklärte
Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt im neuen Strategischen Konzept als eigenständige Schwerpunkte aufgenommen wurden.
Meine Damen und Herren, sicher ist allen klar - dies
muss allen klar sein -, dass Abrüstung und Rüstungspolitik keine Anliegen von gestern sind, sondern Aufgaben von heute und morgen. Dabei sind Abrüstung und
eine nuklearwaffenfreie Welt keine Utopie oder idealistisches Wunschdenken. Nein, es ist eine konkrete Verpflichtung, für deren Umsetzung Deutschland - ich stehe
zu hundert Prozent dahinter - national wie international
einen wirksamen Beitrag geleistet hat und auch weiterhin leistet.
Interessant ist dabei die Beobachtung - die ich Ihnen,
meine Damen und Herren von der Opposition, dringend
zur Beurteilung empfehle -, ob denn zum Beispiel auch
Mittel, das heißt harte Währung, für Abrüstungsschritte
aufgewendet werden. Da braucht sich die Bundesrepublik Deutschland mit Sicherheit nicht zu verstecken.
Eine Liste, welche Projekte das Auswärtige Amt fördert,
ist in der Antwort zu Ihrer Großen Anfrage, aber auch im
jährlich erscheinenden Abrüstungsbericht zu finden.
Hinzu kommen allerdings noch zahlreiche Projekte anderer Ressorts, die allesamt zeigen, dass es der Regierung und uns ernst ist, wenn es um Rüstungskontrolle
und Abrüstung geht. Gerade diesen Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sollten alle hier
im Haus weiter mit aller Kraft unterstützen.
Nicht unerwähnt lassen will ich die zielgerichteten
Bemühungen der Bundesregierung, den Aktionsplan aus
der NVV-Überprüfungskonferenz 2010 zu operationalisieren. Mit der Gründung der Nichtverbreitungs- und
Abrüstungsinitiative, die sich bekannterweise auch
„Freunde des NVV“ nennt und aus Deutschland sowie
acht weiteren Staaten besteht, werden das Ziel einer
zügigen Umsetzung der Beschlüsse der NVV-Überprüfungskonferenz sowie weitere Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung verfolgt. Das
ist übrigens im Kern eine der wichtigsten Forderungen
unseres damaligen Antrags von 2010.
({2})
- Ich hatte gerade schon einiges dazu dargestellt. Nur ist
meine Redezeit leider nicht ausreichend, um die vielen
Erfolge und Fortschritte seither darzustellen.
({3})
Die Welt ist gerade in Bezug auf Proliferation und
atomare Rüstung in keinem Idealzustand; das wissen wir
alle. Dies muss geändert werden. Jedem, der reale Politik betreibt, muss aber klar sein, dass dies nicht über
Nacht quasi mit dem Zauberstab erfolgen kann.
({4})
Selbst Präsident Obama, den sicherlich alle hier kennen,
({5})
hat davon gesprochen, dass es möglicherweise eine
ganze Generation oder mehr dauern wird, ehe die Welt
nuklearwaffenfrei sein kann. Wichtig ist daher, das Ziel
fest im Blick zu haben und es mit konkreten, vor allem
aber auch nachhaltigen Schritten zu verfolgen. Ich
möchte vor allem Sie, meine Damen und Herren von der
Opposition, einladen, dieses Vorhaben im Sinne unseres
Antrags von 2010 zu unterstützen.
({6})
Herzlichen Dank.
({7})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin Inge
Höger das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 19 500
Atomsprengköpfe gibt es weltweit. Etwa 5 000 davon
sind jederzeit einsatzbereit. Dieses Waffenpotenzial
reicht aus, um ein Vielfaches allen höheren Lebens zu
vernichten.
Leider nehmen die Ausgaben für atomare Rüstung in
letzter Zeit wieder zu. Die Internationale Kampagne zur
Abschaffung von Atomwaffen hat berechnet, dass im
letzten Jahr mehr als 100 Milliarden Dollar für atomare
Rüstung ausgegeben wurden, ein großer Teil davon für
die Modernisierung von Atombomben. Die Ausgaben
für Atomwaffen stiegen weltweit um 10 Prozent. Diese
neue Aufrüstungswelle muss gestoppt werden.
({0})
Die Abrüstung von Atomwaffen wird nicht vorankommen, wenn nur Druck auf einzelne Länder ausgeübt
wird. Die Strategie gegen das bis jetzt noch zivile Atomprogramm des Iran ist zum Scheitern verurteilt. Ich
möchte an einen Satz erinnern, der in einem Aufruf
steht, der unter anderem von Albert Schweitzer unterzeichnet wurde - Zitat -:
Das Beispiel der bisherigen Atommächte kann
leicht andere Staaten dazu verführen, ebenfalls die
Hand nach Atomwaffen auszustrecken.
Das bedeutet: Globale oder wenigstens regionale
Abrüstungsinitiativen sind die besten Argumente gegen
neue Aufrüstung. Die Linke begrüßt deshalb ganz ausdrücklich die UN-Initiative für einen atomwaffenfreien
Nahen und Mittleren Osten.
Leider trägt die Rüstungsexportpolitik Deutschlands
mit zur Eskalation in der Nahostregion bei.
({1})
Ich rede von U-Booten. Drei U-Boote des Typs „Dolphin“
wurden bereits nach Israel geliefert. Zahlreiche Experten
gehen davon aus, dass diese U-Boote von der israelischen
Armee so umgerüstet wurden, dass damit nukleare
Marschflugkörper abgefeuert werden können. In den
nächsten Monaten werden wohl zwei weitere U-Boote
ausgeliefert. Außerdem wird, unterstützt mit Geldern aus
dem aktuellen Haushalt, ein sechstes U-Boot für Israel
gebaut. Damit ist Deutschland mitverantwortlich für die
Destabilisierung in der Region. Dadurch werden Schritte
in Richtung Frieden durch Abrüstung und Vertrauensbildung deutlich schwerer. Ich fordere die Bundesregierung auf, weder diese U-Boote noch andere Waffen in den
Nahen Osten zu liefern.
({2})
Deutsche Verantwortung wird noch an weiteren
Punkten ganz konkret: 20 US-amerikanische Atombomben liegen in Deutschland, in der Eifel, bei Büchel. Jede
hat die zehnfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe.
Die Atomwaffen liegen dort aufgrund von Verträgen, die
die Bundesregierung abgeschlossen hat. Diese Verträge
können gekündigt werden, wenn es politisch gewollt ist.
Die deutsche Luftwaffe übt den Einsatz dieser Atomwaffen mit Tornados. Diese Vorbereitung auf den Atomkrieg
könnte sofort enden.
({3})
Die Linke fordert ein Ende der sogenannten nuklearen Teilhabe, also ein Ende der Mittäterschaft Deutschlands an der Vorbereitung eines Atomkriegs. Solche
konkreten Schritte müssen gegangen werden, sonst leidet die Glaubwürdigkeit aller anderen diplomatischen
Bemühungen.
({4})
Ich bin froh, dass im vorliegenden Entschließungsantrag die Bedeutung des NATO-Raketensystems für die
atomare Abrüstung erkannt wird. Das sogenannte Raketenabwehrprogramm ist kein rein defensives System. Im
Gegenteil: Es macht militärische Offensiven wahrscheinlicher, indem es die Auswirkung von Gegenschlägen verringert. Schild und Schwert bilden von jeher eine
Einheit. Die SPD teilt offensichtlich unsere Einschätzung, dass das Raketensystem gegen Russland gerichtet
ist. Sie fordert deshalb eine Abstimmung mit Russland
hinsichtlich dieses Systems.
Die Verhinderung eines bereits beginnenden neuen
Rüstungswettlaufs zwischen der NATO und Russland ist
auf jeden Fall sinnvoll, doch global gesehen ist ein kompletter Ausstieg aus dem Raketenprogramm notwendig,
sonst wird eine Front abgebaut und dafür eine andere errichtet. Die Linke will kein Wettrüsten mit Russland. Die
Linke will weltweit kein Wettrüsten.
({5})
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hatte recht, als er
sagte: „Die Welt ist überrüstet, und Frieden ist unterfinanziert.“ - Das muss sich dringend ändern.
({6})
Der Kollege Christoph Schnurr hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Prag, New York, Lissabon, Chicago, Bagdad und
Washington - das sind die Orte, an denen Abrüstung und
Rüstungskontrolle in den letzten Jahren vorangetrieben
wurden. Es sind die Orte, auf die wir in den nächsten
Wochen und Monaten schauen werden - mit Sorge, aber
auch mit Hoffnung. Hoffnung gab es kurz, als bekannt
wurde, dass sich die USA und Nordkorea auf die Lieferung von Lebensmitteln im Gegenzug für ein Atommoratorium geeinigt hatten. Hoffnung gibt es jetzt mit Blick
auf die Verhandlungen der E3+3 mit dem Iran. Frau Kollegin Höger, wenn ich Ihnen richtig zugehört habe, dann
haben Sie Israel in Ihrer Rede erwähnt, aber den schwelenden Konflikt mit dem Iran mit keinem einzigen Wort.
({0})
Die Sorge und das grundsätzliche Problem bleiben:
Es gibt Staaten, die nach Atomwaffen streben oder sich
- entgegen internationalen Verpflichtungen - bereits solche Waffen beschafft haben.
({1})
Sie wollen Sicherheit, Prestige und Macht. Sie verursachen dadurch aber Unsicherheit, Misstrauen und häufig
Ohnmacht. Deshalb war es wichtig, dass der amerikanische Präsident Obama vor fast genau drei Jahren in Prag
einen Paradigmenwechsel eingeleitet hat. Eine Welt
ohne Atomwaffen - das war seine Vision, und das ist
auch das Ziel aller Fraktionen in diesem Hause. Dies
haben wir seinerzeit mit unserem gemeinsamen Antrag
dokumentiert.
Schon damals sollte uns allen klar gewesen sein: Wir
werden dieses Ziel nicht über Nacht erreichen. Es
braucht einen langen Atem und viele, viele kleine
Schritte, bis der Erfolg sichtbar wird. Irgendwann wird
der Erfolg aber sichtbar. Ein Beispiel dafür ist die erfolgreiche NVV-Überprüfungskonferenz in New York. Ein
weiteres Beispiel dafür ist das neue Strategische Konzept, das sich die NATO in Lissabon gegeben hat.
({2})
Da mögen die Kollegen der Opposition anderer Auffassung sein. Das zeigt aber, wie weit Sie sich gedanklich
von der Zeit entfernt haben, in der Sie für die Außenpolitik in diesem Lande Verantwortung getragen haben.
Abrüstung und Nichtverbreitung sind - anders als in
der Vergangenheit - ein wichtiger Teil der Bündnisstrategie, nicht als Selbstzweck, sondern weil beides zu
mehr Sicherheit beiträgt. Die Bundesregierung hat einen
maßgeblichen Anteil daran, dass sich die NATO dazu
verpflichtet hat, die Voraussetzungen für eine Welt ohne
Atomwaffen zu schaffen. Das ist ein Erfolg für die Bundesregierung, für Deutschland, für uns alle, die sich für
eine Welt ohne Atomwaffen einsetzen.
Natürlich - das muss man ganz offen sagen - haben
wir uns mehr gewünscht. Aber ich bin optimistisch, dass
wir in der NATO bald weitere Fortschritte sehen werden.
In gut drei Wochen blicken wir ganz gespannt nach Chicago. Dort wird das Bündnis unter anderem beschließen,
wie der zur Abschreckung nötige Mix aus nuklearen und
konventionellen Fähigkeiten in Zukunft aussehen soll.
Wenn man dem, was vorab über die Presse bekannt
wurde, Glauben schenken darf - dazu gibt es gute
Gründe -, dann werden wir in den Gipfelbeschlüssen einige deutsche Forderungen wiederfinden. Dazu gehören
negative Sicherheitsgarantien, die Verstetigung des Ausschusses zur Rüstungskontrolle und Abrüstung, aber
auch Aussagen zu den in Europa stationierten substrategischen Atomwaffen.
Dass dieses Thema international überhaupt noch auf
der Agenda ist und bleiben wird, ist ohne Zweifel ein
Verdienst der Bundesregierung und unseres Außenministers.
({3})
Aber auch hier gilt: Erfolge brauchen Zeit. Substanzielle Gespräche können wir erst dann erwarten, wenn in
Washington der nächste amerikanische Präsident vereidigt ist; auch das haben die Gespräche mit den unterschiedlichsten Experten gezeigt. Selbst wenn es auch
dann noch dauern sollte: Wir rücken nicht ab vom Ziel
des Abzugs der Atomwaffen aus Deutschland und Europa. Wenn aber erst Vertrauen und Transparenz geschaffen werden müssen, um alle mit ins Boot zu holen,
dann sind wir gut beraten, genau das zu tun. Wir müssen
Schritt für Schritt nach vorne gehen und dürfen nicht den
zweiten vor dem ersten Schritt machen.
Meine Damen und Herren, gleich nach dem NATOGipfel blicken wir nach Bagdad. Dort soll das nächste
Gespräch der E3+3 mit dem Iran stattfinden. Gerade
jetzt wäre ein Erfolg in den Verhandlungen wichtig. Indien hat erstmals eine atomwaffenfähige Langstreckenrakete getestet, Pakistan eine Rakete mit kürzerer Reichweite. Nordkorea hat mit dem missglückten Raketenstart
gegen Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates verstoßen
und sich damit weiter isoliert. Gründe, sich Sorgen zu
machen, gab es in den vergangenen Wochen mehr als genug. Dass es jetzt überhaupt zu einer weiteren Gesprächsrunde mit dem Iran kommt, ist deshalb ein gutes
Zeichen. Es ist auch ein Hinweis darauf, dass der zweigleisige Ansatz funktioniert, den die Bundesregierung,
aber auch unsere Partner verfolgen: auf der einen Seite
Druck aufbauen und Sanktionen verschärfen und auf der
anderen Seite offen für Gespräche bleiben und Entgegenkommen zeigen.
Abrüstung und Rüstungskontrolle sind keine Felder
für parteipolitische Spielchen. Wir haben das gleiche
Ziel. Der Entschließungsantrag der SPD ist überflüssig.
Wir müssen in diesem Hohen Hause nicht alle zwei
Jahre die gleichen Dinge beschließen. Lassen Sie uns
weiter gemeinsam an der Sache arbeiten. Dann bringen
wir die Sache voran.
Vielen Dank.
({4})
Die nächste Rednerin ist Agnes Brugger für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Abrüstungspolitik fehlt es Schwarz-Gelb gewaltig an
Ideen und Elan. Das zeigen die Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage zu den verschiedensten
Facetten der nuklearen Abrüstung. Sie zeigen auch: Außenminister Westerwelle betreibt Abrüstungspolitik
ohne jede Lust und Leidenschaft, so als gehe es nur um
die Pflege einer deutschen außenpolitischen Routine.
Auf diese Weise versäumt es die Bundesregierung,
Chancen zu nutzen und sichtbare außenpolitische Akzente zu setzen. Sie unternehmen gar nicht erst den Versuch, wirklich und überzeugt bei der Bevölkerung und in
der Weltöffentlichkeit um Unterstützung für Ihre Abrüstungspolitik zu werben.
({0})
Ohne einen solchen Rückhalt, der über nationalstaatliche
Interessen hinausgeht, kann Abrüstungspolitik ihre Wirkung aber nicht entfalten.
Am augenscheinlichsten wird dies, wenn man betrachtet, was mit den US-Atomwaffen in Deutschland
geschehen soll. Mir fehlt noch der Glaube, Herr Schnurr,
dass der NATO-Gipfel in Chicago wirklich beschließen
wird, dass sie abgezogen werden sollen. Es soll nämlich
nicht besonders viel geschehen. Was es gibt, ist allenfalls
die Perspektive, dass sie modernisiert werden und damit
ihr Verbleib in Deutschland zementiert wird, und das,
obwohl im Koalitionsvertrag vereinbart wurde, dass die
in Deutschland stationierten Atomwaffen abgezogen
werden sollen, und obwohl das gesamte Parlament dieses Vorhaben unterstützt. Der heutige Entschließungsantrag der SPD, den wir in weiten Teilen wirklich sehr gut
finden, macht das deutlich. Wir teilen allerdings nicht
Ihre Begeisterung für das NATO-Raketenabwehrsystem.
Für uns ist es ein Aufrüstungsprojekt, bei dem sowohl
Nutzen als auch Kosten nicht absehbar sind.
({1})
Daher werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten.
Zurück zu Schwarz-Gelb. Wir fordern von der Bundesregierung, dass sie sich aktiv und mit eigenen Beiträgen für eine Welt frei von Atomwaffen einsetzt. Dazu
gehört beispielsweise auch, für eine Ächtung von Atomwaffen durch eine Nuklearwaffenkonvention zu streiten.
Aktiv sollten Sie sich in diese Diskussion einbringen; so
hat es nahezu das ganze Haus in einem historischen gemeinsamen Antrag gefordert. In ihrer Antwort auf die
Große Anfrage erklärt die Bundesregierung aber lapidar,
sie - Zitat - „verfolgt die Diskussion um eine Nuklearwaffenkonvention aufmerksam“. Das heißt im Klartext:
Sie beteiligen sich gar nicht daran.
({2})
Es grenzt wirklich teilweise an Dreistigkeit, wie diese
Regierung den abrüstungspolitischen Auftrag der Mehrheit des Parlamentes einfach ignoriert und sich für ihr
vermeintliches Engagement in regelmäßigen Abständen
selbst beweihräuchert.
Meine Damen und Herren, natürlich erfüllen uns die
Entwicklungen im Iran, in Nordkorea, in Indien und in
Pakistan mit großer Sorge. Erst letzte Woche erreichte
uns die Meldung, dass Indien eine neue, atomwaffenfähige Langstreckenrakete erfolgreich getestet hat. Nun
zog Pakistan mit dem Test einer Mittelstreckenrakete
nach. Indien investiert bereits seit langem in die konventionelle und auch in die nukleare Aufrüstung. Die Tests
treiben die bereits auf Hochtouren laufende Rüstungsspirale in dieser Region weiter an - und das in einer höchst
unsicheren Zeit.
Was ist die Reaktion der Bundesregierung? Schweigen und Verharmlosen! Gerade weil die Herausforderungen so groß und so offensichtlich sind, erwarten wir von
Ihnen viel mehr kreative und engagierte Initiativen für
die Abrüstung und die Rüstungskontrolle.
({3})
Im Fall Indien tun Sie aber genau das Gegenteil. Obwohl Indien bis heute nicht zu den Unterzeichnerstaaten
des Atomwaffensperrvertrages gehört, unterstützt
Schwarz-Gelb den Nuklearhandel mit Indien und steht
sogar einer Aufnahme in die Nuclear Suppliers Group
offen gegenüber.
({4})
Dabei hat die Internationale Atomenergie-Organisation
weder Einblick in die Atomanlagen noch in die militärischen und zivilen Forschungseinrichtungen in Indien.
Diese laxe Haltung zum Nuklearhandel mit Indien ist
fahrlässig, und sie torpediert auch die Nichtverbreitungspolitik der letzten Jahrzehnte.
({5})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Ihnen ist
beim Engagement für Abrüstung doch schon lange die
Luft ausgegangen.
({6})
Viele Ihrer Initiativen sind zudem - man siehe Indien auch noch kontraproduktiv. Wir machen Abrüstungspolitik mit langem Atem, mit Lust und mit Leidenschaft.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Thomas Silberhorn spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion zu uns.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ja
richtig: Anspruch und Wirklichkeit klaffen in der Abrüstungspolitik noch immer auseinander.
Im Nichtverbreitungsvertrag verpflichten sich die
fünf Atommächte, in Verhandlungen über allgemeine
und vollständige Abrüstung einzutreten. Die Unterzeichnerstaaten, die nicht im Besitz von Kernwaffen sind, erklären im Nichtverbreitungsvertrag ihren Verzicht auf
atomare Rüstung. Beide Ziele des Nichtverbreitungsvertrages - Abrüstung und Nichtverbreitung - sind in der
politischen Realität bislang nicht erreicht.
Unzureichende Fortschritte sind aber nicht allein eine
Frage des politischen Willens, sondern hängen auch mit
der komplexen Struktur von Interessen zusammen: nationale Sicherheitsinteressen, Bedrohungsperzeptionen,
aber auch machtpolitisches Kalkül und Prestigedenken.
Abrüstung braucht ein friedliches Umfeld, wechselseitiges Vertrauen, einen international abgestimmten Rahmen und im Übrigen die Beachtung des Grundsatzes der
Gegenseitigkeit.
Wir wollen alles dafür tun, dass sich der Kreis der
Akteure, die Zugriff auf Atomwaffen haben, nicht vergrößert. Das Gebot der Nichtverbreitung muss eingehalten werden. Die wohl größte Hürde dabei ist die Verifikation, also die Frage, wie sichergestellt werden kann,
dass sich tatsächlich alle Staaten an die vereinbarten Abrüstungsschritte halten. Diese Frage ist nicht banal, sondern davon hängt ab, wie freiheitlich verfasste Demokratien künftig ihre Werte verteidigen können, in dem
Wissen, dass Akteure nach Atomwaffen streben, die
diese Werte nicht teilen.
Die internationale Gemeinschaft und wir alle, denen
an Abrüstung gelegen ist, müssen darauf eine plausible
Antwort finden. Abrüstung funktioniert aber nicht ad
hoc und nicht dadurch, dass man den allgemeinen Weltfrieden ausruft. Es wäre wenig hilfreich, die politischen
Realitäten auszublenden, unerfüllbare Erwartungen zu
schüren und damit Enttäuschungen und Frustration hervorzurufen. Erfolgreiche Abrüstungspolitik braucht einen Fahrplan mit konkreten Zielmarken.
Es ist uns vor über zwei Jahren in diesem Haus gelungen, mit einem interfraktionellen Antrag einen Konsens
in der nuklearen Abrüstungspolitik herzustellen. Wir haben beschrieben, welchen Beitrag Deutschland aus Sicht
des Parlaments leisten kann.
Seitdem sind die Verhandlungen zu allen wesentlichen Aspekten der nuklearen Abrüstung vorangeschritten. Es gibt einen neuen START-Vertrag zwischen den
USA und Russland. Es gab 2010 eine erfolgreiche Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag mit
der Verständigung auf einen Aktionsplan. Gegenstand
dieses Aktionsplans ist unter anderem das Ziel, im Nahen und Mittleren Osten eine Zone zu schaffen, die frei
von Nuklearwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen ist. Schließlich wurde von zehn Staaten eine
Nichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative gegründet.
Auf anderen Feldern sind - das ist zuzugeben - die
Fortschritte noch nicht so weit, wie wir uns das alle erhoffen, was freilich auch an der geschilderten Komplexität der Aufgabe liegt. Für das Inkrafttreten des umfassenden Teststoppabkommens fehlen nach wie vor acht
Ratifikationen. Die letzte Ratifikation durch Indonesien
im Februar war immerhin ein wichtiger Schritt.
Die Aufnahme der Verhandlungen zum Verbot der
Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke in der
Genfer Abrüstungskonferenz wird weiterhin durch die
offene Blockade Pakistans verhindert. In den Atomverhandlungen mit Nordkorea und Iran gibt es bisher keine
greifbaren Fortschritte. Allein diese beiden Fälle verdeutlichen, wie weit wir noch von einem internationalen
Konsens über den Umgang mit Atomwaffen entfernt
sind.
CDU, CSU und FDP haben in ihrem Koalitionsvertrag ein glasklares Bekenntnis zu Abrüstung und Rüstungskontrolle abgegeben. Wir sehen dies „als zentralen
Baustein einer globalen Sicherheitsarchitektur der Zukunft“, so das Zitat aus dem Koalitionsvertrag.
Die Bundesregierung hat diesen Worten seit Beginn
dieser Legislaturperiode Taten folgen lassen. Im neuen
Strategischen Konzept der NATO vom November 2010
sind Abrüstung und Rüstungskontrolle und auch das Ziel
einer nuklearwaffenfreien Welt verankert. Die Bundesregierung engagiert sich konsequent für die Stärkung des
globalen Nichtverbreitungsregimes, insbesondere im
Rahmen der Bemühungen zum iranischen Nuklearprogramm. Bei den Verhandlungen zum iranischen Nukleardossier hat sich Deutschland neben den fünf ständigen
Mitgliedern des Sicherheitsrates einen festen Platz als
Verhandlungspartner erarbeitet.
Wir haben mit der Verhängung von Sanktionen, die
auch die deutsche Wirtschaft empfindlich treffen, deutlich gezeigt, dass es uns mit der Doppelstrategie von
Angebot und Druck ernst ist. Das zeigt: Die Bundesregierung ist den Handlungsaufträgen aus dem Koalitionsvertrag und aus dem interfraktionellen Beschluss des
Bundestages vor zwei Jahren im vollen Umfang nachgekommen.
Ich sage aber auch: Der primäre Verhandlungsrahmen
für Deutschland ist die Europäische Union, ist die Nichtverbreitungs- und Abrüstungsinitiative. Nukleare Abrüstung hängt aber nicht in erster Linie von Deutschland ab.
Dazu gehören die USA und Russland, die noch immer
über rund 90 Prozent der weltweit vorhandenen Atomwaffen verfügen. Dazu gehören auch aufstrebende
Mächte wie China und Indien. Dazu gehört die Frage, ob
Staaten wie der Iran und Nordkorea zur Einhaltung der
globalen Nichtverbreitungsnormen gebracht werden
können.
Fortschritte in der Abrüstungspolitik entstehen nicht
durch hehre Verlautbarungen und Ziele,
({0})
sondern dann, wenn Abrüstung von den relevanten Akteuren als Teil einer klugen Interessenpolitik verstanden
und wenn sie in einem Klima des Vertrauens und der
Partnerschaft betrieben wird.
Abrüstung ist die Summe vieler einzelner Bausteine.
Arbeiten wir gemeinsam darauf hin, dass sich die Teile
dieses Mosaiks zu einem ansehnlichen Gesamtbild zusammenfügen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/
9438. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion. Die Koalitionsfraktionen haben dagegen gestimmt, Linke und Bündnis 90/Die Grünen sich
enthalten.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begleitung der Reform der Bundeswehr ({0})
- Drucksache 17/9340 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen, und wir verfahren so.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort
dem Bundesminister der Verteidigung, Dr. Thomas
de Maizière.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir wollen eine leistungsfähige Bundeswehr, die der
Politik im Bedarfsfall ein breites Spektrum an Fähigkeiten und Handlungsoptionen bietet, die einsatzorientiert
und effektiv arbeitet, die nachhaltig finanziert und ausgerüstet ist und die fest in der Gesellschaft verankert ist,
und das alles mit Menschen, die das können und die das
gerne tun. Das ist der Hintergrund, vor dem wir heute
den Entwurf des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes beraten, den ich gerne einbringe.
Wir stehen im Zusammenhang mit der Neuausrichtung der Bundeswehr vor drei Herausforderungen:
Erstens. Wir brauchen weniger Personal. Es ist nicht
drum herumzureden: Das ist auch eine Maßnahme des
Personalabbaus. Denjenigen, für die wir in der Bundeswehr keine angemessene Verwendung haben, müssen
und wollen wir eine Perspektive anbieten. Dafür brauchen wir das Reformbegleitprogramm.
Zweitens. Wir müssen das richtige Personal am
richtigen Platz in der Bundeswehr haben. Im konkreten Fall bedeutet das eine gute Personalentwicklung
einschließlich Beförderungsmöglichkeiten, Umstieg
vom Berufs- zum Zeitsoldaten, Umschulung, Weiterbildung, Umzüge usw. Dazu wollen wir Anreize
schaffen. Diesen Schritt wollen wir erleichtern, und
dafür brauchen wir das Reformbegleitprogramm.
Drittens. Wir brauchen neues Personal. Nur wenn es
uns gelingt, dass die Bundeswehr als attraktiver Arbeitgeber angesehen wird, werden wir den Wettbewerb um
die besten Köpfe bestehen. Genau die brauchen wir für
eine starke und gute Bundeswehr. Auch dafür brauchen
wir das Reformbegleitprogramm.
Das Reformbegleitprogramm stellt Mittel, Maßnahmen und Möglichkeiten bereit, damit wir dieser dreifachen Herausforderung begegnen können. Wir durchlaufen im Zusammenhang mit der Neuausrichtung der
Bundeswehr einen Prozess des Aufbaus, Umbaus und
Abbaus, und das alles gleichzeitig. Das ist ziemlich
kompliziert, aber möglich.
Grundsätzlich gilt: Die Weiterverwendung innerhalb
und außerhalb der Bundeswehr hat für uns Vorrang. Deshalb wollen wir sie durch vielfältige Maßnahmen fördern, die Sie in dem Entwurf finden. Ich denke an die erweiterten Beurlaubungsregelungen, an das Angebot
umfassender Weiterqualifizierungsmaßnahmen, an die
finanzielle Förderung einer anderweitigen Weiterbeschäftigung, an die finanziellen Anreize für eine Statusumwandlung vom Berufs- zum Zeitsoldaten und vor allem an die Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen.
Letzteres ist besonders wichtig. Wer als über 50-jähriger Hauptfeldwebel oder Oberstleutnant in der Wirtschaft arbeiten will, soll und kann, der sollte auch einen
Anreiz haben, das zu tun, zwar nicht in Form von mehr
Geld vom Steuerzahler, aber so, dass er möglichst viel
von dem, was er bei einem anderen Arbeitgeber verdient
und für das er Steuern und Abgaben zahlt, behalten
kann.
({0})
Für diejenigen, die keine Weiterbeschäftigung finden
können oder wollen, enthält der Entwurf ein alles in allem respektables Angebot, vorzeitig in den Ruhestand zu
gehen. Dieser Weg wird mit Blick auf die finanzielle Belastung für den Bundeshaushalt und auf die Beschäftigungsmöglichkeiten und entsprechenden Maßnahmen
außerhalb des öffentlichen Dienstes nicht allen Soldatinnen und Soldaten bzw. Beamtinnen und Beamten des
Überhangs offenstehen. Auch hierüber wird sicherlich
noch geredet werden.
Lassen Sie uns bei der Beratung all dieser Maßnahmen nicht das Ziel aus den Augen verlieren: Es geht darum, die Bundeswehr zukunftsfest zu machen. Wir dürfen uns nicht nur um die kümmern, die die Bundeswehr
leider verlassen müssen, sondern müssen uns vor allem
um die kümmern, die bleiben und neu dazukommen. Mit
diesem Ziel wollen wir die Attraktivität des Arbeitsplatzes Bundeswehr steigern. Dazu gibt es viele Maßnahmen, die jetzt nicht gesetzlich geregelt werden müssen.
Aber auch der vorliegende Gesetzentwurf sieht hierzu
vielfältige Maßnahmen vor.
Wir wollen die Vereinbarkeit von Familie und Dienst
ebenso verbessern wie die Wohn- und Lebensbedingungen der zahlreichen Pendler in der Bundeswehr. Dabei
knüpfen wir an die Maßnahmen an, die wir bereits außerhalb des Reformbegleitprogramms umgesetzt haben.
Ich denke an das Ziel, die Kasernenunterkünfte, die wir
nicht mehr brauchen, Pendlern zur Verfügung zu stellen,
das befristete Wahlrecht zwischen Umzugskostenvergütung und Trennungsgeld, die Verbesserung der Wohnungsfürsorge und viele andere Maßnahmen.
Es handelt sich bei dem Ihnen vorliegenden Entwurf
des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes nur dem Namen
nach um ein Begleitgesetz. In Wahrheit ist es ein zentraler Baustein der Neuausrichtung. Das Gesetz kommt denen zugute, die heute in der Bundeswehr sind und dort
weiterhin ihre Zukunft sehen. Das Gesetz kommt denen
zugute, die sich eine berufliche Zukunft in der Bundeswehr vorstellen können. Das Gesetz kommt aber auch
denen zugute, die andere berufliche Perspektiven anstreben oder leider anstreben müssen. Das Gesetz dient also
dem Erfolg der Neuausrichtung der Bundeswehr insgesamt. Wir brauchen das Bundeswehrreform-Begleitgesetz als Teil der Neuausrichtung, damit die Bundeswehr
unserem Land, seinen Interessen und Werten so gut dienen kann wie bisher oder noch ein bisschen besser.
In diesem Sinne bitte ich Sie um gute, zügige Beratungen und im Ergebnis um eine breite Zustimmung.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Fritz Rudolf Körper für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundeswehrreform-Begleitgesetz zielt in seiner Personalstrukturreform auf drei Punkte. Das Gesetz zielt zum einen auf die Einsatzausrichtung. Bei diesem Thema ist es
ganz wichtig, dass wir nicht nur das aktuelle Einsatzszenario in Afghanistan im Blick haben, sondern insbesondere auch das, was wir dort zukünftig zu erwarten haben. Das Gesetz zielt zum anderen auf eine Effizienzsteigerung. Das ist ganz wichtig. Zu diesem Schluss
kommt man, wenn man vor allen Dingen die rasante
Entwicklung der Militärtechnik sieht. Des Weiteren zielt
das Gesetz auf eine Reduzierung des Personalkörpers.
Das alles bedeutet, dass der Qualifikationsanspruch an
den einzelnen Soldaten und die einzelne Soldatin sowie
an die Mitarbeiter der Bundeswehr - ähnlich wie auf
dem sonstigen Arbeitsmarkt - enorm wächst. Zu diesem
Schluss kommt man, wenn man sieht, wie die Neuausrichtung ausgestaltet ist. Die Bundeswehr wird kleiner
und spezieller. Das begründet im Prinzip den gestiegenen Qualifikationsanspruch an den Einzelnen. Das ist
besonders zu berücksichtigen.
Es kommt, glaube ich, ganz entscheidend darauf an,
sehr geehrter Herr Minister de Maizière, dass wir unser
Augenmerk nicht nur auf diejenigen richten, von denen
wir uns trennen wollen bzw. trennen müssen, sondern
insbesondere auch auf diejenigen, die wir für die zukünftige Neuausrichtung der Bundeswehr brauchen. Es ist
ganz wichtig, dass sich die Neuausrichtung an der Attraktivität für junge Menschen orientiert, die ihren
Dienst in der Bundeswehr verrichten wollen.
({0})
Ich glaube, dass es darüber keinen Streit gibt. Aber man
muss wissen, dass die Bundeswehr bei der Personalgewinnung in einem verschärften Wettbewerb steht. Angesichts der Anstrengungen, die die Landespolizeien und
die Bundespolizei unternehmen, um Personal zu rekrutieren - es handelt sich um einen Personalkörper, an dem
auch die Bundeswehr interessiert ist -, muss darüber
nachgedacht werden, wie es die Bundeswehr schaffen
kann, qualifiziertes Personal zu gewinnen. Im Mittelpunkt der anstehenden Bundeswehrreform steht daher
eine eindeutige Steigerung der Attraktivität des Dienstes
für die aktiv Beschäftigten. Ich hoffe, dass das gelingt.
Der Dienst in der Bundeswehr muss aber auch im
Hinblick auf die Nachwuchsgewinnung attraktiver werden. Wir haben bereits eine Debatte über die Ausbildung in der Bundeswehr geführt. Ich finde, das ist ein
Feld, wo nicht reduziert werden darf; denn im Hinblick
auf die zukünftige Entwicklung der Bundeswehr in dem
von mir skizzierten Sinne ist es wichtig, dass die Bun20754
deswehr attraktive Ausbildungsplätze zur Verfügung
stellt.
({1})
Man sieht, dass das Ziel relativ ehrgeizig ist. Von
252 000 Soldatinnen und Soldaten inklusive Wehrpflichtigen ausgehend streben wir einen Zielkorridor von
185 000 Soldatinnen und Soldaten an. Diese Reduzierung geht einher mit einer Reduzierung der Zahl der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dazu sage ich
Ihnen, Herr Verteidigungsminister de Maizière, dass die
Zahl der Zivilbeschäftigten, die von derzeit 76 000 auf
55 000 reduziert werden soll, nach unserer Auffassung
sehr willkürlich gewählt ist.
({2})
Ich weiß nicht, ob in diesem Zusammenhang eine
konkrete Aufgabenanalyse vorgenommen worden ist. Es
gibt eine interessante Parallele zu der Entwicklung der
französischen Streitkräfte. Diese haben militärisches
Personal abgebaut, was allerdings mit einem Aufwuchs
bei den Zivilbeschäftigten einherging. Auch so etwas
muss man berücksichtigen. Ich finde es wichtig, eingehend zu prüfen, welche Aufgaben zukünftig vom militärischen Personal und welche vom zivilen Personal übernommen werden sollen. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt. Auch diese Überlegung muss bei der Umsetzung
des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes eine Rolle spielen.
Wir müssen auch daran denken, dass Soldatinnen und
Soldaten ausscheiden sollen oder müssen. In diesem Zusammenhang ist die Freiwilligkeit ganz wichtig. Entscheidend ist, wie die Instrumente bei dem Einzelnen
wirken. Über die Hinzuverdienstgrenzen sollten wir gemeinsam nachdenken, damit es für bestimmte Betroffene
nicht zu einer spürbaren Absenkung des Nettoeinkommens kommt.
({3})
Das gilt insbesondere für bestimmte Altersbänder. In
diesem Fall stellt das Altersband II ein gewisses Problem dar. Ich weiß aber auch aus eigener Erfahrung, dass
dann, wenn man besondere Regelungen schaffen will
und beispielsweise Hinzuverdienstgrenzen anhebt oder
gar aufhebt, eine Debatte mit anderen, beispielsweise
dem Innenministerium, entfacht wird. Aber gerade bei
den Hinzuverdienstgrenzen müssen wir auf die Besonderheit der Neuausrichtung der Bundeswehr und darauf,
was wir mit dem neuen Personalkörper wollen, hinweisen. Deswegen sollten wir im Sinne der Betroffenen eine
adäquate Regelung schaffen.
({4})
Ein weiterer Punkt betrifft die Planstellenobergrenzen. Es muss eine Vergleichbarkeit der Bundeswehr mit
anderen Stellen des öffentlichen Dienstes und den entsprechenden Laufbahnen hergestellt werden. In diesem
Zusammenhang sollten wir unser Augenmerk insbesondere auf die Besoldungsgruppen A 9 und A 13 richten.
Die Vergleichbarkeit der Bundeswehr mit anderen Stellen des öffentlichen Dienstes ist unabdingbar.
Wir haben die Gelegenheit, das BundeswehrreformBegleitgesetz auch im Rahmen der Anhörung miteinander zu diskutieren. Ich bin mir im Moment bei der Bewertung des vorgestellten Instrumentariums nicht sicher,
ob es tatsächlich zu dem gewünschten Effekt kommt,
also Freiwillige ausscheiden, und die Bundeswehr die
angestrebte zahlenmäßige Stärke erreicht.
Aber deswegen führen wir die Beratungen. Ich sage
jedenfalls vonseiten der SPD-Bundestagsfraktion eine
konstruktive Begleitung zu.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Fritz Rudolf Körper, ich finde es
sehr gut, dass sich etwas fortsetzt, was in anderen Bereichen schon sehr gut praktiziert worden ist, nämlich dass
wir gerade im Verteidigungsbereich versuchen, einen
möglichst breiten Konsens in diesem Hause zu erzielen.
In diesem Fall geht es darum, die Neuausrichtung der
Streitkräfte auf den Weg zu bringen.
({0})
Wenn man sich einmal die Situation anschaut, stellt
man fest: Unsere Soldatinnen und Soldaten haben inzwischen fast 20 Jahre Erfahrung in internationalen Auslandseinsätzen. Sie sind wesentlicher Teil der Sicherheitsarchitektur nicht nur Deutschlands, sondern auch
der gesamten Welt geworden. Ich glaube, dass Deutschland an dieser Stelle sehr stolz auf seine Streitkräfte sein
kann, weil sie unter Beweis gestellt haben, dass sie den
Paradigmenwechsel - weg von der klassischen Landesverteidigung und hin zu den Einsätzen zur Krisenbewältigung und Krisenprävention - in hervorragender Art
und Weise hinbekommen haben.
({1})
Wir haben an dieser Stelle natürlich auch einige Lehren aus diesen Erfahrungen mit einer Armee im Einsatz
zu ziehen. Ein wesentlicher Aspekt war die Entscheidung dieser Koalition, die Bundeswehr einer Strukturreform zu unterziehen, die zwei besondere Ziele hat: Zum
einen soll sie die Flexibilität der Streitkräfte erhöhen,
und zum anderen soll sie vor allen Dingen die Einsatzfähigkeit erhöhen. Das hat sich insbesondere in den Verteidigungspolitischen Richtlinien niedergeschlagen; nach
den Festlegungen des Verteidigungsministers soll die
Zahl der einsatzfähigen Soldatinnen und Soldaten auf
10 000 erhöht werden.
Das bedeutet aber auch, dass wir die nötigen Mittel
freisetzen müssen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Wenn wir einmal in die Streitkräfteplanungen unserer Bündnispartner schauen, aber auch über das Bündnis
hinaus schauen, so können wir feststellen, dass es aktuell
keine Streitkräfte gibt, die nicht einer Umstrukturierung,
einer Reduzierung, einer Transformation der Aufgaben
unterzogen werden. Das heißt, die Bundeswehr befindet
sich in einem Prozess, der auch an anderer Stelle stattfindet.
Das Entscheidende ist, was wir an Signalen setzen.
Deswegen kann ich dem Minister nur zustimmen, der
gesagt hat, dass das Bundeswehrreform-Begleitgesetz
eigentlich der Kern unserer Anstrengung sein muss. Wir
müssen einerseits versuchen, den Soldatinnen und Soldaten, die ausscheiden müssen, das Gefühl zu geben,
dass wir immer noch für sie da sind, für sie sorgen und
ihnen den Übergang so leicht wie möglich machen, und
andererseits - das hat der Kollege Körper sehr richtig betont - müssen wir denen, die bei den Streitkräften bleiben sollen, das Gefühl geben, dass der Dienst in den
Streitkräften, in einer Freiwilligenarmee ein attraktiver
ist.
Wir haben durch den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung einen Rahmen bekommen,
der in die richtige Richtung geht. Ich mag diesen Ausdruck zwar nicht, aber in dem Fall passt er sehr gut. Nur,
wir glauben, dass wir an der einen oder anderen Stelle
die Anreize doch noch ein Stück weit erhöhen sollten.
Wenn wir in diesem Hause einen möglichst breiten Konsens dazu hinbekommen, wäre das das richtige Signal in
Richtung unserer Parlamentsarmee.
({2})
Wir als liberale Fraktion sind beispielsweise der Auffassung, dass die Hinzuverdienstgrenzen nicht nur angehoben werden, sondern möglichst völlig entfallen sollen.
Wir halten das für einen wesentlichen Anreiz für Männer
und Frauen, ihren Weg wieder in den zivilen Beruf hinein zu finden.
Ich möchte an dieser Stelle noch einen weiteren Aspekt mit ins Gespräch bringen, obwohl das nicht originäre Aufgabe des Bundeswehrreform-Begleitgesetzes
ist, nämlich dass wir an anderer Stelle versuchen, gesetzgeberisch das Thema „Portabilität von Versorgungsansprüchen, von Rentenansprüchen“ zu regeln, um hier einen möglichst großen Anreiz zu schaffen, damit das
notwendige Ziel der Reduzierung der Streitkräfte am
Ende auch zu erreichen ist.
Dass das Thema Attraktivität ganz oben auf der
Agenda steht, ist klar. Insbesondere bei der Attraktivitätssteigerung durch Vereinbarkeit von Familie und
Dienst haben wir noch eine Menge zu tun. Es sind gute
Ansätze gemacht worden, aber wenn die Reform so weit
abgeschlossen sein wird, muss nach unserer Auffassung
natürlich auch darüber nachgedacht werden, mindestens
an den großen Standorten eine substanzielle Kinderbetreuung zu schaffen, damit für Soldatinnen, die wir in
Zukunft für die Freiwilligenarmee brauchen, aber auch
für Soldaten wirklich ein Anreiz besteht.
({3})
Ich glaube - die meisten unserer Kollegen bekommen
das bei ihren Truppenbesuchen mit ins politische
Marschgepäck -, dass viele junge Menschen gerne dienen möchten, aber natürlich auch Familie haben und
Kinder in die Welt setzen möchten. Gerade wir als Gesellschaft sind besonders darauf angewiesen, dass junge
Menschen bereit sind, für Nachwuchs zu sorgen, da nur
so unsere Gesellschaft fortbestehen kann. Ich denke,
dass an dieser Stelle die Bundeswehr als großer Arbeitgeber ein großes, gutes und wichtiges Signal setzen
kann.
Ich gehe davon aus, dass wir uns im Rahmen der parlamentarischen Beratung auch nach der Anhörung darauf verständigen werden, welche Dinge wir möglicherweise am Gesetz nachjustieren müssen, wir also unsere
parlamentarischen Hausaufgaben machen. Ich bin zuversichtlich, dass wir das Ziel erreichen werden, unseren
Soldatinnen und Soldaten sowie den Zivilbeschäftigten
das Gefühl zu geben, dass wir nicht nur im Dienst für sie
sorgen, sondern auch dann, wenn sie den Dienst verlassen wollen.
Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen über einen weiteren Baustein zur Umsetzung der
Bundeswehrreform. Bisweilen hat man von einem großen Wurf gesprochen. Wenn wir nun in die Details
schauen, dann erscheint vieles doch eher unausgegoren,
kurzsichtig, ja klein.
Sie haben jetzt 1,3 Milliarden Euro mehr für die
Durchsetzung der Reform zur Verfügung. Trotzdem
bleibt das, was Sie vorlegen, hinter einem nötigen sozialverträglichen Personalabbau weit zurück. Bis 2017 sollen circa 20 000 Dienstposten bei den Soldatinnen und
Soldaten wegfallen, bei den Zivilbeschäftigten sind es
circa 30 000.
Wir sprechen jetzt über ein Gesetz, das die Voraussetzungen dafür schaffen soll, dass insgesamt 2 170 Berufssoldatinnen und -soldaten in den Ruhestand versetzt
werden sollen bzw. können. Beim Zivilpersonal sollen es
1 050 Beamtinnen und Beamte sein.
Selbst wenn ich die natürliche Fluktuation in Rechnung stelle, also diejenigen, die in diesem Zeitraum ohnehin altersbedingt ausscheiden, reicht das nicht aus, um
Ihre eigenen Vorgaben zu erreichen. Das sagen Ihnen
auch die Berufsverbände bzw. der BundeswehrVerband.
Sie gehen darüber hinweg und ignorieren es. Hier muss
Paul Schäfer ({0})
noch nachgebessert werden. Der Vorschlag, man bekomme das Problem gelöst, indem man Personal einfach
in andere Behörden verschiebt - ob das zweckmäßig ist,
lasse ich einmal außen vor -, ist nichts anderes als Rosstäuscherei; denn auch dann muss es vom Steuerzahler
bezahlt werden.
Offensichtlich scheinen Sie, was die sozialverträgliche Reduzierung des Personalkörpers betrifft, über Ihre
eigenen ideologischen Dogmen zu stolpern, sprich:
Rente erst ab 67.
({1})
Dies verhinderte offensichtlich großzügige Vorruhestandsregelungen. Auch die Regelung zu den Hinzuverdienstgrenzen kann man nur kleinkariert nennen.
Mit Ihrem Gesetz geraten Sie in trübe Gewässer,
wenn Sie nun zivile Dienststellen mit Militärs besetzen
wollen. Die Bundeswehrverwaltung ist nicht ohne
Grund zivil ausgerichtet. Es ging und es geht darum, neben der strikten Militärlogik eine etwas andere Organisationskultur im Bereich der Streitkräfte zu etablieren. Das
war eine Folgerung aus der deutschen Militärgeschichte.
Das wollen Sie nun offensichtlich schleichend aushebeln, weil es bequemer für Sie ist und Sie die gesamte
Bundeswehr auf Einsatzarmee trimmen wollen.
Ich kann dazu nur sagen: Art. 87 b Grundgesetz regelt
eine klare Aufgabentrennung. Lassen Sie die Finger von
diesem Grundgesetzartikel! Das kann man Ihnen nur raten.
({2})
Wir sprechen hier, liebe Kolleginnen und Kollegen,
über die Umsetzung der Reform, wir müssen aber auch
über die Ziele der Reform sprechen. Wenn man schon alles neu strukturiert, dann hätte am Anfang stehen müssen, alles auf den Prüfstand zu stellen, also sozusagen
eine kritische Betrachtung der Militäreinsätze der letzten
20 Jahre. Von einer solchen kritischen Revision des Auftrags der Streitkräfte kann keine Rede sein. Ihr Motto ist:
Weiter so, nur effektiver!
Die Linke bleibt dabei: Der wichtigste Einsatz der letzten zehn Jahre war Afghanistan. Das ist wahrlich keine
Blaupause für die Zukunft; im Gegenteil. Auch die anderen Einsätze sind - ich drücke mich vorsichtig aus - nicht
nachhaltig erfolgreich. Deshalb schließt sich an dieser
Stelle der Kreis. Die Ausrichtung auf diesen globalen Militärinterventionismus hat einen Preis. Sie verschlingt viel
Geld. Mit anderen Worten: Vom Ausgangspunkt Ihrer
Reform, zu sparen und zur Haushaltskonsolidierung beizutragen, redet keiner mehr. Wir jedoch sind nach wie vor
der Meinung, man sollte an der richtigen Stelle sparen.
Das ist immer gut.
({3})
Ihre Hauptsorge ist: Wie kriegen wir das nötige Personal für die künftige Bundeswehr? Unsere Hauptsorge
ist: Was machen Sie mit den Menschen? Wir reden viel
über Attraktivitätssteigerung. Es ist nicht alles falsch,
was Sie auf den Weg bringen. Aber Attraktivität und
Auftrag gehören zusammen. Das sagen Ihnen auch die
Studien des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr. Soldatinnen und Soldaten müssen von der
Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit überzeugt sein. Dort hapert es
vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Afghanistan
oder anderswo. Auch das zeigen die Studien.
({4})
Die Zweifel wachsen. Hier müsste die Reform ansetzen also zurück zum Verteidigungsauftrag, Beendigung der
Auslandseinsätze. Das wäre zukunftsweisend.
Danke.
({5})
Das Wort hat nun Agnes Brugger für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister, nachdem Ihr Vorgänger im Amt den Reformprozess mit einer überaus hektischen Ankündigungspolitik von Anfang an ins Trudeln gebracht hat, weckte Ihre
strukturierte Herangehensweise zunächst Hoffnung.
({0})
Eine Hoffnung muss jedoch auch erfüllt werden, und
dazu komme ich jetzt.
Sie konnten - und wollten vielleicht auch - nicht ausbügeln, was von Beginn an falsch gemacht wurde. Dieser Reform fehlt nämlich die grundsätzliche Basis, die
breite gesellschaftliche Diskussion über die zukünftigen
Aufgaben der Bundeswehr und über die Grenzen des
Militärischen.
({1})
Dennoch gab und gibt die Regierung die Parole aus,
dass diese Reform der große Wurf wird. Das haben Sie,
Herr Minister, nicht nur heute, sondern auch im vergangenen Jahr anlässlich der Vorstellung der Eckpunkte der
Neuausrichtung sehr deutlich gemacht. Ihre Ankündigungen vor einem Jahr und auch in Ihrer heutigen Rede
klingen dabei ein bisschen wie bei der Werbung für das
Überraschungsei: Gleich drei Wünsche auf einmal wollen Sie erfüllen. Sie wollten Verbesserungen für die bringen, die kommen sollen, für die, die gehen müssen, und
die, die bleiben wollen und sollen. Sozialverträglicher
Personalabbau und Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung sollten ineinander greifen und sich zu einem runden
Ganzen fügen.
Was Sie uns bis heute präsentieren, ist aber keine
runde Sache. Stattdessen bieten Sie vor allem den rangniederen Soldatinnen und Soldaten und den Zivilangestellten der Bundeswehr einen Sack voll bitterer Pillen.
Zuckerstückchen gibt es in diesem Gesetz in erster Linie
für Ihre Spitzenkräfte.
Noch vor einem Jahr war die Rede von zu vielen Stäben und zu vielen Generalssternen. In der Berichterstattung wurde daraus die Formel „Zu viele Häuptlinge und
zu wenig Indianer“. Hier Abhilfe zu schaffen, war Ihnen
ein dringendes Anliegen, Herr de Maizière. Und doch
liegt ein Fokus dieses Gesetzentwurfes auf der Schaffung diverser neuer hochdotierter Spitzenpositionen für
militärische und zivile Verwaltungskräfte. Das ist nicht
verhältnismäßig. Wir fordern Sie dringend auf, dies noch
einmal zu überdenken.
({2})
Die Bundeswehr muss und sollte kleiner werden. Das
ist unumgänglich. Diese Verkleinerung wollten Sie so
schonend, so sozialverträglich wie möglich gestalten.
({3})
Dieses Ziel kritisieren wir ganz und gar nicht. Aber unsere Zweifel, ob Sie mit den hier vorgeschlagenen Instrumenten dieses Ziel sozialverträglich erreichen, sind
groß. Für sehr gut ausgebildete Soldatinnen und Soldaten, für Experten und Spezialisten, erleichtern Sie den
Wechsel zu anderen Arbeitgebern. Aber diese wollen Sie
in der Regel gar nicht gehen lassen. Ihr Angebot für den
vorzeitigen Ruhestand wiederum kann man kaum als attraktiv bezeichnen.
Sträflich vernachlässigt haben Sie entgegen Ihrer Behauptung in Ihrer Rede in diesem Gesetz diejenigen, die
bleiben wollen und sollen. Sie behaupten, dass Sie wesentliche Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität
bereits vor diesem Gesetz auf den Weg gebracht haben.
Das sehe ich anders. Ein ganzheitliches Konzept zur Steigerung der Attraktivität haben Sie noch nicht auf den
Weg gebracht. Vor allem scheinen Sie zu glauben, dass
man mit Geld alle Mängel heilen kann. Aber selbst wenn
die Tätigkeit bei der Bundeswehr noch so gut bezahlt
wäre, würde das die Unzufriedenheit zum Beispiel über
überbordende Hierarchien, die schlechte Vereinbarkeit
von Familie und Dienst oder den bürokratischen Dschungel nicht abstellen.
({4})
Wenn Sie wirklich attraktive Rahmenbedingungen bei
der Bundeswehr wollen, müssen Sie sich genau an diese
Mängel heranwagen, und das besser gestern als heute.
Sie wollten den großen Wurf erreichen, auch in Sachen Attraktivität. Dieser Gesetzentwurf ist aber nach
dem monatelangen Hin und Her zwischen den Ressorts
schließlich nur ein halbherziger Kompromiss geworden.
Alle wesentlichen Artikel in diesem Entwurf stellen Sie
zudem von vornherein zur Disposition. Auf Verlässlichkeit können die Bundeswehrangehörigen so bis 2014
warten.
So bleibt dieser Vorschlag insgesamt leider weit hinter den großen Worten des vergangenen Jahres zurück.
Um es noch einmal klarzustellen: Grundsätzlich würden
wir Sie gern bei dem Anliegen unterstützen, die Bundeswehr kleiner und zu einem besseren Arbeitgeber zu
machen. Dafür muss aber in den kommenden Beratungen an etlichen Stellen nachgebessert werden. Wir
werden den weiteren Prozess kritisch und mit eigenen
Vorschlägen begleiten.
Vielen Dank.
({5})
Als letztem Redner zu diesem Debattenpunkt erteile
ich dem Kollegen Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bundeswehr - das haben wir gemeinsam
festgestellt - befindet sich in der wohl größten Strukturreform ihrer Geschichte. Ziel ist es, Strukturen zu erreichen, die unsere Streitkräfte in die Lage versetzen, internationale Einsätze im Rahmen einer Mandatierung
besser bewältigen zu können.
Dieser Umbruch ist sicherheitspolitisch begründet,
fraktionsübergreifend gewollt und notwendig. Diese
Reform zielt darauf ab, mit effektiven Strukturen eine
verbesserte Einsatzausrichtung zu gewährleisten. Lieber
Paul Schäfer - weiter so, aber nur effektiv. Genau so ist
es. Die Bundeswehr ist eine Erfolgsgeschichte. Wir leben in einem friedlichen, freiheitlichen Europa, in dem
jeder seine Meinung sagen darf; ich betone: jeder, und
das ist gut.
({0})
Nach den elementaren Entscheidungen zu Auftrag
und Umfang der Streitkräfte sowie zur Stationierung
werden nun weitere Bausteine dieser großen Reform
umgesetzt. Bis zum Sommer soll die sogenannte Feinausplanung erfolgen, sie soll also zügig erfolgen. Ich bin
dem Minister sehr dankbar, dass er dieses Tempo vorlegt, um möglichst schnell eine Perspektive zu entwickeln. Es geht darum, die Strukturen an den Standorten
ebenso wie die persönlichen Laufbahnwege der einzelnen Soldatinnen und Soldaten und zivilen Mitarbeiter
auszuplanen.
Eine solch tiefgreifende Strukturreform bringt naturgemäß viele Veränderungen mit sich. Es ist verständlich,
dass es in Zeiten des Umbruchs gelegentlich Unruhe
gibt, da sich viele Angehörige und Familien Gedanken
über ihre Zukunftsplanung machen. Deswegen ist es
umso wichtiger, dass wir jetzt möglichst mit einer breiten Mehrheit dieses Reformbegleitprogramm parallel zur
Feinausplanung umsetzen, um klare Perspektiven zu ermöglichen. Mit dem Bundeswehrreform-Begleitgesetz
schaffen wir eine notwendige gesetzliche Regelung, um
dem Dienstherrn bei der Umsetzung der Bundeswehrstrukturreform erweiterte Möglichkeiten zur Personalanpassung und Attraktivitätssteigerung zu eröffnen.
Mehrere Instrumente der Personalanpassung sind von
Minister Dr. de Maizière schon dargestellt worden. So
gibt es die Möglichkeit zu Beurlaubungen und anderwei20758
tigen Verwendungen in anderen Behörden. Das ist eine
gute Maßnahme, weil dadurch viele Fachkräfte gehalten
werden, die weiterhin in Behörden ihren Dienst tun können. Die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand kann
gewählt werden, wenn es notwendig oder gewünscht ist.
Weiterhin gibt es die Möglichkeit für Ausgleichszahlungen und Verpflichtungsprämien oder Erweiterungen der
Berufsförderungsansprüche.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Katalog enthält weitreichende Handlungsfelder zur Gestaltung der
Personalstrukturen. Diese Gestaltungsmöglichkeiten sind
nicht klein, lieber Paul Schäfer, vielmehr sind sie sehr detailliert. Dieser Gesetzentwurf ist das Mittel zur Umsetzung der Strukturreform. Daher müssen wir im parlamentarischen Verfahren jetzt genau prüfen, wie zielführend
die vorgeschlagenen Maßnahmen wirken. Die am 7. Mai
stattfindende Anhörung gibt uns eine gute Gelegenheit
zur Erörterung, die wir nutzen sollten, um zu einem breiten parlamentarischen Konsens zu kommen.
({1})
Dieses Gesetz muss so attraktiv ausgestaltet sein, dass
Soldaten und zivile Mitarbeiter bereit sind, eine verlässliche Berufsplanung zugunsten einer neuen Perspektive
bei Bedarf aufzugeben. Dieses Gesetz muss auch dazu
ermutigen, diesen Schritt zu wagen. Das ist häufig nur
dann möglich, wenn ein Weg finanziell abgesichert ist
und finanzielle Verbindlichkeiten - mag es die Ausbildung der Kinder oder die Abzahlung von Krediten sein weiterhin beherrschbar bleiben. Nach erster Prüfung des
Gesetzentwurfs gibt es gute Möglichkeiten, um diesen
Weg zu gehen. Aber es hat sich in der Debatte gezeigt,
dass wir weitere Punkte diskutieren sollten. Erster
Punkt: Der Wegfall der Hinzuverdienstgrenzen. Herr
Minister de Maizière hat ihn aufgegriffen; Frau Hoff hat
ihn dargestellt. Das ist ein wirklich wichtiger Punkt, der
vielleicht in ganz unbürokratischer Weise angegangen
werden könnte und eine gute Maßnahme sein könnte.
Zweiter Punkt: die Erhöhung der Einmalzahlung. Dritter
Punkt: die Überprüfung der Altersbänder.
Meine Damen und Herren, die Arbeit in den Streitkräften kann - anders als Sie, Herr Körper, es dargestellt
haben - nicht mit anderen Tätigkeiten im Staatsdienst
gleichgesetzt werden. Die besonderen Härten des Soldatenberufes, wie häufige Versetzungen und vor allem
Gefahren für Leib und Leben, rechtfertigen besondere
Maßnahmen und eine besondere Fürsorge. Das Bundeswehrreform-Begleitgesetz muss daher nicht nur auf diejenigen angelegt sein, die die Bundeswehr verlassen,
sondern auch auf diejenigen, die wir im Dienst halten
wollen, und vor allem auf diejenigen, die wir gewinnen
wollen.
Dieser Gesetzentwurf ist ein Meilenstein auf dem
Weg zur zukünftigen Zielstruktur der neuen Bundeswehr. Mit diesem Gesetz und den vorgeschlagenen
Überprüfungen kann es uns gelingen, eine schnelle, einsatzorientierte und sozialverträgliche Personalanpassung
zu schaffen, damit die Bundeswehr auch zukünftig ein
attraktiver Arbeitgeber ist. Dafür gehen wir jetzt in die
parlamentarische Beratung. Es wäre gut, wenn wir am
Ende eine breite parlamentarische Mehrheit dafür hätten.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9340 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Herbert
Behrens, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Feste Fehmarnbeltquerung auf den Prüfstand Ausstieg aus dem Staatsvertrag mit dem
Königreich Dänemark verhandeln
- Drucksache 17/8912 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen und Risiken ergebnisoffen bewerten Verhandlungen mit dem Königreich Dänemark über den Ausstieg aus dem Staatsvertrag über den Bau einer festen Fehmarnbeltquerung aufnehmen
- Drucksache 17/9407 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Herbert
Behrens für die Fraktion Die Linke das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Urlauber an der Ostseeküste Schleswig-Holsteins können sich auf ein neues Angebot einstellen: Statt Meeresrauschen hören sie ab 2022 donnernde Güterzüge, die an
ihnen vorbeifahren. 300 000 Übernachtungen im Lärmkorridor: So heißt dann das neue Angebot. Autofahrer
nehmen künftig nicht mehr die Fähre, sondern zahlen
70 Euro Maut und fahren durch den neu gebauten TunHerbert Behrens
nel nach Dänemark. Dieses Zukunftsangebot kostet die
Steuerzahler rund 10 Milliarden Euro.
({0})
Jetzt können wir uns noch entscheiden, ob wir das
wollen. Ich möchte das nicht; denn es gibt heute gute
Fährverbindungen für Personenzüge und Autos zwischen Deutschland und Dänemark. Die Güterzüge fahren seit 1997 über den Schienenweg entlang der JütlandRoute; er liegt weit weg von den Tourismusgebieten an
der Ostseeküste Schleswig-Holsteins.
({1})
Die Linke unterstützt also die Forderung der Gegner einer festen Fehmarnbelt-Querung. Wir brauchen dieses
Verkehrsprojekt, das teuerste Europas, nicht.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungsfraktionen, mit unserem Antrag bauen wir Ihnen im wahrsten Sinne des Wortes eine Brücke. Das Dialogforum
Feste Fehmarnbeltquerung muss so gestaltet werden,
dass es wirklich alle Fragen bearbeiten kann.
({3})
Dazu braucht es mehr Geld. 100 000 Euro reichen nicht
aus, wenn 70 000 Euro davon allein für den Personalaufwand draufgehen. Bürgerinnen und Bürger fordern echte
Beteiligung, und das ist ihr demokratisches Recht.
({4})
Wenn sich bei der Prüfung herausstellen sollte, dass
die Nachteile des Projekts Belt-Querung größer sind als
die Vorteile, dann muss mit der dänischen Regierung
über den Ausstieg verhandelt werden.
({5})
Genau das wurde im Staatsvertrag zwischen Deutschland und Dänemark beschlossen. Dort heißt es in Art. 5
Abs. 4:
Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oder
für Teile des Projekts sich deutlich anders entwickeln als angenommen und anders, als es zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages bekannt ist,
werden die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue erörtern. Dies gilt unter anderem für wesentliche
Kostensteigerungen im Zusammenhang mit den
Hinterlandanbindungen.
({6})
In Art. 22 Abs. 2 heißt es weiter:
Die finanziellen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland betreffen in jedem Fall nur die
deutschen Hinterlandanbindungen.
Dass sich die Voraussetzungen deutlich verändert haben,
das können wir doch schon heute feststellen. Wir wissen
das auch, wenn wir ehrlich gegenüber uns selbst sind.
({7})
Ursprünglich war eine Schrägkabelbrücke geplant,
heute soll es ein Absenktunnel werden.
({8})
Die Verkehrsprognosen für den Schienengüterverkehr
werden halbiert. Was kostet der Spaß? 1996 betrug die
Kostenschätzung für eine Brücke rund 2,9 Milliarden
Euro.
({9})
2011 liegen die Kosten bei rund 5,5 Milliarden Euro für
einen Tunnel.
({10})
Wenn das keine wesentlichen Kostensteigerungen sind.
({11})
- Die mautpflichtigen Autofahrer.
({12})
- Ich spreche über die wesentlichen Kostensteigerungen.
({13})
- Ich rede über die Bedingungen, wann die Vertragspartner wieder in Gespräche eintreten. Beide Seiten haben
wesentliche Kostensteigerungen zu verzeichnen. Das ist
ein Grund, in die Verhandlungen einzusteigen, um diesem Projekt ein Ende zu bereiten.
({14})
Wenn wir die Situation auf der deutschen Seite betrachten, dann stellen wir fest: Das setzt sich nahtlos fort.
Auch die Kalkulation für die Anbindung auf der deutschen Seite ist nicht mehr zu halten. Der Bundesverkehrsminister will zwar immer noch für 817 Millionen
Euro bauen, aber der Bundesrechnungshof rechnet inzwischen mit 1,7 Milliarden Euro, 231 Millionen Euro
kommen noch obendrauf, wenn Umgehungstrassen miteinbezogen werden müssen. Die Hinterlandanbindung
soll dann nicht 2018 fertig werden, sondern erst 2022;
das sagt Bahnchef Grube. Wir wissen doch, dass bei
Großprojekten die Kosten nicht sinken, wenn der Bau
später fertig wird, oder?
Jetzt haben wir noch die Chance, den Kurs zu ändern.
Wir wollen den Staatsvertrag ernst nehmen und mit der
dänischen Regierung verhandeln.
({15})
Das wollen die Bürgerinnen und Bürger auch und fordern es zu Recht ein. Wir sagen: Das Projekt feste Fehmarnbelt-Querung ist von gestern. Wir wollen nicht,
dass Milliarden in die Ostsee gekippt werden.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat Gero Storjohann für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der festen
Fehmarnbelt-Querung schaffen wir eine Direktverbindung zwischen Skandinavien und Kontinentaleuropa.
({0})
Die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen
Chancen dieses Verkehrsprojektes sind immens.
({1})
Aber leider wird diese Tatsache nicht von allen Fraktionen hier im Bundestag so gesehen.
({2})
Deswegen werden hier laufend Anträge vorgelegt. Das
ist legitim, keine Frage, das kann man immer wieder
wiederholen, aber es ist nicht besonders originell, was
hier passiert.
Mit dem geplanten 17,6 Kilometer langen Absenktunnel durch den Fehmarnbelt wächst Nordeuropa zusammen. Eines möchte ich sagen, Herr Behrens: Es ist
ein starker Wunsch der Dänen und der Schweden, dass
dieses Projekt kommt. Wir als Deutsche gehen ihnen einen Schritt entgegen und ermöglichen ihnen, innerhalb
von Europa dichter an uns heranzurücken. Das sollte
man nicht kleinreden.
({3})
Wir als CDU/CSU-Fraktion bestätigen ihnen heute
gerne wieder aufs Neue: Wir sind uneingeschränkt Partner für die feste Fehmarnbelt-Querung. Wir wollen den
deutsch-skandinavischen Ballungsraum für Wirtschaft
und Wissenschaft in der Fehmarnbelt-Region. Wir wollen die hierdurch entstehenden Arbeitsplätze für die
Menschen in Schleswig-Holstein und darüber hinaus
generieren, während der Bauphase und auch nach Inbetriebnahme des Tunnels.
({4})
Deshalb haben wir in der Großen Koalition, Herr
Hacker, den Staatsvertrag zwischen Deutschland und
Dänemark auf den Weg gebracht, unterschrieben vom
Verkehrsminister Tiefensee, SPD,
({5})
und auch angeschoben von vielen schleswig-holsteinischen Landespolitikern.
Ich nenne hier auch den Ministerpräsidenten Peter
Harry Carstensen.
({6})
Anschließend haben Bundestag und Bundesrat dem
Gesetz zum Staatsvertrag im Juni und im Juli 2009 zugestimmt. Es gab also eine breite politische Mehrheit in
Deutschland. Ich sage in Klammern: In Dänemark ist die
politische Mehrheit noch größer. Deshalb sehe ich nicht
den Ansatz einer Chance, zu Verhandlungen zu kommen, wenn ein Partner überhaupt nicht will, sondern dieses Projekt als Chance sieht.
({7})
Die Kollegen haben es Ihnen schon entgegengeschleudert: Diese Querung wird in erster Linie durch
Mauteinnahmen finanziert.
({8})
Das heißt, das Risiko liegt beim dänischen Staat und
beim Konsortium. Die Finanzierung wird von Dänemark
sichergestellt.
({9})
Wir sind der festen Überzeugung, dass das funktioniert.
Sie haben deutlich gemacht, dass Sie das nicht sind. Akzeptieren Sie, dass die politischen Mehrheiten hier nun
einmal anders sind.
Deutschland ist nur verpflichtet, die Hinterlandanbindung auf deutscher Seite sicherzustellen. Dafür verzichten wir im Gegenzug - das ist schade - auf die Mauteinnahmen. Es entsteht aber auch Infrastruktur in Schleswig-Holstein. Das heißt, es werden Schienenwege gebaut. Die Grünen, Herr von Notz, haben gesagt: Wir
möchten gerne die Strecke Neumünster-Bad Oldesloe
zweigleisig ausbauen. Das ist wunderbar. Da soll der gesamte Jütlandverkehr durchgehen. Das heißt, die Vorschläge, die Sie hier vorbringen, haben auch Belastungen in anderen Regionen zur Folge. Tun Sie nicht so, als
wenn alles schön wäre, wenn wir auf das Projekt Fehmarnbelt verzichten würden.
({10})
Die Überfahrt mit dem Zug wird nur noch sieben Minuten dauern. Es wird eine leistungsfähige Nord-SüdVerkehrsachse entstehen, auf der Waren schneller als jemals zuvor zwischen Nord- und Zentraleuropa transportiert werden können. Das wollen die Schweden und die
Dänen. Aus diesem Grunde hat auch die Europäische
Kommission die Fehmarnbelt-Querung als ein vorrangiges Projekt in die Transeuropäischen Netze mit aufgenommen. Auch die Menschen vor Ort werden davon
profitieren. Es werden zusätzliche Arbeitsplätze entstehen, und es wird eine vernetzte Region Malmö-Kopenhagen-Hamburg entstehen. In diesem Gebiet wird sich
über die Jahrzehnte hinweg etwas Schönes entwickeln.
Dazu sollte man auch ein bisschen Hoffnung und Fantasie haben.
({11})
Es ist eine fantastische Vorstellung, meine Damen
und Herren, dass ich zukünftig ganz schnell von Hamburg aus in Kopenhagen sein kann. Aus Schleswig-Holstein komme ich schneller nach Kopenhagen als nach
Hannover. Das ist schade für Hannover. Ich meine aber,
dass wir die Dimensionen betrachten müssen, die wir
Anfang 2021 haben werden. Wir werden diese Strecke
dann in drei Stunden schaffen.
Wir haben auch mit den Grünen in Dänemark gesprochen. Das alles wissen Sie. Die Grünen in Dänemark sagen: Natürlich gibt es eine CO2-Ersparnis, wenn wir dieses Projekt verwirklichen.
({12})
Meine Damen und Herren, mit dem Baubeginn ist im
Sommer 2015 zu rechnen. Darauf freuen wir uns schon.
Wir hätten gerne ein bisschen eher begonnen. Auf der
anderen Seite haben wir dadurch die nötige Luft, für die
Fertigstellung unserer Hinterlandanbindung im Land
Schleswig-Holstein zu sorgen. Wir wissen: Das Geld ist
knapp. Aber wir haben die feste Zuversicht, dass uns das
gelingen wird. Linken und Grünen wird es nicht gelingen, die feste Fehmarnbelt-Querung zu verhindern. Es
gibt viele überzeugende Argumente für die Querung.
Diese guten Argumente werden wir Ihnen im Ausschuss
gerne noch einmal vortragen.
2021 ist Eröffnung. Man kann jetzt schon anfangen,
sich auf diese deutsch-dänische Einweihungsveranstaltung zu freuen.
({13})
Das Wort hat nun Hans-Joachim Hacker für die SPDFraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir führen zu so später Stunde eine Diskussion, die wir eigentlich vor einem halben Jahr gar
nicht mehr erwartet hätten; denn wir meinten, wir hätten
mit der Entscheidung am 18. Juni 2009 alles Maßgebliche entschieden. Scheinbar gibt es aber noch Diskussionsbedarf.
Meine Damen und Herren, bei den Juristen gibt es einen alten Grundsatz, der lautet: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. In abgewandelter Form
könnte man diesen Grundsatz auch bei diesen beiden
Anträgen anwenden. Die zentrale Forderung in beiden
Anträgen betrifft die Nachverhandlungen zum Staatsvertrag zwischen dem Königreich Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland über eine feste FehmarnbeltQuerung, nicht über eine Brücke und nicht über einen
Tunnel, sondern über ein Querungsbauwerk. Darüber hat
der Deutsche Bundestag, wie gesagt, am 18. Juni 2009
eine Entscheidung getroffen. Er hat diesen völkerrechtlichen Vertrag ratifiziert. In beiden Anträgen wird gefordert, über einen Ausstieg aus diesem Staatsvertrag mit
dem Königreich Dänemark zu verhandeln. Dazu gehören aber zwei Partner und nicht nur einer. Der zweite
Partner sieht aber gegenwärtig und, wie ich vermute,
auch künftig keinen Anlass. Deswegen sind die beiden
Anträge leider
({0})
für die Luft geschrieben.
({1})
Herr Behrens, seit Mitte der 90er-Jahre hat jede deutsche Bundesregierung mit Dänemark über dieses Vertragswerk verhandelt. Wir haben im deutschen Parlament, im Deutschen Bundestag, insbesondere in den
Jahren 2008 und 2009 eine sehr intensive Diskussion darüber geführt. Sie verlief nicht konfliktfrei, auch in der
SPD-Bundestagsfraktion nicht. Wir haben schon damals
über all die Fragen diskutiert, die Sie heute wieder aufwerfen.
Wie sieht die Sach- und Rechtslage nun tatsächlich
aus? Was steht im Staatsvertrag zu Änderungen der geschlossenen Vereinbarung? Herr Behrens, Sie haben
Art. 22 Abs. 2 des Vertrages zitiert. In Art. 5 Abs. 4 steht
eine Regelung zu den Hinterlandanbindungen. Der Text
aus Art. 5 Abs. 4 findet sich im Übrigen in Art. 22 Abs. 2
des Vertrages wieder. Der zentrale Kern dieser Vereinbarung lautet:
Die Vertragsstaaten unternehmen alles in ihrer
Macht Stehende, um das Projekt gemäß den Annahmen zu verwirklichen.
({2})
Sollten die Voraussetzungen für das Projekt oder
für Teile des Projekts sich deutlich anders entwickeln als angenommen und anders, als es zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags bekannt ist,
werden die Vertragsstaaten die Lage aufs Neue erörtern.
Dafür gibt es heute aus unserer Sicht keinen Bedarf.
Sie haben gesagt, dass es sich etwas verzögert hat und
Kostensteigerungen eingetreten sind.
({3})
Ja, selbstverständlich. Herr Behrens, jetzt einmal allen
Ernstes: Haben Sie schon einmal ein Großprojekt in
Deutschland, in Europa, in der Welt gesehen, bei dem es
bei den kalkulierten Ursprungskosten geblieben ist?
Schauen Sie doch einmal zum Berliner Hauptbahnhof.
Der Berliner Hauptbahnhof ist noch nicht ganz fertig. Sicherlich müssen wir darüber diskutieren, ob man bei
Großprojekten einen Kostenindikator einrechnen sollte.
Das war bisher aber nie üblich.
({4})
Wir sind immer von den Ursprungskosten ausgegangen.
Deswegen sind die Argumente, die Sie hier vortragen,
nicht überzeugend.
Ich sage es noch einmal: Die Grundlagen ergeben sich
aus Art. 22 Abs. 1 und 2 des Vertrages. Wir haben hierzu
mit dem Partner Dänemark verbindliche Absprachen getroffen. Wir können die Frage aufwerfen, ob die drei Varianten Änderung, Ausstieg oder Ergänzung verfolgt
werden können. Zum Teil wird der Eindruck erweckt
- über diese Frage habe ich in dieser Woche mit Menschen in Schleswig-Holstein diskutiert -, dass Deutschland den Ausstieg erklären könnte. Das geht nicht.
Streuen Sie den Leuten keinen Sand in die Augen. Das
geht nicht. Es sind die Konditionen zu erfüllen, die im
Vertrag stehen - ohne Wenn und Aber.
({5})
Herr Behrens, ich muss Ihnen vorhalten, dass Sie im
Grunde genommen auf der Grundlage eines Meinungsbildes diskutieren, das wir vor ungefähr zehn Jahren hatten. Vor zehn Jahren waren diese Fragestellungen mehr
als berechtigt. 2008 und 2009 sind wir diese Fragen im
Detail durchgegangen, und zwar - das habe ich vorhin
schon gesagt - in einem streitigen Prozess. Mir kommt
es so vor, als ob Ihre Fraktion nicht mit Großprojekten
zurecht käme; denn Sie sind ja auch gegen den Ausbau
der A 14 zwischen Schwerin und Magdeburg,
({6})
obwohl dort ein enormer Bedarf besteht. Das wäre gut
für die Häfen in Schleswig-Holstein und MecklenburgVorpommern, für die Entwicklung der drei betroffenen
Bundesländer. Das muss man hier einmal ansprechen.
({7})
Was richtig ist, muss hier auch einmal gesagt werden
können.
({8})
Was kennzeichnet die gegenwärtige Phase? Natürlich
haben wir Verzögerungen. Die Verzögerungen sind kürzlich in einer Stellungnahme der Firma, die mit den Planungen beauftragt wurde, dokumentiert worden. Jeder
kann das ausführlich in der Presseerklärung vom 18. April 2012 nachlesen. Darin ist das dokumentiert. Dort sind
im Übrigen auch die weiteren Schritte im Planungsverfahren dargestellt. Ich will das hier nicht vorlesen; meine
Redezeit gibt das auch nicht her. Ich will nur darauf verweisen, dass die Ursachen für die Verzögerung im Wesentlichen darauf zurückzuführen sind, dass deutsches
und dänisches Planungsrecht nicht kompatibel, jedenfalls nicht identisch sind, und wir - wie bei anderen
Großvorhaben auch - EU-Recht zu beachten haben.
Dies hat viele der Verzögerungen verursacht.
Im Zusammenhang mit den Verzögerungen müssen
auch die kontroversen Diskussionen beachtet werden,
die wir im Jahr 2000 geführt haben. Ich erinnere daran,
dass wir über die Verkehrssicherheit und über die Auswirkungen auf Flora und Fauna - Stichwort Schweinswale - diskutiert haben. Wir haben, auch im Hinblick
auf die Windeinflüsse, darüber diskutiert, welche Variante günstiger ist, ein Tunnel oder eine Brücke. Wir haben nicht zuletzt darüber diskutiert, ob das Verkehrsaufkommen den Bau des Querungsbauwerks rechtfertigt.
All diese Fragen bis hin zu der Problematik des Wasseraustauschs zwischen Nord- und Ostsee konnten wir damals nicht beantworten. Wir waren uns einig, diese Fragen in einem Untersuchungsprozess, der zwei, drei Jahre
dauern sollte, zu klären. Die damaligen Fragen werden
heute untersucht, und die Planungsgesellschaft wird im
Planfeststellungsverfahren und im Umweltverträglichkeitsverfahren weitere Fragen zu beantworten haben.
Ich komme noch auf zwei Punkte zu sprechen, die mir
sehr am Herzen liegen. Der erste Punkt, der mir wichtig
ist, betrifft die Frage, wie der Dialog vor Ort weitergeführt wird. Vor dem Hintergrund der Diskussion über
Stuttgart 21 und andere Großvorhaben haben wir, denke
ich, einen neuen Erkenntnisstand und eine neue Bewertung, dass Großvorhaben heute anders begleitet werden
müssen als vor fünf oder zehn Jahren.
({9})
Das ist im Übrigen auch die Auffassung der SPD-Bundestagsfraktion. Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet,
und wir werden über diese hier im Parlament in Zukunft
weiter diskutieren. Eine Debatte dazu haben wir schon
geführt.
Die Bundesregierung ist aufgefordert, den Dialog, der
dort begonnen hat und meines Erachtens die neue Qualität nach Stuttgart 21 nicht widerspiegelt, anders zu gestalten. Herr Mücke, das müssen Sie ernsthaft prüfen.
Ich bin der Meinung, dass es nötig ist, dass Sie diese
Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern aus
Schleswig-Holstein, insbesondere aus Ostholstein und
von der Insel Fehmarn, anders führen als zu Beginn des
Projekts. Dort besteht Unzufriedenheit. Deswegen lautet
mein Appell an die Bundesregierung: Wenn Sie den Beschluss des Deutschen Bundestages zum Bau der festen
Fehmarnbelt-Querung ernstnehmen, der hier mehrheitlich getroffen worden ist, dann müssen Sie diesen in
Schleswig-Holstein umsetzen.
Ein zweiter Punkt ist mir wichtig. Herr Präsident, ich
hoffe, ich kann diesen noch vortragen. Dieser transparente Prozess muss auch die Verpflichtungen umfassen,
die wir übernommen und bis zur Inbetriebnahme der
Querung bzw. bis zu sieben Jahren nach Inbetriebnahme
zu erfüllen haben. Diese Problematik wird meines Erachtens nicht ausreichend beleuchtet. Herr Staatssekretär
Mücke, Sie sind der hier anwesende Vertreter des Bundesverkehrsministeriums.
({10})
- Sie und Herr Ferlemann. - Sie müssen diesen Prozess
inhaltlich gestalten. Sie müssen, wie ich finde, mit den
Kommunen und den Bürgern vor Ort nochmals über den
Bedarf, der sich aus Transporten ergibt, diskutieren.
Das ändert nichts daran, dass der Staatsvertrag rechtsgültig ist, dass er beständig ist, dass wir gegenwärtig
keine Grundlage sehen, mit Dänemark nachzuverhandeln oder auf eine Aufhebung des Staatsvertrages zu
drängen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident, für das Wohlwollen
und wünsche Ihnen allen, meine Damen und Herren, einen schönen Abend.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Christel Happach-Kasan
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
danke meinem Herrn Vorredner dafür, dass er die juristischen Sachverhalte noch einmal klargestellt und deutlich
gemacht hat, dass es heute nicht um das Ob geht. Die
feste Fehmarnbelt-Querung wird gebaut. Das ist gut für
die gesamte Region; das ist für Schleswig-Holstein und
auch für Dänemark gut. Wir wollen sie.
({0})
Voraussetzung für Wohlstand und wirtschaftliches
Wachstum ist eine gute Infrastruktur. Zu einer guten Infrastruktur gehört zum einen die Verkehrsinfrastruktur
- da sind wir uns einig; darüber sprechen wir heute -,
zum anderen gehören dazu aber auch die Energieinfrastruktur und die Kommunikationsinfrastruktur. In allen
drei Bereichen haben wir in Schleswig-Holstein noch einiges zu tun. Erst in dieser Legislaturperiode hat Schleswig-Holstein wieder positive Wachstumsimpulse erfahren. Die christlich-liberale Regierung mit Peter Harry
Carstensen und Dr. Heiner Garg hat zusammen mit
Wolfgang Kubicki eine ausgesprochen positive Arbeit
geleistet.
({1})
Diese gute Arbeit wollen wir in Schleswig-Holstein in
der nächsten Legislaturperiode fortsetzen.
({2})
Es ist wohl nicht ganz verwunderlich - auch der Kollege Hacker hat das gesagt -, dass wir heute über dieses
Thema diskutieren. Es ist ja Wahlkampf. Bald finden
Wahlen statt,
({3})
und deshalb müssen die Grünen und die Linken noch
einmal deutlich machen, dass sie gegen Infrastrukturprojekte sind. Koste es, was es wolle, und schade es dem
Land, so viel es wolle: Auf jeden Fall sind Sie zunächst
einmal dagegen. Das machen Sie heute deutlich.
({4})
Ich glaube, die wenigsten hier erinnern sich noch an
das Jahr 1990. 1990 war ein Jahr, in dem Schleswig-Holstein in den Länderfinanzausgleich eingezahlt hat. Könnt
ihr euch das noch vorstellen?
({5})
Damals hat Schleswig-Holstein tatsächlich in den Länderfinanzausgleich eingezahlt. Danach gab es ein paar
rot-grüne Regierungsperioden, und es war damit vorbei.
({6})
Das müsst ihr sehen: Im Moment steht Schleswig-Holstein bei einem deutschlandweiten Vergleich an drittletzter Stelle. Deswegen ist es gerade für uns in SchleswigHolstein wichtig, dass wir sparen; das haben wir gemacht. Natürlich müssen wir aber auch die Einnahmeseite verbessern. Das bedeutet, dass wir insbesondere in
Verkehrsinfrastruktur investieren müssen.
({7})
Seit Mitte der 90er-Jahre wird in Schleswig-Holstein
über eine feste Fehmarnbelt-Querung diskutiert. Die Regierung Simonis/Steenblock - das ist schon ein bisschen
länger her - hat dieses Vorhaben positiv begleitet.
({8})
Auch Minister Steenblock hat das im Kabinett unterstrichen.
({9})
Ich möchte darauf hinweisen: Große Verkehrsprojekte
brauchen eine sorgfältige Planung. Eine sorgfältige Planung braucht Zeit.
({10})
Mein Vorredner hat deutlich gemacht, dass Deutschland
am 3. September 2008 einen Staatsvertrag mit Dänemark unterschrieben hat.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz?
({0})
Aber gerne doch.
Das stimmt; ich spreche gleich. Deswegen tut es mir
auch leid, dass ich mich zu Wort melden musste. Ich
danke Ihnen für die Möglichkeit, Sie kurz etwas zu fragen. Ich möchte Sie nämlich um ein Zitat des Kollegen
Steenblock bitten - er ist leider nicht hier und kann sich
nicht verteidigen -, das Ihre Aussage, dass er dieses Irrsinnsprojekt unterstützt hat, belegt. Können Sie ein entsprechendes Zitat anführen? Sie können es mir meinetwegen auch gerne morgen nachreichen. Da es ein
solches Zitat aber nicht gibt, weise ich Ihre Aussage aufs
Schärfste zurück.
Werter Herr Kollege, darüber ist im Bundestag bereits
diskutiert worden. Sie werden mir sicherlich nachsehen,
dass ich die Protokolle der Kabinettssitzungen der Regierung Simonis/Steenblock aus der Wahlperiode 1996
bis 2000 nicht auswendig kenne
({0})
und es Ihnen hier auch nicht vorlegen kann.
({1})
Sie brauchen nur die Plenarprotokolle des Deutschen
Bundestages und die Diskussionsbeiträge von Herrn
Rainder Steenblock nachzulesen, um festzustellen, dass
- ja - er in der damaligen Koalitionsregierung zugestimmt hat
({2})
und trotzdem hinterher dagegen demonstriert hat, wie es
auch im Falle der A 20 seine Praxis gewesen ist.
({3})
- Das ist so.
Jetzt fahre ich mit meiner Rede fort. Die Zeit, die man
zwischen der Verabschiedung eines Vertrages und der
Realisierung eines Projektes braucht, kann man nutzen.
Wir treten dafür ein, sie zum einen zu nutzen, um das
Projekt zu optimieren, und sie zum anderen zu nutzen,
um im Dialogforum mit den Menschen vor Ort darüber
zu sprechen. Ich finde es gut, dass die Landesregierung
ein Dialogforum mit Herrn Dr. Christoph Jessen als Leiter eingerichtet hat. Das Dialogforum ist dafür gedacht,
von den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort Anregungen
zu bekommen, wie man ein solches gutes Projekt noch
weiter verbessern kann.
Es gibt gute Gründe für dieses Projekt. Der wichtigste
Grund ist, dass die Metropolregion Hamburg mit der Region Kopenhagen/Malmö zusammenwächst
({4})
und wir damit für unsere Region einen enormen Wirtschaftsimpuls setzen werden. An dieser Stelle darf ich an
den Kollegen aus Schleswig-Holstein erinnern. Wir in
Schleswig-Holstein leben von der Kraft Hamburgs.
Wenn wir Hamburg nicht stärken, dann hat SchleswigHolstein dadurch immense Nachteile. Nur mit einer attraktiven Metropolregion Hamburg kann das Land
Schleswig-Holstein existieren. Deswegen müssen wir alles tun, um Hamburg weiter zu stärken.
({5})
Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass Dänemark
mit dem Bau von Brücken zwischen seinen Inseln enorm
gute Erfahrungen gemacht hat. Es ist richtig, dass sich
die Verkehrsleistung erhöht hat. Das Wirtschaftswachstum in Dänemark kann sich aber insgesamt sehen lassen.
Daneben verschafft dieses Projekt der Region eine
enorm hohe und positive Aufmerksamkeit. Es ist spannend, und ich verspreche mir auch für die Medizinhauptstadt im Norden, Lübeck, eine Steigerung seiner Attraktivität.
Ich finde es schade, dass wir dieses Thema nicht gemeinsam positiv begleiten und dass einige die Gelegenheit nutzen wollen, sich von der Fahne zu stehlen. Wir
müssen ganz klar machen: Wir brauchen ein solches
Projekt, um Schleswig-Holstein und die Metropolregion
Hamburg zu stärken.
Lieber Kollege von Notz, ich will das eine einmal
festhalten: Kollege Steenblock hat damals im Bundestag
gesagt, er lehne es ab, weil dort eine Brücke gebaut
werde. Sie wissen: Inzwischen ist es ein abgesenkter
Tunnel. Das heißt, das Argument zieht nicht mehr. Ihr
jetziger Antrag baut auf den Kosten auf. Wir alle miteinander wissen: Die Befürworter sehen die Kosten etwas niedriger, und die Gegner führen immer etwas höhere Kosten an.
({6})
Frau Kollegin.
Ich darf einfach noch einmal darauf hinweisen, dass
wir beispielsweise eine Menge an Verkehrsprojekten mit
einer enorm positiven Kosten-Nutzen-Bilanz durchführen. Ich nenne beispielsweise Geesthacht bei uns. Was
machen die Grünen? Sie sind dagegen. Ganz einfach!
Sie sind immer dagegen.
({0})
Von daher kommen wir mit Ihrer Haltung, wie ich
meine, nicht weiter.
Die Bürgerinnen und Bürger haben begriffen, dass sie
diese Projekte brauchen. Sie arbeiten positiv im Dialogforum mit. Ich glaube, dass wir für Schleswig-Holstein,
für die Regionen und für die Menschen vor Ort mit diesem Projekt eine positive wirtschaftliche Entwicklung
erreichen werden.
({1})
Frau Kollegin, wollen Sie Ihre Redezeit noch verlängern? Es gibt den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen.
Ja, gerne.
Bitte schön.
({0})
Frau Happach-Kasan, da Sie gerade eben davon gesprochen haben, dass sich welche vom Acker machen
wollen, und auf die 90er-Jahre eingegangen sind, will
ich Sie darauf ansprechen und einmal schauen, ob wir
uns gemeinsam daran erinnern, dass es bei diesem Projekt in der Tat eine sehr lange Planungsphase und auch
Dialogphase mit Dänemark gab.
Dieses Projekt in Schleswig-Holstein war bis 2006
- dies hat im Übrigen sowohl in Schleswig-Holstein als
auch in Berlin in allen Koalitionsverträgen gestanden als ein PPP-Projekt geplant. Für alle die, die nicht wissen, was das ist: Es sollte eine faire Risiko- und Kostenaufteilung zwischen der Wirtschaft und der öffentlichen
Hand geben. So war das Gesamtprojekt - sowohl die
Querung als auch die Hinterlandanbindung - geplant.
Vom Acker gemacht bei diesem Projekt hat sich 2004
die Bahn, die dieses Projekt jetzt nur als Auftragnehmer
für das Verkehrsministerium durchführt, es aber nicht
aus ihrem Budget zu finanzieren hat.
({0})
Hier kann man ja die berechtigte Frage stellen: Warum
hat sich die Bahn hier eigentlich herausgestohlen und
keine Priorität gesetzt?
2006 hat sich dann die Wirtschaft bei diesem Projekt
vom Acker gemacht. Viele Kollegen waren auf der Investorenkonferenz dabei. Ich weiß gar nicht, ob Sie dabei waren; ich war dort. Ich kann mich gut daran erinnern, dass sich Hochtief, Bilfinger Berger und große
Banken, die eigentlich mit vollem Risiko in die Finanzierung einsteigen wollten, komplett daraus zurückgezogen haben, und zwar deshalb, weil sie rechnen konnten.
({1})
- Ich muss keine Frage stellen.
({2})
Ein Blick in die Geschäftsordnung hilft manchmal, Frau
Kollegin.
({3})
Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, zu präzisieren,
wen Sie denn nun eigentlich damit gemeint haben, dass
er sich hier vom Acker macht. Haben Sie vielleicht die
Bahn gemeint oder vielleicht auch die Wirtschaft, die
zwar viele Forderungen stellt, sich aber nicht mit einem
einzigen eigenen Cent an diesem Projekt beteiligt?
({4})
Liebe Kollegin Hagedorn, ich bedanke mich für Ihren
zeitgeschichtlichen Exkurs in die Anfangsjahre dieses
Jahrtausends.
({0})
Das war sehr spannend, aber ich glaube, wir müssen irgendwann auch Realitäten anerkennen.
Realität ist, dass Herr Minister Tiefensee - in Klammern: SPD - am 3. September 2008 den Staatsvertrag
mit Dänemark unterschrieben hat, dass wir im Bundestag diesen Vertrag ratifiziert haben
({1})
und dass wir deswegen eine neue Geschäftsgrundlage
haben. Auf dieser Geschäftsgrundlage werden wir dieses
Projekt realisieren.
Da Sie gerade noch einmal auf die alten Geschichten
verwiesen haben, sollten wir, glaube ich, einfach einmal
hervorheben, warum wir damit angefangen haben, dieses
Projekt zu diskutieren. Weil wir der Meinung sind, dass
es richtig ist, die Metropolregion Hamburg an die Region Kopenhagen/Malmö anzubinden, weil wir uns davon erwarten, dass die Entwicklungsachse A 1 damit zu
einer größeren Entwicklung innerhalb der Region beitra20766
gen kann, weil wir die Vorteile für den Kreis Stormarn,
den Medizinstandort Lübeck, aber auch für den Kreis
Ostholstein sehen.
Ich war sehr beglückt, als ich auf einer großen
Podiumsdiskussion im Kreis Ostholstein vor mehr als
500 Leuten erfahren habe, dass die Menschen in der Region für dieses Projekt sind und sehr deutlich gesagt haben: Wir brauchen große Infrastrukturprojekte. - Das
kann man in Schleswig-Holstein gut verstehen. Wo wäre
Schleswig-Holstein, wenn wir nicht die A 1 hätten,
wenn wir nicht die A 7 hätten, wenn wir nicht den Nordostseekanal hätten, wenn wir nicht den Elbe-Lübeck-Kanal hätten? Wo wäre Schleswig-Holstein, wenn es diese
Projekte nicht gäbe, wenn es nicht zur Elektrifizierung
der Bahn gekommen wäre, für die sich beispielsweise
auch Heide Simonis eingesetzt hat? Wo wäre unser Bundesland dann? Dann könnten wir nur noch in der Furche
kratzen. Dann wären wir absolut weg vom Zentrum.
({2})
Deswegen sollten wir hier Fantasie entwickeln und
unsere gesamte Kraft dafür verwenden, dass wir nicht
mehr über das Ob, sondern über das Wie diskutieren,
nämlich wie wir für unsere Region, für Schleswig-Holstein, für den Kreis Stormarn,
({3})
für die Stadt Lübeck, für den Kreis Ostholstein eine optimale Anbindung erreichen, damit wir auch die Schienenanbindung optimal machen, damit wir einen optimalen Gewinn aus diesem Projekt erzielen. Ich freue mich,
dass Sie offensichtlich der Meinung sind, dass Sie dieses
Mal - vielleicht mit der SPD - dafür stimmen und diesem Projekt positiv gegenüberstehen. Ich freue mich auf
diese Entscheidung von Ihnen.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat nun Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Nun, geschätzte Kollegin Happach-Kasan, dass Sie jetzt
die ollen Kamellen von der Dagegen-Partei rausholen,
ist wirklich eine traurige Nummer. Dass Sie genauso wie
der Kollege Hacker dieses Dialogforum, bei dem eben
nicht die Fakten auf den Tisch gelegt werden und bei
dem eben nicht ergebnisoffen diskutiert wird, als Positivbeispiel anführen, ist geradezu verrückt. Sie manifestieren damit, dass Sie aus Stuttgart 21, der Startbahn in
Frankfurt, der dritten Landebahn am Flughafen München und den vielen anderen Projekten nichts gelernt haben. Das ist sehr traurig.
({0})
Vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages 2008 gab
es eine sehr intensive Diskussion im Verkehrsausschuss
und auch hier im Plenum. In einer Anhörung wurde explizit bestätigt, was die Kritiker des Projekts schon ganz
lange befürchtet haben, dass nämlich der verkehrspolitische Nutzen dieser Querung, ob nun Tunnel oder Brücke, hart gegen null tendiert. Verschiedene Studien kommen zu einem Kosten-Nutzen-Verhältnis von 1 : 0,65.
Während der erwähnten Anhörung wiesen die Sachverständigen, nicht die Grünen, auf zahlreiche weitere
Risiken hin. Das Baugebiet liegt in einem ökologisch
vielfach geschützten Gebiet, mitten in einer der mit
66 000 Schiffsbewegungen meistbefahrenen Wasserstraßen der Welt.
({1})
Hinzu kommt, dass es eine hervorragende bestehende
Fährverbindung mit einer hohen Taktung gibt und dass
viele Urlauber diese Fährfahrt als attraktiven Ferienbeginn nicht missen wollen - glauben Sie es oder nicht.
({2})
Ihre ganze Überheblichkeit, wie Sie da sitzen, Herr
Kollege Storjohann, zeigt, dass Sie viele dieser Argumente und viele andere Argumente bei der Entscheidung
hier, vor allen Dingen zum Begleitgesetz des Staatsvertrages, einfach unter den Tisch haben fallen lassen.
Dann kommt immer das Argument: Wir müssen die
Brücke oder den Tunnel nicht zahlen. Wir zahlen nur die
Hinterlandanbindung. - Das klingt harmlos, ist aber
haushaltspolitisch katastrophal; denn diese Anbindung
wird so richtig teuer. Ich sage allen schleswig-holsteinischen Kollegen, die ich hier sehe: Der nächste Doppelhaushalt in Schleswig-Holstein wird uns die Tränen in
die Augen treiben. Es wird auf jeden Euro, der hier verbaut wird, ankommen; das sage ich Ihnen.
Nicht von den Grünen, sondern in der Stellungnahme
des Bundesrechnungshofs - schön, dass Sie zu so später
Stunde zu uns finden, Herr Kollege Döring - werden die
Kosten allein für die Schienenhinterlandanbindung auf
1,7 Milliarden Euro beziffert.
Herr Kollege von Notz, die Frau Kollegin HappachKasan möchte noch einmal ihre Redezeit und auch Ihre
durch eine Zwischenbemerkung bzw. Zwischenfrage
verlängern.
Ich bitte darum. Aber die Uhr muss schon vor zehn
Sekunden angehalten worden sein.
Herr Präsident! Herr Kollege von Notz, ich möchte in
keiner Weise meine Redezeit verlängern, sondern nur
auf eines hinweisen und fragen, ob Ihnen das bekannt ist.
Die schleswig-holsteinische Landesregierung hat sich
mit Kabinettsbeschluss vom 14. Dezember 1999 für die
Realisierung einer festen Fehmarnbelt-Querung ausgesprochen. Damals habt ihr mitregiert. Dem ist auch ein
Kabinettsbeschluss gefolgt.
({0})
Danke schön.
({1})
Ich sage Ihnen: Es gibt keine Erklärung eines einzigen Grünen für diese Querung. Wir haben immer dagegen gekämpft.
({0})
Wir haben immer dagegen gestritten. Sonst wären wir
für Sie auch nicht die Dagegen-Partei. Bei diesem
Thema waren wir im Gegensatz zu Ihnen immer glasklar
aufgestellt.
({1})
Der Rechnungshof weist explizit darauf hin, dass
zahlreiche weitere Kosten für den Straßenbau, für Alternativstraßen, Lärmschutzmaßnahmen, den Ausbau des
Knotenpunktes Hamburg usw. usf. noch nicht berücksichtigt sind. Das stärkste Stück - das demaskiert Ihre
ganze Doppelzüngigkeit beim Schönrechnen der Zahlen ist, dass Sie erst vor zwei Monaten erkannt haben, dass
Fehmarn eine Insel ist.
({2})
Denn es gab immer Hinweise, dass der Verkehr, der auf
der Insel anlandet, auch wieder herunterkommen muss.
Ihnen ist vor zwei Monaten aufgefallen: Das geht gar
nicht mit der Fehmarnsund-Brücke; wir brauchen eine
neue Querung.
Jetzt kommt der Vorschlag, für 300 Millionen Euro
eine zweite Querung zu bauen. Das demaskiert Ihre
ganze unsolide Rechentrickserei.
({3})
Inzwischen sind die Kosten von 840 Millionen Euro
bis heute auf sage und schreibe 2,5 Milliarden Euro gestiegen. Wer so trickst und versucht, die Menschen hinter die Fichte zu führen, der muss sich nicht wundern,
dass die Skepsis und Ablehnung gegenüber diesem Projekt heute größer sind denn je.
({4})
Unterm Strich bleibt, dass Sie mindestens 2,5 Milliarden
Euro im Fehmarnbelt vergraben wollen, für eine Strecke,
die mit unter 10 000 Fahrzeugen täglich nicht einmal
den Bau einer Umgehungsstraße rechtfertigen würde.
Auch das von der Deutschen Bahn aktuell prognostizierte Bahnverkehrsaufkommen ist nicht imstande, die
Realisierung in irgendeiner Form zu rechtfertigen. Die
Bahn hat ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Staatsvertrages plötzlich ihre Erwartungen der täglichen Züge
von 210 auf 96 gesenkt.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Das ist alles hanebüchen.
Wir als Grüne können die Entscheidung für den Bau
nicht parlamentarisch zurückholen; das ist völlig richtig.
Den ungedeckten Scheck haben Sie unterschrieben.
({0})
Wir können nur an die Vernunft der Bundesregierung appellieren.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Was früher
schon eine haushaltspolitische Geisterfahrt war -
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit bereits um
33 Prozent überschritten. Das ist ein bisschen viel.
({0})
Nehmen Sie die Vertragsverhandlungen auf, und beenden Sie das Projekt!
Herzlichen Dank.
({0})
Zum Schluss dieser heftigen Debatte erteile ich Kollegen Ingo Gädechens von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schön, dass
auch die Grünen jetzt wissen, dass Fehmarn eine Insel
ist.
({0})
Ich lebe seit fast 30 Jahren auf Fehmarn, habe als echter
Ostholsteiner dort tiefe Wurzeln geschlagen und mich
sehr früh für eine positive Entwicklung der Insel eingesetzt.
Bereits im Jahr 1988 wurde ich stolzes bürgerliches
Mitglied, und seit 1990 war ich bis zum Einzug in den
Deutschen Bundestag Stadtvertreter auf der Insel Fehmarn. In all den vielen Jahren war das Thema feste Fehmarnbelt-Querung Gegenstand vieler Diskussionen.
Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen sogar als letzter
Redner einen breiten historischen Abriss über die Gesamtentwicklung, die unterschiedlichsten Diskussionen
vor Ort bis hin zur Schließung des Staatsvertrages geben. Leider reicht die vorgegebene Redezeit nicht aus.
So möchte, so kann ich nur einige Punkte ansprechen,
die mir in dieser Debatte noch wichtig erscheinen.
Der wiederkehrende Antrag der Linken und der nachgereichte Antrag der Grünen lassen erkennen - Christel
Happach-Kasan erwähnte es schon -, dass in SchleswigHolstein erneut Landtagswahlkampf herrscht und man
wieder und wieder versucht, mit einem Thema zu punkten, ohne anzuerkennen, dass sich die Mehrzahl der
Menschen, die Mehrzahl der Mandats- und Entscheidungsträger längst auf den Weg gemacht haben, um sich
auf die feste Fehmarnbelt-Querung einzustellen.
({1})
Wer ehrliche Politik macht, sagt den Menschen, dass es
nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie
geht.
({2})
Alles andere ist Augenwischerei. Es ist einfach naiv, zu
glauben, dass es nach knapp drei Jahren, dass es nach der
Beschlussfassung, dem Abschluss und der Ratifizierung
des Staatsvertrages mit dem Königreich Dänemark Verhandlungen über einen Ausstieg geben könnte. Es ist in
höchstem Maße unredlich, dass die Linken „Ausstieg
jetzt“ in Schleswig-Holstein plakatieren, Ängste bei den
Menschen schüren und Horrorszenarien verbreiten.
({3})
In den letzten drei Jahren hat Femern A/S, das dänische Baukonsortium, in vorbildlicher Weise und frühzeitig für Transparenz und Offenheit gesorgt. Dänemark hat
erhebliche Anstrengungen unternommen und bereits Investitionen in siebenstelliger Größenordnung vorgenommen, um das Projekt zu analysieren, zu planen, Umweltverträglichkeiten zu prüfen und die Finanzierung sicherzustellen. Transparenz und Offenheit wurden dem Konsortium sogar von den Gegnern bescheinigt. Davon können wir in Deutschland lernen, und wir haben bereits daraus gelernt. Ja, es stimmt: Auf deutscher Seite müssen
noch viele Hausaufgaben erledigt werden, gerade mit
Blick auf das Thema Hinterlandanbindung. Gerade da
sehe ich als direkt gewählter Abgeordneter eine Hauptaufgabe.
Ich war seinerzeit sehr verwundert, ja sogar enttäuscht, dass der damalige SPD-Bundesverkehrsminister
Tiefensee vor Unterzeichnung des Staatsvertrages sich
nicht ein einzige Mal vor Ort hat blicken lassen.
({4})
Ich war enttäuscht, dass ein SPD-geführtes Bundesministerium nichts von frühzeitiger Bürgerbeteiligung
wissen wollte. Erst nach der letzten Bundestagswahl und
dem Wechsel im Verkehrsministerium zu Minister
Ramsauer und dem Parlamentarischen Staatssekretär
Ferlemann hat sich das Verfahren deutlich verbessert.
({5})
Während die Opposition über Bürgerbeteiligung wortgewaltig lamentiert, hat die christlich-liberale Koalition für
eine bessere Bürgerbeteiligung gesorgt.
({6})
Die CDU hat auf allen Ebenen die Verfahren eingeleitet, die für die Menschen für Ort bedeutend sind. Die
ostholsteinische CDU-Kreistagsfraktion hat eine wichtige Betroffenheitsanalyse in Auftrag gegeben.
({7})
Nach den von mir initiierten Gesprächen im Ministerium gab es den Impuls für ein vorgeschaltetes Raumordnungsverfahren, das die CDU-geführte Landesregierung beschlossen hat. Von euch, meine lieben Kollegen
von der SPD, kam gar nichts. Darüber hinaus wurde ein
Dialogforum eingerichtet, das vom ehemaligen deutschen Botschafter Dr. Jessen geleitet wird. Aufgrund unserer Initiative ist Bundesminister Peter Ramsauer nach
Ostholstein und auf die Insel Fehmarn gekommen und
hat nicht nur im Fahrstand einer Lokomotive den Großteil der Bahnstrecke abgefahren,
({8})
sondern hat sich in einer Podiumsdiskussion auch den
Fragen, Anregungen, der Kritik und den Ängsten der
Menschen gestellt. Ja, ja, eure Versäumnisse regen
euch jetzt im Nachhinein auf. Ich kann das verstehen,
aber diese Versäumnisse kann man nicht einfach wegwischen.
Es ist schon bemerkenswert, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, dass gerade diejenigen am
lautesten aufschreien und am schärfsten Kritik üben, die
in der Vergangenheit nichts für eine bessere Bürgerbeteiligung getan haben,
({9})
während diese Bundesregierung ein Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren vorgelegt hat. So
eine Beteiligung hätte ich mir früher zum Beispiel auch
vom damaligen SPD-Verkehrsminister Tiefensee und
auch von den anderen Oppositionsparteien gewünscht.
Große Bauprojekte stellen alle beteiligten Vorhabenträger und Planer, aber gerade an erster Stelle die Menschen in der Region, vor große Herausforderungen.
Herr Kollege, auch Sie müssen einmal zum Ende
kommen.
Ich habe noch nicht die 33 Prozent erreicht.
({0})
Nein, wir wollen das nicht zur Regel machen.
Die Dänen haben nicht nur die größere finanzielle
Last und tragen das Risiko, sondern sie helfen auch in
ganz vorbildlicher Weise, die Menschen vor Ort zu informieren.
Die von der IHK initiierte Wirtschaftsregion HanseBelt, die Ausweisung von interkommunalen Gewerbegebieten, die Planung eines Infozentrums
Herr Kollege, ich habe das ernst gemeint.
- und das von Privatfirmen gegründete Kooperationsmodell „Baltic FS“ sind deutliche Zeichen. Wer mag
- Herr Präsident, das ist mein letzter Satz -, soll den
Menschen weiter Sand in die Augen streuen und behaupten, dass ein Ausstieg noch ohne Weiteres möglich sei.
Ich orientiere mich
({0})
an der Realität und werde mich
({1})
deshalb positiv für Lösungen einsetzen, die den Menschen in meiner Heimatregion helfen.
({2})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Lieber Kollege Gädechens, bei Ihnen betrug die
Überschreitung der Redezeit 21 Prozent.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/8912 und 17/9407 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen jetzt
zu einer ganzen Reihe von Tagesordnungspunkten, zu
denen die Redebeiträge zu Protokoll gegeben sind. Ich
bitte Sie, mir bei der Verlesung der Texte und Namen
Gesellschaft zu leisten.
Tagesordnungspunkt 15:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
- Drucksache 17/9341 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. - Sie sind damit einverstanden. Es
handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
Michael Hennrich, Marlies Volkmer, Kathrin Vogler,
Birgitt Bender und Parl. Staatssekretärin Ulrike Flach.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9341 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Tabea Rößner, Marieluise Beck ({2}),
1) Anlage 3
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pressefreiheit europaweit umsetzen - Medien
als wichtigen Grundpfeiler der Demokratie
stärken
- Drucksachen 17/6126, 17/8203 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Selle
Martin Dörmann
Burkhardt Müller-Sönksen
Tabea Rößner
Die Reden folgender Kollegen sind vereinbarungsge-
mäß zu Protokoll gegeben worden: Karl Holmeier,
Martin Dörmann, Burkhardt Müller-Sönksen, Kathrin
Senger-Schäfer und Tabea Rößner.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/8203, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6126
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositions-
fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 a und b:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen
- Drucksache 17/9391 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes ({5})
- Drucksache 17/9392 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben vereinba-
rungsgemäß ihre Reden zu Protokoll gegeben:
Dr. Günter Krings, Dr. Dieter Wiefelspütz, Dr. Stefan
Ruppert, Halina Wawzyniak und Jerzy Montag.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/9391 und 17/9392 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge dazu? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 17:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes
zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes
- Drucksache 17/9342 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben vereinba-
rungsgemäß ihre Reden zu Protokoll gegeben: Ralph
Brinkhaus, Manfred Zöllmer, Björn Sänger, Harald
Koch, Dr. Gerhard Schick, Parl. Staatssekretär Hartmut
Koschyk.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/9342 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 19:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({8})
- zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kampf gegen wissenschaftliches Fehlverhalten aufnehmen - Verantwortung des Bundes
für den Ruf des Forschungsstandortes
Deutschland wahrnehmen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,
Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Wissenschaftliche Redlichkeit und die Qualitätssicherung bei Promotionen stärken
- Drucksachen 17/5758, 17/5195, 17/9388 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
René Röspel
Dr. Martin Neumann ({9})
Krista Sager
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Philipp Murmann,
Dr. Reinhard Brandl, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Martin Neumann, Dr. Petra Sitte, Krista Sager.4)
1) Anlage 4
2) Anlage 9
3) Anlage 5
4) Anlage 7
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/9388.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/5758. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD bei Enthaltung der Grünen und der
Linken angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/5195. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen
bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen.
Wir kommen zu dem Tagesordnungspunkt 18 a und b:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildung für nachhaltige Entwicklung dauer-
haft sichern - Folgeaktivitäten zur UN-Dekade
„Bildung für nachhaltige Entwicklung“ er-
möglichen
- Drucksache 17/9186 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Jan Korte, Agnes Alpers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bildung für nachhaltige Entwicklung ermögli-
chen - Gleiche Bildungsteilhabe sichern
- Drucksache 17/9395 -
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Anette Hübinger, Axel
Knoerig, Ulla Burchardt, Angelika Brunkhorst, Sylvia
Canel, Dr. Rosemarie Hein, Kai Gehring.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/9186. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Antrag ist mit den Stimmen der antrageinbringenden
Fraktionen gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 b: Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9395.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Der Antrag ist mit dem gleichen Mehr-
heitsverhältnis abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 a und c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Barthel, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard
Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Frühzeitige Veröffentlichung der Rüstungsexportberichte sicherstellen - Parlamentsrechte
über Rüstungsexporte einführen
- Drucksache 17/9188 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter
im Jahr 2010 ({11})
- Drucksache 17/8122 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Andreas G. Lämmel,
Klaus Barthel, Dr. Martin Lindner, Jan van Aken, Katja
Keul.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9188 und 17/8122 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind auch diese Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 20:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung eines Nationalen Waffenregisters ({13})
- Drucksache 17/8987 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({14})
- Drucksache 17/9217 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Lach
Serkan Tören
Wolfgang Wieland
1) Anlage 6 2) Anlage 8
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden von den Kolleginnen und Kollegen Günter Lach,
Gabriele Fograscher, Serkan Tören, Frank Tempel und
Wolfgang Wieland zu Protokoll gegeben.
Mit der heutigen Abstimmung werden wir das Nationale Waffenregister auf den Weg bringen. Damit erfüllen
wir den Auftrag aus Art. 4 Abs. 4 der EU-Waffenrichtlinie 91/477/EWG des Rates an die Mitgliedstaaten,
spätestens bis zum 31. Dezember 2014 ein computergestütztes Waffenregister einzurichten. Auch unter den
schwerwiegenden Eindrücken der schrecklichen Amokläufe von Erfurt und Winnenden hat der Deutsche Bundestag 2009 im Zuge der Novellierung des Waffenrechts
in § 43 a des Waffengesetzes die EU-Vorgabe in nationalem Recht verankert. Damit wurde das ehrgeizige Ziel
festgeschrieben, bis Ende des Jahres 2012, bereits zwei
Jahre früher als gefordert, das Nationale Waffenregister
in Deutschland einzuführen.
Dieses Vorhaben wollen wir jetzt mit dem vorliegenden Gesetz zur Errichtung des Nationalen Waffenregisters umsetzen. In den Beratungen des Innenausschusses
hat sich gezeigt, dass sich diese Maßnahme auf eine
breite parlamentarische Mehrheit aus Union, FDP,
Bündnis 90/Die Grünen und SPD stützen kann. Hier
wird deutlich, dass der Deutsche Bundestag im Dienste
der Sicherheit von Bürgerinnen und Bürgern an einem
Strang zieht.
Mit der Errichtung des Registers machen wir einen
wichtigen Schritt zur Modernisierung des traditionsreichen Waffenwesens in unserem Land. Bisher werden in
577 lokalen Waffenbehörden die Informationen darüber
gesammelt, wer im zuständigen Bereich wie viele und
welche Waffen besitzt. Die Daten werden teilweise noch
in Papierform auf Karteikarten geführt. Mit der Zustimmung des Deutschen Bundestages zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung werden diese Angaben
nun aktualisiert und in ein computergestütztes System
überführt.
Darüber hinaus werden jetzt in ganz Deutschland,
von Kiel bis München, erstmals einheitliche Standards
festgelegt, welche Informationen im Zusammenhang mit
Waffenbesitz im Einzelnen festgehalten werden müssen.
Bisher kam es vor, dass die gleiche Waffe in verschiedenen Waffenbehörden mit unterschiedlichen Bezeichnungen registriert wurde. Hier findet nun eine Vereinheitlichung statt. Das Nationale Waffenregister wird für
mindestens 20 Jahre alle wesentlichen Informationen
über Typ, Modell, Fabrikat, Kaliber und Seriennummer
der Waffen speichern. Dementsprechend werden zukünftig auch die Namen und Anschriften von Waffenlieferanten sowie von Käufern und Besitzern einer Waffe erfasst.
Erstmals wird es nun also möglich sein, eine genaue
Zahl von legalen Waffenbesitzer und legalen Waffen in
Deutschland zu erhalten. Dies ist auch für den Gesetzgeber von Vorteil. Bei Überlegungen und Diskussionen
um das Waffenrecht und mögliche Änderungen konnten
wir in der Vergangenheit nur über Zahl und Verbreitung
von legalen Waffen spekulieren. Jetzt kann der Gesetzgeber sich auf eine belastbare Datengrundlage bei seinen
Entscheidungen stützen. Dies dient einer nach meiner
Ansicht notwendigen sachlichen Grundlage der Debatte
um dieses Thema.
Wir werden dann konkret feststellen können, wer zu
welchem Zweck welche Waffen besitzt. Dazu gehören die
aktiven Schützen, die in Vereinen und Verbänden den
Schießsport pflegen. Sie nutzen Waffen als präzise
Sportgeräte, die Konzentration, Treffsicherheit und
fachlich umsichtigen Umgang schulen. Hier stehen Gemeinsamkeit, Tradition und Brauchtumspflege im Mittelpunkt des Vereinslebens. Eine weitere Gruppe legaler
Waffenbesitzer sind Jäger. Sie tragen die Verantwortung
für Pflege, Erhalt und Regulierung unserer Wildtierbestände und der Natur. So schützen sie die Natur vor
Schäden durch Überpopulation und beugen der Verbreitung von Tierseuchen vor. Das Register wird auch die
Sammler von Waffen erfassen, die sich der Pflege des
Kulturguts verschrieben haben. Ausstellungen und
Fachveranstaltungen pflegen das kulturelle Wissen über
Geschichte und Entwicklung von Waffentechnik.
Positive Erfahrungen mit einer zentralen Registratur
der legalen Waffenbesitzer wurden bereits in Hamburg
seit 2009 gemacht. Die aus der Hansestadt in den letzten
drei Jahren gewonnenen Erkenntnisse konnten in die Errichtung eines Registers auf nationaler Ebene mit einfließen.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Errichtung
des Nationalen Waffenregisters kann mit dem Aufbau in
drei Stufen begonnen werden. Nach der Zusammenführung der Daten aus den rund 600 einzelnen Waffenbehörden bis zum 31. Dezember 2012 ist erstmals eine
bundesweite Abfrage möglich. In der zweiten Stufe werden dann schließlich Informationen von Waffenherstellern und auch Waffenhändlern mit eingebunden. Hinzu
kommen erweiterte Recherchemöglichkeiten. Schließlich bringt die Modernisierung des Waffenwesens auch
für die Bürgerinnen und Bürger wesentliche Vorteile mit
sich. Denn ab 2014 sollen in einer dritten Stufe Behördenangelegenheiten zukünftig durch Onlinelösungen
schneller und einfacher zu erledigen sein.
Um eines deutlich zu machen: Das Waffenregister ist
eine sinnvolle Modernisierung des legalen Waffenwesens in Deutschland. Es gilt aber weiterhin, den
Kampf gegen den unerlaubten Waffenhandel und den
Missbrauch von Schusswaffen sowie die steigende Gewaltkriminalität in unserer Gesellschaft mit Nachdruck
zu betreiben. Die Statistiken zeigen regelmäßig, dass bei
Gewaltdelikten mit Schusswaffen hauptsächliche illegale Waffen eine Rolle spielen. Bei legalen, registrierten
Waffen liegt der Missbrauch unter 1 Prozent.
Trotzdem sind die Informationen aus dem Nationalen
Waffenregister über legalen Waffenbesitz ein Gewinn an
Sicherheit. Der Lebenszyklus einer Waffe kann vom
Anfang bis zum Ende verfolgt werden. So wird die Wahrscheinlichkeit verringert, dass eine Waffe aus dem Blickfeld der Behörden verschwinden kann und aus einer legalen eine illegale Waffe wird. Darüber hinaus
unterstützen wir mit diesem Gesetzentwurf die Arbeit
von Polizei und Strafverfolgungsbehörden. Unter BeibeZu Protokoll gegebene Reden
haltung der föderalen Strukturen werden die aufbereiteten Daten aus den lokalen Waffenbehörden zusammengeführt. So stehen sie jederzeit, 24 Stunden am Tag und
sieben Tage in der Woche, den abfragenden Behörden
zur Verfügung. Dies spielt vor allem in den Abend- und
Nachtstunden sowie an Wochenenden und Feiertagen
eine wichtige Rolle, beispielsweise bei einem Polizeieinsatz. Hier können die Beamten zur besseren Eigensicherung vorab wertvolle Information darüber erhalten, ob
und welche Waffen möglicherweise bei dem bevorstehenden Einsatz eine Rolle spielen könnten. Mit Schaffung der zentralen Abfrage- und Recherchemöglichkeit
über legale Schusswaffen in Privathaushalten setzen wir
auch eine langjährige Forderung vonseiten der Polizei
um.
Alle Angaben aus den einzelnen Waffenbehörden werden bei hohen Standards für Datensicherheit, Übertragungssicherheit und Datenschutz in einer zentralen
Komponente zusammengeführt. Dafür müssen vor Ort
entsprechende technische, organisatorische und personelle Voraussetzungen geschaffen werden. Datenübermittlung und Datenauskünfte dürfen aufgrund der hohen
Sensibilität von personenbezogenen Daten nur über Verwaltungsnetze erfolgen. Auch im Verwaltungsnetz kann
die Übermittlung der Informationen nur mit speziell entwickelten Verschlüsselungstechniken erfolgen. Diese
werden vom Bundesverwaltungsamt, BVA, als Registerbehörde in Abstimmung mit dem Bundesamt für die
Sicherheit in der Informationstechnik, BSI, vorgegeben.
Ein Zugriff auf die waffenrechtlichen Daten von außen über eine Internetverbindung ist nicht möglich. Mit
diesen Maßnahmen wird auch den Befürchtungen Rechnung getragen, dass auf die gesammelten Informationen
über Personen und Waffenbesitz von Kriminellen auf
einfachem Weg über das Internet zugegriffen werden
kann.
Außer den Waffenbehörden vor Ort als sachbearbeitende Stelle und den Polizeien aus Bund und Ländern
können noch weitere Stellen Auskunft aus dem nationalen Register erhalten. Hierzu zählen die Justiz- und Zollbehörden, die Steuerfahndung, der Verfassungsschutz
von Bund und Ländern sowie die Nachrichtendienste.
Neben dem effizienten automatisierten Verfahren erhalten sie Informationen in der Regel durch eine Einzelauskunft. Um Verwechslungen auszuschließen, müssen hierfür Mindestangaben gemacht werden. Bei besonders
dringenden Fällen und bei mangelhafter Informationslage können zur Erleichterung der polizeilichen Ermittlungen auch Gruppenauskünfte anhand spezifischer
Merkmale angefordert werden.
Insbesondere für unsere Polizeibeamten, Sicherheitsund Rettungskräfte in außerordentlichen Situationen wie
bei Amokläufen und Geiselnahmen ist das Nationale
Waffenregister eine Unterstützung der schwierigen Arbeit. Ich bin überzeugt davon, dass mit der Hilfe dieser
abrufbaren Informationen ein Sicherheitsgewinn für die
Einsatzkräfte und für die gesamte Gesellschaft erreicht
werden kann. Denn Aktualität und schnelle Verfügbarkeit von Informationen sind bei einer gegenwärtigen
Gefahr für Leib, Leben, Gesundheit oder Freiheit einer
Person entscheidend. Daher ist die Umsetzung der EUVorgabe bereits bis zum Ende dieses Jahres richtig.
Außerdem machen wir damit einen weiteren Schritt hin
zu einer modernen Verwaltung. Bürgerinnen und Bürger
können dann auch in diesem Bereich von moderner
Technik und einem effizienten Staat profitieren.
Heute vor zehn Jahren fand der schreckliche Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium statt. Bis zu
diesem Tag kannten wir in Deutschland Amokläufe nur
aus dem Fernsehen und aus anderen Ländern. Wir
glaubten nicht, dass es so etwas auch in Deutschland geben kann. Am 26. April 2002 wurden wir leider eines
Besseren belehrt. Am gleichen Tag wollten wir hier im
Bundestag eine Novelle zum Waffenrecht beschließen.
Aufgrund des Amoklaufs eines 19-Jährigen mit 17 Toten
wurde die Verabschiedung des Waffenrechts verschoben.
Der Schock saß tief, Deutschland hatte sich verändert. Wir als Politikerinnen und Politiker haben uns
gefragt, was wir tun können, um Amokläufe zu erschweren. Neben Änderungen im Waffenrecht wie der Heraufsetzung der Altersgrenzen für den Waffenerwerb und für
das Schießen mit großkalibrigen Waffen, dem Verbot
sogenannter Pumpguns und der Verschärfung der Aufbewahrungsvorschriften galt und gilt es, die Gründe
aufzudecken, die einen jungen Menschen zu so einer Tat
treiben. War es das soziale Umfeld, die Schule, das Elternhaus? Eine abschließende Antwort darauf gab und
gibt es nicht.
Am 20. November 2006 schoss ein 18-Jähriger auf
dem Gelände seiner ehemaligen Schule in Emsdetten um
sich, verletzte 11 Personen durch Schüsse und Rauchbomben und tötete danach sich selbst. Trotz eines
Abschiedsbriefes des Täters ist nicht klar, was ihn dazu
gebracht hat, diese Tat zu begehen. Am 11. März 2009 erschütterte der Amoklauf von Winnenden und Wendlingen
das ganze Land. Ein 17-Jähriger erschoss 15 Menschen
und sich selbst. Auch hier haben wir uns gefragt, was einen Menschen zu einem Amoklauf treibt. Eine Antwort
gab und gibt es auch hier nicht. Forderungen nach einer
Verschärfung des Waffenrechts wurden wieder laut, doch
es war uns bewußt, dass das nur ein Baustein sein kann,
solche Taten in Zukunft zu erschweren.
Neben der Verschärfung der Prüfung des Bedürfnisses, der stärkeren Kontrolle der Aufbewahrung von
Schusswaffen und Munition und dem Anheben der
Altersgrenze für das Schießen mit großkalibrigen Waffen
haben wir uns auf die Errichtung eines Nationalen
Waffenregisters bis Ende 2012 geeinigt.
Damit setzen wir eine EU-Richtlinie, die die Errichtung eines Nationalen Waffenregisters bis Ende 2014
fordert, zwei Jahre früher um. Die in den 577 Waffenbehörden erfassten Informationen werden aufbereitet und
in eine zentrale computergestützte Datei überführt. Es
werden verbindliche Standards für die deutsche Waffenverwaltung unter Beibehaltung der föderalen Struktur
eingeführt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir begrüßen es, dass mit der heutigen Verabschiedung das Nationale Waffenregister früher als von der
EU gefordert kommt; es ist längst überfällig.
Wir werden dann endlich wissen, wie viele legale
Waffen es in Deutschland gibt und wer wie viele dieser
Waffen besitzt. Der gesamte Lebenszyklus einer legalen,
erlaubnispflichtigen Waffe wird vom Hersteller bis zum
Endbesitzer mit allen Angaben zu Kaliber und Modell
nachvollziehbar sein. Die Möglichkeit der Polizei, auf
diese Daten zurückzugreifen, wird die Ermittlungsarbeit
erleichtern. Auch wird das Einbeziehen waffenrechtlicher Informationen in die polizeiliche Lagebildbeurteilung mehr Sicherheit für die Polizistinnen und Polizisten
im Einsatz bringen.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion halten dieses Gesetz
für wichtig und richtig, es trägt zu mehr öffentlicher
Sicherheit bei. Das Waffenrecht ist eine besonders
sensible Materie, die von der Öffentlichkeit mit großer
Aufmerksamkeit begleitet wird. Deshalb ist besondere
Sorgfalt angezeigt. Umso ärgerlicher ist es deshalb,
dass sich im Gesetzgebungsverfahren Fehler und Patzer
aneinanderreihten.
Angefangen hat die nachlässige Art des Umgangs mit
dem Gesetz durch das Bundesinnenministerium damit,
dass den Fraktionen des Bundestages der Entwurf nicht,
wie es die Geschäftsordnung vorsieht, zeitgleich mit den
Bundesländern zugeleitet wurde. Anstatt sich zu entschuldigen, verschlimmert Staatssekretär Schröder das
Ganze noch und erklärt, die Fraktionen würden im
Rahmen der Ausschussberatungen befasst. Das ist eine
Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament und ein
Verstoß gegen die Gemeinsame Geschäftsordnung der
Bundesministerien.
Der Dilettantismus setzte sich in den Ausschussberatungen fort. Einige Empfehlungen des Bundesrates
sollten übernommen werden. Auf meine Frage, wo denn
der entsprechende Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen sei, erklärte Staatssekretär Schröder, es gebe keinen und er sei auch nicht notwendig. Daraufhin wurde
das Gesetz im Innenausschuss ohne Änderungen angenommen. Es folgte hektisches Treiben bei der CDU und
die Bitte, den Beschluss des Ausschusses aufzuheben,
denn man bräuchte ja doch einen Änderungsantrag.
Dieser wurde dann als Tischvorlage nachgereicht, und
es fand eine erneute, korrigierende Abstimmung statt.
Der letzte Akt der Peinlichkeit rund um dieses Gesetzesvorhaben fand am gleichen Tag im mitberatenden
Sportausschuss statt. Als dieser Tagesordnungspunkt
dort aufgerufen wurde, erklärte Staatssekretär Bergner,
der federführende Innenausschuss hätte den Beschluss
über das Waffenregister vertagt, eine Abstimmung im
Sportausschuss sei daher noch nicht nötig. Leider war
auch diese Information falsch, was die fehlende Kommunikation und Unfähigkeit in der Führungsspitze des
Ministeriums erneut zeigte. Es ist bedauerlich, dass die
Bundesregierung bei solchen wichtigen Vorhaben die
notwendige Kompetenz und Sorgfalt vermissen lässt.
Nur weil wir grundsätzlich das Gesetzesvorhaben unterstützen, haben wir diesen Dilettantismus missbilligend
zur Kenntnis genommen.
Noch ein Wort zum Waffenrecht. Im Mai findet im
Innenausschuss eine Anhörung zu Vorlagen zum Waffenrecht statt. Es geht unter anderem um die Forderung
nach einer zentralen Lagerung von Waffen und Munition
und um das Verbot von großkalibrigen kriegswaffenähnlichen Vollautomaten. Durch solche Anträge zum Waffenrecht wird suggeriert, dass allein gesetzliche Vorschriften zu mehr Sicherheit führen. Für mich liegt aber
das Problem eher im Vollzug und in der Kontrolle der
geltenden Vorschriften. Gesetzesverschärfungen ersetzen keine Kontrollen der Aufbewahrung von Waffen
durch die örtlichen Waffenbehörden, sie ersetzen auch
kein stärkeres Bewusstsein für einen verantwortungsvollen Umgang mit Waffen. Meine Fraktion stimmt dem Gesetz zur Errichtung eines Nationalen Waffenregisters zu.
Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung beenden
wir das Gesetzgebungsverfahren zur Einführung des
Nationalen Waffenregisters in der Bundesrepublik
Deutschland. Damit erfüllen wir zum einen internationale Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Vereinten Nationen eingegangen ist.
Zum anderen setzen wir europäisches Recht um, das sich
aus den Verpflichtungen gegenüber den Vereinten Nationen ergeben hat. Schließlich kommen wir auch Verpflichtungen des Bundesgesetzgebers nach. Im Zuge der
Änderungen deutschen Waffenrechts nach den schrecklichen Amokläufen an Schulen wurde beschlossen, dass
das Waffenregister bis zum Ende dieses Jahres eingeführt werden muss.
Das Ziel der Vereinten Nationen, die Registrierung
von Kleinwaffen auf den Weg zu bringen, besteht darin,
das unkontrollierte Zirkulieren von Kleinwaffen weltweit zu unterbinden. Mit dem neuen Register wird es
möglich sein, einen Überblick über den „Lebenslauf“
einer Waffe von der Produktion bis zu einer möglichen
endgültigen Vernichtung zu bekommen. Dies wird dazu
beitragen, dass der Sumpf der sogenannten illegalen
Waffen auf lange Sicht ausgetrocknet wird. Aus meiner
Sicht stellt dies einen enormen weltweiten Sicherheitsgewinn dar.
Neben dem Ziel, weltweit die Sicherheit auf lange
Sicht zu erhöhen, profitieren wir aber auch in Deutschland von diesem Register. So freut es mich, dass sich die
Mitglieder des Bundestages darüber einig sind, dass die
Einführung eines nationalen Waffenregisters eine gute
Sache ist. Schon in meiner Rede zur ersten Lesung habe
ich auf die Vorzüge des Registers hingewiesen. Daher
möchte ich nur kurz darauf eingehen. Deutschland bekommt eine einheitliche Verwaltung der legalen Waffen.
Lokale Insellösungen, zum Teil noch mit Karteikarten,
gehören dann der Vergangenheit an. Die Sicherheitsbehörden werden zukünftig einen schnellen Überblick über
möglicherweise vorhandene Waffen im Fall eines notwendigen Einsatzes bekommen. Die Aufklärung von Gewaltverbrechen, bei denen Schusswaffen eine Rolle spielen, wird erleichtert. Schließlich wird es zukünftig
schneller und leichter möglich sein, vertauschte, gestohlene oder verlorene Sport- und Jagdwaffen dem rechtmäßigen Besitzer bzw. Eigentümer zurückzugeben. Im
Zu Protokoll gegebene Reden
Ergebnis haben wir also die glückliche Lage einer Winwin-Situation für alle Seiten.
Was die Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen
nach einer Verbesserung des Waffenrechts angeht, stehen wir als Liberale Verbesserungen immer positiv gegenüber und würden auch konstruktiv an solchen Verbesserungen mitarbeiten. Allerdings sage ich gleich:
„Verbesserungen“, die nur auf eine weitere Verschärfung des Waffenrechts hinauslaufen, ohne dass dies ein
Mehr an echter Sicherheit für die Bürger bedeutet, lehnen wir ab.
Abschließend noch ein Wort zu der angekündigten
Bundesratsinitiative aus NRW im Hinblick auf eine Regelanfrage bei den Landesämtern für Verfassungsschutz,
wenn eine waffenrechtliche Erlaubnis ausgestellt werden
soll. Mit einer solchen Regelanfrage wird aus unserer
Sicht allen zukünftigen Legalwaffenbesitzern zunächst
einmal unterstellt, dass sie kriminell sein könnten. Schon
heute wird bei der Erteilung von waffenrechtlichen Erlaubnissen die Zuverlässigkeit überprüft. Dies ist Gesetzeslage. Personen die strafrechtlich in Erscheinung getreten sind oder bei denen Zweifel bezüglich der
Zuverlässigkeit besteht, bekommen schon heute keine
waffenrechtliche Erlaubnis. Dies muss reichen. Daher
lehnen wir die geplante Initiative aus NRW ab.
Die Linke hat seit langem die Einführung eines nationalen Waffenregisters gefordert; doch hat uns die konkrete Ausgestaltung des Gesetzes von einer Zustimmung
im Innenausschuss abgehalten. Die Zugriffsmöglichkeit
der Geheimdienste und der unzureichende Datenschutz,
insbesondere bei der automatisierten Abfrage, haben
uns zur Enthaltung veranlasst.
Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hat der Bundesrat Änderungsbedarf angemeldet. Mit Ausnahme
des Landes Brandenburg haben die Länder letzte Datenschutzansprüche über Bord werfen wollen. Einschränkungen beim Zugriff der Geheimdienste sowie
Begründungs- und Protokollierungsanforderungen sollten wegfallen bzw. extrem gelockert werden.
Nun ist in der vorliegenden Variante des Gesetzentwurfs kaum einer der Änderungswünsche des Bundesrates in voller Konsequenz eingebaut worden. Die Streichung konkreter Speicherfristen und der Wegfall einer
Begründungspflicht bei Anfragen an das Waffenregister
mögen eine Erleichterung der Arbeit von Strafverfolgungsorganen bewirken; der Datenschutz wurde aber
wieder einmal außen vor gelassen. Unsere Zustimmung
bleibt Ihnen also weiterhin erspart.
Neben der Einführung des Waffenregisters haben wir in
der Vergangenheit weiteren Handlungsbedarf angemahnt.
Die Ergebnisse von Kontrollen der Ordnungsbehörden in
den letzten Monaten lassen aufhorchen. Sie zeigen, dass
die Mehrzahl der Waffenbesitzerinnen und -besitzer Waffen und Munition vorschriftsmäßig lagern. Es sind aber
auch zahlreiche Verstöße festgestellt worden. Ein besonders krasses Beispiel zeigte sich in Bremen, wo bei
75 Prozent der unangekündigten Überprüfungen Verstöße festgestellt worden sind.
Eine Folge solcher Kontrollen ist immer wieder, dass
freiwillig auf Waffen verzichtet wird, weil vielmals eigentlich keine Nutzungsabsichten mehr vorhanden sind.
An diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich, dass
noch viel mehr Anstrengungen möglich wären, um die
Zahl der Waffen in der Gesellschaft zu senken. Doch dafür müssen gesetzliche und materielle Grundlagen geschaffen werden, um dies zu ermöglichen. Durch das nationale Waffenregister sind die Ordnungsbehörden im
Verwaltungsaufwand deutlich entlastet worden. Fraglich ist allerdings, ob die notorisch klammen Kommunen
die freigesetzten Potenziale für stärkere Kontrollen nutzen oder aber Personalstellen in den Ordnungsbehörden
streichen.
In vielen Teilbereichen des Waffenrechts liegt einiges
im Argen. Seit Jahren fordern zum Beispiel die Polizeigewerkschaften ein Verbot großkalibriger Schusswaffen.
Es gibt keine vernünftige Erklärung, warum diese besonders gefährlichen Waffen zum Schützensport notwendig sind. Sportlich machen eine kleinkalibrige Waffe und
eine großkalibrige Waffe keinen Unterschied, in einer
Amoksituation oder bei einem polizeilichen Zugriff allerdings schon.
Auch die weite Verbreitung von halbautomatischen
Waffen stellt ein großes Problem dar. Halbautomatische
Waffen werden im Schießsport stark genutzt, deshalb
verbieten sich hier schnelle Lösungen. Doch sollte zumindest über Wege nachgedacht werden, wie man langfristig mit dem Problem umzugehen gedenkt.
Das Thema Erbwaffen ist nach wie vor ungeklärt.
Waffen im Besitz von Menschen, die keine genehmigte
Nutzungsabsicht haben, müssen durch Blockiersysteme
oder Abzugsschlösser gesichert werden. Die Waffen
werden dadurch nicht zerstört, aber gegen unbefugte
Nutzung gesichert.
Die Koalition wagt es erst gar nicht, sich solche Fragen zu stellen. Das ist wohl darin begründet, dass man
Wählerstimmen schwinden sieht, wenn Verschärfungen
des Waffenrechts auch nur angedacht werden. Doch
dazu werden wir im Mai eine Anhörung im Innenausschuss haben. Zwei Anträge der Grünen zum Waffenrecht werden diskutiert. Dann wird eine Positionierung
von allen Parteien erwartet, wie sie mit 10 Millionen legalen und 20 Millionen illegalen Waffen in der Gesellschaft umzugehen gedenken.
Auf den Tag genau vor zehn Jahren erschoss ein ehe-
maliger Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums in
seiner ehemaligen Schule 16 Menschen. Er tat dies mit
Waffen, die er legal gekauft hatte. Wir haben damals das
Waffenrecht verändert, um solche Taten in Zukunft zu
verhindern. Heute wissen wir: Das ist uns nicht gelun-
gen. Es gab weitere solcher Taten, wie vor gut drei Jah-
ren den Amoklauf von Winnenden.
Meine Fraktion und ich haben uns schon seit vielen
Jahren für ein restriktiveres Waffenrecht eingesetzt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dazu gehörte auch immer die Forderung nach einem
nationalen Waffenregister, wie wir es heute einführen.
Die bisherige Praxis gehört seit Jahren schon überarbei-
tet, nicht nur, weil es eine EU-Richtlinie so will. Bisher
wurden Waffen lokal registriert, seit 2003 besteht auch
eine Meldepflicht für jeden Waffenverkauf und -weiter-
verkauf. Das hat aber bisher noch nicht zu einem über-
sichtlichen und handhabbaren Register geführt; denn
noch speichern Dutzende unterschiedliche Behörden
nach unterschiedlichen Datenstandards. Und ihre Infor-
mationen werden nicht vernetzt.
Es war also höchste Zeit, hier Abhilfe zu schaffen.
Die Erfahrungen aus Hamburg zeigen, dass ein moder-
nes, computergestütztes Register eine große Hilfe sein
kann. Wir begrüßen es daher ausdrücklich, dass es diese
Koalition geschafft hat, sich nun sogar schon ein klein
wenig früher zur Einrichtung eines nationalen Registers
durchzuringen, als die EU es zwingend vorschreibt. Ob-
wohl es die entsprechende Richtlinie seit 2008 gibt, und
ein nationales Waffenregister schon viel länger sinnvoll
ist, hatten diese und die Vorgängerregierung sich bisher
nicht für das Projekt erwärmen können.
Die Hoffnung, die sich mit dem Waffenregister ver-
bindet, kann aber nur erfüllt werden, wenn auch genü-
gend Verwaltungsressourcen dafür bereitstehen. Die bis-
herige Praxis krankt ja auch an Vollzugsdefiziten und
mangelnder Ausstattung der zuständigen Behörden.
Dem Lehrsatz, dass jedes Gesetz nur so gut sein kann
wie sein Vollzug, ist also dringend Rechnung zu tragen.
Das bedeutet für uns aber auch, dass bei einer Datei, die
wir inhaltlich für sehr sinnvoll halten, genauestens die
Bestimmungen des Datenschutzes einzuhalten sind, um
das Recht der Waffenbesitzer auf informationelle Selbst-
bestimmung zu schützen.
Mit der Verbindung der Daten über Waffen, über die
einschlägigen Erlaubnisse und Einschränkungen, über
den Verkauf und den Besitz entsteht mit diesem Register
so etwas wie eine Biografie jeder Waffe. So lässt sich
feststellen, wer wo welche Waffe haben darf, wo eine
Waffe sein sollte und ob eine aufgefundene Waffe legal
besessen wird. Und - ein sehr wichtiger Punkt - es lässt
sich auch erkennen, wann eine Waffe gegebenenfalls in
die Illegalität abgedriftet ist.
Aber bei aller Hoffnung, dass das Waffenregister
wirksam gegen den Missbrauch von Waffen sein kann,
dass Waffen besser kontrollierbar werden, dass der Be-
reich der illegalen Waffen zumindest ein Stück weit ein-
gedämmt werden kann: Es ist auch klar, dass dieses Re-
gister nicht die Antwort auf alle Probleme ist, die wir in
unserer Gesellschaft mit Waffen haben.
Wir müssen darüber hinaus mehr tun, auch gemein-
sam in der EU und darüber hinaus, gegen illegale Waf-
fen und ihre Verbreitung. Und wir müssen unser eigenes
Waffengesetz verbessern. Meine Fraktion hat Vor-
schläge vorgelegt, spezifisch zum Verbot kriegswaffen-
ähnlicher halbautomatischer Waffen, aber auch zur all-
gemeinen Verbesserung der Kontrolle von Waffen und
Munition.
Bei der Regulierung von Waffen geht es uns nicht um
die Drangsalierung von Schützen und Jägern. Es geht
uns nicht um Vorschriften, welches Hobby als gut und
welches als schlecht zu gelten hat. Sondern es geht da-
rum, dass Jagd und Schießsport eben mit Waffen ausge-
übt werden, die im Fall des Missbrauchs für andere töd-
lich sind. Aus der Sportwaffe kann die Mordwaffe
werden. Das ist eine einfache technische Wahrheit, und
das ist eben leider auch zu oft eine tödliche Wahrheit.
Und das rechtfertigt es, diese Waffen besonders auf-
merksam zu registrieren, zu kontrollieren und zu regle-
mentieren.
Wir wollen weitere Verbesserungen des Waffenrechts
und verbesserte Schutzmechanismen in Angriff nehmen.
Das ist der Auftrag, der an uns als Gesetzgeber von den
schrecklichen Amoktaten der letzten Jahre ausgeht. Wir
werden in einer Expertenanhörung im Innenausschuss
am 21. Mai über Beschränkungen von großkalibrigen
Waffen zu reden haben, über die getrennte Lagerung
von Munition und Waffen und auch über weitere Maß-
nahmen, die den Schutz vor mit Waffen ausgeübter Ge-
walt verbessern helfen. Auch mit dem neuen nationalen
Waffenregister bleibt also viel zu tun.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/9217, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/8987 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Zustim-
mung. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltung? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen bei
Enthaltung der Linken.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor an-
genommen.
Tagesordnungspunkt 23 a und b
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Katja Kipping, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Aufwandsentschädigungen für kommunale
Mandatsträgerinnen und Mandatsträger sowie Amtsträgerinnen und Amtsträger nicht
auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch anrechnen
- Drucksache 17/7646 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Katrin Kunert, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Anrechnung von Aufwandsentschädigungen für bürgerschaftliches Engagement
auf Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch
- Drucksache 17/7653 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Carsten Linnemann,
Ulrich Lange, Angelika Krüger-Leißner, Pascal Kober,
Katrin Kunert und Markus Kurth.
Vorab möchte ich das Positive dieser beiden Anträge
herausstellen: In beiden wird aufgezeigt, wie groß das
bürgerliche Engagement in Deutschland ist und wie
wertvoll es für unsere Gesellschaft ist. Ich gebe den
Antragstellern auch Recht in ihrer Feststellung, dass
ehrenamtliches Engagement eine besondere Kultur der
Anerkennung und die entsprechenden Rahmenbedingungen benötigt. Deutschland ist diesbezüglich auch dank
verschiedener Initiativen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die bis in das Jahr 1995 zurückreichen, bereits
gut aufgestellt. Wir haben an zahlreichen Stellschrauben
wichtige Verbesserungen erreicht, zum Beispiel bei der
Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen
Vereinsvorständen und bei der Erweiterung des Unfallversicherungsschutzes. Auch die jetzige Regierungskoalition hat das Ehrenamt voll im Blick: Wie im
Koalitionsvertrag vereinbart, haben wir Ende 2010 eine
„Nationale Engagementstrategie“ auf den Weg gebracht. Diese Koalition braucht sicherlich keine Nachhilfe in puncto Stärkung des Ehrenamtes.
Vor allem sind Vorschläge abzulehnen, die eine
unheilvolle Gleichsetzung mit einer Erwerbstätigkeit
bewirken. Bürgerliches Engagement kann keine reguläre Arbeit ersetzen. Es kann diejenigen, die Sozialleistungen beziehen, nicht von ihrer Pflicht entbinden, alles
zu tun, um sich aus der Arbeitslosigkeit bzw. aus dem
Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu befreien. Übersteigen
die Aufwandsentschädigungen für eine ehrenamtliche
Tätigkeit einen bestimmten Betrag, ist eine Grundvoraussetzung zum Erhalt von Leistungen durch die Solidargemeinschaft nicht mehr erfüllt, nämlich die der
Hilfsbedürftigkeit. Daher ist es vom Grundsatz her richtig, dass Aufwandsentschädigungen im Rahmen einer
ehrenamtlichen Tätigkeit wie Einnahmen aus Erwerbstätigkeit behandelt und auf Sozialleistungen angerechnet werden.
Auf der anderen Seite ist zu berücksichtigen, dass
gerade Langzeitarbeitslose von einer ehrenamtlichen
Tätigkeit profitieren können, um den Anschluss in der
Gesellschaft nicht zu verlieren und weitere Befähigungen zu erwerben. Ob als Trainer einer Fußballjugendmannschaft oder als Chorleiter in einem Musikverein,
diese Tätigkeiten können wertvolle Bausteine sein, um
letztlich wieder den Schritt in das Berufsleben zu schaffen. Denn sie haben zwei wertvolle Eigenschaften: Sie
stärken das Selbstbewusstsein, und sie verschaffen ein
Gefühl des Gebrauchtwerdens.
Der Gesetzgeber hat diese positiven Eigenschaften
des Ehrenamtes bereits berücksichtigt, indem er den
Empfängern von Sozialleistungen einen monatlichen
Freibetrag in Höhe von 175 Euro gewährt. Dieser
Wert knüpft an das an, was für Steuerpflichtige gemäß
§ 3 EStG gilt. Damit ist in den Augen der CDU/CSUFraktion die richtige Balance hergestellt: Der ehrenamtlich Tätige erhält Anerkennung, auch in materieller
Form, und gleichzeitig bleiben die Grundsätze unseres
Sozialversicherungssystems gewahrt. Aus diesen Gründen werden wir die vorliegenden Anträge, die eine
völlige Abkehr von der gängigen Anrechnungspraxis
fordern, ablehnen.
Es ist selten, dass ich eine Debatte der Linken begrüße; aber ihr Antrag gibt mir die Möglichkeit, die Bedeutung und den Wert der ehrenamtlichen Tätigkeiten zu
würdigen und den vielen Millionen Menschen in unserem Land für ihren Einsatz für die Anderen zu danken.
Je weiter sich unsere Gesellschaft entwickelt hat,
desto unterschiedlicher sind auch die Ausprägungsformen des Ehrenamtes geworden. Das zeigen uns schon
die verschiedenen Begriffe, die das Ehrenamt umschreiben. So heißt es hier Ehrenamt, dort Freiwilligenarbeit,
bürgerschaftliches Engagement oder Selbsthilfe. Dies
sind Vokabeln, die jeweils andere und eigenständige Tätigkeitsfelder beschreiben. Aber eines haben sie alle gemeinsam: Sie beschreiben die aktive Mitwirkung von
Menschen, die unbezahlt oder nur gegen eine geringe
Aufwandsentschädigung freiwillig Aufgaben übernehmen und Arbeiten zugunsten ihrer Mitmenschen erledigen. Das Spektrum ehrenamtlicher Arbeit ist in unserer
Gesellschaft weitgefächert. Es gibt kaum einen Bereich
des alltäglichen Zusammenlebens, in dem wir ehrenamtliches Engagement nicht finden könnten.
Ehrenamt, das bedeutet gelebte Solidarität und Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für den
Mitmenschen. Ohne den persönlichen Einsatz von etwa
jedem dritten Bürger der Bundesrepublik Deutschland
würde in vielen, insbesondere in sozialen Bereichen
buchstäblich das Licht ausgehen. Bei diesem bürgerlichem Engagement sind alle willkommen; es ist keine
Frage des Geldbeutels. Er steht selbstverständlich auch
allen Hartz-IV-Leistungsberechtigten offen. Wir freuen
uns, wenn sich Personen, die Leistungen aus dem SGB II
erhalten, für diese Gesellschaft engagieren. Dieser Einsatz wird dadurch gewürdigt, dass ein erhöhter monatlicher Freibetrag von 175 Euro im Rahmen der pauschalen Aufwandsentschädigung eingeräumt wird. Die
Nichtberücksichtigung als Einkommen kommt dann zur
Anwendung, wenn die gegenständlichen Leistungen mit
einer ausdrücklichen Zweckbestimmung, zum Beispiel
Fahrtkostenentschädigung, Kleidergeld, Materialkos20778
ten, versehen sind. Die Forderung der Linken, Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche kommunale
Mandatsträger bzw. für bürgerschaftliches Engagement
nicht auf die Grundsicherung anzurechnen, ist also in
keiner Weise gerechtfertigt.
Mit der Neufassung des SGB II im März 2011 wurde
ein wesentlicher Teil von Einnahmen aus unterschiedlichen freiwilligen bzw. nebenberuflichen Tätigkeiten neu
geregelt und zusammengefasst. Diese Einnahmen wurden systematisch richtig im Wege der Absetzbeträge privilegiert und mit einem einheitlichen Pauschbetrag versehen. Damit wird das freiwillige Engagement auch von
solchen Personen honoriert, die Leistungen der Grundsicherung beziehen.
Sinn und Zweck der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe sind die Verringerung und
Beendigung der Hilfebedürftigkeit sowie die Sicherung
des Lebensunterhalts. Wer Einnahmen erzielt, hat diese
zur Verringerung seiner Hilfebedürftigkeit einzusetzen.
Eine Erhöhung des Absetzbetrags führt zu einem erhöhten Leistungsbezug, den die Allgemeinheit zu tragen
hätte, und dies ist nicht im Sinne unserer Gesellschaft.
Die heute zu beratenden Anträge der Fraktion Die
Linke betreffen die Frage der Anrechnungen von Aufwandsentschädigungen in den Rechtskreisen des SGB II,
also der Grundsicherung für Arbeitsuchende, sowie des
SGB XII, des Rechts der Sozialhilfe. Konkret geht es um
die Entschädigungen, die bei Ausübung eines Ehrenamtes gezahlt werden - sowohl an kommunale Amts- oder
Mandatsträger als auch für bürgerschaftliches Engagement. Dieses Thema interessiert viele Menschen in unserem Land. Mehr als 23 Millionen Bürgerinnen und Bürger engagieren sich in unserem Land ehrenamtlich. Wir
können uns glücklich schätzen, dass sich so viele Menschen in unserer Gesellschaft freiwillig einbringen.
Viele Tausend Frauen und Männer in Deutschland erklären sich bereit, in ihren Städten und Kommunen ein
kommunales Amt oder Mandat anzunehmen und damit
ein Ehrenamt zu bekleiden.
Für eine lebendige Demokratie ist die Beteiligung der
Menschen unabdingbar. Diese Bereitschaft für bürgerschaftliches Engagement und die Ausübung eines kommunalen Mandats prägt unser aller Gemeinwohl. Die
Tatsache, dass so viele Menschen auf vielfältigste Art
und Weise Verantwortung übernehmen und sich für soziale, kulturelle, integrationsfördernde oder kommunalpolitische Belange einsetzen, ohne dass damit ein existenzsicherndes Einkommen verbunden ist, belegt das
hohe Maß an Gemeinsinn in unserer Gesellschaft.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt dies ausdrücklich und zollt allen ehrenamtlich Tätigen größte Anerkennung. Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
überall in Deutschland unterstützen und fördern dieses
bürgerschaftliche Engagement. Häufig sind auch sie
selbst in ihren Kommunen ehrenamtliche Amts- oder
Mandatsträger und engagieren sich beispielsweise in
Vereinen, in der Jugendarbeit, bei Hilfsorganisationen
wie dem THW oder bei der freiwilligen Feuerwehr.
In den beiden Anträgen, die die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke eingebracht haben, geht es
darum, ob und inwieweit Aufwandsentschädigungen für
solch ein Engagement auf die Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe anzurechnen sind. Die
Fraktion Die Linke fordert in ihren Anträgen, die gesetzlichen Regelungen dahin gehend zu ändern, dass Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche kommunale
Mandatsträgertätigkeit oder für bürgerschaftliches Engagement generell nicht auf die Grundsicherungsleistungen anzurechnen sind.
Die Forderungen klingen auf den ersten Blick gut und
nachvollziehbar, gerade angesichts der bereits erwähnten großen Bereitschaft zum Ehrenamt. Aber wie so oft
bei den Anträgen der Linken trügt der erste Eindruck; die
Konsequenzen der Forderungen wurden leider nicht bis
zu Ende gedacht. Bereits nach den heute geltenden Regelungen bleibt in beiden Rechtskreisen ein monatlicher
Grundfreibetrag in Höhe von 175 Euro anrechnungsfrei.
Außerdem unterbleibt eine Anrechnung grundsätzlich,
wenn ausdrücklich eine Zweckbestimmung bei der Entschädigungszahlung erfolgt, zum Beispiel als Fahrkostenentschädigung oder Materialkostenpauschale. Darüber hinaus sind Einnahmen, die über 175 Euro
hinausgehen und nicht höher als 1 000 Euro sind, im
Rechtskreis SGB II zu 20 Prozent nicht auf die Regelbedarfsleistung anzurechnen.
Die Ehrenamtspauschale ist auf Initiative der SPD
ein Verhandlungserfolg im Vermittlungsausschussverfahren zur sogenannten Hartz-IV-Reform gewesen.
Diese Regelungen stellen im Verhältnis zu den vorangegangenen eine deutliche Verbesserung dar. Sie gelten
seit nunmehr gut einem Jahr und kommen allen ehrenamtlich Tätigen zugute. Mit den Änderungen gilt der
steuerliche Freibetrag für Einnahmen aus nebenberuflicher Tätigkeit nach § 3 Nr. 26, 26 a oder b EStG auch für
das Arbeitslosengeld II und das Sozialgeld. Privilegiert
werden insbesondere die Personengruppen der Übungsleiter, aber auch nebenberuflich tätige Ausbilder, Erzieher oder Betreuer. Sind Aufwandsentschädigungen bundes- oder landesgesetzlich festgesetzt und als solche
auch im jeweiligen Haushaltsplan ausgewiesen, gilt
auch hier die Grenze von 175 Euro monatlich. Insoweit
gilt, dass diese Tätigkeiten künftig hinsichtlich der Privilegierung der Einnahmen wie Erwerbstätigkeiten behandelt werden, mit der Folge, dass bei höheren Aufwandsentschädigungen ebenfalls die Freibeträge nach
§11 b Abs. 3 SGB II eingeräumt werden. Höhere erforderliche Aufwendungen für die Tätigkeiten können wie
bei Erwerbstätigkeiten geltend gemacht werden. Zu diesem Zweck haben wir durchgesetzt, dass die bisherige
Grenze von 400 Euro, ab der ein höherer Abzug geltend
gemacht werden kann, auf 175 Euro abgesenkt wird.
Diese Pauschale für das Ehrenamt gilt für die Rechtskreise des SGB II wie des SGB XII gleichermaßen.
Damit ist das Ehrenamt im Hinblick auf pauschal gewährte Aufwandsentschädigungen bereits deutlich privilegiert im Verhältnis zu den übrigen Anrechnungsregelungen für Einkommen während des Bezugs von
Leistungen der Grundsicherung oder der Sozialhilfe.
Aufwandsentschädigungen dagegen generell anrechZu Protokoll gegebene Reden
nungsfrei zu stellen, wie es die Fraktion Die Linke fordert, hätte arbeitsmarktpolitisch fatale Folgen. Im Übrigen liefe es auch dem Rechtsgedanken des SGB II
zuwider. Daher lehnen wir die Anträge ab.
Im Kern geht es darum, dass sich Menschen im Leistungsbezug des SGB II, also der Grundsicherung für Arbeitsuchende, befinden und eine Aufwandsentschädigung für die Ausübung eines Ehrenamtes bzw. einer
kommunalen Mandatsträgertätigkeit erhalten. Vorrangiges Ziel des SGB II ist es, Langzeitarbeitslosigkeit zu
überwinden und ALG-II-Empfänger wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ohne dass sie weiterhin auf
Leistungen der Grundsicherung angewiesen sind.
Der Arbeitsmarkt braucht diese Arbeitskräfte. Insbesondere für die Branchen, die bereits jetzt einen Fachkräftemangel verzeichnen, ist die Wiedereingliederung
der erwerbsfähigen Arbeitsuchenden zum Beispiel nach
Teilnahme an Maßnahmen oder Arbeitsgelegenheiten
wichtig. Eine gänzlich anrechnungsfreie Aufwandsentschädigung birgt die Gefahr, dass die Aufnahme einer
sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit verhindert wird.
Das kann nicht in unserem Interesse sein. Insofern sind
die aktuell bestehenden Anrechnungsregelungen bei
Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliches Engagement sachlich gerechtfertigt. Sie entsprechen der Intention des SGB II.
Die Forderung der Fraktion der Linken übersieht
auch, dass bei ihrer Umsetzung eine Ungleichbehandlung gegenüber Leistungsberechtigten entsteht, die Einkommen aus anderen Quellen beziehen, das unverändert
der Anrechnung unterliegt. Auch deshalb sind diese Anträge abzulehnen.
Wir befassen uns heute mit zwei Anträgen der Linken
zum Thema Anrechnung von Aufwandsentschädigungen
für bürgerliches Engagement auf Leistungen nach dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, zuerst
möchte ich Sie fragen, warum es dazu zwei Anträge gebraucht hat. Ressourcenschonender wäre es doch gewesen, beides in einen Antrag zu bringen, zumal sich die
Forderung nur in zwei Worten unterscheidet.
Aber nun zum eigentlichen Inhalt Ihrer Anträge.
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende ist ein staatliches Fürsorgesystem, das vom Nachranggrundsatz geprägt ist. Dies bedeutet, dass erwerbsfähige Hilfebedürftige und die mit ihnen in Bedarfsgemeinschaft
lebenden Angehörigen Leistungen der Grundsicherung
nur erhalten, wenn sie hilfebedürftig sind. Hilfebedürftig
ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften bestreiten kann. Der Nachranggrundsatz bedeutet
aber auch, dass auf anderen Rechtsvorschriften beruhende Leistungen, wie zum Beispiel das Kindergeld oder
das Elterngeld, grundsätzlich Vorrang vor den Leistungen nach Sozialgesetzbuch II haben und damit stets auf
das Arbeitslosengeld II angerechnet werden.
In § 11 a SGB II sind die Einkommensarten zusammengefasst, die nicht oder nur teilweise berücksichtigt
werden, so unter anderem auch Entschädigungen. Aufwandsentschädigungen sind nur dann nicht als Einkommen zu berücksichtigen, wenn die erbrachten Leistungen ausdrücklich einem anderen Zweck als Leistungen
nach dem SGB II dienen. So sind zum Beispiel pauschale Fahrtkostenentschädigungen zu werten, weil sie
der Bewältigung des Aufwandes dienen, um die Tätigkeit
auszuüben.
Das bedeutet, dass die Bestandteile einer Entschädigungsleistung, die der Abgeltung des tatsächlichen Aufwands dienen, zu privilegieren und damit nicht anzurechnen sind. Hierzu zählen bei ehrenamtlichen kommunalen
Mandatsträgern unter anderem, wie beschrieben, die
Fahrtkosten, aber auch Sitzungsgelder für Plenar- oder
Ausschusssitzungen.
Werden jedoch pauschale Aufwandsentschädigungen
geleistet, dann sind diese mangels hinreichender Zweckbestimmung wie Einnahmen aus Erwerbstätigkeit zu behandeln. Der für solche Aufwandsentschädigungen zuerkannte Freibetrag beläuft sich auf 175 Euro pro
Monat. Diese Summe ergibt sich aus den Regelungen
des Einkommensteuergesetzes. Jedoch wird nicht der in
§ 3 Nr. 26 Einkommensteuergesetz genannte jährliche
Betrag in Höhe von 2 100 Euro anrechnungsfrei gestellt,
sondern der monatliche Anteil in Höhe von 175 Euro.
Dies ergibt sich aus der monatlichen Berechnung des
Arbeitslosengeldes II.
Ich halte diese Vorgehensweise für mit Augenmaß gewählt. Die Systematik des SGB II ist nun einmal, dass
das Arbeitslosengeld II eine Nachrangleistung ist. Wäre
dies nicht so, dann hätten wir auch Probleme, bestehendes Vermögen zu berücksichtigen und eine Verwertung
dieser Mittel vor der Inanspruchnahme staatlicher Hilfen einzufordern. Dies halte ich aber aus Gründen der
Solidarität für unabdingbar. Es muss weiterhin so sein,
dass die staatliche Unterstützung und die damit verbundene gesamtgesellschaftliche Solidarität der letzte Schritt
ist.
Wer beispielsweise in Bedarfsgemeinschaft mit einem
Menschen lebt, der ein hohes Vermögen hat, sollte nicht
auf Mittel der Gemeinschaft Anspruch haben, sondern
erst einmal aus seinem nächsten Umfeld Unterstützung
bekommen.
Daher muss auch Einkommen, egal aus welcher
Quelle es stammt, berücksichtigt werden. Der Aufwand,
der durch ein Ehrenamt entsteht, muss abgegolten werden, das ist keine Frage und auch, wie beschrieben, Gesetzeslage. Wer eine Entschädigung erhält, der keine
konkreten Aufwendungen gegenüberstehen, der erhält
einen Lohn. Und dieser soll auch weiterhin angerechnet
werden, wie jedes Erwerbseinkommen auch angerechnet
wird.
„Ehrenamtliches Engagement braucht Anerkennung.“ Dieser Satz stammt aus einem Statement der
Bundeskanzlerin anlässlich des Empfangs von 200 bürZu Protokoll gegebene Reden
gerschaftlich Engagierten im Bundeskanzleramt im letzten Jahr, welches übrigens das Europäische Jahr der
Freiwilligentätigkeit war.
Auch hier im Hause sind wir uns alle einig, dass bürgerschaftlich engagierte Bürgerinnen und Bürger einen
wichtigen Beitrag zu dieser Gesellschaft leisten und
dass bürgerschaftliches Engagement Anerkennung,
Wertschätzung und Unterstützung durch Staat und Gesellschaft verdient.
Blickt man allerdings auf die realen Bedingungen der
über 23 Millionen bürgerschaftlich Engagierten, muss
man feststellen, dass noch einiges im Argen liegt. Insbesondere gilt dies für diejenigen bürgerschaftlich Engagierten, die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch erhalten, und zum Teil auch für diejenigen,
die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch erhalten.
Was das konkret bedeutet, möchte ich Ihnen anhand
von zwei Beispielen verdeutlichen.
Zunächst geht es um einen Ortsteilbürgermeister in
Thüringen. Dieser Bürgermeister übt sein Amt ehrenamtlich aus und erhält eine pauschale Aufwandsentschädigung in Höhe von 475,50 Euro im Monat. Mit
diesem Betrag sollen die Kosten, die durch die Wahrnehmung seines Amtes entstehen, ausgeglichen werden. Der
Bürgermeister finanziert damit seine Bürgersprechstunde, Fahrten zu Terminen, die er im Rahmen seines
Amtes wahrnimmt sowie Telekommunikationsmittel und
Arbeitsmaterialien. Als ALG-II-Beziehender bekommt
dieser Bürgermeister aber einen Großteil der Aufwandsentschädigung, nämlich 225,00 Euro auf seinen Regelsatz angerechnet. Ihm bleiben also faktisch nur
250,50 Euro pro Monat von seiner Aufwandsentschädigung.
Jetzt kann man dem Bürgermeister natürlich raten,
die Belege für sämtliche Telefonate, Fahrten, Büromaterialien usw. zu sammeln und beim Jobcenter einzureichen, um nachzuweisen, dass die Aufwendungen für sein
Amt über den 250,50 Euro pro Monat gelegen haben.
Wer wie ich die Tätigkeit als ehrenamtliche Amts- oder
Mandatsträgerin kennt, weiß aber, dass derartige Ratschläge an den Bedingungen im realen Leben vorbeigehen. Wenn man versuchen würde, bei jeder Gesprächsminute am Telefon, bei jedem gefahrenen Kilometer,
jedem verbrauchten Block, jedem Bleistift usw. durch Belege nachzuweisen, dass diese Dinge im Zusammenhang
mit der Amts- bzw. Mandatsausübung benutzt wurden,
entstünde ein Verwaltungsaufwand, der unverhältnismäßig und in vielen Fällen praktisch kaum durchführbar
wäre. Zudem ist nicht einzusehen, dass jemand im
ALG-II-Bezug, der sich ehrenamtlich engagiert, diesen
Verwaltungsaufwand betreiben muss, während andere
Ehrenamtliche ihre Aufwandsentschädigung zwar versteuern müssen, im Übrigen aber auch ohne die Vorlage
entsprechender Belege behalten dürfen.
Das Problem der Anrechnung pauschaler Aufwandsentschädigungen betrifft allerdings nicht nur das bürgerschaftliche Engagement im Bereich der Kommunalpolitik. Es betrifft auch ehrenamtliche Übungsleiter in
Sportvereinen und ähnlichen Einrichtungen. Auf Nachfrage meiner Kollegin, Frau Dr. Kirsten Tackmann, hat
die Bundesregierung erklärt, dass sich auch ehrenamtlich tätige Feuerwehrausbilderinnen und -ausbilder im
SGB-II-Bezug ihre pauschale Aufwandsentschädigung
auf den Regelsatz anrechnen lassen müssen. Eine Feuerwehrfrau aus dem Landkreis Ostprignitz/Ruppin muss
nun aufgrund der Auszahlungsweise der Aufwandsentschädigung sogar ALG-II-Bezüge zurückzahlen. Das ist
ungerecht und für niemanden nachvollziehbar.
Die Konsequenzen der aktuellen Rechtslage, die anhand der beiden genannten Beispiele deutlich werden,
müssen uns als Gesetzgeber aufhorchen lassen. Wenn die
Gewährung der Aufwandsentschädigung für ALG-II-Beziehende nur nach der Erfüllung umfangreicher Nachweispflichten erfolgt, ist dies kaum mit der von der Bundeskanzlerin angemahnten Anerkennung zu vereinbaren.
Betrachtet man die aktuelle Rechtslage etwas genauer,
stellt man fest, dass hinsichtlich des Charakters von Aufwandsentschädigungen von einer falschen Prämisse
ausgegangen wird. Aufwandsentschädigungen sind alleine schon vom Wortsinn her nicht mit Einkommen aus
Erwerbsarbeit gleichzusetzen. Es soll nicht die Arbeit
vergütet, sondern eine Entschädigung für die Aufwendungen, die in Rahmen der ehrenamtlichen Tätigkeit entstanden sind, geleistet werden. Wenn bürgerschaftlich
Engagierte im ALG-II-Bezug ihren Aufwand nicht vollständig ersetzt bekommen, müssen sie diese Kosten aus
dem Regelsatz bestreiten oder ihr Engagement sein lassen. Diese würde aber im Ergebnis darauf hinauslaufen,
das bürgerschaftliche Engagement zu einer Frage des
Geldbeutels wird.
Die Linke fordert, dass der Zugang zum bürgerschaftlichen Engagement allen Menschen in diesem Land gleichermaßen zusteht. Bürgerschaftliches Engagement ist
Bestandteil der gesellschaftlichen Teilhabe und darf weder unmittelbar noch mittelbar wirkenden gesetzlichen
Hürden für bestimmte Gruppen in der Gesellschaft unterliegen. Es darf kein bürgerschaftliches Engagement
erster und zweiter Klasse mehr geben.
Ich fordere Sie daher auf, unseren beiden Anträgen
zuzustimmen.
Das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und
zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch hat unter anderem zu Änderungen beim nicht
zu berücksichtigenden Einkommen sowie bei den Absetzbeträgen geführt. Dies hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Übungsleitertätigkeit, pauschale Aufwandsentschädigungen - etwa für kommunale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger - sowie für Einkommen,
etwa aus einer Erwerbstätigkeit.
In den Verhandlungen zum Regelbedarfsermittlungsgesetz konnten wir Grüne zwar die Bundesregierung davon überzeugen, die Übungsleiterpauschale nicht zu
streichen, dennoch kommt es durch die Neuregelung nun
in bestimmten Fällen zu Verschlechterungen. Dies tritt
etwa dann ein, wenn neben der Übungsleiterpauschale
von 175 Euro monatlich gleichzeitig Einkommen aus ErZu Protokoll gegebene Reden
werbstätigkeit, zum Beispiel aus einer geringfügigen Beschäftigung, erzielt werden. War es vorher etwa möglich, 175 Euro Übungsleiterpauschale plus 160 Euro
aus einem 400-Euro-Minijob zu behalten - 335 Euro
insgesamt -, gilt der Grundfreibetrag von 100 Euro
künftig für beide Tätigkeiten, sodass monatlich nur noch
270 Euro behalten werden dürfen - 175 Euro plus
95 Euro; entsprechend 20 Prozent des den Freibetrag
übersteigenden Betrags von 175 Euro -.
Bei pauschalen Aufwandsentschädigungen für kommunale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger sowie
Amtsträgerinnen und Amtsträger kam es zu Änderungen
dahin gehend, dass nunmehr bundesweit ein einheitlicher Grundfreibetrag von 175 Euro besteht und darüber
hinausgehende Entschädigungen wie Einkommen aus
Erwerbstätigkeit behandelt werden. Letztere Bezüge
werden aber gegenüber Einnahmen aus Erwerbstätigkeit insofern privilegiert, als ein erhöhter Grundfreibetrag von bis zu 175 Euro monatlich eingeräumt wird.
Während es vor dem 1. April 2011 je nach Bundesland und Kommune möglich war, dass etwa ein Bürgermeister im SGB-II-Bezug seine pauschale Aufwandsentschädigung von 500 Euro anrechnungsfrei behalten
durfte, kann er das seitdem nur noch bis zu einem Betrag
von 175 Euro. Alles, was darüber liegt, wird als Einkommen angerechnet. Aufwandsentschädigungen, die darüber hinaus liegen, sind nur dann anrechnungsfrei,
wenn der tatsächliche Aufwand belegt wird - zum Beispiel Fahrtkosten, Kleidergeld, Materialkosten -.
Art und Höhe der Aufwandsentschädigung sind in
landesgesetzlichen Satzungen festgelegt. Meist wird zwischen der monatlichen Pauschale - alles inklusive -,
Grundbetrag, Sitzungsgeld und Fahrtkosten unterschieden. Nicht in jedem Fall indes blieb die Aufwandsentschädigung bis zum 1. April 2011 anrechnungsfrei.
Überstieg etwa der monatliche Grundbetrag die Summe
von 175 Euro, wurde der übersteigende Betrag angerechnet, so die Bundesregierung in einer Antwort auf
eine Anfrage der Linken, Drucksache 16/9530. Zwar sei
der Bundesregierung keine unterschiedliche Handhabung der Grundsicherungsträger bekannt. Denkbar sei
es aber, „dass die Aufwandsentschädigungen für kommunale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger unterschiedlich landesgesetzlich geregelt sind, sodass unterschiedliche Entscheidungen gerechtfertigt wären“.
Wie schon zum Antrag der Bundesregierung zur Vierten
Änderung des SGB IV - Drucksachen 17/6764, 17/7991,
17/8003 - kritisieren wir, dass Aufwandsentschädigungen für kommunale Ehrenbeamte sowie für ehrenamtlich
in kommunalen Vertretungskörperschaften Tätige oder
für Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane, Versichertenälteste oder Vertrauenspersonen der Sozialversicherungsträger oberhalb einer Jahressumme von 2 100 Euro
als Einkommen berücksichtigt werden. Ich halte eine solche Rechtsauslegung bzw. -änderung für falsch. Gerade
ehrenamtliches Engagement in der Kommunalpolitik, in
der Rechtspflege und in öffentlich-rechtlichen Körperschaften wie der Selbstverwaltung der Sozialversicherung muss besonders anerkannt werden. Es bildet gewissermaßen das Wurzelwerk der Institutionen unseres
Rechts- und Sozialstaats.
Auch aus dem Grundgesetz ließe sich eine solche Argumentation begründen. So heißt es in Art. 28: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den
Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und
sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes
entsprechen. In den Ländern, Kreisen und Gemeinden
muss das Volk eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist.“
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/7646 und 17/7653 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind diese Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 22:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens ({0})
- Drucksache 17/7746 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Helmut Brandt, Gabriele
Fograscher, Manuel Höferlin, Frank Tempel und
Wolfgang Wieland.
In der heutigen Debatte beschäftigen wir uns in erster
Lesung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens.
Im Rahmen der Föderalismusreform 2006 wurde das
Meldewesen in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes überführt. Mit dem nun vorliegenden
Gesetzentwurf macht der Bund von dieser Kompetenz
Gebrauch und führt das bislang geltende Melderechtsrahmengesetz mit den bestehenden Meldegesetzen der
Länder in einem einheitlichen Gesetz zusammen.
Auch das Melderechtsrahmengesetz konnte zuletzt ein
Auseinanderlaufen der einzelnen Landesmeldegesetze
nicht mehr verhindern, weil die Schaffung von bundesweit gültigen technischen Standards im Meldewesen von
einer möglichst einheitlichen und zeitlich aufeinander
abgestimmten Umsetzung in den Ländern abhing. Es
stellte sich jedoch heraus, dass zum einen nicht alle Länder die Melderechtsrahmennovelle gleichzeitig in Landesrecht umsetzen konnten und dass zum anderen nicht
alle Länder über die dafür notwendige technische Infrastruktur verfügten.
Angesichts einer sich stetig wandelnden Informationsgesellschaft und zunehmend grenzüberschreitender
Bezüge bei Datenübermittlungen hat das Meldewesen
stetig an Bedeutung gewonnen. Vor diesem Hintergrund
ist die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angestrebte
Vereinheitlichung der unterschiedlichen landesrechtlichen Vorschriften dringend geboten.
Ziel der Vereinheitlichung ist eine verbesserte Informationsmöglichkeit der öffentlichen Stellen. Daher sieht
der Gesetzentwurf die Schaffung eines länderübergreifenden Onlinezugriffs durch Behörden auf Daten vorhandener Meldedatenbestände vor. Für Sicherheitsbehörden ist länderübergreifend ein Onlinezugriff auf die
Meldedaten rund um die Uhr vorgesehen. Um den Zugang zu den Meldebeständen zu erleichtern, wird den
Ländern die Möglichkeit eingeräumt, Abfrageportale zu
schaffen.
Neben der Vereinheitlichung sieht der vorliegende
Gesetzentwurf aber auch die Stärkung des Datenschutzes für die Bürgerinnen und Bürger vor.
In mehr als 5 200 Melderegistern werden die Daten
von rund 82 Millionen Bürgerinnen und Bürgern vorgehalten, Daten, die die Behörden benötigen, zum Beispiel
für die Berechnung der Rente oder des Elterngeldes.
Das Meldewesen ist gleichsam das „informationelle
Rückgrat“ der Verwaltung, der Bürgerinnen und Bürger,
aber auch der Wirtschaft. Das Melderegister ist zwar in
erster Linie ein behördeninternes Register, das sowohl
dem innerdienstlichen Gebrauch der Meldebehörden
dienen als auch das Informationsinteresse anderer Behörden befriedigen soll. Es hat jedoch außerdem den
Zweck, dem Informationsbedürfnis des privaten Bereichs, insbesondere der Wirtschaft, Rechnung zu tragen. Der vorliegende Gesetzentwurf trägt diesem Informationsinteresse, aber auch dem Schutz des Einzelnen
vor einem Missbrauch seiner Daten Rechnung, indem er
das Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung bei der Melderegisterauskunft stärkt.
Zukünftig kann jeder Bürger mittels der Onlineausweisfunktion des neuen Personalausweises, der Identifizierungsfunktion von De-Mail oder qualifizierter elektronischer Signatur auf elektronischem Wege Folgendes
vornehmen oder beantragen: Anmeldung, Selbstauskunft, Meldebestätigung und Meldeauskunft.
Im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kommt dabei der Selbstauskunft gemäß §§ 10 ff.
des Gesetzentwurfs eine besondere Bedeutung zu. Danach hat jede Person das Recht, zu erfahren, welche Daten der Behörde über sie vorliegen, woher die Daten
stammen und wer die Daten erhalten hat. Eine wesentliche Erleichterung stellt hier die Möglichkeit eines Datenabrufs im elektronischen Verfahren dar.
Leitlinie des vorliegenden Gesetzentwurfs ist neben
dem Datenschutzgesetz auch eine Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2006. Danach
darf die Meldebehörde eine einfache Melderegisterauskunft nicht erteilen, wenn diese erkennbar für Zwecke
der Direktwerbung begehrt wird und der Betroffene einer Weitergabe seiner Daten für solche Zwecke zuvor
ausdrücklich widersprochen hat.
Der Abruf melderechtlicher Daten für Zwecke der
Werbung und des Adresshandels darf gemäß § 44 Abs. 4
des Gesetzentwurfs daher nur erfolgen, wenn der Zweck
im Zuge der Anfrage angegeben wurde und wenn der
Betroffene nicht zuvor widersprochen hat.
Ein weiteres erklärtes Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist die Reduzierung des bürokratischen Aufwands und der dadurch entstehenden Kosten. Durch
Vereinfachungen bei der Hotelmeldepflicht und bei melderechtlichen Verpflichtungen von Krankenhäusern und
ähnlichen Einrichtungen entfallen künftig Bürokratiekosten für die Wirtschaft in Höhe von voraussichtlich
rund 117 Millionen Euro jährlich.
Bei der Hotelmeldepflicht wird darüber hinaus die
Aufbewahrungsfrist für die Meldescheine bundeseinheitlich auf ein Jahr verkürzt und die bislang in Landesmeldegesetzen vorgesehene Aushändigung an die Sicherheitsbehörden gestrichen.
Im Bundesmeldegesetz wird zudem, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, die Mitwirkungspflicht des
Vermieters bei der Anmeldung von Mietern wieder eingeführt. Dies ist ein wichtiger Schritt, um Scheinanmeldungen, also Anmeldungen für eine bestimmte Wohnung,
ohne dass ein Bezug der Wohnung erfolgt, zu erschweren.
Der vorliegende Entwurf, der unter Einbeziehung der
Länder zustande gekommen ist, ist fachlich und politisch
zu begrüßen. Ich bin überzeugt, dass er den technischen
Herausforderungen und fachlichen Anforderungen unserer Zeit genügt. An der einen oder anderen Stelle besteht möglicherweise noch Optimierungsbedarf. Dies
werden wir im weiteren Verfahren noch einmal genau
prüfen.
Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Die Meldegesetze in Deutschland sind bisher Landesgesetze. Der Bundesgesetzgeber ist bzw. war nur für ein
Melderechtsrahmengesetz zuständig. Verbindlich wurden Änderungen im Melderechtsrahmengesetz erst
dann, wenn sie in Landesrecht umgesetzt waren. Das
heißt, in Deutschland existieren 16 unterschiedliche
Formen von Melderegistern, die unterschiedliche Standards haben und nicht miteinander vernetzt sind. Es gibt
kommunale Melderegister und Landesmelderegister.
Dies ist weder zeitgemäß noch handhabbar. Eine moderne Verwaltung sieht anders aus.
Mit Beschluss der Förderalismuskommission I ist die
alleinige Gesetzgebungskompetenz auf den Bund übertragen worden. Der vorliegende Gesetzentwurf soll diesen Beschluss von 2006 nun umsetzen.
Ziel des Gesetzentwurfs ist die Rechtseinheit im Meldewesen durch bundesweit einheitliche Vorschriften und
Standards, sowohl für die mit dem Melderecht befassten
Behörden als auch für die Bürgerinnen und Bürger. Das
soll durch das Zusammenführen des Melderechtsrahmengesetzes mit den Landesmeldegesetzen geschehen.
Die Dienstleistungsfunktion des Meldewesens als zentraler Dienstleister für die Bereitstellung von Daten vor
allem für den öffentlichen Bereich wird gestärkt. Damit
soll eine bessere und effizientere Erledigung der öffentlichen Aufgaben ermöglicht werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Um diese Ziele zu erreichen, soll aber kein zentrales
Melderegister geschaffen werden. Bereits 13 Bundesländer haben zentrale Landesregisterstrukturen. Durch dieses Gesetz soll den Behörden des Bundes und der Länder
ein Onlinezugang zu diesen Meldedaten eröffnet werden. In den Bundesländern, wo es solche Register nicht
gibt, soll den Behörden Zugang zu den Datenbeständen
auf einer unteren Ebene eröffnet werden.
Wir begrüßen es ausdrücklich, dass keine neue Bundesdatei errichtet wird. 2006 gab es einen Vorschlag
vom damaligen Bundesinnenminister Schäuble, ein zentrales Melderegister in Form einer zusätzlichen, übergeordneten Datei zu schaffen. Dieses Vorhaben haben wir
als SPD-Bundestagsfraktion kritisiert.
Wir hatten bereits damals dafür plädiert, dass die bestehenden Register der Kommunen bzw. der Bundesländer vereinheitlicht, optimiert und vernetzt werden sollten. Wir wollten keine übergeordnete neue Bundesdatei.
Wir wollten nicht, dass die gleichen Daten mehrmals gespeichert werden; denn je mehr Daten an unterschiedlichen Orten gespeichert werden, desto größer ist die Gefahr des Datenmissbrauchs. Deshalb ist es gut und
richtig, dass der vorliegende Gesetzentwurf dieses damalige Vorhaben nicht weiter verfolgt, sondern auf die
vorhandenen Register zurückgreift und diese für alle Berechtigten zugänglich macht.
Der Gesetzentwurf regelt zum Beispiel, dass die Meldepflicht in Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen abgeschafft werden soll. Die Personalien der dort
aufgenommenen Personen werden sowieso gespeichert,
und deshalb erübrigt sich in Zukunft die Krankenhausmeldepflicht. Das führt zu einer Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, der Verwaltung und der Einrichtungen von Bürokratiekosten.
Der Bundesrat problematisiert in seiner Stellungnahme die Ausnahmen von der Meldepflicht.
In § 27 Abs. 1 des Gesetzentwurfs heißt es:
({0}) Eine Meldepflicht nach § 17 Absatz 1 und 2
wird nicht begründet, wenn eine Person, die für
eine Wohnung im Inland gemeldet ist, eine Gemeinschaftsunterkunft oder eine andere dienstlich bereitgestellte Unterkunft bezieht, um
1. Wehrdienst nach dem Wehrpflichtgesetz zu leisten,
2. Bundesfreiwilligendienst nach dem Bundesfreiwilligengesetz zu leisten,
3. Zivildienst nach dem Zivildienstgesetz zu leisten,
4. eine Dienstleistung nach dem Vierten Abschnitt
des Soldatengesetzes zu erbringen,
5. Dienst bei der Bundeswehr als Berufssoldat
oder Soldat auf Zeit zu leisten,
6. Vollzugsdienst bei der Bundes- oder der Landespolizei zu leisten oder
7. als Angehörige des öffentlichen Dienstes an
Lehrgängen oder Fachstudien zur Aus- und
Fortbildung teilzunehmen.
Der Bundesrat kritisiert, dass bisher nur Wehrpflichtige von der Meldepflicht befreit waren, nun aber auch
Zeit- und Berufssoldaten bzw. Zeit- und Berufssoldatinnen, die nicht verheiratet sind oder in einer eingetragenen Partnerschaft leben, ebenfalls unter diese Regelung
fallen sollen. Diese Neuregelung, so die Befürchtungen
der Bundesländer, würde für die Bundeswehrstandortkommunen finanzielle Einbußen bedeuten. Unberücksichtigt bleiben in der Stellungnahme des Bundesrates
die anderen in § 27 MeldFortG aufgeführten Ausnahmen.
Wir teilen die Sorgen der Standortkommunen und
nehmen diese ernst. Jedoch gebe ich zu bedenken, dass
bei der Neuregelung eine Gleichstellung von ledigen
und nicht in einer Partnerschaft lebenden Soldatinnen
und Soldaten mit verheirateten oder in einer Lebenspartnerschaft lebenden Soldatinnen und Soldaten
vorgenommen werden würde. Ob das eine finanzielle
Besserstellung für die Soldatinnen und Soldaten bedeutet, hängt von den Heimat- und Standortgemeinden ab.
Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages setzt
sich für die Neuregelung, also für die Befreiung von der
Meldepflicht für Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten, ein.
Ich gebe aber zu bedenken: Wenn wir bei der jetzigen
Meldepflicht für Bundeswehrangehörige bleiben, müsste
die Regelung auch für Angehörige des Bundesfreiwilligendienstes und der Bundespolizei gelten. Eine unterschiedliche Behandlung dieser Berufsgruppen führt zu
neuen Ungerechtigkeiten.
In den anstehenden Ausschussberatungen sollten wir
die Vor- und Nachteile der geltenden und der vorgeschlagenen Regelung sorgfältig diskutieren und gegeneinander abwägen.
Ein weiteres Thema, das ich ansprechen möchte, ist
die Melderegisterauskunft. Der Gesetzentwurf regelt,
dass derjenige, der berechtigt eine Melderegisterauskunft erhält, diese nur für den Zweck verwenden darf,
für den sie übermittelt wurde. Das gilt sowohl für die
einfache Melderegisterauskunft - § 44 - als auch für die
erweiterte Melderegisterauskunft - § 45 - und für die
Gruppenauskunft - § 46.
Dagegen haben sich mehrere Verbände wie der Bundesverband Deutscher Inkassounternehmen gewandt.
Sie beklagen, dass so die Nutzung der Daten für mehrere
Geschäftsvorgänge nicht möglich sei und auch die Weitergabe an Dritte verhindert werde.
Was die Nutzung der Daten für mehrere Geschäftsvorgänge angeht, sollten wir überlegen, hier eine Lösung zu finden, die den Interessen der Unternehmen entgegenkommt, aber den Datenschutz nicht aufweicht.
Eine Weitergabe der Meldedaten an Dritte kommt für
uns nicht infrage und ist auch nicht erforderlich. Wir
wollen keine privaten Datenpools oder Schattenmelderegister. Damit wäre der Datenschutz nicht mehr garanZu Protokoll gegebene Reden
tiert, und Auskunftssperren könnten unterlaufen werden.
Auch wenn die betroffenen Verbände und Unternehmen
beklagen, dass so Mehrkosten für sie entstehen würden,
so kann dieser unternehmerische Mehraufwand nicht
zulasten des Datenschutzes gehen.
Der Regierungsentwurf ist eine gute Beratungsgrundlage. Über die Fragen, die noch zu beantworten
sind, werden wir in den anstehenden Ausschussberatungen diskutieren und entscheiden.
Heute beraten wir in erster Lesung den Entwurf eines
Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens. Eine
Reform des Meldewesens ist schon lange überfällig und
erstmals haben wir eine bundeseinheitliche Lösung, die
das bisherige Rahmengesetz ablöst. Aufgrund der Föderalismusreform I wird das Melderechtsrahmengesetz mit
den Landesgesetzen in einem Bundesmeldegesetz zusammengeführt.
Die vorhandene, historische, föderale Struktur der
Meldebehörden kann in dieser Form nicht befriedigend
die Herausforderungen moderner Informationstechnologie stemmen. Zwar müssten Änderungen des Melderechtsrahmengesetzes von den Ländern umgesetzt
werden, das Rahmengesetz liefert hier aber nicht hinreichend festen Grund, auf dem eine IT-Infrastruktur gebaut werden muss. Damit eine Zusammenarbeit in der
digitalen Welt auch über den Tellerrand der eigenen
Kommune hinaus funktionieren kann, muss ein einheitliches Regelwerk geschaffen werden.
Bisher verlief die Umstellung auf neue Kommunikationstechnologien schleppend und von Bundesland zu
Bundesland unterschiedlich. Meldebehörden waren
nicht einheitlich mit Hardware ausgestattet und die Infrastruktur war uneinheitlich. Vor allem durch verschiedene Schnittstellen und Softwarelösungen war oft schon
an der Landesgrenze oder schon auf kommunaler Ebene
Schluss. Deshalb sind bundesweit gültige technische
Standards im Meldewesen so wichtig. Das neue Meldegesetz ist ein wichtiger Baustein dazu.
Was wäre denn die Alternative? Es bliebe doch nur
die analoge Führung der Melderegister mit Akten und
Papier, um Informationen über Ländergrenzen hinweg
zu übermitteln! Wenn das die beste Lösung ist und die
höchste Kunst darstellen soll, na dann: Gute Nacht!
Diesen Zustand kann heute, im Jahre 2012, keiner ernsthaft wollen! Die digitale Welt ist bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. Der Bundestag hat die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
eingesetzt und berät dort über die Welt von morgen und
den Stand der Technik. Wir wollen eGovernment! Verwaltungsmodernisierung steht auf unseren Fahnen. Ein
effizienter und damit auch möglichst schlanker Staat ist
unser Ziel. Verwaltungsmodernisierung ist auf der politischen Agenda weit oben. Diesen umfassenden Prozess
fördern wir mit dem neuen Meldegesetz.
Mit der Föderalismusreform I haben wir die Möglichkeiten für eine besser abgestimmte Umsetzung geschaffen, die ein modernes, maßgeschneidertes Meldewesen ermöglicht. Dabei haben wir auch die Situation
der Länder berücksichtigt, die natürlich nicht einheitlich über dieselbe Infrastruktur verfügen. Insbesondere
haben wir uns bewusst gegen ein neues Daten-KrakenMonster entschieden, das im Gewand eines einzigen
großen Bundesmelderegisters daherkommt. Das ist die
konsequente Haltung der FDP-Fraktion im Bundestag.
Wir stehen ein für diese dezentrale, föderale Lösung. Sie
ist nicht zuletzt auch aus IT-Sicherheitsgründen der
richtige Ansatz.
Nun kommen mit dem Bundesmeldegesetz erstmals
rechtseinheitliche deutschlandweite Vorschriften für die
Bürgerinnen und Bürger sowie für die zuständigen Behörden. Damit ist der Weg für ein modernes Meldewesen
geebnet, das sich mit den Jahren zum unerlässlichen
Werkzeug für alle Verwaltungsbereiche entwickelt hat.
Nicht zuletzt die Bürger profitieren von einem funktionierenden modernen Meldewesen. Alle haben etwas davon, dass die Vereinheitlichung der Rechtsgrundlagen
die Verwaltung effizienter macht.
Der Zugang zu Meldedaten kommt langsam in der digitalen Welt an. Heute haben wir in dreizehn Bundesländern zentrale Registerstrukturen auf Landesebene mit
guten Ansätzen für Onlinezugänge. In den übrigen Ländern muss dafür, zumindest vorerst, bei den kommunalen
Melderegistern angesetzt werden. Wir sind auf dem richtigen Weg. Nur ein einheitliches Melderecht kann auch
der Verwaltungsmodernisierung gerecht werden und
sich den Anforderungen der vernetzten Welt stellen.
Diese Umstellung führt unterm Strich für die Wirtschaft
zu einer Entlastung von Bürokratiekosten von rund
117,1 Millionen Euro jährlich. Das ist in jetzigen Zeiten
ein nicht zu verachtender Betrag.
Von den vielen kleinen Anpassungen und Änderungen
im Vergleich zum bestehenden Melderechtsrahmengesetz möchte ich eine besonders hervorheben. Meldepflichtige sollen sich wieder die Unterschrift des Wohnungsgebers holen, wenn sie umziehen. Damit sollen
Vermieter auch eine realistische Chance haben, zu erfahren, wer überhaupt bei ihnen wohnt oder angeblich
wohnen soll. In der Vergangenheit hat dies gerade in
größeren Städten zu unnötigen Konflikten und aberwitzigen Situationen geführt. Wenn das SEK bei mir im
Wohnzimmer steht, weil eine polizeilich gesuchte Person
sich eben einmal so unter meiner Anschrift gemeldet hat,
ist die kleine Hürde der Unterschrift nun wirklich zu vernachlässigen.
Nach dieser ersten Lesung heute sind wir in unserer
Aufgabe als Parlamentarier gefordert, vereinzelt Fragen zu beantworten, die der Entwurf möglicherweise offenlässt. Wir arbeiten an der Feinjustierung des Entwurfs. Auf die Diskussionen im Ausschuss freue ich mich
schon.
Manchmal lohnt es sich doch, die Geschichte von Gesetzentwürfen genauer anzusehen. Nicht immer, vielleicht sogar nie, ist das, was im Laufe der Verfahren herausgenommen wird, auch wirklich weg. Für diesen
Entwurf heißt das: Wer ursprünglich - und das immer
Zu Protokoll gegebene Reden
wieder - ein zentrales Melderegister gefordert und dazu
sogar mit Überlegungen zu einheitlichen Identifikationsnummern geliebäugelt hat, der ist davon nicht grundsätzlich abgerückt, nur weil es im Wortlaut des jeweils aktuellen Entwurfs nicht mehr auftaucht. Die Linke bleibt
dabei: Auch miteinander verknüpfte dezentrale Melderegister dürfen nicht zu einer solchen Identifikationsnummer führen, mit deren Hilfe sich dann eine praktisch unbegrenzte Zahl von Dateien außerhalb des Meldewesens
verknüpfen ließe.
Mit dem jetzt vorliegenden Gesetz soll das Melderecht in Deutschland vereinheitlicht werden. Ein zentrales Melderegister wird damit nicht eingeführt, wohl aber
der automatisierte Zugriff auf die 5 200 Melderegister
ermöglicht. Angesichts der technischen Entwicklung ist
das fast so gut wie ein Zentralregister. Umso schärfer
wären deshalb Umfang der erfassten Daten, Zweckbindung bei Abruf bzw. Weitergabe und Zugriffsberechtigte
zu prüfen.
Im Gegensatz zu den Forderungen des Bundes- und
der Landesdatenschützer werden aber die Datensätze
bzw. die erfassten Daten keineswegs auf ihre Kernaufgaben reduziert. Mit diesen sollten ursprünglich die Identität und der Wohnsitz der Einwohner festzustellen und
zu registrieren sein - mehr nicht. Mehr ist heute immer
noch nicht nötig. Bemerkenswert ist an dieser Stelle Folgendes: Während Sie in Ihrem Gesetzentwurf bei den
Datensätzen zu wenig reduzieren wollen, können Sie das
andererseits bei den Auskunftsrechten der Betroffenen
ziemlich gut. Hier wird plötzlich und bezeichnenderweise über die Datenverwendung und bei den Einspruchsmöglichkeiten nicht in erforderlichem Umfang
auf deren Erweiterung gesetzt.
Gar nicht zu akzeptieren ist es, dass nach Ihren Plänen für öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften
die Meldebehörden als regelrechte Serviceeinrichtungen
fungieren sollen, die auch die Daten der Angehörigen,
die nicht Mitglied der entsprechenden Religionsgemeinschaft sind, übermitteln dürfen. Gruppenauskünfte sollen erteilt werden können mit mehr als 14 Grunddaten;
das dabei zu berücksichtigende Interesse wird bei Wissenschaft und Forschung sowie der Gesundheitsvorsorge offensichtlich grundsätzlich vorausgesetzt.
Wenn man sich ihren Gesetzentwurf genauer anschaut, muss man feststellen, dass offensichtlich auch
längst nicht alle Forderungen der Datenschützer umgesetzt wurden. Forderungen aus den Reihen der wirtschaftlichen Nutzer der Meldedaten lassen zudem befürchten, dass hier im Laufe der parlamentarischen
Beratung noch nachgelegt werden soll. Das lässt zumindest eine Stellungnahme des Verbandes der Anbieter von
Telekommunikations- und Mehrwertdiensten e. V. ahnen, die sich gegen die restriktive Zweckbindung bei der
Melderegisterauskunft ausspricht. Ihr Ziel: Eine automatisierte Bonitätsprüfung bei Vertragsabschlüssen,
zum Beispiel beim Abschluss von DSL-Verträgen oder
Ähnlichem, soll jederzeit möglich sein. Im Verlauf der
parlamentarischen Debatte wird deshalb sehr genau zu
untersuchen sein, wie weit die vom Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar noch in Bezug auf einen Vorläuferentwurf eingeforderten Ziele annähernd konkret erfasst
sind. Ich erinnere Sie an dieser Stelle gerne noch einmal
daran, was der Bundesdatenschutzbeauftragte als Kriterien bei der Fortentwicklung des Meldewesens formuliert hat: Beschränkung der Aufgaben der Meldebehörden auf den Identitätsnachweis, schlanker, gesetzlich
festgelegter Merkmalskatalog, strenge Zweckbindung
der über die Grunddaten hinausgehenden Angaben, gesetzlich festgelegte Betroffenenrechte: gebührenfreie
Auskunft, Berichtigung, Löschung, Unterrichtung über
die Erteilung sogenannter erweiterter Auskünfte, Übermittlungs- und Auskunftssperren.
Der Bundestag hat auch zu prüfen, ob dies in der von
allen Fraktionen gemeinsam verabschiedeten Beschlussempfehlung zum 22. BfDI-Bericht ernsthaft beachtet worden ist, in der es unter Punkt 14 heißt: „In jedem Fall muss das Melderecht grundsätzlich auf seine
Kernfunktionen beschränkt werden. Die bisherige Praxis der listenmäßigen Übermittlung von Einwohnerdaten an Dritte sollte überprüft werden.“
Angesichts der von der Bundesregierung und ihrer
Vorgängerin kostenträchtig in den Sand gesetzten Großprojekte wie ELENA und elektronische Gesundheitskarte muss auch die Frage nach den in diesem Gesetzentwurf gemachten Einsparungsversprechen genauer
untersucht werden. Auf den ersten Blick macht ja schon
stutzig, dass die versprochenen Einsparungen vom Vorläufer des heutigen Gesetzes, einem Referentenentwurf
aus dem Jahre 2008, in etwa denen entsprechen, die
heute erreicht werden sollen. In dem damaligen Referentenentwurf war zu lesen, dass „die Saldierung erwarteter Mehrkosten und erwarteter Kostenreduzierungen zu
einer Bürokratiekostenentlastung von rund 119,4 Millionen Euro“ führen werde. Heute heißt es: „Die Saldierung erwarteter Mehrkosten und erwarteter Kostenreduzierungen führt vor diesem Hintergrund für die
Wirtschaft zu einer Entlastung von Bürokratiekosten von
rund 117,1 Millionen Euro jährlich.“ Interessant ist die
Frage, wo die 2 Millionen Euro geblieben sind.
Damals wurde mit dieser Rechnung ausdrücklich für
ein Bundeszentralregister geworben - also für das, was
mit dem heutigen Entwurf gerade nicht angestrebt
wird -, und doch bewegen sich die Einsparungen in derselben Höhe. Erinnert sei an die Auseinandersetzungen
um die Einsparungen bzw. die tatsächlichen Mehrkosten
bei ELENA. Die Berechnungen der Bundesregierung
und die Berechnung des Städte- und Gemeindetages differierten um zig Millionen Euro. Am Ende hatte sich einmal mehr die Bundesregierung verrechnet. Wie bei
ELENA muss auch bei diesem IT-Großprojekt noch genauestens geprüft werden, ob nicht die Kosten der öffentlichen Hand und die Einsparungen der Wirtschaft
bloße Propaganda sind.
Die Hoffnung der Bundesregierung, dass wir „Mit einem einheitlichen Melderecht … das Meldewesen als
,informationelles Rückgrat‘ für die Verwaltung, Wirtschaft und die Bürgerinnen und Bürger stärken“ werden, muss unserer Meinung nach also als ernste Drohung aufgefasst werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Föderalismuskommission I hat schon vor sechs
Jahren den Weg eröffnet und das Meldewesen zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes gemacht. Wolfgang
Schäuble brachte es als damaliger Bundesinnenminister
nur zu einem ersten Referentenentwurf. Nun soll es also
tatsächlich ein Bundesmeldegesetz geben.
Über Sinn und Unsinn eines bundesweit vollständig
einheitlichen Melderegisters mag man debattieren, ob
das mit diesem Gesetz effektiver gelingt als mit dem alten Rahmengesetz ebenso. Es ist ja schon erfreulich,
dass man, wie noch bei Herrn Schäuble, nicht auch
gleich noch die biometrische Vollerfassung mit geregelt
hat. Aber ob nun Bundes- oder Landesrecht, die Fragen
beim Melderecht bleiben die gleichen: Was wird gespeichert? Wer hat Zugang? An wen darf weitergegeben
werden? Wie steht es um die Sicherung der Daten?
Die Daten, die gespeichert werden, sind - bis auf den
Doktortitel, dazu komme ich später - die üblichen; da
gibt es nichts auszusetzen.
Schon schwieriger ist die Frage des Zugangs zu den
Meldedaten, insbesondere des gewerbsmäßigen Zugangs. Es gilt, die Balance zu finden zwischen der Erfüllung legitimer Auskunftsbegehren, etwa im Rahmen der
Melderegisterauskunft auf der einen Seite und dem
Schutz der individuellen Daten auf der anderen Seite. Im
Rahmen des europäischen Projekts RISER wurden und
werden hierzu entsprechende Verfahren entwickelt. Wir
werden im weiteren Verfahren prüfen müssen, ob hier
die Grenzen richtig gezogen sind, ob der Wunsch nach
Schutz der eigenen Daten in das richtige Verhältnis zu
den berechtigten Interessen Dritter gesetzt wurde. Eng
damit in Zusammenhang steht die Frage der Mitteilungspflichten der Meldebehörden an eine Person, wenn
ihre Daten weitergegeben wurden. Ebenso eng damit
verbunden ist die Frage nach den Bedingungen für eine
Auskunftssperre. Alles dies ist zu prüfen, um den Anforderungen des Datenschutzes und der informationellen
Selbstbestimmung Rechnung zu tragen.
Besonderes Augenmerk verdient auch die Frage nach
der Datensicherheit. Es wird bisher zwar nur angedeutet,
dass dieses Meldegesetz auch als Grundlage für eine
elektronische Auskunft dienen soll; aber wenn dem so ist,
dann müssen alle Speicherungs- und Weitergaberegelungen auch daraufhin geprüft werden, ob etwa der Zugang
zu Registerauskünften per Internet auch zu höheren Hürden oder besonderen Restriktionen führen muss. Außerdem ist auf hohe technische Sicherungsstandards zu achten. In der Vergangenheit gab es genügend Fälle, in
denen öffentlich geführte Daten durch technische Unzulänglichkeiten oder nicht sachgemäße Bedienung der
entsprechenden Technik offen zugänglich wurden.
Zum Grundsätzlichen und Allgemeinen kommt noch
eine wichtige Einzelheit: der Doktorgrad. Warum die
Bundesregierung immer noch daran festhält, ihn - nicht
aber einen Professorentitel oder auch andere Berufsbezeichnungen oder Bildungsabschlüsse - in Melderegister, Personalausweis und Reisepass aufzunehmen, bleibt
ihr Geheimnis. Im Pass steht er, entgegen allen internationalen Usancen und mit entsprechender Irritation bei
nicht wenigen ausländischen Einreisekontrolleuren und
Zollbeamten. Wir sagen schon lange: Das ist überflüssig; der Doktorgrad trägt zur Identifikation der Person
nicht bei, und hilft auch sonst nicht bei der Erfüllung eines erkennbaren Zwecks des Meldegesetzes. Was man
nicht braucht soll man aber auch nicht speichern. - Wir
werden, wie bei Pass und Personalausweis, also auch
hier einen entsprechenden Antrag vorlegen, wonach der
Doktorgrad aus der Meldekartei zu streichen ist.
Ich fürchte, wir werden in den nächsten Wochen noch
umfangreiche Diskussionen erleben, die erheblich von
spezifischen wirtschaftlichen Interessen an Daten geprägt sind. Wir werden alles daransetzen, dass Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung nicht aufs
Spiel gesetzt werden.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/7746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({0}), Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Flughafenasylverfahren abschaffen
- Drucksache 17/9174 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Helmut Brandt, Rüdiger
Veit, Hartfrid Wolff, Annette Groth, Josef Philip
Winkler.
In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen die Abschaffung des Flughafenasylverfahrens
gemäß § 18 a Asylverfahrensgesetz. Begründet wird der
Antrag damit, dass sich seit der Einführung des Flughafenverfahrens die tatsächlichen Verhältnisse durch einen
Rückgang der Personen, die in einem Flughafenverfahren um Asyl nachsuchen, erheblich verändert hätten.
Insbesondere vor diesem Hintergrund sei eine „Freiheitsentziehung“, gesprochen wird auch von „Inhaftierung“, nicht mehr zeitgemäß. Schon die Begriffe „Freiheitsentziehung“ und „Inhaftierung“ in Zusammenhang
mit dem Flughafenasylverfahren sind unangemessen
und obendrein juristisch falsch und dienen ausschließlich der Stimmungsmache.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 14. Mai 1996 festgestellt, dass das Flughafenasylverfahren verfassungsgemäß ist und dass die
für die Dauer des Asylverfahrens auf maximal 19 Tage
befristete Unterbringung im Transitbereich weder eine
Freiheitsentziehung noch eine Freiheitsbeschränkung
im rechtlichen Sinne darstellt. Zu Recht: Das Grundrecht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor
staatlichen Eingriffen. Sein Gewährleistungsinhalt umfasst von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenzt
überall aufhalten und überallhin bewegen zu dürfen.
Demgemäß liegt eine Freiheitsbeschränkung nur vor,
wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen
Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich
- tatsächlich und rechtlich - zugänglich ist. Das ist hier
aber gerade nicht der Fall. Jeder Staat ist berechtigt,
den freien Zutritt zu seinem Gebiet zu begrenzen und für
Ausländer die Kriterien festzulegen, die überhaupt erst
zum Zutritt auf das Staatsgebiet berechtigen.
Diese Kriterien hat der Gesetzgeber unter anderem in
Form des § 18 a Asylverfahrensgesetz bestimmt. Er hat
damals darauf reagiert, dass Asyl nicht nur massenhaft
beantragt wurde, sondern insbesondere weithin - und
das nach wie vor - ungerechtfertigt zum asylfremden
Zweck der Einwanderung begehrt wird. Dabei hat er
diejenigen Ausländer in § 18 a Asylverfahrensgesetz
einbezogen, die entweder aus einem sicheren Herkunftsstaat kommen oder sich nicht mit einem gültigen Pass
oder Passersatz ausweisen können und den Versuch unternehmen, auf dem Luftweg in die Bundesrepublik
Deutschland zu gelangen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schreibt hierzu
in ihrem Antrag: „Dies führt dazu, dass Personen, die
mangels gültiger Reisedokumente auch nicht freiwillig
ausreisen können, teils über Wochen und Monate faktisch inhaftiert sind.“ Liebe Kolleginnen und Kollegen
von Bündnis 90/Die Grünen: Woran liegt es denn, dass
diese Personen keine gültigen Reisepapiere haben? Ich
sage Ihnen, woran das liegt. Tatsächlich ist es so, dass
immer wieder Menschen, die in Europa Asyl beantragen, sich gezielt vor ihrer Einreise ihrer Papiere entledigen, weil sie nämlich genau wissen, dass wir sie nicht
zurückschicken können, bis - in einem oftmals langwierigen Verfahren - Herkunftsland und Identität nachgewiesen sind. Im Klartext: Diese Situation wird von den
illegal Einreisenden bewusst und gezielt herbeigeführt.
Aus eben diesem Grund werden meine Kollegen und ich
von der Union an dem Flughafenverfahren gemäß § 18 a
Asylverfahrensgesetz trotz zwischenzeitlich gesunkener
Asylbewerberzahlen festhalten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen, Sie wissen selbst, dass es sich bei den Personen, die hier am Flughafen ankommen und Asyl begehren, häufig um Personen handelt, die aus sicheren
Drittstaaten kommen oder die bewusst ohne gültige Ausweispapiere kommen und die von Schlepperbanden nach
Deutschland geschleust werden. Einmal eingereist, melden sich nur wenige bei den deutschen Behörden; sie
tauchen unter. Deshalb brauchen wir das Flughafenverfahren. Denn nur das Flughafenverfahren bietet die Gewähr dafür, dass Personen nach einer Ablehnung ihres
Asylantrags unverzüglich - unter Ausnutzung von Rücktransportverpflichtungen der Fluggesellschaften und
völkerrechtlichen Rücknahmepflichten der Abflug- oder
Herkunftsstaaten - in den Staat des Abflughafens zurückgeführt werden, aber eben nur, wenn das Asylverfahren vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland durchgeführt wird. Die aus § 18 a Asylverfahrensgesetz folgende Einschränkung der Bewegungsfreiheit kann deshalb nicht unserem Land angelastet
werden.
Abgesehen davon finde ich es keineswegs humaner,
diese Menschen erst einreisen zu lassen, um sie dann mit
sehr hoher Wahrscheinlichkeit erst nach einer langwierigen Feststellung ihrer Identität und der weiteren Feststellung, dass sie aus einem sicheren Herkunftsland
kommen, Monate später wieder zurückzuführen. Gerade
vor diesem Hintergrund ist das Flughafenverfahren in
meinen Augen auch unabhängig davon, ob Asylbewerberzahlen sinken oder steigen, notwendig und richtig.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von Bündnis 90/
Die Grünen, hier von „Inhaftierung“ sprechen, ist das
nicht nur unangemessen, sondern auch verantwortungslos; denn Sie schüren Emotionen in einer Debatte, die
wir sachgerecht führen sollten.
Das Asylrecht für politisch Verfolgte ist bei uns
grundgesetzlich verankert. Wirklich politisch Verfolgten
werden wir weiterhin Schutz und Zuflucht gewähren.
Ziel sollte es aber auch bleiben, eine unberechtigte Berufung auf das Asylrecht zu verhindern und diejenigen
Ausländer von einem langwierigen Asylverfahren auszuschließen, die unseres Schutzes nicht bedürfen, weil sie
offensichtlich nicht oder nicht mehr aktuell politisch
verfolgt sind. Denn Asylpolitik ist keine Politik des Augenblicks, sondern muss langfristig angelegt werden.
Sie muss sich immer wieder - auch kurzfristig - auf
schwierige weltpolitische Ereignisse und Gegebenheiten
einstellen und sich auch und gerade dann bewähren.
Eine Lockerung der derzeitigen Regelung in Form des
§ 18 a Asylverfahrensgesetz, die sich über Jahre bewährt hat, wird es deswegen mit uns nicht geben.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, von 1998 bis 2005 hatten Sie unter
einem SPD-Bundesinnenminister Otto Schily und einem
Vizekanzler und Bundesaußenminister Joschka Fischer
von den Grünen sieben Jahre Zeit, das Flughafenasylverfahren abzuschaffen - sieben Jahre! Sie haben es
aber nicht abgeschafft. Eine durch den damaligen Bundesinnenminister Otto Schily eingesetzte Arbeitsgruppe
hat das Flughafenasylverfahren gerade auf seine Verhältnismäßigkeit hin untersucht. Im Ergebnis hat Herr
Schily und haben in der Folge auch Sie am Flughafenverfahren zu Recht festgehalten. Ich bin mir sicher, Sie
wussten, warum. Ihren Antrag lehnen wir ab.
Als Gegner des sogenannten Asylkompromisses, dessen Folge nicht nur die Einführung des Art. 16 a Grundgesetz war, sondern eben auch die Schaffung des Flughafenasylverfahrens, war ich immer auch ein Gegner
dieses Verfahrens und bin es im Grunde immer noch.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bei Einführung des Flughafenverfahrens 1993 waren
die Unterbringungsmöglichkeiten an den Flughäfen katastrophal und die vom Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge innerhalb von 48 Stunden zu treffenden Entscheidungen häufig fehlerhaft. Vor allem dank des auch
sehr öffentlichkeitswirksamen Einsatzes vieler NGOs
hat sich die Durchführung des Verfahrens heute deutlich
verbessert. Auch der Standard der Unterbringungssituation ist erheblich angehoben geworden. Ich selbst habe
mich von Beginn des Neubaus der Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge in der Cargo-City Süd des
Frankfurter Flughafens an immer wieder persönlich von
den Fortschritten überzeugt. Wenn ich Bedenken an der
Ausführung hatte - was in einigen Fällen so war -, habe
ich mich schriftlich an das Innenministerium gewandt.
Das Flughafenasylverfahren wurde zu einer Zeit geschaffen, als in Deutschland über 400 000 Asylanträge
jährlich gestellt wurden. Seither sind die Zahlen immer
weiter zurückgegangen. 2009 waren laut Statistik des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge insgesamt
435 Personen im Flughafenverfahren gemeldet, 2010
waren es 736 und 2011 waren es 819. Auch wenn die
Tendenz in den letzten drei Jahren leicht steigend ist, so
sind diese Zahlen insgesamt immer noch sehr niedrig.
Es ist also vollkommen berechtigt, nachzufragen, ob
ein Verfahren, das einen derart geringen Anwendungsbereich hat, weiter sinnvoll und zweckmäßig ist, auch
angesichts der Kosten, die die Bereitstellung der Unterbringungsfazilitäten und des Personals verursachen.
Vor diesem Hintergrund habe ich Bedenken, ob es wirklich notwendig ist, im neuen Flughafen Berlin Brandenburg eine Unterbringungseinrichtung für im Durchschnitt 30 Asylsuchende zu schaffen. Aus der Antwort
der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke geht hervor, das die Bundesregierung mit
durchschnittlich 300 Flüchtlingen pro Jahr auf dem
Flughafen Berlin Brandenburg rechnet. Mir erscheinen
diese Zahlen überzogen: 2011 lagen für Berlin zwölf
Meldungen vor.
Über Asylersuche im Flughafenverfahren muss innerhalb von 48 Stunden entschieden werden. Daran hält
sich das Bundesamt auch. Gegen eine negative Entscheidung kann innerhalb von drei Tagen vorläufiger
Rechtsschutz beantragt werden. Über diesen Antrag
wird in einem Eilverfahren ohne mündliche Verhandlung
innerhalb von 14 Tagen entschieden. Das Verfahren soll
also insgesamt nicht länger als maximal 19 Tage dauern.
Durch Rechtsänderungen im Jahr 2007 ist es ausdrücklich ermöglicht worden, zurückgewiesene Personen im Transitbereich des Flughafens festzuhalten, bis
die Ausreise aus der Bundesrepublik möglich ist; allerdings nur bis spätestens 30 Tage nach Ankunft am Flughafen. Danach bedarf es zur weiteren Aufrechterhaltung
der Zurückweisungshaft einer richterlichen Anordnung.
Diese Haft kann für eine Dauer von bis zu sechs Monaten angeordnet werden. In Fällen, in denen der Ausländer seine Abschiebung verhindert, kann sie um höchstens zwölf Monate verlängert werden.
Die zum Teil längeren Verweildauern im Flughafenverfahren ergeben sich also aus der Dauer des Aufenthalts bis zur Zurückweisung oder bis zur Einreise in die
Bundesrepublik. 2011 wurde allerdings zum Beispiel nur
eine Person sechs Monate bis zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland auf dem Flughafen Frankfurt
festgehalten; bis zur Zurückschiebung waren es in zwei
Fällen sechs bzw. sieben Monate.
Das ist meiner Ansicht nach eine zu lange Zeit in haftähnlichen Bedingungen für einen Menschen, der nichts
verbrochen, sondern um Asyl nachgesucht hat. Allerdings ist das Zahlenmaterial nicht gerade erdrückend.
Und das Problem liegt eher oder zumindest doch
auch bei den allgemeinen Regeln der Abschiebehaft. Die
diesbezüglichen Regelungen des Aufenthaltsgesetzes
müssen insbesondere auf ihre Vereinbarkeit mit der
Rückführungsrichtlinie ({0}) und der Asylverfahrensrichtlinie ({1}), in der es in Art. 18 heißt:
„Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein
deshalb in Gewahrsam, weil sie ein Asylbewerber ist“,
überprüft werden. Darauf sollten wir unser Augenmerk
richten, und das werden wir in meiner Fraktion auch tun
und dann konkrete Vorschläge für eine Verbesserung der
Situation machen.
Im Flughafenverfahren landen natürlich auch Personen, die in Anwendung der Dublin-II-Verordnung ohne
weitere Prüfung der Asylgründe in das sichere Erstaufnahmeland zurückgeführt werden. § 34 a Asylverfahrensgesetz schließt in solchen Fällen einen einstweiligen
Rechtsschutz aus - wobei demgegenüber der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 21. Dezember 2011 auch bei Dublin-Überstellungen die Möglichkeit eines einstweiligen Rechtsschutzes verlangt.
Hier muss sich etwas ändern, das ist auch unsere Meinung. Allerdings bedarf es auch hier eher einer Änderung des Dublin-II-Verfahrens insgesamt.
Aus meiner Sicht spricht vieles für den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen; allerdings haben wir uns in der
Fraktion noch keine abschließende Meinung gebildet.
Zudem arbeiten wir in den genannten Bereichen an eigenen Vorschlägen.
Das Projekt „Flughafen Berlin Brandenburg International“ existiert seit über zwei Jahrzehnten. An den Grünen scheint dies weitgehend vorbeigegangen zu sein. Jedenfalls nehmen sie die baulichen Vorkehrungen des in
sechs Wochen in Betrieb gehenden Flughafens für das
Flughafenverfahren jetzt plötzlich zum Anlass, mal wieder einen ihrer beliebten asylpolitischen Rundumschläge zu starten.
Wie immer in solchen Fällen diffamieren sie dabei
das Vorgehen des Rechtsstaates. Dass dies sehr wohl
gute Gründe haben kann, die eindeutig auch im Interesse des Betroffenen, hier eines Asylantragsteller, sein
können, übersehen sie dabei geflissentlich.
Ich meine, dass das zügige Verfahren auch sein Gutes
hat - gerade für die Betroffenen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
Die Grünen kritisieren, dass sich der Flughafen Berlin Brandenburg bereits auf die Durchführung des Flughafenasylverfahrens einstellt. Das ist typisch widersprüchlich: Was wäre, wenn es keine Vorbereitungen
dafür gäbe? Da wären Sie von den Grünen, den Linken
und der SPD doch die Allerersten, die das als menschenunwürdig anprangern würden.
Die Grünen schießen zudem mit ihrem Antrag über
das Ziel hinaus: Sie sagen selbst, dass es nur eine geringe Anzahl an Fällen für das Flughafenverfahren pro
Jahr gibt. Eine Abschaffung wäre schon alleine aus diesem Grund nicht erforderlich.
Deshalb wäre ich sehr erfreut, wenn die Grünen oder
Linken zur Abwechslung einmal nicht ihre immer gleichen Vorschläge unterbreiteten, wie ausländerrechtliche
Verfahren noch länger gedehnt und Ab- oder Ausweisungen unmöglich gemacht werden können, sondern stattdessen vielleicht einmal einen Vorschlag machten, wie
man rasch zu einer angemessenen Entscheidung kommt.
Natürlich muss über das europäische Asylsystem weiter beraten und nachgedacht und das auch bei den anstehenden Verhandlungen zum Ausdruck gebracht werden.
In diesem Zusammenhang plakativ von menschenund europarechtswidrigen Bestimmungen des deutschen
Rechts zu sprechen, wie das die Antragsteller schon wiederholt getan haben, ist völlig überzogen.
Ob tatsächlich das von Regierungen vereinbarte Europarecht, wie die Grünen das schon mutig behaupteten,
das Verfassungsrecht, etwa des Parlamentarischen Rates
in Deutschland, bricht, darüber hat Karlsruhe sich bislang nicht so eindeutig geäußert.
Als Parlamentarier finde ich, dass Recht, das direkt
aus einer demokratisch-parlamentarischen Willensbildung entsteht, grundsätzlich Vorrang vor intergouvernementalen Vereinbarungen haben sollte. Da ist der demokratische Einfluss mir denn doch zu indirekt. Insofern
sind Reformen zur Stärkung der parlamentarischen Demokratie auf europäischer Ebene geboten.
Dass die EU-Kommission eine immer stärkere Harmonisierung im Bereich Asyl anstrebt, begrüßen wir
aber ausdrücklich. Der Druck auf die anderen Staaten,
mindestens auch die Mindeststandards zu erfüllen, darf
auf gar keinen Fall geringer werden.
Der Schutz von Menschen in Not ist für uns ein hohes
Gut. Ungesteuerte Zuwanderung aber bringt vor allem
die schwächeren unserer Gesellschaft in eine immer
schwierigere Lage.
Deshalb werden wir uns auch der Verantwortung für
die Teile unserer Gesellschaft nicht entziehen, die durch
ungesteuerte Zuwanderung, wie sie die Grünen und
auch die Linken hartnäckig fordern, nichts zu gewinnen
haben.
Umgekehrt bleibt es wichtig, dass diejenigen, die berechtigterweise Asyl in Deutschland begehren, auch anerkannt werden. Zum Rechtsstaat gehört, dass es gegen
amtliche Entscheidungen Rechtsmittel geben muss. Die
Grünen ignorieren absichtlich, dass das Schutzniveau in
Deutschland - rechtlich und tatsächlich - zu den höchsten der Welt gehört. Das könnten Sie wenigstens einmal
anerkennen, anstatt immer den Teufel an die Wand zu
malen.
Natürlich müssen wir immer wieder die getroffenen
Regelungen überprüfen: Wird durch diese oder jene Änderung das Schutzniveau verringert? Wie kann allen Interessen in der Praxis Rechnung getragen werden?
Die Entwicklung wird immer im Fluss sein; ein Verharren in überkommenen Denkstrukturen darf es nicht
geben. Die Europäische Union und Deutschland müssen
ihrer Schutzverpflichtung gegenüber Flüchtlingen immer gerecht werden. Und das werden sie auch, auch bei
Beibehaltung des Flughafenasylverfahrens.
Die FDP wird in der Koalition mit der CDU/CSU die
Asylpolitik weiterhin verantwortungsbewusst und sensibel entwickeln und die EU-Planungen konstruktiv begleiten.
Das Flughafenasylverfahren ist Teil des unmenschlichen Asylverfahrens in Deutschland, das nur den Zweck
hat, Flüchtlinge abzuschrecken und das Grundrecht auf
Asyl immer weiter einzuschränken. Mit dem Flughafenasylverfahren wurde eine besonders menschenverachtende Form der Flüchtlingsabwehr entwickelt. Um
Flüchtlinge erst gar nicht nach Deutschland einreisen zu
lassen, werden die hilfesuchenden Menschen sofort nach
ihrer Ankunft auf dem Gelände des Flughafens im Transitbereich weggesperrt. In den Abschiebegefängnissen
im Transitbereich der Flughäfen wird den Menschen der
Zugang zu einem grundgesetzlich garantierten Recht auf
Asyl durch ein Schnellverfahren verwehrt.
Pro Asyl hat mehrfach darauf hingewiesen, dass das
Flughafenverfahren mit einem menschenrechtlich vertretbaren Asylverfahren nicht zu vereinbaren ist.
Vielfach werden die durchgeführten Anhörungen im
Flughafenasylverfahren nicht mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt. Auch das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR hat das Flughafenverfahren als äußerst
problematisch bezeichnet.
In den letzten zehn Jahren wurden mehr als 3 000 Asylsuchende im Rahmen des Flughafenverfahrens abgelehnt, und ihnen wurde die Einreise nach Deutschland
verweigert. 2009 wurden 435 Anträge auf Asyl durch
Flüchtlinge gestellt, die über einen internationalen
Flughafen nach Deutschland einreisen wollten, 2010
waren dies 735 Flüchtlinge und 2011 714 Flüchtlinge.
Auch aufgrund dieser niedrigen Zahlen wird überdeutlich, dass dieses Verfahren völlig unnötig ist. Es dient
einzig und allein der Abschreckung und soll potenzielle
Flüchtlinge aus Deutschland fernhalten.
Die Fraktion Die Linke unterstützt die Evangelische
Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die
das sofortige Ende des Flughafenasylverfahrens und das
Recht aller Flüchtlinge auf den sofortigen Zugang zum
normalen rechtsstaatlichen Asylverfahren ohne vorherige Schnellverfahren gefordert hat. Das FlughafenverZu Protokoll gegebene Reden
fahren pervertiert die Idee des Asylrechts, so wie es im
Grundgesetz Deutschlands verankert ist. Deutschland
und die Europäische Union haben sich in den letzten
20 Jahren zu einer Festung entwickelt. Menschen in Not
haben immer weniger eine Chance, ihr grundgesetzlich
verankertes Recht auf Asyl wahrzunehmen. Durch die
restriktive Flüchtlingspolitik wird Flüchtlingen die Einreise nach Deutschland verwehrt, und sie werden ihrem
Schicksal überlassen.
Am Flughafen in Frankfurt am Main liegt die größte
dieser Einrichtungen. Von 1999 bis 2008 fanden dort
mehr als 2 740 Flughafenasylverfahren statt. Alle diese
Verfahren wurden vom Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge abgelehnt. Bis Ende September 2011
wurden 278 minderjährige Flüchtlinge von der Bundespolizei aufgegriffen. In 31 Fällen wurden die Kinder zurückgeschoben, ohne das zuständige Jugendamt einzuschalten. Ein solches Vorgehen der Bundespolizei stellt
einen klaren Verstoß gegen die Anforderungen aus der
UN-Kinderrechtskonvention dar, die dem Kindeswohl
den absoluten Vorrang bei allem staatlichen Handeln
einräumt.
Alleinreisende Minderjährige haben ein Recht auf
eine sorgsame und altersgerechte Betreuung und Hilfe.
Das Jugendamt muss automatisch eingeschaltet werden,
wenn ein minderjähriger Flüchtling aufgegriffen wird.
Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf einen
Vormund, der sich um asyl- und aufenthaltsrechtliche
Fragen der Kinder und Jugendlichen kümmert. Ausdrücklich verstößt es gegen die Rechte des Kindes, wenn
unbegleitete Flüchtlingskinder in Haft genommen
werden. Die Fraktion Die Linke verlangt von der Bundesregierung, dass dieses Verhalten der Bundespolizei
sofort beendet wird und die Rechte der Kinder geschützt
werden.
Die geplante Errichtung eines Abschiebegefängnisses im Berlin-Brandenburger Willy-Brandt-Flughafen
ist eine Schande für den Namen Willy Brandts, der mit
seinem Nord-Süd-Forum für die solidarische Hilfe des
reichen Nordens gekämpft hat. Dieser Abschiebeknast
wird auf massiven Druck der Bundesregierung gegen
den Widerstand der Brandenburger Landesregierung
gebaut. Ziel der Bundesregierung ist, dieses undemokratische und menschenrechtsfeindliche Verfahren zu einem
EU-weiten Standard zu machen.
Die Fraktion Die Linke empfindet einen solchen
Umgang mit Menschen als völlig inakzeptabel und tritt
seit langem für die Abschaffung des Flughafenasylverfahrens ein. Dieser bürokratische Irrsinn auf Kosten der
Asylsuchenden muss endlich ein Ende haben. Bund und
Länder sollten endlich auf das Flughafenverfahren verzichten. Die freiwerdenden Ressourcen lassen sich zum
Schutz von Flüchtlingen wirkungsvoller verwenden. Den
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen können wir vollinhaltlich unterstützen.
Mit dem vorliegenden Antrag fordern wir zum einen,
dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt,
mit dem das in § 18 a Asylverfahrensgesetz, AsylVfG,
vorgesehene Flughafenasylverfahren abgeschafft wird,
und zum anderen, dass die Bundesregierung entsprechende Vorbehalte gegen die Vorschläge der Europäischen Kommission zur Änderung der Aufnahmerichtlinie und der Verfahrensrichtlinie fallen lässt.
Das Flughafenverfahren - § 18 a AsylVfG - kann insbesondere auf Asylsuchende angewendet werden, die bei
ihrer Einreise am Flughafen Asyl beantragen und aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ stammen oder keinen
gültigen Reisepass besitzen. Die Asylsuchenden werden
dann während des Asylverfahrens vor der Einreise auf
dem Gelände des Flughafens im Transitbereich untergebracht. Über den Asylantrag soll das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, binnen zwei Tagen nach
Ankunft entscheiden. Gegen eine negative Entscheidung
des BAMF kann der Asylsuchende - in einer gegenüber
dem regulären Asylverfahren nochmals verkürzten Frist von nur drei Tagen das Verwaltungsgericht anrufen, das in einem Eilverfahren ohne mündliche Verhandlung entscheidet. Die sich daraus ergebende maximale
Unterbringungsdauer am Flughafen von 19 Tagen wird
in der Praxis allerdings häufig deutlich überschritten.
So kam es im Jahr 2011 in der Flughafenunterkunft am
Frankfurter Flughafen in vielen Fällen zu Verweildauern von mehr als 30 Tagen - bei einigen Asylantragstellern von über 100 Tagen!
Das Flughafenverfahren wurde 1993 zu einem Zeitpunkt eingeführt, als in Deutschland jährlich über
400 000 Asylanträge gestellt wurden. Seitdem haben
sich die tatsächlichen Verhältnisse erheblich geändert.
Haben im Jahr 1995 insgesamt 4 590 Personen in einem
Flughafenverfahren um Asyl nachgesucht bzw. nachsuchen müssen, sind dies 2010 nur noch 735 Flüchtlingen, von denen 57 in das Flughafenverfahren übernommen wurden ({0}).
Flughafenverfahren werden derzeit in nennenswertem Umfang nur in Frankfurt am Main durchgeführt; die
Zahl der Flughafenverfahren in Hamburg, Düsseldorf,
München und Berlin-Schönefeld ist äußerst gering.
Nunmehr werden jedoch auf dem neuen Berliner Großflughafen BBI in großem Stile die Voraussetzungen für
die Durchführung von Flughafenverfahren geschaffen darunter auch eine Unterbringungseinrichtung, in der
durchschnittlich bis zu 30 Asylsuchende zumindest bis
zur Entscheidung über ihren Asylantrag verbleiben sollen. Dabei sind die geschätzten Fallzahlen - die Bundesregierung geht von circa 300 Flughafenverfahren jährlich am Standort BBI aus - nirgends belegt und völlig
überzogen. Diese Zahlen sowie die Tatsache, dass die
Bundesregierung gegenüber dem Land Brandenburg
trotz der hohen Kosten für die Baumaßnahmen auf der
sofortigen Einführung eines Flughafenverfahrens am
Flughafen BBI bestanden hat, dienen offensichtlich dem
Zweck, ihre Verhandlungsposition gegenüber der EUKommission und den anderen Mitgliedstaaten bei der
Neuverhandlung der EU-Richtlinien zum Asylverfahren
zu stützen. Die Bundesregierung hat selbst ausgeführt,
dass „ein auch nur vorübergehender Verzicht auf das
Flughafenverfahren die deutsche Verhandlungsposition
Zu Protokoll gegebene Reden
schwächen könnte“ ({1}).
Seit der Einführung des Flughafenverfahrens in
Deutschland haben sich aber auch die europarechtlichen Rahmenbedingungen grundlegend geändert.
Denn nunmehr gibt es zu den Bereichen Asylverfahren,
Aufnahmebedingungen und Rückführungsbedingungen
mit den Richtlinien 2003/09/EG, Aufnahmerichtlinie,
2005/85/EG, Verfahrensrichtlinie, sowie 2008/115/EG,
Rückführungsrichtlinie, europäische Vorgaben, in deren
Bild das deutsche Flughafenverfahren nicht mehr passt.
Schon bei seiner Einführung wurde das Flughafenverfahren von Wohlfahrtsverbänden, Menschenrechtsorganisationen und Kirchen heftig kritisiert; die grundsätzlichen Bedenken gegen dieses Verfahren und seine
gravierenden Folgen für die Schutzsuchenden bestehen
unverändert fort.
Die Betroffenen werden für einen nicht genau definierten Zeitraum in einer haftähnlichen Lage gehalten.
Das widerspricht Art. 6 der Rückführungsrichtlinie, die
für eine Inhaftierung zum Zwecke der Rückführung eine
vorherige Rückkehrentscheidung verlangt. Vor einer solchen Entscheidung ist eine Freiheitsentziehung unzulässig. Auch Art. 18 der Verfahrensrichtlinie schließt eine
Freiheitsentziehung nur aus dem Grunde, dass eine Person Asylbewerber ist, aus.
Die Anhörung der Asylsuchenden findet unmittelbar
nach der Ankunft am Flughafen in einer außergewöhnlich schwierigen und stressbeladenen Situation statt.
Eine Anhörung unter den Bedingungen einer haftähnlichen Situation kann den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Anhörung nach Art. 12 der Verfahrensrichtlinie nicht gerecht werden. Eine unabhängige
Rechtsberatung vor der Anhörung ist nicht vorgesehen.
Extrem kurze Rechtsbehelfs- und Begründungsfristen
erschweren die Wahrnehmung des Rechtsschutzes. Ermittlungen und Nachfragen sind unter diesem extremen
Zeitdruck kaum möglich. Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte, EGMR, sieht in fehlendem effektiven Rechtsschutz eine Verletzung des Rechts auf eine
wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK ({2}).
Auch Kinder und unbegleitete Minderjährige müssen
das Flughafenverfahren durchlaufen und werden in der
Flughafenunterkunft untergebracht. Gleiches gilt für
andere besonders schutzbedürftige Personen, wie etwa
Opfer von Folter und Gewalt. Doch gerade Folteropfer,
Traumatisierte und Minderjährige benötigen besondere
Unterstützung und Hilfe, um die wichtigen Befragungen
durch die Bundespolizei und das BAMF zu bewältigen,
sowie angemessene Unterbringung und Betreuung, welche im Transitbereich von Flughäfen nicht gewährleistet
sind. Vielmehr stellen die haftähnliche Unterbringung,
die Isolierung von der Außenwelt und die ungewisse Situation eine massive psychische Belastung dar, die auch
immer wieder zu Suizidversuchen führt.
Am Flughafen werden zudem ohne klare rechtliche
Grundlagen Verfahren im Rahmen der europäischen Zuständigkeitsregelung für die Behandlung von Asylanträgen, Dublin-II-Verordnung, durchgeführt. Der Europäische Gerichtshof, EuGH, hat am 21. Dezember 2011
entschieden, dass es im Rahmen von Dublin-II-Verfahren keine automatischen Rückschiebungen in denjenigen
Staat geben darf, der formal für die Behandlung von
Asylgesuchen zuständig ist, wenn es dort systemische
Mängel gibt. Derartige Defizite im Asylverfahren oder
drohende unmenschliche Behandlung können im Flughafenverfahren im Einzelfall nicht wirksam vorgebracht
werden. Rechtsschutz gegen eine Überstellung im Dublin-II-Verfahren ist in der Kürze der Zeit praktisch nicht
möglich.
Während der Gesetzgeber bei der Einführung des
Flughafenverfahrens noch von einer maximalen
Verweildauer in der Flughafenunterkunft von wenigen
Tagen ausging, wird dieser Zeitraum in vielen Fällen
dramatisch überschritten, seit eine Gesetzesänderung
vom August 2007 auch das Festhalten von abgelehnten
Asylsuchenden, deren Zurückweisung nicht vollzogen
werden kann, über längere Zeiträume ermöglicht. Dies
führt dazu, dass Personen, die mangels gültiger Reisedokumente auch nicht freiwillig ausreisen können, teils
über Wochen und Monate faktisch inhaftiert sind.
Das Flughafenverfahren bleibt ein Eilverfahren, das
auf Fehler angelegt ist, weil unter dem Druck der Fristen und in der verlangten Eilgeschwindigkeit nicht mit
der notwendigen Sorgfalt und einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung verantwortlich über Menschenleben
entschieden werden kann. Hinzu kommt der physische
und psychische Druck auf Flüchtlinge unter den Bedingungen hermetischer Abriegelung in der Flughafenunterkunft.
Die gravierenden menschlichen Härten und substanziellen rechtsstaatlichen Defizite sprechen auch vor dem
Hintergrund der seit der Einführung des Flughafenverfahrens deutlich zurückgegangenen Flüchtlingszahlen
für die Abschaffung dieses Sonderverfahrens. So hat
sich auch der Landtag Brandenburg im Februar 2012
für die Abschaffung des Flughafenverfahrens ausgesprochen ({3}).
Das deutsche Flughafenverfahren ist auch nicht mit
den zwischenzeitlich weiterentwickelten europäischen
Verpflichtungen zum internationalen Schutz vereinbar.
Nicht zuletzt aus diesem Grunde wehrt sich die Bundesregierung bei den Verhandlungen zur Änderung der
Aufnahmerichtlinie und der Verfahrensrichtlinie gegen
Vorschläge für verbesserte Schutznormen. Die Bundesregierung muss endlich eine konstruktive Verhandlungsposition einnehmen und diese Vorbehalte fallen lassen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9174 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 24:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Tankred
Schipanski, Dr. Stefan Kaufmann, Albert
Rupprecht ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Martin Neumann
({1}), Patrick Meinhardt, Dr. Peter Röhlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Exzellente Perspektive für den wissenschaftlichen Nachwuchs fortentwickeln
- Drucksache 17/9396 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Tankred Schipanski,
Dr. Stefan Kaufmann, Swen Schulz, Dr. Martin
Neumann, Dr. Petra Sitte und Krista Sager.
Allen Unkenrufen der Opposition zum Trotz ist es um
die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in
Deutschland sehr gut bestellt. Durch die Exzellenzinitiative, den Hochschulpakt, den Qualitätspakt Lehre und
den Pakt für Forschung und Innovation hat diese Bundesregierung nicht zuletzt auch die Beschäftigungsbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs nachhaltig verbessert. Das Programm „Zeit gegen Geld“
sowie die Einführung der familienpolitischen Komponente im Wissenschaftszeitvertragsgesetz leisten darüber hinaus einen Beitrag zur besseren Vereinbarkeit
von Familie und Wissenschaftsberuf.
Die Situation der Postdoktoranden hat sich in den
vergangenen Jahren erheblich verbessert. Wurden im
Jahr 2005 noch 184 Nachwuchsforschergruppen an außeruniversitären Forschungseinrichtungen gezählt, waren es 2010 bereits 406 - ein Zuwachs von 120 Prozent.
Die Anzahl der von der DFG geförderten Postdoktoranden hat sich zwischen 2005 und 2009 von 711 auf 1 037
erhöht - ein Zuwachs von 46 Prozent. Diese Trends halten weiter an. Zusammenfassend kann man also festhalten: Die Situation der Postdoktoranden ist in Deutschland so gut wie nie zuvor.
Auch bei den Doktoranden gab es gute Fortschritte.
Das Promotionssystem hat sich in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt und differenziert. Die in der Bundesrepublik besonders große Vielfalt der Promotionsverfahren bietet Doktoranden in zunehmendem Maße die
Möglichkeit, gemäß ihren individuellen Talenten den
richtigen Weg für eine erfolgreiche Promotion auszuwählen. Als zukunftsweisend betrachten wir insbesondere Promotionskollegs, die großen Wert auf eine klare
Strukturierung des Qualifikationsprozesses anhand
transparenter Leistungsvorgaben legen.
Trotz dieser positiven Entwicklungen gibt es in einigen Bereichen auch Verbesserungsmöglichkeiten. Einige dieser Punkte wurden in den bereits debattierten
Anträgen der Opposition aufgegriffen. Wir wollen den
jungen Menschen, die eine wissenschaftliche Karriere
einschlagen, noch bessere, verlässlichere und auf ihre
unterschiedlichen Talente und Begabungen zugeschnittene Karrierewege eröffnen. Dazu machen wir in unserem Antrag eine Vielzahl an Vorschlägen. Lassen Sie
mich drei Kernbestandteile unseres Antrags herausgreifen.
Die Evaluation des im April 2007 in Kraft getretenen
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes durch die HIS GmbH
hat ergeben, dass 83 Prozent der wissenschaftlichen
Mitarbeiter in Deutschland in einem befristeten Beschäftigungsverhältnis angestellt sind. Die Hälfte der
Verträge der an Hochschulen beschäftigten Postdocs
hatte zum Zeitpunkt der Untersuchung eine Laufzeit von
weniger als einem Jahr. Unser Antrag soll einen Beitrag
dazu leisten, die seit dem Inkrafttreten des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes zu beobachtende überbordende Befristungspraxis zu stoppen. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Damit junge Wissenschaftler ihre
Potenziale voll entfalten können, brauchen sie verlässliche und planbare Karriereperspektiven. Zu große existenzielle Unsicherheiten hemmen sie hingegen in ihrer
Leistungsfähigkeit.
Deshalb fordern wir, die Laufzeit von sachgrundlos
befristeten Beschäftigungsverhältnissen grundsätzlich
an die Laufzeit der Projekte zu koppeln, in denen die
Nachwuchswissenschaftler beschäftigt sind. Für Doktoranden in der Qualifikationsphase soll die Vertragslaufzeit dem für das Qualifikationsvorhaben erforderlichen
Zeitbedarf entsprechen. Wenn die Vertragsdauer diesem
Zeitbedarf nicht entspricht, muss die Betreuungsvereinbarung eine - gegebenenfalls mehrstufige - Verlängerungsoption nach Erreichen bestimmter Zielvereinbarungen vorsehen, sodass bei erbrachter Leistung
Planbarkeit bis zum Qualifizierungsziel besteht. Das
Stellensplitting in Einheiten von weniger als einer halben Stelle muss gänzlich unterbleiben.
Zweitens wollen wir der Juniorprofessur in Deutschland wie international zu mehr Akzeptanz zu verhelfen.
Dazu sollen diese in einem ersten Schritt flächendeckend
in Assistenzprofessuren aufgehen. Durch diese Maßnahme soll nicht zuletzt auch mehr internationale Vergleichbarkeit mit dem angelsächsischen „Assistant Professor“ oder dem französischen „professeur assistant“
geschaffen werden. Seit der Einführung der Juniorprofessur stellen wir jedoch auch fest, dass die Probleme
dieser Stellenkategorie tiefer liegen. Insbesondere die
sechs- bis siebenjährige Befristung ist für viele Forscher
nicht attraktiv. Generell vertreten wir die Auffassung,
dass durch die vorherrschenden Personalstrukturen
keine ausreichenden Anreize für eine Karriere im Wissenschaftssystem eröffnet werden.
Vielmehr ist die derzeitige Stellenstruktur durch einen
enormen Flaschenhals unterhalb der W-3-Professur gekennzeichnet. Derzeit werden lediglich 14 Prozent der
Stellen von Professoren besetzt. Ihnen stehen über
80 Prozent weisungsabhängiges, zumeist befristet beschäftigtes Personal gegenüber. Eine Vollprofessur zu
erreichen, ist derzeit in der Regel die einzige langfristige
Karriereperspektive im Wissenschaftssystem und gleichzeitig nur sehr schwer erreichbar.
Deshalb fordern wir drittens - spätestens hier stellt
unser Antrag gegenüber den Oppositionsanträgen eine
substanzielle Weiterentwicklung dar - mit der Associate
Professur die Schaffung einer neuen Stellenkategorie.
Diese Stellen sollen unbefristet und in die Besoldungsgruppen W2 oder gar W3 eingruppiert sein. Sie sollen
Nachwuchsgruppenleitern, Habilitanden und Juniorprofessoren gleichermaßen offenstehen. Die neue Professorenkategorie stellt einen attraktiven Zwischenschritt auf dem Weg zur vollen W-3-Professur dar.
Besonders leistungsstarken Juniorprofessoren - künftig:
Assistenzprofessoren - könnte bereits nach der ersten
positiven Evaluation eine solche Professur angeboten
werden. Aber auch herausragenden Nachwuchswissenschaftlern kann eine solche Stelle deutlich früher als bisher berufliche Planungssicherheit verschaffen und zu ihrem Verbleib im Wissenschaftssystem beitragen.
Dies sind die drei Kernforderungen unseres Antrags.
Selbstverständlich sind längerfristige Vertragslaufzeiten, eine neue Stellenkategorie und die Umgestaltung
der Juniorprofessur nicht ohne die Unterstützung der
Länder zu machen. Wir appellieren daher an sie, gemeinsam mit den Hochschulen Veränderungen im Sinne
der Nachwuchswissenschaftler in unserem Land herbeizuführen. Die grundsätzliche Verantwortung für das wissenschaftliche Personal und eine auskömmliche Finanzierung der Hochschulen liegt bei den Ländern. Der
Bund kann lediglich über die Pakte zur Finanzierung
der Hochschulen beitragen und tut dies seit Jahren in
erheblichem Ausmaß.
Lassen Sie mich kurz einen weiteren Forderungspunkt ansprechen. Eine erhebliche Zahl der Doktoranden promoviert nicht mit dem Ziel, eine Karriere in der
Wissenschaft zu beginnen, sondern um sich für eine anspruchsvolle Tätigkeit außerhalb des Wissenschaftssystems zu qualifizieren. Um den bevorstehenden Berufseinstieg auch dieser jungen Menschen möglichst
frühzeitig einzuleiten, müssen die Hochschulen geeignete Personalentwicklungsmöglichkeiten schaffen. Dazu
zählen Angebote zum Erlernen von Eigenverantwortung, Selbstständigkeit, Mitarbeiterführung sowie weiterer berufsrelevanter Schlüsselqualifikationen, aber auch
Beratungsangebote und eine verstärkte Zusammenarbeit mit möglichen Arbeitgebern.
Einige unserer Forderungen, zum Beispiel die zuletzt
vorgetragene, richten sich explizit an die Hochschulen. In
diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich den Beschluss der Hochschulrektorenkonferenz vom 24. April
2012 loben. Die HRK-Mitgliederversammlung hat sich
darin auf Leitlinien für befristete Beschäftigungsverhältnisse in den Hochschulen geeinigt. Die Hochschulen
bekennen sich zu planbaren und verlässlichen Karriereperspektiven sowie zu verantwortungsbewusster Personalentwicklung auf Grundlage der Kriterien Transparenz, Planbarkeit und Gleichstellung. Auch fordern sie
überfachliche Fortbildungen und Unterstützung bei der
Karriereplanung von Nachwuchswissenschaftlern.
Die HRK greift also einige der in unserem Antrag an
sie gerichteten Forderungen explizit auf. Ich freue mich
sehr, dass wichtige in unserem Antrag formulierte Verbesserungsmöglichkeiten auf die Zustimmung der Hochschulen stoßen, auch wenn unseres Erachtens insbesondere im Hinblick auf die Befristungspraxis noch
weiterführende Beschlüsse wünschenswert gewesen wären.
Noch vor zehn Jahren klagte die deutsche Wissenschaft über den Braindrain, also über die Abwanderung
deutscher Spitzenwissenschaftler vor allem in die USA.
Heute haben wir diesen Trend gestoppt. Viele Spitzenwissenschaftler kehren sogar nach Deutschland zurück.
Maßgeblich dazu beigetragen hat die deutsche Exzellenzinitiative, die ungeahnte Kräfte im deutschen Hochschulsystem freigesetzt hat. Deutsche Universitäten und
die außeruniversitären Forschungseinrichtungen sind
attraktiv wie nie. Wir haben es geschafft, wieder zur
Weltspitze aufzuschließen.
Das Verdienst hierfür liegt weder allein parteipolitisch
bei den vergangenen Regierungskoalitionen auf Bundesebene noch bei denen auf Länderebene. Diese erfolgreichen Bemühungen sind die Früchte einer Gesamtanstrengung von Politik und Wissenschaft in den vergangenen
zehn Jahren. Ein aktuelles und sehr gutes Beispiel für
diese gemeinsame Anstrengung ist das KIT, das Karlsruher Institut für Technologie. Die grüne Wissenschaftsministerin in Baden-Württemberg, Theresia Bauer, setzt
die erfolgreiche Politik der christlich-liberalen Vorgängerregierung fort und stärkt die Selbstständigkeit des
Instituts, mit Unterstützung aller Fraktionen in BadenWürttemberg. Durch das neue Gesetz erhält das KIT die
Dienstherrnfähigkeit und Arbeitgebereigenschaft für
seine Beamten und Arbeitnehmer. Die Berufung von Professoren und anderem Personal führt das KIT zukünftig in
Eigenregie durch. Die Fachaufsicht über den Universitätsbereich gibt das Land weitgehend auf, und das KIT
wird selbst Eigentümer des Vermögens. Zusätzlich wird
der Spielraum des KIT für Unternehmensgründungen und
für die Beteiligung an Unternehmen erweitert. Damit
werden in gemeinsamer Anstrengung die internationale
Wettbewerbsfähigkeit dieser Eliteuniversität weiter erhöht und die Attraktivität für den wissenschaftlichen
Nachwuchs weiter gestärkt.
Auch die neue Rangliste der Alexander-vonHumboldt-Stiftung zeigt, dass das deutsche Wissenschaftssystem für ausländische Topforscher so attraktiv
wie nie zuvor ist. Darauf können wir - damit meine ich
auch die Kollegen von der Opposition - stolz sein. Wir
haben damit exzellente Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland geschaffen und
sollten dies parteiübergreifend auch mehr betonen, insbesondere im Ausland.
Nichtsdestotrotz wird von einigen zu Recht auf
weiterhin bestehende Defizite hingewiesen, die wir
abstellen müssen. Dazu gehört nicht nur die durch ein
Zu Protokoll gegebene Reden
Urteil des Bundesverfassungsgerichts neuzuordnende
Professorenbesoldung; es bestehen auch Defizite in
anderen Bereichen, angefangen bei der mangelnden
Datenerhebung bis hin zu Befristungsproblemen an den
Hochschulen.
Selbstverständlich können wir nicht all diese Defizite
abstellen und insbesondere nicht bundesgesetzlich
regeln. Vieles kann nur auf Landesebene oder auch nur
direkt durch die Hochschulen gelöst werden. Zu Letzterem zählen insbesondere eine übermäßige Bürokratie
oder lange Bewerbungsverfahren, die eine Universität
wenig attraktiv machen. Für die weitere Verbesserung
der Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses
haben alle Fraktionen im Bundestag ihre Vorstellungen
in Anträgen festgehalten.
Bevor ich die Vorstellungen der CDU/CSU-Fraktion
für die weitere Verbesserung der Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses erläutere, möchte ich kurz
auf einige Punkte der Opposition eingehen.
In den Anträgen der Opposition sind einige sinnvolle
Forderungen enthalten, die auch wir unterstützen bzw.
vertreten. So ist die von der SPD geforderte zukünftige
einheitliche Erfassung aller Promovierenden mit Sicherheit der erste wichtige Schritt, um überhaupt Problemfelder besser erkennen zu können. Wir gehen deshalb
sogar noch einen Schritt weiter und fordern eine vollständige Datengewinnungsstrategie bezüglich des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland. Nur so
können wir unsere politischen Entscheidungen zukünftig
auf eine noch fundiertere Grundlage stellen und somit zu
den besten Ergebnissen kommen.
Weitere Gemeinsamkeiten ergeben sich, erstens, bei
der Forderung nach einem konsequenten Ausbau von
Modellen der strukturierten Doktorandenausbildung,
zweitens, bei der Forderung nach einem einheitlichen
Doktorandenstatus, drittens, bei der Forderung nach
einer stärkeren Entkopplung von Betreuung und Bewertung des Promovierenden und, viertens, bei der Forderung nach einer Betreuungsvereinbarung zwischen Doktorand und Betreuer, die bei allen Promotionsformen zu
Beginn geschlossen wird und unter anderem eine bindende Aussage über das Verhältnis von Lehrverpflichtung, Arbeitsbelastung und Zeit für die Promotion enthält.
Außerdem fordern wir von den Hochschulen Personalentwicklungs- und Karriereförderungskonzepte für
ihre Nachwuchswissenschaftler. Damit werden die
Hochschulen auch ihrer weitergefassten Verantwortung
als Arbeitgeber gerecht. Dazu gehört im Übrigen auch
unsere Forderung nach einer besseren Vereinbarkeit von
Familie und Beruf an den Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Konkret meinen
wir damit den Ausbau von Kinderbetreuungsangeboten,
die grundsätzliche Anwendung der familienpolitischen
Komponente im Wissenschaftszeitvertragsgesetz und vor
allem die Berücksichtigung von Schwangerschaften und
Elternzeiten bei Stipendien. Als Vorbild möchten wir an
dieser Stelle die Maßnahmen der Initiative „Familie in
der Hochschule“ nennen, die von der Robert-Bosch-Stiftung, dem Bundesministerium des Innern und dem CHE,
dem Centrum für Hochschulentwicklung, gefördert werden. Mit einer konsequenten Umsetzung dieser Maßnahmen könnte mit Sicherheit auch eine Verbesserung des
Anteils von Frauen an den Professuren erreicht werden.
Auch bei der Analyse der übermäßigen Befristungspraxis gibt es Gemeinsamkeiten. In der Doktorandenphase sind Befristungen sinnvoll, da es sich hier um
Qualifikationsphasen handelt. Allerdings muss das Stellensplitting in Einheiten von weniger als einer halben
Stelle gänzlich unterbleiben.
Im Postdoc-Bereich muss es hingegen viel mehr unbefristete Stellen geben. Wir bieten den Hochschulen
über den Hochschulpakt bis 2020 eine sichere Finanzierung. Diese Sicherheit muss zumindest ansatzweise auch
an die Beschäftigten weitergegeben werden: Eine sichere Finanzierung muss auch sichere Stellen bedeuten.
Für den Bereich der Drittmittelfinanzierung muss gelten: Projektdauer gleich Vertragsdauer. Ständige Befristungen führen sicher nicht dazu, dass unsere Hochschulen oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen
die besten und motiviertesten Mitarbeiter gewinnen.
Eine Streichung der Tarifsperre im Wissenschaftszeitvertragsgesetz, wie von der SPD und den anderen Oppositionsparteien gefordert, wäre hingegen nicht zielführend, außer dass sich die Tarifpartner, wie schon in der
Vergangenheit, auf nichts einigen könnten. Dies gilt,
zumal die Kolleginnen und Kollegen von der SPD die
Tarifsperre in ihrer Regierungszeit bis 2009 selbst mitgetragen haben. Ihre Forderung ist also nichts als Oppositionsgehabe. Zu diesem Oppositionsgehabe zähle
ich auch die Forderung der Linken nach 10 000 Postdoc-Stellen. Denn gleichzeitig legt die rot-rote Regierung in Brandenburg Hochschulen zwangsweise zusammen. Wie das zusammenpasst, können wahrscheinlich
nur die Linken erklären.
Auch die Forderung der Grünen nach 4 000 neuen
Professorenstellen oder die der SPD nach 2 500 neuen
Professorenstellen ist nachvollziehbar; jedoch sehe ich
im Moment keinen finanziellen Spielraum, um Programme in einem solchen Umfang starten zu können. Ich
bin jedoch auf die Maßnahmen der rot-grünen bzw. der
grün-roten Landesregierungen gespannt und freue mich
über jede neue Professorenstelle.
Wir meinen hingegen, dass zur Attraktivität nicht nur
die Schaffung immer neuer Stellen beiträgt, sondern
auch die Ausgestaltung der Stellen. Deshalb schlagen
wir eine neue Personalkategorie in Anlehnung an den
britisch-amerikanischen Associate Professor vor. Diese
Stellen sind bereits unbefristet und sollen besonders leistungsstarken Wissenschaftlern frühzeitig einen attraktiven Karriereweg eröffnen. Zusätzliche Attraktivität
erhalten diese Stellen durch umfangreiche Gehaltszulagen, weitreichende Freiheiten bei der Personal- und
Mittelbewirtschaftung, einem Promotionsrecht und dem
vollen Stimmrecht in den Gremien der Hochschule.
Damit kann den besten Nachwuchswissenschaftlern viel
frühzeitiger als bisher eine berufliche Planungssicherheit geboten werden. Auch das ist wichtig, um die
Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit unseres Wissenschaftssystems weiter zu steigern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit unserem Antrag haben wir eine umfangreiche
Gesamtbetrachtung vorgelegt. Lassen Sie mich unsere
zentralen Punkte wiederholen: Beendigung der übermäßigen Befristungspraxis an den Hochschulen, Schaffung
von vielfältigeren, attraktiveren Karriereperspektiven
durch neue Personalkategorien sowie Maßnahmen zur
besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf an den
Hochschulen und an den außeruniversitären Forschungseinrichtungen.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
wir mit unserem Wissenschaftssystem in Deutschland im
internationalen Vergleich auf einem guten Weg sind. Mit
Exzellenzinitiative, Hochschulpakt, Qualitätspakt Lehre
und dem Pakt für Forschung und Innovation hat die
christlich-liberale Koalition viel erreicht. Lassen wir
nicht zu, dass dies von der Opposition oder von anderen
kaputtgeredet wird, sondern bauen wir auf den Erfolgen
auf!
Spätestens seit der Vorlage der HIS-Studie „Wissenschaftliche Karrieren“ sowie des Evaluationsberichtes
des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes liegen uns allen
handfeste Daten und Fakten auf dem Tisch, die zeigen,
in welch prekären Beschäftigungsverhältnissen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland arbeiten. Der dringende Handlungsbedarf, die Beschäftigungsbedingungen zu verbessern, ist nur allzu deutlich.
Wir von der SPD-Fraktion haben deshalb bereits vor
fast einem Jahr einen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht mit dem Ziel, echte Perspektiven für den
wissenschaftlichen Nachwuchs zu schaffen. Leider sind
wir sowohl bei der Bundesregierung als auch bei CDU/
CSU und FDP auf taube Ohren gestoßen. Auch die Stellungnahmen der Sachverständigen und Experten, die in
mehreren Anhörungen im Ausschuss für Bildung und
Forschung den erheblichen Handlungsbedarf deutlich
gemacht haben, blieben von der Bundesregierung ungehört.
Wir thematisieren dieses Problem nicht, um einer speziellen Gruppe etwas Gutes zu tun, sondern weil es ein
Problem für die gesamte Gesellschaft ist. Wir brauchen
den wissenschaftlichen Nachwuchs. Einerseits brauchen
wir motiviertes, qualifiziertes Personal an den Hochschulen. Denn immer mehr Leute wollen studieren und
müssen auch gut ausgebildet werden. Anderseits brauchen wir Forscherinnen und Forscher, die uns voranbringen und uns in den verschiedensten Bereichen Problemlösungen anbieten. Dies ist aber nur möglich, wenn
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht durch
schlechte Arbeitsbedingungen abgeschreckt werden.
Das Prinzip gute Arbeit wollen wir auch für die Beschäftigten in der Wissenschaft erreichen.
Wir wollen erreichen, dass Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler nach ihrer Qualifikationsphase nicht
gezwungen werden, in die Wirtschaft oder ins Ausland
zu gehen, um eine berufliche Perspektive zu erhalten, um
Familie und Beruf vereinbaren zu können, um Stabilität
zu erhalten, sondern dass auch die öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen und Hochschulen gute Arbeitgeber für die hochqualifizierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind.
Wir fordern, unterstützt durch die Sachverständigen,
unter anderem eine Personaloffensive mit 2 500 zusätzlichen Professuren bis 2020, 1 000 zusätzliche Juniorprofessuren bis 2015, die Steigerung des sogenannten
Tenure Track, mehr strukturierte Promotionsprogramme, Einführung einer Frauenquote, Ausbau der
Kinderbetreuungsangebote, Erhöhung des Anteils unbefristet beschäftigten Personals, Aufnahme von Zielvereinbarungen mit den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in das geplante Wissenschaftsfreiheitsgesetz und Aufhebung der Tarifsperre des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Dies sind nur Stichworte
aus der Reihe von sehr konkreten Vorschlägen unseres
Antrags aus dem letzten Jahr. Dies, die Vorlagen anderer Fraktionen , die Studien und Berichte sowie die Anregungen der Sachverständigen sollten Material genug
gegeben haben, damit sich nun endlich auch die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen bewegen.
Nun haben die Koalitionsfraktionen endlich einen
Antrag vorgelegt. So begrüßenswert dies auf den ersten
Blick ist, umso enttäuschender ist auf den zweiten Blick
das vorgelegte Ergebnis. Der Antrag erklärt wortreich,
dass sie letztlich gar nichts Konkretes machen wollen.
Es werden zwar einige richtige Stichworte aufgegriffen,
doch es folgen keine klare politische Maßgabe und
Handlung.
Ich greife exemplarisch für den gesamten Antrag ein
Beispiel heraus: Gleich beim ersten Punkt im Forderungsteil - da sind wir schon auf Seite sieben - wird die
Bundesregierung aufgefordert, „darauf hinzuwirken,
dass die Vertragsdauer für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in der Regel an die Laufzeit
der Projekte gekoppelt ist, in denen die wissenschaftlichen Nachwuchskräfte beschäftigt sind.“ Was heißt
denn das genau, die Bundesregierung solle „darauf hinwirken“? Es muss doch wohl klar sein, dass hier der
Bundestag selbst gefragt ist, die rechtlichen Bestimmungen so zu ändern, dass niemand auf irgendetwas hinwirken soll, sondern dass die Verträge rechtlichen Regelungen entsprechend gestaltet werden müssen. Der
Deutsche Bundestag ist gefragt, die Regelungen neu zu
fassen, anstatt die Bundesregierung aufzufordern, einmal ein bisschen mit erhobenem Zeigefinger zu schimpfen.
So oder so ähnlich liest sich der Großteil der „Forderungen“ des Antrags: Da wird hier ein Leitfaden angefordert, dort eine Berichterstattung angemahnt, Daten
sollen erfasst und Zuschüsse gehalten und einmal sogar
die Förderung ausgebaut werden - ohne zu sagen, in
welcher Höhe. Unverbindlicher geht es wirklich nicht.
Dafür sollen aber an anderer Stelle des Antrags die Länder mehr Geld für unbefristete Beschäftigung an Hochschulen zur Verfügung stellen. Überhaupt wird viel auf
andere verwiesen: auf die Länder, auf die Hochschulen,
auf die Forschungseinrichtungen. Auf sie zeigt die Koalition. Sie sollen neue Personalkategorien schaffen,
sich selbst verpflichten, familienfreundlich zu werden,
Perspektiven zu entwickeln usw. usf. Da ist sicherlich
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
das eine oder andere Richtige oder Diskutable dabei.
Alle Akteure müssen gemeinsam an der Lösung der Probleme arbeiten, und nicht alles kann und soll der Bund
regeln.
Doch mit ihrem Antrag weist die Koalition alle Verantwortung von sich und von der Bundesregierung.
Stattdessen lehnt sie sich gemütlich zurück und zeigt auf
alle anderen. Dieser Antrag ist von Anfang bis Ende ein
reines Alibi ohne Substanz. Wir brauchen, die Wissenschaft braucht etwas anderes, nämlich eine Kultur des
Selbst-Anpackens statt des Immer-auf-die-anderen-Verweisens.
Wenn der wichtigste Rohstoff der Zukunft Deutschlands zwischen den Ohren sitzt, dann ruhen die Hoffnungen unseres Landes auf den Schultern junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler - in der Lehre wie in
der Forschung. Diese nehmen eine zentrale Rolle bei
der Sicherung der Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit ein. Die christlich-liberale Koalition hat sich daher
dem Thema Bildung und Forschung bereits in ihrer Koalitionsvereinbarung verschrieben. Wir haben dabei
ausdrücklich dem wissenschaftlichen Nachwuchs ein
besonderes Augenmerk gewidmet: „Wir setzen uns für
eine stärkere Durchlässigkeit der Karrierepfade in Wissenschaft und Wirtschaft ein. Dies fördert auch den Wissens- und Technologietransfer. Wir werden unseren Beitrag für bessere Karrierechancen von Frauen in
Wissenschaft und Forschung leisten. Die internationale
Anziehungskraft deutscher Hochschulen wollen wir für
Studierende wie für Wissenschaftler steigern. Deshalb
werden wir internationale strategische Partnerschaften
unterstützen und Mobilitätshindernisse, auch im Bereich
der sozialen Sicherungssysteme, abbauen.“
Der vorliegende Antrag „Exzellente Perspektiven für
den wissenschaftlichen Nachwuchs fortentwickeln“
trägt diesem unserem Anspruch deutlich Rechnung. Die
christlich-liberale Koalition macht damit einmal mehr
Ernst mit ihrem Anliegen, Deutschland zur Bildungsrepublik zu machen; sei es mit den überaus erfolgreich angelaufenen Projekten „Qualitätspakt Lehre“, dem
Deutschlandstipendium oder der weiteren Förderung
des Studienplatzausbauprogramms „Hochschulpakt 2020“.
Unser Antrag verfolgt mit 15 konkreten Forderungen
das Ziel, die Rahmenbedingungen für Nachwuchswissenschaftler an unseren Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen und für alle weiteren Doktoranden weiter zu verbessern. Denn wir brauchen begabte
und motivierte Hochschulabsolventen, die sich für eine
Karriere in der Wissenschaft entscheiden. Diese brauchen wir heute mehr denn je.
Eine Karriere in der Wissenschaft ist nur dann attraktiv, wenn diese zumindest rudimentäre Zukunftsperspektiven eröffnet. Die Rahmenbedingungen müssen so gestaltet sein, dass Deutschland in diesem Zusammenhang
im internationalen Vergleich nicht zurückfällt. Mehr
noch: Wir müssen für junge Talente im Ausland noch interessanter werden.
Wissenschafts- und Forschungspolitik unter rot-grüner Ägide hat der Attraktivität des Standortes Deutschland geschadet. Es waren verlorene Jahre. Fortschrittsfeindliche Politik, beispielsweise im Bereich der
Energieforschung und bei der Gentechnologie, hat eine
große Lücke gerissen und die Zukunftsängste des wissenschaftlichen Nachwuchses beflügelt. FDP und Union
haben genau hier angesetzt und werden mit ihrer Politik,
die Deutschland tatsächlich wieder hin zu einer Bildungs- und Fortschrittsrepublik verändert, verlässliche
Rahmenbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs schaffen.
Doch bei unseren Anstrengungen auf Bundesebene
darf eines nicht aus dem Blick geraten: Wissenschaftspolitik und damit auch die Problematik der Beschäftigung von Nachwuchswissenschaftlern an Hochschulen
und Forschungseinrichtungen ist in erster Linie Ländersache. Diesem Umstand trägt der vorliegende Antrag
sehr klar Rechnung. Dennoch, auch die christlich-liberale Koalition wird weiter für exzellente Perspektiven
für den wissenschaftlichen Nachwuchs sorgen. So werden wir beispielsweise demnächst ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz beschließen, welches auch auf Bundesebene
die Rahmenbedingungen weiter verbessern und bestehende Hemmnisse im Wissenschaftssystem beseitigen
sowie die Handlungsspielräume der Hochschulen und
Forschungseinrichtungen ausweiten wird.
Das 2007 eingeführte Wissenschaftszeitvertragsgesetz hat diesem Anspruch für einen bestimmten Regelungsbereich - nämlich zur Flexibilisierung der arbeitsvertraglichen Verhältnisse - gerecht werden wollen.
Eine wissenschaftliche Evaluation hat gezeigt, dass
auch hier Verbesserungen erreicht wurden. Gleichwohl
ist nicht alles perfekt; denn wie stellt sich die Situation
an den Wissenschaftseinrichtungen in unserem Land
nun heute dar? Satte 84 Prozent der wissenschaftlichen
Mitarbeiter an unseren Hochschulen sind befristet angestellt. Von diesen ist wiederum die Hälfte mit einem auf
unter ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag beschäftigt,
und das obwohl der Bund seit Jahren Milliarden beispielsweise mit der Exzellenzinitiative und dem Qualitätspakt Lehre sowie dem Hochschulpakt 2020 zu einer
besseren Ausfinanzierung der Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland beiträgt.
Dennoch haben sich die Karriereperspektiven für unsere Nachwuchswissenschaftler offenbar nicht verbessert. Das liegt anscheinend daran, dass die Länder ihrer
Verantwortung häufig nicht gerecht geworden sind. Der
Bund hat seine Anstrengungen erhöht, um dann festzustellen, dass seitens der Länder der Beitrag zur Grundfinanzierung von Forschung und Lehre zurückgefahren
wurde. Auf dieses Phänomen wurde im Rahmen der Sitzung des im Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung am 28. März 2012 durchgeführten Fachgesprächs „Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs“ mehrfach hingewiesen. Unser
gemeinsamer Antrag greift dies auf. Union und FDP haben daher ganz konkrete Vorschläge unterbreitet, wie
wir - und zwar Bund und Länder gemeinsam mit den
Hochschulen und Forschungseinrichtungen - die RahDr. Martin Neumann ({0})
menbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs
in Deutschland verbessern können.
Was, so werden Sie zu Recht nach einem Blick in das
Grundgesetz fragen, kann der Bund nun tun, um die Perspektiven und Karriereaussichten für die Nachwuchswissenschaftler in unserem Land zu verbessern? Eine
Antwort darauf geben unsere 15 Forderungen, die im
Antrag ausführlich beschrieben werden. Mir ist besonders wichtig, dass wir künftig darauf achten, die Vertragsdauer von Arbeitsverträgen an die Laufzeit von in
der Regel drittmittelfinanzierten Projekten zu koppeln.
Nur so können wir sicherstellen, dass die Qualifikationsvorhaben im Wissenschaftsbereich eine gewisse
Verlässlichkeit erhalten.
Ebenfalls hervorheben möchte ich, dass wir es endlich schaffen müssen, einen einheitlichen Doktorandenstatus einzuführen. Nicht zuletzt unser Fachgespräch hat
einmal mehr gezeigt, dass dieser Grundlage dafür ist,
verlässliche Aussagen treffen zu können über die Zahl
der laufenden Promotionsvorhaben, über Abbruchquoten und auch die Erfolgszahlen. Auch die bereits vom
Wissenschaftsrat empfohlene pflichtige Betreuungsvereinbarung zwischen Doktoranden und Betreuern wird
deutliche Verbesserungen für unsere Nachwuchswissenschaftler zeitigen. In dieselbe Richtung tendiert unser
Ansinnen, die strukturierte Doktorandenausbildung beispielsweise durch Graduiertenschulen weiter auszubauen.
Ebenfalls wichtig ist es, dass die Begabtenförderungswerke in ihrer Aufgabe, den wissenschaftlichen
Nachwuchs finanziell wie auch ideell zu unterstützen,
weiter gestärkt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass auch freie Promotionsvorhaben Aussicht auf
Erfolg haben. Denn wir werden nicht allen Doktoranden
Anstellungen an Hochschulen oder Forschungseinrichtungen anbieten können. Wirklich als Meilenstein kann
die von uns empfohlene Einführung einer zusätzlichen
Professorenkategorie, der sogenannten Associate Professur, angesehen werden. Diese neue Personalkategorie bietet die Möglichkeit, mehr unbefristete Stellen
für Nachwuchswissenschaftler neben der klassischen
W3-Professur zu schaffen. Gemeinsam mit den befristeten Assistenzprofessuren, die aus den jetzigen Juniorprofessuren heraus weiterentwickelt werden sollen, können die Hochschulen künftig attraktive und verlässliche
Karriereperspektiven aufzeigen. Schließlich werden die
Hochschulen in ihrem bereits vielfach erfolgreich praktizierten Ansinnen bestärkt, ihre Nachwuchswissenschaftler frühzeitig auf Karrieremöglichkeiten außerhalb des Wissenschaftssystems vorzubereiten und durch
eine gezielte Personalentwicklung fitzumachen für eine
anschließende Tätigkeit in Wirtschaft, Verwaltung oder
sonstigen Arbeitsumfeldern.
Diese kleine Auswahl aus der Vielzahl von guten Vorschlägen, die wir mit unserem Antrag formuliert haben,
zeigt: Wir meinen es ernst mit unserem Anspruch, Bildung und Forschung zum Kernanliegen der christlich-liberalen Koalition zu machen. Der Bund hat bereits
große Anstrengungen unternommen, die Rahmenbedingungen für das deutsche Wissenschaftssystem zu verbessern. Uns mangelt es glücklicherweise nicht an klugen,
motivierten und engagierten jungen Leuten, die eine
Karriere in der Wissenschaft anstreben. Dabei muss es
bleiben. Deshalb appellieren wir insbesondere an die
Länder, nicht nachzulassen in ihren Anstrengungen, insbesondere attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten und
verlässliche Karriereperspektiven an ihren Hochschulen
zu schaffen. Nur gemeinsam können wir die Zukunftsfähigkeit Deutschlands sichern.
Unser Wissenschaftssystem steht beschäftigungspolitisch vor einem gravierenden Strukturproblem. Das
bescheinigen in den letzten Monaten alle Studien, und
das haben auch zwei Expertenanhörungen im Forschungsausschuss zur Situation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an öffentlichen Einrichtungen
bestätigt. Zwar sind in den letzten Jahren im Rahmen
der Exzellenzinitiative und des Hochschulpakts Tausende Stellen an Hochschulen neu geschaffen worden.
Ein großer Anteil ist aber an zeitlich beschränkte Projekte der Exzellenzinitiative gebunden. Auch die Stellen
für Daueraufgaben aus Lehre und Forschung an den
Hochschulen sind nur zum geringen Prozentsatz unbefristete Professuren. Dafür gab es 2010 doppelt so
viele, meist geringfügig entlohnte Lehrbeauftragte wie
noch 2005. Aus der Nähe betrachtet entpuppt sich die
vermeintliche Jobmaschine daher als Scheinriese. Wenn
man nämlich die weitere Perspektive der hochmotivierten und hochqualifizierten Menschen in den Augenschein nimmt, so ist sie im überwiegenden Maße von
Unsicherheit und zunehmend auch von Prekarität geprägt.
Die statistischen Belege sind bestechend: Nur
14 Prozent des wissenschaftlichen Personals an deutschen Hochschulen besteht aus Professuren und anderen
Dauerstellen, während dies in Frankreich oder England
fast zwei Drittel sind. Die Evaluation zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz hat zudem offengelegt, dass
mehr als die Hälfte aller Verträge, die heutzutage geschlossen werden, für maximal ein Jahr läuft. Überhaupt dürfen sich nur 11 Prozent der befristet Beschäftigten glücklich schätzen, dass sie für mehr als zwei
Jahre eingestellt werden.
Um diesen Zuständen einen Riegel vorzuschieben,
hat meine Fraktion in ihren Anträgen deutlich gemacht,
dass das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das solche
Befristungen bislang zulässt, nachgebessert werden
muss. Wir möchten gesetzlich festschreiben, dass sich
die Laufzeit von Verträgen mindestens an der geplanten
Dauer der Qualifikation ausrichtet und dass Drittmittelprojekte und Verträge unter einem Jahr nicht zulässig
sind.
Nun legt die Koalition heute eine Position vor, in der
sie ebenfalls für Mindestlaufzeiten von Verträgen plädiert. Immerhin erkennt sie die schwierige Lage der Betroffenen in diesem Punkt also an. Warum aber, meine
Damen und Herren von der Koalition, nehmen Sie Ihre
politische Verantwortung als Gesetzgeber nicht an und
äußern bloße Wünsche an die HochschulrektorenkonfeZu Protokoll gegebene Reden
renz? Spätestens nach den negativen Erfahrungen mit
Selbstverpflichtungen außeruniversitärer Forschungseinrichtungen in Gleichstellungsfragen wissen wir doch,
dass es verbindliche Vorgaben bei Personalfragen
braucht. Sonst bleibt wie bisher alles vom guten Willen
einzelner Entscheider abhängig.
Sie wissen, dass Sie auch noch einen alternativen
Weg gehen können: die Streichung der Tarifsperre, wie
sie GEW und Verdi zu Recht fordern. Dann könnten die
Hochschulen ihren guten Willen ganz praktisch in Tarifverhandlungen unter Beweis stellen und beide Seiten
könnten sachlich gute Regelungen weitgehend ohne den
Gesetzgeber stemmen. Für eine der beiden Varianten
müssen Sie sich aber entscheiden, wenn wir im Bundestag wirklich seriöse Wissenschaftspolitik machen sollen.
Um Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen langfristige Perspektiven an deutschen Hochschulen zu geben, braucht es darüber hinaus deutlich
mehr Dauerstellen. Man muss der Realität ins Auge
sehen: Es gibt anhaltend mehr Studierende, was fraktionsübergreifend gewünscht und gewollt ist. Hierdurch
werden schnellstmöglich deutlich mehr qualifizierte
Lehrkräfte benötigt. Zugleich schreiben alle politischen
Kräfte der Forschung eine tragende Rolle für die
Zukunftsentwicklung zu. Forschung und Innovationen
dienen den einen als vorgelagertes Labor für Wirtschaftswachstum und Wohlstand, den anderen als
Impulsgeber für den notwendigen sozialen und ökologischen Wandel unserer Gesellschaft. So gesehen muss
man auch bei der Stellenstruktur endlich Ja zu mehr
festangestellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sagen. Dafür könnten Nachwuchswissenschaftler
als Juniorprofessuren und Nachwuchsgruppenleiter mit
Tenure Track, das heißt Option auf Übernahme bei
Erfolg, ausgestattet werden. Überall im Ausland ist das
ganz normal, nur bei uns kann der sogenannte Nachwuchs auch im Alter von 40 Jahren nur selten selbstständig forschen und lehren.
Hier bewegt sich die Koalition nunmehr einen Schritt
nach vorne und will die oben genannten Personalkategorien sprachlich aufwerten, indem sie sie zu - befristeten - Assistenzprofessuren zusammenfasst. Der Kern der
Neuerung liegt im Vorschlag für unbefristete Postdoktorandenstellen als sogenannte Associate Professors, die
auch ohne Habilitation unbefristete Beschäftigung und
Autonomie in Personal- und Forschungsfragen ermöglichen. Diese zwei Kategorien würden Sinn machen, wenn
die eine als Transferstelle zur Vollprofessur angelegt
wäre - wie heute bereits die Juniorprofessur -, die andere aber als Zielstation, mit Option auf Aufstieg. Hier
ist der vorgelegte Antrag aus meiner Sicht aber nicht
ganz klar. Die unbefristeten Postdoktorandenstellen
scheinen als Zwischenstation zwischen Juniorprofessur
bzw. Nachwuchsgruppenleitung einerseits und Vollprofessur andererseits angelegt zu sein. Wenn sich darauf
aber nicht der oder die hervorragende Promovierte bewerben kann, würde damit nur eine Professur zweiter
Klasse geschaffen.
Doch lässt sich an der Ausgestaltung der Personalkategorien weiter feilen. Entscheidend ist, wie ein solches Vorhaben finanziert werden kann. Die Linke hatte
hierzu ein Sonderprogramm des Bundes vorgeschlagen,
da es sich um ein wissenschaftspolitisches Ziel von übergreifender Bedeutung handelt. Hier wäre es also spannend, zu erfahren, ob die Koalition dazu mit ihren
Wissenschaftsministerien der Länder im Benehmen ist.
Im Antrag schweigt Sie sich zur Finanzierung völlig aus,
wodurch jeder noch so gutgemeinte Vorschlag zum
Papiertiger wird.
Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass die
Stellenbasis auch von unten zerbröselt, weil reguläre
Qualifikationsstellen für Promovierende zunehmend
durch Stipendien ersetzt werden. Das hatte eine Befragung unter Promovierenden der Max-Planck-Gesellschaft ergeben. Dabei sind die Max-Planck-Institute im
Vergleich zu Hochschulen finanziell gut ausgestattet,
sodass man sich für die letzteren ein noch weit größeres
Ausmaß der gleichen Entwicklung ausmalen kann.
Mitnichten liegt diese Entwicklung daran, dass immer
mehr Promovierende ungebunden an ihrer Qualifikation
arbeiten wollen. Denn die Studie zeigt, dass die Stipendiatinnen und Stipendiaten ähnlich stark in Projekte
außerhalb ihrer eigenen Qualifikation eingebunden
werden wie Angestellte. Sie arbeiten also regulär, nur zu
einem für die Institute deutlich günstigeren Tarif. Sie
werden weder sozial- noch renten- noch krankenversichert. Statt mehr Stipendien, die bei der Bundesregierung im Trend liegen, brauchen wir deshalb mehr
Stellen. Ich hoffe, dass die Diskussion zu diesem Antrag
in tragfähige Konzepte mündet.
Als wir 2010 in unserem grünen Antrag einen Pakt
für den wissenschaftlichen Nachwuchs und bessere Beschäftigungsbedingungen forderten, haben Vertreter der
Koalition noch abgewiegelt und von „Gejammer auf hohem Niveau“ gesprochen. Ihrem heutigen - seit langem
angekündigten - Antrag kann man jetzt entnehmen, dass
inzwischen auch bei Ihnen die Erkenntnis angekommen
ist, dass die schlechten Beschäftigungsverhältnisse, die
mangelnden Perspektiven für den wissenschaftlichen
Nachwuchs und die überholte Personalstruktur tatsächlich ein Problem sind und es bei unserer Kritik eben
nicht um bloße Miesmacherei der Opposition geht.
Wenn es aber um die notwendigen Konsequenzen
geht, sind Sie leider immer noch nicht in der Realität angekommen. Der Forderungskatalog Ihres Antrags ist vor
allem dadurch gekennzeichnet, dass Sie der Bundesregierung nichts, aber auch gar nichts abverlangen. Dabei
hätten Sie aus den Fachgesprächen im Ausschuss und
den Anträgen der Opposition genügend Vorschläge aufgreifen können. In dieser Beziehung ist Ihr Antrag ärmlich.
Um der Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse bei den hauptberuflichen wissenschaftlichen Mitarbeitern entgegenzuwirken, muss die Unterfinanzierung im Hochschulpakt endlich beseitigt werden. Wir
brauchen die Ausfinanzierung von Studienplätzen und
nicht nur die Schaffung von Studiermöglichkeiten zum
Sparpreis. Wir brauchen außerdem eine Verstetigung
Zu Protokoll gegebene Reden
der Finanzierung über 2014 hinaus und Anreize und
Vereinbarungen für die Verbesserung der Beschäftigungsperspektiven und der Personalstruktur.
Dazu muss ein Bundesprogramm für zusätzliche Juniorprofessuren mit Tenure-Track-Regelung gehören, wie
wir es mehrfach vorgeschlagen haben. Doch statt solcher konkreter Maßnahmen schlägt die Koalition lediglich vor, dass die Juniorprofessur zukünftig Assistenzprofessur heißen soll. Ja, was soll das denn bringen?
Es waren CDU und CSU, die jahrelang die Juniorprofessur blockiert haben, weshalb es davon heute auch
nur 1 000 und nicht die geplanten 6 000 gibt. Trotzdem
ist die Juniorprofessur inzwischen in allen Bundesländern anerkannt und hat sich als Karriereweg bewährt.
Aber statt mit einem Förderprogramm kommen Sie mit
einem Umbenennungsvorschlag, wobei die Bezeichnung
„Assistenz“ den Vorteil der Juniorprofessur, nämlich die
frühe Selbstständigkeit, eher wieder relativiert.
Wir haben gefordert, neben und jenseits der traditionellen Vollprofessur für qualifizierte und erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Stellen zu schaffen, die auch selbstständige Forschung und Lehre
ermöglichen. Auch diese Einsicht ist nun bei der Koalition angekommen, und Sie machen dafür den Benennungsvorschlag „Associate-Professur“, aber Sie machen keinen einzigen belastbaren Vorschlag, wie wir
denn zur Einrichtung solcher Beschäftigungsverhältnisse kommen. Wir haben zum Beispiel mit dem Risikoaufschlag für die Fortsetzung von Befristungen im Rahmen der Drittmittelförderung immerhin einige Ideen
entwickelt.
Da, wo die Bundesregierung selbst handeln könnte,
ducken Sie sich ebenfalls weg. Zwar kritisieren Sie die
extrem kurzen Laufzeiten bei den befristeten Verträgen,
die immer mehr von der Dauer der eigentlichen Aufgaben abweichen, aber zu einer Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes sind Sie offenbar nicht bereit: Aufhebung der Tarifsperre? Für die Koalition kein
Thema! Verbindliche Ausgestaltung der familienpolitischen Komponente? Fehlanzeige!
Dort, wo der Bund als Geldgeber, Forschungsförderer oder Mitglied von Aufsichtsgremien und Kuratorien
von wissenschaftlichen Einrichtungen aktiv ist, könnte
er sich doch direkt für einen Code of Conduct, also die
Vereinbarung von Standards für die Beschäftigung des
wissenschaftlichen Personals, einsetzen. Stattdessen
wollen Sie diese Möglichkeit nur als Appell an die Hochschulrektorenkonferenz richten, die diese Woche dazu
allgemeine Leitlinien verabschiedet hat, die den Hochschulen alle Hintertüren offen lassen, einfach so weiterzumachen wie bisher.
Dass Sie im Bereich der Promotion einige Vorschläge
aufgreifen, die sich in unserem Antrag zu Qualitätssicherung finden, wie Betreuungsverträge, stärkere Einbeziehung externer Gutachter, die Schaffung eines Doktorandenstatus an den Universitäten, transparente Verfahren und größere Verantwortung der Institutionen, ist
zwar zu begrüßen, aber für die Bundesebene auch relativ wohlfeil. Aber warum wollen Sie den Nachwuchsgruppenleitern eigentlich nicht wie den Juniorprofessuren ein Promotionsrecht zugestehen? Bei Ihrem Antrag
zu den Beschäftigungsperspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs geht es Ihnen offenbar darum,
Ihre Bundesministerin Schavan nicht mit diesem Problem zu belämmern.
Wenn Sie in ihrem Antrag schreiben, die Stellensituation für Postdoktoranden sei so gut wie nie zuvor, dann
haben Sie offenbar nicht mitbekommen, wie es gerade
bei diesen Mitarbeitern an den Unis brodelt. Es gibt
zwar so viele wie nie zuvor, aber ihre Beschäftigungsbedingungen und Perspektiven sind immer schlechter geworden. 86 Prozent des wissenschaftlichen Personals
gilt als wissenschaftlicher Nachwuchs bis ins fünfte Lebensjahrzehnt, 83 Prozent haben befristete Stellen,
53 Prozent mit Laufzeiten unter einem Jahr. So sieht der
Normalfall an deutschen Universitäten inzwischen aus.
Wenn Sie in Ihrem Antrag mehr Teilzeitbeschäftigung
für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf fordern, dann haben Sie offenbar nicht mitbekommen, dass
die Anzahl der Teilzeitverträge ebenfalls explodiert ist,
aber nicht aus Familienfreundlichkeit, sondern als zusätzliche Variante der Prekarisierung, von der Frauen
noch stärker betroffen sind als ihre männlichen Kollegen.
Hochmotivierte und -qualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sichern oft über viele Jahre die
Funktionsfähigkeit unserer Universitäten, und zwar als
Lehrkräfte mit 16 Semesterwochenstunden oder in der
Projektforschung mit neun Verträgen in fünf Jahren und
ohne jede Aussicht auf eine Zukunftsperspektive. Es
reicht nicht, in dieser Situation nur auf die Länder zu
verweisen. Der Bund muss hier endlich Mitverantwortung übernehmen - für die Zukunft, die Qualität und die
Wettbewerbsfähigkeit unseres Hochschul- und Wissenschaftssystems. Denn um nicht weniger geht es.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9396 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist auch diese
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Umsetzung von Basel III: Finanzmärkte stabilisieren - Realwirtschaft stärken - Kommunalfinanzierung sichern
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Besonderheiten der nationalen Finanzmärkte bei Umsetzung von Basel III berücksichtigen
- Drucksachen 17/9167, 17/6294, 17/9439 20800
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Ralph Brinkhaus, Peter
Aumer, Manfred Zöllmer, Björn Sänger, Dr. Axel Troost
und Dr. Gerhard Schick.
Die Umsetzung des Basel-III-Pakets in europäisches
Recht gehört zu den Grundpfeilern einer neuen Finanz-
marktordnung für Europa - einer neuen Finanzmarkt-
ordnung, die, wie wir alle in der Finanzkrise 2008 und in
der Staatsschuldenkrise 2010 gesehen haben, zwingend
notwendig ist.
Die Umsetzung dieses Basel-III-Pakets im Rahmen
der Verordnung und Richtlinie zu „CRD V“ wird enorme
Auswirkungen auf das Handeln von Banken haben. Es
wird mehr Eigenkapital verlangt, mehr Liquidität, und
das Berichts- und Meldewesen wird sich verändern. In-
sofern ist dieser Prozess - nicht ausschließlich, aber vor
allen Dingen - für die kleineren und mittleren Banken
mit vielen Sorgen und Ängsten verbunden. Insbesondere
Sparkassen und Volksbanken haben dies in den Medien
und in vielen Schreiben an uns Abgeordnete adressiert.
Diese Sorgen und Ängste sind nicht unbegründet und
daher sehr ernst zu nehmen, auch vor dem Hintergrund
der Bedeutung von Sparkassen, Volksbanken und klei-
nen Privatbanken für den Finanzplatz Deutschland.
Denn diese Institute sind bedeutsam für die Aufrechter-
haltung des Zahlungsverkehrs und ganz besonders auch
für die Bereitstellung von Finanzdienstleistungen für
den Mittelstand.
Mittelstand ist ein gutes Stichwort. Europa zeichnet
sich durch eine außerordentlich vielfältige Wirtschafts-
und Bankenlandschaft aus. Charakteristisch für Deutsch-
land ist im Besonderen der starke Mittelstand - und
zwar nicht nur der realwirtschaftliche Mittelstand, son-
dern auch der Mittelstand im Finanzdienstleistungsbe-
reich. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern,
in denen zumeist große Institute den Markt dominieren,
haben wir in Deutschland eine gute Mischung aus Groß-
banken auf der einen Seite und mittelständischen, regio-
nalen Banken wie Volksbanken, Sparkassen und kleinen
Privatbanken auf der anderen Seite. Diese Vielfalt hat
eine große Bedeutung für die Stabilität des Finanzsys-
tems in Deutschland und eine noch größere Bedeutung
für die Versorgung des Mittelstandes und der ländlichen
Räume mit Finanzdienstleistungen.
Auf europäischer Ebene ist diese Vielfalt natürlich um
ein Vielfaches größer, da wir hier von 27 unterschiedli-
chen Staaten reden, die sich dementsprechend auch alle
in Brüssel für die Berücksichtigung ihrer nationalen Be-
sonderheiten einsetzen. Strebt man nun eine Reform der
bisher bestehenden Regulierung an, insbesondere wenn
es sich um ein „Mehr“ an regulatorischen Anforderun-
gen handelt, wie das bei Basel III der Fall ist, sollten ei-
nige Voraussetzungen gegeben sein:
Erstens. Der Vielfalt im europäischen Finanzmarkt
und insbesondere der mittelständischen Strukturen so-
wie dem Grundsatz der abgestuften Aufsichtsintensität
sollte entsprechend der Risikostruktur des beaufsichtig-
ten Instituts angemessen Rechnung getragen werden.
Zweitens. Bei allen Regulierungsreformen sind im-
mer die damit einhergehenden Auswirkungen auf die Re-
alwirtschaft zu beachten, wobei der Begriff Realwirt-
schaft hierbei nicht nur Unternehmen einschließt, sondern
auch kommunale Kreditnehmer und Hypothekardarle-
hensnehmer.
Drittens. Regulierung sollte keine industriepoliti-
schen Auswirkungen haben und nicht zu einer Diskrimi-
nierung einzelner Anbieter aufgrund ihrer Größe oder
ihres Kapitalmarktzugangs führen. Höhere regulatori-
sche Anforderungen benachteiligen insbesondere klei-
nere Institute - nicht wegen der Einhaltung von quanti-
tativen Vorgaben wie Eigenkapitalquoten oder Liquidi-
tätsvorgaben, sondern aufgrund des höheren adminis-
trativen Aufwandes, der mit der Meldung und der Kon-
trolle dieser Kennzahlen zusammenhängt.
Betrachten wir vor dem Hintergrund dieser drei zen-
tralen Punkte den Basel-III- bzw. CRD-IV-Prozess:
Ausgangspunkt vieler Überlegungen zu Basel III war
insbesondere das Modell einer angelsächsischen, kapi-
talmarktorientierten Bank. Bereits an dieser Stelle ha-
ben die deutschen Vertreter im Baseler Komitee darauf
hingewirkt, dass die für Genossenschaftsbanken, Spar-
kassen und kleinen Privatbanken essenzielle Frage der
Eigenkapitaldefinition im Sinne der deutschen Finanz-
wirtschaft gelöst wurde, indem das Eigenkapital rechts-
formneutral definiert worden ist. Auf europäischer
Ebene konnte - nach bisherigem Verhandlungsstand -
zudem erreicht werden, dass die Frage der Risikoge-
wichtung von Mittelstandskrediten zeitnah neu justiert
wird. Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle darauf hin-
weisen, dass auf Bitten der G20 das Basel-III-Paket um
Risikozuschläge für global systemrelevante Institute er-
gänzt werden soll.
Wie sieht nun unsere Bewertung des gegenwärtigen
Verhandlungsstandes aus:
Erstens. Zunächst muss klar sein, dass CRD IV nicht
nur für die deutsche Bankenlandschaft erstellt wurde,
sondern für die Gesamtheit der europäischen Banken-
landschaft. Es ist daher selbstverständlich, dass die Re-
gelungen nicht hundertprozentig auf die deutsche Ban-
kenstruktur passen. Hätten wir sie national und nur für
uns alleine erstellt, wären wahrscheinlich andere quan-
titative Vorgaben und auch andere Governance-Regeln
dabei herausgekommen. Es ist also abzuwägen zwischen
der nicht vollständigen Passgenauigkeit von gemeinsa-
men europäischen Regeln auf der einen Seite und dem
Vorteil, den wir gerade durch diese gemeinsamen euro-
päischen Regeln gewinnen, auf der anderen Seite. Hin-
sichtlich des gegenwärtig erreichten Verhandlungsstan-
des sind wir der Meinung, dass die durch die Verhand-
lungen der Bundesregierung erzielten Kompromisse ver-
tretbar sind. Wir sehen allerdings mit großer Sorge, dass
insbesondere aus Großbritannien Forderungen gestellt
Zu Protokoll gegebene Reden
werden, den Eigenkapitalbegriff neu zu definieren. Der
prinzipienorientierte Eigenkapitalbegriff, der zum Bei-
spiel auch Genossenschaftskapital und Formen der stil-
len Beteiligungen enthält, ist für uns die rote Linie - ein
Überschreiten dieser Linie ist für uns nicht verhandel-
bar. Substanz muss über Form stehen.
Zweitens. Die Auswirkungen auf die Realwirtschaft:
Es wird oft die Kritik geäußert, dass durch die Vorga-
ben von CRD IV insbesondere Mittelstandskredite teurer
würden. Das ist richtig - aber nach den uns vorliegen-
den Auskünften ist diese Verteuerung signifikant niedri-
ger als 0,5 Prozentpunkte am Ende eines mehrjährigen
Übergangszeitraums. Zudem setzt sich die Bundesregie-
rung dafür ein, dass die Risikogewichtung für Mittel-
standskredite neu justiert wird. Dieser Fragenkomplex
ist derzeit Gegenstand von empirischen Untersuchungen
auf europäischer Ebene. Wir gehen davon aus, dass wir
hier noch in diesem Jahr erste Ergebnisse erzielen wer-
den.
Ein weiteres wichtiges Feld ist die Frage der Kommu-
nalfinanzierung. Eine höhere Eigenkapitalunterlegung
dieser traditionell margenschwachen Kredite könnte
dazu führen, dass sich Kommunalkredite a) verteuern
bzw. b) sich Institute aus der Kommunalfinanzierung zurückziehen.
Wir nehmen diese Sorgen sehr ernst. Wir müssen uns
der Herausforderung stellen und eine angemessene Einbeziehung der Risiken von Kommunalkrediten in die Eigenkapitalunterlegung auf der einen Seite erreichen und
die Auswirkungen auf den Markt für Kommunalkredite
auf der anderen Seite berücksichtigen. Wir werden dies
sehr genau verfolgen und gegebenenfalls gegensteuern.
Die Forderung nach einer europaweiten pauschalen Herausnahme von Kommunalkrediten aus wesentlichen
Teilen des Regelwerks von CRD IV - Leverage Ratio halten wir allerdings für falsch. Zumal es sich bei der
Leverage Ratio zunächst um eine Beobachtungskennzahl handelt. Dies würde im Übrigen bedeuten, dass
auch Kommunalkredite aus Krisenregionen nicht mit Eigenkapital zu unterlegen sind. Dies wäre aus Sicht der
Stabilität der Finanzmärkte sehr gefährlich.
Drittens. Sicherstellung der risikoadäquaten Behandlung von Instituten:
Regulierung sollte keine industriepolitischen Auswirkungen haben. Dies ist bei der Umsetzung von CRD IV
in der Tat ein Problem. Beginnen wir mit den global systemrelevanten Instituten - den G-SIFIs - global systemically important financial institutions. Diese können sich
aufgrund einer impliziten Staatsgarantie ({0})
gegebenenfalls günstiger refinanzieren als kleinere Institute. Das sollte so nicht sein und entspricht auch nicht
der Risikosituation der G-SIFIs. Insofern ist es gut, dass
auf Initiative der G20 nunmehr im Rahmen der Beratungen des Baseler Ausschusses geprüft wird, zusätzliche
Risikozuschläge auf das Eigenkapital dieser Banken, die
über die Anforderungen von Basel III hinausgehen, zu
verlangen. Wir sollten diese Risikozuschläge möglichst
schnell einführen.
Wir beobachten allerdings mit großer Sorge, dass
vermehrte Regulierung ganz besonders kleine Institute
- also Sparkassen, Volksbanken und kleine Privatbanken - überfordert. Dabei geht es weniger um die Einhaltung von quantitativen Vorgaben, sondern um den administrativen Aufwand und das Berichtswesen. Wir fordern
an dieser Stelle eine ständige Überprüfung des Aufsichtshandelns auf Proportionalität, das heißt auf Angemessenheit im Vergleich zu den tatsächlichen Risikopositionen. Wir glauben, dass dies in der gegenwärtigen
und angedachten Regulierung noch nicht ausreichend
gelungen ist und fordern an dieser Stelle Nachjustierungen. Wenn Regulierungsanforderungen nur noch von
großen Instituten mit angemessenem Aufwand erfüllt
werden können, führt dies zu Wettbewerbsverzerrungen
und letztlich zu Konzentration. Diesen Konzentrationsprozess wollen wir in Deutschland im Hinblick auf die
Mittelstandsfinanzierung, aber auch auf die Versorgung
mit Finanzdienstleistungen in der Fläche vermeiden.
Ebenfalls mit Sorge beobachten wir, dass den europäischen Aufsichtsbehörden - EBA, ESMA, EIOPA über delegierte Rechtsakte Grundsatzentscheidungen
über die Ausgestaltung der regulatorischen Rahmenbedingungen zugewiesen werden. Diese Grundsatzentscheidungen sollten ausschließlich den demokratisch legitimierten Rechtsetzungsorganen der Europäischen
Union vorbehalten sein. Diese Sorge haben wir bereits
in unserem kürzlich eingebrachten Antrag „Europäische
Finanzaufsicht stärken und effizient ausgestalten“ zum
Ausdruck gebracht.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Bundesregierung in den Verhandlungen zu CRD IV in vielen
Teilen sehr erfolgreich war. Wir hoffen, dass wir diese
Position auch in den schwierigen abschließenden Verhandlungen, die momentan auf europäischer Ebene
stattfinden, halten können. Gerade die britische Seite
wehrt sich - wie schon erwähnt - vehement gegen die
für uns so wichtige rechtsformneutrale Definition von
Eigenkapital. Nun gilt es vor allen Dingen, unsere bereits erreichten Verhandlungsergebnisse zu verteidigen
und zudem die bereits erwähnte Nachjustierung bei der
Eigenkapitalunterlegung bei Risiken aus Mittelstandskrediten zu erreichen.
Wir als christlich-liberale Koalition haben unsere
Kernforderungen an mehreren Stellen bereits deutlich
und klar formuliert: zum einen in unserem Antrag „Stabilisierung des Finanzsektors - Eigenkapitalvorschriften für Banken angemessen überarbeiten“ vom Mai
2010 und zum anderen in unserem Antrag „Effektive Regulierung der Finanzmärkte nach der Finanzkrise“ vom
Juni 2011. In unserem Antrag zur europäischen Finanzaufsicht vom März dieses Jahres haben wir unsere Befürchtungen bezüglich der Proportionalität der Aufsicht
zum Ausdruck gebracht. Die Bundesregierung arbeitet
unsere Anregungen und Forderungen konsequent ab.
Dafür bedanken wir uns ausdrücklich.
Wir begrüßen es, dass sich auch die SPD intensiv mit
dieser wichtigen Thematik beschäftigt. Sie sehen, dass
wesentliche Teile der Forderungen, die in den vorliegenden Anträgen der SPD gestellt werden, bereits erfolgZu Protokoll gegebene Reden
reich abgearbeitet werden. In einigen Punkten stimmen
wir - wie aus meinen Ausführungen in der heutigen und
auch in vorangegangenen Debatten deutlich wurde - in
der Diktion und auch im Inhalt nicht mit den SPD-Forderungen überein. Wir halten es insgesamt für sehr gefährlich, Maximalforderungen aufzustellen, die im Umkehrschluss natürlich auch bisher erreichte Verhandlungsergebnisse infrage stellen. Wer in die Richtung
„geteiltes Aufsichtsrecht“ argumentiert, wer fordert,
noch einmal die Diskussion über das Thema „Umsetzung in einer Richtlinie oder einer Verordnung“ zu führen, der schnürt auch alle bereits verhandelten Pakete
wieder auf. Ich weise an dieser Stelle nur auf die bereits
mehrfach erwähnte Eigenkapitaldefinition hin. Ich habe
durchaus Verständnis dafür, dass man gut und kontrovers über diese Themen diskutieren kann. Dies sollte
aber nicht dazu führen, bereits Erreichtes zu gefährden.
Aus diesen Gründen werden wir den vorliegenden
Anträgen nicht zustimmen.
Der Beinahezusammenbruch des internationalen Finanzsystems offenbarte uns deutliche Schwächen im
Ordnungsrahmen der Finanzmärkte. Im Verlauf der
Finanz- und Weltwirtschaftskrise wurde vor allem die
Bedeutung des Liquiditätsrisikos und -managements
deutlich. Aufgrund dieser Erkenntnisse und Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten wurde die Notwendigkeit für eine Überarbeitung der bisherigen Eigenkapital- und Liquiditätsregeln klar. Der Baseler Ausschuss
für Bankenaufsicht veröffentlichte hierzu unter Beachtung der Vorgaben der G 20 im Dezember 2010 das
Maßnahmenpaket „Basel III“. Im Juli 2011 stellte
schließlich die Europäische Kommission ein Gesetzespaket zur Umsetzung der Vorgaben des Baseler Ausschusses vor. Die bis heute geltende Kapitalanforderungsrichtlinie CRD III soll nach den Vorschlägen der
Kommission durch eine Richtline, CRD IV, sowie durch
eine Verordnung, CRR I, umgesetzt werden.
Die neuen Regelungen stellen eines der wichtigsten
Regulierungsvorhaben nach der vergangenen Finanzund Weltwirtschaftskrise dar. Mit den Vorschlägen strebt
die Kommission eine grundlegende Neugestaltung des
europäischen Bankenaufsichtsrechts an. Hierzu gehören
unter anderem Neuregelungen zur Höhe und Qualität
der Eigenmittel sowie zum Risiko- und Liquiditätsmanagement. Ziel des Vorschlags ist es, den EU-Bankensektor widerstandsfähiger zu machen und gleichzeitig
dafür zu sorgen, dass die Banken weiterhin die Wirtschaft und das Wachstum finanzieren können.
Wir beschäftigen uns heute mit dem von der SPDFraktion eingereichten Antrag zur Umsetzung von Basel III. In ihm fordern Sie, dass die neuen Eigenkapitalund Liquiditätsregelungen nach Geschäftsmodell und
Größe der Kreditinstitute differenziert angewandt werden sollen, Risikogewichte von Mittelstandskrediten an
ihr tatsächliches Risiko angepasst werden und bei Kapitalabzügen für Finanzbeteiligungen die besonderen
Bedingungen der Finanzverbünde der Sparkassen und
Genossenschaftsbanken berücksichtigt werden. Ferner
fordern Sie, dass bei der Ausgestaltung der risikounabhängigen Verschuldungsobergrenze auf das margenarme
Hypotheken- und Kommunalkreditgeschäft Rücksicht
genommen wird, die von der europäischen Bankenaufsicht erarbeiteten Aufsichtsstandards und Meldepflichten keine unmittelbare Wirkung für regional tätige
Kreditinstitute erhalten, sondern durch die nationale
Aufsicht angemessen angewandt werden und dass es eine
angemessene Arbeitsteilung zwischen europäischer und
nationaler Bankenaufsicht gibt.
Wir, meine sehr verehrten Damen und Herren der
SPD, beschäftigen uns schon längst mit diesen Fragen.
Die Aufrechterhaltung der Mittelstandsfinanzierung sowie die Berücksichtigung der Besonderheiten unseres
dreigliedrigen Bankensystems sind wichtige Punkte bei
der Umsetzung der Basel-III-Regeln. Die CDU/CSUFraktion sowie die Bundesregierung setzen sich aber
schon seit langem für diese Besonderheiten und für die
Beachtung der Punkte im Bereich der Mittelstandsfinanzierung ein. Wir setzen uns hier für eine Absenkung der
Risikogewichte ein. Eine Analyse bei der Europäischen
Bankenaufsichtsbehörde, EBA, wird zeigen, ob eine Absenkung der Anforderung für die Eigenmittelunterlegung für das Retail- und Mittelstandsportfolio angemessen sein wird. Die Bundesregierung hat sich hier bei den
Verhandlungen deutlich dafür eingesetzt, dass die Untersuchung noch vor der Sommerpause und vor der Abstimmung auf europäischer Ebene veröffentlicht wird.
Damit können wir das Ziel, das Gesetzespaket noch vor
der Sommerpause abzuschließen, erreichen.
Die Bundesregierung konnte weitere deutliche Erfolge bei den Verhandlungen auf EU-Ebene, zum Beispiel
die Erhaltung der Eigenkapitalinstrumente der stillen
Einlagen und der Geschäftsguthaben der eingetragenen
Genossenschaftsmitglieder als aufsichtliches Kernkapital, erreichen. Das von Ihnen angesprochene Proportionalitätsprinzip ist bereits an mehreren Stellen in den
aktuellen europäischen Textvorschlägen ausdrücklich
verankert. Die Besonderheiten des deutschen Bankensystems müssen Berücksichtigung finden. Dafür haben wir
als CDU/CSU-Fraktion in Brüssel verhandelt; dafür hat
sich die Bundesregierung bereits frühzeitig eingesetzt.
Diese mühsam durch die Bundesregierung ausgehandelten Kompromisse stellen Sie nun, einige Wochen vor
dem Abschluss der Verhandlungen, wieder infrage. Das,
meine sehr geehrten Damen und Herren der SPD, ist
verantwortungslos und zeigt, dass Sie den richtigen
Zeitpunkt zur Einflussnahme verschlafen haben. Es waren und sind die Regierungskoalition und die Bundesregierung, die sich bereits seit Beginn der Diskussion für
die Berücksichtigung deutscher Interessen, besonders
für die Interessen im Bereich der Mittelstandsfinanzierung, in Brüssel starkgemacht haben und die dies auch
bis zum letztmöglichen Zeitpunkt ausverhandeln werden.
Meine Damen und Herren der SPD, Ihre beiden Anträge verkennen die Erfolge, welche die Bundesregierung im deutschen Interesse bereits bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene erreicht hat. Ihren Anträgen
können wir somit nicht zustimmen; denn sie blenden
Zu Protokoll gegebene Reden
zwei Jahre intensiver Verhandlungen und bereits erreichte Erfolge komplett aus.
Die Europäische Kommission wird in Kürze Entwürfe
für Rechtsakte vorlegen, mit denen die Vorschläge des
Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht zur Neuregelung der Eigenkapital- und Liquiditätsanforderungen
für Kreditinstitute - das sogenannte Basel III - in europäisches Recht umgesetzt werden sollen.
Mit diesen Neuregelungen sollen Konsequenzen aus
den in der Finanzkrise offenbar gewordenen Lücken in
der Finanzmarktregulierung gezogen werden. Die ersten länderübergreifenden Eigenmittelstandards für Banken - Basel I - sind bereits 1988 verabschiedet worden.
Im Jahr 2004 folgte Basel II, das neue Risikokategorien
einführte, aber den großen, international tätigen Instituten erlaubte, Risiken mit eigenen Modellen zu bewerten
und zu gewichten.
Dieses Zugeständnis nutzten die Banken aus, um ihre
Eigenkapitalausstattung anzupassen. Vom Ergebnis her
hielten sie in der Folge dann aber nicht mehr, sondern
weniger Eigenkapital. Dies geschah offenbar in der
Überzeugung, die zur Umsetzung von Basel II geschaffene Risikomanagementinfrastruktur mache es möglich,
Risiken so zuverlässig zu erfassen, dass auch eine Bank
mit geringerem Eigenkapital gut geschützt sei.
Die Finanzkrise hat diese Haltung als Illusion entlarvt, und insoweit ist es gut, wenn unter anderem an
diesem Punkt nachjustiert wird.
Der Großteil der geplanten Basel-III-Änderungen
soll nach dem Willen der Europäischen Kommission mittels einer Verordnung und nicht wie bisher bei solchen
Regelungen üblich durch eine Richtlinie vorgenommen
werden.
Wir sind davon überzeugt, dass eine Umsetzung von
Basel III durch eine Verordnung mit großen Nachteilen
verbunden wäre. Eine Verordnung stellt gemäß Art. 249 II
EG unionsweit unmittelbar geltendes Recht dar - die sogenannte Verbindlichkeit in allen Teilen. Diese grenzt die
Verordnung von der Richtlinie ab. Die Verordnung ist
gänzlich geltendes Recht, während die Richtlinie nur hinsichtlich der Zielbestimmung verbindlich ist. Die Umsetzung der Zielbestimmung bei Richtlinien bleibt jedem
einzelnen Mitgliedstaat vorbehalten.
Dem Deutschen Bundestag würden somit seine Mitwirkungsmöglichkeiten genommen, und nationale Besonderheiten könnten nicht berücksichtigt werden. Eine
Richtlinie eröffnet Spielräume bei der Ausfüllung und
Konkretisierung der europäischen Vorgaben durch die
Mitgliedstaaten.
Die Wahl des Rechtsinstrumentes ist insoweit eine
wichtige Weichenstellung, als sie die Beteiligungsmöglichkeiten nicht nur hinsichtlich der aktuellen Reform,
sondern auch der künftigen Regulierungsvorhaben bestimmt.
Der Deutsche Bundestag muss die neuen Regelwerke
zu Basel III angesichts ihrer hohen Bedeutung sowohl
für die Kreditwirtschaft als auch für die Unternehmen
und Anleger aktiv mitgestalten. Eine bloße Begleitung
des europäischen Rechtsetzungsprozesses würde der
Verantwortung des Deutschen Bundestages für die
wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes
nicht gerecht. Die Mitwirkung der Parlamente bietet die
beste Gewähr, dass bei der Anwendung der globalen
Basel-III-Vorschriften den spezifischen Bedingungen
der jeweiligen Finanzmärkte ausreichend Rechnung getragen wird.
Es steht fest, dass zwischen den Finanzmärkten
erhebliche Unterschiede bestehen. Für den deutschen
Finanzmarkt sind eine langfristige Orientierung, eine
bankbasierte Unternehmensfinanzierung und ein dezentral ausgerichtetes Bankensystem signifikant. Dem stehen Finanzmärkte mit einer kurzfristigen Orientierung,
einer kapitalmarktorientierten Finanzierung und einem
stärker zentralisierten Bankensystem gegenüber.
Eine Umsetzung der Basel-III-Vorschriften ohne
Rücksicht auf diese Unterschiede wäre gerade für den
deutschen Bankenmarkt mit seinem hohen Anteil kleiner
und regionaler Institute nicht angemessen. Es bestünde
die Gefahr, dass die auf international tätige und kapitalmarktorientierte Bankkonzerne ausgerichteten Vorgaben die Kreditvergabefähigkeit von Sparkassen und
Genossenschaftsbanken über Gebühr einschränken und
so zu einer Verringerung und Verteuerung der Kreditversorgung für den Mittelstand führen. Das Ergebnis wäre
nicht mehr Wettbewerbsgleichheit, sondern eine Verzerrung im Wettbewerb zulasten vieler deutscher Institute.
Eine effektive Finanzmarktregulierung setzt gleichwertige, aber keine uniformen europäischen Vorgaben
für alle Mitgliedstaaten voraus. Es darf keine Regulierungsarbitrage zwischen den Mitgliedstaaten geben.
Gleichwertige Wettbewerbsbedingungen lassen sich
aber auch bei einer Umsetzung der Basel-III-Vorschriften mittels einer Richtlinie erreichen.
Uniforme Regelungen würden sich auf verschieden
strukturierten Märkten sehr unterschiedlich auswirken.
Die bei einer Richtlinie vorhandenen Entscheidungsspielräume ließen es zu, sich den spezifischen Gegebenheiten entsprechend anzupassen und dadurch eine wettbewerbsneutrale Wirkung zu erreichen. Dabei kann es
sich in bestimmten Fällen als erforderlich erweisen,
über die europäischen Vorgaben hinaus höhere Standards anzuwenden.
Hierbei gehen wir davon aus, dass eine in Rede stehende Richtlinie hinsichtlich ihrer Zielsetzung strikt formuliert sein muss. Den Mitgliedstaaten muss aber die
Wahl der Mittel zu ihrer Umsetzung überlassen bleiben.
Wir fordern daher mit unserem Antrag die Bundesregierung auf, sich gegenüber der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten für eine Umsetzung der
Basel-III-Vorschriften durch eine Richtlinie einzusetzen;
bei den Beratungen über die Richtlinie für eine Berücksichtigung der Besonderheiten des deutschen Finanzmarktes einzutreten, insbesondere bezüglich der langfristigen Finanzierungsorientierung, der bankbasierten
Unternehmensfinanzierung und der dezentralen BanZu Protokoll gegebene Reden
kenstruktur; dem Bundestag frühzeitig und regelmäßig
über den Stand der Beratungen auf europäischer Ebene
zu berichten.
Wieder einmal zeigen sich die Sozialdemokraten als
unbelehrbar. Ihre beiden Anträge sind nicht zielführend;
das haben wir ihnen im Rahmen der Beratungen im Plenum und Ausschuss ausgiebigst erläutert. Trotzdem sind
sie nicht von Ideen wie der, Basel III in Form einer
Richtlinie umsetzen zu wollen, abzubringen. Wenn in
Brüssel so entschieden würde, dass Basel III im Wege einer Richtlinie umgesetzt würde, die nationale Freiheiten
lässt, besteht die große Gefahr, dass Abweichungsmöglichkeiten von anderen Ländern ungünstig ausgenutzt
werden, was zu Fehlentwicklungen führen kann. Auf
diese hätten wir dann keinerlei Einfluss, müssten aber
notfalls im Zuge europäischer Rettungsmaßnahmen Gelder aufbringen. Genau so etwas muss aber vermieden
werden. Wir wollen gleiche Standards für alle Banken in
der Europäischen Union. Dass dies teilweise auch für
unsere Banken aller Säulen mit Schwierigkeiten bei der
Umsetzung verbunden sein kann, ist uns bewusst, und
auch durch unsere Initiativen ist die Bundesregierung
entsprechend sensibilisiert, in Brüssel im Rahmen der
Möglichkeiten entsprechend zu verhandeln.
Wir sind absolut zuversichtlich, was die Umsetzungsfähigkeit unserer Banken betrifft. Das ewige Argument
der Benachteiligung kleiner Institute durch ein Bürokratiemonster ist ein Ammenmärchen. Schauen wir uns
doch beispielsweise einmal die Solvabilitätsregeln an:
Zur Ermittlung der Eigenkapitalanforderungen für
Kredit-, Markt- und operationelle Risiken wird das Proportionalitätsprinzip angewandt. Damit hängen Umfang
und Schwierigkeitsgrad der anzuwendenden Regelungen vom Risikoprofil eines Kreditinstituts ab. Damit
stehen kleinen und mittleren Kreditinstituten einfache
Standardansätze zur Berechnung der Eigenmittel zu Verfügung. Oder betrachten wir die Liquiditätsregelungen:
Dort sind Ausnahmen von der Erfüllung der Liquiditätsanforderungen auf Einzelinstitutsebene auch für Verbundunternehmen vorgesehen, womit Verbundinstitute
faktisch Konzerngruppen gleichgestellt werden. Auch
die komplexen Regeln im Rahmen der Großkreditüberwachung brauchen Institute mit einem kleinen Handelsbuchvolumen nicht anwenden.
Gegebenenfalls wird bei Verwaltungssanktionen auf
die Finanzkraft der kleineren Institute geschaut, um sie
vor Überforderung zu schützen. Auch die ganzen Governanceregeln müssen dem Umfang und der Komplexität
des Instituts angemessen sein. Das Proportionalitätsprinzip ermöglicht es kleinen Instituten so, auf die
Einrichtung etwa des Risiko-, Nominierungs- und Vergütungsausschusses zu verzichten. Das beliebteste
Argument, man würde die kleinen Banken durch unerfüllbare Meldepflichten so sehr beschäftigen, dass sie zu
nichts anderem mehr kämen, ist auch nicht überzeugend; denn auch dort gilt das Proportionalitätsprinzip.
Wir haben in den vorangegangenen Debatten zur
Aufsicht schon mehrfach ausgeführt: Es besteht auch
kein direkter Zugriff des Schreckgespensts EBA auf die
kleinen Finanzinstitute in den Regionen, es sei denn die
zuständige nationale Aufsichtsbehörde sei völlig untätig, was aus unseren vergangenen Erfahrungen mit
unserer Aufsicht dieser nun wirklich nicht zu unterstellen ist.
Wieso also die große Angst vor den europäischen
Regelungen? Auch die Interessenvertreter der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, die landauf und landab
postulieren, dass Basel III im Wege einer Richtlinie
umgesetzt werden muss, haben auf ein gemeinsames
Schreiben meines verehrten Kollegen Brinkhaus und mir
überhaupt nicht reagiert, als wir sie um Aufklärung
gebeten haben, welche Spielräume zum Schutze der
kleinen Institute sie sich erhoffen, falls es statt der
Verordnung nun eine Richtlinie mit nationalen Umsetzungsspielräumen gäbe. Das ist also vor allem Panikmache und nicht zielführend auf dem Wege zu einer europäischen Harmonisierung der Regelungen für
Finanzinstitute. Wir haben dies verstanden, wissen um
das Proportionalitätsprinzip, das unsere kleineren und
mittleren Institute nicht überfordert, und bauen auf
europäische, vereinheitlichende Regelungen für ein
Mehr an Stabilität.
Wir debattieren über Basel III, das Eigenkapital- und
Liquiditätsanforderungen für Banken neu regelt. Europa
leidet nach wie vor unter der jüngsten Bankenkrise, die
schwerste in einer Reihe von Bankenkrisen seit Beginn
der Deregulierung - seit 1985 gab es weltweit 30 Bankenkrisen. Deswegen ist die Stoßrichtung von Basel III
auch unumstritten. Wir sind uns im Bundestag allerdings
auch relativ einig, dass Basel III für grenzüberschreitend tätige Banken konzipiert wurde, die Sparkassen und
Genossenschaftsbanken nur wenig an der Krise beteiligt
waren und nicht unter den Dampfzug einer europäischen Regulierung geraten sollen.
Nach meiner Erfahrung aus sechs Jahren Finanzpolitik im Bundestag hat sich der Finanzausschuss bei
Basel III und der Umsetzung in europäisches Recht erkennbar zu wenig für die Belange der Sparkassen und
Genossenschaftsbanken eingesetzt. Der Finanzausschuss hat daher auf unsere Initiative im Januar ein
Fachgespräch zu Basel III durchgeführt. Dessen Erkenntnisse sind erkennbar in den Antrag der SPD eingeflossen. Sicherlich haben sie auch die Position der Bundesregierung beeinflusst. Wir sind aber nicht davon
überzeugt, dass mit der aktuell diskutierten Fassung sowohl das globale Finanzkasino ausreichend eingeschränkt wird als auch Kollateralschäden auf bodenständige Finanzgeschäfte vermieden werden.
Wir unterstützen daher die Forderungen der SPD
nach differenziert nach Größe und Geschäftsmodell gestalteten Eigenkapital- und Liquiditätsregelungen und
nach einer wohlwollenden Behandlung von Mittelstands-, Hypotheken- und Kommunalkrediten. Unsere
Vorstellungen zum Verhältnis der europäischen und
deutschen Bankenaufsicht habe ich bereits in meiner
Zu Protokoll gegebene Reden
Rede am 29. März 2012 erläutert. Die SPD bleibt insgesamt jedoch konkrete Vorschläge schuldig.
Zu den einzelnen Vorschlägen möchte ich kurze Anmerkungen machen. Solange die Leverage Ratio nur als
Beobachtungsinstrument implementiert wird, dürften
die Auswirkungen auf die Kommunal- oder Immobilienfinanzierung überschaubar bleiben. Wir sehen jedoch
Gefahren, sobald sie verpflichtend gemacht würde. Das
könnte mit einer niedrigen Leverage Ratio vermieden
werden, bei der dann jedoch Derivate nicht saldiert werden dürften. Damit wären Zockerbanken betroffen und
gerade nicht das risikoarme Geschäft der Sparkassen,
Genossenschaftsbanken oder Pfandbriefbanken.
Ich weiß, dass die Koalitionsfraktionen im Zusammenhang mit der Risikogewichtung von Kommunalkrediten und Staatsanleihen auf der finanziellen Lage einiger Staaten und Kommunen herumreiten werden. Sie
sollten aber ehrlicherweise die Rolle der dafür maßgeblich verantwortlichen neoliberalen Wirtschaftspolitik
benennen, der abgeholfen werden könnte.
Ich bin im Antrag der SPD über den Begriff „tatsächliches Risiko“ gestolpert. Dieser ist ein Widerspruch in
sich und somit regulierungsuntauglich. Risiken werden
mit vereinfachenden Mitteln analysiert und quantifiziert.
Die Ergebnisse sind aber niemals objektiv oder unstrittig, weil niemand eine Kristallkugel hat. Warum ich das
sage: Gerade deswegen liegen Banken, Ratingagenturen
und auch Aufseher in ihrer Einschätzung regelmäßig daneben. Deswegen muss der Regulierer besondere Vorsorge für grobe kollektive Fehleinschätzungen treffen
und Anreize zum Schönrechnen beseitigen. Dazu reichen
die Vorschläge des Basel-Komitees, der EU-Kommission, der Bundesregierung und auch der SPD nicht aus.
Das bedeutet: Wenn unter anderem Großbritannien
und die Schweiz als Staaten mit einem großen Bankensektor höhere Eigenkapitalzuschläge anstreben, warum
setzt sich die Bundesregierung nicht dafür ein, dass es
EU-weit oder national weit höhere Eigenkapitalzuschläge für grenzüberschreitend tätige Großbanken geben kann und soll? Damit Basel III einen Beitrag gegen
die Too-big-to-fail-Problematik liefert, sollten die
Eigenkapitalzuschläge progressiv mit der Bilanzgröße
ausgestaltet sein und ambitionierter ausfallen als die
verabredeten 2,5 Prozent für die weltweit größten Institute.
Tatsächlich haben Banken schon seit Basel II Anreize,
mit internen Risikomodellen Risiken runterzurechnen,
um wenig Eigenkapital vorhalten zu müssen. Die Folge
sind große Risiken für die Gesellschaft. Ein Schönrechnen bei Risikogewichtungsmethoden könnte durch verpflichtenden Abgleich mit einem Standard-portfolio offengelegt werden. Einen wirklichen Durchbruch brächte
eine deutliche Komplexitätsreduktion, wie sie mit dem
von uns vorgeschlagenen Finanz-TÜV erreicht würde.
Wir vermissen auch Forderungen wie zum Entfernen von
Verweisen auf externe Ratings oder auf einen höheren
Selbstbehalt bei transferierten Risiken. Ohne diese Maßnahmen bleibt das Finanzsystem weiterhin stark krisenanfällig.
Zweifellos: Basel III kann ein Meilenstein im Bereich
der Finanzmarktregulierung werden. Viele Details mit
oft weitreichenden Wirkungen werden derzeit auf europäischer Ebene verhandelt. Für uns Bündnisgrüne ist
dabei die verbindlich einzuhaltende Einführung einer
Art Schuldenbremse für Banken - eine sogenannte Leverage-Ratio - sehr wichtig.
Eine solche Schuldenbremse begrenzt das Verhältnis
von Bilanz zu vorhandenem Eigenkapital und damit den
Verschuldungsgrad einer Bank. Hintergrund ist: Wir haben in der Krise immer wieder gesehen, dass hohe risikogewichtete Eigenkapitalquoten bei hohem Verschuldungsgrad, wie sie insbesondere bei deutschen Banken
anzutreffen sind, eine gefährliche Scheinsicherheit vermitteln, die für Aktionäre zwar eine attraktive Dividende, aber für den Steuerzahler gefährliche Risiken
versprechen. Denn ein hoher Schuldenstand macht Banken sehr instabil, auch und gerade Pfandbriefbanken,
denen Sie in Ihrem Antrag ein risikoarmes Geschäftsmodell attestieren: Die irische Tochter der Hypo Real Estate, die Depfa, agierte mit einem Hebel von 125. Das ist
nicht risikoarm, das ist hochriskant! Schon kleine Verluste zehren dann das geringe Eigenkapital auf, die
Bank gerät in eine Schieflage, und der Ruf nach dem
Staat als Retter der letzten Instanz, der die Verluste sozialisieren soll, wird laut. Insofern sehen wir in der Leverage-Ratio einen elementar wichtigen Beitrag für
mehr Stabilität auf den Finanzmärkten und auch einen
Teil einer Lösung der sogenannten Too-big-to-fail-Problematik.
Die SPD fordert hier die Aufweichung dieses Konzepts, weil sie eine Verteuerung des Kommunalkredits
befürchtet. Auch wir nehmen die dahinter stehenden Bedenken durchaus ernst. Wir sind aber der Überzeugung,
dass zur Bewältigung vorhandener Probleme in den
kommunalen Haushalten bei den Ursachen angesetzt
werden muss: Eine aufgabenadäquate Finanzierung und
ein Altschuldentilgungsfonds sind die Ansätze, um die es
da unserer Ansicht nach gehen muss. Wenn Sie hier Vorschläge in der Sache machen, haben Sie uns auf Ihrer
Seite.
Die Aufweichung wichtiger Finanzmarktreformen ist
an dieser Stelle aber fehl am Platz. Das können wir nicht
mitmachen. Ich bitte auch zu bedenken, dass die erforderliche Eigenkapitalunterlegung nur einer von vielen
anderen Faktoren ist, die am Ende über den Kreditzins
entscheiden: Die Wettbewerbssituation, das allgemeine
Zinsniveau, die Verwaltungs- und Refinanzierungskosten und anderes mehr sind ebenso wichtige Determinanten.
Ferner verlangen Sie, die neuen Basel-III-Regeln
nach Geschäftsmodell und Größe zu differenzieren. Vor
dem Hintergrund der noch immer ungelösten Großbankenproblematik, wonach zu große Banken gerettet werden müssen, fordern wir zwar konzeptionell Ähnliches,
konkret: eine Größenbremse für Banken, bei der Eigenkapitalanforderungen mit der Größe des Instituts überproportional ansteigen. Wichtiger Unterschied zum
vorliegenden Antrag: Der Startpunkt unserer GrößenZu Protokoll gegebene Reden
bremse sind die aktuellen Basel-III-Anforderungen.
Nach unseren Vorstellungen für stabile Finanzmärkte
betrachten wir die quantitativen Basel-III-Anforderungen als regulatorische Minima. Sie hingegen wollen Basel III für bestimmte Institutsgruppen quantitativ nach
unten öffnen. Abweichungen nach unten können wir uns
für regionale Banken aber allenfalls in qualitativer Sicht
vorstellen, also zum Beispiel hinsichtlich bürokratischer
Anforderungen.
Außerdem blenden Sie hier einen wichtigen Teil der
Diskussion einfach aus: Großbritannien fordert, für
seine Banken über Basel III hinausgehen zu können, um
seine Banken stabiler zu machen. Nach den Erfahrungen
in Island, Irland und jetzt Spanien, wo zu große Banken
die Solvenz ganzer Staaten bedrohen, finde ich die dahinter stehende Ratio sehr nachvollziehbar. Die EUKommission, die Bundesregierung und die derzeitige
französische Regierung wollen das aber nicht zulassen.
Wir sind hier ausnahmsweise auf der Seite der Briten:
Wer seine Banken mit höheren Anforderungen sicherer
machen will, muss das dürfen. Folgte man aber Ihrem
Antrag, wäre solch ein Abweichen nach oben nicht möglich.
Insgesamt lehnen wir daher Ihren Antrag vom März
ab. Auch den älteren SPD-Antrag vom Juni 2011 sehen
wir mit Skepsis: Bei Ihrem Ansinnen, Basel III mittels
Richtlinie umzusetzen, damit die nationalen Parlamente
die Besonderheiten ihrer Bankenmärkte einspeisen
konnten, sehen wir die Gefahr, am Ende einen regulatorischen Flickenteppich zu erhalten, der gefährlicher Regulierungsarbitrage - also der bewussten Ausnutzung
regulatorischer Unterschiede - Tür und Tor öffnete. Da
inzwischen die Kommission Basel III sowohl mittels
Richtlinie als auch Verordnung umsetzt, betrachten wir
Ihren Antrag aber bereits weitestgehend als überholt
und werden uns daher enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/9439.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9167. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die
Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6294. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und der Linken
angenommen.
Tagesordnungspunkt 28:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Einsatz privater Sicherheitsdienste im Kampf
gegen Piraterie zertifizieren und kontrollieren
- Drucksache 17/9403 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Folgende Kollegen und Kolleginnen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Eckhardt Rehberg, Uwe
Beckmeyer, Paul Schäfer, Dr. Valerie Wilms, Parl.
Staatssekretär Hans-Joachim Otto.
Ich darf zunächst meine Verwunderung zum Ausdruck
bringen, dass die Kolleginnen und Kollegen der SPDFraktion sich hier so vehement für den Schutz der Seeleute auf deutschen Handelsschiffen einsetzen. Das ist
ausgesprochen löblich, jedoch offenkundig nicht konsequent. Die deutsche Handelsflotte und deren Angehörige
wären sicherlich erfreut gewesen, wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, die heutige Ankündigung
im Parlament, dem modifizierten Atalanta-Einsatz der
Bundeswehr nicht zustimmen zu wollen, unterlassen hätten. Mit der heutigen Einbringung ist ein weiterer wesentlicher Schritt zur Pirateriebekämpfung vor der
Küste Somalias eingeleitet worden, dem Sie sich verweigern wollen. Insofern ist die Ernsthaftigkeit der Intention Ihres Antrages an dieser Stelle zu hinterfragen.
Das Problem der Pirateriebekämpfung, liebe Antragsteller von der SPD, eignet sich wahrlich nicht als
Schlachtfeld parteiinterner Richtungs- und Personalkämpfe. Dass Sie sich Ihren Ankündigungen zufolge
beim Atalanta-Mandat nur eine Enthaltung abringen
wollen, ist in Anbetracht dessen, dass wir hier über die
Gefahrenabwehr für deutsche Seeleute diskutierten, die
mit ihrer harten und mittlerweile auch nicht mehr ungefährlichen Arbeit einen erheblichen Beitrag für unser aller Wohlstand in Deutschland leisten, eine Blamage und
ein Offenbarungseid Ihrer Regierungs- und Handlungsunfähigkeit. Eine Blamage ist es auch deshalb, weil Sie
gegen jedwede Vernunft argumentieren. Die Stiftung
Wissenschaft und Politik stellte schon im Juli 2010 in
der Studie „Piraterie und maritime Sicherheit“ einen
zusätzlichen Bedarf militärischer Mittel fest: „Zu diesem Zweck ist es erforderlich, die Luftaufklärung über
See zu verstärken und zusätzliche Kriegsschiffe außerhalb der Monsunzeiten einzusetzen.“ Insofern konnten
auch wissenschaftliche Argumente Sie nicht überzeugen.
Bitte lassen Sie mich ein weiteres Zitat an dieser
Stelle anbringen: „Meine Forderungen an die Bundesregierungen sind klar. Erstens muss unsere Marine vor
dem Horn von Afrika verstärkt werden - eine Fregatte
reicht nicht aus. Zweitens muss der Einsatz notfalls ‚robuster‘ gestaltet werden, dabei müssen, wenn nötig,
auch Basislager der Piraten angegriffen werden.“ Diese
Forderungen, denen die Bundesregierung im Übrigen
mit der Fortsetzung und Modifizierung des AtalantaMandats nachkommt, entstammen nicht etwa innenpolitischen Kreisen unserer Koalition, nein, diese Äußerungen sind auf der Internetseite des hamburgischen SPDInnensenators Michael Neumann zu finden, datiert mit
dem 17. Juli 2011. Ein Blick in Ihren Antrag wiederum,
liebe Kollegen von der SPD, verrät uns nun, dass Sie der
Ansicht sind - ich zitiere -: „Die Größe des Operationsgebietes steht jedoch in keinem Verhältnis zu der Zahl
der zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte. Ein flächendeckender Schutz von deutschflaggigen Handelsschiffen
durch den Einsatz der Bundeswehr oder der Bundespolizei ist angesichts der hohen Zahl von Schiffspassagen
weder personell und logistisch noch finanziell möglich.“
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, abgesehen davon, dass Sie damit Ihrem mit maritimen Themen durchaus vertrauten Innensenator der Hansestadt
Hamburg in den Rücken fallen wollen, ist zu fragen, was
Sie eigentlich bezwecken. Eine ernsthafte und nach Lösungen ringende Beratung, die dem Problem der Piraterie angemessen wäre, ist vermutlich nicht Ihr primäres
Anliegen. Wenn doch, würden Sie dem Rat Ihres Parteigenossen aus Hamburg folgen und in den parlamentarischen Beratungen Atalanta zustimmen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
hingegen werden nicht nur durch die Fortsetzung des
Atalanta-Mandats der Bundeswehr einen Beitrag zur
Bekämpfung der Piratenangriffe vor der Küste Somalias
erbringen, sondern arbeiten mit Hochdruck an einem
Zulassungsverfahren für Bewachungsunternehmen auf
Seeschiffen. Um es an dieser Stelle noch einmal festzuhalten: Bisher ist der Einsatz privater Sicherheitsunternehmen nicht verboten, sondern bislang nur nicht geregelt, da wir es hier mit einer Sondersituation zu tun
haben, deren Ausmaß und Konsequenzen erst in den
letzten Jahren deutlich wurde. Der Erfolg von Einsätzen
privater Sicherheitsunternehmen lässt sich bereits jetzt
feststellen. Sofern Bewachungsunternehmen an Bord
von Handelsschiffen waren, ließen die Piraten von ihrem
geplanten Angriff ab oder die Angriffe konnten erfolgreich abgewehrt werden.
Die Bundesregierungen unter der Großen Koalition
und unter der christlich-liberalen Koalition haben bereits seit 2008 unterschiedliche Maßnahmen ergriffen,
etwa durch die Beteiligung der Bundeswehr im Zuge internationaler Einsätze, um die humanitären Hilfslieferungen für das afrikanische Krisengebiet zu sichern und
um natürlich auch dem auftretenden Phänomen der
Schiffs- und Besatzungsentführungen sowie der Lösegelderpressung wirksam entgegenzutreten. Sie nennen in Ihrem Antrag zu Recht den Aufbau staatlicher Strukturen
als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Somalia und die damit verbundene Eindämmung
von Hunger und Armut. Deutschland leistet hier einen
wichtigen Beitrag: Deutsche Soldaten, die Sie durch
Ihre Ankündigung am heutigen Tag bei Atalanta offenbar nicht weiter beteiligen wollen, partizipieren beispielsweise auch an der EU-geführten Ausbildungsmission „EUTM Somalia“. Bislang konnten dadurch
1 800 Soldaten der somalischen Übergangsbundesregierung in Uganda ausgebildet werden. Bis Dezember
dieses Jahres sollen es dann 3 000 somalische Soldaten
sein.
Im Februar 2010 wurde als Reaktion auf die weltweit
steigenden Piraterievorfälle das Piraterie-Präventionszentrum bei der Bundespolizei See in Neustadt in Holstein geschaffen. Diese Einrichtung bietet den deutschen
Reedern unterschiedliche Dienstleistungen zur Vorbeugung möglicher Attacken durch Piraten an. Mit Risikoanalysen, der Darstellung technischer Präventionsmaßnahmen, wie etwa der aktiven Abwehr durch nautische
Manöver, und der Vermittlung von Verhaltensgrundsätzen ist eine wichtige Anlaufstelle eingerichtet worden.
Die deutschen Reeder sind gesetzlich dazu angehalten,
die Eigensicherung ihrer Schiffe zu unterstützen und die
Umsetzung der Best Management Practice, BMP, der
Verhaltensregeln der International Maritime Organization, IMO, zu gewährleisten. Hierbei kann auch das Piraterie-Präventionszentrum zurate gezogen werden, das
die Umsetzung der jeweils gültigen Fassung der BMP
unterstützt. Darüber hinaus informiert die Bundespolizei durch Vorträge, Seminare und Workshops, steht zur
individuellen Beratung zur Verfügung und trainiert Reeder. Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Einrichtung von sogenannten Safety Rooms an Bord der Schiffe.
Diese mit besonderen Schutzmaßnahmen ausgestatteten
Panikräume bieten im Ernstfall Schutz vor möglichen
Geiselnahmen, die durch Lösegeldforderungen für die
Piraten besonders attraktiv sind. Neben dem hoheitlichen Engagement der Bundeswehr in internationalen
Einsätzen, der präventiven Arbeit durch die Bundespolizei kommt es also auch auf die verpflichtenden Maßnahmen an, die durch die deutschen Reeder gewährleistet
sein müssen.
Die Bundesregierung bekennt sich aber natürlich zu
ihrer Verantwortung. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat in Übereinstimmung mit den
Koalitionsfraktionen Maßnahmen entwickelt und einen
entsprechenden Diskussionsentwurf zur Einführung eines Zulassungsverfahrens für Bewachungsunternehmen,
die auf Seeschiffen tätig werden, vorgelegt. Dieser
Schritt, den Sie mit Ihrem Antrag einfordern, ist längst
umfänglich vorbereitet, seit langem mit den Betroffenen
diskutiert und stellt in dem Bündel an Aktivitäten zur Pirateriebekämpfung eine weitere wichtige Ergänzung
dar. Damit wird den Forderungen und Bedürfnissen der
Branche entsprochen. Diese Arbeit erfährt im Übrigen
auch die Würdigung der deutschen Reeder, die neben
anderen Interessensvertretungen und den Bundesländern im Diskussionsprozess eingebunden sind.
Bei der inhaltlichen Ausgestaltung gilt es, die Herausforderung zu meistern, der Besatzung den nötigen Schutz
vor etwaigen Angriffen zu ermöglichen und dabei die Gefahr zu minimieren, dass Menschen zu Schaden kommen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese anspruchsvolle Aufgabe kann nicht ausschließlich
durch die EU-geführte Atalanta-Mission erfüllt werden.
In einem Seegebiet, das 18-mal größer ist als Deutschland, ist die Bedrohung für die Schiffsbesatzung und den
freien Warenverkehr nach wie vor hoch. Es sei an dieser
Stelle erwähnt, dass 95 Prozent des internationalen Warenverkehrs und 90 Prozent der europäischen Güterexporte an Drittstaaten über den Seeweg erfolgen. Nach
dem Krisenjahr 2008 hat sich der Welthandel und damit
auch die maritime Wirtschaft erholen können. Das führt
nun erfreulicherweise dazu, dass der internationale Seeverkehr seinen Wachstumsprozess fortsetzt. Auch wenn
die Wahrscheinlichkeit eines Piratenüberfalls unter
1 Prozent liegt und wir 2011 einen Rückgang von Angriffen durch Piraten verzeichnen dürfen, ist der Anlass zur
Sorge nach wie vor gegeben. Ein wachsender Schiffsverkehr bedeutet einerseits wirtschaftlich positive Effekte,
allerdings auch zusätzliche Angriffsmöglichkeiten für die
Piraten. Insbesondere vor den Küsten Somalias, an denen 236 der 439 Attacken im Jahr 2011 erfasst wurden,
muss also weiter aktiv die Pirateriebekämpfung verfolgt
werden. Auch wenn die Erfolgsquote der Piraten in den
letzten zwei Jahren insgesamt betrachtet erheblich gesunken ist, besteht also kein Grund zum Aufatmen.
Die bisher getroffenen Maßnahmen haben bereits zu
einer Reduzierung der Attacken durch Piraten geführt.
Dennoch bleibt der Handlungsbedarf, wie eingangs bereits erwähnt, gegeben. Immer mehr Reeder setzen international agierende Bewachungsunternehmen ein, um in
risikobehafteten Gebieten besseren Schutz in Anspruch
zu nehmen. Umso bedeutsamer ist es, dass Bewachungsunternehmen eingesetzt werden, die über die nötige
Professionalität, Zuverlässigkeit und ausreichend Erfahrung verfügen. An erster Stelle muss hier Rechtssicherheit geboten werden. Dieser Forderung der Reeder
wird die Bundesregierung nachkommen, indem von den
Bewachungsunternehmen und ihren Mitarbeitern eindeutige Anforderungsprofile gesetzlich eingefordert
werden. Dabei geht es vor allem um die fachliche, der
besonderen Situation auf den Schiffen angepasste Qualifikation und Eignung derjenigen, die für zusätzliche Sicherheit an Bord sorgen sollen. Das Personal muss neben den sicherheitstechnischen Anforderungen auch
über maritime Kenntnisse verfügen, denn die Leistungen
werden auf hoher See erbracht und bedürfen einer gewissen Vertrautheit mit den Vorgängen an Bord eines
Schiffes. Allein hieran wird der Regelungsbedarf deutlich, dem die Bundesregierung nachkommen wird, wobei
sie sich an den noch vorläufigen Leitlinien der IMO
orientieren wird. Die Bundesregierung richtet sich dabei
auch an europäischen Nachbarn aus, die ebenso Bewachungsunternehmen zertifizieren. Mit der Orientierung
an europäischen Standards bilden wir vergleichbare und
rechtlich verbindliche Normen für internationale Bewachungsunternehmen, die zügig zugelassen werden können. Für unsere Seeleute und die deutschen Reeder wird
eine notwendige Rahmenbedingung für zusätzliche Sicherheit an Bord geschaffen. Die Zulassung der Bewachungsunternehmen über das Bundesamt für Wirtschaft
und Ausfuhrkontrolle mit Unterstützung der Bundespolizei erfolgen zu lassen, ist aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion richtig.
Meine Damen und Herren Antragsteller, es ist erfreulich, dass man sich auch aus den Reihen der Opposition
Gedanken zu möglichen Maßnahmen der Pirateriebekämpfung gemacht hat. Jedoch sind Ihre - in weiten Teilen richtigen - Überlegungen längst von der Bundesregierung im Diskussionsentwurf aufgegriffen worden. Ich
kann diesem Umstand jedoch entnehmen, dass auch die
SPD-Bundestagsfraktion den Gesetzgebungsprozess bei
der Zertifizierung privater Sicherheitsunternehmen konstruktiv begleiten und letztlich den mit Verbänden und
Betroffenen beratenen Gesetzentwurf der Bundesregierung befürworten wird. Insofern bedarf es keiner Zustimmung zu Ihrem Antrag, da alle aufgeführten Punkte
bereits Berücksichtigung erfahren haben.
Gestatten Sie mir noch einen Hinweis zu Ihrem vorletzten Forderungspunkt, der die Rückflaggung der unter anderen Flaggenstaaten fahrenden Schiffe deutscher
Reeder umgesetzt sehen will. Auch wenn Sie damit ein
Thema jenseits der Pirateriebekämpfung an dieser Stelle
eröffnen, möchte ich Ihnen entgegnen, dass die Koalition mit dem Maritimen Bündnis für Beschäftigung und
Ausbildung, auch schon unter der Regierungsbeteiligung der SPD, wichtige Grundlagen geschaffen hat.
Insofern können Sie in den Fragen der maritimen Wirtschaft unserer politischen Arbeit unbesorgt und vertrauensvoll entgegensehen.
Immer wieder überfallen Piraten Handelsschiffe auf
hoher See. Auch ein international geführter Militäreinsatz kann das Problem bisher nicht lösen. Wurden im
Jahr 2006 noch 239 Piratenüberfälle gemeldet, ist ihre
Zahl in 2011 auf 439 gestiegen; in diesem Jahr waren
bisher 62 Übergriffe zu verzeichnen. Der regionale
Schwerpunkt liegt am Golf von Aden und vor der Küste
Ostafrikas, insbesondere vor Somalia.
Da hier eine der wichtigsten internationalen Handelsrouten verläuft, können die Reedereien nicht ausweichen. Der UN-Sicherheitsrat hat wiederholt festgestellt, dass die internationale Sicherheit in diesem
Gebiet gefährdet ist. Moderne Piraten sind mit Raketenwerfern und Schnellbooten ausgerüstet, und die Seeräuber gehen nach einem Bericht des Internationalen
Schifffahrtsbüros immer brutaler vor und setzen immer
größere Waffen ein.
Jährlich passieren allein mehr als 1 700 deutsche
Schiffe die gefährliche Seeregion. Zwar geht auch die
deutsche Marine dort im Rahmen der EU-Mission Atalanta gegen Piraten vor. Ein flächendeckender Begleitschutz durch die Bundeswehr direkt an Bord deutscher
Schiffe stößt aber nicht nur auf verfassungsrechtliche
Bedenken. Der Marine fehlen - ebenso wie der Bundespolizei - schlicht die personellen, logistischen und
finanziellen Kapazitäten für einen solchen Einsatz.
Dabei ist Deutschland aufgrund seiner Position in
der internationalen Handelsschifffahrt besonders von
Piraterie betroffen; schließlich macht die deutsche Handelsflotte einen Anteil von 34 Prozent an der Welthandelsflotte aus, und im Bereich der Containerschiffe liegt
Deutschland im internationalen Vergleich sogar an ersZu Protokoll gegebene Reden
ter Stelle. Sichere Seewege tragen wesentlich dazu bei,
Deutschlands Rolle als eine der führenden Exportnationen in der Welt aufrechtzuerhalten, und eine ungefährdete Durchfahrt dieser Seeregion ist für die maritime
Wirtschaft in unserem Land von strategischer Bedeutung.
Piraterie stellt jedoch nicht nur eine Gefahr für den
Welthandel dar. Neben dem wirtschaftlichen Schaden
durch Piraterie, der nach Schätzungen rund 5 bis 6 Milliarden Euro pro Jahr beträgt, tritt die Gefahr für
körperliche Unversehrtheit und Leben der Schiffsbesatzungen. Bei den 439 Piratenangriffen, die laut dem Jahresbericht des Internationalen Schifffahrtsbüros in 2011
registriert worden sind, wurden 802 Seeleute als Geiseln
genommen, 10 von ihnen wurden ermordet.
Die Bundesregierung will nun den Weg für einen verstärkten Einsatz privater Sicherheitskräfte auf deutschen Handelsschiffen frei machen. Trotz ablehnender
Haltung der Gewerkschaft der Polizei und großer Bedenken bei den maritimen Verbänden haben Union und
FDP entschieden, künftig verstärkt auf privates Sicherheitspersonal im Kampf gegen Piraterie zu setzen.
Wenn die Bundesregierung den Schutz vor Piraten
durch private Sicherheitsdienste will, dann muss sie die
notwendigen rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen. Anschließend müssen dafür geeignete Sicherheitsunternehmen ausgewählt werden. Bis Ostern wollte die
Bundesregierung einen abgestimmten Entwurf ins Bundeskabinett einbringen; geschehen ist bisher nichts.
Die SPD hat ihre Forderungen auf den Tisch gelegt.
Bisher ist der Einsatz der Sicherheitskräfte an Bord von
Seeschiffen nicht klar geregelt. Dabei haben nach letzten Studien bereits 12 Prozent der Schifffahrtsunternehmen in Deutschland private Firmen engagiert, die auf
gefährlichen Routen mitfahren.
Unsere Forderung lautet daher: Der Einsatz privater
Sicherheitsunternehmen an Bord von deutschen Handelsschiffen ist gesetzlich klar zu regeln und zu begrenzen, und nur qualifizierte Sicherheitsdienstleister dürfen
mit diesen sensiblen Aufgaben betraut werden. Die für
den Einsatz vorgesehenen Sicherheitsfirmen müssen in
Bezug auf ihre bisherigen Unternehmensaktivitäten, die
Erfahrungen im Bereich der maritimen Sicherheit und
die fachliche und soziale Kompetenz des Personals umfassend geprüft werden.
Notwendig ist ein Sachkundenachweis, wie er bereits
heute von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von
privaten Sicherheitsdiensten erforderlich ist, die Kontrollgänge im öffentlichen Verkehrsraum durchführen.
Der Schiffssicherheitsausschuss der IMO hat im vergangenen Jahr „Vorläufige Leitlinien für Schiffseigner,
Schiffsbetreiber und Schiffsführer“ als wesentliche Vorarbeiten für ein künftiges Zertifizierungssystem verabschiedet, die als Grundlage für alle weiteren Planungen
der schwarz-gelben Bundesregierung dienen müssen.
Dazu gehört auch, dass die Kommandokette an Bord
eindeutig geregelt wird. Die Beschäftigten der Sicherheitsfirma dürfen erst auf Anweisung des Kapitäns tätig
werden. Dies gilt insbesondere für den Fall, dass die
Sicherheitslage von Kapitän und privaten Sicherheitskräften unterschiedlich beurteilt wird. Und: Der Erwerb
und Einsatz von Kriegswaffen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz müssen für private Sicherheitskräfte an
Bord deutschflaggiger Handelsschiffe auch künftig verboten bleiben. Es gilt, der Gefahr einer gegenseitigen
„Aufrüstung“, die sich bereits heute abzeichnet, und damit letztlich einer weiteren Eskalation der Gewalt entgegenzuwirken.
Eines ist aber auch klar: Langfristig ist ein Ende der
Gefahrensituation nur durch eine Stabilisierung der
Lage in Somalia herbeizuführen. Auch dafür muss sich
die Bundesregierung gemeinsam mit den europäischen
und internationalen Partnern einsetzen.
Es ist gut, dass sich der Bundestag jetzt mit dem möglichen Einsatz privater Sicherheitsdienste gegen Piraten
beschäftigt.
Demnächst will die Bundesregierung einen Gesetzentwurf präsentieren, der den Einsatz von sogenannten
privaten bewaffneten Sicherheitsfirmen, PBS, an Bord
von Schiffen erlauben soll, die unter deutscher Flagge
fahren. Damit würde erstmals der Einsatz von bewaffneten Militär- und Sicherheitsdienstleistungsunternehmen
aus Deutschland außerhalb Deutschlands erlaubt werden. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass
damit unweigerlich die Tür für eine Legalisierung von
Söldnerfirmen à la Blackwater/Xe Systems, Dyncorp
oder Gurkha Services in Deutschland aufgestoßen wird.
Natürlich kann man trefflich über die Begriffe streiten. Ob „Söldner“ oder „Sicherheitsdienstleister“ oder
„Militärexperte“ - klar ist: Sie üben ihre Tätigkeit wegen des Geldes aus. Und im Fall des Einsatzes auf Schiffen gegen Piraten üben sie ihre Tätigkeit im Auftrag von
Unternehmen aus. Das heißt, es geht den Sicherheitsunternehmen nicht um Ideale wie die freie Seefahrt oder
um politische Ziele wie den Schutz von Transportwegen.
Es geht ihnen um Profit. Dessen sollte man sich immer
klar sein, wenn man Privatpersonen erlaubt, Waffengewalt anzuwenden.
An diese Töpfe wollen die deutschen Sicherheitsunternehmen nun heran und machen Lobbyarbeit in eigener Sache - auch unterstützt von einigen Reedern.
Mit dem vorliegenden Antrag will sich nun auch die
SPD in diesen Reigen einreihen. Sicherlich: Einige Bedenken werden geäußert, es wird zur Vorsicht gemahnt.
Aber unter dem Strich bleibt: Die SPD will private bewaffnete Sicherheitsdienstleister an Bord - und am besten deutsche Sicherheitsdienstleister. Erneut drängt sich
die Analogie zu Rüstungsexportfragen auf: Streitkräfte
brauchen Waffen. Daher wäre es doch gut, wenn es deutsche Waffen nach deutschen Qualitätsstandards sind. So
wurde Deutschland zu einem der größten Rüstungsexporteure. Soll das nun auch in dieser Branche so werden? Die Linke lehnt das ab.
Während auf internationaler Ebene eher darum gerungen wird, das Problem, das diese privaten bewaffneten Sicherheitskräfte in den vielen Konfliktregionen darZu Protokoll gegebene Reden
Paul Schäfer ({0})
stellen, einzuhegen, wollen Bundesregierung und nun
auch SPD also die Voraussetzung schaffen, dass auch
von Deutschland aus Söldnernachschub kommt. Entscheidende rechtliche und ethische Fragen werden ausgeblendet, der Öffentlichkeit wird Sand in die Augen
gestreut und suggeriert, dass die Risiken privater bewaffneter Sicherheitskräfte beherrschbar sind.
Es soll der Anschein erweckt werden, dass an Bord
die Einhaltung menschenrechtlicher Standards, die Einhaltung des humanitären Völkerrechts gewährleistet
werden kann - auf dem Papier sicherlich, genauso wie
auf dem Papier der Endverbleib deutscher Rüstungsexporte jedesmal verbindlich zugesichert wird. Aber wo
es keine Kontrollen gibt, keine Rechenschaftspflicht und
de facto kaum Klagemöglichkeiten der betroffenen mutmaßlichen Piraten, wird es mit diesen Standards nicht
weit her sein.
Die Bundesregierung hat dies bereits in ihrer Antwort
auf eine Kleine Anfrage der Linken bestätigt: Der Waffeneinsatz durch Privatpersonen an Bord führt nicht automatisch zu einem Ermittlungsverfahren. Und: „Eine
fortlaufende Überwachung und Aufsicht der Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen ist nicht möglich.“
Die privaten bewaffneten Sicherheitskräfte dürfen
also quasi im rechtsfreien Raum agieren. Das sogenannte Jedermanns- bzw. Notwehrrecht wird auf diese
Firmen ausgedehnt.
Hier sei noch angemerkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Das Verbot von Kriegswaffen an
Bord von Handelsschiffen ist schön und gut - aber auch
andere Kleinwaffen sind tödlich. Halbautomatische
Waffen zählen zum Beispiel nicht per se zu den Kriegswaffen.
Der Vorstoß der Bundesregierung, aber auch der Antrag der SPD offenbart nicht nur Ratlosigkeit darüber,
wie Seewege wirkungsvoll und im Einklang mit dem Völkerrecht geschützt werden können. Beide Initiativen sind
in hohem Maße fahrlässig.
Ärgerlich ist auch, dass eine Initiative mit einer solch
großen Tragweite auf so dünner Wissensgrundlage vorangetrieben wird. Die Bundesregierung räumt ein, dass
sie im Vorfeld des Gesetzesvorhabens nicht einmal eine
genaue Analyse der bisherigen Erfahrungen anderer
Staaten vorgenommen hat: genaue Zahlen - Fehlanzeige. Man verlässt sich auf einige wenige Auskünfte
von wahrlich nicht altruistischen Reedereien. Auch die
SPD ist kaum besser informiert.
Die Fragen, wie viele mutmaßliche Piraten von privaten Sicherheitskräften, die von anderen Handelsflotten eingesetzt werden, bereits verwundet oder getötet
wurden, scheint auch keine Nachforschung wert gewesen zu sein.
Nein, der Antrag der SPD wird dem Problem der sicheren Seeschifffahrt nicht gerecht. Der Antrag schafft
zudem eine unübersichtliche Zahl neuer Probleme. Das
zeigt sich schon im Kleinen. Im Bestreben, eine möglichst eindeutige Kommandokette an Bord zu gewährleisten, soll die Rolle des Kapitäns aufgewertet werden.
Aber hat man die Kapitäne gefragt, ob sie sich für ausreichend qualifiziert halten, quasi als Oberbefehlshaber
den Waffeneinsatz zu befehlen und den Tod anderer
Menschen in Kauf zu nehmen? Sind die Kapitäne bereit,
die Haftung dafür zu übernehmen?
Es zeigt sich auch im Großen: Viele Staaten werden
sich zu Recht weigern, die Fahrt von ausländischen
Schiffen mit schwerbewaffneten Privatpersonen an Bord
durch ihre Hoheitsgewässer zu erlauben. Die Regierung
Südafrikas hat zum Beispiel jüngst der britischen Regierung eine entsprechende Absage erteilt.
Natürlich wäre eine Legalisierung praktisch: praktisch für die Reeder, praktisch für die Sicherheitsunternehmen und praktisch für den Staat. Die Bundesregierung würde sich damit der leidigen Frage nach einer
politischen und völkerrechtlichen Lösung des Piraterieproblems entledigen - und die Haftung für getötete und
verletzte mutmaßliche Piraten abgeben. Erinnert sei nur
an den Fall, dass italienische Soldaten indische Fischer
fälschlicherweise für Piraten gehalten und diese getötet
haben. Jetzt steht die italienische Regierung unter
Druck. Das wäre natürlich mit privaten Sicherheitskräften nicht passiert - ein zynischer Gedankengang.
Der gegenwärtige Kurs von SPD und Bundesregierung ist verantwortungslos. Die Auslagerung von
Sicherheitsaufgaben darf sich nicht an Opportunität und
Kosten orientieren. Auf hoher See das Recht des Stärkeren zu fördern - das ist gefährlich. Da geht die Linke
nicht mit.
Piraterie ist kein Phänomen des 21. Jahrhunderts.
Seit es Seefahrt und Handel gibt, tritt das Phänomen auf.
Verändert hat sich nicht nur die internationale Seeschifffahrt, sondern verändert haben sich auch die Mittel, die
von Piraten bei Übergriffen zum Einsatz kommen. Hiergegen müssen Maßnahmen ergriffen werden. Eine gesetzliche Regelung zum Einsatz privater Sicherheitsdienste an Bord deutscher Schiffe soll nun in einem
bisherigen rechtlichen Graubereich Klarheit schaffen.
Die deutsche Handelsflotte ist - nach Eignern und
Anzahl der Schiffe - die größte weltweit. Sie zählt über
3 700 Schiffe und ist weltweit im Einsatz. Keine andere
Nation steht also in einer solch großen Verantwortung
gegenüber ihren Reedern und der auf den Schiffen Beschäftigten wie Deutschland.
Wegen anhaltender wirtschaftlicher und politischer
Instabilität ist vor allem die Küste vor Somalia ein weltweiter Brennpunkt der Piraterieangriffe auf Handelsschiffe.
Die bereits seit Jahren anhaltende Piraterie vor der
Küste Somalias geht bis weit in den Indischen Ozean hinein. Derzeit wird versucht, die Piraterie militärisch
durch die Operation Atalanta einzudämmen bzw. zu verhindern.
Dass bei dieser militärischen Operation nicht alle Piratenübergriffe auf internationale Handelsschiffe verhindert werden können, steht außer Frage. Dennoch
Zu Protokoll gegebene Reden
steht Deutschland in der Pflicht zum Schutz der Menschen auf deutschen Schiffen. Die Schiffsbesatzungen
sind diejenigen, die am stärksten unter der Piraterie zu
leiden haben. Es ist nicht zu verantworten, sie und ihre
Angehörigen bei jeder Passage im Ungewissen zu lassen. Sie haben als Hauptbetroffene Recht auf Schutz und
einen sicheren Arbeitsplatz, so wie auch jeder Angestellte hier in Deutschland keine Angst auf seinem oder
ihrem Arbeitsplatz haben will. Nach deutschem Recht ist
dieser Schutz eindeutig eine Polizeiaufgabe - und keine
militärische. Ein Einsatz von Polizei auf Schiffen deutscher Flagge ist jedoch aus Kapazitäts- und Kostengründen für die öffentlichen Haushalte nicht möglich.
Daher bedient man sich nun der Idee des Einsatzes privater Sicherheitsdienste an Bord von Schiffen. Es werden bereits heute private Sicherheitsdienste an Bord von
ausländischen Handelsschiffen eingesetzt. Wir brauchen
auch klare Regeln für deutsche Schiffe.
Verschiedene offene Fragen müssen jedoch bei einem
Einsatz privater Sicherheitsdienste an Bord von deutschen Handelsschiffen berücksichtigt werden: Welche
Aspekte gehen in eine gesetzlich zu regelnde Zertifizierung ein? Welche Arten von Bewaffnung sind erlaubt?
Wie wird sichergestellt, dass beim Einsatz von Sicherheitsdiensten auf deutschen Handelsschiffen keine
Kriegswaffen eingesetzt werden? Inwieweit wird der Kapitän im Rahmen seiner Anweisungsbefugnis bei der Gefahrenabwehr für die Folgen haftbar gemacht?
In einem bevorstehenden Gesetzesvorschlag der Bundesregierung müssen die oben genannten Fragen geklärt sein. Es darf nicht sein, dass auf Schiffen deutscher
Flagge private Sicherheitsdienste Kriegswaffen einsetzen. Das fördert eine Gewaltspirale. Auch müssen die
Besatzungen und Sicherheitsdienste im Umgang mit Piraten gut geschult werden. Daher finde ich die Forderung der SPD, eine menschenrechtliche und humanitäre
Schulung von Sicherheitsdienstleistern in einem Gesetzesvorhaben mit aufzunehmen, sehr sinnvoll.
Geklärt werden muss auch die Weisungsbefugnis des
Kapitäns und dessen Haftung. Es kann nicht sein, dass
sich der Kapitän strafbar macht, wenn es zu Personenschäden kommt. Damit dürfen Kapitäne nicht allein gelassen werden.
Ein Lizenzierungsverfahren der Sicherheitsdienste ist
auch deshalb erforderlich, weil ohne Registrierungsund Genehmigungspflicht deutsche Behörden bei vermutetem strafrechtlich relevantem Verhalten erst nach
konkreten Verdachtsmomenten handeln können.
Wir fordern daher die Bundesregierung auf, uns zügig
einen Gesetzesvorschlag vorzulegen, der sich im Rahmen der Lizenzierung und Zertifizierung privater Sicherheitsdienste auf internationale Abkommen stützt
und die Beschränkungen des Grundgesetzes zum Kriegswaffeneinsatz auf deutschen Schiffen nicht außer Acht
lässt. Der Antrag der SPD geht hier voran und sollte
auch von der Koalition in den Ausschüssen offen und unvoreingenommen debattiert werden.
Die wirkungsvolle Bekämpfung der Piraterie auf See
ist für diese Bundesregierung und für mich als Koordinator für die maritime Wirtschaft eine Aufgabe, der wir
sehr große Bedeutung zumessen. Bei der Bekämpfung
der Seepiraterie geht es zuallererst um die Gesundheit
und die allgemeine Sicherheit der Seeleute.
Es geht überdies um erhebliche wirtschaftliche Interessen Deutschlands als Exportnation. Mehr als 90 Prozent des interkontinentalen Warenverkehrs werden über
den Seeweg abgewickelt. Außerdem gehört unser Land
zu den führenden Seefahrtnationen der Welt.
Die komplexe Herausforderung der Bekämpfung der
Seepiraterie kann nur mit einem Bündel von kurz-, mittel- und langfristig wirkenden Gegenmaßnahmen bewältigt werden. Ich habe deshalb frühzeitig die betroffenen
Ressorts innerhalb der Bundesregierung, die Seeverkehrs- und Versicherungswirtschaft und Gewerkschaften
zusammengerufen, um über wirksame Gegenmaßnahmen zu beraten.
Es hat sich gezeigt: Aus operativen, logistischen, personellen und finanziellen Gründen ist ein flächendeckender Einsatz von hoheitlichen Kräften nicht möglich.
Die militärischen Kapazitäten sind mit der für die Stabilisierung der Sicherheitslage am Horn von Afrika überaus wichtigen EU-Mission Atalanta ausgeschöpft.
Auch Gefahrenabwehrkräfte der Bundespolizei können keinen umfassenden Schutz der deutschen Handelsflotte gewährleisten. Allerdings weise ich darauf hin,
dass umfangreiche Beratungsleistungen beim Pirateriepräventionszentrum der Bundespolizei See in
Neustadt/Holstein angeboten und auch nachgefragt
werden. Vor kurzem habe ich mir bei einem Besuch in
Neustadt einen persönlichen Eindruck von der großen
Kompetenz und Einsatzbereitschaft der Bundespolizei
bei diesem Thema verschafft.
Bei der Abwehr von Piratenangriffen auf hoher See
hat sich die Einhaltung der „Best Management Practices“ der International Maritime Organization, IMO, als
sehr wirkungsvoll erwiesen. In Ergänzung und Umsetzung der IMO-Richtlinien setzen immer mehr Reeder international agierende Sicherheitsunternehmen ein.
Erfreulicherweise gibt es bisher keinen einzigen Fall,
in dem ein durch private bewaffnete Sicherheitskräfte
geschütztes Schiff erfolgreich angegriffen wurde, - auch
dies nehme ich mit Freude und Beruhigung zur Kenntnis - die vielfach befürchteten Gewalteskalationen sind
bisher ausgeblieben. Jetzt geht es darum, sicherzustellen, dass nur solche Sicherheitsfirmen eingesetzt werden, die über die nötige Zuverlässigkeit und Erfahrung
verfügen.
Mit dem neuen Zulassungsverfahren für Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen kommt die Bundesregierung auch einem Wunsch der Reeder nach. Diese
fordern berechtigterweise mehr Rechtssicherheit bei der
Beauftragung von privaten Bewachungsunternehmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn ich mir den Antrag der SPD ansehe, der Grundlage der heutigen Debatte ist, könnte ich zu zweierlei
Schlussfolgerungen kommen. Zum einen könnte ich ihn
für überflüssig halten, da dessen wesentlicher Inhalt von
der Bundesregierung längst auf den Weg gebracht ist
und wir bereits in Kürze einen Gesetzentwurf im Bundeskabinett beschließen werden.
Zum anderen - und diese Lesart möchte ich mir zu eigen machen - nehme ich mit Freude zur Kenntnis, dass
auch die SPD bei dieser wichtigen und für die Seeleute
existenziellen Frage auf der Linie der Bundesregierung
ist. Dies würde ich mir - am Rande bemerkt; dies ist ja
heute nicht unser Thema - auch für die Operation
Atalanta wünschen, die eine ähnlich zentrale Bedeutung
für die Sicherheit der deutschen Handelsflotte und ihrer
Besatzungen hat.
Lassen Sie mich abschließend noch einige Eckpunkte
unseres Vorschlages skizzieren und auch hier die Übereinstimmung mit den Forderungen Ihres Antrages feststellen: Erstens. Die privaten Sicherheitsdienste werden
keine Kriegswaffen mit sich führen. Zweitens. § 106 Seemannsgesetz bleibt unangetastet. Der jahrhundertealte
Grundsatz, dass auf jedem Schiff allein der Kapitän das
Sagen hat, bleibt unverändert, auch im Verhältnis zu den
Sicherheitsdiensten. Drittens. Die Befugnisse der
Sicherheitsdienste werden bewusst nicht erweitert. Es
bleibt in klarer Abgrenzung zu „Söldnerdiensten“ bei
den „Jedermannsrechten“ der Notwehr und Nothilfe.
Viertens. Mit dem neuen Zulassungsverfahren werden
wir sicherstellen, dass Bewachungsunternehmen nur
zuverlässiges und sachkundiges Personal einsetzen
werden.
Schließlich fünftens. Wir wissen, dass wir in den
Gefahrenregionen keine funktionierenden staatlichen
Strukturen, aber wirtschaftliche Armut haben. Deshalb
wird die Bundesregierung über die Instrumentarien der
Entwicklungszusammenarbeit und anderer langfristig
angelegter Aufbauprojekte zum Beispiel in Somalia weiterhin flankierend aktiv bleiben.
Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Überzeugungen hoffe ich, dass wir bei dem anstehenden parlamentarischen Verfahren mit einer breiten Unterstützung
aller Fraktionen zu einer schnellen und guten Lösung im
Sinne und zum Wohle der Seeleute und der Seeschifffahrt
kommen werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9403 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie. Die Fraktion der SPD wünscht die Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD, also Federführung beim Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion von CDU/CSU, also Federführung beim Wirtschaftsausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 29:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich
Maurer, Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Freilassung der „Miami Five“
- Drucksachen 17/7416, 17/8395 ({1}) Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Egon Jüttner
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({2})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden der folgenden Kollege zu Protokoll gegeben:
Dr. Egon Jüttner, Dr. Wolfgang Götzer, Klaus Barthel,
Marina Schuster, Heike Hänsel und Hans-Christian
Ströbele.
Mit ihrem Antrag „Freilassung der ‚Miami Five‘“
möchte die Fraktion Die Linke die Freilassung respektive Begnadigung und Ausreise von fünf Kubanern erreichen, denen vorgeworfen wird, die exilkubanische
Organisation Alpha 66 infiltriert zu haben, um weitere
Anschläge auf ihr Heimatland Kuba zu verhindern.
„Miami Five“ bezeichnet eine Gruppe von Kubanern,
die im Jahre 1998 als Anführer eines Spionagenetzwerkes in Miami verhaftet und zu hohen Strafen verurteilt
wurden. In Kuba werden Antonio Guerrero Rodríguez,
Fernando González Llort, Gerardo Hernández Nordelo,
Ramón Labañino Salazar sowie René González
Sehwerert von der Propagandamaschine des Regimes
der Castro-Brüder als ungerecht inhaftierte Nationalhelden verehrt, da sie im Auftrag der kubanischen
Regierung neben der Ausspähung von US-Militäreinrichtungen unter anderem auch Informationen über Aktivitäten in exilkubanischen Organisationen sammelten.
Ohne sämtliche Aktivitäten von Alpha 66 und anderen
dem bewaffneten Kampf nicht abgeneigten Gruppen der
kubanischen Opposition gutheißen zu wollen, setzt dieser Antrag völlig falsche Akzente und zeigt einmal mehr
die Treue, die von den Linken der Terrorherrschaft des
Castro-Regimes entgegengebracht wird. Dieser Antrag
reiht sich ein in eine ganze Reihe von peinlichen Anbiederungsversuchen seitens der Linken gegenüber der
kubanischen Regierung. Ich erinnere hier nur an das
Glückwunschschreiben von Frau Lötzsch und Herrn
Ernst zum 85. Geburtstag Fidel Castros, in dem von einem „kampferfüllten Leben und erfolgreichen Wirken“
die Rede war und in dem Kuba als „Beispiel und Orientierungspunkt für viele Völker dieser Welt“ gepriesen
wird.
Ein weiteres Beispiel der Kuba-Verherrlichung durch
die Linke war der Antrag „Für eine Normalisierung der
Beziehungen der Europäischen Union zu Kuba“ ({0}), in dem sich kein kritisches Wort über
das totalitäre Regime in Kuba fand, dafür aber unhaltbare Vergleiche mit Ländern wie Mexiko, Kolumbien
und Peru angestellt wurden. Wie zu erwarten, wurde das
Ansinnen der in dieser Frage auf europäischer Ebene
völlig isolierten damaligen spanischen Regierung von
allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
nicht unterstützt.
Insofern überrascht es nicht, dass die Fraktion Die
Linke nun die Freilassung bzw. Begnadigung von fünf
Personen verlangt, die wegen Spionagetätigkeit und in
einem Fall sogar wegen Verschwörung zum Mord angeklagt und in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu hohen
Haftstrafen verurteilt worden sind. Es ist bedenklich,
dass hierüber im Hohen Hause nicht völlige Einigkeit
besteht, aber Spionagetätigkeit und Verschwörung zum
Mord sind keine Kavaliersdelikte, bei denen man die
Verurteilten „einfach mal so“ freilässt oder begnadigt.
Das Ansinnen der Linken ist mit dem eines demokratisch
gewählten und legitimierten Parlaments nicht in Einklang zu bringen. Die Linke hat durch diesen Antrag einmal mehr bewiesen, dass sie von einer demokratischen
Partei nach dem Verständnis des deutschen Grundgesetzes weit entfernt ist.
Besonders bedenklich und befremdlich ist, dass die
Linke nicht einmal eine Gegenleistung von kubanischer
Seite für deren Freilassung oder Begnadigung fordert.
In dem Antrag findet sich kein Wort zu den inakzeptablen Umständen in Kuba. Das Land ist eines der totalitärsten Länder der westlichen Hemisphäre, in dem die
bürgerlichen und politischen Rechte stark eingeschränkt
sind, Regierungskritiker inhaftiert werden und aus dem
freigelassene Häftlinge berichten, dass sie während der
Haft geschlagen worden seien.
So wenig rechtsstaatlich und so politisch, wie Sie,
meine Damen und Herren von der Linken, das Verfahren
der amerikanischen Justiz in dem zur Abstimmung vorliegenden Antrag darstellen, ist dieses aber nicht. Oder
wie beurteilen Sie die Tatsache, dass dem bereits freigelassenen, aber mit einer Fußfessel in den USA lebenden
René González Sehwerert am 19. März 2012 eine humanitäre Sondergenehmigung für einen zweiwöchigen Besuch seines in Kuba lebenden kranken Bruders gewährt
wurde? Von solchen humanitären Sondergenehmigungen können die Gefangenen auf Kuba nur träumen.
Schlimmer noch: Setzen sich deren Familienangehörige
für eine Verbesserung der Haftbedingungen ein, so werden auch diese den Repressalien des Castro-Regimes
unterworfen und ihre persönlichen Freiheitsrechte aufs
Stärkste eingeschränkt. Wie es leider schon Tradition bei
Ihren Anträgen zu Kuba ist, findet sich im Antrag „Freilassung der ‚Miami Five‘“ zu den Zuständen auf Kuba,
die einzig und allein das totalitäre Regime dort zu vertreten hat, kein Wort.
Einmal mehr wird durch diesen Antrag deutlich, wo
die ideologischen Partner der Linken zu finden sind. Sie
sind nicht beim kubanischen Volk zu finden, sie sind
nicht in den kubanischen Gefängnissen zu finden, und
sie sind nicht bei der großen, in der Regel friedlichen kubanischen Diaspora zu finden, nein, sie sind an den
Schalthebeln der Macht in Kuba zu finden.
Wir werden deshalb dem Antrag der Linken nicht zustimmen.
Auf Antrag der Fraktion Die Linke befassen wir uns
heute mit der Freilassung der sogenannten Miami Five,
fünf Kubanern, die in den USA 2001 wegen Spionagetätigkeit und Beihilfe zum Mord verurteilt wurden. Diesen
Antrag lehnen wir entsprechend der Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses ab.
Bei den Verbrechen der Miami Five handelt es sich
nicht um Kavaliersdelikte. Die USA haben nach einem
mehrjährigen Gerichtsverfahren hohe Haftstrafen verhängt. Diese wurden in Revisionsverfahren teils bestätigt und teils reduziert. Dabei wurde die Haft von René
González vorzeitig wegen guter Führung ausgesetzt. Im
März dieses Jahres durfte er seinen kranken Bruder in
Kuba besuchen. Somit ist die Behauptung der Fraktion
Die Linke, die USA würden René González die Ausreise
verweigern, gegenstandslos.
Wenn die Fraktion Die Linke nun eine Begnadigung
der übrigen Vier fordert, dann ist das ganz offensichtlich
mit ihrer verqueren Ideologie zu erklären, die offene
Sympathie für kommunistische Diktaturen zeigt. Lassen
Sie mich an dieser Stelle nur kurz an das unselige Glückwunschschreiben von Klaus Ernst und Gesine Lötzsch zu
Castros Geburtstag letztes Jahr erinnern.
Dabei erwartet Die Linke noch nicht einmal eine Gegenleistung von Kuba für eine Begnadigung der vier Kubaner. Diese Forderung ist ausschließlich der politischen Nähe der Fraktion Die Linke zu dem kubanischen
Regime geschuldet und setzt die völlig falschen Akzente
im Umgang mit Kuba.
Da Menschenrechtsverletzungen und starke Einschränkungen bürgerlicher und politischer Rechte und
Freiheiten in Kuba nach wie vor an der Tagesordnung
sind, muss es uns darum gehen, den Weg Kubas in eine
freie und demokratische Zukunft zu unterstützen.
Für eine Verbesserung der Lebensbedingungen und
für demokratische Reformen gibt es positive Anzeichen,
die die EU in ihrer zweigleisigen Politik gegenüber
Kuba auch entsprechend würdigt. Dies ist der richtige
Ansatz. Man kann über die Lockerung von Sanktionen
nachdenken, wenn Fortschritte in Richtung Demokratie
zu verzeichnen sind, und damit weitere Anreize für demokratische Reformen setzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Unsere Bereitschaft zum Dialog und zur Unterstützung der schwierigen Wirtschaftsreformen Kubas bleibt
dabei ungebrochen. So hat die EU in den vergangenen
20 Jahren mehr als 200 Millionen Euro bereitgestellt,
um Reformen in Kuba zu unterstützen. An dieser Politik
werden wir festhalten. Sie hat in den vergangenen Jahren erste Früchte getragen und kann Kuba den Weg in
die Gemeinschaft westlicher Demokratien weisen.
Der Papst war kürzlich zu Besuch auf Kuba. Auch
aus der evangelischen Kirche hört man, die Blockade
Kubas habe sich historisch überlebt. Das Gipfeltreffen
der Staaten Nord-, Mittel- und Südamerikas in Kolumbien ist kürzlich ohne Abschlusserklärung grandios gescheitert, weil allein die USA - und Kanada - weiter auf
dem Ausschluss Kubas bestehen und damit ziemlich isoliert dastehen. Man könnte beim Thema Kuba den Eindruck gewinnen: Alle bewegen sich, nur die USA und die
Bundesregierung nicht.
Für die Miami Five scheinen die Dinge geradeso
festgefahren: Kritisch und mit großer Sorge beobachten
wir seit längerer Zeit Verlauf und Ergebnis des Strafverfahrens gegen die fünf Kubaner, nämlich Fernando
González Llort, René González Sehwerert, Antonio
Guerrero Rodríguez, Gerardo Hernández Nordelo und
Ramón Labañino Salazar, die im Dezember 2001 von
einem Bundesgericht in Miami, Florida, zu langjährigen
Strafen verurteilt worden sind. Sie waren am 12. September 1998 verhaftet worden. Schon vor knapp acht
Jahren - mit Briefen vom 1. Juli 2004 und später vom
16. Juni 2006 - hatten Abgeordnete des Deutschen Bundestages ihre Kolleginnen und Kollegen im US-Kongress auf die Problematik dieses Falles aufmerksam
gemacht und sie aufgefordert, leider vergeblich, sich für
die baldige Freilassung der fünf Gefangenen einzusetzen. Sie bzw. wir waren weltweit nicht die Einzigen, die
das getan haben, sondern es gibt eine weltweite Solidaritätsbewegung.
Wir wissen, dass der ordentliche Rechtsweg erschöpft
ist, dass aber zurzeit noch über Anträge in dem von den
Verurteilten anhängig gemachten sogenannten HabeasCorpus-Verfahren zu entscheiden ist. Die Regierung hat
hierzu inzwischen wohl Stellung genommen und beantragt, die Anträge zurückzuweisen. Einen Termin zur
Verhandlung in diesen Verfahren hat die zuständige
Richterin bisher nicht anberaumt.
In diesem Stadium des Verfahrens bitten wir alle Beteiligten nachdrücklich, sich für die Freilassung der fünf
Männer und ihre Rückkehr in ihr Heimatland Kuba einzusetzen. Es sollte geprüft werden, ob es möglich ist, die
fünf auf dem Wege eines Gnadenerlasses in die Freiheit
und nach Kuba zu entlassen. Der Präsident der Vereinigten Staaten hätte nach der Verfassung das Recht
hierzu. Amnesty International hat dies in der ausführlichen und nach unserer Auffassung zutreffenden Stellungnahme vom Oktober 2010 ausdrücklich angeregt.
Gemeinsam mit der Arbeitsgruppe zu willkürlichen
Inhaftierungen des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen in der Entscheidung vom Mai 2005, mit
Amnesty International und vielen anderen sind wir der
Überzeugung, dass die fünf in Miami keinen fairen Prozess hatten. Im Report 2011 von Amnesty International
ist diese Kritik ausdrücklich wiederholt worden.
Die fünf Kubaner sind, wie bereits gesagt, seit September 1998, also seit mehr als 13,5 Jahren inhaftiert.
Unstreitig haben sie dadurch gegen US-Recht verstoßen, dass sie als Agenten eines fremden Staates tätig geworden sind, ohne dies den zuständigen Stellen anzuzeigen; einige von ihnen haben auch unter falscher
Identität gearbeitet. Dabei lassen wir offen, ob dies
nicht dadurch gerechtfertigt sein kann, dass sie Schaden
von ihren eigenen Landsleuten, aber auch von US-Bürgern abwenden wollten. Es sind ja gerade die USA, die
ihrerseits in anderen Ländern US-Agenten und -Militärs
nicht der jeweiligen Justiz unterwerfen wollen. Für ihre
Verfehlungen haben die fünf nach unserer Überzeugung
nach so langer Zeit mehr als gebüßt. Wir kommen zu
dieser Überzeugung, weil die übrigen Mitglieder der
Gruppe kubanischer Agenten, die sich mit der Staatsanwaltschaft geeinigt hatten, wesentlich milder bestraft
worden sind und sich inzwischen alle in Freiheit befinden.
Selbstverständlich sollte es sein, dass die Familienangehörigen der fünf, solange jene sich noch in den Vereinigten Staaten aufhalten müssen, die erforderlichen
Visa erhalten, um in dem üblichen Rahmen die Gefangenen besuchen zu können. Das gilt insbesondere für Olga
Salanueva, die Gattin von René González, und für
Adriana Pérez, die Gattin von Gerardo Hernández,
denen bisher immer die Erteilung von Besuchsvisa verweigert worden ist. Auch insoweit hat Amnesty International des Öfteren das Verhalten der zuständigen USBehörden beanstandet. Der Fall von Adriana Pérez und
Gerardo Hernández ist aus noch einem weiteren Grund
menschlich in hohem Maße unbefriedigend. Frau Pérez
ist heute 42 Jahre alt; die Ehe ist bisher kinderlos geblieben. Das Ehepaar hat indessen den dringenden und
nachvollziehbaren Wunsch nach einem Kind. Dieser
Wunsch ist unter den gegebenen Umständen unerfüllbar.
Positiv ist zu vermerken: René González, der inzwischen auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen worden ist, zurzeit aber noch unter sogenannter überwachter Freiheit in Florida zu bleiben hat, ist es gestattet
worden, für zwei Wochen nach Kuba auszureisen, um
seinen schwerkranken Bruder zu besuchen.
Keine Frage: Die Miami Five müssen endlich freigelassen werden! Aber die völlige Unbeweglichkeit der
US-Regierung wird sicher nicht dadurch gelockert,
wenn auf der anderen Seite ebenso gebetsmühlengleich
und reflexartig die immer gleichen Appelle an die USA
gerichtet werden. Was wir brauchen, sind politische
Wege, die festgefahrene Kuba-Politik der USA aufzulockern, in enger Abstimmung mit den Ländern Mittelund Südamerikas und den zahlreichen EU-Partnern, die
dazu bereit sind. Eine Korrektur der europäischen
Kuba-Politik ist überfällig. Der Gemeinsame Standpunkt ist überholt.
Auf Kuba ist ein interessanter „Anpassungsprozess“
im Gang. Beobachter sprechen von relativ weit reichenZu Protokoll gegebene Reden
den, vor allem wirtschaftlichen Reformen. Auch wenn
ich an dieser Stelle nicht ins Detail gehen kann: Es lohnt
sich, diesen Prozess viel stärker zu beachten und zu analysieren.
Der Punkt ist: Gerade diejenigen, die von der kubanischen Regierung gebetsmühlenartig die Freilassung von
Gefangenen und innere Reformen verlangen, ignorieren
die positiven Veränderungen. Sie scheinen damit den
Verdacht zu bestätigen, es gehe ihnen weder um Menschenrechte noch um Reformen, sondern lediglich um
Machtdemonstrationen gegen eine missliebige Regierung. Aber auch umgekehrt scheint es manchem Appell
auf Freilassung der Miami Five weniger um die betroffenen Menschen zu gehen, weniger um eine insgesamt
veränderte Kuba-Politik, weniger um eine Unterstützung der zunehmenden Integration Kubas in Lateinamerika, sondern vor allem darum, sich politisch zu profilieren. Über die Reflexe in den USA braucht man sich dann
nicht zu wundern.
Was mich allerdings schon wundert, ist das Verhalten
der Koalitionsabgeordneten in dieser Frage. Was in den
Reden zu diesem Thema hier zu Protokoll gegeben
wurde, atmet den Geist einer längst vergangenen Epoche. Selbst wenn einem die kubanische Regierung nicht
passt, muss man doch in einer solchen humanitären
Frage einmal über seinen eigenen Schatten springen
können und Objektivität walten lassen.
Die SPD-Bundestagfraktion fordert die Bundesregierung auf, sich innerhalb der EU für eine grundlegende
Korrektur des Gemeinsamen Standpunktes einzusetzen.
Dies wäre auch ein Schritt, die eigene LateinamerikaStrategie ernst zu nehmen und mit Leben zu füllen. Der
dort immer wieder geforderte Dialog muss auch mit
Kuba geführt werden. Wer die positiven Veränderungen
in Kuba unterstützen will, muss den konfrontativen Geist
und die diskriminierende Praxis, die im offiziellen EUStandpunkt enthalten sind, aufgeben. Am Ende - spätestens - wird sich auch die US-Regierung bewegen müssen, auch hinsichtlich der Miami Five. Jenseits der heutigen Antragsdebatte könnte die Bundesregierung ohne
großen Lärm einiges dazu beitragen.
Eine konkrete und umfassende Neuausrichtung der
Kuba-Politik ist nötig. Symbolanträge verhärten die
Fronten mehr, als dass sie helfen. Wir werden uns zu
dem Antrag enthalten, weil wir sein Ziel teilen, aber den
Weg für nicht zielführend halten.
In dem uns vorliegenden Antrag fordert die LinksFraktion eine Freilassung der Miami Five - von denen
sich mittlerweile noch vier Personen in amerikanischer
Gefangenenschaft befinden. René González war im Oktober 2011 mit drei Jahren auf Bewährung, während derer er die USA nicht verlassen darf, aus der Haft entlassen worden.
Die Anklage in den USA lautete auf Spionage. Die
fünf Angeklagten sind im Jahr 2001 für schuldig erklärt
und verurteilt worden.
Unmittelbar nach der Freilassung von René González
im vergangenen Jahr hatten die USA Kuba den Vorschlag unterbreitet, González gegen Alan Gross auszutauschen. Alan Gross war im April 2011 von einem kubanischen Gericht zu 15 Jahren Haft wegen „Vergehen
gegen die Unabhängigkeit und Integrität des Staates“
verurteilt worden und ist nun in Havanna inhaftiert.
Diesen Vorschlag hatte Kuba jedoch ausgeschlagen.
Die USA und Kuba befinden sich also in Fragen der
Freilassung bzw. Überstellung von Gefangenen in Kontakt. Der Antrag der Links-Fraktion ist dahin gehend
obsolet.
In der Frage des Besucherrechts stimme ich jedoch
mit den Antragstellern überein. Dies genügt jedoch
nicht, dem Antrag zuzustimmen.
Uns muss es darum gehen, Kuba auf dem Weg in eine
freie und demokratische Zukunft zu unterstützen. Es gilt
deshalb, die vorsichtigen positiven Zeichen zu sehen,
aber gleichzeitig die negativen Signale nicht auszublenden.
So liegt zwischen der ersten Beratung dieses Antrags
und heute der bemerkenswerte Besuch des Papstes in
Kuba. Selbst die große Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit hat das Regime nicht davon abhalten können, im
Monat des Besuchs mehr als 1 100 Personen festzunehmen. Das ist die höchste Zahl in einem einzigen Monat
seit 50 Jahren. Mehr als die Hälfte der Festnahmen ist
vor und während des Besuchs von Papst Benedikt XVI.
erfolgt. Die kubanische Regierung behandelt Oppositionelle und Regimekritiker nach wie vor mit harter Hand.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie dürfen diese Ereignisse nicht ausblenden, was Sie jedoch
leider immer wieder tun. Auch deshalb war es richtig,
dass die Koalitionsfraktionen Ihren Antrag im vergangenen Dezember abgelehnt haben.
Der Missstand im politischen sowie menschenrechtspolitischen Bereich ist weiterhin besorgniserregend. Bereits im September 2011 wurden mehr als 560 Dissidenten vorübergehend festgenommen. Das war - bis zum
vergangenen Monat - die größte Festnahmewelle seit
30 Jahren.
Der seit 1996 geltende „Gemeinsame Standpunkt“
der EU setzt dennoch auch auf Dialog mit der kubanischen Regierung, um diese an ihre Verantwortung für
die Menschenrechte zu erinnern und auf Reformen der
kubanischen Gesetze und die Einhaltung internationaler
Übereinkünfte hinzuwirken. Ich zitiere: „In dem Maße,
wie die kubanische Regierung Fortschritte auf dem Weg
zur Demokratie macht, wird die Europäische Union diesen Prozess unterstützen, insbesondere durch Intensivierung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Vertiefung des Dialogs.“
Leider haben uns die Ereignisse der vergangenen
Monate weitestgehend enttäuscht, weshalb - abgesehen
von dem in großen Teilen nicht zustimmungsfähigen Inhalt - der Zeitpunkt des vorliegenden Antrags nicht mit
der Wirklichkeit der aktuellen Lage übereinstimmt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist zynisch, dass in diesem Jahr im Rahmen des
UN-Ausschusses gegen Folter, CAT, vom 7. Mai bis
1. Juni einschlägige Organisationen von US-Exilkubanern eine Beobachtungsreise auf kubanisches Territorium missbrauchen, um Kuba wegen Folter anzuklagen.
Es sind die Regierungen der USA, die mit ihrer
unmenschlichen Handels-, Wirtschafts- und Finanzblockade offen gegen die Menschenrechte verstoßen und
auf dem besetzten kubanischen Territorium im Gefangenenlager Guantánamo sich der massiven Folter schuldig machen. Es ist erwiesen, dass Guantánamo ein
rechtsfreier Raum ist.
Dass die EU und die Bundesregierung mit zweierlei
Maß an das Thema Menschenrechte und Kuba herangehen, zeigt sich auch im Umgang mit den fünf Kubanern,
die seit 1998 in den USA gefangen gehalten werden.
Antonio Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort,
Gerardo Hernández Nordelo, Ramón Labañino Salazar
und René González Sehwerert hatten exilkubanische
Terrorgruppen in den USA infiltriert, um Attentate auf
ihr Land zu verhindern.
Dafür gebührt ihnen Respekt.
Die US-Justiz hat sie indes unter dem Vorwurf der
Spionage zu hohen Haftstrafen verurteilt. Wir erwarten
von der Bundesregierung, dass sie sich für die Freiheit
der fünf einsetzt. Aber wir erkennen keinerlei Bemühungen. Dabei bestätigen weltweit Menschenrechtsorganisationen und auch die UNO, dass Verhaftung, Prozessverlauf und Haftbedingungen rechtsstaatlichen
Standards völlig entgegenliefen. Seit Jahren dürfen zum
Beispiel die Ehefrauen ihre Männer nicht im Gefängnis
besuchen.
Wir freuen uns, dass René González Sehwerert nun
zumindest aus dem Gefängnis entlassen wurde und zum
zweiwöchigen humanitären Besuch in Havanna in diesem Jahr weilen konnte.
Wenn die Bundesregierung Glaubwürdigkeit in ihrer
Außenpolitik erreichen will, darf sie nicht mit zweierlei
Raster messen und einerseits mit Ländern wie Mexiko
und Kolumbien, in denen Journalisten und Gewerkschafter ihres Lebens nicht sicher sind, kooperieren und
andererseits bei Kuba Bedingungen stellen, deren Erfüllung die Aufgabe und Auflösung des dortigen sozialistischen Systems bedeuten würde.
Wenn die im Mai 2011 beschlossenen Maßnahmen
zur Zulassung eines nicht staatlichen Sektors im Dienstleistungssektor und die selbstständige Bewirtschaftung
bei der Landwirtschaft erfolgreich sein sollen, kann
internationale Unterstützung hilfreich sein. Gerade die
von Minister Niebel gern angesprochene trilaterale EZ
und die Süd-Süd-Kooperation könnten vom BMZ unterstützt werden. Die Linke wirbt dafür, die erfolgreiche
Süd-Süd-Kooperation Kubas mit anderen lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern zu
unterstützen.
Voraussetzung dafür ist, endlich vom unsäglichen
sogenannten Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Kuba
abzurücken. Die EU braucht einen neuen Ansatz, eine
echte Kooperation mit diesem Land, das für den
Aufbruch in Lateinamerika, für die sozialen und demokratischen Fortschritte und für die regionalen Integrationsprozesse dort eine wichtige Rolle spielt.
Zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass in vielen
Ländern der Welt, auch in den USA und sogar in Miami
selbst, Solidaritätskomitees bestehen, die den Prozess
gegen die Miami Five als politisch beeinflusstes Verfahren sehen und der US-amerikanischen Justiz schwere
Menschenrechtsverletzungen und Rechtsbeugung vorwerfen, darunter die zehn Nobelpreisträger José RamosHorta, Wole Soyinka, Adolfo Pérez Esquivel, Nadine
Gordimer, Rigoberta Menchú, José Saramago, Günter
Grass, Alice Walker, Mikis Theodorakis und Noam
Chomsky.
Die Fraktion Die Linke fordert gemeinsam mit diesen
vielen Menschen weltweit: Freiheit für Antonio
Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort, Gerardo
Hernández Nordelo und Ramón Labañino Salazar und
die freie Ausreise für René González Sehwerert! Das
Embargo gegen Kuba muss beendet werden, denn die
Blockade Kubas ist völkerrechtswidrig und schadet der
kubanischen Bevölkerung.
Das Schicksal der sogenannten Miami Five gehört zu
den dunklen Kapiteln der US-Justizgeschichte. Es ist im
Zusammenhang mit der jahrzehntelangen Embargopolitik der USA gegen Kuba zu sehen, die sogar der Papst
bei seinem jüngsten Besuch in Kuba kritisiert hat. Es hat
zu tun mit aggressiven und kriegerischen Aktionen von
Exilkubanern in Florida gegen Kuba.
Im September 1998 wurden die Miami Five, die fünf
Kubaner Antonio Guerrero Rodríguez, Fernando
González Llort, Gerardo Hernández Nordelo, Ramón
Labañino Salazar und René González Sehwerert in den
USA von der Bundespolizei FBI verhaftet. Ihnen wurde
vorgeworfen, Mitglieder eines „Wasp Network“ zu sein,
das exilkubanische Gruppen ausspioniert haben soll.
Um Anschläge auf Einrichtungen und Personen auf
Kuba zu verhindern, sollen sie exilkubanische Terrororganisationen in Florida unterwandert haben, die kriminelle Akte gegen Kuba planten. Drei Monate vorher
war seitens der Regierung in Havanna einer Delegation
desselben FBI umfangreiches Aktenmaterial übergeben
worden, aus dem sich ergeben sollte, dass Gruppen von
Exilkubanern in Florida weit über 100 Anschläge auf
Kuba geplant haben sollen. Die fünf Gefangenen kamen
sofort in Isolationshaft. Sie wurden der Verschwörung
zur Spionage angeklagt, einer von ihnen auch der Verschwörung zum Mord. Im Dezember 2001 wurden sie zu
lebenslangen Gefängnisstrafen verurteilt. Prozessbeobachter kritisierten, dass der Prozess in Miami nicht
fair gewesen sei und Beweise fehlten. Die Verurteilten
legten Berufung ein.
Im Mai 2001 stellte die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Verhaftungen - Menschenrechtskommission nach Prüfung des Falles fest, dass die Freiheitsentziehung der Miami Five willkürlich ist und einen Verstoß
Zu Protokoll gegebene Reden
gegen Art. 14 des Internationalen Paktes über zivile und
politische Recht darstellt. Die Arbeitsgruppe forderte
die US-Regierung auf, die notwendigen Schritte zu unternehmen, der Situation abzuhelfen. In Atlanta fand
2005 eine Anhörung vor drei Richtern des Berufungsgerichts statt, bei der ausländische Juristen, auch solche
aus Deutschland, als Beobachter teilnehmen konnten.
Die Richter stellten fest, dass die Strafurteile wegen vorurteilsbelasteter Atmosphäre ergangen waren und aufzuheben seien. Ein Jahr später hob das Gericht in anderer Zusammensetzung dieses Urteil auf. Wieder waren
ausländische Beobachter anwesend, auch zwei deutsche
Juristen. Diese bestätigten übereinstimmend die erheblichen Zweifel daran, dass die Verurteilung der Miami
Five in Florida in einem fairen Prozess nach rechtsstaatlichen Prinzipien zustande gekommen ist.
Äußerst problematisch waren und sind auch die Haftbedingungen der Verurteilten. Sie wurden in Hochsicherheitsgefängnisse auf die USA verteilt. Lange Zeiten waren sie immer wieder in Isolationshaft. Selbst den
Ehefrauen zweier Inhaftierter wurde und wird das Besuchsrecht bei Ihren Ehemännern dauerhaft verweigert,
indem sie keine zeitlich begrenzten Visa für die USA erhalten. René González Sehwerert wurde im Oktober
2011 freigelassen. Allerdings darf er nicht weiter nach
Kuba ausreisen. Er muss bis 2014, versehen mit einer
elektronischen Fußfessel, in den USA bleiben.
Nicht nur Amnesty International, der UN-Menschenrechtsrat, sondern auch zahlreiche weitere Menschenrechts- und Solidaritätsgruppen haben in den vergangenen Jahren viel Aufklärungsarbeit zum Schicksal der
Miami Five geleistet. Sie haben sich unermüdlich für die
Freilassung der fünf eingesetzt, für bis zur Freilassung
verbesserte Haftbedingungen und für das Besuchsrecht
der Ehefrauen. Angesichts der gravierenden Menschenrechtsverletzungen, der schwerwiegenden Verfahrensmängel und der auffallend schlechten Haftbedingungen
unterstützen wir diese Forderung. Dem Antrag der Linken, der diese Forderungen enthält, stimmen wir zu. Es
geht um die Einhaltung von Menschenrechten und das
Recht auf ein faires Verfahren, die wir überall einfordern, auch von den USA.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich
für die Freilassung der Miami Five einsetzt. Es ist eine
humanitäre Selbstverständlichkeit, dass die Ehefrauen
ihre Männer im Gefängnis besuchen können und dass
der freigelassene Kubaner in seine Heimat Kuba ausreisen kann. Ideologische Brillen sind hier doch fehl am
Platze.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8395 ({0}), den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/7416 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.
Tagesordnungspunkt 30:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-Klimaziel anheben - 30 Prozent Emissionsminderung bis 2020
- Drucksache 17/9175 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Andreas Jung, Frank
Schwabe, Michael Kauch, Eva Bulling-Schröter, Bärbel
Höhn.
Auch wenn es derzeit weitere große Herausforderungen innerhalb der Europäischen Union zu bewältigen gilt
und wir den Kampf um die Stabilisierung des Euro zu
führen haben, hat der internationale Klimaschutz nicht
an Bedeutung verloren und weiterhin in der Politik der
Bundesregierung und der Koalition hohe Priorität. Effektiver Klimaschutz ist eine wichtige Vorsorge für eine
langfristig tragfähige wirtschaftliche und ökologische
Entwicklung und zugleich ein Wettbewerbsmotor für
neue Technologien. Deutschland muss und wird seine
Vorreiterrolle im Klimaschutz fortführen, gerade auch
nach der Weltklimakonferenz in Durban und auch mit
Blick auf die Konferenz in Rio dieses Jahr. Gerade in diesem symbolträchtigen Jahr, 20 Jahre nach der Konferenz, die als Ausgangspunkt für die gemeinsamen internationalen Anstrengungen für nachhaltige Entwicklung
gilt, halte ich es für notwendig, deutliche positive Signale
für einen erfolgreichen internationalen Klimaschutz zu
setzen.
Die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag
haben sich zum Ziel gesetzt, die Emissionen in Deutschland bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Dabei sind wir auf einem guten Weg. So konnte
Deutschland im Jahr 2010 seine Verpflichtungen aus
dem Kioto-Protokoll erfüllen. Gegenüber dem Basisjahr
1990 sind die Treibhausgasemissionen Deutschlands
2010 um fast 25 Prozent zurückgegangen. Das entspricht einer Verminderung um mehr als 295 Millionen
Tonnen Kohlendioxid pro Jahr und zeigt: Ein großes
Stück des Wegs haben wir bereits geschafft. Wir können
feststellen, dass von unserer Klimaschutzpolitik gleichzeitig kräftige Impulse für Wirtschaftswachstum, Innovation und Beschäftigung ausgehen.
Allein die Tatsache, dass wir uns in Deutschland auf
den Weg machen, mit neuen Technologien und erneuerbaren Energien dieses Ziel zu erreichen, und darin auch
eine wirtschaftliche Chance sehen, löst Diskussionen
und ein Umdenken bei Staaten auf der ganzen Welt aus.
Deutschland demonstriert, dass es machbar ist, den Klimaschutz voranzutreiben, ohne an wirtschaftlichem
Schwung zu verlieren.
Andreas Jung ({0})
Diese Impulse gilt es nun auch international zu nutzen, vor allem auch innerhalb der Europäischen Union.
Ich halte es für notwendig und realistisch, die bereits gesteckten Ziele von 20 Prozent Emissionsreduzierung innerhalb der Europäischen Union bis 2020 auf eine
höhere Prozentzahl zu setzen. Eine Initiative der dänischen Ratspräsidentschaft, das EU-Klimaschutzziel auf
30 Prozent bis 2020 zu erhöhen, wurde auf der Sitzung
des Umweltministerrats vom 9. März 2012 von Deutschland und 25 anderen Mitgliedstaaten unterstützt. Sie ist
jedoch an der Ablehnung Polens gescheitert. Aus meiner
Sicht ist es jetzt notwendig, dass wir weiter intensiv für
ein 30-Prozent-Ziel werben, die Bedenken auf polnischer Seite ausräumen und so einen gesamteuropäischen Schritt im Klimaschutz nach vorne gehen. Europa
muss nach meinem Dafürhalten den positiven Nachweis
erbringen, dass Klimaschutzpolitik eine leistbare Zukunftsvorsorge darstellt, dass sie kein Gegensatz zu
wirtschaftlicher Entwicklung ist, sondern dass die Integration von modernen Technologien natürliche Ressourcen schonen und klimaschädliche Emissionen nachhaltig reduzieren kann. Denn eine technologische Modernisierung ist es, die uns wettbewerbsfähiger, produktiver,
wirtschaftlich erfolgreicher macht und darum auch wirtschaftlich zu empfehlen ist.
Dafür reicht es nicht, dass die Europäische Union bei
ihrem 20-Prozent-Reduzierungsziel bleibt, sondern wir
brauchen mehr. Denn die 20 Prozent CO2-Reduzierungen bis 2020 werden wir in Europa aller Voraussicht
nach ohne weitere Anstrengungen erreichen. Aber wenn
wir uns nur das vornehmen, was wir ohne zusätzliche
Maßnahmen erreichen, dann ist das zu wenig. Dann ist
es auch kein Anreiz für Technologieentwicklung, dann
senden wir keine positiven Signale an andere Länder,
die es ungleich schwerer haben, ihren CO2-Ausstoß zu
reduzieren.
Ziel der gemeinsamen Anstrengungen sollte ein Wettbewerb auf Augenhöhe sein. Deutschland hat sich bereits zu einem ehrgeizigen unbedingten Reduktionsziel
bekannt. Deshalb ist es auch in unserem wirtschaftlichen Interesse, dass die Europäische Union und damit
die anderen EU-Staaten gleichziehen. So erreichen wir
gemeinsam mehr Klimaschutz und schaffen einheitliche
Wettbewerbsbedingungen.
Am Mittwoch, dem 23. Mai 2012, wird es eine Anhörung zur Erhöhung des EU-Klimaziels auf 30 Prozent
geben. Auch von dieser Anhörung verspreche ich mir
nochmals wichtige Hinweise für die Diskussion um die
Erhöhung des Klimaziels der Europäischen Union. Wir
sollten jeden Spielraum nutzen, den uns die Technologieentwicklung lässt, um den Klimaschutz international
voranzubringen. Klimaschutz kann nicht isoliert betrieben werden. Deutschland hat mit seinem Engagement
gezeigt, dass der Weg gangbar ist. Nun gilt es, den
Erfolg auch innerhalb der Europäischen Union fortzuschreiben, um auch international entsprechende Schritte
anzustoßen.
Ich möchte meine Rede mit einem Zitat beginnen:
„Das Europäische Emissionshandelssystem produziert
nicht länger die anfangs angestrebten Ergebnisse und
muss deshalb repariert werden.“ Diese Aussage stammt
nicht etwa von einer Umweltschutzorganisation, sondern von der Chefin einer großen Investorengruppe. Sie
kündigt sogar an, auch zukünftig Druck für mehr Klimaschutz zu machen. „Solange der Klimawandel negativen
Einfluss auf die Wirtschaftssysteme, in denen unsere
Mitglieder aktiv sind, und die ihnen anvertrauten Vermögenswerte haben kann, solange werden Investoren
ein entschlossenes Vorgehen fordern“, so schreibt sie
weiter und fordert die Erhöhung des viel zu niedrigen
Klimaziels der EU. Dies fordern auch viele Unternehmen, so zum Beispiel die Deutsche Telekom oder Alstom.
Denn es gibt viele gute Argumente für eine Erhöhung
der Klimaschutzbemühungen der EU, jedoch keine dagegen.
Aber die Bundesregierung konnte sich lange nicht einigen, ob sie das auch will: Der Umweltminister schrieb
Zeitungsartikel dafür, der Wirtschaftsminister hat dagegengehalten, und die Kanzlerin hat geschwiegen. Nun
scheint es so, dass auch die Bundesregierung ein europäisches Klimaziel von 30 Prozent unterstützt, wenn von
Deutschland nicht mehr als das deutsche 40-ProzentZiel gefordert wird und andere EU-Mitgliedstaaten einen fairen Beitrag zur Zielerreichung leisten. So steht es
im Fortschrittsbericht 2012 der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Da die Grünen in
ihrem Antrag genau diese Formulierung aufgenommen
haben, haben die Vertreterinnen und Vertreter von CDU,
CSU und FDP kein Argument, diesem Antrag nicht zu
zustimmen.
Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition,
Sie wissen, wie wichtig das 30-Prozent-Ziel für den Klimaschutz, aber auch für die Finanzierung der deutschen
Energiewende ist und wie wichtig der Meinungsaustausch hierüber beim informellen Umweltministerrat
letzen Donnerstag war. Die dänische Ratspräsidentschaft hatte geladen, damit alle Mitgliedstaaten ihre
Meinung zur Zukunft des Emissionshandels abgeben
können. Die meisten Länder waren durch ihre Minister
vertreten.
Und Deutschland? Wo war Röttgen? Kein Minister,
am zweiten Tag des Treffens nicht einmal mehr eine
Staatssekretärin, niemand aus der Leitungsebene des
BMU. Deutschland war durch einen Beamten des Umweltministeriums vertreten. Es ist einfach nur peinlich
und ärgerlich, wie wenig Bedeutung Norbert Röttgen
dem wichtigen Thema Klimapolitik gibt, sein Ministeramt vernachlässigt und lieber Wahlkampf in NRW
macht. Aber Energiewende und Klimapolitik brauchen
den vollen Einsatz eines Ministers, ein Teilzeitminister
ist damit überfordert.
Brisant ist auch, dass Staatssekretärin Reiche auf
meine Frage in der Fragestunde am 28. März 2012 noch
berichtet hat, dass geplant sei, dass der Minister in Horsens anwesend sei. Sie hat sogar noch angefügt, dass
Röttgen sowohl Wahlkampf als auch Umweltpolitik machen könne. Offensichtlich hat sie da etwas übertrieben.
Röttgen schwankt zwischen Düsseldorf und Berlin; Klimapolitik und Energiewende geraten weiter in Schieflage.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch wenn die Debatte über das 30-Prozent-Ziel
schon über zwei Jahre geführt wird, möchte ich die Argumente noch einmal anführen. Wie sich vor allem am
CO2-Preis gezeigt hat, haben unsere Argumente an Bedeutung gewonnen. Sollte die Politik das Klimaziel nicht
erhöhen oder durch eine andere Maßnahme in den
Markt eingreifen, so gehen die Analysten der Deutschen
Bank davon aus, dass der Preis die nächsten Jahre dauerhaft unter 10 Euro bleiben wird. Für das Jahr 2012
gehen sie von einem Preis von 6 Euro aus. Man sollte
aber auch in Erinnerung behalten, dass die Prognosen
dieser Bank auch schon zu hoch angesetzt waren. Die
schweizerische UBS geht sogar von einer Untergrenze
des Preises der EUA von 3 Euro aus. UBS sieht einen
Überschuss an Zertifikaten von etwa 2 Milliarden Euro
und geht davon aus, dass wir eine bessere Preissituation
erst nach dem Jahr 2020 haben werden, da sich die
Überstände erst in zehn Jahren abgebaut haben werden.
Andere Marktanalysten haben ähnliche Prognosen,
wenn die Politik das Klimaziel nicht erhöht.
Durch den Preisverfall auf dem CO2-Markt ist auch
die Finanzierung der Energiewende gefährdet. Denn die
Erlöse aus dem Emissionshandel fließen in den Energieund Klimafonds, der wichtige Projekte und Programme
der Energiewende finanziert. Bleibt es beim gegenwärtigen 20-Prozent-Klimaziel der EU, verliert die Bundesregierung durch die niedrigen Zertifikatspreise im Vergleich zu den erwarteten Erlösen ab 2013 jährlich
Einnahmen in Milliardenhöhe. Um dem Preisverfall zu
begegnen, ist es nicht nur wichtig, die Zertifikatemenge
zu verringern, sondern auch, die Menge an Zertifikaten
aus CDM/JI-Projekten zu verkleinern. Die Kosten eines
30-Prozent-Ziels sind durch die Finanz- und Wirtschaftskrise erheblich gesunken. Zu diesem Ergebnis
kommen auch Modellrechnungen der EU.
Auf dem letzten Umweltministerrat scheiterte eine
politische Einigung am Widerstand Polens. Nachdem
die polnische Regierung schon im vergangenen Jahr
ambitionierte Klimaschutzziele verhindert hatte, legte
sie auch beim Treffen am 9. März dieses Jahres ihr Veto
ein. Nun ist der nächste Rat im Juni entscheidend. Die
Zeit bis dahin gilt es mit Hochdruck zu nutzen. Die Bundesregierung muss alles tun, damit Polen nicht auch
beim nächsten Treffen eine Einigung blockiert. Jetzt
kommt es auf die Staats- und Regierungschefs an. Deswegen habe ich einige Fragen an die Bundesregierung:
Wie möchte die Bundesregierung die polnische Blockade bis Juni auflösen? Wie zeigt die Bundesregierung,
dass sie die polnischen Sorgen ernst nimmt? Welche Angebote möchte die Bundesregierung Polen machen?
Kann sich die Bundesregierung zum Beispiel vorstellen,
die bilateralen Umweltprojekte zwischen Deutschland
und Polen auszubauen? Sind vor dem Juni-Rat Gespräche zwischen Merkel und Tusk geplant? Umweltverbände fordern die Schaffung eines Sonderbotschafters,
der Pendeldiplomatie zwischen den Hauptstädten der
EU betreibt. Unterstützt die Bundesregierung diese Forderung nach einem Sonderbotschafter? Gibt es in der
deutschen Botschaft in Warschau überhaupt jemand, der
zu Klimapolitik arbeitet? Wenn nein, warum nicht? Es
wäre unverantwortlich, wenn die Bundesregierung in
der Zeit bis Juni nicht mit allem Engagement daran arbeiten würde, Polen ins Boot zu holen. Denn realistischerweise wird sich das Zeitfenster für das 30-ProzentZiel mit dem Ende der dänischen Ratspräsidentschaft
schließen.
Um dieses Thema noch einmal ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen, werden wir im Umweltausschuss
am 23. Mai eine öffentliche Anhörung durchführen.
Grundlage der Anhörung werden die Anträge der Oppositionsfraktionen zum 30-Prozent-Ziel sein. Nach dem
Standpunkt der Bundesregierung, wie sie ihn im Fortschrittsbericht 2012 der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie beschrieben hat, müssen die Regierungsfraktionen
den Anträgen zustimmen. Zustimmen allein reicht jedoch nicht. Die anderen Staaten Europas warten auf ein
starkes Signal aus Deutschland für mehr Klimaschutz.
Nach jahrelangem Herumlavieren muss die Bundesregierung anderen Staaten erklären, dass für sie ein höheres Klimaziel von vitalem Interesse ist. Wenn sie weiterhin nur stumm am Rande steht, macht sie sich
mitschuldig, den Klimaschutz zu verhindern. Angesichts
der Opfer, die der Klimaschutz heute schon fordert, kann
das niemand wollen.
Deutschland ist und bleibt Vorreiter beim Klimaschutz. Wir als christlich-liberale Koalition haben Klimaschutzziele beschlossen, wie sie noch keine Bundesregierung zuvor beschlossen hat. 40 Prozent national und
unkonditioniert bis 2020, 80 bis 95 Prozent bis 2050 das ist international vorbildlich, und es ist ein Signal der
Glaubwürdigkeit Deutschlands insbesondere gegenüber
den Schwellen- und Entwicklungsländern.
Wir brauchen im internationalen Klimaschutz Mitstreiter; denn allein national werden wir nicht die Erfolge erzielen, die wir erzielen müssen. 2 Grad als Perspektive werden wir nur dann schaffen, wenn wir andere
Länder - die großen Emittenten dieser Welt - ins Boot
holen. Deutschland allein kann nur einen Akzent setzen.
Deshalb war es so wichtig, dass es bei der UN-Konferenz in Durban gelungen ist, eine Allianz mit Afrika, den
Inselstaaten und den am wenigsten entwickelten Ländern zu schmieden. Deshalb war es so wichtig, dass
auch Brasilien und Mexiko in die gleiche Richtung gearbeitet haben. Diese Allianzen waren das Momentum von
Durban; diese Allianzen haben den Druck auf die großen Emittenten ausgeübt. Allerdings hat sich auch eines
herausgestellt: Die Frage einer Anhebung des EU-Klimaziels hat bei den Verhandlungen in Durban keine
Rolle gespielt.
Die Frage einer Anhebung des EU-Klimaziels über
das 20-Prozent-Ziel hinaus sollte vielmehr aus binnenwirtschaftlichen Gründen diskutiert werden. Bliebe es
beim 20-Prozent-Ziel der EU und beim 40-Prozent-Ziel
Deutschlands, so müssten in Deutschland vorrangig die
Sektoren, die nicht vom Emissionshandel erfasst werden,
die Emissionseinsparungen erbringen; denn der Emissionshandel ist europäisch bestimmt, die anderen Sektoren sind es national. Am Ende würden vor allem die privaten Haushalte, das kleine Gewerbe und die
Zu Protokoll gegebene Reden
Verkehrswirtschaft die Lasten zu schultern haben. Wir
sagen: Wir brauchen eine Balance der Anstrengungen
von Industrie und privaten Haushalten. Allerdings läge
ein europäisches 30-Prozent-Ziel in Kenntnis der üblichen Verteilung der Anstrengungen in der EU über den
deutschen 40 Prozent. Daher müssen wir eine mittlere
Lösung innerhalb der Bandbreite zwischen 20 und
30 Prozent finden.
Dabei müssen Produktionsverlagerungen bei energieintensiven Branchen vermieden werden. Es ist wichtig,
hier einen für alle gangbaren Weg zu finden. Denn Produktionsverlagerungen in Länder, die es mit Klimaschutz nicht ernst meinen, helfen niemandem: der Umwelt nicht und schon gar nicht den Arbeitsplätzen in
Deutschland. Deshalb prüfen wir derzeit, ob ambitionierte Klimaschutzziele im Rahmen der begrenzten finanziellen und beihilferechtlichen Möglichkeiten mit
Kompensationen für diejenigen energieintensiven Unternehmen verbunden werden können, die im internationalen Wettbewerb stehen.
Im letzten Jahr hatte Die Linke anlässlich der UNKlimakonferenz in Durban bereits in einem Antrag
gefordert, die europäischen Klimaschutzziele den Realitäten anzupassen. Wir waren und sind der Meinung, wer
bereits fast 16 Prozent Treibhausgase gegenüber 1990
eingespart hat, verspielt die Vorreiterrolle im Klimaschutz, wenn als Ziel für 2020 lediglich 20 Prozent angepeilt werden. Folglich haben wir 30 Prozent gefordert, und wir tun dies auch heute.
Warum brauchen wir diese 30 Prozent? Erstens weil
sie dem Weltklima nützen. Zweitens weil sie technisch
und wirtschaftlich erreichbar sind. Drittens weil das ein
Beitrag wäre, die Blockade bei den UN-Klimaverhandlungen aufzubrechen. Nicht wer sich als Erster bewegt,
hat bei Letzteren verloren, sondern wer sich als Letztes
bewegt, wird der Verlierer sein. Schließlich würde das
30-Prozent-Ziel, wenn es mit Programmen und Instrumenten unterlegt ist, einen Schub an Innovationen
auslösen, nicht nur in erneuerbare Energien, Speichersysteme und intelligente Netze, sondern auch in Energieeinspartechnologien und alternative Verkehrssysteme.
Ein solcher Schub schafft Beschäftigung und spart teure
Importe von Kohle und Öl. Das kann im internationalen
Wettbewerb nur von Vorteil sein.
Wie ich bereits gesagt habe, muss ein solches Ziel unterlegt sein. Darum wiederholen wir auch unsere Forderung vom Antrag im letzten Jahr, überschüssige Zertifikate im EU-Emissionshandelssystem stillzulegen. Die
Preise für die Emissionsberechtigungen dümpeln gegenwärtig um die 7 Euro je Tonne CO2. Dafür investiert
niemand in Energieeffizienz. Dafür bräuchten wir jene
20 bis 25 Euro, die für das System ursprünglich vorausgesagt waren. Die Lenkungswirkung des Emissionshandels ist also genauso abgestürzt, wie der CO2-Preis. Warum? Weil deutlich mehr Emissionsrechte am Markt sind
als benötigt werden. Dafür gibt es drei Gründe:
Erstens hatten und haben wir in weiten Teilen Europas eine Wirtschafts- und Finanzkrise, durch die Emissionen zwischenzeitlich rückläufig waren.
Zweitens wurden, selbst wenn es gar keine Krise gegeben hätte, viel zu viele Emissionsrechte verteilt, vor
allem an die Industrie.
Drittens haben wir noch eine Schwemme an Emissionsgutschriften aus CDM-Auslandsprojekten. Viele
davon sind zweifelhafter Herkunft, blähen also das System mengenmäßig auf, ohne dass dahinter eine entsprechende CO2-Minderung im globalen Süden steht.
Natürlich drückt in der Tendenz auch ein Mehr an
Energieeffizienz oder erneuerbaren Energien auf den
CO2-Preis. Dies dürfte aber nur marginal der Fall sein;
denn diese Entwicklung wurde ja bei der Festsetzung
der Emissionsobergrenzen weitgehend berücksichtigt.
Unter dem Strich bleibt die Feststellung: Wenn dauerhaft eine solche Menge überschüssige Zertifikate am
Markt ist, warum auch immer, wurde das System falsch
justiert. Die Klimaschutzziele waren dann offensichtlich
nicht ambitioniert genug. Doch solch niedrige Zertifikatspreise sind nicht akzeptabel, weil sie Investitionen in
Energieeffizienz hemmen.
Darum ist die Linke der Auffassung, dass es notwendig ist, jene Menge der Emissionsberechtigungen um
mindestens 1,4 Milliarden CO2-Zertifikate zu kürzen, die
in der nächsten Handelsperiode versteigert bzw. anderweitig vergeben werden soll. Denn die Überschüsse sind
ja leider dahin übertragbar. Andernfalls wird Europa
die innovationsfeindlich niedrigen CO2-Preise in die
ferne Zukunft schleppen. Die EU-Kommission hat für
eine solche Kürzung mehrfach Vorstöße gemacht.
Deutschland hat sich hier jedoch stets bedeckt gehalten
oder gar blockiert, wie auch bei der EU-Energieeffizienz-Richtlinie.
Dennoch gibt es ein ermutigendes Signal aus Brüssel.
Klimakommissarin Connie Hedegaard hat beim informellen EU-Umweltministerrat letzte Woche angekündigt, Änderungen an der EU-Versteigerungsverordnung
in Angriff nehmen zu wollen. Deutschland muss dies unterstützen, und zwar mit dem Ziel, die Emissionsrechte
nicht nur eine Weile beiseitezulegen, sondern endgültig
stillzulegen. Dieser Prozess muss verbunden werden mit
der Verschärfung des europäischen Klimaschutzziels auf
minus 30 Prozent bis 2020 gegenüber 1990. Um dies bei
allen Mitgliedstaaten durchsetzbar zu machen, halten
wir es für geboten, Solidarität zu üben. Staaten, die besonders schlechte Voraussetzungen für die zusätzlichen
CO2-Einsparungen haben, sollte unter die Arme gegriffen werden, auch und gerade von Deutschland.
Konkret sollte die gegenwärtig prosperierende
Bundesrepublik seinem Nachbarn im Osten helfen. Denn
das Kohleland Polen wird einem ambitionierten gemeinsamen Klimaschutzziel nur zustimmen, wenn es Unterstützung erhält. Diese Unterstützung sollten wir gewähren. Das wäre auch ein Beitrag dazu, Europa wieder zu
einem starken Verhandlungspartner bei den UN-Klimaverhandlungen zu machen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die europäische Klimapolitik steht vor einer zentralen Weichenstellung. Die Staaten der Europäischen
Union müssen entscheiden, ob sie ihr Klimaschutzziel
für das Jahr 2020 von den bisher vereinbarten 20 Prozent Emissionsminderung auf 30 Prozent anheben. Dazu
ist realistischerweise nur noch bis Ende Juni Zeit. Dann
schließt sich mit dem Ende der dänischen Ratspräsidentschaft auch das Zeitfenster, um die dringend notwendige
Anhebung des EU-Klimaziels zu beschließen.
Grüne und Umweltverbände haben diesen Schritt seit
Jahren immer wieder gefordert. Nach langem Zögern
hat jetzt auch die Bundesregierung ihren Widerstand gegen eine Anhebung des EU-Klimaziels aufgegeben.
Diese Kursänderung ist zu begrüßen. Besser spät als
nie! Aber es ist schon bitter, welche Chancen durch die
Blockadehaltung der Bundesregierung vertan wurden.
Sie hat über die Jahre viel klimapolitisches Porzellan
zerschlagen und Europas Position bei den Klimaverhandlungen geschwächt.
2009 in Kopenhagen hätte die Anhebung des EU-Klimaziels neue Dynamik in die festgefahrenen Klimaverhandlungen bringen können. Bundeskanzlerin Merkel
hat das mit ihrem Widerstand verhindert. Auch in Cancún 2010 und in Durban 2011 war die Bundesregierung
nicht bereit, das 30-Prozent-Ziel mitzutragen. Dabei
war längst offensichtlich, dass das alte 20-Prozent-Ziel
durch die Wirtschaftskrise jede klimapolitische Legitimation verloren hatte. Das 20-Prozent-Ziel war von Anfang an nicht übermäßig ehrgeizig. Durch den Rückgang
des Treibhausgasausstoßes in der Wirtschaftskrise von
2008/2009 wurde es endgültig Makulatur. Unter den geänderten Umständen bedeuten 20-Prozent Emissionsminderung praktisch acht Jahre klimapolitischen Stillstand. Das ist mit dem Anspruch an Deutschland und die
EU, Vorreiter im Klimaschutz zu sein, nicht vereinbar.
Die Anhebung des Klimaziels auf 30 Prozent ist aus
drei Gründen geboten:
Erstens wäre sie ein wichtiges Signal an die internationale Gemeinschaft, dass die EU am Kurs einer ehrgeizigen Klimaschutzpolitik festhält. Das würde die in
Durban angebahnte Allianz zwischen EU und Entwicklungsländern stärken und positive Impulse für die Klimaverhandlungen in Doha geben.
Zweitens erleichtert es ein 30-Prozent-Ziel der EU
Deutschland, das eigene 40-Prozent-Minderungsziel bis
2020 zu erreichen. Denn ohne zusätzliche Emissionsreduktionen bei den vom europäischen Emissionshandel
erfassten Industrien und Kraftwerken wird auch das
deutsche 40-Prozent-Ziel nur schwer zu erreichen sein.
Drittens ist die Verschärfung des EU-Klimaziels unverzichtbar, um das angeschlagene Emissionshandelssystem wieder auf die Beine zu bringen. Das lasche
20-Prozent-Ziel hat zu einem gewaltigen Überangebot
an Emissionszertifikaten und einem dramatischen Einbruch des CO2-Preises geführt. Investitionen in Energieeffizienz und erneuerbare Energien werden dadurch weniger attraktiv. Außerdem brechen die Einnahmen aus
der Versteigerung von Emissionszertifikaten weg, aus denen die Bundesregierung die Energiewende in Deutschland bezahlen will. Die Anhebung des EU-Klimaziels ist
der richtige Weg, um diese Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Nach dem Umdenken der Bundesregierung besteht
jetzt die Chance, dass Deutschland in der EU mit breiter
Unterstützung des Bundestages für das 30-Prozent-Ziel
werben kann, insbesondere bei unseren polnischen
Nachbarn, die sich noch gegen die Anhebung des Klimaziels stemmen. Wir haben unseren Antrag bewusst so
formuliert, um eine breite, parteiübergreifende Zustimmung möglich zu machen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam ein Signal setzen für mehr Klimaschutz in
Deutschland und in der EU.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9175 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Stüber, Eva Bulling-Schröter, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Neue Flusspolitik - Ein „Nationales Rahmenkonzept für naturnahe Flusslandschaften“
- Drucksache 17/9192 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Ingbert Liebing, Waltraud
Wolff, Horst Meierhofer, Sabine Stüber, Nicole Maisch.
„Wasser ist keine übliche Handelsware, sondern ein
ererbtes Gut, das geschützt, verteidigt und entsprechend
behandelt werden muss.“ Dieser Auszug aus den
Erwägungsgründen der europäischen Wasserrahmenrichtlinie beschreibt die Überzeugung, aus der heraus
die Gemeinschaft ihre integrierte Gewässerschutzpolitik
entwickelt hat. Dieser Überzeugung fühlen sich auch die
Bundesregierung und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in ihrem Handeln verpflichtet, der Schutz der Umwelt steht weit oben auf ihrer politischen Agenda. Sie ist
und bleibt weltweit Schrittmacher beim Umweltschutz.
Dies gilt nicht nur, aber insbesondere auch für den Bereich der Wasserpolitik. Deutschland verfügt hier - wie
in vielen anderen Bereichen - über ein international
vorbildliches Umweltschutzniveau.
Vor diesem Hintergrund suggeriert nun die Fraktion
Die Linke im vorliegenden Antrag, es sei anlässlich der
Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie vor einem halben Jahr zu einem umfassenden Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen Deutschland gekommen. Die Beschreibung des Vorgangs fällt
kurz und undifferenziert aus, dient aber dennoch als
Aufhänger für einen Antrag, der das Engagement der
Bundesregierung in der Gewässerpolitik kritisieren will.
Die verfälschende Darstellung zieht sich von Anfang bis
Ende des Antrags hin - immerhin ein roter Faden, den
dieser Antrag für sich in Anspruch nehmen kann. Aber
wahrlich kein rühmlicher!
Bevor ich auf die Forderungen des Antrags im Einzelnen eingehe, möchte ich zunächst die bereits erwähnte
Initiative der Europäischen Kommission richtig einordnen:
In einer Ende September 2011 an Deutschland und
andere EU-Mitgliedstaaten versendeten, mit Gründen
versehenen Stellungnahme greift die Europäische Kommission im Wesentlichen das sogenannte Kostendeckungsprinzip nach Art. 9 Wasserrahmenrichtlinie auf.
Die Europäische Kommission äußert Befürchtungen,
Deutschland verschaffe einzelnen Wirtschaftsbereichen
Kostenvorteile - zum Beispiel Gewässerausbau für die
Schifffahrt, Hochwasserschutz, Energieerzeugung durch
Wasserkraft -, da diese Bereiche kostenlos Wasserdienstleistungen in Anspruch nähmen.
Wie für andere EU-Mitgliedstaaten auch sind in
Deutschland nur die Bereiche „Wasserversorgung“ und
„Abwasserbeseitigung“ Wasserdienstleistungen, andere
Bereiche sind Wassernutzungen. Letztere sind in
Deutschland ordnungsrechtlich geregelt und müssen ihrerseits einen angemessenen Beitrag zur Kostendeckung
leisten, wenn sie sich verteuernd auf die Wasserdienstleistungen auswirken.
Zusammenfassend geht es hier im Kern um eine
Rechtsauffassung der Europäischen Kommission, die
sich im Bereich des Kostendeckungsprinzips von der
Rechtsauffassung verschiedener EU-Mitgliedstaaten
unterscheidet. Keinesfalls wird das deutsche Umsetzungsverfahren insgesamt bzw. das umgesetzte deutsche
Schutzniveau kritisiert. Die Bundesregierung hat ihre
Rechtsauffassung der Europäischen Kommission am
31. Januar 2012 fristgerecht mitgeteilt. Eine Reaktion
der Europäischen Kommission lag bis zum 20. April
2012 nicht vor.
Nun zur Kernforderung des Antrags der Fraktion Die
Linke, zur Schaffung eines nationales Rahmenkonzepts
für naturnahe Flusslandschaften. Diese Forderung richtet die Fraktion an den Bund, offensichtlich in Unkenntnis der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Bund und seinen Ländern. Diese besagt
nämlich, dass die Bundesländer für die Bewirtschaftungsplanung mit den darin für die Gewässer integrierten Maßnahmenprogrammen zuständig sind. Die Bewirtschaftungspläne sind ein wesentliches Element zur
Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie.
Deutschland hat der Europäischen Kommission fristgerecht am 22. März 2010 die Bewirtschaftungspläne
inklusive einer Zusammenfassung der Maßnahmenprogramme zur Verfügung gestellt. Die Realisierung der
Programme erfolgt durch die Bundesländer. Diese
Phase muss bis Ende 2012 abgeschlossen sein. Bewirtschaftungspläne und Maßnahmenprogramme müssen
alle sechs Jahre überprüft und nötigenfalls angepasst
sowie aktualisiert werden. Die im Antrag geforderte
Evaluierung findet - darauf möchte ich die Linken aufmerksam machen - also bereits statt. Darüber hinaus
gibt es im Zuge der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie bereits flussgebietsweite Planungen.
Gleiches gilt für die Antragsforderung nach einer interministeriellen Arbeitsgruppe auf Bundesebene: Die
Einsetzung einer solchen ergibt nicht nur vor dem Hintergrund der bereits genannten Kompetenzverteilung
keinen Sinn. Die Forderung verkennt auch, dass sich die
zuständigen Ministerien auf Bundes- und Länderebene
bereits im engen Austausch befinden. Darüber hinaus
wurden Vertreter interessierter Kreise frühzeitig in die
Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie eingebunden.
Dies macht deutlich: Die Wasserrahmenrichtlinie
- wie übrigens auch die im Antrag zitierte Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie - verlangen bereits heute
nach einer intensiven Kooperation aller beteiligten Akteure und einer aktiven Beteiligung der Öffentlichkeit.
Dem ist die Bundesregierung selbstverständlich umfassend nachgekommen. Dabei hat sie zugunsten einer
möglichst breiten Einbindung der Öffentlichkeit zum Teil
innovative Wege beschritten.
Forderungen der Fraktion Die Linke nach einer Beteiligung der Öffentlichkeit und der Entwicklung neuer
Beteiligungsverfahren im Rahmen der deutschen Gewässerschutzpolitik sind schlichtweg überflüssig: Diese
existieren bereits; sie wurden in den relevanten Gesetzen
verankert und von der Bundesregierung umgesetzt.
Unkenntnis der föderalen Kompetenzverteilung bzw.
der allgemein geltenden Rechtslage erklären meiner Ansicht nach auch weitere Forderungen des Antrags:
Sie fordern eine bundesweite Regelung für die Koordination der Gefahrenabwehr bei Hochwasserereignissen und beim vorbeugenden Hochwasserschutz nach
Gewässereinzugsgebieten: In Umsetzung der Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie nach § 80 Abs. 2 Wasserhaushaltsgesetz sind Hochwasserrisikomanagementpläne und der damit einhergehende Hochwasserschutz
bereits von den zuständigen Landesbehörden flussgebietsbezogen zu koordinieren. Hintergrund ist eine Bestimmung des Grundgesetzes, wonach der Katastrophenschutz in erster Linie in den Verantwortungsbereich
der Länder fällt.
Sie fordern ein generelles Verbot von Grünlandumbruch: Nach § 38 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 Wasserhaushaltsgesetz ist die Umwandlung von Grünland in Ackerland
bereits heute verboten. Darüber hinaus sind nach § 77
Wasserhaushaltsgesetz Überschwemmungsgebiete als
Rückhalteflächen zu erhalten bzw. frühere Überschwemmungsgebiete soweit möglich wieder herzustellen.
Sie fordern die Gewährleistung einer öffentlichen
Finanzierung, die vorrangig auf Synergien zwischen
dem Hochwasserschutz und dem Erhalt bzw. der Entwicklung freifließender Flüsse mit naturnahen Auen
ausgerichtet ist: Die geltenden finanzverfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen besagen, dass die Finanzierungsverantwortung vorrangig bei den Ländern liegt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nichtsdestotrotz engagiert sich die Bundesregierung im
Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und
Küstenschutz“ für die Finanzierung des Hochwasserschutzes. Auch setzt sie sich auf EU-Ebene stets dafür
ein, dass der Hochwasserschutz in den einschlägigen
europäischen Förderprogrammen Berücksichtigung findet.
Sie fordern, an den Grenzflüssen für eine zwischen
den Anrainerstaaten abgestimmte Flusspolitik Sorge zu
tragen: Innerhalb der internationalen Flussgebiete bzw.
an den Grenzflüssen wird schon seit langer Zeit zugunsten des Gewässerschutzes kooperiert. Die Kooperation
findet Ausdruck in der Gründung internationaler Flussgebiets- und Grenzgewässerkommissionen, zum Beispiel
bei der vor über 60 Jahren geschaffenen Internationalen
Kommission zum Schutz des Rheins, IKSR.
Abschließend möchte auf das im Antrag aufgeworfene Thema „Forschung“ eingehen. Beispielshaft verweise ich auf umfangreiche Arbeiten, die Grundlage des
Auenzustandsberichts und des Kartendienstes „Flussauen in Deutschland“ waren. Darüber hinaus werden
im Rahmen des Umweltforschungsplans des Bundesumweltministeriums regelmäßig Vorhaben zur Unterstützung der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie ermöglicht.
Zusammenfassend stelle ich fest: Die Bundesregierung setzt sich aktiv ein für die Harmonisierung des Gewässerschutzes und die Verbesserung des Zustands der
Gewässer innerhalb der EU. Dazu dient als zentrales Instrument die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie in
nationales Recht. Das Herzstück der EU-weit verbindlichen Richtlinie ist es, bis 2015 einen guten ökologischen
und chemischen Zustand bei oberirdischen Gewässern
und einen guten quantitativen und chemischen Zustand
beim Grundwasser herzustellen.
Zur Realisierung dieses ambitionierten Ziels werden
wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion nach Kräften
beitragen. Den uns vorliegenden Antrag der Linken lehnen wir ab. Dieser Antrag strotzt vor Unkenntnis, fordert Dinge, die längst erledigt oder auf den Weg
gebracht sind, und er verfolgt ein falsches Ziel: Er will
neben der Wasserrahmenrichtlinie ein neues Instrumentarium schaffen und so vom erfolgreichen Instrument
der Wasserrahmenrichtlinie ablenken. Anstatt über die
Erstellung neuer theoretischer Rahmenkonzepte nachzudenken, setzen wir uns lieber ganz praktisch für eine
optimale Umsetzung bereits beschlossener Konzepte
ein. Wir verzetteln uns nicht, wir handeln. So leisten wir
einen aktiven Beitrag zum Schutz der Umwelt und unterstützen die Bundesregierung auf nationaler und europäischer Ebene bei der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie.
Wasser ist Leben. Ohne Wasser gibt es kein Leben,
ohne Wasser ist auch unsere Industriegesellschaft nicht
vorstellbar. Die Nutzung unserer Flüsse ist - das wissen
wir alle - nicht ohne Konflikte mit dem Ziel des Erhalts
der Flusslandschaften und vor allem der ökologischen
Funktionen dieser Flusslandschaften.
Die Flüsse und vor allem die Flussauen sind die Lebensadern unserer Landschaft. Sie sorgen im Naturkreislauf für sauberes Trinkwasser, leisten einen wichtigen
Beitrag zur Gewässerqualität, sind wichtige Erholungsräume für den Menschen sowie länderübergreifende
Achsen für den Biotopverbund. Sie sind Wasserstraßen
und durch die Wasserkraft Energielieferanten.
Mit der Wasserrahmenrichtlinie wurde auf europäischer Ebene ein Instrument geschaffen, Gewässer in ihrer Multifunktionalität zu betrachten und integrierte
Maßnahmen zu entwickeln. Nach den Kriterien dieser
Richtlinie ist der chemische Zustand unserer Flüsse
überwiegend gut. Hier sind wir auf einem guten Weg.
Anders beim ökologischen Zustand: Lediglich 10 Prozent der deutschen Oberflächengewässer erreichen einen guten oder sehr guten ökologischen Zustand.
Fließgewässer und Auen sind durch Nutzungen wie
Schifffahrt, technischen Hochwasserschutz, Wasserkraft
und Landwirtschaft vielfach verändert worden. 80 Prozent unserer Fließgewässer sind deutlich bis vollständig
verändert, nur noch 15 bis 20 Prozent der natürlichen
Auen sind erhalten. 83 Prozent aller Biotoptypen der
Flüsse und Auen sind gefährdet. Lediglich 5 700 Hektar
naturnahe Hartholzauwälder, entsprechend 1 Prozent
des ursprünglichen Bestandes, sind bundesweit erhalten
geblieben. Feuchtgebiete, die natürlicherweise große
Flächenanteile einnehmen würden, umfassen mit rund
10 000 Hektar nur noch circa 2 Prozent der Überschwemmungsauen und deutlich weniger als 1 Prozent
der Altauen. Flüsse und Auen beherbergen in Deutschland die größte Artenvielfalt. Zwei Drittel aller bei uns
vorkommenden Lebensgemeinschaften sind hier in vielen verschiedenen, eng verzahnten Biotopen zu Hause.
Die Konflikte zwischen Nutzung und Erhalt sind also
nicht gelöst, es gibt demzufolge deutlich sichtbaren
Handlungsbedarf.
Im Vordergrund muss dabei der Erhalt der ökologischen Funktionen stehen. Die Eingriffe des Menschen
wirken sich bereits jetzt erheblich aus. Biotope, wie zum
Beispiel naturnahe Auen, die bei Überschwemmungen
zu einem großräumigen Anstieg des Grundwassers führen, oder Moore, die ebenfalls für einen hohen Grundwasserstand sorgen, verschwinden allmählich aus unserem Landschaftsbild. Als Folgen des Klimawandels
werden in Deutschland die Niederschläge im Winter zu-,
im Sommer jedoch abnehmen. Die Hochwasserwahrscheinlichkeit im Winter und Frühjahr steigt, im
Sommer wird es häufiger Niedrigwassersituationen geben. Die Binnenschifffahrt wird mit einer Häufung extremer Wasserstände zu kämpfen haben. Nachhaltig und
kostengünstiger ist es, dem zu begegnen, indem natürliche Wasserrückhalte wie naturnahe Gewässer, Auwälder, naturnahe Auen geschützt und renaturiert werden.
Notwendig ist ein neues integriertes Konzept, das sowohl den Naturschutz als auch die Binnenschifffahrt berücksichtigt. Es muss gemeinsam mit den Ländern den
Erhalt aller noch intakten Gewässer und Auen fördern.
Es muss aber vor allem die verschiedenen Fachpolitiken
verzahnen. Viele Einzelforderungen drängen sich natürlich auf: eine Binnenschifffahrt, die stärker an die
Zu Protokoll gegebene Reden
Waltraud Wolff ({0})
Flüsse angepasst ist; eine Landwirtschaft, die die Rückhaltefunktion der Böden erhält, oder aber auch eine
Rückverlegung von Deichen. Entscheidend ist aber, dass
Flüsse als multifunktionale Systeme gesehen werden und
die Politik auch so ausgerichtet ist.
Entscheidend ist also, dass die Flusspolitik in der Zusammenarbeit der Ressorts und in der Zusammenarbeit
von Bund und Ländern gestaltet wird. Wichtig dafür sind
die Prozesse. Das kann zum Beispiel heißen, die gesetzlichen Grundlagen bei der Raumplanung dafür zu schaffen, dass ein ausgeglichener Wasserhaushalt und der
Wasserrückhalt in der Fläche stärker als bisher, vor allem in vom Klimawandel besonders betroffenen Regionen, beachtet wird. Das muss vor allem heißen, dass
Konzepte für die einzelnen Flüsse mit einer echten Beteiligung von Bürgern und Verbänden entwickelt werden. So können von Anfang an alle Interessen in die
Konzepte mit einbezogen werden.
Der Antrag der Linken zur Flusspolitik ist ein seltsames Konstrukt: Einerseits befinden sich darin einzelne
gute und diskussionswürdige Ansätze. Andererseits besticht er durch eine etwas wirre und unsystematische Aneinanderreihung merkwürdiger Ansichten auch aufgrund unvollständiger und fehlerhafter Annahmen.
Zuerst möchte ich einige Dinge geraderücken: Der
Antrag beginnt damit, dass die europäische Gewässerschutzpolitik angeblich von der Bundesregierung bis
heute nicht wirkungsvoll umgesetzt worden ist. Der Antrag begründet dies mit einem von der Kommission im
September 2011 eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren.
Ich gehe davon aus, dass Sie damit das Mahnschreiben der Kommission meinen, das sich gegen die Auslegung des Begriffs Wasserdienstleistungen im deutschen
Recht richtet. Hier sind drei Aspekte anzumerken:
Erstens. Bei diesem Mahnschreiben selbst handelt es
sich noch nicht um das eigentliche Vertragsverletzungsverfahren, sondern lediglich um ein Vorverfahren.
Zweitens. Es geht hierbei um einen juristisch höchst
umstrittenen Teilbereich, der nicht geeignet ist, eine angeblich falsche Politik zu belegen.
Drittens. Hinter diesem Streit steckt die Kernfrage, in
welcher Konsequenz das Verursacherprinzip verfolgt
wird. Und gerade hierauf legen wir als FDP wahrscheinlich den höchsten Wert von allen Parteien.
Danach überraschen Sie in Ihrem Antrag mit der Behauptung, dass seit dem 19. Jahrhundert der Zustand
der Flüsse immer schlechter und schlechter geworden
sein soll und diese vorwiegend von Landwirtschaft, Industrie und Schifffahrt geprägt seien. Ich bitte Sie: Gerade die Linke müsste doch wissen, dass sich beispielsweise an Elbe und Saale seit der Wiedervereinigung der
Zustand doch nicht ganz unwesentlich verbessert hat.
Dass gerade die Elbe oder andere Flüsse vorwiegend
von Schifffahrt und Industrie geprägt sein sollen, halte
ich gelinde gesagt für eine maßlose Übertreibung. Setzen Sie sich doch einmal ein paar Stunden in Dessau an
die Elbe. Wenn Sie Glück haben, erwischen Sie vielleicht
einmal ein Schiff. Das sieht im Hamburger Hafen definitiv
anders aus. Aber auch, dass man im Rhein wieder baden
kann, ist ein Riesenerfolg, der in den 70er- und 80er-Jahren nie und nimmer denkbar gewesen wäre.
Jetzt aber noch zu Ihren 27 Forderungspunkten, die
Sie katalogartig und ohne inneren Zusammenhang abspulen: Richtig ist, dass Sie ein Hochwasserwarnsystem
mit bundeseinheitlich verbindlichen Standards fordern.
Flüsse machen nun einmal nicht an den Ländergrenzen
Halt. Dabei übersehen Sie leider nur, dass genau die von
Ihnen geforderten Standards in Form von Hochwasserrisikokarten und Hochwassermanagementplänen schon
längst in der Bearbeitung sind. Ein Blick in die Unterlagen der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser aus
dem Jahr 2010 wird Wunder tun.
Dann bieten Sie eine Reihe von Vorschlägen an, die
vollkommen unkonkret sind: Beispielsweise fordern Sie,
die derzeit diskutierte Klassifizierung der Bundeswasserstraßen mit den Ländern, der Binnenschifffahrt und
Transportlogistik, den Umweltverbänden sowie der
Sport- und Tourismuswirtschaft abzustimmen. Was soll
das? Glauben Sie ernsthaft, die Klassifizierung würde im
willkürlichen Alleingang des Ministeriums erfolgen?
Oder auch die Forderung, die Erfordernisse zum Erhalt
der biologischen Vielfalt und des vorbeugenden Hochwasserschutzes besonders zu berücksichtigen: Selbstverständlich hat dies zu erfolgen. Das ist im Koalitionsvertrag in einer ähnlichen Formulierung festgeschrieben.
Ich gehe davon aus, dass dies bei allen Maßnahmen entsprechende Berücksichtigung findet. Wenn Ihnen gegenteilige konkrete Punkte bekannt sind, müssen Sie diese
nennen. Sonst ist es nicht mehr als eine bloße Worthülse.
Sie fordern auch die Entwicklung neuer Beteiligungsverfahren, die garantieren sollen, dass alle Interessenvertretungen von vornherein eingebunden werden. Dabei sprechen Sie explizit von der Einbindung sich
bildender Bürgerinitiativen. Mit Verlaub - das ist vollkommen absurd. Wie stellen Sie sich das vor? Es könnte
sich vielleicht eine Bürgerinitiative bilden. Diese soll
dann das Anrecht auf Teilnahme an einem Runden Tisch
haben, ohne wahrscheinlich einen Ansprechpartner benennen zu können. Vielleicht sind Ihnen einzelne Entwicklungen der vergangenen Jahre entgangen. Aber
dass beispielsweise an der Donau eine unabhängige
Monitoringgruppe aus Wissenschaft, Gesellschaft, Umwelt- und Wirtschaftsvertretern bereits im Vorfeld von
Ausbaumaßnahmen eingesetzt wurde, müsste Ihnen eigentlich bekannt sein. Gerade im Umweltbereich hat
sich eine Vielzahl unterschiedlichster Beteiligungsformen gebildet. Diese Entwicklungen verfolgen wir selbstverständlich weiter.
Auch der Ansatz, wie Sie die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in Ihr Rahmenkonzept einbinden wollen, erscheint mir wenig durchdacht. Die 13 000 Angestellten der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wollen
Sie ganzheitlich erhalten und ihnen vornehmlich neue
Aufgaben im Bereich Flussschutz zukommen lassen.
Dass grundsätzlich eine Akzentverschiebung erforderZu Protokoll gegebene Reden
lich war, gestehe ich Ihnen gerne zu. Auch hier haben
wir im Koalitionsvertrag verabredet, die Aufgaben der
Verwaltung stärker an ökologischen Erfordernissen auszurichten. Nur müssen Sie auch bedenken, dass die Angestellten ausschließlich für Bundeswasserstraßen zuständig sind und auch nur sein dürfen. Sofern ich Ihr
Rahmenkonzept richtig verstehe, soll dieses ja gerade
nicht nur für Bundeswasserstraßen, sondern für alle
Flüsse wirken. Abgesehen davon, dass Sie offenkundig
eine Mischverwaltung - also ein ähnliches Problem wie
bei den Jobcentern - herbeiführen wollen, schaffen Sie
damit eine Monsterbehörde voller „Umwelt-Ranger“,
ohne in irgendeiner Form die Aufgabenverteilung weiter
zu konkretisieren. Das ist schlichtweg nicht durchdacht.
Zu guter Letzt fehlt mir in Ihrem Antrag aber auch die
Erwähnung von Problemen, die ich dringend für lösungsbedürftig halte und mit denen wir uns intensiv auseinandersetzen: Als Beispiel sei der Streit zwischen
Bund und Ländern über die Frage, wer für wasserwirtschaftliche Ausbaumaßnahmen zuständig ist, genannt.
Darunter fallen diejenigen Maßnahmen zum Wohle des
Flusses, die mehr sind als reine Unterhaltung, also insbesondere Verbesserungen der Sohlenstruktur, der Strömungsdiversität, Tiefen- und Breitenvarianz, Längs- und
Querbänke und einiges mehr. Dieses Problem ist seit
über zehn Jahren ungelöst und führt an unterschiedlichen Flüssen immer wieder zu Problemen. Hier sehe ich
beispielsweise Handlungsbedarf und auch einiges, was
Sie als Opposition politisch hätten einbringen können,
ja vielleicht sogar müssen.
Ihr Antrag hat einige ernst zu nehmende Anregungen.
Leider ist er an manchen Stellen derartig fehlerbehaftet
und unsystematisch, dass wir ihn ablehnen müssen.
Der Äquator hat eine Länge von rund 40 000 Kilometern. Die Flüsse bringen es in Deutschland auf rund
127 000 Kilometer Länge. Auch wenn hierbei die kleinen Wasserläufe mitgezählt werden, aneinandergereiht
reichen unsere Flüsse dreimal um den Äquator. Das ist
eigentlich unvorstellbar, macht uns aber klar, wie stark
unsere Landschaft durch Fließgewässer geprägt ist.
Flüsse waren schon immer Lebensadern, an denen die
großen Städte entstanden, und schon immer wurden sie
nach den jeweils mächtigsten Wirtschaftsinteressen ausgebaut und verändert. Wirklich „zähmen“ lassen sie
sich allerdings nicht.
Oft genug schlagen sie zurück und treten mit reißenden Fluten über die Ufer. Wir alle kennen die dramatischen Bilder: Hochwasser, das nicht nur immense materielle Schäden hinterlässt, sondern überdies Mensch und
Tier in Gefahr bringt.
Auch wenn längst bekannt ist, dass Flüsse nicht einfach so beherrschbar sind, wurden sie weiter begradigt,
vertieft, umverlegt und aufgestaut. Dabei gehen Überflutungsflächen und Auen verloren, während im Gegenzug die Hochwassergefahr steigt. Vom Verlust der Artenvielfalt in den Flussauen will ich gar nicht erst sprechen
oder von den wandernden Fischen, die in unseren Flüssen zu Hause sind und die, wenn sie Glück haben und
eine Fischtreppe finden, auch überleben. Deshalb müssen wir das Verständnis, Flüsse vor allem unter wirtschaftlichen Aspekten als Wasserstraße zu sehen, endgültig korrigieren und um einen umfassenden
Gewässerschutz erweitern.
Wie immer ist Deutschland gut, wenn es um technische Lösungen geht. Und so gibt es selbstverständlich
Erfolge bei der industriellen und kommunalen Abwasserreinigung. Trotzdem sind die Flüsse verseucht. Es gelangen viel zu viele Nährstoffe und Pflanzenschutzmittel
aus der Land- und Forstwirtschaft in die Gewässer. Und
so muss es nicht erstaunen, wenn der ökologische Zustand der Flüsse wesentlich schlechter ist als erwartet.
Wer jedoch genau hinschaut, hat ihn genauso erwartet.
Es gibt viele, nicht selten in Konkurrenz stehende Interessen und Ansprüche, angefangen von der Binnenschifffahrt über die Freizeitschifffahrt und den Tourismus, den Gewässer- und Naturschutz, den Hochwasserschutz bis hin zur Industrie und Energiegewinnung.
Hinzu kommen die Belange von Fischerei und Landwirtschaft, und auch kommunale Gesichtspunkte spielen
eine Rolle.
Sauberes Wasser ist für alle unverzichtbar. Da sind
wir in Mitteleuropa, gemessen an anderen Regionen dieser Welt, zwar in einer komfortablen Situation. Noch
gibt es bei uns ausreichend sauberes Wasser. Damit das
so bleibt, soll nach EU-Recht bis 2015 die Wasserrahmenrichtlinie umgesetzt werden. Das heißt, bis dahin
soll für die europäischen Gewässer ein guter chemischer
und ökologischer Zustand erreicht werden. Deutschland
ist derzeit davon meilenweit entfernt. Da gibt es jede
Menge unerledigte Hausaufgaben, die wir in unserem
Antrag von der Bundesregierung einfordern. Wir brauchen eine neue Flusspolitik mit dem Ziel, die Ressource
Wasser zu erhalten. Dazu müssen wir unsere Flusslandschaften naturnah entwickeln. Um das zu erreichen, sollen in einem nationalen Rahmenkonzept ökologische
Eckpunkte festgeschrieben werden, die bundesweit für
alle Flussgebiete gelten. Das bedarf des politischen Willens und kann auch dann nur gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und im Einvernehmen mit den verschiedenen
Interessengruppen entwickelt werden. Dafür ist ein breiter gesellschaftlicher Dialog die entscheidende Voraussetzung. Den Anstoß muss die Politik geben, und genau
das wollen wir mit dem Antrag erreichen.
Es geht um viel, es geht um gesellschaftliche Partnerschaft für einen umfassenden Gewässerschutz. Mit der
Elbe wird ein erster Schritt getan, aber es ist nur ein Anfang. Wir brauchen einen Handlungsrahmen für das
ganze Land. Dann kann auch der gesellschaftliche Dialog im ganzen Land beginnen und nicht nur an der Elbe.
Jetzt - wann sonst? - wollen wir endlich Ernst machen mit der Befreiung unserer Flüsse.
Natürliche und naturnahe Gewässer sind von herausragender Bedeutung für die Erhaltung der biologischen
Vielfalt. Flüsse, Bäche, Seen, Übergangs- und Küstengewässer sind ein riesiger Lebensraum für eine Vielzahl
Zu Protokoll gegebene Reden
von Tier- und Pflanzenarten. In einigen Regionen wird
ein nicht unwesentlicher Teil des Trinkwassers aus
Oberflächengewässern gewonnen. Auen und Flussufer
sind zudem Überflutungsräume, die wesentlich zum
Schutz vor Hochwasserschäden beitragen können.
Doch der Zustand unserer Gewässer und Flüsse ist
schlecht. Verbauung und Entwässerung der Flussufer
und Auen, die mitunter viel zu hohen Nährstoffeinträge
aus der Landwirtschaft sowie Abwasser- und Abwärmeeinleitungen bedrohen die biologische Vielfalt.
Die Bundesregierung versagt beim Schutz unserer
Gewässer und Flusslandschaften. Nicht einmal 20 Prozent der Oberflächengewässer in Deutschland werden
bis 2015 einen guten ökologischen Zustand erreichen,
wie es die Wasserrahmenrichtline verlangt. Statt aktiv zu
werden und für besseren Gewässerschutz zu sorgen, spekuliert die Bundesregierung auf Fristverlängerungen.
Dabei wurde Deutschland bereits mehrfach wegen Versäumnissen bei der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie von der EU-Kommission ermahnt, unter anderem
aufgrund von Fristversäumnissen bei der Festlegung
der Bewirtschaftungspläne und jüngst erneut wegen der
- nach Auffassung der Kommission - falschen Auslegung des Begriffs der Wasserdienstleistungen, die zu
nicht angemessenen Wassergebühren und zu einer nicht
adäquaten Kostendeckung in Deutschland führt. Das ist
peinlich!
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Wasserrahmenrichtlinie endlich konsequent umzusetzen und dafür
eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzuberufen. Hier
müssen insbesondere der Schutz von Gewässerrandstreifen und die Kostendeckung bei allen Wasserdienstleistungen im Sinne des Verursacherprinzips gewährleistet werden. Außerdem müssen die Maßnahmen des
Gewässerschutzes stärker als bisher in die unterschiedlichen Politikbereiche wie Land- und Verkehrswirtschaft, Siedlungsentwicklung, Industrie, Energiewirtschaft und Hochwasserschutz integriert werden.
Darüber hinaus fordern wir von der Bundesregierung,
endlich das lange angekündigte nationale Fluss- und Auenprogramm aufzulegen. Überall dort, wo es möglich ist,
sollen Auen renaturiert und frei fließenden Flüssen Vorrang gewährt werden. Dazu sind Deichrückbauten und
Rücknahmen von Flussbegradigungen notwendig, die
sich nicht nur auf hydrologische Maßnahmen beschränken, sondern auch auf die Wiederherstellung der auentypischen Vielfalt gerichtet sein müssen. Die Bewirtschaftungsauflagen bei Gewässern und ihren Auen, die Teil
des europaweiten Schutzgebietssystems Natura 2000
sind, bedürfen einer besseren Durchsetzung.
Auch eine Novelle des Hochwasserschutzgesetzes ist
notwendig, die ein allgemeines Bau- und Nutzungsverbot der Auen innerhalb eines bestimmten Korridors und
Einschränkungen für den Einsatz von Pestiziden und
Düngern in Hochwassergebieten enthalten sollte.
Auch in der aktuellen Neuordnung der Bundeswasserstraßen müssen sich die Schwerpunkte Hochwasserschutz und Auenrenaturierung konsequent spiegeln.
Nehmen Sie Gewässerschutz endlich ernst!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9192 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit offensichtlich einverstanden? - Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 32:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,
Volker Beck ({1}), Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Transparenz im Rohstoffsektor - EU-Vorschläge umfassend umsetzen
- Drucksachen 17/8354, 17/8914 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Harald Leibrecht
Niema Movassat
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Jürgen Klimke,
Dr. Sascha Raabe, Joachim Günther, Heike Hänsel, Ute
Koczy.
Am 25. Oktober des vergangenen Jahres hat die EUKommission Vorschläge für mehr Transparenz im Rohstoffsektor gemacht.
Diese Transparenzrichtlinie der EU hat dabei zwei
Ziele. Es geht zunächst darum, kleinen und mittleren
börsennotierten Gesellschaften den Zugang zu Märkten
zu erleichtern, vor allem durch die Streichung der Verpflichtung zur Offenlegung von Quartalsberichten.
Der vorliegende Antrag der Grünen, der den Anlass
für die heutige Debatte liefert, geht darauf jedoch nicht
ein. Er beschäftigt sich vielmehr ausschließlich mit dem
anderen Aspekt der Richtlinie: Es handelt sich dabei um
die Verpflichtung für börsennotierte Unternehmen sowie
Großunternehmen der Rohstoff- und Forstbranche, ihre
Zahlungen an Regierungen offenzulegen.
Ziel dieser Regelung ist es, die Zivilgesellschaft in
rohstoffreichen Ländern besser über die Zahlungsströme
zu informieren und einem Ausverkauf von Rohstoffen
vorzubeugen. Auf der anderen Seite wird schlechter Regierungsführung und Korruption in den rohstoffreichen
Entwicklungsländern vorgebeugt, wenn bekannt ist, welche Einnahmen die Regierungen in diesem Bereich erzielen.
Diese auch und gerade für die Entwicklungspolitik
wichtige Zielstellung nutzen Bündnis 90/Die Grünen für
einen eigenen Antrag, in dem sie sich für die Umsetzung
der EU-Vorschläge einsetzen und an einigen Punkten
auch noch darüber hinausgehen wollen. So sollen die im
Kommissionsvorschlag bestehenden Ausnahmeregelungen gestrichen werden. Das betrifft vor allem den Umgang mit einem Offenlegungsverbot der Empfängerländer für solche Zahlungen. In diesem Fall will die EUKommission von einer Offenlegung absehen, während
die Grünen dadurch - sicher nicht ganz zu Unrecht eine Verwässerung der Schlagkraft des Vorschlages befürchten. Andererseits ist schwer vorstellbar, inwieweit
man europäische Unternehmen zu einem Rechtsbruch in
diesen Staaten anhalten kann.
Noch gravierender als die Streichung von Ausnahmen
ist die im Antrag vorgebrachte Forderung nach einer
umfassenden Offenlegung anderer Unternehmensdaten
in deren Geschäftsverkehr mit Regierungen. Hierbei beziehen Bündnis 90/Die Grünen auch nationale Regelungen in ihre Überlegungen zur Ausweitung mit ein. Diese
Überlegungen lehnen wir ab, und sie sind auch der
Hauptgrund, warum wir dem Antrag trotz guter Ansätze
nicht zustimmen können.
Auch wir Entwicklungspolitiker der Union halten die
Vorschläge der EU-Kommission für entwicklungspolitisch zielführend. Wir unterstützen deshalb grundsätzlich die Umsetzung dieser Vorschläge, die ja mit den Regelungen des Dodd-Frank-Act bereits ein Vorbild in den
USA haben.
Trotzdem sind bei der Ausgestaltung der Transparenzrichtlinie noch einige Fragen offen:
Da stellt sich zunächst die Frage der Definition der
Größe der von der Regelung betroffenen Unternehmen.
Hier spricht die EU zunächst ganz allgemein von „großen“ Unternehmen. Dazu brauchen wir klarere Angaben. Eine weitere Frage betrifft die konkrete Umsetzung
der Regelungen: Es soll ja eine projektbezogene Offenlegungspflicht geben - da müsste man klären, wie eine
solche Verpflichtung ohne bürokratische Überforderung
der Unternehmen umgesetzt werden soll. Schließlich
geht es auch darum, inwieweit europäischen Unternehmen Wettbewerbsnachteile aus den Regelungen erwachsen könnten.
Es ist klar, dass eine europäische Regelung in diesem
Bereich einer nationalen Regelung bei weitem vorzuziehen ist. Noch besser ist aber eine internationale Regelung, bei der verbindliche Standards auch für die immer
stärkeren Akteure gerade aus dem asiatischen Raum
gelten. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass sich
auch die Grünen in ihrem Antrag für globale Standards
im Tranzparenzbereich einsetzen.
Die Verantwortung der Unternehmen für die Verbesserung der Bedingungen in Entwicklungsländern ist inzwischen allgemein anerkannt. Auch die Unternehmen
selbst erkennen sie zunehmend und unterstützen freiwillig internationale Übereinkommen wie die Leitlinien der
Vereinten Nationen oder der OECD zur Unternehmensverantwortung. Auch eigene, darüber hinausgehende
CSR-Verpflichtungen sowie die Durchführung entwicklungspolitischer Projekte in den Produktionsländern
sind keine Einzelfälle mehr. Auch für dieses Thema Corporate Social Responsibility hat die EU grundlegende
Vorschläge gemacht, die sich zunehmend vom Konzept
der Freiwilligkeit hin zu einer verpflichtenden Verantwortung der Unternehmen bewegen. In diesem Zusammenhang ist auch die Transparenzrichtlinie mit der Zahlungsoffenlegung zu bewerten.
Über diese Aktivitäten auf europäischer Ebene werden wir in den kommenden Wochen und Monaten sicher
noch häufiger diskutieren. Hier gilt es, die Folgen im
Positiven und Negativen gut abzuwägen. Auch wenn wir
als Entwicklungspolitiker diese Impulse aus Europa
grundsätzlich begrüßen, sehe ich zu den Detailfragen
noch viel Erklärungsbedarf. In manchen Fragen gibt es
auch Diskussions- und Abstimmungsbedarf zwischen
Wirtschafts-, Entwicklungs-, Außen- und Menschenrechtspolitikern.
In der ganzen Diskussion darf uns jedoch ein Aspekt
nicht verloren gehen. Es ist nicht die Hauptaufgabe der
Wirtschaft, sich als Entwicklungshelfer oder Menschenrechtsorganisation zu betätigen. Eigentlich sollte es genügen, wenn sich die Unternehmen an die jeweiligen
Gesetze halten. Das eigentliche Problem besteht darin,
dass in vielen Staaten die Gesetze nicht im Sinne der einfachen Bürger sind, dass der Regierung die Mittel fehlen, diese Gesetze durchzusetzen, oder dass Korruption
die Rechtsstaatlichkeit nur auf dem Papier entstehen
lässt.
Es sind die Regierungen und die staatlichen Institutionen der Entwicklungsländer, die für nachhaltige
Verbesserungen zuständig sind. Hier setzt unsere Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik deshalb auch zu
Recht an.
Dieses Bekenntnis zur Verantwortung der Regierungen in den rohstoffreichen Ländern kommt mir beim Antrag der Grünen zu kurz. Hier wird alle Verantwortung
auf die Unternehmen abgewälzt. Auch die Zielstellung
des Grünen-Antrags, die darin besteht, dass Europäerinnen und Europäer das Recht haben, zu erfahren, ob
die europäischen Unternehmen weltweit fair agieren,
zeugt von dieser Haltung. Denn den Schaden durch ungerechtfertigt geschlossene Verträge und Mangel an
Transparenz haben die Menschen in den Entwicklungsländern. Hier sollen gerade die Wege eröffnet werden,
sich über die Einnahmen der Regierung besser zu informieren, um Korruption und schlechter Regierungsführung vorzubeugen.
Es ist eine Tatsache, dass der Rohstoffreichtum vieler
Staaten der Bevölkerung nur wenig zugutekommt und
der Entwicklung der Staaten oft nicht förderlich ist. Um
dies zu ändern, betreiben wir Entwicklungspolitik - zum
Beispiel durch konkrete Projekte zur Verhinderung illegalen Abbaus, für den Aufbau von Wertschöpfungsketten
sowie zum Aufbau einer staatlichen Finanzverwaltung.
Wir knüpfen unsere Hilfen zudem verstärkt an Verbesserungen der Menschenrechtssituation in den Partnerländern und konnten durch diese Konditionierung bereits
Erfolge feststellen.
Die stärkere Einbeziehung von Unternehmen kann
diese Bemühungen nicht ersetzen. Sie bildet aber einen
weiteren ergänzenden Baustein unserer entwicklungspolitischen Arbeit - nicht mehr und nicht weniger.
Zu Protokoll gegebene Reden
Transparenz im weltweiten Handel mit Rohstoffen ist
die absolute Grundvoraussetzung dafür, dass künftig
mehr Menschen in Entwicklungsländern von den Gewinnen, die erzielt werden, profitieren können. Jährlich werden enorme Summen im Rohstoffhandel umgesetzt; zu
den Gewinnern dieser Geschäfte zählen aber nur einige
wenige. Dabei würde dieses Geld dringend benötigt, um
Hunger und Armut zu bekämpfen, um Bildungs-, Gesundheits- und soziale Sicherungssysteme aufzubauen. Es ist
jenes Paradoxon, das uns unbegreiflich erscheint und
wütend macht: Trotz des vorhandenen Rohstoffreichtums
ihrer Länder müssen Menschen um ihr tägliches Überleben kämpfen.
Wo aber bleibt das Geld? Vieles davon versickert
nach wie vor in den Taschen korrupter Regierungen und
international operierender Unternehmen, weil die Zahlungsflüsse nicht aufgedeckt werden müssen. Ein gutes
Geschäft für einige wenige Reiche, die sich ungeniert
bedienen, ein schlechtes für die vielen Armen. Sie dürfen
allenfalls in den Minen schuften; von dem, was sie dort
aus dem Boden holen, haben sie nichts. Und da viele
dieser Geschäfte im Dunkeln bleiben, haben die Armen
auch kaum eine Chance, ihren gerechten Anteil einzufordern.
Seit Jahren schon setzt sich die SPD gemeinsam mit
der Zivilgesellschaft für mehr Transparenz ein. Es ist ein
Umdenken angestoßen worden, und selbst die USA haben erkannt, dass etwas passieren muss. Sie haben mit
dem Dodd-Frank-Act, mit dem börsennotierte Unternehmen verpflichtet werden sollen, die Zahlungsströme
zu melden und so nachvollziehbar zu machen, einen sehr
guten Aufschlag gemacht. Auch die EU-Kommission hat
reagiert und im vergangenen Oktober zwei Richtlinienvorschläge vorgelegt, die sehr weitgehende Offenlegungspflichten für Unternehmen im Rohstoffsektor beinhalten. Darin ist vorgesehen, dass Unternehmen ihre
Zahlungen, die sie im Zusammenhang mit der Gewinnung von Rohstoffen an Regierungen leisten, offenlegen
müssen. Neben der klassischen fördernden Industrie,
also etwa Öl, Gas, Bergbau, betrifft dies auch die holzgewinnende Industrie. Das ist grundsätzlich klar zu unterstützen, und daher werden wir auch dem Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zustimmen, der unter
bestimmten Voraussetzungen eine Umsetzung der Richtlinien fordert.
So weit, so gut. Allein die Bundesregierung spielt bei
den noch laufenden Verhandlungen eine undurchsichtige Rolle oder, um es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Beim so wichtigen Thema Transparenz herrscht bei
der Bundesregierung alles andere als Transparenz. Die
Unterrichtung zum aktuellen Verhandlungsstand, die
wir in dieser Woche im Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung auf der Tagesordnung hatten, hat mich jedenfalls einigermaßen ratlos
und verärgert zurückgelassen. Während das Entwicklungsministerium Hü sagt, sagt das federführende
Justizministerium Hott und tritt kräftig auf die Bremse.
Dafür hagelt es zu Recht heftige Kritik vonseiten vieler
Nichtregierungsorganisationen. Nicht umsonst hat der
Deutschlandchef der Organisation ONE, Tobias Kahler,
die Bundesregierung erst in dieser Woche zum wiederholten Male aufgefordert, endlich ihren Widerstand gegen die Korruptionsbekämpfung in der Rohstoffpolitik
aufzugeben.
Eigentlich sollen die Verhandlungen über die Richtlinien noch in der dänischen Ratspräsidentschaft bis zur
Jahresmitte abgeschlossen werden. Ob das gelingt,
scheint angesichts der vielen ungeklärten Fragen zweifelhaft. So ist beispielsweise noch offen, ob es eine
Wesentlichkeitsgrenze geben soll, also eine festgelegte
Grenze des jeweiligen Geschäftsumfangs, unterhalb
derer eine Berichtspflicht nicht besteht. Hier wird man
aufpassen müssen, dass eine solche Grenze keine Einfallstore für Tricksereien - etwa das Splitten eines Abschlusses in mehrere kleinere Geschäfte zur Umgehung
der Offenlegungspflicht - eröffnet.
Ebenfalls keine Einigkeit gibt es bislang darüber, ob
sich die Berichtspflichten auf einzelne Projekte beziehen
sollen oder ob nur Gesamtsummen pro Land genannt
werden müssen. Und wohlgemerkt: Die Uneinigkeit in
diesem zentralen Punkt besteht nicht nur innerhalb der
EU, sondern ganz offensichtlich auch zwischen den beteiligten Ressorts innerhalb der Bundesregierung. Dabei
handelt es sich hier um eine der entscheidenden Fragen:
Wird der Vorschlag der Kommission von einigen Regierungen der Mitgliedstaaten so weit aufgeweicht, dass er
zum zahnlosen Tiger wird, oder wird er am Ende wirklich ein wirksames Instrument zur Bekämpfung von
Korruption und dreckigen Geschäften sein können? Aus
unserer Sicht kann es da keine zwei Meinungen geben:
Ohne die eindeutige Projektbezogenheit macht die
Offenlegung wenig Sinn. Eine klare Festlegung der
Bundesregierung - so es sie nicht in Wirklichkeit schon
gibt; die Töne, die von deutschen Regierungsvertretern
in Brüssel angeschlagen werden, klingen jedenfalls eindeutiger als das, was uns hier in Berlin erzählt wird wäre dringend angezeigt. Aber leider Fehlanzeige - das
Bundesjustizministerium laviert uns gegenüber im Ausschuss herum und versteckt sich hinter der Aussage,
dass es in diesem Punkt auch zum Dodd-Frank-Act noch
keine Ausführungsbestimmungen gibt. Das ist zum einen
nur die halbe Wahrheit; denn die Dodd-Frank-Regelungen sind in puncto Projektbezogenheit bereits recht eindeutig, und da der US-amerikanische Wertpapier- und
Börsenausschuss bei der Formulierung der technischen
Ausführungsbestimmungen an die Buchstaben des Gesetzes gebunden ist, ist absehbar, dass er die Project-by-Project-Regelung umsetzen muss. Der Interpretationsspielraum ist hier nach Aussagen von Senator Cardin, einem
der Urheber von Dodd-Frank, äußerst begrenzt. Würde
also eine EU-Regelung nicht die eindeutige Projektbezogenheit umfassen, wäre die Industrie demnächst zwei
Standards unterworfen. Man kann sich das Chaos, das
dann entsteht, ungefähr ausmalen.
Eine Prognose über die Entscheidung der Amerikaner ist also nicht so schwer, wie es uns die Bundesregierung glauben machen will. Aber selbst wenn wir dem
Justizministerium folgend davon ausgehen, dass es noch
der Ausführungsbestimmungen zum Dodd-Frank-Act
bedarf, kann man andererseits nur sagen: Dann gehen
Zu Protokoll gegebene Reden
Sie doch mutig voran und treffen Sie eine eigene Entscheidung für eine wirksame und kraftvolle Regelung!
Die Bundesregierung scheint - zumindest in Teilen auf Zeit zu spielen. Sie lässt sich statt von kritischen
Nichtregierungsorganisationen lieber vom BDI beraten,
um mit dem Scheinargument, eine übermäßige Bürokratie verhindern zu wollen, eine möglichst weichgespülte,
industriefreundliche Fassung der Richtlinie zu bekommen. Dabei hält sogar der frühere BP-Chef Lord John
Browne die Einwände seiner ehemaligen Kollegen, dass
eine Umsetzung der Richtlinien für die Unternehmen zu
kostspielig sei und möglicherweise zu Konkurrenznachteilen führen könnte, für abwegig. So hat er es in dieser
Woche in einem Beitrag für die „Financial Times“ geschrieben. Lord Browne - und das ist bemerkenswert sieht insbesondere die deutsche Regierung in der
Pflicht. Als einstmals treibende Kraft hinter der Initiative für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft, EITI, und
als, wie er schreibt, „Champion der guten Regierungsführung“ sollte gerade Deutschland dieses Gesetz unterstützen. Es werden also international in dieser Frage
große Erwartungen an die Bundesregierung geknüpft.
Bisher hat sie diese Erwartungen leider enttäuscht. Und
solange sie ihre Blockadehaltung nicht ablegt, macht sie
sich zum Handlanger jener korrupten Regime und skrupellosen Konzerne, die die Bevölkerung gnadenlos ausbeuten.
Rohstoffe dürfen nicht länger Fluch, sondern sie müssen Segen für die ärmsten Länder sein.
Es ist auf den ersten Blick schon paradox: Einige der
ressourcenreichsten Länder der Erde, zahlreiche davon
in Subsahara-Afrika, gehören zugleich auch zu den
ärmsten und am wenigsten entwickelten Ländern weltweit.
Ein geradezu klassisches Beispiel für dieses Phänomen ist Nigeria: Während in den Böden des Niger-Deltas Ölvorkommen von schier unvorstellbarer Größe
schlummern, gehört die nigerianische Bevölkerung zu
den ärmsten der Welt. So liegt das Land beim Human
Development Index weit abgeschlagen auf dem 156. von
187 Plätzen.
Dieses in der Fachwelt als „Ressourcenfluch“ bezeichnete Phänomen ist hinreichend beschrieben worden. So werden wertvolle natürliche Ressourcen gerade
in den ärmsten Ländern in besonderem Maße für Bürgerkriege, Korruption, schlechte Regierungsführung
und bewaffnete Konflikte verantwortlich gemacht. So
wird ein Reichtum an Bodenschätzen vom Segen schnell
zum Fluch für die gesamte Bevölkerung.
Einer der Wege, wie man dieses Phänomen bekämpfen kann, ist, Transparenz zu schaffen. Denn Transparenz ist ein Schlüsselfaktor für gute Regierungsführung
und damit auch für nachhaltige Entwicklung.
Indem Zahlungen an Regierungen, die von rohstofffördernden Unternehmen in den Ländern ihrer Geschäftstätigkeit geleistet werden, offengelegt werden,
wird transparent gemacht, wie viel eine Regierung aus
den natürlichen Bodenschätzen des Landes einnimmt.
Dies macht es möglich, eine Regierung gegenüber ihren
Bürgern und der Zivilgesellschaft zur Rechenschaft zu
ziehen. Es können Schlussfolgerungen gezogen werden,
ob die Höhe der Einnahmen angemessen erscheint, oder
es kann Aufklärung darüber verlangt werden, wofür die
Einnahmen verwendet wurden.
Eine international abgestimmte Regelung zur Herstellung von Transparenz im Bereich der Rohstoffunternehmen ist somit auch im Interesse einer nachhaltigen
Entwicklungspolitik. Unser Ziel ist, Entwicklungsländer
dabei zu unterstützen, Einnahmen aus dem Rohstoffsektor rohstoffreicher Entwicklungsländer gezielt für die
soziale und ökonomische Entwicklung dieser Länder zu
nutzen. Eine Offenlegung der Einnahmen aus dem Rohstoffsektor durch Rohstoffländer und Unternehmen trägt
zur Herstellung von Transparenz und guter Regierungsführung bei der Rohstoffgewinnung bei und ist ein Kernziel der weiterentwickelten Rohstoffstrategie der Bundesregierung.
Anders als im Antrag der Grünen dargestellt, unterstützt die Bundesregierung aktiv die Vorschläge der EUKommission und regt einen Dialog an, wie diese Vorschläge mit dem Ziel einer effizienten Regelung ohne
„Schlupflöcher“ erst verbessert und schließlich realisiert werden können. Im Zuge dessen hat die Bundesregierung bereits im Vorfeld des Vorschlags verschiedene
wichtige Hürden aus dem Weg geräumt, welche die gewünschte Transparenz im Rohstoffsektor gefährdet hätten: So sind beispielsweise Regeln formuliert worden,
die übermäßige Bürokratie und damit zusammenhängende Kosten verhindern. Ferner wurden aufgrund von
Anregungen der Bundesregierung Aspekte des Datenschutzes bei der Ausgestaltung des Detaillierungsgrades
der Aufschlüsselung berücksichtigt, sodass der Schutz
von Betriebsgeheimnissen gewährleistet sein wird. Ein
weiterer wichtiger Aspekt zur Verbesserung des Vorschlags ist die Kohärenz mit anderen Transparenzinitiativen, insbesondere EITI und Dodd-Frank. Wichtig für
uns ist, dass sowohl die Belastungen der Wirtschaft und
deren Interesse am Schutz von Geschäftsgeheimnissen
ausreichend berücksichtigt werden, als auch das Ziel eines globalen Level-Playing-Field, also gleiche Voraussetzungen für alle Marktteilnehmer, für die betroffenen
Unternehmen beachtet wird.
Sie sehen: Um die Vorteile einer umfassenden Transparenz im Rohstoffsektor zu gewährleisten, bedarf es einer genauen Betrachtung der zusammengetragenen Vorschläge.
Es ist schließlich festzuhalten, dass die Bemühungen
für die Gestaltung einer transparenten Rohstoffwirtschaft
insbesondere für rohstoffreiche Entwicklungsländer umfassende Potenziale freisetzen können. Transparenz stellt
einen Schlüsselfaktor für gute Regierungsführung dar
und eröffnet vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten für die
Zivilgesellschaft, sodass diese an der Entwicklung ihres
Landes konstruktiv teilhaben können.
Wie Sie nunmehr vernommen haben müssten, tritt die
Bundesregierung keineswegs „bremsend“ auf, wie im
Antrag voreilig formuliert wurde. Vielmehr unterstützen
Zu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
wir die Vorschläge der Kommission und setzen uns dafür
ein, dass die Bemühungen für mehr Transparenz im Rohstoffsektor weder von Staaten noch von Unternehmen
umgangen werden können und so ihr gesamtes Potenzial
zum allseitigen Nutzen entfalten können.
Folglich sind die Forderungen im Antrag der Grünen
zwar geleitet von gutem Willen, berücksichtigen aber
wesentliche Punkte nicht und sind deshalb abzulehnen.
„Die deutsche Großindustrie steckt ihr Terrain im
Wettrennen um die weltweite Rohstoffversorgung ab:
Zehn deutsche Großkonzerne haben sich nun offiziell zu
einer Allianz zusammengeschlossen“, stand vor zwei Tagen im „Manager Magazin online“ geschrieben. Finanziert werden sollen die Beteiligungen an diesem Rohstofffonds teils durch Eigeninvestitionen, aber auch
durch „außenwirtschaftliche Instrumente des Bundes“,
etwa Fördermittel für Industrieansiedlung in Entwicklungsländern. Der Zugang zu Rohstoffen ist nach Einschätzung von Kanzlerin Angela Merkel eine der wichtigsten Voraussetzungen für weiteren Wohlstand in
Deutschland.
In diesen Tagen ist einmal mehr die Rohstoffstrategie
der Bundesregierung besiegelt worden, die vom Bundesverband der Deutschen Industrie - BDI - verfasst worden war. In dieser im Oktober 2010 veröffentlichten
Rohstoffstrategie soll „durch die Schaffung politischer,
rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen ein
Beitrag zu einer nachhaltigen, international wettbewerbsfähigen Rohstoffversorgung der deutschen Industrie“ geleistet werden. Was hinter den Schlagwörtern
„Rohstoffsicherheit“ und „Rohstoffallianz“ steckt, ist
nichts anderes, als eine vollständige Liberalisierung des
Handels zu erwirken, um den Rohstoffhunger der deutschen Industrie zu stillen. Entwicklungspolitik wird immer offensiver für Interessen der deutschen Unternehmen instrumentalisiert, wie von Entwicklungsminister
Niebel massiv propagiert. Nicht um die Entwicklung der
Länder des Südens geht es, sondern um den Profit der
deutschen Wirtschaft, denn die Rohstoffstrategie der
Bundesregierung fordert den Abbau der Exportzölle und
umfasst Drohungen gegen Länder des Südens, falls sie
bei der vollständigen Liberalisierung nicht mitmachen.
Die Gewinnung und Vermarktung von Rohstoffen rufen vielfach soziale Verwerfungen hervor und sind oft
von Gewalt begleitet, sie erzeugen in den Rohstoffländern Konflikt- und Kriegssituationen oder heizen solche
an, wie es in der Demokratischen Republik Kongo oder
in Nigeria seit vielen Jahren zu beobachten ist. Um Rohstoffe werden Kriege geführt, wie im Irak, in Afghanistan oder in Libyen.
Jüngst berichtete die „NZZ“ - 17. April - davon,
dass der Rohstoffkonzern Glencore im Kongo Kleinschürfer ausnützt, die Umwelt schädigt und Steuern vermeidet. In Kolumbien werden Kleinbauern vertrieben
und Gewerkschafter bedroht, die sich im Kohlentagebau
Cerrejón für ihre Rechte und den Schutz ihres Landes
einsetzen. Bei diesen und vielzähligen anderen Beispielen weltweit werden Menschenrechte, Umwelt-, Sozialund Arbeitsstandards mit Füßen getreten. Dennoch
schließt die Bundesregierung Freihandelsabkommen mit
Ländern des Südens ab. Wir fordern die Bundesregierung auf, das EU-Freihandelsabkommen mit Peru und
Kolumbien nicht zu ratifizieren. Die Rohstoffstrategie
der Bundesregierung hat eine klare neokoloniale und
ausbeuterische Agenda.
Die Bundesregierung lehnt die hoffnungsvolle Initiative Ecuadors ab, zum Schutz des Regenwaldes Yasuni
auf die Erschließung von Ölfeldern zu verzichten. Das
ITT-Projekt ist aber wegweisend, um die zerstörerische
Ausbeutung in den Ländern des Südens zu stoppen.
Die Grünen unterstützen in ihrem Antrag die Vorschläge der EU-Kommission für mehr Transparenz im
Rohstoffsektor. Den Vorschlägen zufolge sollen europäische Konzerne verpflichtet werden, ihre Zahlungen an
Regierungen von Rohstoffländern offenzulegen. Angesichts der Riesensummen - so werden in Deutschland
pro Jahr Rohstoffe im Wert von circa 140 Milliarden
Euro verbraucht -, die durch das Rohstoffgeschäft umgesetzt werden, bemängeln sie zu Recht, dass zu wenig
Geld in die Entwicklung der Länder des Südens investiert wird. Dafür machen sie korrupte Regierungen und
Intransparenz in den Ländern verantwortlich und fordern mehr Kontrolle der Unternehmen und der Rohstoffländer. Wir halten die Forderungen nach Transparenz
für notwendig, aber bei weitem nicht ausreichend. Die
Weigerung der Bundesregierung, auf europäischer
Ebene die Transparenzregeln für jedes einzelne Rohstoffprojekt festzuschreiben, ist nicht zu akzeptieren.
Wir kritisieren seit langem den Druck der EU bei
sämtlichen Freihandelsabkommen, Ausfuhrzölle zu senken oder abzuschaffen, die eine wichtige Einnahmequelle für Rohstoffländer sind. Auch die fehlende Wertschöpfung in den Rohstoffländern durch massive
Konkurrenz europäischer Konzerne ist ein großes Entwicklungshindernis. Bestrebungen lateinamerikanischer
Staaten, die Rohstoffindustrie zu renationalisieren, um
damit Sozialprogramme zu finanzieren, wie zum Beispiel
in Bolivien, Venezuela und jüngst Argentinien, halten
wir deshalb für einen wichtigen Beitrag zur Armutsbekämpfung.
Auch können sich die Forderungen nach Transparenz
nicht nur an die Regierungen in den Ländern des Südens
richten, sondern auch an die Industrieländer. Die Einflussnahme von Lobbyverbänden der Industrie auf die
europäische Handels-, Investitions- und Rohstoffpolitik
ist ein Skandal und gehört verboten. Die deutsche Bundesregierung und die EU-Kommission agieren in Handelsfragen völlig intransparent; deshalb fordern wir seit
langem die Offenlegung von Vertragsentwürfen und eine
breite Beteiligung von Zivilgesellschaft.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die jüngste Kritik des
UNO-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung, Oliver De Schutter, der die Deutsche Bank für ihre
Geschäfte mit dem Rohstoff-Indexfonds scharf angegriffen hat - „UNO-Experte greift Deutsche Bank an“,
Spiegel 24. April 2012. Die Spekulation mit Rohstoffen
sei verantwortungslos und müsse verboten werden, Nahrungsmittelspekulation verschärfe Hungersnöte. De
Zu Protokoll gegebene Reden
Schutter fordert die Politik zum Handeln; auf die Finanzmärkte müssen stärker direkt reguliert werden. Es
reicht nicht aus, nur die Transparenz der Märkte zu erhöhen, auf denen Agrargüter physisch gehandelt werden. Ebenso wichtig sei es, Regeln für die Finanzmärkte
zu schaffen. Die FDP-Blockade gegen eine Finanztransaktionsteuer ist hier nochmals klar zu verurteilen.
Die Linke lehnt eine Rohstoffpolitik, die Kriege und
Bürgerkriege, Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen verursacht und vom Geist des Neokolonialismus getragen ist, strikt ab. Dafür muss das Konzept der
Rohstoffpartnerschaften fallen gelassen werden. Menschenrechte, soziale Mindeststandards und Umweltschutz dürfen nicht der Profitgier deutscher Wirtschaftsunternehmen geopfert werden.
Wir weisen in diesem Sinne die in den 2011 vorgestellten verteidigungspolitischen Richtlinien formulierte
Vorstellung zurück, der Zugang der deutschen Wirtschaft zu Rohstoffen und ihren Vertriebswegen sei deutsches Sicherheitsinteresse und im Zweifelsfall militärisch durchzusetzen.
Wir brauchen eine grundsätzlich andere Weltwirtschaftspolitik, Rohstoffreichtum darf nicht mehr Armut
für die Bevölkerungen der Länder des Südens bedeuten.
Entscheidend ist, den Rohstoffverbrauch in den Industriestaaten zu senken.
Mich regt das auf: Rohstoffabbau bedeutet viel zu
häufig: Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, massive
ökologische Schäden, Misswirtschaft und Korruption.
Es gelingt zu selten, den Rohstoffreichtum so zu nutzen,
dass sich die Lebensverhältnisse der lokalen Bevölkerung verbessern. Deswegen drängen wir auf eine international gerechte, nachhaltige Rohstoffpolitik, die diese
Ungerechtigkeit beendet.
Jetzt gibt es eine große Chance, mehr Transparenz im
Rohstoffsektor zu verankern. Die EU-Kommission hat
Vorschläge vorgelegt, nach denen Rohstoffunternehmen
verpflichtet werden sollen, ihre Zahlungen im Rohstoffsektor offenzulegen.
Mit diesen Vorschlägen geht die Kommission einen
richtigen und wichtigen, einen dringend notwendigen
Schritt. Wir wissen: Transparenz ist eine entscheidende
Voraussetzung für den Zugang zu Informationen und für
Korruptionsbekämpfung im Rohstoffsektor. Mit den
Kommissionvorschlägen steht das Fenster dafür offen.
Die Beratung der Kommissionvorlagen läuft - Europäisches Parlament und Europäischer Rat setzen sich in
diesen Wochen damit auseinander. Und was hören wir
von der Bundesregierung? Sie opponiert, wo sie nur
kann. Aus Brüssel erfahren wir, dass Schwarz-Gelb auf
die Bremse tritt, um die EU-Vorschläge zu verwässern.
Die Bundesregierung ist gegen eine Offenlegung der
Zahlungen auf Projektbasis. Die Bundesregierung ist
gegen eine Offenlegung von Zahlungen an EU-Mitgliedstaaten. Ich könnte diese Liste fortführen.
Auch der Ende März vorgestellte Berichtsentwurf des
zuständigen Berichterstatters im EP, Klaus-Heiner
Lehne, Mitglied der EVP und damit Ihr Kollege, meine
sehr verehrten Damen und Herren aus der Unionsfraktion, geht deutlich weiter als das, was die Bundesregierung für vertretbar hält. So spricht sich der Lehne-Bericht etwa für eine Offenlegung auf Projektebene aus.
Ich kann in keinster Weise nachvollziehen, wie die Bundesregierung ihre ablehnende Haltung rechtfertigt. Wir
wissen doch alle, dass nur eine umfassende Veröffentlichung der Zahlungen auf Länder- und Projektebene es
Parlamentarierinnen und Parlamentariern, der Zivilgesellschaft und den Bürgerinnen und Bürgern rohstoffreicher Länder ermöglicht, ihre Regierungen zu kontrollieren und eine angemessene Beteiligung an den Einnahmen einzufordern. Ich sage zugespitzt auch: Das Ziel
muss sein, den Kleptokraten das Handwerk zu legen.
Mit den EU-Vorlagen wird es konkret. Jetzt zeigt sich,
wer sich einsetzt für entwicklungsfördernde Maßnahmen. Obwohl die Bundesregierung nicht müde wird, zu
betonen, dass auch für sie Transparenz im Rohstoffsektor ein wichtiges Anliegen sei, wurde unser Antrag
({0}), in dem wir die EU-Vorschläge
unterstützen, in den Ausschüssen von Schwarz-Gelb abgelehnt. Ich fordere substanzielle Politik statt Lippenbekenntnisse!
Die ewigen Argumente der Bundesregierung gegen
umfassende Offenlegung, wie sie uns im Ausschuss vorgetragen wurden - zuletzt gestern -, sind Wettbewerbsnachteile und Kosten für die Rohstoffunternehmen. Wir
wissen, dass diese Argumente nicht greifen. Die Daten
werden sowieso erhoben, sind in der Branche bekannt,
und die Veröffentlichung bezöge sich auf Zahlen der Vergangenheit, also nach Abschluss des Börsenjahres. Das
heißt: weder Auswirkungen auf die Kostenstruktur noch
auf den Wettbewerb. Wenn selbst der ehemalige BP-Chef
Lord Browne Deutschland öffentlich dazu aufruft, eine
konstruktivere Haltung bei der Korruptionsbekämpfung
im Rohstoffsektor einzunehmen, wie gestern geschehen,
dann frage ich mich schon: Wessen Interessen meinen
Sie zu vertreten?
Mit unserem Antrag „Transparenz im Rohstoffsektor EU-Vorschläge umfassend umsetzen“ ({1}) unterstützen wir die Initiative der EU-Kommission und fordern die Bundesregierung auf, ihre Blockadehaltung aufzugeben und sich in Brüssel für einen
umfassenden Ansatz bei der Offenlegung stark zu machen. Denn freiwillige Maßnahmen reichen nicht aus.
Wir Grüne fordern verbindliche Maßnahmen für eine
entwicklungsförderliche und faire internationale Rohstoffpolitik.
Noch ist es nicht zu spät. Die Beratungen in Brüssel
laufen. Ich möchte die Bundesregierung eindringlich
dazu auffordern, die EU-Vorschläge nicht zu blockieren
und sich für eine umfassende Offenlegung einzusetzen.
Wir stehen vor der einmaligen Chance, jetzt Pflöcke einzuschlagen für mehr Transparenz im Rohstoffsektor.
Diese Chance müssen wir nutzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/8914, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/8354 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva BullingSchröter, Sabine Stüber, Ralph Lenkert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Umfassendes Elbekonzept erstellen
- Drucksache 17/9160 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Ulrich Petzold, Waltraud
Wolff, Horst Meierhofer, Sabine Stüber, Stephan Kühn.
„Die Elbe ist eine internationale Wasserstraße und
soll es auch bleiben.“ Dieser Satz des Antrags lässt auf
mehr Realitätssinn hoffen als in den vielen vorhergehenden Anträgen zur Elbe, mit denen wir uns bislang beschäftigen mussten.
Wenn ich dann jedoch den ersten Satz der Begründung lese, muss ich an die alte Weisheit denken: Die
hinterhältigste Lüge ist die Auslassung.
Der Antrag zitiert in diesem ersten Satz der Begründung die Überschrift des zweiten Anstrichs einer Ausarbeitung des Umweltbundesamtes mit dem Titel „Die
Elbe: Schifffahrt und Ökologie im Einklang?“ mit
folgenden Worten: „Der ökologische Zustand der deutschen Binnenelbe ist in weiten Teilen ‚unbefriedigend‘“.
Diese Überschrift geht jedoch weiter, und hier erlaube
ich mir auch deshalb weiter zu zitieren: „Er ist damit
besser als der aller anderen großen Bundeswasserstraßen, aber bei weitem noch nicht gut genug.“
Wenn man zitiert, sollte man also vollständig zitieren:
„Der ökologische Zustand der deutschen Binnenelbe ist
in weiten Teilen ‚unbefriedigend‘. Er ist damit besser als
der aller anderen großen Bundeswasserstraßen, aber
bei weitem noch nicht gut genug.“
Wer jedoch unbefangen den Antrag der Linken an
dieser Stelle liest, muss zu der Annahme kommen, die
Situation an der Elbe sei eine einzige Katastrophe, denn
„unbefriedigend“ heißt im Volksmund die Note 5 und
damit nicht bestanden.
Genau das stimmt aber nicht. In den Ausführungen
zur Erläuterung des zitierten Anstrichs heißt es: „Der
ökologische Zustand der Binnenelbe ist mäßig bis unbefriedigend. Dies entspricht den Stufen 3 und 4 der fünfstufigen EG-Klassifikation …“ Das ist wahrlich kein
Grund, sich auf den unzweifelhaften Erfolgen auszuruhen, aber es ist eben beileibe keine Katastrophe, wie
uns der Antrag weismachen will, sondern ein ökologisch
qualitativer Zustand, wie er an keinem anderen Fluss in
Deutschland erreicht wird, der schifffahrtlich genutzt
wird.
Fazit: Der vorliegende Antrag operiert mit Halbwahrheiten, die dann den gesamten Antrag diskreditieren.
Der Philosoph Arthur Schnitzler sagt dazu: „Eine sogenannte Halbwahrheit, sie mag sich aufspielen, wie sie
will, wird niemals eine ganze Wahrheit werden. Ja, wenn
wir ihr nur scharf genug ins Auge sehen, so ist sie immer
eine ganze Lüge gewesen.“
Trotzdem will ich mich bemühen, mich objektiv mit
dem Antrag auseinanderzusetzen und die Forderung
nach einem Elbekonzept zu untersuchen. Deshalb die
erste Frage: Ist die Forderung nach einem umfassenden
Elbekonzept neu?
Wer bei Google in die Suchmaske „Elbekonzept“ eingibt, bekommt sofort 183 Einträge dazu angezeigt. Dies
sind Ausarbeitungen mit sehr unterschiedlichem Niveau.
Als Beispiel sei hier das „Konzept für eine nachhaltige
Entwicklung der Region Elbtalaue“ des Instituts für
ökologische Wirtschaftsförderung Wuppertal genannt,
das bereits aus dem Jahr 1995 stammt. Aber auch Konzepte mit ganz gegenläufigen Aussagen finden sich dort.
Wenn ich in einem früheren Redebeitrag darüber berichtet habe, dass für das Ministerium für Landesentwicklung und Verkehr des Landes Sachsen-Anhalt
69 Elbe-Studien evaluiert worden sind, so muss man davon ausgehen, dass so gut wie jede dieser 69 Studien in
ein Konzept eingeflossen ist. Dabei gehört das Konzept
des Wuppertaler Instituts mit seinen 264 Seiten bestimmt
zu den umfangreicheren Konzepten mit sehr weitreichenden Handlungsempfehlungen.
Die Forderung nach einem Elbekonzept ist also beileibe nicht neu, sodass ein Neuigkeitswert des Antrags
nicht gegeben ist.
Warum dann also der Antrag jetzt und in dieser
Form?
Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und das Bundesministerium für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit sind im vorigen Jahr
übereingekommen, in Absprache mit den Elbanliegerländern ein gemeinsam abgestimmtes Konzept für die
Elbe zu entwickeln. Denn leider war in den vergangenen
Legislaturperioden immer wieder zu beobachten, dass
bei Einzelmaßnahmen unterschiedliche Zielvorstellungen existierten, die dann in der Folge mühevoll miteinander abgestimmt werden mussten. Forderungen des
Umweltministeriums überforderten das Verkehrsministerium und umgekehrt, da die Ansätze und Zielrichtungen verschiedene waren. Dazu kam, dass die unterschiedlichen Bundesländer ebenfalls mit unterschiedUlrich Petzold
lichen Konzepten an die Nutzung der Elbe herangingen.
Während Sachsen-Anhalt sehr viel Wert auf die Schiffbarkeit der Elbe für den Güterschiffsverkehr legte, war
das in Dresden nicht die große Herzensangelegenheit.
Während Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Niedersachsen das Biosphärenreservat Elbe vorantrieben, war
Sachsen dabei eher zurückhaltend. Dieses zu überwinden, war also bereits im vorigen Jahr das Anliegen der
Bundesregierung. Demzufolge finden seitdem zielführende Gespräche zwischen den Ministerien des Bundes
und der Länder statt, wie zum Beispiel in der vorigen
Woche und am 4. Juli wieder. Dieses Bemühen scheint
sich bis zur Fraktion der Linken herumgesprochen zu
haben, die nun scheinbar auf den fahrenden Zug aufspringen wollen.
Die Gespräche zu einem Elbekonzept sind bisher
durchaus zufriedenstellend gediehen und zeigen mit ersten Eckpunkten gute Ergebnisse. So hat man sich als
Beispiel darauf geeinigt: die Unterhaltungsgrundsätze
zur Wiederherstellung des Status quo ante 2002 in enger
Abstimmung mit den zuständigen Landesbehörden umzusetzen und weiterzuentwickeln; die sich im Rahmen
der wasserwirtschaftlichen Unterhaltung ergebenden
Möglichkeiten zu ökologischen, ökonomischen und verkehrlichen Verbesserungen zu nutzen; ein aktualisiertes
Stromregelungskonzept für die Bundeswasserstraße
Elbe zu erarbeiten.
Es wurde zu einem hydromorphologischen Maßnahmenkatalog Einigung erzielt, der sich mit den Fragen zu
einem Sohlenstabilisierungskonzept, einem Konzept zur
Durchgängigkeit im Elbeeinzugsgebiet, dem Hochwasserschutz und auch dem Naturschutz unter Betrachtung auch der Auenentwicklung befasst.
Es wird anerkannt, dass die Verantwortlichkeit des
Bundes für ökologische und wasserwirtschaftliche
Belange künftig über eine Berücksichtigung bei der Erfüllung seiner verkehrlichen Aufgaben hinausgeht.
Aus diesen Eckpunkten wird bis zum Herbst eine fundierte Diskussionsgrundlage erarbeitet, die nach der
Planung dann auch in der Öffentlichkeit breit diskutiert
werden soll. Der Nachteil aller bisherigen Elbekonzepte
war, dass sie entweder gar nicht öffentlich oder aber nur
mit einer kleinen Gruppe diskutiert wurden, möglichst
noch begrenzt auf Gleichgesinnte, wie man an den
Expertenlisten unschwer erkennen konnte. Ich finde es
sehr gut und mutig, dass diese Bundesregierung nicht
wieder den Weg der Wunschexperten geht.
Sie sehen also, dass der Grundgedanke des Antrags
sich längst in der Realisierung befindet und somit keine
Neuheit darstellt. Lassen Sie mich deshalb einzelne
Gedanken des Antrags aufgreifen und auf ihren für ein
Elbekonzept verwertbaren Inhalt untersuchen:
Da fallen dem Leser Sätze auf wie: „Eine möglichst
natürliche Entwicklung ist für die Elbe und ihre Nebenflüsse zu gewährleisten.“ Wer kann einen solchen Satz
ablehnen? Doch höchstens die, die unsere Flüsse kanalisieren wollen - und wer will das schon? Was heißt
überhaupt: „möglichst natürliche Entwicklung“? Wer
sich diesen Satz genau überlegt, wird zu dem Schluss
kommen: Lyrik ohne Aussage.
Viel spannender ist da der nächste Satz: „Das bedeutet auch, einen Elbe-Saale-Kanal darf es nicht geben.“.
Es ist schon verwunderlich, wenn im gleichen Antrag
der Ausbau und die Nutzung des Elbe-Seitenkanals gefordert werden und gleichzeitig ein Saale-Seitenkanal
aus Naturschutzgründen verboten werden soll.
Ist mit einer solchen Vorfestlegung einem Elbekonzept wirklich gedient?
Wenn wir ein Elbekonzept entwerfen wollen, sollte es
nicht bereits Vorfestlegungen von Ergebnissen geben.
Die Bundesregierung macht genau dieses mit ihrem
Elbekonzept nicht. Wenn die Linke in ihren Antrag geschrieben hätte: „Wir lehnen den Saale-Seitenkanal
ab“, wäre das durchaus nachvollziehbar gewesen und
steht als Meinungsäußerung jeder Partei zu. Mit der
Festlegung: „darf es nicht geben“, enthüllt die Linke
ihre Herkunft, indem sie in die alte SED-Rhetorik zurückfällt.
Wenn dann im Antrag geschrieben wird: „Flusspolitik auf Kosten der Ökologie darf es nicht geben“, reibt
man sich schon verwundert die Augen über diese weise
und späte Einsicht der Linken. Denn nicht nur für mich
stellt sich die Frage: Wann ist denn an der Elbe zuletzt
auf Kosten der Ökologie Missbrauch getrieben worden,
und das über Jahrzehnte?
Denn erst seit wenigen Jahren wird jährlich der Elbebadetag festlich begangen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir als Kinder in der Elbe gebadet haben,
aber spätestens seit 1960 war das nicht mehr möglich die Elbe war zu verschmutzt. Sie wurde von der DDR immer mehr als billiger Abwasserkanal missbraucht. Es
freut mich ja, wenn die Linke sich heute von dieser
ökologisch katastrophalen Politik des real existierenden
Sozialismus distanziert, aber die Verantwortung als damalige Regierungspartei hat sie dafür nie übernommen.
Damit erinnert mich die Forderung des Antrags nach einer ökologischen Flusspolitik schon an das Motto „Haltet den Dieb!“.
So stammen die PCB- und HCH-belasteten Sedimente, deren Beobachtung und Beseitigung der Antrag
fordert, nicht aus irgendeiner grauen Vorzeit, sondern in
erster Linie von der DDR-Chemie und von ungeklärten
Haus- und Gewerbeabwässern des DDR-Sozialismus.
Dass dieses Problem angegangen werden muss, war der
Bundesrepublik schon vor dem Zusammenbruch der
DDR klar. Deswegen bekamen solche Städte und
Chemiestandorte wie meine Heimatstadt Wittenberg
schon 1988 das Angebot der Finanzierung eines Klärwerks durch die Bundesrepublik, was dann auch ab
1990 realisiert wurde.
Grotesk wird es, wenn der Antrag fordert, dass, wenn
keine Verursacher der chemischen Verschmutzung festzustellen sind, die Allgemeinheit für die Kosten der Erfassung und Beseitigung der Belastungen aufzukommen
hat. Seien Sie ehrlich: Wir, aber auch Sie, kennen die
Verursacher.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Länder der Bundesrepublik - und hier kann ich
für das Land Sachsen-Anhalt sprechen - haben sich in
hervorragender Weise in die Beseitigung dieser Hinterlassenschaften eingebracht, indem dort seit circa zwei
Jahren ein Schadstofferfassungs- und -minderungskonzept läuft:
In der sehr schwierigen Situation, dass durch die vielen Hochwasserereignisse seit der Entstehung der
Schadstoffbelastung sich Hotspots der belasteten Sedimente in den Flussauen gebildet haben, nehmen die
Landesbetriebe für Altlasten nicht nur die Schäden auf,
sondern sind aktiv bei der Entwicklung von Beseitigungsstrategien wie zum Beispiel auf den Elb- und
Muldewiesen um Dessau. Dabei soll nicht nur die Aufnahme der Belastung durch Nutzvieh verhindert werden,
sondern die Belastung allgemein zurückgeführt werden.
Beim Nutzvieh fördert darüber hinaus das Landesamt
für Umweltschutz, LAU, des Landes Sachsen-Anhalt die
Eigenprüfung der Viehbestände und ergänzt dieses
durch Stichprobenkontrollen. Es ist erfreulich, dass sich
Auffälligkeiten dabei in ganz engen Grenzen halten.
Jedoch stimmt es mich nachdenklich, dass selbst bei
Biobetrieben Auffälligkeiten festgestellt wurden, die
nachweisen, dass nicht in jedem Fall sorgfältig genug
mit der Nutzung von Futter von den Flussauenwiesen
umgegangen wird.
Dass die Kontrolle und Aufsicht in diesem Fall entsprechend unseres Föderalismusprinzips bei den Ländern liegt, ist nicht nur in der Tradition begründet. Nur
die Länder haben fachlich qualifizierte Aufsichtsbehörden und sind mit ihren Verwaltungen näher am Problem.
Auf der anderen Seite ist es richtig und wichtig, dass
der Bund die Kosten für die Flussbaumaßnahmen übernimmt, wie zum Beispiel im Rahmen der Sohlenstabilisierung. Die qualifizierten Behörden, wie die Wasserund Schifffahrtsverwaltung, sind nun einmal beim Bund
angesiedelt. Aber es wird nicht gegeneinander, sondern
konstruktiv miteinander gearbeitet. Gemeinsam wurde
von Bund, Ländern, Biosphärenreservatsverwaltung
und Umweltverbänden ein Sohlenstabilisierungskonzept
erarbeitet, was letztendlich einhellige Zustimmung erfahren hat. Einer weiteren Fahrrinnenvertiefung, wie im
Antrag befürchtet, wird damit Einhalt geboten. Die
Abstimmung gerade auch mit den Umweltverbänden
sichert eine breite Unterstützung, der sich auch die
Antragssteller nicht entziehen sollten.
Aber nicht nur an dieser Stelle gehen WSV und die
Umweltverbände aufeinander zu. Ein schönes Beispiel
ist auch die ökologisch optimierte Buhne als Knick- und
Flutmuldenbuhnen oder auch als Totholzbuhnen. Hier
muss nicht erst, wie im Antrag gefordert, etwas entwickelt werden, sondern hier ist bereits etwas vorhanden,
womit die WSV Ost für alle anderen Schifffahrtsverwaltungen ein Vorbild ist. Und jetzt einmal ganz vorsichtig sind die Natursteine der Pflasterungen oder Schüttungen keine natürlichen Materialien? Wenn Sie also im
Antrag fordern, dass als Baumaterialien für Flussbauwerke nur natürliche Materialien verwendet werden sollen, dann ist die Redensart von der „Steinigung unserer
Flüsse“ kaum aufrechtzuerhalten.
Einen interessanten Gedanken bringt der Antrag mit
seinen Ausführungen zur Nutzung mobiler Kleinstwasserkraftwerke ein. Inwieweit das jedoch an der Elbe
nutzbar ist, steht sehr infrage. So schlägt das Unternehmen selbst in der Elbe nur einen Standort stromaufwärts
von Dresden vor, da hier die Strömungsbedingungen
durch die Felseinengungen die geforderten Parameter
erreichen. Da eine solche Anlage eine Wassertiefe von
mindestens 2 Metern benötigt, ist die Zahl der nutzbaren
Stellen in der Elbe bei der angestrebten Fahrrinnentiefe
von 1,6 Metern an 340 Tagen im Jahr wohl eher ein
Hinderungsgrund. So kritisch, wie die Naturschutzverbände jedoch allgemein Laufwasserkraftwerken
gegenüberstehen, befürchte ich, auch hier auf einen
vehementen Widerstand zu stoßen, und bezweifle, dass
selbst auch nur eine Erprobung akzeptiert würde. Als
schnellstfließender Fluss Mitteleuropas scheint mir daher die Mulde für die Erprobung dieser Technologie
eher geeignet zu sein.
Positiv bewerten möchte ich auch die grundsätzliche
Zustimmung des Antrags zu einer flussverträglichen
Schifffahrt. Recht gut den Gegebenheiten der Elbe angepasst, verkehren bereits jetzt in merklicher Zahl
Schubverbände insbesondere aus der Tschechischen Republik. Das seit 2000 existierende Konzept für ein flachgehendes Elbschiff wurde leider nie umgesetzt, aber mit
Albatros haben wir seit mehreren Jahren einen Linienverkehr auf der Elbe, der die Bahn integriert. Wir müssen jedoch feststellen, dass die Kapazität der Bahntransporte nach Hamburg durch den Schienenengpass um
Hamburg so gut wie ausgereizt ist und Schienenlärm
insbesondere im Elbtal nördlich von Dresden ein Problem darstellt. Ein weiterer ökologisch angepasster
Transport in den Hamburger Hafen ist nur mit dem
Binnenschiff ausbaubar. Unverständlich ist dabei, dass
durch die Hafenverwaltung das Binnenschiff systematisch wirtschaftlich benachteiligt wird. Solange der
Umschlag eines Containers vom Binnenschiff zum
Hochseeschiff mehr als doppelt so teuer ist wie der
Umschlag von allen anderen Verkehrsträgern, ist kein
fairer Wettbewerb möglich. Wenn wir jetzt als Bund den
Hamburger Hafen wieder mit sehr viel Steuermitteln unterstützen sollen, muss diese ökologische Fehlsteuerung
beseitigt werden.
Zusammenfassend kann ich für meine Fraktion nur
feststellen, dass ich mich freue, dass sich auch die Linke
in die Erarbeitung eines umfassenden Elbekonzepts konstruktiv einbringen will. Allerdings ist hierfür schon vieles geschehen, was uns dieser Antrag als Neues verkaufen will, aber wir werden natürlich den Antrag gern im
Ausschuss weiter beraten.
Die Elbe ist durch menschliche Eingriffe geprägt, und
sie fließt durch eine menschlich geprägte Kulturlandschaft. Sie ist deutlich verkürzt worden, durch Buhnen
und Deiche ist ihr Lauf befestigt worden, ihre Fließgeschwindigkeit hat sich im Laufe der Schiffbarmachung
erhöht. Damit einhergegangen ist eine Veränderung der
Landschaft und der Lebensräume entlang der Elbe.
Zu Protokoll gegebene Reden
Waltraud Wolff ({0})
Das Flussprofil wurde enger. Das bedeutet: Ufer wurden steiler, weniger Fläche wird bei Hochwasser überschwemmt, Nebenarme, Kiesbänke und Inseln verschwanden. Kurz: Lebensräume haben sich verändert.
Trotz der starken Veränderungen für die Schifffahrt
hat sie in weiten Strecken immer noch den Charakter eines frei fließenden Flusses. Die Elbe besitzt immer noch
einen großen ökologischen Wert. Der Elbebiber hat hier
sein Hauptverbreitungsgebiet, die größten zusammenhängenden Auenwälder Mitteleuropas befinden sich entlang der Elbe. Gerade diese Auenwälder sind wichtiger
Lebensraum, sie sind geprägt durch eine hohe Artenvielfalt. Die Elbe ist trotz der starken Veränderungen ein lebendiger Fluss geblieben.
Die Europäische Wasserrahmenrichtlinie schreibt einen guten ökologischen Zustand mit weitgehender Wiederherstellung natürlicher Prozesse für das gesamte
Einzugsgebiet der Elbe vor. Im Fokus des Regelwerks
stehen die integrierte Betrachtung der Fließgewässer
mitsamt ihren Auen und angrenzenden Feuchtgebieten
sowie ihren verbundenen Grundwasserleitern. Verstärkt
wird dieser Entwicklungsanspruch durch das Natura2000-System der EU. Viele Flüsse sind Bestandteile von
Schutzgebieten nach der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie und der Vogelschutzrichtlinie.
Gerade im Bereich des vorsorgenden Hochwasserschutzes können auch Maßnahmen zum Einsatz kommen, die Änderungen der Nutzungen in Überschwemmungsgebieten mit sich bringen können, etwa bei
Maßnahmen zur Reduzierung der Flächenversiegelung,
bei der Rückverlegung von Deichen oder Maßnahmen,
die zu Beschränkungen landwirtschaftlicher Tätigkeiten
und in der Siedlungsentwicklung führen können. Dem
gegenüber stehen große Vorteile für die Menschen wie
der Schutz materieller Werte und damit verbunden der
dauerhafte Schutz von Arbeitsplätzen und Wohngebieten, die Verminderung finanzieller Schäden durch Hochwasser, die größere Rechtssicherheit beim Erwerb von
Grundstücken und beim Versicherungsabschluss sowie
der Zugewinn an Lebensqualität durch die Erhaltung
und Schaffung naturnaher Gebiete für Erholung und
Naturerlebnis für heutige und für kommende Generationen.
Der Schutz der Elbe als Naturraum und ihre wirtschaftliche Nutzung als Bundeswasserstraße schließen
sich nicht aus. Flüsse haben eine wichtige Bedeutung für
energiesparenden und umweltverträglichen Gütertransport durch die Binnenschifffahrt. Auch die Elbe ist eine
Wasserstraße. Sie hat im Vergleich der Jahrestonnagen
- soweit die Tonnage als Indikator geeignet ist - anderer
Bundeswasserstraßen nur eine untergeordnete Bedeutung. Sie hat jedoch relevantes Potenzial als Verkehrsachse mit unmittelbarer Anbindung an die Hochseehäfen. Schwer- und Projekttransporte sind weder über die
Straße noch über die Schiene abzuwickeln. Das Potenzial der Schiene begrenzt sich durch bestehende Engpässe in den Knoten und Trassen; sie ist allein nicht in
der Lage, die Transporte der Zukunft aufzunehmen.
Hinzu kommt das Problem der Lärmbelastung entlang
der Gütertrassen.
Auf der Elbe sollen weiterhin an den Fluss angepasste Schiffe fahren. Das steht für mich außer Frage.
Außer Frage steht aber auch, dass der ökologische Zustand der Flusslandschaft Elbe dabei den Rahmen setzt.
Notwendig ist ein Elbekonzept, das den unterschiedlichen Funktionen der Elbe Rechnung trägt. Sie ist eine
Wasserstraße, sie ist Lebensraum für viele Arten, sie ist
Erholungsraum. Notwendig ist ein gemeinsames Elbekonzept von Bund und Ländern, das mit einer echten Beteiligung von Bürgern und Verbänden entwickelt wird.
So können von Anfang an alle Interessen in die Konzepte
mit einbezogen werden.
In meiner Funktion als Vorsitzender der parlamentarischen Gruppe „Frei fließende Flüsse“ habe ich große
Sympathie für den Schutz von Flüssen und Auen. Auch die
Koalition aus Union und FDP hat sich im Koalitionsvertrag klar zur Verbesserung der Ökologie und Durchgängigkeit der Flüsse bekannt.
Beim Lesen Ihres Antrags entsteht der Eindruck, dass
die Koalition eine Flusspolitik auf Kosten der Ökologie
betreibt und anstrebt. Das ist sachlich falsch. Ich kann
nur empfehlen, sich anhand der von Umwelt- und Verkehrsministerium beschlossenen Eckpunkte des Gesamtkonzepts Elbe ein Bild über die Schwerpunkte der geplanten Maßnahmen zu machen. Das Konzept betrachtet
dabei neben den erforderlichen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der schifffahrtlichen Nutzung gleichrangig die Anforderungen an den Gewässer-, Auen- und
Naturschutz. Hierzu gehören auch die zu erwartenden
Auswirkungen des Klimawandels auf die Elbe.
Aufrechterhaltung der schifffahrtlichen Nutzung
meint dabei gerade nicht die Durchführung eines verkehrsbedingten Ausbaus oder ähnlicher Schwersteingriffe in den Fluss, wie sie noch in den vergangenen
Jahrzehnten erfolgt sind. Vielmehr sind Sohlstabilisierungskonzepte oder ähnliche Maßnahmen erforderlich,
die nicht nur Vorteile für die Umwelt, sondern auch für
den Verkehr mit sich bringen. Schließlich ist das Binnenschiff als solches auch eines der umweltfreundlichsten
Transportmittel. Darum sollte man nicht nur Schlauchund Luftkissenboote im Blick haben, wenn es um die Belange der Elbe geht. Das Elbehochwasser von 2002 hat
auch den Schiffsverkehr erschwert, sodass nicht nur die
ökologischen Schäden, sondern ebenso die dadurch bedingten Verkehrsprobleme umweltverträglicher Lösungen harren.
Insofern ist die von der Koalition ergriffene Initiative
zur Erstellung eines Gesamtkonzepts zur Elbe seit langem überfällig und im Interesse aller Beteiligten. Man
muss sich aber auch darüber klar werden, dass die
Ziele, die wir im Gesamtkonzept verfolgen, nicht von einem auf den anderen Tag erreicht werden können.
Durchgängigkeit, Auenschutz, Naturschutz, Sohlstabilisierung und die Nutzung der Unterhaltungsmöglichkeiten zur Verbesserung der ökonomischen, ökologischen
und verkehrlichen Belange sind große Aufgaben. Die
dafür erforderliche Koordinierung zwischen Bundesund Landesbehörden und anderen Beteiligten ist anZu Protokoll gegebene Reden
spruchsvoll genug. Insofern geht mir Ihr Ansatz, in diese
Koordinierung gleichzeitig die Nachbarstaaten einzubinden, zu weit. Wenn man sich die tschechischen Pläne
mit der von der FDP abgelehnten Staustufe in Decin betrachtet, wird klar, dass zwischen Deutschland und
Tschechien große Differenzen über die Prioritäten in der
Flusspolitik bestehen. Wenn man diese Differenzen dem
Gesamtkonzept aufbürdet, verlangsamt man das eigene
Vorankommen oder hält schlimmstenfalls den Prozess
ganz auf. Ich halte deshalb den Vorschlag der Linken an
dieser Stelle nicht für sachgerecht.
Auch an einigen anderen Stellen wirft der Antrag
mehr Fragen auf als er tatsächlich löst. Ihr Vorschlag
zur Einrichtung eines Fonds zur Analyse der Dioxinbelastung tierischer Produkte, die auf flussnahen Flächen
produziert werden, halte ich zwar für eine nette Idee. Ich
sehe aber bei dieser Frage keine Verantwortlichkeit des
Bundes, sondern eine der Länder. Auch zur Finanzierungsstruktur, zum Umfang, zur Organisationsform und
zu weiteren Fragen beziehen Sie keine Stellung.
Des Weiteren halte ich auch die von Ihnen angestrebte Förderung von flussangepassten Schiffstypen
nicht für die Aufgabe der Politik. Diese im Interesse der
Branche stehende Fortentwicklung ist zwar sinnvoll und
richtig, aber verdient dennoch keine staatliche Förderung. Solide Haushaltspolitik kann man nicht verfolgen,
wenn man immer wieder versucht, jede erdenkliche
Branche mit Subventionen aufzupäppeln. Aus welchem
Grund die Schifffahrt das nicht selbst leisten soll, erschließt sich mir nicht. Wir wollen gerade nicht mit geöffnetem Füllhorn das Geld verschleudern, bis die uns
allen bekannten Haushaltslöcher zu saarländischen
oder berlinerischen Verhältnissen führen, wo marode
Verwaltungen nicht einmal mehr Mittel für die notwendigsten staatlichen Aufgaben haben.
Es freut mich, dass Sie es als gutes Zeichen anerkennen, dass in unserem Gesamtkonzept die Elbe ab Lauenburg nicht weiter ausgebaut werden soll. Dass Sie dennoch jegliche Flussbettvertiefung auch im Bereich des
Hamburger Hafens ablehnen, halten wir für nicht sachgerecht. Es handelt sich hier um einen globalen Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt, wo zwar jede Ausbaumaßnahme genauestens abgewogen werden muss,
Absolutheitsansprüche jedoch fehl am Platz sind.
Insgesamt sind wir mit dem Gesamtkonzept auf einem
sehr guten Weg. Ihr Antrag hat helle Momente, teilt die
Welt dennoch in Gut und Böse ein und wird den Realitäten dabei nicht immer gerecht. Deshalb können wir dem
Antrag nicht zustimmen.
Sie erinnern sich noch an das große Elbehochwasser
im Sommer 2002? Dresden - die Altstadt stand unter
Wasser, die Semperoper war überschwemmt. Oder
Grimma - ganze Häuser wurden vom Wasser weggespült. Seitdem ist klar, dass hier die Politik gefragt ist.
Ein Flusskonzept für die Elbe, davon war schon 2005
die Rede.
Das alles ist jetzt Jahre her, und wir haben immer
noch kein Konzept für die Elbe. Im Sommer 2011 hat die
Bundesregierung zumindest ein Eckpunktepapier vorgelegt. Sie will so den veränderten Bedingungen Rechnung
tragen, seien es die Auswirkungen des Klimawandels
oder rechtliche Vorgaben der Europäischen Union zum
Gewässerschutz. Dazu muss die Elbe von der Quelle bis
zur Mündung und mit all ihren Nebenflüssen betrachtet
werden. Das bedeutet in der Konsequenz, die Elbe nicht
weiter auszubauen, sondern naturnah zu entwickeln.
Nur so kann ein guter ökologischer Zustand des Flusses
erreicht werden. Dazu verpflichtet uns auch die europäische Wasserrahmenrichtlinie. Doch ich denke, unsere
eigene Verantwortung für die Umwelt und den Naturreichtum unserer Landschaften ist uns genauso Verpflichtung.
Trotz ständiger Eingriffe ist die Elbe heute noch über
weite Strecken einer der wenigen naturnahen Flüsse in
Deutschland und prägt die Kulturlandschaft in ihrem
Einzugsbereich.
Auch wenn es noch kein Gesamtkonzept für die Elbe
gibt, ist die gesellschaftliche Debatte zu den verschiedenen Nutzungsansprüchen längst in vollem Gang. Zum
Beispiel verändert sich seit einigen Jahren der Schiffsverkehr auf der Elbe. Das gesamte Transportaufkommen
ist gesunken und nimmt weiterhin ab. Dafür sind nun
mehr und mehr Schwer- und Sondertransporte auf dem
Fluss unterwegs, und auch der Wassertourismus wächst
und gewinnt zunehmend an wirtschaftlicher Bedeutung.
Ob ein guter ökologischer Gewässerzustand, ein effizienter Hochwasserschutz oder ein attraktiver Wassertourismus, all das ist nur mit einer naturnahen Elbe zu
erreichen. Das strategische Ziel muss daher sein: die
Entwicklung der Elbe als freifließender Fluss in seinem
Einzugsgebiet und mit seinen Nebenflüssen und angrenzenden Lebensräumen. So kann auch der Artenreichtum
der Elbauen erhalten werden und sich weiterentwickeln.
Alles andere ist langfristig weder ökologisch noch wirtschaftlich sinnvoll. Das alles ist seit Jahren bekannt und
wird immer wieder unter verschiedenen Fragestellungen auch wissenschaftlich belegt.
Von Tschechien bis nach Hamburg gibt es etliche Nutzungsinteressen. Die Liste der Ansprüche ist lang und
die Konkurrenz manchmal groß: Von der Binnenschifffahrt über den Hochwasserschutz, den Gewässer- und
Naturschutz zum Tourismus und zu der Industrie bis hin
zur Energiegewinnung. Hinzu kommen die Bedürfnisse
der Fischerei sowie der Land- und Forstwirtschaft, und
auch kommunale Aspekte spielen eine Rolle.
Genau da liegt das Problem, aber auch eine Chance:
Wir brauchen nicht nur ein Konzept zu Entwicklungsmaßnahmen für einen naturnahen Elbraum. Nein, wir
brauchen, damit das kein Sturm im Wasserglas wird,
eine breite gesellschaftliche Akzeptanz, und das in allen
Anrainerländern.
Das bedeutet Umdenken. Andere Wege zu suchen, ist
immer ein hartes Stück Arbeit. Auch wenn das Ziel klar
ist, braucht man dazu Partnerschaften, Kooperation und
Zeit. Akzeptanz ist die Voraussetzung für eine naturnahe
Zu Protokoll gegebene Reden
Flusslandschaft Elbe. Dafür müssen wir werben, indem
alle Interessen gehört und beraten werden, um gemeinsame Lösungen zu finden. Das betrifft die ökologischen,
wirtschaftlichen und sozialen Interessen gleichermaßen
und ist ein Grundanliegen in unserem Antrag für ein umfassendes Elbekonzept. Wir wollen, dass aus den Eckpunkten für ein Gesamtkonzept Elbe auch ein umfassendes Konzept für die gesamte Elbe wird mit dem Ziel,
diesen wunderbaren Fluss mit seinen Landschaften so
naturnah wie möglich zu entwickeln.
Das geht nur länderübergreifend und grenzüberschreitend und vor allem gemeinsam mit allen Nutzern
der Elbe.
Die Debatte zum Elbekonzept kommt zum richtigen
Zeitpunkt. Im vergangenen Sommer haben die Parlamentarischen Staatssekretäre Enak Ferlemann und
Katherina Reiche endlich die Erarbeitung eines Gesamtkonzepts Elbe angekündigt und ein Eckpunktepapier vorgelegt. Ein solches Konzept ist lange überfällig und wird von unserer Fraktion schon seit Jahren
gefordert. Doch bei der Ankündigung ist es bisher geblieben. Die für Sommer 2011 anvisierten Gespräche
zwischen den Umweltverbänden, Kirchen, Verbänden
der Binnenschifffahrt und des Tourismus mit Bund,
Ländern und Kommunen hat es bisher nicht gegeben.
Der Prozess steht still. Auf Anfragen, wie es jetzt konkret weitergeht, gibt es keine Antwort.
Wie groß das Bedürfnis der einzelnen Interessengruppen - sei es aus Wirtschaft oder der Umwelt -, ins Gespräch zu kommen, ist, hat unsere Elbekonferenz mit fast
100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern am 16. April in
Magdeburg gezeigt. In der Diskussion wurden drei
Dinge deutlich:
Erstens. Die Wirtschaft hat sich auf die schwankenden Wasserstände der Elbe bereits eingestellt und plant
ihre Transporte entsprechend.
Zweitens. Im Hinblick auf die Transportkapazitäten
hat der Ausbau der Eisenbahninfrastruktur wesentlich
höhere Bedeutung.
Drittens. Die Binnenschifffahrt wird in Zukunft nicht
an Bedeutung zunehmen, sondern eher die Nische der
Sonder- und Schwertransporte füllen.
Das Gesamtkonzept muss jetzt weiter vorangebracht
werden, bevor jedes Jahr mehr und mehr Steuergelder in
Baumaßnahmen zur Schiffbarkeit investiert werden. Allein 2012 sollen in die Unterhaltung der Infrastruktur
sowie für Um-, Aus- und Neubau der Anlagen und Objekte an der Elbe 24 Millionen Euro investiert werden.
Die Baumaßnahmen haben es bisher weder geschafft,
eine verlässliche Fahrrinnentiefe herzustellen, noch,
mehr Verkehr auf die Elbe zu locken. Seit 1997 wurde
das Ziel einer ganzjährigen Fahrrinnentiefe von
1,60 Meter auf allen Elbestrecken nur 2002 und 2010
erreicht. Allein 2011 wurde die angestrebte Mindesttiefe
beispielsweise an der Elbestrecke 4 zwischen Elsterund Saalemündung an 116 Tagen unterschritten. Entsprechend niedrig sind auch die Transportzahlen für die
Elbe: Im letzten Jahr wurden auf der Stadtstrecke Magdeburg beispielsweise nur 0,8 Millionen Tonnen Güter
transportiert. Statt einen tatsächlichen Nutzen zu haben,
greifen die Baumaßnahmen stark in den Wasserhaushalt
der Elbauen ein und gefährden das empfindliche Ökosystem. Hier werden auch in diesem Jahr wieder Tatsachen geschaffen, wird das Gesamtkonzept Elbe verschleppt und womöglich an anderer Stelle hintertrieben.
Als Beispiel hierfür seien nur die Pläne der EU-Kommission genannt, die Elbe in die Liste der Kernnetzkorridore aufzunehmen und einen entsprechenden Ausbau
zwischen Hamburg-Dresden-Paradubice vorzusehen.
Staatssekretär Enak Ferlemann behauptet, die Bundesregierung wäre an dem Vorschlag nicht beteiligt gewesen. Doch aus dem EU-Parlament wissen wir, dass bei
derartigen Vorschlägen die Mitgliedstaaten die Projektlisten mindestens über ein IT-System mitarbeiten.
Viele Punkte im Antrag sind richtig: Bund, Länder,
Kommunen müssen mit den Verbänden und den zivilgesellschaftlich aktiven Initiativen vor Ort an einen Tisch.
Die ökologische Durchgängigkeit muss verbessert werden, Hochwasserschutz darf den Fluss nicht weiter einengen, sondern muss ihm mehr Raum geben. Die Auswirkungen des Klimawandels müssen im Gesamtkonzept
Elbe Berücksichtigung finden. Die Staustufe Decin muss
ebenso wie vom Freistaat Sachsen auch von der Bundesregierung abgelehnt werden. Die Priorität muss beim
Ausbau der Schieneninfrastruktur liegen. Selbst in
Tschechien wird dem Ausbau der Schiene im Hinblick
auf die Transportkapazitäten eine wesentlich höhere Bedeutung beigemessen. All diese Punkte sind Teil unseres
Antrags „Elberaum entwickeln - Nachhaltig, zukunftsfähig und naturverträglich“, Drucksache 17/4554, den
wir bereits im letzten Jahr eingereicht haben. Inwiefern
allerdings die Unterhaltungsmaßnahmen tatsächlich naturnah erfolgen können, bleibt zu bezweifeln. Denn dieser Spagat wird nicht immer funktionieren: Schotterung
bleibt Schotterung. Das heißt für uns Grüne weiterhin:
Sämtliche Baumaßnahmen müssen hinsichtlich ihrer
Auswirkungen auf Natur und Umwelt überprüft werden
und bei negativen Folgen konsequent unterbleiben. Nur
so kann die einzigartige und wertvolle Natur- und Kulturlandschaft Elbe erhalten werden, und nur so können
ihre Potenziale, zum Beispiel beim naturverträglichen
Tourismus, weiter ausgebaut werden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9160 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir vollkommen überraschend am Schluss
unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den 27. April 2012,
9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.